Die Völker in heilsgeschichtlicher Sicht (P.B.)

Peter Beyerhaus

Die Völker in biblisch-heilsgeschichtlicher Sicht

Wenn wir die Frage nach dem Volk, nach unserem eigenen Volk-Sein in den thematischen Mittelpunkt dieser ersten Versammlung unseres theologischen Konvents im neuen Jahrtausend gestellt haben, so ist es uns durchaus bewußt, daß wir damit ein Wagnis eingegangen sind. Denn der Begriff des Volkes ist sowohl in politischer, kultureller und auch theologischer Beziehung ein problematischer geworden. Ist er doch in unserem Jahrhundert durch zwei ideologische Diktaturen überstrapaziert und verfremdend mißbraucht worden. In der NS-Zeit wurde er zum Inbegriff einer rassistischen Pseudo-Religion, in deren Namen viele Millionen Menschenleben gewissenlos aufgeopfert wurden nach dem zynischen Motto „Du bist nichts, Dein Volk ist alles!“

In der Ära des etablierten Sozialismus bekam das Wort eine klassenkämpferische Bedeutung. Es stand für den Anspruch, daß in jenem östlichen Machtbereich die Herrschaft tatsächlich an die arbeitende Klasse als deren rechtmäßigen Inhaber übergegangen sei. Dabei war sie aber in Wirklichkeit bevormundet von einer privilegierten Oligarchie von Parteifunktionären usurpiert, – unter Mißachtung der vitalen Wünsche und Rechte der Mehrheit der Bevölkerung. Der Protestruf in den Großstädten der DDR im Oktober 1999 „Wir sind das Volk!“ ließ die heuchlerischen Fassaden endgültig einstürzen. Dabei wurde allerdings weder damals noch später recht deutlich, auf welchen geistigen und ethischen Fundamenten das aus vierzigjähriger Tyrannei befreite und mit seinen Stammesverwandten auf der westlichen Seite wieder vereinte Volk sein Leben in echter Freiheit, Würde und kultureller Entfaltung gestalten wolle.

So stellt sich uns zehn Jahre danach tatsächlich die selbstkritische Frage, die wir als Leitmotiv dieser Konventstagung formuliert haben: „Sind wir noch ein Volk?“ Diese Frage bewegt uns aus vielen Gründen:

Erstens ist es angesichts der rapiden Auflösung vieler Werte und Strukturelemente, welche zum Wesen eines Volkes gehören, fraglich, in welcher Hinsicht heute noch von einer volkhaften Identität der Einwohner dieser Republik gesprochen werden kann.

Zweitens wird uns im Zuge der sogenannten „Vergangenheitsbewältigung“ der Volkbegriff als eine Hauptquelle nationalistischer Selbstüberhebung und Vergewaltigung als faschistoid diskreditiert und deswegen durch andere gängige Bezeichnungen wie „Gesellschaft“, „Bevölkerung“, „Einwohnerschaft“ oder „Bürgerinnen und Bürger“ ersetzt.

Drittens wird im Zuge der Einwanderungspolitik das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vorrangig zum Experimentierfeld eines multi-kulturellen Verschmelzungsprozesses bestimmt. Viertens wurde schon im Augenblick der sogenannten Wende die Vereinigung der beiden getrennten Teile Deutschlands nur als eine Durchgangsstufe für ein Aufgehen in dem weiteren Zusammenschluß zunächst zum Vereinten Europa, darüber hinaus aber zu einer geeinten Welt erklärt. Im Zuge dieser Globalisierung wird z.B. schon heute die Bundeswehr zielbewußt in Ablösung ihrer bisherigen Aufgabe der Landesverteidigung umfunktioniert zu einer internationalen Eingreiftruppe als Vorstufe einer zukünftigen Weltpolizei.

Schon heute aber existiert die „One World“ im Bewußtsein vieler Millionen Internet-Benutzer, welche die bisherige greifbare Wirklichkeit als unmittelbare Lebenswelt durch die visionäre Welt der „virtual reality“ ersetzt haben. Es ist deswegen heute sehr schwer, unserer gegenwärtigen jüngeren Generation, die von diesen Faktoren geprägt ist, deutlich zu machen, was mit dem Begriff, “Volk” überhaupt gemeint ist. Angesichts dieser vielschichtigen Entwicklung stellt sich uns die Frage, wie sinnvoll es ist, den einst so hochrangigen Begriff „Volk“ überhaupt noch zu gebrauchen. Wichtiger noch ist die weitergehende Frage, ob es denn eine politische Aufgabe sei, sich für die Erhaltung der mit diesem Begriff bezeichneten Wirklichkeit einzusetzen. Zugespitzter wollen wir fragen, ob es auch zu den Christenpflichten gehöre, sich an diesem Ringen zu beteiligen, und falls ja, mit welcher theologischen Begründung. Damit stehen wir beim Thema dieses ersten Vortrages:

Die Völker in biblisch heilsgeschichtlicher Sicht

I. Die Völker im Blickfeld Gottes des Schöpfers und Erhalters

Daß es sich bei dem Begriff „Volk“ um ein zentrales Anliegen in der biblischen Wirklichkeitsschau handelt, zeigt schon ein flüchtiger Blick in die Konkordanz. Es ist in der Tat eines der am häufigsten vorkommenden Wörter, angefangen von der sogenannten Völkertafel im 10. Kapitel der Genesis, bis hin zur letzten Seite der Johannesoffenbarung. Dabei fällt auf, daß in der Bibel fast durchweg der Plural „Völker“ gebraucht wird, wenn es sich um die gegliederte Menschheit als ganze handelt. Ihr steht gegenüber das eine Volk Israel, das sich Gott aus der Mitte der übrigen Völkerwelt zum Gegenstand seines besonderen Handelns in seinem Heilsplan erwählt hat, das Volk im engeren Sinne, das im Neuen Testament seine soteriologische Weiterführung in der Kirche, dem Israel nach dem Geist findet.

Theologisch umstritten ist die Frage, ob es sich bei der Aufteilung der Menschheit um verschiedene Völker um eine „Schöpfungsordnung“ handelt, die zur ursprünglichen Bestimmung des auf Gemeinschaft hin angelegten Menschen gehört. Oder aber ist die korporative Pluralität der Völker erst als Folge der sich ausbreitenden Ursünde der Menschen entstanden und ist darum eher als „Erhaltungsordnung“ zu verstehen, durch welche Gott der sündhaften Selbstzerstörung der Menschen einen Damm vorbauen wollte. Über diese Frage hat der Wissenschaftliche Beirat unseres Theologischen Konvents auch bei der Vorbereitung dieser Tagung nachgedacht. Ein eingehendes Studium vor allem der Urgeschichte, wie sie sich in den ersten 11 Kapiteln der Genesis darstellt, zeigt, daß beide Antworten einander nicht ausschließen, sondern vielmehr komplementär bzw. dialektisch zu verstehen sind.

