50 Jahre unter Tibetern (G.Heyde)

Gerhard Heyde

50 Jahre unter Tibetern

Das Leben der Pioniermissionare Wilhelm und Maria Heyde, 1857 – 1907

  • Neu eingestellt und leicht gekürzt von Horst Koch. Auch die Heraushebungen sind von mir. Im Juni 2023 –

ZUM GELEIT
Sechzig Jahre vor dem berühmten Sven Hedin überquert ein deutscher Klempnergeselle den Himalaja, aber er führt weder die Botanisiertrommel noch das Notizbuch mit sich, sondern die Bibel und die Herrnhuter Losungen. Wilhelm Heyde ist von der Brüdergemeine beauftragt, zusammen mit einem anderen Missionar in Zentralasien das Werk der Liebe zu beginnen.
Seit jenem Julitag des Jahres 1853, an dem die beiden mit klopfenden Herzen in einem englischen Hafen standen und auf das Schiff warteten, das sie zum fernen Calcutta bringen sollte, ist mehr als ein Jahrhundert vergangen. Weltreiche brachen zusammen, kühne Träume wurden Wirklichkeit, die Kultur des Abendlandes drang bis in die entlegensten Teile der Erde. Die Probleme des Jahres 1860 sind nicht mehr die unseren.
 . . . Gerhard Heyde schrieb das Lebensbild seiner Eltern im Jahre 1921 . . .
So schlugen die Missionare kurzentschlossen ihrer heimatlichen Behörde vor, im indischen Tibet, im unteren Tal von Lahoul, eine Missionsstation zu errichten, und die Erlaubnis hierfür sollte ein mutiger Beginn werden. Aus einer kurzen Durchreise wurde für Wilhelm Heyde ein fünfzigjähriger Aufenthalt im tibetischen Volksraum.
Wir bilden uns heute kaum einen Begriff von dem Maß an Arbeit, das Heyde bewältigt hat. . .  Auf einsamem Posten in einer noch unerschlossenen Gebirgswelt, einem beschwerlichen Winter ausgesetzt, vom Widerstand der buddhistischen Lamas umgeben, so verrichtete er, mehr als einmal vor dem Tod bewahrt, der seine Familie vielfach heimsuchte, seinen Dienst als Seelsorger, Prediger, Bibelübersetzer, Arzt und Geograph. Der äußere Erfolg dieser zähen Arbeit war, an Zahlen gemessen, nur gering; so dauerte es zum Beispiel zehn Jahre, ehe der erste Tibeter vom Geist des Evangeliums überwunden wurde und um die Taufe bat. . . .
So hat sich (Maria Hartmann) die Missionarstocher aus Surinam, die dem Bräutigam einst, ohne ihn zu kennen, über den Ozean gefolgt war, ein halbes Jahrhundert lang als treue Gehilfin ihres Gatten erweisen können. Die Briefe ihrer Mutter aus der Einsamkeit des Urwaldes waren für sie ein kostbares Vermächtnis, das ihr von Kind an bis ins hohe Alter Schutz und Stärke gewährte. (Siehe das Buch von Ruth Schiel: Hochzeit in Tibet)
Gerhard Heyde, Wuppertal-Barmen, April 1960

Auf eigenen Füßen
Es war an einem Sommertag des Jahres 1837. Da fuhr ein hochgetürmter Lastwagen durch die Straßen der kleinen Herrnhuter Kolonie Gnadenfrei in Schlesien. Hoch oben thronte ein ärmlich gekleidetes Büblein von 12 Jahren, das mit dunklen Augen in die Welt hineinschaute. Unten stand die weinende Mutter, eine einfache Bauersfrau, und winkte ihrem Sohn ein letztes Lebewohl zu.
Der Knabe hieß Wilhelm Heyde. Sein höchster Wunsch war es, zu „studieren” und in den Besitz einer Geige zu gelangen. Beides blieb ihm versagt. Die akademische Bildung konnte er nach Jahren durch fleißiges Privatstudium zum Teil noch ersetzen, und die musikalische Begabung ging später auf den ältesten Sohn über, der es auch im Geigen- und Orgelspiel zu einer bedeutenden Fertigkeit brachte. Wilhelm Heyde aber mußte als zwölfjähriges Kind Heimat und Vaterhaus verlassen, um in der Fremde ein Handwerk zu erlernen. Seine Eltern waren nämlich arm und hatten ein Häuflein Kinder zu ernähren.  . . . 
Der Prediger in Gnadenfrei vermittelte es, daß der kleine Wilhelm nach Herrnhut kam, um dort bei dem Klempnermeister Weber in die Lehre zu gehen. Da gerade eine Fahrgelegenheit nach Herrnhut sich bot, wurde der Knabe oben aufgestaut und machte mit dem Fuhrmann die viertägige Reise nach Herrnhut. Seit dem Jahre 1829 hatten sich „die Heydes” der Herrnhuter Gemeinde in Gnadenfrei angeschlossen. Der Vater war bis dahin dem Namen nach katholisch, dem Herzen nach freilich schon längst evangelisch. Er stammte von frommen katholischen Eltern . . .  Auch die Mutter des Knaben war eine Schlesierin, Eleonore geb. Hanke aus Gallowitz.
Die Lehrzeit, die der Knabe in Herrnhut antrat, dauerte sechs Jahre und war sehr hart. Der Geist in dem Hause des Meisters war nichts weniger als christlich, obwohl die Leute auch zur Brüdergemeine gehörten. Die äußere Zugehörigkeit zu einer frommen Gemeinschaft ist eben noch keine Bürgschaft für den christlichen Wandel.  . . .  Auch mußte er oft hungern und Mißhandlungen von dem groben Meister erdulden. Die fernen Eltern wußten nichts davon, denn ihr Sohn schwieg darüber. Er wuchs unter Gottes Schutz trotz mancherlei Versuchungen gesund an Leib und Geist heran; denn „es ist ein köstlich Ding einem Mann, daß er das Joch in seiner Jugend trage”.
Eine heitere Geschichte zeugt von dem kindlichen Gemüt des Knaben: Sein hartes Los hatte das Mitleid der Nachbarn erregt, und eine ältere Herrnhuter Schwester sagte einst zu dem Lehrjungen: „Du mußt dir nicht alles von deinem Meister gefallen lassen.” Das hatte er sich gemerkt, und bei der nächsten Gelegenheit, als ihn der Meister wieder schlug, wurde der bisher so gutmütige Junge aufsässig. Erstaunt fragte ihn der Meister, wie er dazu komme. Prompt lautete die Antwort: „Eine Schwester hat mir gesagt, ich soll mir nicht alles gefallen lassen.” Aber auf die Frage des Meisters konnte er ihren Namen nicht nennen. Einige Zeit darauf geht er mit dem Meister über die Straße und sieht die Schwester von ferne. Kaum daß er sie erkannt hat, so führt er seinen Herrn zu ihr hin, gibt ihr die Hand und spricht zu ihm: „Das ist die Schwester, die mir gesagt hat, ich solle mir nicht alles gefallen lassen.” Die nächste Folge dieser urwüchsigen Offenheit des Knaben war eine etwas peinliche Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten, die des komischen Beigeschmackes nicht entbehrte. Eine weitere Folge aber war, daß sich von da ab die Behandlung besserte.
Auch lernte der Meister den Fleiß, die Zuverlässigkeit und die geschickte Hand seines Lehrlings und späteren Gesellen immer mehr schätzen. Und dieser dachte auch nach vollendeter Lehrzeit nicht daran, das ihm zur zweiten Heimat gewordene Herrnhut zu verlassen.  . . . Hier hat er vor allem den Frieden des Herzens gefunden, den die Welt nicht geben kann. Darüber schreibt er unter dem 13. Juli 1853: „In Herrnhut wurde ich durch die Barmherzigkeit meines Erlösers aus dem Tode ins Leben erweckt, hier lernte ich mein sündiges Herz kennen, aber auch den gekreuzigten Heiland, der mich mit Gott versöhnt hat, und dessen starke Hand mich nun sicher und gewiß führt.”

