Der Neue Mensch (P.Spörri)

Pierre Spörri

DER NEUE MENSCH ALS GESELLSCHAFTLICHE FORDERUNG

Die Marxsche Klassentheorie als Träger des neuen Menschentyps
Neuer Mensch aus dem Computer?
Systemveränderung oder Änderung der menschlichen Natur?
Der Weg zum neuen Menschen

 

1. Die Marxsche Klassentheorie als Träger des neuen Menschentyps

Der Sowjetkommunismus

Die Suche nach dem neuen Menschen zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Menschheitsgeschichte. Schon immer scheinen die Menschen mit sich und der Gesellschaft, in der sie lebten, nicht zufrieden gewesen zu sein. Und diese Sehnsucht nach einer inneren Erneuerung war oft begleitet von der Erwartung einer neuen Welt.

Durch das Alte und besonders durch das Neue Testament erlebte die Botschaft von der Neuwerdung des Menschen ihre weiteste Verbreitung: »Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden« (2. Korinther 5,17).

Aus verschiedenen Gründen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, wurde im Christentum das Bestreben, den Weg zum neuen Menschen zu zeigen, in den Hintergrund gedrängt. Und so waren es mehr und mehr politische und soziale Bewegungen, die das Ziel der Befreiung und Erneuerung des Menschen zusammen mit der Veränderung der Gesellschaft auf ihre Fahnen schrieben. Im vergangenen Jahrhundert gelang es Karl Marx, die Sehnsucht nach revolutionärer Erneuerung in eine konkrete Ausdrucks  und Aktionsform zu verwandeln: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.« (Karl Marx, These 11 der »Thesen über Feuerbach«, 1845).

Als erster untersuchte dann Lenin in der Praxis die Frage, ob die Zerstörung der »alten Gesellschaft« und die Schaffung neuer Gesellschaftsstrukturen auch tatsächlich zur Geburt des »neuen Menschen« führen würde. Am 20. Januar 1919 erklärte er auf dem II. Gesamtrussischen Gewerkschaftskongreß: »Die Arbeitnehmer bauen die neue Gesellschaft auf, ohne sich selbst in neue Menschen verwandelt zu haben, die frei wären vom Schmutz der alten Welt; sie stecken noch bis zu den Knien darin. Sich von diesem Schmutz frei zu machen, ist heute noch ein Traum. Es wäre die größte Utopie zu glauben, das könnte von heute auf morgen geschehen. Das wäre eine Utopie, in der Praxis nur dazu angetan, das Reich des Sozialismus in den Himmel zu verlegen.« (W. I. Lenin, »Über kommunistische Moral«, Verlag Dietz, Berlin).

Einige Monate später mußte aber Lenin offensichtlich an gewisse moralische Kräfte appellieren, die sich trotz der Änderung der Gesellschaftsstruktur noch nicht recht entwickelt hatten: »Es ergibt sich eine Art Circulus vitiosus. Um die Arbeitsproduktivität zu heben, muß man sich vor dem Hunger retten, und um sich vor dem Hunger zu retten, muß man die Arbeitsproduktivität heben. Bekanntlich werden derartige Widersprüche in der Praxis dadurch gelöst, daß dieser Circulus vitiosus durchbrochen wird dank einem Umschwung in der Stimmung der Massen, dank der heroischen Initiative einzelner Gruppen … Der Kommunismus beginnt dort, wo einfache Arbeiter, in selbstloser Weise harte Arbeit bewältigend, sich Sorgen machen um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, um den Schutz der Produkte, die nicht den Arbeitenden persönlich zugute kommen, sondern der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.«

Lenin hat sich während seiner letzten Jahre intensiv mit der Frage der Schaffung des »neuen Menschen« im kommunistischen Sinne auseinandergesetzt. In gewissen Augenblicken scheint er die Hoffnung genährt zu haben, die Theorie der »bedingten Reflexe« des berühmten Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow würde ihm eine Abkürzung auf dem Weg zum neuen Menschen zeigen. Auf jeden Fall wurde Pawlow eingeladen, drei Monate lang als Lenins Gast im Kreml zu wohnen. Das Manuskript, an dem er während dieser Periode arbeitete, ist nie bekannt geworden. Daß es sich bei den Entdeckungen Pawlows aber um explosive Wahrheiten handelte, zeigt die Tatsache, daß trotz »abweichlerischer« politischer Ideen Pawlow während der ganzen stürmischen Periode der sowjetischen Geschichte in Ruhe gelassen wurde. (Siehe Edward Hunter, »Brainwashing   The Story of Men who defied it«, Pyramid Books, 1957).

Die Weiterentwicklung der Pawlowschen Ideen führte zur Theorie und Praxis der »Gehirnwäsche«, wie sie in verschiedenen Ländern praktiziert wurde. Was man auch immer über die Wirksamkeit dieser Methode sagen kann: Einen neuen Menschentyp hat keine »Gehirnwäsche« bis jetzt hervorgebracht.

Edward Crankshaw schreibt über gewisse Entwicklungen während der Regierungszeit Stalins: »Es wird uns gesagt, daß Jahre von Beeinflussung, von der Wiege an, jedes Individuum zum gehorsamen, willen- und phantasielosen Instrument in der Hand seines Meisters machen.
Es ist eindeutig klar, daß Stalin selbst von dieser Idee überzeugt war und erwartete, daß das sowjetische Erziehungssystem, verstärkt durch Parteischulung in den Organisationen der Pioniere und des Komsomol, alle unerwünschten Charaktermerkmale eliminieren und die Massen nach dem von ihm gewünschten Muster formen würde … Aber das russische Experiment hat eines endgültig und ohne Zweifel bewiesen: auch wenn ein Diktator dadurch, daß er über den ganzen Propagandaapparat verfügt, die Menschen dazu veranlassen kann, sich selbst zu opfern, kann er nicht für lange das spekulative Element im menschlichen Geist abtöten…« (Edward Crankshaw, »Russia without Stalin«, Michael Joseph, London, 1956).