In der bereits erwähnten Völkertafel von 1Mo 10 gliedert sich die gesamte nachsintflutliche Menschheit in eine universale Völkerfamilie. Sie ist hervorgegangen aus den drei Söhnen des Noah und zerfällt dementsprechend in die drei Hauptgruppen: den Semiten, Hamiten und Japhetiten. Diese wiederum sind sippenmäßig organisiert; sie unterscheiden sich nach Sprache, Sitte und Wohnraum und bevölkern so die Erde.

Die Völker erscheinen also hier, wo sie erstmalig genannt werden, in einer offenbar von Gott gewollten und unter seinem Segen stehenden Mannigfaltigkeit, und als solche treten sie ihren Gang in die Geschichte an. Das, was Gott hier bereits bei der Erschaffung des ersten Menschenpaares in diese Krönung seines Schöpfungshandelns genetisch und segnend gelegt hat, nämlich Personalität, Sinnhaftigkeit, Gemeinschaftsfähigkeit, Kreativität und Geschichtlichkeit, verwirklicht sich in der Folge nicht rein individuell, sondern im Rahmen einer organischen Zusammengehörigkeit charakteristisch verschiedener Menschengruppen, welche jede in ihrem Bereich und auf ihre Weise den Kulturauftrag des Schöpfers erfüllen, sich das Erdreich untertan zu machen und es in Gottes Auftrag zu bebauen und zu verwalten.

In der Erfüllung dieser Bestimmung stehen die Völker nun unter einer ihnen universal gegebenen Verheißung. Es ist das Versprechen, daß Gott nach der Errettung der Sippe Noahs in Antwort auf das von diesem Ihm dargebrachten Dankesopfer gegeben hat: Gott erneuert seinen durch die Sünde vertanen ursprünglichen Segen über seine gesamte Schöpfung. Er bestätigt den Menschen bemerkenswerter Weise, daß sie nach seinem Ebenbild erschaffen sind, und das er ihnen trotz der durch den Fall eingetretenen Sündhaftigkeit ihres Wesens gewähren will, solange diese Erde besteht. Auch der einst im Paradies erteilte Kulturauftrag wird erneuert mit den Worten: “Ihr aber – seid fruchtbar und mehret euch, seid regsam auf der Erde und werdet zahlreich auf ihr”.

All diese Verheißungen und Aufträge werden nun feierlich sanktioniert durch den Bundesschluß Gotte mit Noah und seines Sohnesfamilien, der der erste in der Bibel überhaupt berichtete Bund ist. Er gilt der gesamten Schöpfung mit all ihren Lebewesen, besonders aber dem Menschengeschlecht. Er stellt die Grundlage bzw. die Rahmenbedingung auch für die späteren spezifisch heilsgeschichtlichen Bundesschlüsse mit Abraham, Mose, David und am Ende in Jesus Christus dar. Dieser Bund trägt als solcher zwar noch keinen Heilscharakter, sondern er gilt der Bewahrung der physischen, leiblich-seelischen Existenz. Er stellt aber die elementar Voraussetzung für die dereinstige Mitteilung des ewigen Heiles durch die volle Annahme der wiedergeborenen Menschen in die Gotteskindschaft dar. Von hier her gesehen stehen also auch die aus der Nachkommenschaft der drei Noah Söhne entspringenden Völker unter einem ihnen verbrieften Schutz und Segen Gottes und beschließt sie damit in seinen eschatologischen Heilsplan ein. Aus diesem Grund überlässt Gott auch die außerhalb seines besonderen Offenbarungshandeln an Israel stehenden heidnischen Völkern nicht einer totalen geistlichen Blindheit. Vielmehr manifestiert er sich in seiner allgemeinen Offenbarung, in den Werken seiner Schöpfung auch ihnen gegenüber als der allmächtige, weise, gütige Schöpfergott, und er schreibt in die Herzen aller Menschen sein ewiges Sittengesetz, nach dem sie unterscheiden können was gut und böse ist und erfahren, auf welcher ethischer Basis Gott sein Gericht über sie sowohl innergeschichtlich als dereinst am Ende ergehen lassen werde. Den Verantwortungsträgern der Völker, ihren Regenten, obliegt die hohe Verantwortung, in Vertretung Gottes selbst über die Einhaltung seiner Ordnungen zu wachen:

Paulus hebt diese Würde der staatlichen Regierungen in dem sozial-ethisch so bedeutsamen Römer 13,1-6 hervor: “… es gibt keine Obrigkeit ohne von Gott bestellt zu sein, und wo immer eine besteht, ist sie von Gott verordnet … sie ist Gottes Dienerin … . Darum muß man ihr untertan sein, und zwar nicht nur aus Furcht vor Strafe, sondern um des Gewissens willen.”
Bei Paulus bezieht sich diese Aussage nicht ausdrücklich auf die Regierungen der Völker, die jedoch eingeschlossen sind, sondern auf jegliche staatliche Ordnungsmacht. Daß jedoch auch für das Neue Testament die Menschheit wesentlich in Völker gegliedert ist, wird daraus deutlich, daß als ihre Regenten vielfach Könige genannt werden. Vor allem aber gibt es zum Staunen Anlaß, daß sogar am Ende des Offenbarungsbuches 21,24 von der eschatologischen Gottesstadt, dem himmlischen Jerusalem in der neuen Schöpfung gesagt wird:
“Die Völker werden in ihrem Lichte wandeln, und die Könige der Erde bringen ihre Schätze in sie hinein.”
Dies erscheint mir der stärkste und ausdrücklichste biblische Beleg für die theologische Überzeugung zu sein, daß die Völker eine Größe bilden, die seinshaft im Schöpfungsplan Gottes verankert ist, einen festen Platz in seinem Geschichtshandeln einnehmen und eine sich in der Ewigkeit vollendenden Bestimmung besitzen.

Nun gibt es aber neben der soeben aufgewiesenen positiven Linie biblischen Redens über die Völker auch eine andere, die zu ersterer in einem schwer zu überbrückenden Gegensatz zu verlaufen scheint. Hier werden die Völker nämlich nicht auf ihren Ursprung in Gottes Schöpfungshandeln und als Gegenstand seines bewahrenden und segnenden Handelns, sondern im Gegenteil in ihrer permanenten Auflehnung gegen ihn, der Herrschaft fremder Götter dienend beschrieben. Als solche stellen sie für das besondere Gottesvolk eine äußere und innere Bedrohung dar und bilden deswegen vielfach den Gegenstand von Gottes Zorneshandeln. In dieser Perspektive erscheinen die Völker erstmalig in Genesis 11, also paradoxer Weise unmittelbar im Anschluß an die Völkertafel in Kapitel 10 im Zusammenhang mit dem Bericht vom Turmbau zu Babel und Gottes deswegen ergehenden Strafgericht.
Weil die zunächst sozial gegliederte aber doch durch eine gemeinsame Sprache, Kultur und Religion verbundene Menschheit sich zusammenrottet, um in der Weltstadt Babel ein Einheitsreich zu bilden, sich einen selbstherrlichen Namen zu machen und darüber hinaus sich durch jenen – wohl astrologischen Zwecken dienenden – Turmbau Zugang zur metaphysischen Himmelswelt verschaffen will, fährt Gott in seinem Zorn herab und antwortet mit der Zerteilung der Menschheit und der Verwirrung ihrer Sprachen. Dadurch wird künftig eine gegenseitige Kommunikation erschwert, ja sogar unmöglich.