60 Jahre vor Sven Hedin
Nachdem der Knabe, Jüngling und Mann 15 Jahre in Herrnhut zugebracht hatte, trat die entscheidende Wendung seines Lebens ein. Der „ledige Bruder Wilhelm Heyde” erhielt von der Missionsbehörde der Brüdergemeine den Ruf, mit noch einem anderen Bruder namens Pagell die „Mongolen-Mission” in Zentralasien zu beginnen. Diese Berufung traf den Ahnungslosen wie ein Blitz aus heiterem Himmel und machte ihm viel zu schaffen.
. . . Wenn sie ihm hätten ins Herz schauen können, so hätten sie sich nicht gewundert. Da tobte ein Kampf. Da sprachen die Gedanken dafür und dagegen. Da stand er auf dem Scheideweg: Sollte er den großen Sprung ins Unbekannte wagen oder nicht? —
Es war ja nichts Außergewöhnliches in Herrnhut, daß einfache Laienbrüder in die Mission berufen wurden und den Weg über das Weltmeer antraten. In diesem Fall aber war es doch etwas Besonderes. Inner-Asien und das Mongolenland! Wer kannte damals jene Gebiete, die ein Sven Hedin erst 60 Jahre später erschließen sollte? Wer hatte eine rechte Vorstellung von dem Weg, der dorthin führte, und von den Verhältnissen, die es zu berücksichtigen galt? Uns erscheint der damals gefaßte Missionsplan fast wie ein Abenteuer.  . . .
August Wilhelm Heyde entschied sich damals für den Sprung ins Dunkle. Er tat es im Vertrauen und Gehorsam gegen die Stimme, die er in sich vernahm. Und daß er mit einer außerordentlichen Zähigkeit diese einmal eingeschlagene Richtung seines Lebensweges verfolgte, indem er 50 Jahre in Zentralasien ausharrte, ohne einmal dazwischen europäischen Boden gesehen zu haben, das ist die Tat, mit der er hier auf Erden seinen Gott preisen durfte. —
Der Plan einer „Mongolen-Mission” war im Jahre 1850 infolge einer Anregung des China-Missionars Dr. Gützlaff gefaßt worden. . . . Zu dem Zweck sollten ihre Missionare auf dem Festlandswege über Südrußland nach Asien reisen. Da jedoch die russische Regierung die dazu nötigen Pässe verweigerte, mußte der weite Seeweg um das Kap der Guten Hoffnung eingeschlagen werden; denn einen Suezkanal gab es damals noch nicht.
Zuvor aber mußten umfassende Vorbereitungen getroffen werden. Denn der diesmalige Auszug aus Heimat und Vaterland war nicht so einfach zu bewerkstelligen wie die Reise, die das 12jährige Büblein einst auf dem Lastwagen von Gnadenfrei nach Herrnhut unternahm. Vor allem galt es die mongolische Sprache zu erlernen und einige medizinische Kenntnisse sich anzueignen. Für beides bot sich 1852 auf 1853 Gelegenheit in dem weltfernen Schwarzwalddörflein Königsfeld. Der Vorsteher jener Brüdergemeine, namens Zwick, war nämlich des Mongolischen mächtig; denn er hatte längere Zeit das Vorsteheramt der Brüdergemeine in Sarepta, unweit des heutigen Stalingrad, versehen und dort im Verkehr mit den Kalmücken deren Sprache erlernt. Der dortige Arzt Dr. Hultsch hatte sich bereiterklärt, die angehenden Missionare im Medizinischen zu unterrichten. Ein praktischer achtwöchiger Kursus in der „Charite” zu Berlin ergänzte später noch die theoretischen Anweisungen des Königsfelder Arztes in wertvoller Weise. Die englische Sprache hatte Heyde bereits als Geselle in Herrnhut von einem dort weilenden Apothekerlehrling aus London zu erlernen begonnen.