Anfang der sechziger Jahre, fünfzig Jahre nach der russischen Revolution, wurde die Erziehung des »neuen Menschen« immer noch als »die schwierigste Aufgabe bei der kommunistischen Umwandlung der Gesellschaft« dargestellt. Diese Worte gebrauchte Leonid Ilyitschow, damals Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, anläßlich des Plenums des ZK am 18. Juni 1963. Weiter erklärte er: »Wenn es uns nicht gelingt, die moralischen Prinzipien der Bourgeois Gesellschaft auszurotten, die Menschen im Geist der kommunistischen Moral zu erziehen und geistig den Menschen zu regenerieren, wird es nicht möglich sein, eine kommunistische Gesellschaft aufzubauen.«

Der letzte, der zum gleichen Thema in der Sowjetunion das Wort ergriff, war Leonid Breschnew, der im Frühjahr 1972 auf dem 24. Parteitag der KPdSU erklärte: »An einem der ersten Plätze in der ideologischen Arbeit der Partei steht die Erziehung des sowjetischen Menschen zu einer neuen, kommunistischen Einstellung zur Arbeit … Es kann keinen Sieg der kommunistischen Moral geben ohne entscheidenden Kampf gegen deren Antipoden wie Raffgier, Bestechlichkeit, Müßiggang, Verleumdung, anonyme Schmähbriefe, Trunksucht und dergleichen.«

Verschiedene Wege zum Kommunismus

Die Tschechoslowakei und Jugoslawien haben am meisten dazu beigetragen, die Möglichkeiten eines »humaneren Weges zum Sozialismus« zu studieren. Von den Vertretern der reinen marxistischen Doktrin wird dieser neue Weg als »Revisionismus« verschrien. Seine Befürworter dagegen sprechen von einem »Sozialismus mit menschlichem Gesicht«. Wurde auf diesem Weg der neue Menschentyp entwickelt?

Die Jugoslawen bedienen sich sowohl in Einzelgesprächen wie auch in der Literatur der offensten Sprache. Männer wie Milovan Djilas (M. Djilas, »Die Neue Klasse«, »Die unvollkommene Gesellschaft« Fritz Molden, Wien) und auch viele im Westen noch wenig bekannte Film- und Fernsehautoren decken mit einer Ehrlichkeit die Mißstände in Volk und Nation auf, die in anderen Ländern noch undenkbar wäre.

Einer der bekanntesten Schriftsteller Kroatiens, M. Krléza, äußert sich unverblümt: »Der Mensch ändert sich in seiner physischen und moralischen Struktur nicht, wenn sich die Strukturen der sozialen Beziehungen ändern … Lügner lügen weiter im Sozialismus. Schwindler und Schurken betrügen weiter. Räuber morden weiter. Und die Befürworter der Wahrheit fahren fort, für ihre Ideale zu sterben…« Krleza schließt mit der Feststellung, daß »die Befreiung des Menschen von seinen wilden, ursprünglichen Instinkten das aufwühlendste dichterische und sittliche Thema unserer Zeit bleibt.« (Miroslav Krléza, geboren 1893, während mehrerer Jahre Präsident des jugoslawischen Schriftstellerverbandes.)

Dem Verfasser dieser Zeilen gegenüber beklagte sich bei einem Besuch in Jugoslawien im Herbst 1969 ein führender Marxist und Intellektueller über die heutige jugoslawische Jugend. Er sagte, daß er in den Jahren nach dem Krieg überzeugt gewesen sei, durch die richtige Neustrukturierung der jugoslawischen Gesellschaft würde automatisch eine neue Generation mit neuen Motiven aufwachsen. Die Tatsache, daß eine seiner Töchter zu einer fanatischen Anhängerin der Ideen Maos geworden ist und daß viele seiner Studenten entweder zum Nihilismus oder zum westlichen Materialismus neigen, hat diesen Mann zu einer schmerzlichen Revision seines Denkens gezwungen. Er sagte uns: »Die junge Generation ist uns nicht gefolgt, weil wir alles zu sehr vermaterialisiert haben. Die junge Generation will nicht noch mehr Materialismus. Sie will den Sinn des Lebens finden.« Daß es für ein totalitäres Regime nichts Schwereres gibt, als langsam die Zügel etwas locker zu lassen und daß Liberalisierung an sich weder zu glücklichen noch zu neuen Menschen führt, hat Alexis de Tocqueville im letzten Jahrhundert in geradezu prophetischer Weise formuliert: »Die Erfahrung beweist, dag der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung dann beginnt, wenn sich diese zu reformieren anfängt. Das Leiden, das unvermeidlich schien, wird unannehmbar im Augenblick, in dem ein Ausweg möglich scheint. Reform zeigt dann umso klarer, was immer noch Unterdrückung ist und jetzt umso mehr unerträglich geworden ist.«

Wenn man Titos Weg zum Sozialismus irgendwo zwischen der heutigen Auffassung Moskaus und der westlichen Sozialdemokratie einstufen konnte, so gehören der Castrismus und der Maoismus zu denjenigen Formen des Kommunismus oder ein bourgeoiser Reformismus mehr erreichen als bleiben wollten.

Bei Castro und Ché Guevara blieb die Suche nach dem neuen Menschen immer an der Tagesordnung. »«Wir werden den Menschen des 21. Jahrhunderts hervorbringen«, prophezeite Ché Guevara, der Kampfgefährte Fidel Castros, als er selbst noch in Kuba die Geschicke der kubanischen Revolution mitbestimmen half. Bei einer anderen Gelegenheit sagte Guevara: »Wenn es nicht darum ginge, den Menschen zu verändern, dann würde mich die Revolution nicht interessieren. Wenn es nur darum geht, das Lebensniveau zu heben, dann kann vielleicht ein intelligenter Neo Kapitalismus oder ein bourgeoiser Reformismus mehr erreichten als ein Sozialismus ohne Glauben.«

Auch Castro sagte einmal, ein ökonomischer Sozialismus ohne kommunistische Moral interessiere ihn nicht: »Das Geld bleibt das Herzstück der Sozialpolitik Chinas, welche Gleichheit zum Ziel hat, und der Sowjetunion, die die Unterschiede der Einkommen ermutigt. Wir wollen den Mythos des Geldes zerstören und ihn nicht rehabilitieren.«

Während der ersten Jahre seiner Revolution schien sich eine ganze Generation für Castro und sein gewaltiges Experiment zu interessieren. In den letzten Jahren haben die »Pilgerzüge« nach Havanna und auch die Ausstrahlung nach anderen Staaten Südamerikas abgenommen. Wie in jeder Revolution scheint die Frage noch nicht entschieden zu sein, welche Richtung die zweite Generation der Revolution einschlagen wird.

Mao und die Kulturrevolution

Ohne Zweifel der gigantischste Versuch, den »neuen Menschen« zu schaffen, wird heute in China durchgeführt. Ob einem dieses Experiment gefällt oder nicht, man muß doch Mao Tse tung und der Gruppe der Männer um ihn zugestehen, daß sie die Schwächen der menschlichen Natur recht klar erkannt haben und ihnen mit eigenen Methoden beikommen wollen.