Nach Genesis 11 ist die Zerspaltung der Menschheit in verschiedene Völker also die Auswirkung eines urzeitlichen Fluches, durch den der titanische Hochmut der gefallenen Menschheit gestraft werden soll. “Hier tritt”, bemerkt Walter Eichrodt, “die Verschiedenheit der Völker nicht als Reichtum, sondern als Beschränkung und Absperrung ihres Bewußtseins und begründet das furchtbare Gegeneinander von Nationen und Rassen auf eine Verschiedenheit der geistigen Grundstruktur, durch die die Kraft der Menschheit unheilbar gelähmt wird.”

Auch diese düster Linie biblischen Redens über die Völker in ihrer geistigen Wesenheit und ihrem Verhalten zieht sich – vielleicht sogar noch kräftiger – durch alle biblischen Bücher, zumal – aufgrund unmittelbarer geschichtlicher Erfahrungen – die alttestamentlichen Schriften. Sie kulminiert in dem endzeitlichen Aufstand aller Völker gegen Gott, seinen Gesalbten und sein Eigentumsvolk und endet mit dem angekündigten Zornesgericht über die Völker am eschatologischen Jom Jahwe, dem Tag des Herrn.

Das prophetische Thema der Messias-Schlacht wird in letzter Erfüllung wieder aufgenommen in Offenbarung 19, 11-16. Hier erblickt der Seher Johannes aus dem geöffneten Himmel, den auf einem weißen Roß in furchterregender Herrlichkeit an der Spitze der himmlischen Heerscharen herabkommen, um durch seine geistliche Macht das universale Strafgericht über die Nationen nun nicht etwa individuell sondern in ihrer korporativen Verfaßtheit zu vollziehen: “Aus seinem Mund geht ein scharfes Schwert hervor, mit dem er die Völker schlagen soll, und er wird sie mit eisernem Stab weiden” (Ps 2,9), und er ist es, der die Kelter des Glutweines des Zornes des allmächtigen Gottes tritt. Seine überragende Autorität gegenüber den Repräsentanten der Völker kommt in seinem Namen zum Ausdruck: “König der Könige und Herr der Herren” (Off 19,16).

Es fällt nicht leicht, diese beiden konträren biblischen Perspektiven auf die Völker in Übereinstimmung zu bringen. Ganz verkehrt wäre es jedoch, den vermeintlichen Widerspruch durch ideologiekritische Ausscheidung einer der beiden Linien aufzulösen, obwohl dies immer wieder geschehen ist und noch geschieht. Israel tat dies zu bestimmten geschichtlichen Notzeiten, indem es sich selbst als das einzige zukunftsträchtige Auswahlvolk den feindlichen Nationen gegenüber in religiösem Chauvinismus absolut setzte. In manchen Zeiten weist man diese negative Linien einem religionsgeschichtlich überwundenen primitiven Stadium zu und löst den Widerspruch in der Verabsolutierung der Segenslinie universalistisch auf: Alle Völker bilden dann in gleicher Weise mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Religionen den Gegenstand der geschichtlichen Evolution, und in Verschmelzung dieser Besonderheiten wird am Ende das globale Friedensreich, die Weltzivilisation entstehen.

Es ist diese zweite Form ideologiekritischen Umgangs mit dem biblischen Gesamtzeugnis über die Rolle der Völker in Gottes Heilsplan, welche sich heute fast allgemein in den politischen Theologien sowie der pluralistischen Ideologie der Religionen durchsetzt. Sie liegt auch der “utopischen Vision” des ÖRK und dessen kosmopolitischen Agieren zugrunde, wie wir dies in den Verlautbarungen unseres Theologischen Konventes seit der Berliner Ökumene-Erklärung im Mai 1974 immer wieder aufgewiesen und dokumentiert haben. Dem haben wir jedes Mal erneut die heilsgeschichtlich differenzierende Schau der Bibel diakritisch entgegengestellt, und wir haben die Absicht, dies auf unserer zweiten Konventstagung in Berlin erneut zu tun.

II. Die Völker im Licht von Gottes Erwählungshandeln mit Israel
     und seines Erlösungswerkes in Jesus Christus

A. Die Berufung Israels aus den Völkern

Das wesentliche Kennzeichen der alttestamentlichen Geschichtstheologie liegt in der eigentümlichen dialektischen Gegenüberstellung des einen Volkes Israels und der Umwelt der übrigen Völker. Dieser zentrale Unterschied kommt schon im Sprachgebrauch dadurch zum Ausdruck, daß hier zwei hebräische Synonyme für die soziologisch gesehen gleiche Größe “Volk” bzw. “Nation” einander gegenübergestellt werden, nämlich am und goj. Die alttestamentlichen Schriftsteller bezeichnen Israel im theologischen Sinne häufig als am Jahwe, das heißt das Volk Jahwes, des göttlichen Herrn; gelegentlich allerdings, in theologisch weniger betontem Zusammenhang kann auch Israel als sozial-politisch-rechtliche Größe goj genannt werden. Die übrigen Völker sind als einzelne meist als goj bezeichnet, in ihrer Israel gegenüberstehenden Totalität werden sie stets als Gojim (Plural von goj) bezeichnet, und diese meist im abschätzigen Sinne. Dabei ist der entscheidende Aspekt nun der, daß sie, die Gojim, im Unterschied zu Israel nicht Gegenstand einer besonderen heilshaften Erwählung geworden sind; statt dessen stehen sie außerhalb der besonderen Offenbarungs- und Errettungsgeschichte, in welcher Gott Jahwe nach seinem souveränen Ratschluß nun einmal mit dem numerisch und politisch eher unscheinbaren einen Volk Israel sich eingelassen hat, es ist eine Geschichte, die nicht etwa einen lediglich die Israeliten bzw. Juden interessierenden zeitlich und räumlich begrenzte Partikulargeschichte darstellt. Vielmehr bildet sie das zentrale Thema der biblisch bezeugten Heilsgeschichte und ist deswegen ebenfalls von eschatologischer Bedeutsamkeit. Es ist nämlich keineswegs so, daß das AT etwa eine partikulares Stück der orientalischen Literaturgeschichte bildete, das man wie schon einst Marcion meinte, und später die DC in Gemeinsamkeit mit Alfred Rosenberg verächtlich erklärten, das AT als Judenbuch den Juden überlassen könnte, während erst mit dem Erscheinen Jesu im NT eine die gesamte Menschheit angehende universale Religion hervorgetreten sei.