Heiligabend auf dem Ganges
Am 13. Juli 1853 konnte endlich die Reise beginnen. Drei Tage vorher waren die beiden Missionare in Herrnhut ordiniert und in feierlicher Weise von der Gemeine verabschiedet worden. Über Berlin und Hamburg ging es nach London, wo die Reisenden mit Missionar Rebsch von der englisch-kirchlichen Missionsgesellschaft zusammentrafen, der mit seiner Familie auf dem Rückweg nach Indien begriffen war. In seiner Begleitung machten sie die weitere Reise bis nach Benares. Natürlich ging dieselbe nicht so rasch und bequem vor sich wie heutzutage. Am 3. August fuhren sie in Portsmouth ab, und am 23. November erreichten sie Calcutta. Die über drei Monate währende Segelfahrt um das Kap der Guten Hoffnung verlief trotz verschiedener Stürme günstig. . . .
Mit klopfendem Herzen und freudiger Erwartung betraten sie das asiatische Festland. . . .  Ihr Reiseplan bestand darin, von Calcutta aus den Nordwest-Himalaja zu erreichen, wo ihnen in Kotghur bei Simla das gastliche Haus des deutschen Missionars Prochnow zur Verfügung stehen sollte. Von dort aus wollten sie dann über das Hochgebirge und die chinesisch-tibetische Grenze in die Mongolei vordringen.
Eine Eisenbahn gab es damals noch nicht, und so mußten sie sich und ihr Gepäck bis Benares dem heiligen Fluß der Inder, dem Ganges, anvertrauen. Sie mieteten sich nach Landessitte zwei große, zum Teil bedeckte Boote.  . . .  Nach etwa neun Tagen fuhren sie in den eigentlichen Ganges ein. Von da ab ist die Wirkung von Ebbe und Flut nicht mehr spürbar, und das Boot mußte fortan vom Ufer aus an langen Seilen flußaufwärts gezogen werden. Ein recht umständliches Verfahren, zumal man oft auf Sandbänke stieß!
Wieviel gab es nun aber währenddessen zu sehen, wieviel neue Eindrücke konnten auf der langsamen Fahrt in Ruhe aufgenommen und verarbeitet werden!
Die Stimmung war gleichwohl freudig und getrost. Das Bewußtsein, als Boten Christi von einer betenden Gemeinde in die Welt des Heidentums hinausgesandt zu sein, erfüllte die Herzen der beiden schlichten Herrnhuter Brüder mit missionarischem Hochgefühl. Weihevoll begingen sie in ihrer Einsamkeit auf dem Boot den Heiligen Abend, deutsche Weihnachtslieder über den Wassern des Ganges anstimmend.
Und von der Neujahrsnacht heißt es: „Sie war uns besonders gesegnet. Wir flehten den Herrn gemeinschaftlich um seinen Segen für uns an, insonderheit für unsere Mongolen-Mission. Und der Herr bekannte sich zu uns mit seiner fühlbaren Nähe. Unsere Herzen waren voll Frieden.”  . . .
Der letzte Teil dieser Reise war für Heyde recht beschwerlich, weil er heftig erkrankte. Hohes Fieber, Appetitlosigkeit, Erbrechen und arge Schmerzen in der Gegend der Leber stellten sich ein und nahmen so zu, daß man an seinem Aufkommen zweifelte. Als das Boot am Abend des 6. Februar seinen Bestimmungsort Benares erreichte, war der Kranke so schwach, daß er sich nicht mehr aufrichten konnte. Ein Wagen brachte ihn in das Haus des Baptisten-Missionars Heinig. Dort fand er die sorgsamste Pflege und ein lieber englischer Arzt besuchte ihn sehr fleißig. Seine Behandlung kostete am Ende „mit Einschluß der Medizinen und Blutegel” weiter nichts als einen herzlichen Dank. Gott segnete die angewandten Mittel, so daß der Kranke genas und nach 14 Tagen die Weiterreise antreten konnte.  . . .
Am 21. Februar verließen Heyde und Pagell die „heilige” Stadt Benares und traten die Fahrt durch die glühendheiße Ebene des Landes an. In drei Wochen legten sie den etwa 300 Kilometer weiten Weg bis nach Meerut zurück. Die meist schnurgerade, breite und an beiden Seiten mit hohen schattigen Mangobäumen bestandene Straße war gut unterhalten, der Verkehr äußerst lebhaft. Oft fuhren mehr als 50 jener landesüblichen zweirädrigen Ochsenwagen in langer Reihe hintereinander, mit Baumwolle und anderen Waren beladen. . . . Tagelang reisten sie mit einem aus Benares kommenden Pilgerzug, der sich aus 40 schönen mit weißen Ochsen bespannten Wagen zusammensetzte.  . . .

Quer durch den Himalaja
Groß war die Freude der zwei Missionare, als sie am 20. März 1854 zum ersten Mal den Himalaja aus der Ferne erblickten, und sieben Tage darauf, am 27. März, sich bei Anbruch des Tages auf allen Seiten von hohen Bergwänden umgeben sahen. In dem kleinen Städtchen Kalka wurden die Wagen übergeladen, denn nun begann die Fußreise durch das Gebirge. Auf 32 Träger wurden die Gepäckstücke verteilt, und am 29. März ging es die steilen Berghänge hinauf, nach Simla!
Am 1. April wurde Simla erreicht, das Juwel des Nordwest-Himalaja. Es gibt wohl wenig Stellen, wo die Herrlichkeit der Natur in so überwältigender Fülle sich dem Auge darbietet wie die Südhänge des Himalaja. Die Monsunwinde, die vom Indischen Ozean herkommend über das Indusgebiet in der nordindischen Tiefebene dahinstreichen, wässern sich erst an dem gewaltigen, bis zu 9000 Meter emporsteigenden Gebirge ab und führen ihm dadurch die ganze Fülle der sommerlichen Monsunregen zu. Deshalb ist der Südhang des Himalaja das prachtvollste Waldgebirge der Erde.  . . .
Simla, die liebliche Villenstadt, liegt wie in einem Paradiesgarten; und unvergleichlich ist von dort aus der Anblick der Bergketten, die in gewaltigen Kulissen, eine immer höher über der anderen, von der tropischen Farbenpracht bis zu den ewigen Schneegipfeln sich aufbauen. — Heute geht eine Eisenbahn bis Simla, damals konnte man die Stadt nur auf der wohlgepflegten Bergstraße erreichen.
Kurz vor der Stadt führt diese Straße durch einen Wald von märchenhafter Pracht. Derselbe besteht aus hohen Alpenrosenbäumen . . .  Heyde schreibt davon in seinem Tagebuch: „Dreierlei hat mich ganz besonders ergriffen und mir die Größe und Herrlichkeit Gottes gepredigt: das Meer mit seinen mächtigen, sturmgepeitschten Wellen, die Schneeberge des Himalaja und — die Pracht des Rhododendronwaldes bei Simla!”
Doch nur einige Stunden rasteten die wandernden Missionare in der schönen Stadt. Dann ging es weiter, dem vorläufigen Ziel ihrer Fahrt entgegen. Das war ein kleines Dörflein, inmitten der Hochgebirgswelt gelegen, namens Kotghur. Dort sollte das Haus des Missionars Prochnow den beiden «Mongolen-Brüdern« eine Unterkunft für die nächsten Monate bieten. Dort sollten sie sich im Englischen vervollkommnen und ihre weiteren Sprachstudien aufnehmen, bevor sie über die tibetische Grenze ihrem eigentlichen Ziel, der Mongolei, zustrebten. Am 4. April 1854 kamen sie nach einer Reise von dreiviertel Jahren in Kotghur an und wurden aufs herzlichste von der Familie Prochnow empfangen. Auch fanden sie dort die ersten europäischen Briefe vor. —
Kotghur wurde nun fast ein Jahr der Aufenthaltsort der beiden Reisenden. Ein Häuschen, eine Stunde oberhalb der Missionsstation, wurde ihnen zur Wohnung überwiesen. . . .  Doch die Umgebung war herrlich. An zwei Seiten des Hauses stand prachtvoller Zedernwald, dessen Untergrund mit wilden Rosen, Jasmin, Efeu bedeckt war…, und über alles ragten die schneebedeckten Berge.
Missionar Prochnow hatte den beiden gesagt, es könne nicht mehr sehr weit bis zur Mongolei sein, da er oft Mongolen-Karawanen an seinem Haus vorüberziehen sehe. Bei näherer Untersuchung zeigte es sich aber, daß die Mongolen-Karawanen aus Tibetern bestanden. Da auch die Karte lehrte, daß man durch Tibet nach der Mongolei reisen mußte, beschlossen die Brüder, zunächst Tibetisch zu lernen. Ein 48jähriger Lama aus Ladakh mit rotem Kleid und langem schwarzem Bart war ihr Sprachlehrer. Es hatte viel Mühe gekostet, bis sie ihn für diesen Zweck gewonnen hatten. . . .