Das Ziel hat Mao klar formuliert: »Die endgültige Frage heißt: Wird es junge Menschen geben, die der älteren Generation der proletarischen Revolutionäre folgen und die marxistisch-leninistische Revolution bis zum Ende durchführen werden; mit anderen Worten: Wird es ihnen möglich sein, in China das Auftreten eines Chrustschowschen Revisionismus zu verhindern? Dies ist die Frage auf Leben und Tod nicht nur für die Partei, sondern auch für unser ganzes Land. Es ist eine Frage von grundlegender Bedeutung für die Sache der proletarischen Revolution nicht nur der nächsten hundert, aber auch tausend Jahre.« (Mao, Rede vom 14. Juli 1967).

Dabei geht es Mao und seinen Kollegen nicht um allgemeine Ideen, sondern um die Lebensweise und den Alltag jedes einzelnen Chinesen, besonders aber derjenigen, die später einmal die Führung ihres Landes übernehmen sollen. So spricht er über die heranwachsende Elite: »«Sie zeigt häufig eine subjektivistische und individualistische Neigung. Sie ist im Denken abstrakt und sprunghaft in ihren Handlungen. Wenn eine Krise der Revolution kommt, wird ein Teil von ihnen de revolutionären Reihen verlassen und eine negative Haltung einnehmen. Eine Minderheit wird zu den Feinden der Revolution übergehen.«

Nicht durch Zufall wurde von den »Roten Garden«, Maos Stoßtrupp während der Großen Kulturrevolution, ein Zitat von Lenin auf Spruchbändern und Wandzeitungen verbreitet: »Es ist die alltägliche, kleine, unsichtbare und ungreifbare Korruption, die die Bedingungen der bürgerlichen Restauration schafft.« (Rainer Hoffmann, »Entmaoisierung in China«, Weltforum Verlag, München, 1972).

Welche Methoden braucht Mao, um den »neuen Menschen« zu schaffen oder ihn »neu« zu erhalten? Was auf der persönlichen Ebene die Gehirnwäsche ist, wächst sich auf der nationalen Ebene zur Kulturrevolution aus. Hsu Ching-hsien, führendes Mitglied des Revolutionskomitees von Schanghai und Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, ein Mann von sechsunddreißig Jahren, der zur neuen Führungsgeneration gehört, erklärte diese Begriffe in einem Gespräch mit dem französischen Politiker Alain Peyrefitte:

»Immer und immer wieder muß man sich das Gehirn waschen. Wenn man dies von Zeit zu Zeit vergessen würde, würde der kapitalistische Geist sofort zurückkehren. Diese Wäsche ist mühsam; die Schmerzen dauern noch lange an. Gerade deshalb muß man dies auf sich nehmen. Wenn man nicht leiden würde, wäre das Ganze ohne Nutzen … Im Leben eines Menschen, braucht es zehn, hundert Gehirnwäschen. Im Leben Chinas wird es zehn, hundert Kulturrevolutionen brauchen, wenn wir wollen, daß dieses Land während tausend oder zehntausend Jahren rot bleibt. Die Diktatur des Proletariats kann nur ausgebaut werden, wenn jeder bourgeoise Einfluß ausgerottet wird. Es würde genügen, einen einzigen Augenblick den Klassenkampf zu vergessen, um die unvermeidliche Wiederherstellung der Gegenrevolution zu ermöglichen, in jedem einzelnen Chinesen und in ganz China … Ganz China würde dann seine Farbe ändern, wie es schon einmal beinahe geschehen ist. Rot hält sich nicht leicht; es verbleicht. (Alain Peyrefitte, »Quand la Chine s’éveillera«; ebenso in Gustav Weth, »Chinas Rote Sonne« (Brockhaus Verlag, Wuppertal, 1972).

Die Frage, die sich einem neutralen Beobachter sofort stellt, wird auch von Peyrefitte und anderen Chinareisenden aufgegriffen: Wenn sich auch eine Mehrheit des chinesischen Volkes freiwillig dem System von Gehirnwäsche und Kulturrevolution unterwirft, was geschieht mit denen, die das nicht tun oder nicht tun wollen? Für diese Gruppe der Bevölkerung ist ein ganz besonderes Umerziehungsprogramm geschaffen worden, das sich »Hsia fang« nennt. Um den Revisionismus im menschlichen Charakter, besonders bei Intellektuellen, Studenten und Bürokraten, zu bekämpfen, werden diese »hinunter aufs Land und hinauf in die Berge« geschickt, um dort ein Programm, das harte praktische Arbeit und Gruppendiskussionen einschließt, durchzuführen. Das offizielle Organ des kommunistischen Jugendverbandes (des chinesischen Gegenstücks zum Komsomol) behauptete am 25. Januar 1964., daß insgesamt 40 Millionen junger Leute »hinuntergesandt« worden seien. (Klaus Mehnert, »Peking und die Neue Linke«, DVA, 1969).

Ein weiteres Werkzeug zur »Reform des menschlichen Denkens« wurde von Mao Tse tung während der Kulturrevolution geschaffen: Die »7. Mai Schulen«. Das Ziel dieser Schulen war, so schreibt der China Kenner Harrison Salisbury, »den Schülern beizubringen, vom Volk zu lernen. Beamte, Mitglieder der Partei, Bürokraten, Mitglieder des Parteiapparates wurden in diese Schulen geschickt, um mit ihren Händen zu arbeiten, ihre Gedanken zu säubern und zu den marxistischen und maoistischen Grundprinzipien zurückzukehren.« (Harrison E. Salisbury, »To Peking   and beyond« (A Report on the New Asia), Berkley Medaillon Books, New York, 1973).
Salisbury zitiert dann verschiedene Beamte, Professoren und Parteimitglieder, die an Lehrgängen der »7.Mai Schulen« teilgenommen hatten. Ein Beamter sagte zu ihm: »Jetzt weiß ich, was Leben in China bedeutet…« Er habe den Eindruck gewonnen, daß ihn diese Erfahrung vom Egoismus befreit habe, auch von seiner natürlichen Tendenz, sich an die erste Stelle zu setzen, an sein Leben in nur individuellen Begriffen zu denken und zuerst an seine berufliche Laufbahn zu denken …
Was Salisbury bei seiner China Reise auffiel, war die Tatsache, daß die Kulturrevolution nur eine Angelegenheit der Intellektuellen, Beamten und Städter war. Bauern hatten nur einen ganz kleinen Anteil, und auch Arbeiter waren in den »7. Mai Schulen« kaum zu finden: »Es schien mir, daß die Tendenz zur Verbürgerlichung in den chinesischen Landgebieten viel offensichtlicher war als das Bild des Neuen Chinesischen Menschen.«

Haben also Kulturrevolution, Gehirnwäsche, »Hsia fang« und »7. Mai Schulen« wirklich den neuen Menschen geschaffen? Anders formuliert: Haben Kulturrevolution und Gehirnwäsche die Chinesen zu willigeren und gehorsameren Werkzeugen ihrer Führer gemacht?  Vielleicht könnte man mit Ja antworten. Ob aber diese Methoden auch in Zukunft zu »neuer menschlicher Natur« führen werden, kann man bezweifeln.