Nein, die Sonderheit, ja überzeugende Bedeutung Israels spielt auch in Jesu Sendungsverständnis und seiner Verkündigung, wie später bei Paulus vor allem in Rö 9-11, eine wichtige Rolle. Am Ende wählt dieses Volk in der Vision der Johannesoffenbarung bei der Versiegelung einer Auswahl von 144.000 aus den zwölf Stämmen Israels (Off 7) wieder in den Blick. Die heilsgeschichtliche Sonderstellung des ersterwählten Volkes bleibt also bis in das Eschaton hinein bewahrt, auch wenn sie dann, wie wir noch sehen werden, vergeistlichend ausgeweitet sein wird. Worin liegt nun aber die Begründung für diese eigentümliche und immer wieder irritierende Sonderstellung des einen Volkes Israel, auf welches sich das Interesse der biblischen Autoren weitestgehend konzentriert, worin besteht das Verhältnis des einen Volkes Gottes zu allen übrigen Völkern, Israels in friedlichen Zeiten als kulturelle und kommerzielle Partner begegnenden Nachbarn, die ihm zu Kriegszeiten aber auch feindlich gegenübertreten, so daß das in Bedrängnis geratene Volk in seinen Gebeten, Liedern und Prophetensprüchen den Zorn Gottes auf sie herabfleht? Heißt das, daß die Existenz anderer Völker als solcher letztlich eine bloße Übergangserscheinung ohne bleibenden Wert aufzufassen ist? Wir haben diesen irrtümlichen Gedanken schon zuvor durch einen Hinweis auf die biblische Zukunftsschau abgewiesen. Es kommt vielmehr alles darauf an, die immer naheliegenden Mißverständnisse auszuräumen und das Verhältnis recht, und das heißt heilsgeschichtlich, zu bestimmen. Die Erwählung Israels stellt, das weisen die biblischen Autoren bzw. das weist Gott durch sie ausdrücklich ab, keineswegs die Privilegierung einer kleinen ethnischen Gruppe gegenüber allen übrigen Völkern dar, wodurch diese zu einer massa perditiones degradiert wäre. Gott hat bei der wunderhaften Herausführung der zwölf Stämme Israels aus Ägypten, bei seinem Bundesschluß mit ihnen am Sinai und bei ihrem Einzug in das Gelobte Land die übrigen Völker keineswegs aus seinem Blickfeld verloren. Im Gegenteil ist er auch weiterhin auch an ihnen interessiert. Er ist dies in Treue zu seinem Noah-Bund in seinem Segenshandeln als universaler Schöpfer. Er ist es auch in seinem Geschichtshandeln, in welchem er einzelne Völker wegen ihrer Verbrechen gegen sein universales Sittengesetz strafend zur Rechenschaft zieht, oder – eine erstaunliche Feststellung in alttestamentlicher Perspektive! – dadurch, daß er ein einzelnes Volk zum Instrument seines Züchtigungs- bzw. Rettungshandeln macht, wie z.B. Kyros, den König der Perser, bei der Befreiung Israels aus Babylon. Auch darüber hinaus verfolgt Gott mit den Völkern einen unumstößlichen Heilsplan, der trotz all ihrer Verblendung und ihrer Unbotmäßigkeit schließlich im weltweiten messianischen Friedensreich zur Vollendung kommen wird. Im zweiten Kapitel des Jesajabuches finden wir die großartige, in Micha 4 aufgenommene Vision von der endzeitlichen Erhebung des Tempelberges des Herrn zum geistlichen und zugleich politischen Zentrum der Menschheit. Diese soll dann in einer zentripetralen Bewegung völkerweise nach Zion herbeiströmen, um hier das Gottesrecht zu empfangen. Sie werden danach ihr eigenes nationales Leben gestalten, und dies wiederum als Voraussetzung für eine universale Friedensordnung: “Dann werden alle Heidenvölker zu ihm [dem Tempelberg] strömen und zahlreiche Völkerschaften hinwallen und sagen:

‚Kommt laßt uns zum Berge des Herrn hinaufziehen, zum Hause des Gottes Jakobs, damit er uns über seine Wege belehre und wir auf seinen Pfaden wandeln! … Dann wird er zwischen den Völkern richten und vielen Völkerschaften Recht sprechen; … kein Volk wird noch gegen ein anderes Volk das Schwert erheben, und sie werden sich hinfort nicht mehr auf den Krieg einüben.”

Hier wird nun in eschatologischer Perspektive deutlich, daß die Herausstellung des einen Volkes Israel als des Gottesvolkes schlechthin gegenüber allen anderen Völkern keineswegs eine partikularistische Isolierung bildet. Im Gegenteil geschieht gerade diese Erwählung als eine Berufung zu einer universalen Friedensmission, die allen übrigen Völkern zum Heile dienen soll. Das zeigt sich geheimnisvoll verborgen bereits in der Berufung Abrams, dessen neuer Ehrennamen Abraham ihn ja zum geistlichen Ahnvater vieler Völker bestimmt. Ihm wird eine reiche Nachkommenschaft in einem großen Volke sowie der Besitz des gelobten Volkes Kanaan als ewiges Erbe versprochen. Die Verheißung kulminiert dann aber alle biologischen und patriotischen Grenzen transzendierenden Aussagen: “Und in dir sollen gesegnet sein alle Geschlechter der Erde” wobei der Begriff “Geschlechter” hier im Sinne der Völkertafel die biologischkulturelle- soziale korporative Einheit von Menschen anspricht. Völlig unverhüllt kommt diese heilsgeschichtliche Deutung des göttlichen Erwählungshandelns zum Ausdruck in den programmatischen Worten, die nach dem Exodus aus Ägypten Mose im Auftrag Jahwes zum Verständnis dieses erstaunlichen Geschehens und des Sinnes seiner künftigen Geschichte an Israel richtet. Wir lesen in Ex 19, 3-6:

“So sollst du … den Kindern Israels verkündigen: ‚Ich selbst habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan und wie ich Euch auf Adlersflügeln getragen und euch hierher zu mir gebracht habe. Und nun wenn ihr meinen Weisungen willig gehorcht und meinen Bund haltet, so sollt ihr aus allen Völkern mein besonderes Eigentum sein; denn mir gehört die ganze Erde; ihr aber sollt mir ein Königsreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.’” Erst in diesem Augenblick, nach der Rettung aus dem Lande der Knechtschaft und vor dem historischen Bundesschluß am Sinai, werden die Stämme Israels im wahren Sinne zu einem Volke konstituiert. Aber es ist kein gewöhnliches Volk im ethno-politischen Sinn. Vielmehr ist es ein Volk suigeners besonderer Art, das seine Existenz, seine Sinnmitte, seinen Zusammenhalt ganz und gar in seinem engen Verhältnis zu seinem Erlösergott Jahwe findet, der es sich zu seinem Eigentumsvolk, zu seinem heiligen Volk erkoren hat. Seine Würde findet es in der unmittelbaren Bindung an ihn, der ihm in seinem Bund Heil und Segen aufgrund seiner Realpräsens in seiner Mitte verspricht. Der Sinn darin liegt aber in der Beauftragung, die dem Gottesvolk zuteil wird: Es soll in Gottes Bevollmächtigung ein Königreich von Priestern bzw. königliches Priestertum bilden. Das heißt nicht etwa, daß jeder einzelne Israelit künftig sakrale Aufgaben im Kultheiligtum zu versehen habe. Vielmehr bedeutet Israels korporatives Priestertum, daß es in seiner Gesamtheit, durch seine Existenz selbst, eine geistliche Mittlerrolle zwischen Gott und der Gesamtheit aller Völker ausüben soll. Im Leben und Wirken Israels soll der heilige, dem Leben der Menschen dienende Wille Gottes in aller Öffentlichkeit zur Darstellung gebracht werden. Dadurch sollen in Nachahmung dieses Beispiels und in Übernahme der Glaubensüberzeugung dieses Volkes auch die übrigen Völker aus ihrer bisherigen geistlichen Blindheit und ethischen Verkommenheit den Weg zurück in ihre ursprüngliche Schöpfungsbestimmung finden. Dabei muß ein zweifaches miteinander festgestellt werden: einerseits lassen sich angesichts der Sonderstellung Israels in Gottes souveränem Erwählungshandeln nicht alle Aussagen die über die Stellung dieses Volkes und über seine Aufgaben gemacht werden, so verallgemeinern, daß jedes andere Volk sie unmittelbar auf sich selbst beziehen dürfte. Ich denke an die uns immer etwas unheimlich berührenden alttestamentlichen Anweisungen zum heiligen Krieg, den Kriegen Jahwes, die Israel gegen seine heidnischen Nachbarn in Gottes Auftrag in größter Schärfe auszufechten hatte. Sie besaßen eine letztlich typologisch zu verstehende geschichtlich einmalige Funktion, die im Neuen Testament entgültig vergeistlicht wurde. Es ist also nicht legitim, im Sinne etwa der modernen evangelikalen Dominion Theology theokratische Staatsverfassungen aus den einst Israel gegebenen Geboten abzuleiten. Andererseits zeigt gerade die Jesajavision, daß das Leben des Volkes Israel im Zusammenleben seiner Glieder Vorbildfunktion hat, an dem sich auch die übrigen Völker durch das von Israel vermittelten Gottesrechtes ausrichten sollen. Insofern ist es durchaus berechtigt, aus der Modellfunktion des Volkes Israel Leitbilder und Maßstäbe für das Leben anderer sozialer Verbände in volkhafter Gestaltung abzuleiten. Das wäre in besonderer Weise die Einrichtung des Königtums als Repräsentation in erster Linie nicht des Volkswillens, sondern als irdischem Statthalter Gottes. Der König hat in dessen Bevollmächtigung in seinem jeweiligen Verantwortungsbereich das in Gottes Willen gegründete Recht auszurichten und zu wahren. Wir wissen aus der tragisch verlaufenen Geschichte Israels, daß Gottes ersterwähltes Volk an dieser seiner erhabenen Aufgabe, in enger Verbindung mit seinem Gott für die übrige Völkerwelt ein königliches Priestervolk zu sein, innerhalb der in den beiden biblischen Testamenten berichteten Geschichtsepoche gescheitert ist. Weil Israel seine Rolle immer wieder in Analogie zum Selbstverständnis anderer, größerer Nationen nationalistisch und opportunistisch mißverstanden hat, wurde ihm schon bei der babylonischen Gefangenschaft die politische Eigenstaatlichkeit genommen. Der Sinai-Bund, in welchem der priesterliche Auftrag Israels gründete, war von dessen Seite durch seinen religiösen und ethischen Ungehorsam gebrochen. Am Ende blieb – wie wir aus dem NT wissen – nur noch eine kleine Schar von Bundestreuen, die Stillen im Lande zurück, welche auf die Erlösung Israels von seiner Sündenschuld als Grundvoraussetzung der Wiederaufrichtung der messianischen Herrschaft des Hauses Davids harrten. B. Jesus, Israel und die Völker

Dies war nun die geschichtliche Situation, in welche Jesus von Nazareth mit seiner messianischen Verkündigung eintrat. Es ist bedeutsam, daß er durchaus an die prophetischen Erwartungen einer künftig aufgerichteten Gottesherrschaft anknüpfte. Dabei verkündigte er nicht etwa wie die Liberale Theologie ihn mißverstanden hat, eine vergeistigte Idee des Himmelreiches, die auf einem verinnerlichten Gottesbegriff und einer universal zu praktizierenden Liebesethik beruhte. Nein, auch er wandte sich – das geht schon aus den Ankündigung seiner Geburt in den Evangelien hervor – direkt an sein eigenes Volk und nahm dessen Erwartungen wieder auf. Ausdrücklich erklärt er der syro-phönizischen, blutflüssigen Frau, er sei nur gekommen zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Er sieht seinen irdischen vorösterlicher Auftrag darin, diese aus ihrer Zerstreuung zu sammeln und von ihren geistlichen Verwundungen zu heilen. Aber auch dieses sein sammelndes Bemühen darf nicht als einer patriotischen Horizontverengung entspringend mißdeutet werden. Nein, für Jesus war die Sammlung und geistliche Wiederherstellung Israels die Grundvoraussetzung für die Aufrichtung des von den Propheten geweissagten Friedensreiches Gottes, das sich von der Basis Israel über alle Völker erstrecken sollte. Diesem Ziel dient auch die Berufung seiner Jünger – deren Zwölfzahl typologisch bedeutsam ist, als Repräsentanten der zu sammelnden 12 Stämme des neuen Israel. Er verheißt ihnen, die um seiner Nachfolge willen alles verlassen haben, daß sie dereinst in der Gottesherrschaft auf zwölf Thronen sitzen sollen um die Stämme Israels zu richten. Zugleich vollzieht sich schon in seinem irdischen Wirken eine Vergeistlichung und beginnende ethnische Begrenzung des wiederherzustellenden Volkes Israel. Entgegen seiner primären Sendung an die Glieder des Volkes Israel im genealogischen Sinn läßt er es zu, daß einzelne Heilssuchende wie jene kanaanäische Frau und der römische Hauptmann von Kapernaum, aufgrund ihres erstaunlichen Glaubens Anteil bekommen an dem von ihm gebrachten eschatologischen Heil. Schon Jesus selbst entgrenzt antizipierend das Volk Israel aus dessen nationaler Bestimmtheit, indem er in seiner Jüngergemeinschaft das Fundament für seine künftige ecclesia legt, das neue Gottesvolk derer, die an ihn glauben und ihm angehören, das er aus allen Völkern sammelnd herausrufen will. Grundlegende Voraussetzung für diese endgültige heilsgeschichtliche Entgrenzung des Gottesvolkes ist allerdings, daß er zuvor seine eigene Heilssendung durch sein Erlösungswerk krönt. Am Kreuz von Golgatha bringt er in Erfüllung der Weissagung vom leidenden Gottesknecht (Jes 53) das Sühneopfer zur Tilgung der Sünden der vielen dar. Das Wort “für die vielen” ist nach der Deutung Joachim Jeremias universal im Sinne als “für alle”, d.h. nicht nur für die Juden, sondern auch für die Heidenvölker bestimmt. Diese Deutung seines Sterbens gibt Jesus schon am Vortage bei der Einsetzung des Heiligen Abendmahls, indem er über dem Passah- Kelch die sakramentalen Deutungsworte spricht:

“Trinkt alle daraus! Denn dies ist mein Blut, das Blut des Bundes [ich ergänze, des neuen von Jeremia verheißenen Bundes], das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden” (Mt 26,27f.; Mk 24,24). Nachdem dieses Opfer vollbracht ist, wird Jesus Christus durch seine Auferstehung eingesetzt zum messianischen König, dem die Herrschermacht übertragen ist über alle Mächte im Himmel und auf der Erde. Gemeint sind hier vor allem die geistigen Wesen, die Engelmächte, welche in Gottes Auftrag, sei es gehorsam, sei es gezwungen widerwillig, die Herrschaft über seine Schöpfung ausüben. Es sind also auch jene finsteren Engelmächte einbeschlossen, die in ihrem gefallenen Wesen zum Herrschaftsbereich Satans, des Fürsten dieser Welt gehörten und die verblendend die Völker in ihren heidnischen Religionen festhielten. Und nun berichtet der Evangelist Matthäus in dem großartigen Abschluß seines Buches, wie der Auferstandene seinen Aposteln den universalen Auftrag gibt, hinzugehen und alle Völker zu Jesu Jüngern zu machen. Kaum an einer anderen Stelle in dem Evangelium wird der Begriff “ethne” (= Völker) in einem heilsgeschichtlich so gehaltvollen Sinne wieder aufgenommen. Die Scheidewand, welche das Volk Israel von den übrigen Völkern absonderte, ist durch Christi Opfertod niedergerissen und sie alle werden im jetzt durch das ihnen verkündigte Evangelium von Jesus Christus dazu eingeladen, sich von ihm befreien zu lassen und sich seiner Herrschaft im Glaubensgehorsam zu unterstellen.

Es ist in Aufnahme unserer hiesigen Thematik hochbedeutsam, daß jedenfalls im Matthäusevangelium die Adressaten der Evangelisation nicht Menschen in ihrer individuellen Existenz bilden, sondern ausdrücklich die ethne, also die Heiden in ihrer korporativen Verfaßtheit. Auch Mt 24,14, wo Jesus in seiner Endzeitrede auf die kommende Weltevangelisierung als dem telos der Geschichte zu sprechen kommt, redet er von den Völkern, denen dieses Evangelium vom Reich als ein Zeugnis verkündigt werden muß und wird, bevor das Ende dieses alten Äons eintreten wird. Das bedeutet zwar nicht, daß das Christwerden nach Jesu Verständnis immer auf dem Wege eines Kollektivbeschlusses zu erfolgen habe. Bekehrung im biblischen, besonders neutestamentlichen Sinn ist eine Sache der persönlichen Gewissens- und Glaubensentscheidung. Sie kann sogar den in Jesu Nachfolge und in die Gliedschaft seiner Gemeinde Eintretenden unter Umständen sozial aus seinem angestammten ethnischen Verband isolieren. Trotzdem aber ist das Ziel der Evangelisation nicht etwa die Isolierung der Menschen und deren freie Assoziierung zu religiösen Gesinnungsvereinen.

Der Einzelne wird vielmehr – darauf hat gerade die frühere deutsche Missionswissenschaft in der Schule Gustav Warnecks nachdrücklich hingewiesen – zugleich auf seine Gliedschaft im angestammten sozialen Verband von Familie, Sippe, Stamm und Volk angesprochen und hat diesem in seiner künftigen Existenz missionarisch zu dienen. Gewiß kann die Gemeinde Christi in einem bestimmten Volk niemals identisch sein mit diesem als sozialpolitischer Größe. Insofern ist es wichtig, die Unterscheidung zwischen Volk Gottes und den Völkern in ethnosoziologischem Sinne festzuhalten. Das ist der einstigen deutschen Missionstheorie und –praxis leider nicht sorgfältig geschehen, so daß es mitunter zu einer fatalen Vermischung des ersten und des dritten Glaubensartikels, d.h. der Werke des Schöpfers und des Heiligen Geistes, kommen konnte. Parallelen dazu bilden das Volkskirchenverständnis der “Deutschen Christen” im deutschen Reich und das befreiungstheologische Programm der Volkskirche im christo-marxistischen Sinne. Hier ist theologische Wachsamkeit unbedingt geboten. Wohl aber steht auch die sich ihres pneumatischen Charakters, ihres zentralen Christusbezuges bewußte Gemeinde und Kirche in der missionarischen Bezeugung auch in einem Verhältnis zu ihrem Volk in dessen kultureller Eigentümlichkeit und in dessen geschichtlichem Ringen. Die Christen als einzelne und die Kirchen als Ganze tragen auch eine sozial-ethische Verantwortung, die sie nun in wahrer Solidarität mit den Leiden, Freuden und Hoffnungen ihres jeweiligen Volkes wahrnehmen. In der modernen Missiologie sprechen wir hier von der Aufgabe einer Inkulturation und Kontextualisierung von Evangelium und Kirche. Beides verbietet es uns, kirchliche und christliche Existenz in einer idealistischen Abgeschiedenheit von unserer sozialen Umwelt verwirklichen zu wollen. Die Kirche ist in jedem Land auf den Lebensraum ihres Volkes verwiesen. Sie soll ihn als Licht und Salz missionarisch durchdringen, um somit den Völkern dazu zu verhelfen, ihre in Gottes Geschichtsplan mit ihnen gründende Bestimmung auf sein Reich hin zu erfüllen.