Am 26. März 1855 kam der Tag, an dem Heyde mit seinem Gefährten in Kotghur aufbrach, um in die wilde, damals noch ganz unerschlossene Gebirgswelt des Himalaja einzudringen. Der Weg, den er in den folgenden Jahrzehnten noch oft zurücklegen sollte, war beschwerlich und nicht selten gefährlich. Er führte über die fast 4000 Meter hohe Jalori-Kette und den Rotang-Paß in das Hochgebirgstal von Lahoul; aus der Pracht des tropischen Gebirgswaldes in die Bergwüste des Zentralhimalaja. Vom Rotang-Paß, der die große Grenzscheide bildet, steigt man nach Lahoul hinab. Kahle Berge, nacktes Felsengestein und an den Nordhängen vielfach Eis und Schnee bestimmen jetzt das Landschaftsbild. Erst nach einigen Tagesreisen, den Chandra-Fluß entlang, wird der Anblick freundlicher. Grüne Matten und stattliche Felder umsäumen hier die Ufer des Flusses. Weiden, Pappeln und Aprikosenbäume, die wilde Johannisbeere, sowie zerstreute Kieferngruppen bilden den spärlichen Baumwuchs. Rings an den Berghängen klettern malerisch die tibetischen Dörfer mit ihren fast übereinander stehenden flachgedeckten Lehmhäusern empor. Eines dieser Dörfer, an dem die Missionare vorbeizogen, trägt den Namen Kyelang (Menschen-Nest).

. . .  Steile Felsschluchten, reißende Gebirgsflüsse und immer wieder neue Pässe gilt es zu überwinden. Schwebende Hängebrücken aus Seilen oder Weidengeflecht führen über Abgründe, und hier und da setzt man mit Hilfe von aufgeblasenen Ochsenhäuten über die Ströme. Dazu leuchten jetzt die Berge mit ihrem bunten Tongestein oft in märchenhafter Farbenpracht. Alles in allem: ein ebenso beschwerlicher wie seltsamer Weg für den Fremdling, der ihn zum ersten Mal betritt. Gangbarer wird die Straße erst wieder und bevölkerter die Gegend, wenn das breite Indus-Tal erreicht ist, das in der Richtung von Südosten nach Nordwesten sich zwischen den Ketten des Himalaja hinzieht. Hier sieht man wieder Felder, Dörfer und buddhistische Klöster, die oft, mit großer Kühnheit angelegt, den Felsennestern und Ritterburgen des Mittelalters gleichen. — Die Landschaft trägt den Namen Ladakh, und ihre größte Stadt ist das 3500 m hoch gelegene Leh.
Diese Stadt, auf einer sandigen Ebene erbaut, ist der Schnittpunkt verschiedener Karawanenstraßen. Sie hat einen weitläufigen Marktplatz und wird von einem alten, großen Königsschloß überragt.
Leh war das vorläufige Reiseziel der Missionare. Mehr als 12 Wochen waren sie unterwegs gewesen, bald hier, bald dort freiwillig oder unfreiwillig rastend. Sie hatten den Weg meistens zu Fuß, teilweise auch zu Pferd zurückgelegt. Um sich dem Volke anzupassen, reisten sie in der Tracht der Lamas. Ihre Begleitung bestand aus den immer wechselnden Trägern und aus der Person ihres Sprachlehrers, des oben erwähnten Lama. Er war Führer und Dolmetscher zugleich. Doch kehrte er um, bevor sie das Indus-Tal erreicht hatten, da er fürchtete, die Lamas in Leh würden ihm Vorwürfe machen, daß er die Weißen ihre Sprache gelehrt habe.
Das bisherige Ergebnis der Reise war, daß die durchzogenen Gebiete nicht von Mongolen bewohnt waren. Nur dem Namen nach waren diese den Einheimischen bekannt. Das bisher erkundete Land war von Tibetern besiedelt, den Bewohnern des ehemaligen westtibetischen Reiches, dessen letzte Reste von Kaschmir 1836-41 erobert worden sind. Die Hauptstadt von Westtibet war Leh in Ladakh. Heydes Ziel aber war nicht Tibet, sondern die Mongolei. Darum durfte auch Leh kein längerer Aufenthaltsort sein. „Vorwärts nach dem Norden und zu den Mongolen”, das war die Losung der Missionare. So machten sie sich nach dreiwöchigem Aufenthalt in Leh wieder auf die Wanderschaft, stärkten sich aber zuvor durch den Genuß des heiligen Abendmahls. Daß sie dabei statt des Weines nur Wasser hatten, war wohl ungewöhnlich, aber keine Hinderung des göttlichen Segens.
Von Leh ging es über die Kailas-Berge und den Changsong-Paß (5700 m) zum dunkelblauen, salzigen Pangkong See, den sie nach viertägigem Marsch erreichten. Hier wurde die Gegend immer mehr zur Wüste. Kein Baum, kein Strauch war auf den weiten Sandflächen zu sehen. Die regenarme Hochebene Innerasiens hatte begonnen, und die Grenze von Rudok, einer Provinz Großtibets, war in unmittelbare Nähe gerückt. Damit aber auch das Ende der Reise in die Mongolei. Denn was schon die Lamas in Leh vorausgesagt hatten, traf nun ein: bewaffnete Grenzwächter hinderten die Reisenden an der Überschreitung der Grenze. Kein weißer Mann durfte hinüber. Die Wächter blieben höflich, aber unerbittlich. Alle Versuche der Missionare, vorwärts zu kommen, waren umsonst.
So mußten sie am 1. August den Rückzug antreten. Hartnäckig versuchten sie auf demselben noch oft, über die Grenze nach Großtibet und somit auf den Weg in die Mongolei zu kommen. Aber immer war es vergeblich. So blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als zum zweiten Mal den Himalaja zu durchqueren. Auf anderen Wegen als beim Ausmarsch strebten sie ihrem Ausgangspunkt wieder zu und kamen am 16. Oktober in Kotghur wohlbehalten an. — Frau Prochnow meinte zwar bei der Begrüßung: „Ach wie mager, wie abgefallen sehen Sie aus!” Der Graf Zinzendorf aber hätte gesagt: „Die Augen klar, die Sinne heiter, schöner ist nichts als bestaubte Streiter!”