Das wirkliche Versagen des chinesischen Systems liegt nämlich auf einer tieferen Ebene. Ein Chinese, der heute außerhalb seines Landes lebt, sagte vor einigen Monaten zum Verfasser: »Sowohl Kapitalismus wie auch Kommunismus haben die Schwächen der chinesischen menschlichen Natur nicht geheilt; sie haben sie nur ausgebeutet. Und die größte Schwäche der chinesischen Natur ist die Abhängigkeit eines Menschen vom andern, die sich in Beherrschung und Unterwerfung ausdrückt.« So zeigt sich: Wenn der »neue Mensch« durch äußeren Zwang geschaffen wird, ist auch weiterer Zwang notwendig, um ihn »neu« zu erhalten.

Neuer Mensch aus dem Computer?

Im Westen gibt es Bestrebungen, außer auf christlichem oder marxistischem Weg auch durch wissenschaftliche Methoden einen neuen Menschentyp zu produzieren. So schreibt der amerikanische Wissenschaftler H. J. Muller:
»Wir sehen eine Zukunft vor uns, die sich der Mensch selbst gestalten kann, wenn er es nur will … Prometheus, der einst das Feuer stahl, zähmt heute die nuklearen Furien, tastet das Gehirn mit Elektroden ab, zerlegt die Gene und setzt sie wieder zusammen … Doch seine größere Aufgabe wird die Erschaffung eines mächtigeren Prometheus sein. Wenn er dieses Vorrecht, das er sich selbst zuerkannt hat, einmal ausübt, wird er seine höchste Freiheit finden. (H.J. Muller, Die Zukunft des Menschen, in »Der evolutionäre Humanismus«).

Es gibt heute zwei biologische Forschungsgebiete, bei denen es um die Veränderung der Persönlichkeit geht. Eines dieser Gebiete heißt »mood control« und schließt vor allem die Beeinflussung gewisser Hirnzentren durch Medikamente und chemische Substanzen ein. Das andere Forschungsgebiet hat das Zellgewebe als Objekt, insbesondere den Zellkern, und versucht aus der Zellphysiologie heraus das Geheimnis der Vererbung zu erklären und – in einem späteren Stadium – zu beeinflussen.

Schon vor zehn Jahren sah der französische Professor Jean Rostand die wachsende Bedeutung der Gehirnforschung voraus und erklärte: »Besondere Hormone und andere chemische Agenten werden gebraucht werden, um die Schärfe des Geistes eines Mannes zu erhöhen, seinen Charakter zu stärken und ihn zu tugendhaftem Verhalten zu veranlassen. Vielleicht wird man bald zum Apotheker gehen, um etwas Genie oder Heiligkeit einzukaufen, genau so wie sich heute die Frauen die Form ihrer Nase oder die Tiefe ihres Blicks im Beauty Parlour besorgen.«

Die Entdeckungen auf dem Gebiet der pharmakologischen Beeinflussung des menschlichen Gehirns haben eine Diskussion unter den Wissenschaftlern ausgelöst, die so schnell nicht mehr abbrechen wird. Gewisse Forscher wie Dr. Jonathan O. Cole vom National Institute of Health (USA), geben sich optimistisch:
»Ich halte es für unwahrscheinlich, daß mit den gegenwärtigen Methoden ein neues Medikament entwickelt werden kann, das in spezifischer und verläßlicher Weise entweder die Freiheit oder die Kontrolle der menschlichen Denkprozesse beeinflussen kann… « (G. Rattray Taylor, »The Biological Time Bomb« Panther Edition, 1969), Deutsch: Die Biologische Zeitbombe, Fischer Taschenbuch).

Andere sehen große Gefahren. Professor James G. Miller, Direktor des Mental Health Research Institute von Ann Arbor, Michigan, befürchtet, daß »Drogen-Forschung zu einer neuen Tyrannei führen könnte, die über die Vorstellungskraft Jeffersons weit hinausgeht«:
zu einer »Kontrolle der menschlichen Handlungen durch chemische Mittel«. Der Autor des Buches »Die biologische Zeitbombe« fügt als seinen eigenen Kommentar hinzu:
»Wenn wir deshalb nicht entsprechende Anstrengung unternehmen, die noch schwerere Aufgabe zu erfüllen, in ihrem Gefühlsleben reife, nach außen gerichtete und ausgeglichene Individuen heranzuziehen wird jedes Rezept für die rapide Verbesserung der menschlichen Intelligenz negative, vielleicht sogar fatale Wirkungen zeigen«.

Noch komplexer sind die Diskussionen, die den neuen Entdeckungen auf dem genetischen Sektor folgen. Die Tatsache, daß es einem Harvard Team von Wissenschaftlern gelungen ist, durch eine geradezu geniale Methode ein Gen   eine an bestimmten Orten des Chromosoms lokalisierte Erbeinheit zu isolieren, veranlaßt die italienische Wochenzeitschrift »L’Europeo« triumphierend zu verkünden, »Faremo nascere uomini perfetti« (Wir werden vollkommene Menschen hervorbringen). Während der französische »Express« die gleiche Nachricht, als einen »beängstigenden Fortschritt« beschreibt, spricht die amerikanische »Times« von einem »eleganten Triumph«.