III. Die gegenwärtige Geschichtsepoche als die “Gnadenzeiten der Völker”

Nach der Erkenntnis der heilsgeschichtlich orientierten Missionstheologie besitzt die Epoche zwischen der Himmelfahrt Christi und seiner Wiederkunft ihren eigentlichen Sinn in der weltweiten Bezeugung des Evangeliums an alle Völker. Die gute Botschaft von der Erlösungstat Jesu Christi und seinem Herrschaftsantritt muß so lange und so weit verkündigt werden, bis das letzte unerreichte Volk Gelegenheit gefunden hat, darauf zu antworten. Die Missionsgeschichte ist also der Prozeß, durch den in transkultureller Grenzüberschreitung immer neue Völker oder übersehene Teilvölker zu einer sie in der Tiefe herausfordernden Begegnung mit Christus geführt werden. Dazu ist ein sorgfältiges Übersetzen der Botschaft in die verschiedenen Sprachen und ein Eingehen auf die Kulturen im Ansprechen ihrer sinnstiftenden Mitte erforderlich. Sobald diese Begegnung in der Tiefe erfolgt, ist für dieses Volk – die Anthropologen sprechen differenzierend von Ethnien – das Ereignis eingetreten, welches mit dem biblischen Begriff kairos, Gnadenstunde, bezeichnet wird. Die neutestamentlichen Autoren benutzen ihn im doppelten Sinne: zum einen ist kairos der Augenblick, wo einem Einzelnen oder einer Gemeinschaft die Stunde geschlagen hat, wo es also gilt, die günstige Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und sich für die Annahme des Heils zu entschließen. Kairos bzw. der Plural kairoi kann aber auch die Frist, die Zeitspanne meinen, innerhalb derer Gott sein Heilsangebot noch aufrechterhält.

Es wird also eine Zeit zur Besinnung, zur Erprobung, Bewährung oder auch nach einstweiligem Versagen zur Umkehr gegeben. In diesem Sinne wird jedem einzelnen Volk seine Heilszeit gewährt, auf die es allerdings unterschiedlich, sei es mit aller Kraft, sei es zaudernd, sei es auch in Selbstverschließung reagieren kann. Jesus spricht in Lk 21,24 davon, daß Jerusalem, Israels Hauptstadt, nach der katastrophalen Austreibung der Juden aus dem Stammland der Väter durch die Römer im Jahre 70 von den Heiden, bzw. Heidenvölkern zertreten werden solle, bis die kairoi, d.h. die den Völkern sowohl für ihre Regierung als auch zum Austoben ihres empörerischen Verhaltens Gott gegenüber eingeräumten Fristen abgelaufen sind. Hier wird ein auch für das Missionsverständnis des Paulus wichtiger Zusammenhang zwischen dem Schicksal Israels und dem der übrigen Völker angesprochen. Die Zeit der Beiseitesetzung des ersterwählten Volkes ist eine in Gottes Heilsplan begrenzte. Sie wird solange währen, bis die Vollzahl der aus den Heidenvölkern berufenen Menschen in die ecclesia eingegangen sein wird, woraufhin dann die große heilsgeschichtliche Wende eintritt und Israel nach seiner vorhergesagten Rückkehr in das Land seiner Väter auch aus seiner inneren Verhärtung dem Evangelium gegenüber gelöst sein wird. Wenn es dann wahrscheinlich in einer Zeit äußerster Bedrängnis bußfertig Jesus als seinen ihm geschenkten Messias annehmen wird, dann endlich wird es auch in seinen ihm schon am Sinai zugesprochenen heilsmittelnden Auftrag als Königreich von Priestern eingesetzt werden. Diesen Tag geistlich vorzubereiten ist der eigentliche Sinn der missionarischen Bezeugung des Evangeliums den Juden gegenüber. Es ist ein zentraler Auftrag der Kirche Jesu Christi, der allerdings von unseren Landeskirchen heute ebenso wie von der EKD als Ganzer in theologischer Kurzsichtigkeit verkannt, ja verleitet durch eine häretische akademische Theologie sogar bestritten wird. Diakrisis hat in seinem diesjährigen Juliheft ausführlich darüber berichtet.

Die gegenwärtigen erneut ausgebrochenen Unruhen im Lande Israel und die Unfähigkeit der Staatsmänner, durch politische Vermittlungen eine Friedenslösung für den Nahen Osten zu finden, sind eine negative Bestätigung dafür, daß dieser zutiefst heilsgeschichtlich begründete Konflikt letztlich nur geistlich, d.h. durch die Umkehr Israels zu seinem verstoßenen Messias gelöst werden kann und auch werden wird. Der Zeitpunkt dafür könnte schon sehr nahe gerückt sein. Das aber hat tiefgreifende Konsequenzen auch für die Geschicke der übrigen Völkerwelt, auch für unsere europäischen Nationen und für unser deutsches Volk. Ein heilsgeschichtlich geprägter württembergischer Theologe verglich kürzlich die Ereignisse in und um Israel und die Vorgänge in der Welt der übrigen Nationen als zwei kommunizierende Röhren. In dem Maße, wie sich die endzeitliche Entscheidungsstunde für Israel nähert, gehen die den Völkern eingeräumten Gnadenzeiten zuende. Wenn diese Schau, die ich persönlich teile, richtig ist, dann haben wir hier den Schlüssel zum Verständnis der uns umtreibenden Geschehnisse gerade auch in unserem Land: in unserem Volk und unseren Kirchen, gefunden. Damit stehe ich vor dem traditionell mir als Präsidenten zufallenden Aufgabe des Lageberichts, der allerdings der mir zugleich erteilten Aufgabe, das einführende Grundsatzreferat zu halten, nur noch skizzenhaft ausfallen kann:

IV. Unsere gegenwärtige Lage in Kirche und Volk im Licht der
       biblischen Endzeitprophetie

Unser Volk hat seit seiner Evangelisierung durch die von den Britischen Inseln kommenden Sendboten und der Kulturpädagogik der Benediktiner und Zisterzienser teilbekommen an der Symbiose zwischen Staat und Kirche, die das Konstantinische Zeitalter kennzeichnete. Es wurde dadurch zu einem christianisierten Volk, dessen Kultur in ihrer geistig-ethischen Sinnmitte tief geprägt war durch biblische Symbole. Die Fürsten leiteten ihre Erbschaft – wenn auch häufig mißbräuchlich – von der ihnen von Gott bzw. Christus verliehenen Autorität ab. Auch die Reformation hat bei ihrer notwendigen Freilegung des oft gesetzlich mißverstandenen Evangeliums durch die Einrichtung des Summepiskopats der Landesfürsten an dieser Symbiose festgehalten. Durch die pietistischen Erweckungsbewegungen kam es in weiten Kreisen und manchen Landstrichen zu einer Verinnerlichung der Christusbindung. Diese Symbiose empfing ihre erste tiefe Erschütterung aufgrund der sich an der Glaubensspaltung entzündenden Religionskriege.