Ein fröhlicher Tag
Was aber nun? Sollte Heyde wieder zurück nach Europa, da der Zweck der Reise, den Mongolen das Evangelium zu bringen, unausführbar war? Er war anderen Sinnes und sein Gefährte auch. Sie hatten doch inzwischen die tibetische Sprache gelernt und Land und Leute waren ihnen lieb geworden. So machten sie der heimatlichen Behörde den Vorschlag, in Westtibet eine Missionsstation zu gründen, gleichsam einen Vorposten, von wo aus man vielleicht später, wenn die chinesische Grenze sich öffnen würde, in die Mongolei vorstoßen könnte. Und so hat Heyde auch seine Lebensarbeit nicht unter den Mongolen getan, sondern unter den Bewohnern von Westtibet (Westtibet gehört heute teilweise zu Kaschmir, einem Land, das zwischen Indien und Pakistan heftig umstritten ist). Der untere Teil des Tals Lahoul schien ihnen für eine Ansiedlung am geeignetsten.
Nachdem sie den Winter bei fleißiger Arbeit, aber in völliger Ungewißheit über ihre Zukunft verbracht hatten, kam am 3. März 1856 von Herrnhut die Anweisung zur Gründung einer Missionsstation in Lahoul. Das war ein fröhlicher Tag. Und noch freudiger wurde die Schaffenslust der Missionare, als am 18. April die Erlaubnis der englischen Regierung zur Niederlassung in Lahoul eintraf. Sie sagte jegliche Unterstützung zu. Land und Bauholz versprach sie sogar unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.
Die Sommermonate des Jahres 1856 waren nun ausgefüllt mit dem Hausbau in Lahoul. Am 9. Juni wurde nach langen Verhandlungen ein Feld bei dem Dorfe Kyelang gekauft. 70—80 Arbeiter, die mit dem Fällen der Bäume an den steilen Berghalden und mit dem Heranschaffen der Steine beschäftigt waren, standen unter Heydes Anleitung. Die Zimmerleute waren mit den Missionaren über den Rotang-Paß gekommen. Im September waren die Grundmauern des Hauses fertiggestellt und das Nebenhaus unter Dach gebracht. Da es aber noch unbewohnbar war, kehrten die Missionare Ende Oktober wieder nach Kotghur zurück, um dort noch einmal den Winter zu verbringen. Solange nämlich der Rotang verschneit ist, gewöhnlich vom November bis Mai, ist das Lahouler Tal und somit auch Kyelang von der Außenwelt völlig abgeschnitten.
Im Herbst 1857 war das zweistöckige Missionshaus im Rohbau vollendet. Am 1. Oktober wurde als letzte Arbeit der Kotghurer Zimmerleute die Treppe zum oberen Stockwerk „unter viel Geschrei und Lärm” aufgerichtet. Am 10. Oktober kamen sechs eiserne Öfen an, und da inzwischen auch die Fenster eingesetzt und die Fensterbretter wenigstens zum Teil fertig gestellt waren, beschlossen die Missionare, aus dem Nebengebäude, in dem sie sich bisher aufgehalten hatten, in das Haupthaus überzusiedeln. Es waren dann nicht mehr zwei, sondern drei Männer, die am 11. Oktober feierlichen Einzug hielten. Zu Pagell und Heyde war nämlich im März als dritter im Bunde Heinrich Jäschke gestoßen. Er war Theologe und ein bedeutender Sprachforscher, bisher Lehrer am Pädagogium zu Niesky und nun Leiter der tibetischen Mission.
Die Kyelanger Chronik berichtet über die Einweihung des neuen Missionshauses folgendes: „Nachdem wir am Morgen die Stühle und Tische hinübergeschafft hatten, hielten wir um 10 Uhr den Morgensegen. Die köstlichen Tagestexte lauteten: ,Gesegnet wirst du sein, wenn du eingehst, gesegnet, wenn du ausgehst’ (5. Mose 28,6). Wir dankten dem Herrn für seine bei Anlage dieses Platzes erwiesene Hilfe und Bewahrung und empfahlen uns, unser Werk und alle, die künftig in diesem Hause wohnen werden, seinem Erbarmen. Mit Gesang wurde die schlichte Feier begonnen und beschlossen. — Äußerlich konnten wir freilich nichts Feierliches anstellen, außer einem Glas Wein zu Mittag und einer Pfeife deutschen Tabaks, der zu einem solchen Zweck noch aufgehoben war. Aber die Herzen waren freudig gehoben.”
Dem Herrn war nun auch der Dienst der drei Männer auf einsamem Posten mit ganzem Ernst geweiht. Das Leben im Kyelanger Missionshaus war ausgezeichnet durch äußere Einfachheit und spartanische Strenge. Die Stubeneinrichtung bestand aus Bett, Ofen, Stuhl und Tisch. Eine Tibeterin war die Köchin. Sie kochte, was sie kochen konnte. Was sie nicht zustandebrachte, bereiteten sich die Junggesellen nach ihrem eigenen Kochbuch. In das stete Einerlei der Speiseordnung wurde erst allmählich etwas . . .  Immerhin war es hohe Zeit, daß die Hausfrauen einzogen.
Heyde war wieder einmal von Simla zurückgekehrt. Er hatte dort den Winter von 58 auf 59 verbracht, um die Kunst des Druckens zu erlernen und eine lithographische Presse zur Vervielfältigung der ins Tibetische übersetzten Bibelteile zu kaufen. Mit Hilfe von 29 Trägern brachte er sie im Frühjahr nach Kyelang. Bald nach seiner Ankunft erhielt er einen Brief von seiner Behörde in Herrnhut, der ihn aufs tiefste bewegte. Wir lesen darüber in seinem Tagebuch unter dem 11. Mai: „Heute nach Mittag erhielt ich die Nachricht, daß ich Bräutigam sei!” –