Noch in den frühen siebziger Jahren glaubte eine große Zahl von Wissenschaftlern nicht daran, daß es schon in der nächsten Generation möglich sein würde, die Erbanlagen eines Menschen spezifisch zu beeinflussen. Der Nobelpreisträger Dr. Max Perutz beschrieb die Schwierigkeiten dieses Experimentes folgendermaßen:
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie man den genetischen Apparat des Menschen wird chirurgisch behandeln können … Die Zahl der Nukleotid Basen-Paare einer einzigen menschlichen Keimzelle werden auf eine Milliarde geschätzt, die auf 46 Chromosomen verteilt sind. Wie könnte ein spezifisches Gen aus einem einzelnen Chromosomen entfernt, oder ein spezifisches Gen hinzugefügt, oder ein Mangel in einem einzelnen Nukleotid BasenPaar in einem Gen repariert werden? Es scheint kaum möglich zu sein.«

Im Sommer 1974 wendet sich dann aber plötzlich eine Gruppe von amerikanischen Wissenschaftlern, unter ihnen der Nobelpreisträger James D. Watson an die Öffentlichkeit mit dem sensationellen Vorschlag, auf gewissen Gebieten der Genforschung einen Forschungsstopp zu beschließen. Es ist das erste Mal, daß Wissenschaftler selbst die Freiheit der biologischen Forschung einschränken wollten. Die an der Entwicklung der Genforschung beteiligten Wissenschaftler befürchten nämlich, daß bei gewissen Genmanipulationen, gezielt oder auch unbeabsichtigt, »genetische Informationen entstehen könnten, die dann verbreitet und übertragen werden und unabsehbare Schäden anrichten würden«. (Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.7. 74 und 21. 8.74 und Paris Match, 21.9. 74).

Andere Wissenschaftler denken aber auch mit Sorge an andere Fragen, die die zukünftige Wissenschaft zu beantworten haben wird . . . Wie definiert man den Menschen, der besser als der Durchschnitt der jetzt lebenden Menschen sein soll? Vermag überhaupt der Mensch ein für die ausgedehnten künftigen Zeiträume gültiges Idealbild von sich selbst im somatischen und psychischen Bereich zu entwerfen, zu dem er sich allmählich umgestalten soll? … Welches ist der Zusammenhang zwischen Begabung und Geisteskrankheit, zwischen Genie und Irrsinn? … Wer oder welche Autorität entscheidet letztlich und verantwortlich, welches Idealbild des Menschen zu gelten, auf welchem Weg die Reise in die Zukunft stattzufinden hat und welche Experimente vorzunehmen sind?« (Paul Overhage, »Experiment Menschheit«, Josef Knecht Verlag).

Auf dem Gebiet der Biologie scheint es also auch keine Abkürzung zum neuen Menschentyp zu geben: »Im Fortschritt der Wissenschaft erweist sich der Mensch als… der rastlos Planende, unentwegt Tätige, alles Nutzende und alles Machen Könnende (Löwith 1963) … Das Problem scheint nur noch zu sein, auch den Menschen so umzubauen, daß er es mit seinen eigenen Erfindungen aufnehmen kann.«

Systemveränderung oder Änderung der menschlichen Natur?

Obwohl weder Biologie noch die verschiedenen Versionen der kommunistischen Ideologie einen sicheren Weg zur Wandlung der menschlichen Natur zu zeigen scheinen, mehren sich im Westen und Osten die Stimmen, die eine Änderung des Menschen als eine Voraussetzung für eine wirkliche Änderung der Verhältnisse ansehen.
So drückt sich Karl Jaspers in seinem Werk »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen« folgendermaßen aus: »Es genügt nicht, neue Institutionen zu finden; uns selbst, unsere Gesinnung, unseren sittlich politischen Willen müssen wir verwandeln. Jede kleine Handlung, jedes Wort, jedes Verhalten in den Millionen und Milliarden ist wesentlich . . .«

Aus der theologischen Sicht heraus spricht der Zürcher Universitätsprofessor Arthur Rich in einem Vortrag von der Dialektik von personal und strukturell Bösem»«: »«Wer sie (diese Dialektik) verkennt, wird unvermeidlicherweise das wirklich Böse entweder nur in seiner personalen oder dann nur in seiner strukturellen Gestalt erkennen. . . Und je nach der Art dieser Reduktion heißt es dann: Böse sind immer nur Personen, nicht aber gesellschaftliche Strukturen bzw. Institutionen. Sind die Menschen gut, dann werden auch diese in Ordnung kommen. Oder: Böse sind bloß die Strukturen bzw. Institutionen der etablierten Gesellschaft. Wenn ihr diese revolutioniert, so werdet ihr auch den Menschen ändern. Das eine ist der Kurzschluß des traditionellermaßen personalistisch verengten Christentums und das andere der Kurzschluß mindestens des vulgären, auch schon zu einer starke n Tradition gewordenen Marxismus…«

Der Amerikaner Dr. Frank N. D. Buchman, Gründer der moralischen Aufrüstung, formulierte die Reihenfolge der Änderung des einzelnen bis zur Änderung der Gesellschaft so: »Die Natur des Menschen kann geändert werden. Das ist die Frucht dieser Antwort. Die Geschichte der Welt kann geändert werden. Das ist die Bestimmung unseres Zeitalters.«

Es ist eigentlich tragisch, daß genau in dem Augenblick, in dem viele Menschen in der kommunistischen Welt neue Entdeckungen auf dem Gebiet des Geistes machen wollen, der sogenannte christliche Westen durch eine gewaltige Glaubenskrise hindurchgeht.

Wir im Westen haben uns geradezu daran gewöhnt, daß wir als Völker und unsere Regierungen als Vertreter oft große Ideale proklamieren, aber nach ganz anderen Prinzipien handeln.

In der offiziellen Parteizeitung »Iswestija« wurde ein Artikel veröffentlicht, in dem die Auferstehung des moralischen und die Einführung allgemeingültiger moralischer Normen gefordert wurde: »Hatten unsere Katastrophen in der Zeit des Personenkults oder des sogenannten Voluntarismus nicht zutiefst moralische Ursache? Das Leben zeigte, daß die wichtigsten politischen, organisatorischen und sogar ökonomischen Probleme von moralischen Entscheidungen abhängen … In der neuen Gesellschaft dürfte er (der Mensch) kein Stäubchen und kein Rädchen mehr sein, sondern ein Wert, eine lebendige und schöpferische Zelle der Gesellschaft.«

Die Frage bleibt bestehen, ob die Änderung der Menschen, wie sie in den kommunistischen Ländern mehr und mehr als notwendig anerkannt wird, weit oder tief genug geht. Einen wirklich fruchtbaren Dialog über diese Frage kann aber nur der führen, der sich selber nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat. Ein weiterer Diskussionspunkt in einem solchen Dialog zwischen Ost und West bleibt die Frage der Beziehung zwischen der Änderung des einzelnen und der Auswirkung dieser Änderung auf die Gesellschaft. Im Westen liegt oft der Akzent noch sehr auf der moralischen Besserung des einzelnen, während im Osten die gesellschaftliche Komponente im Vordergrund steht.