Die zweite Erschütterung ging noch tiefer und vollzog sich in dem der Aufklärung folgenden Zeitalter der modernen Revolutionen, der Französischen, der kommunistischen und der nationalsozialistischen, die alle militant-atheistischen Charakter trugen. Die von ihnen ausgehenden bzw. sie begründenden Ideologien haben zu einer fortschreitenden Verfinsterung des Gottesbewußtseins geführt, dem breite Schichten der Bevölkerung, gerade auch die der gebildeten zum Opfer fielen. In den letzten Jahrzehnten – darauf haben wir in unserer Konventsarbeit immer wieder hingewiesen – hatten wir es mit einer erneuten, äußerlich gewaltlosen vierten Revolution zu tun, der biologischen, einer weiteren Emanzipation weg von den christlich verdankten Grundwerten unserer Kultur.
Die Folge ist ein neuartiges, der biblischen Schau völlig entfremdetes Verständnis der Geschlechter und der Sexualität. Sie führte zu einer Vergötzung des sinnentfremdeten Lustprinzips, zum Abschütteln der bisherigen Wesensbestimmung der Frau als Gattin und Mutter durch den Feminismus, zur rechtlichen Freigabe der Abtreibung ungeborener Kinder und zur Legitimierung und Legalisierung homosexueller Partnerschaften in weitgehender Gleichstellung mit der Ehe.
Auch diese Emanzipation vollzog sich als ein Protest gegenüber dem biblisch offenbarten Verständnis Gottes als Herrn Himmels und der Erde und unseres Vaters, weil Er ja die bisher respektierte Schöpfungsordnung von Ehe, Familie und Volk sowie die Erhaltungsordnungen des Staates und der Gerichte sanktionierte. Verhängnisvoll war es nun, daß die moderne Theologie rationalistisch die Schriftautorität unterminierte, biblische Aussagen und Termini wie z.B. den Liebesbegriff ideologisch umdeutete und sich zeitgeistigen Strömungen statt diesen zu widersprechen, anpaßte. Viele Kirchenführer sahen sich dadurch in ihrem geistlichen Wächteramt im Stich gelassen und ließen in ihren Synoden wie z.B. der Rheinischen und der Nordelbischen Beschlüsse fassen, die den staatlichen Gesetzesreformen durch vorlaufenden Gehorsam Tür und Tor öffneten. Es gibt Gott sei Dank Ausnahmen.

So stieß kürzlich die vom Bundestag beschlossene Schaffung eines neuen Rechtsstatus für gleichgeschlechtliche Partnerschaften auf den Widerspruch von Bischöfen beider Kirchen. Aber allem Anschein nach ist die gegenwärtige rot-grüne Koalitionsregierung, nachdem schon ihre christlichdemokratische Vorgängerin in deren 14jähriger Legislatur die versprochene geistige Wende schuldig geblieben war, fest entschlossen, den Abbau verfassungsmäßig verankerter christlicher Grundwerte weiter voranzutreiben. Zur konsequenten Eliminierung der christlichen Grundwerte gehört auch die Anvisierung einer multikulturellen Gesellschaft im Zuge der Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik. Sie sieht langfristig eine völlige Gleichstellung der verschiedenen Religionen, vor allem der islamischen mit der christlichen, vor. Das wird es den Kirchen künftig noch schwerer machen, unter Berufung auf Konkordat und Staatskirchenvertrag den Schutz der christlich verdankten Grundwerte anzumahnen. In der Auseinandersetzung um den Begriff “Leitkultur” bezwecken dessen Kritiker wesentlich den Verzicht auf jegliche staatliche Wahrung des christlichen Kulturerbes sowie der Abwehr religionsfeindlichen oder gar blasphemischen Mißbrauchs staatlich geförderter Kultur. Der Ernst unserer gegenwärtigen Lage vertieft sich dadurch, daß im Zuge des Aufbaus eines Vereinten Europas die Regierungen unserer Staaten dazu tendieren, sich in ihrer Politik und ihrem rechtsetzenden Handeln weniger ihren eigenen Völkern und deren parlamentarischen Vertretung als vielmehr ihren sozialistischen Kollegen in anderen Partnerstaaten verantwortlich fühlen. Das zeigt sich gerade in diesen Wochen in der Vorbereitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die bisher unter Umgehung der Parlamente ganz auf Regierungsebene ausgehandelt worden ist. In dieser Charta sind alle Bezüge auf eine Verantwortung gegenüber Gott und dem christlichen Kulturerbe Europas entfallen. Insofern droht die akute Gefahr, daß das künftige vereinte Europa nicht etwa auf der Basis des einstigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen und seinen christlich-abendländischen Traditionen geschaffen werden wird, als vielmehr, wie besorgte Christen fürchten, als eine Art Wiederbelebung des heidnischen Imperium Romanum, also des vierten von Daniel geschauten Weltreiches. Das aber wäre in johanneischer Perspektive das Reich des Antichristen. Es geschah aus einer tiefen Besorgnis über die rapide Preisgabe christlicher Positionen durch die gegenwärtige Regierungspolitik, daß wir sowohl im Leiterkreis der Konferenz Bekennender Gemeinschaften als auch im Präsidium des Theologischen Konventes beschlossen, die diesjährige Konventstagung in der alten und nun neuen Hauptstadt unseres Volkes abzuhalten. Das zehnjährige Gedenken an den Fall der Mauer gibt uns in Aufnahme des damaligen Protestrufes der ostdeutschen Bevölkerung das Leitthema unserer Tagung:  “Sind wir noch ein Volk?”

Durch den ungesuchten Umstand, daß uns die hiesige Tagungsstätte, das Johannesstift dafür den Termin benannte, dessen Ende auf den Buß- und Bettag fällt, reifte in uns der Wunsch, diese Zusammenkunft mit einem Bußgottesdienst zu beschließen. Um uns mit unserem geistlichen Anliegen dabei an eine weitere Öffentlichkeit zu wenden, beschlossen wir, in seinem Rahmen einen Geistlichen Aufruf zu verlesen, in dem wir an unser Volk, seine Regierenden und seine Kirchen appellieren, die uns noch eingeräumte Gnadenzeit zu nutzen, um in aufrichtiger Buße zum dreieinigen Gott zurückzukehren, dessen geschichtlicher Führung wir das Werden unseres Volkes verdanken und unter dessen Leitung allein es noch eine heilvolle Zukunft haben kann. Es ist mein inniger Wunsch, daß wir uns erstens in dieser Versammlung auf den Text eines solchen Wortes einigen können, daß zweitens der Aufruf bei den Verantwortungsträgern in Volk und Kirche Gehör finde, und daß drittens last but not least, wir ihn in eigener Bereitschaft zur Buße selber beherzigen. Ich erinnere an die erste von Martin Luthers 95 Thesen:

“Wenn unser Herr und Meister sagt: ‚Tut Buße’, so will er, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.” 

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