Die Braut aus Surinam
„Dieser Vater zieht sein Kind, / jener seins dagegen auf. / Beide treibt ein sondrer Wind / ihre sondre Bahn und Lauf. / Aber ist die Zeit nun da, / wird’s ein wohlgeratenes Paar.”
So sang einst Paul Gerhardt. So war es auch mit Heyde und seiner Lebensgefährtin. Er wußte nichts von ihr, bevor sie seine Braut war. — Als er sein Vaterland verließ, trug er wohl im Herzen das Bild eines deutschen Mädchens. Er kannte die junge Herrnhuter Schwester nur von ferne, doch hoffte er, daß sie ihm vielleicht später nachfolgen würde. Aber diese Hoffnung blieb unerfüllt. Im Jahr 1856 erfuhr er, daß sie als Missionarsbraut bereits nach Grönland gezogen war. So wußte er niemanden und bat die heimatliche Behörde, ihm eine Braut zu suchen. Vor allem befahl er diese seine Herzensangelegenheit dem himmlischen Vater. Wie einstmals Isaak traute er es Gott zu und bat ihn darum, daß er ihm die rechte Lebensgefährtin zuführen möge. Und dieser Glaube wurde nicht beschämt. Oft hat er es in seinem späteren Leben bezeugt, wie freundlich, ja über alles Erwarten herrlich sein Gott für ihn gesorgt habe.
Am Rand des südamerikanischen Urwaldes, in der holländischen Kolonie Surinam, wuchs das Mädchen auf, das später einmal auf den Höhen des Himalaja in Zentralasien ihre Lebensarbeit tun sollte. Marie Hartmann, so hieß das Kind, wurde am 19. April 1837 in Paramaribo geboren. Ihre Eltern standen im Missionsdienst der Brüdergemeine. Der Vater, Johann Gottlieb Hartmann, stammte aus Gebhardsdorf bei Marklissa in Schlesien, und die Mutter, Maria Lobach, war eine Wendin, gebürtig aus Turnow bei Peitz in der Niederlausitz. Seit 1826 lebten und arbeiteten sie in Surinam.
Das Kinderparadies der kleinen Maria war die Missionsstation Charlottenburg, wo ihre Eltern angestellt waren. Dort wuchs sie unter Palmen und Bananen in goldener Freiheit auf, dort spielte sie mit den Kindern der getauften Neger, dort kramte und blätterte sie, wie sie so gerne tat, in den Büchern des Vaters, dort begleitete sie ihn auf seinen Amtsgängen im Buschland. Aber schon im 7. Jahre verließ sie das Elternhaus und trat die große Reise über das Weltmeer an, um in der Erziehungsanstalt für Missionskinder zu Kleinwelka bei Bautzen in Sachsen ihre weitere Ausbildung zu erhalten. Ein dorthin reisendes Missionarsehepaar nahm sie mit noch sieben anderen Surinamer Küchlein unter die schützenden Fittiche.
Die Erinnerung an die ersten sonnigen Lebensjahre ging mit dem Kind über das Weltmeer, und die treubesorgte Mutter suchte sie nach Kräften lebendig zu erhalten. „Kennst Du noch die Negersprache? Weißt Du noch etwas von der ‚Tante’, die Du so sehr lieb gehabt hast, und von den schwarzen Kindern, wenn sie zur Schule kamen?
Die Jansi, die nun Magdalene getauft ist, hast Du selbst den Vers gelehrt: ,Na ju Kruis mi si, husa ja so mi’ – Weißt Du noch, wie Johanna Dich gewartet hat, als ich mit dem Vater an der Seeküste war?“ So und ähnlich schrieb die Mutter an ihr achtjähriges Töchterchen in Europa.

Geduld und Treue
Stärker als alle anderen Jugendeindrücke wirkte das Bild der Mutter im Herzen der Tochter nach. Die beiden waren im Haus „Charlottenburg” viel allein beieinander gewesen, da die älteren Geschwister Marias schon seit Jahren in Europa weilten. Und als bald nach ihrer Abreise der Vater, ein gesunder, kräftiger Mann, ganz unerwartet dem Tropenfieber erlag, war es nur natürlich, daß die Mutter ihr Herz vor allem der lieben Jüngsten zu wandte, mit der sie sich durch die gemeinsame frische Erinnerung an den Gestorbenen verbunden fühlte. Gesehen haben sich die beiden nicht mehr hier auf Erden, denn die Witwe konnte sich nicht entschließen, nach dem Tode ihres Gatten ihr geliebtes Arbeitsfeld zu verlassen. Aber auch aus der Ferne wurde die Mutter der Tochter je länger je mehr zum Segen.
Sie war eben eine besondere Frau, die Mutter Hartmann im Surinamer Buschland. Ihre Schulbildung war von Haus aus gering, ihre Rechtschreibung oft recht mangelhaft; denn in der wendischen Dorfschule ihrer Heimat wurde das Schreiben den Mädchen nicht gelehrt. Der Lehrer stand auf dem Standpunkt, daß diese Kunst nur für die Buben da sei. So eignete sie sich dieselbe erst später als Köchin im Herrnhuter Schwesternhaus an, und die lateinischen Buchstaben erlernte sie sogar erst im Ehestand. Trotzdem konnte der Leiter der Surinamer Mission nach ihrem Tod 1853 von ihr sagen: „Ich glaube nicht, daß ihresgleichen auf dieser Mission gewesen ist und wieder sein wird. Wo das Klima am gefahrvollsten, wo der Dienst am beschwerlichsten, die Entbehrungen und Verleugnungen am größten waren, dahin eilte sie am liebsten, zu helfen und beizustehen. Sie dachte nicht an sich selbst, sondern an die Sache des Herrn.”
Als zum Beispiel die Christengemeinde im Buschland verwaist war, weil wegen des Klimas kein europäischer Missionar mehr dort wohnen konnte, entschloß sich Mutter Hartmann, die damals als Witwe in der Stadt lebte, wieder in den Urwald zu ziehen. Fünf Jahre wohnte sie dort allein mit ihren geliebten Schwarzen zusammen. Unter vielen Entbehrungen und Widerwärtigkeiten, Fieberanfällen und Strapazen aller Art hielt sie mit unermüdlicher Geduld und Treue die verwaisten Herden zusammen. Weder durch die Feindschaft des weißen Plantagenbesitzers, der sich durch sie in der gewissenlosen Ausbeutung der Neger behindert fühlte, noch durch die Schmerzen einer Negerkrankheit, von der sie bei ihrem ständigen Umgang mit den Kranken angesteckt wurde, ließ sie sich in ihrem mühseligen Wirken abhalten. Es lebte in ihr der Heldengeist der ersten Zeugen, die einst mit dem Entschluß, um der Sklaven willen selbst Sklaven zu werden, nach Amerika gezogen waren.
Nur ein einziges Mal und für einen Tag besuchte sie während jener fünf Jahre die Stadt. Man wollte sie gern für eine längere Zeit zurückhalten; sie aber erklärte, sie fürchte, dadurch verwöhnt zu werden und dann mit geringerer Freudigkeit in die Einsamkeit zurückzukehren. Kein Wunder, daß sich auf diese Weise ihre Kräfte bald verzehrten. In einem Buschnegerdörfchen, Koffiekamp, wo sie die Kinder wieder einmal unterrichten wollte, wurde der Körper der willensstarken Frau von der Krankheit niedergezwungen. Vier Wochen lag sie dort in einer offenen Negerhütte, ohne alle Pflege und ohne die nötigsten Hilfsmittel. Als man schließlich in Paramaribo davon hörte, schickte man ein Boot, um sie zu holen. Todesmatt und doch voll innerer Seligkeit kam sie an.
Es war kurz vor Weihnachten. Noch am Weihnachtsmorgen erzählte sie unter Dank und Freudentränen, welch frohe Stunden sie in der vergangenen Nacht genossen habe bei der Betrachtung des Wunders ohne Maßen, daß Gott für uns Mensch geworden sei. — Am Abend ihres Todestages, dem 30. Dezember 1853, verlangte sie, daß man sie auf ihrem Lager in die Höhe richte. Sie pflegte nämlich nach Negerart ohne Bett und Moskitonetz auf dem Fußboden zu schlafen. „Moro na hei” d. h. „mehr in die Höhe!” das waren ihre letzten Worte. Als sie auf einen Stuhl gehoben wurde, legte sie das Haupt zurück und entschlief im Frieden des Heilandes, mit dem sie hier schon eins gewesen war. —
Eine solche Frau als Mutter zu haben, war das bedeutsamste Erlebnis für die in Europa heranwachsende Tochter. Äußerlich verlief ihre Jugend in Deutschland ohne besondere Zwischenfälle. Nach dem sie die Mädchenanstalt in Kleinwelka durchgemacht hatte, erlernte sie 1851 im Schwesternhaus zu Niesky das Weißnähen. Im Herzen aber tat während dieser Zeit der Geist der Mutter, durch treue Briefe vermittelt, nachhaltige und segensreiche Arbeit.