Hier wären wir an einem Punkt angekommen, wo es zwischen dem ehrlichen Marxisten, der bereit ist, »die Sachen an der Wurzel anzufassen« (Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst) und dem Christen, der sein Christentum radikal ernst nimmt, zu einem wirklichen Gespräch kommen kann. Das Thema dieses Gespräches könnte sein: Was charakterisiert den neuen Menschentyp und welches ist der praktische Weg zu seiner Verwirklichung?

Der neue Mensch als gesellschaftliche Forderung

Vielleicht sind es die Biologen, die ihre Phantasie am meisten walten lassen, wenn sie den Idealmenschen beschreiben, den sie gewissermaßen »«in der Retorte»« schaffen wollen. Nach Dobshansky hätte der Idealmensch, bei dem alle erwünschten Merkmale vollzählig in seinem Erbgut beisammen wären, einen Körper schön wie ein griechischer Gott, dazu gesund und widerstandsfähig gegenüber Kälte und Hitze, Alkohol und Infektion; er besäße das Gehirn eines Einstein, das ethische Feingefühl eines Albert Schweitzer, das musikalische Talent eines Mozart und die dichterische Kraft eines Shakespeare . . .« (Overhage, »Experiment Menschheit«).

Etwas konkreter in den moralischen Forderungen sind die Ideologen Osteuropas, wenn sie vom neuen Menschen sprechen. »…Ehrlichkeit, Integrität; moralische Reinheit, Bescheidenheit und Einfachheit im sozialen und privaten Leben; Intoleranz gegenüber Ungerechtigkeit, Parasitismus, Geldgier und egozentrischem Ehrgeiz   dies sind die moralischen Qualitäten des sowjetischen Menschen.«

Der polnische Ideologe Adam Schaff, der vor allem das Denken des jungen Marx erforscht hat, schreibt: »Die Erziehung des Menschen der Epoche des Sozialismus beruht nicht nur darauf, negative, für das Modell des Menschen der kapitalistischen Gesellschaft charakteristische Eigenschaften zu überwinden, sondern darauf, neue Gesinnungen heranzubilden, die das neue Modell des Menschen kennzeichnen. Unter solchen Gesinnungen und Fähigkeiten, die in ihrer neuen, höheren Form erst herausgebildet werden müssen, tritt an die Spitze Engagement und Aktivität in gesellschaftliche Fragen, was Hand in Hand geht mit der freiheitlichen Gesinnung.« (A. Schaff, »Marxismus und das menschliche Individuum«, Europa Verlag, Wien, 1965).
Der bibelkundige Christ hätte hier keine Schwierigkeit, einen Katalog der Eigenschaften zusammenzustellen, die nach der Bibel den neuen im Vergleich zum alten Menschen charakterisieren. Bevor wir aber auf die Frage des spezifisch christlichen Weges zum Neuwerden des Menschen zurückkommen, möchten wir drei der Charakterzüge des neuen Menschentyps herausheben, die für die heutige jüngere Generation ein wirkliches Anliegen darstellen:

1. Der neue Mensch glaubt, daß das Leben einen Sinn und daß er eine spezifische Aufgabe im Leben zu erfüllen hat.
2. Er orientiert sein Denken und Tun nach einem »inneren Kompaß« und hört damit auf, das Opfer äußerer Umstände zu sein.
3. Er bereitet die »neue Gesellschaft« vor, indem er die zum alten Menschen gehörenden menschlichen Beziehungen durch neue ersetzt und für seine Mitmenschen zu sorgen anfängt.

Diese Forderungen bauen auf die Voraussetzung, die wir vorläufig den »Sinn im Leben»« nennen wollen.
Sowohl im Westen wie auch im Osten ist die Frage nach dem Sinn des Lebens zu einer zentralen Frage geworden. »Vermutlich wird der Sinn des Lebens nirgends in der Welt so eifriger diskutiert wie in der Sowjetunion«, schreibt ein in der Schweiz arbeitender Sowjetologe und zitiert dann lange Ausschnitte aus einem Artikel in der Zeitschrift für Philosoph »Woprossy Filosofii« über dieses Thema.« (Siegfried Müller-Markus, »Neue sowjetische Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens«, Basler Nachrichten, 22.6.1967).
Auch Adam Schaff schreibt: »Die Problematik des menschlichen Individuums, also auch die Problematik des menschlichen Individuums im Kommunismus, gipfelt in der Frage nach dem Sinn des Lebens … Die Fragen über das Leben und seinen Sinn, wenn auch meist unklar und vieldeutig, gehören unter vielen Gesichtspunkten zu den wichtigsten in der philosophischen Reflexion über den Menschen.«

Noch direkter zum Zentrum des Themas dringt der Prager Professor Milan Machovec vor, wenn er sagt: »Der Marxismus hat die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht beantwortet. Die Frage nach dem Sinn ist zur Schlüsselfrage für den zukünftigen Marxismus geworden.

Nur schon die Frage, ob das Leben des individuellen Menschen einen Sinn hat, bedeutet eine radikale Abkehr vom traditionellen Determinismus und von allen Formen des Nihilismus.
Diese Frage hat aber auch direkte politische und persönliche Konsequenzen. Politisch heißt dies, daß ein neues Gleichgewicht zwischen den Zielen des Staates und den Interessen der Individuen im Sinne eines persönlichen Glücks gefunden werden muß.

Auf das Individuum zurückkommend ist die Suche nach dem Sinn des Lebens auch mit der Bereitschaft verbunden, diesem Sinn seine Karriere, seine Lebensweise und sein Denken zu unterordnen. Nach welchen Richtlinien soll dies geschehen? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage ist man im Osten auf einen Begriff zurückgekommen, der im Westen außer Mode gekommen ist: das Gewissen.

»Denken wir häufig an einen so »veralteten« Begriff wie das Gewissen?« fragt der oben erwähnte Verfasser des zitierten Iswestija Artikels. »Die Erkenntnis von Gut und Böse unterscheidet den Menschen vom Tier. Um so schmerzlicher und begreiflicher ist es, daß man diese Wurzel seines Wesens ausreißt, die ihm sozusagen nach der Dienstvorschrift eingepflanzt ist.« (Siegfried Müller Markus).