Briefe aus dem Urwald
Diese Briefe aus der Einsamkeit des Urwaldes waren einzig in ihrer Art. Später begleiteten sie die Tochter auch auf den Himalaja und dienten ihr dort in mancher schweren Stunde zur Stärkung und Erquickung. Denn hinter den Worten, mit ungelenker Hand und ohne die Regeln der Rechtschreibekunst geschrieben, standen göttliches Leben und göttliche Kraft. Die Liebe des Heilandes und die Liebe zum Heiland, der für uns so große Opfer gebracht hat und um dessentwillen darum kein Opfer zu groß ist, das war der immer wiederkehrende Grundgedanke!
Lassen wir einige Proben folgen:
Den schönen Kinderpsalm, — so schrieb sie im Jahr nach der Trennung von der Tochter — den wir am Kinderfest und Deinem Geburtstag miteinander gesungen haben, hab ich dies Jahr ganz allein zu Deinem Andenken recht niedlich abgesungen. Du hast ihn wohl schon vergessen. Ich will Dir darum nur den letzten Vers abschreiben.
Lobt den Herrn, nach wenig Jahren
,
Stehn wir all vor seinem Thron,

Tausend teuer erkaufte Scharen

Singen da dem Menschensohn ….

Betest Du denn auch, mein liebes Kind, so wie Du hier getan hast? Denn nie wolltest Du ins Bett gehen, wenn Du nicht erst für Dich und uns und alle Kinder und alle Menschen gebetet hattest… Meine Bitte für Dich zum Heiland ist, daß Er Dir ein gehorsames Herz schenke und Du Ihn über alles liebest (1845).

Du erzählst mir von der großen Christbescherung, die Du zu Weihnachten bekommst, und von Deiner Geburtstagsfreude; das ist ja recht schön, ich freue mich mit Dir. Aber, meine liebe Maria, denkst Du auch daran, wer die Ursache davon ist, daß Ihr Kinder alle Jahre solche Freude habt und wir Großen mit Euch? Ich weiß, Du wirst sagen, der liebe Heiland ist die Ursache davon. Er gibt uns alles, das ist wahr, mein liebes Kind. Und noch mehr, Er ist auch die Ursach unserer Seligkeit … – Darum, liebe Maria, wenn Du wieder ein Weihnachten erlebst, bitte Ihn, daß Er Dir ein dankbares Herz schenken wolle. Er hat auch für Deine Seele sich ans Kreuz nageln lassen …. (1846).

Du sagst in jedem Brief, daß es Dir Freude macht, wenn Du an mich schreiben kannst. Und so freue ich mich auch, wenn ich Dir wieder einen Brief schreibe. Soeben habe ich wieder Deine letzten Briefe gelesen und ich mußte dabei weinen. Ich bat den lieben Heiland, Er möchte Dich doch ganz zu Seinem Eigentum machen, daß wir dereinst in der Ewigkeit uns erfreuen mögen, wenn wir uns hier 
nicht mehr sehen sollten … (1848).

Dein Brief war von kurzem Inhalt; ich denke, Du solltest Deine Gedanken mehr ausbreiten, doch ich sage das nicht, um Dir einen Verweis darüber zu geben; nein, ich bin dem lieben Heiland recht dankbar, daß Er Dich gesund erhalten hat und daß es Dir gut geht. Aber es kann Dir von Nutzen sein, wenn Du wieder schreibst, daß Dir eins ums andere mehr einfällt, auch besonders darüber, wie Du mit dem lieben Heiland stehst. Das möchte ich gern wissen … Über Dein Lernen gibt mir Euer Inspektor gutes Zeugnis, aber er nennt einen Fehler besonders an Dir, daß Du etwas kommod bist — das mußt Du auch suchen, abzulegen, und lieber anderen dienen als sich dienen lassen; das war auch der Sinn des lieben Kindes Jesu … (1849).  . . .

Du schreibst mir recht schön darüber, wie der Geist Gottes durch den Unterricht Dein hartes Herz erweicht und zubereitet, daß es für die Segnungen, die der Heiland Dir in der Konfirmation und im heiligen Abendmahl zugedacht, empfänglich war … Er hat alles an Dir getan, wie ein Gärtner an den jungen Bäumchen, an denen er später viel Früchte haben will. Bisher hat Er nur die grünen Blätter und Knospen an Euch gesehen. Nun erwartet Er auch Blüten und Früchte! Aber auch dazu muß der Seelengärtner Kraft und Gedeihen geben, denn ohne den Heiland können wir nichts Gutes tun … Nun, meine liebe Maria, der Herr Jesus wolle meine Unterhaltung mit Dir an Deinem Herzen segnen und Dich in Seiner Gnade erhalten (1851).