Auch Ernst Fischer, der langjährige Führer der österreichischen Kommunisten, kommt in seinen Memoiren immer wieder auf den gleichen Begriff zurück: »Das schlechte Gewissen ist démodé .., doch plädiere ich für das schlechte Gewissen in diesem Zeitalter der Verantwortungslosigkeit.«

Vielleicht führen in diesem Gebiet zwei entgegengesetzte Wege zur gleichen Entdeckung. Für den Marxisten und den Atheisten aus Osteuropa öffnen die Entdeckung des Gewissens und die Suche nach einem tieferen Sinn des Lebens des einzelnen ganz neue Perspektiven. Der nächste Schritt wäre dann die Anerkennung einer höheren Kraft, die die Welt und den einzelnen führen kann.

Jeder Mensch ist heute dauernd vor die Wahl gestellt, ob er sich von äußeren Umständen und Kräften führen läßt oder ob seine innere Überzeugung stark genug ist, sein Denken und Handeln zu orientieren.
Frank Buchman, von dem wir schon oben sprachen, beschreibt, wie wichtig es sein kann, die »«innere Stimme»« oder den »«inneren Kompaß»«, die in jedem Menschen eingebaut sind, wirklich ernst zu nehmen: »«Nehmen wir die ganze Frage der Führung   Gottes Denken und mein Denken. Ein Gedanke, der zu irgendeiner Zeit auftaucht   bei Tage oder in der Nacht   kann ein Gedanke des Schöpfers allen Denkens sein. Hier haben wir es mit Tatsachen zu tun, die niemand ermessen kann.

Ein Gedanke taucht auf – vielleicht nur ganz flüchtig – und läßt einen nicht mehr los. Man folgt ihm. Wenn er verwirklicht wird, kann er Millionen Menschen bereichern. Vielleicht ist es ein Gedanke für jemanden, der unseren Weg kreuzt – einen Bekannten vielleicht, durch den Regierungen erreicht werden können, die die Möglichkeit haben, ganze Völker von einem falschen Weg abzuhalten. (Frank Buchman, »Elektronik des Geistes«, 1955 (in: Für eine neue Welt).

Auch die Bibel gibt hier genaue Instruktionen: »Und deine Ohren werden hören hinter dir her das Wort sagen also: Dies ist der Weg; den gehet, sonst weder zur Rechten noch zur Linken«, und »Verlasse dich auf den Herrn von ganzem Herzen, und verlaß dich nicht auf deinen Verstand; sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen«. (Jesaja 30,21 und Sprüche 3,5.6).

Eine weitere Qualität, die den neuen Menschentyp charakterisiert, hat viele Namen, die in der modernen Sprache etwas abgebraucht worden sind, und deshalb auch auf die junge Generation hin und wieder abstoßend wirken: Liebe, Nächstenliebe, Fürsorge usw.

Es zeigt sich aber, daß gerade im gegenwärtigen Augenblick die Angst, vom Kollektiv, vom Bürokratismus, von den gigantischen Mächten der Industrie erdrückt zu werden, immer mehr wächst. Die direkte Fürsorge für den einzelnen und ebenfalls die Sorge des einen für den andern ist zur Mangelware geworden.

Sowohl im Osten wie auch im Westen gehört dieses Element zum unerläßlichen Zement, der die Gesellschaft zusammenhält. Daß der Sinn für Solidarität in der Not stärker ist als im Wohlstand, kann man ebenfalls in kapitalistischen wie kommunistischen Ländern beobachten. Daß auch im Wohlstand Menschen unbefriedigt sein können, stellte Alexis de Tocqueville schon fest, als er über das Amerika des letzten Jahrhunderts schrieb: »Zunächst kommt einem die eigenartige Unruhe erstaunlich vor, daß so viele glückliche Menschen mitten in ihrem Wohlstand rastlos sind. Die Erscheinung selbst ist allerdings so alt wie die Welt. Neu ist mir, daß ein ganzes Volk davon eine Demonstration gibt …« (A. de Tocqueville, Democracy in America, Henri Reeve Text, revised by Francis Bowen).

Zwei Männer, die sich mit der Frage des neuen Menschentyps ihr ganzes Leben lang intensiv beschäftigt haben, beschreiben diese Qualität des »neuen Menschen« mit folgenden Worten: »Um die Natur des Menschen zu ändern, muß man sich intensiv mit dem einzelnen befassen. Wenn man wirklich für den andern sorgt, will man ihm nicht gefallen, sondern so leben, daß auch dieser seiner höchsten Bestimmung gemäß leben möchte. Es ist eine Liebe, die niemals nörgelt, niemals die Geduld und niemals die Fassung verliert … Sie stellt das, was der andere braucht, immer an die erste Stelle. Der andere muß mir so wichtig sein, dag ich seine Interessen und seinen Geschmack kenne. Diese Liebe ist so feinfühlig für das, was dem anderen fehlt, daß mein Fuß kalt wird, wenn der andere ein Loch im Schuh hat…«  (Peter Howard und Paul Campbell, Die Kunst, die Menschen zu ändern, Paul Haupt, Bern, 1963).

Der Weg zum neuen Menschen

Wir haben zunächst gezeigt, welche Wege nicht zum neuen Menschen führen. Weder Ideologien von rechts und links noch die Naturwissenschaften sind imstande, einen wirklich selbstlosen Menschen zu schaffen. Trotzdem kann man heute von einer wirklichen Suche nach dem neuen Menschen in Ost und West sprechen, die sich nicht auf eine Selbstverbesserung des einzelnen beschränken will, sondern Ansätze einer neuen Gesellschaftsordnung verlangt.

Auch von den Eigenschaften ist gesprochen worden, die zu einem neuen Menschen gehören. Jetzt bleibt nur noch die Frage:
Welcher Weg führt zur Neuwerdung des Menschen?

Eine ganze Reihe der Gleichnisse im Neuen Testament z. B. das Gleichnis vom Sauerteig (Matthäus 13, 33; Lukas 13, 21.) oder vom Salz der Erde (Matthäus 5, 13)   stellen nicht nur die Änderung des Menschen selbst, sondern auch die Auswirkung dieser Änderung auf die Gesellschaft dar. Noch eindeutiger ist Paulus; nicht nur im 2. Korintherbrief, den wir oben zitiert haben, auch im Brief an die Kolosser: »Es ist wie beim Kleiderwechseln: ein schmutziges Gewand zieht man aus. So zieht alles aus, was euch bisher wichtig war. Verzichtet auf alles, was ihr bisher getan habt. Zieht dafür einen neuen Menschen an, der so ist, wie Gott ihn gewollt hat, und der so ist, daß er Gott versteht.« (Kolosser 3,9).

Die existentielle Erfahrung des Neuwerdens, bei dem der »alte Mensch« mit Christus stirbt und der »neue Mensch« durch Christus geboren wird, ist auch im Römerbrief beschrieben (Römer 6). Der wirkliche neue Mensch, in dessen Nachfolge wir gerufen sind, ist dabei niemand anderes als der Auferstandene selbst: »…bis daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters Christi« (Epheser 4,13).

Man könnte aus den Evangelien und auch aus der Apostelgeschichte viele Beispiele heranziehen, die zeigen, wie einem anderen Menschen die Erfahrung der Änderung und Neuwerdung vermittelt werden kann.
Jesus besucht Jericho. Die Nachricht seines Kommens läuft seiner Ankunft voraus. (Lukas 19, 1 10)
Die Neugierigen haben sich angesammelt. Ein völliger Außenseiter namens Zachäus, den man heute als einen mit allen Wassern gewaschenen Kapitalisten bezeichnen würde, zeigt plötzlich großes Interesse, jesus zu treffen. Wegen seiner kleinen Statur steigt er auf den nächsten Maulbeerbaum und wartet dort die Ankunft Jesu ab.
Das Unerwartete kommt dann von Jesus selbst, als er den auf dem Maulbeerbaum sitzenden Oberzöllner entdeckt. Er sagt: »Zachäus, steig eilend hernieder; denn ich muß heute in deinem Haus einkehren!« Zachäus reagiert mit großer Freude, die guten Bürger von Jericho mit Kopf schütteln. Sie »murrten, daß er bei einem Sünder einkehrte«.

An Jesus gewandt, gibt Zachäus eine einfache Antwort auf die Kritiker: »Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig wieder.«

Jesus geht weder auf die Kritik noch auf die Antwort ein. Er erklärt ganz einfach: »Heute ist diesem Hause Heil widerfahren … Denn des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, das verloren ist.«

Für jeden, der sich selbst mit der Erfahrung einer fundamentalen Änderung seines Lebens konfrontiert sieht  oder eine solche Erfahrung an einen andern weitergeben will, ergeben sich zwei Schlüsse aus dieser Zachäus Geschichte. Der erste ist, daß ohne den ersten Schritt von Zachäus Jesus nicht imstande gewesen wäre, in das Leben des Zöllners hineinzutreten. Es brauchte die Bereitschaft und Offenheit von Zachäus, die es Jesus erst möglich machte zu handeln. Dann aber war es ein Geschenk von jesus, dem von allerlei unsauberen Machenschaften befleckten Sünder das »Heil« – das heißt die Befreiung von der Knechtschaft der früheren Natur – zuzusprechen.

Der andere Schluß, den man aus der Geschichte ziehen kann, ist für die guten Durchschnittsbürger, die ihre christlichen Pflichten recht und schlecht erfüllen, recht unbequem: Des Menschen Sohn ist gekommen, »zu suchen und selig zu machen, das verloren ist«. Mit anderen Worten, er ist nicht gekommen, die guten Schäfchen zu organisieren und in Sicherheit zu halten. Was heute »verloren ist«, kann jeder selbst erraten.

Auch heute gibt es Männer wie Zachäus, die in der Mitte ihres beruflichen Lebens eine grundlegende Wandlung erfahren. Ein Schweizer Bauunternehmer gerät in eine Wochenendversammlung, auf der Menschen aus allen Schichten ihre Glaubenserfahrungen austauschen und über die sozialen und politischen Nöte ihres Landes sprechen. Der Unternehmer fühlt sich zutiefst herausgefordert und beschließt, sich in aller Ehrlichkeit vor Gott die Frage zu stellen, auf welchen Punkten sein Leben geändert werden müsse.

Das »Aktionsprogramm«, mit dem er nach Hause zurückkehrt, ist, wie es einem Schweizer Unternehmer entspricht, konkret und einfach. Es beginnt mit einem ehrlichen Gespräch mit seiner Frau, führt dann über Wiedergutmachung bei geschädigten Geschäftskollegen zum Steueramt. Der Steuerbeamte ist mehr als erstaunt, gut hunderttausend Franken an Nachsteuern entgegennehmen zu können.

Dann aber zeigt sich, daß eine Unterwerfung unter Gottes Führung ganz automatisch auch zu neuen industriellen und sozialen Strukturen führt. Die Beziehungen zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitern werden neu durchgedacht. Die Konsequenzen in der ganzen Geschäftspolitik werden zum Stadtgespräch.
Man könnte ähnliche Beispiele aus vielen Ländern und Erdteilen erzählen, aber gerade daß sie in der etablierten westeuropäischen Gesellschaft auch heute noch geschehen können, ist die Tatsache, die wir uns vor Augen halten müssen.

Ginge es nur um Theorie, wäre der sogenannte christliche Westen im Rennen auf der Suche nach dem neuen Menschen dem Osten um viele Runden voraus. Da es aber um eine gelebte Erfahrung geht, werden nur die späteren Generationen sagen können, ob die Völker des christlichen Abendlandes im entscheidenden Augenblick ihre Aufgabe erfüllt oder verraten haben. Es gibt eine Geschichte, die diese Situation sehr klar darstellt: »Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, gehe hin und arbeite heute in meinem Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Ich will’s nicht tun. Darnach reute es ihn, und er ging hin. Und er ging zum andern und sprach gleich also. Er antwortete aber und sprach: Herr, ja! und ging nicht hin. Welcher unter den zweien hat des Vaters Willen getan?« – Matthäus 21, 28 ff.

Die Hervorhebungen habe ich vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im Februar 2009

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Weitere Beiträge auf meiner Internetseite zum Thema Kommunismus und Christentum:
Atheismus – ein Weg? – von Pfr. Richard Wurmbrand
Das blutbeschmutzte Evangelium – R. Wurmbrand
Warum bin ich Revolutionär? – R. Wurmbrand
Christus wird siegen, was immer geschieht – R. Wurmbrand
Zerstörte Jahre (China) –  
Der Weltkommunismus – Kurt E. Koch
Mit Jesus in Russland – C. Martens
Blut und Tränen – R. Wurmbrand
In Gottes Untergrund – R. Wurmbrand
Gefoltert für Christus –  R. Wurmbrand