Nun erst recht!
Diese Briefe der Mutter zeigen uns, in welchem Geist die heranwachsende Tochter von ihrer frühesten Jugend an beeinflußt wurde und sich beeinflussen ließ. In die gleiche Richtung wies eine Erweckungszeit unter den Kindern der Mädchenanstalt zu Kleinwelka, die Maria mit ganzem Herzen miterlebte. Und die Jugendfreundschaften, die sie schloß, hielten zeitlebens stand, weil sie „auf den Heiland gegründet waren”. — Dabei war sie ein fröhliches Mädchen und im Kreis ihrer Jugendgespielinnen beliebt. . . .
Gern malte und zeichnete sie; für Handarbeiten war sie weniger zu haben, um so mehr war sie den Büchern zugetan, und an ihrer französischen Sprachlehrerin hing sie mit Begeisterung.
Um ihrer Gaben willen wurde sie für den Lehrerinnenberuf vorgeschlagen und trat 1853 in die Gnadenfreier Mädchenanstalt ein, die damalige Vorbereitungsstätte für Lehrerinnen.  . . .  Und doch war sie in jenen Gnadenfreier Jahren überaus glücklich. Die Schülerinnen hingen in Liebe an ihr und manche von ihnen blieb noch Jahrzehnte hindurch in schriftlicher Verbindung mit ihr. Vor allem aber hatte Marie Hartmann ein zufriedenes Gemüt, das sich in jeder Lebenslage zurechtfand; und noch im hohen Alter pflegte sie mit Vorliebe zu sagen: „Ich habe es ja immer so gut gehabt!”

Das wahre Glück
Da kam im Frühjahr 1859 die große Wendung in ihrem Leben. Schwester Marie Hartmann erhielt „einen Ruf nach Tibet als Braut des Bruders Wilhelm Heyde”. Dieser Ruf kam ihr, wie einst dem Manne, dem sie jetzt folgen sollte, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Fast alle ihre Bekannten rieten ihr ernstlich ab, ihn anzunehmen. „Wie können Sie Ihre schöne Stelle aufgeben und einem unbekannten Mann in ein fernes, unbekanntes Land folgen!“
In der Tat, es war ein Wagnis für die 22jährige, ein Sprung ins Ungewiß; nicht anders, als es vor Jahren bei Heyde der Fall gewesen war. Aber eine innere Stimme sagte ihr: „Das kommt vom Herrn” (1. Mos. 24, 50). Dieser Ruf lag ja ganz in der Linie des mütterlichen Vorbildes, und auch ihre zwei Brüder waren bereits auf der Mission: der eine in Südafrika, der andere in Australien und später bei den Indianern Nordamerikas. Gleichwohl empfand sie das Bedürfnis, wie es damals noch oft in der Brüdergemeine geschah, das Los zu befragen. Als dieses aber eine unzweideutige bejahende Antwort gab, stand es ihr in freudiger Gewißheit fest, was sie zu tun habe. Sie entschloß sich, obwohl unerfahren und ohne besondere missionarische Vorbildung, dem unbekannten Mann in das unbekannte Land nachzureisen, — wie einst Rebekka dem Isaak, pflegte sie später zu sagen.

(In der Brüdergemeine — auch in anderen christlichen Kreisen — wurde früher gern das Los befragt, um in unsicheren Fällen den Willen Gottes zu erfahren; das geschah in Anlehnung an die Apostelwahl des Matthias (Apostelgeschichte 1,23—26). In der Regel wurde mit drei Zetteln gelost, auf denen z.B. Ja und Nein stand, während der dritte leer blieb, weil man sich bewußt war, daß Gott auch die Antwort verweigern konnte. Wer so im festen Glauben loste, darin die Antwort des Herrn zu erhalten, ging dann auch den schwersten Weg froh und getrost. Ohne diesen Glauben — und ohne strikte Befolgung der erhaltenen Weisung! — wäre solches Losen freilich ein lästerliches Spiel. Mit diesem Glauben aber gab es den Losenden festen Boden unter die Füße, wo sonst eine Entscheidung unmöglich oder leichtsinnig gewesen wäre, wie bei Marie Hartmann).
Der Gedanke an die Bestätigung durch das Los war ihr in den folgenden Jahren noch manchmal eine recht wertvolle Stütze, als äußere und innere Schwierigkeiten sich vor ihr auftürmten und Zweifel in ihr weckten, ob sie den richtigen Weg nun auch wirklich eingeschlagen habe. Und noch als alte Frau bezeugte sie es: „Ich war dankbar und bin es immer noch, daß Gott mich auf jene Weise so unmißverständlich geführt hat.”
Ende Februar erhielt sie ihren Ruf, und schon Mitte Mai reiste sie von London aus ab. Ihre Reisegefährtinnen waren Emilie Rosenhauer und Friedericke Mächtle, die Bräute der Missionare Jäschke und Pagell. Marie Hartmann, von schlankem, hohem Wuchs, mit frischer Farbe, dunkelblondem Haar und leuchtenden Augen, war die einzige, die ihren Bräutigam nicht kannte. — Auf dem Schiff befanden sich sogar fünf Missionarsbräute, außer den drei Herrnhuterinnen noch zwei Schwestern von der Goßnerschen Mission. Sie reisten gemeinsam auf dem Seeweg bis Calcutta, wo sie „schon” Ende August ankamen. Dort wurden sie von Missionar Pagell abgeholt. Nachdem er mit seiner Braut in Calcutta von einem Geistlichen der schottischen Freikirche getraut worden war, ging es auf dem Landweg weiter, meist im Postwagen, zum Teil auch mit der Eisenbahn.
Durch Pagell erhielt Marie Hartmann dann den ersten Gruß ihres Verlobten. Es war auch der einzige, den sie auf der Reise von ihm erhielt, während sie ihm mehrmals schreiben konnte. So heißt es in ihrem Brief vom 24. September: „Gerade, als ich der lieben Schwester Rosenhauer mit Tränen klagte, daß ich noch keinen Brief hätte, trat Bruder Pagell in die Stube und brachte uns beiden die langersehnten Briefe aus Kyelang. Eine rechte Sonntagsfreude! Mit klopfendem Herzen erbrach ich den meinigen, und meine Tränen flossen weiter. Mit wieviel zarter Liebe kommst Du mir entgegen! . . . Aber dies Herz sollst Du nun ganz kennenlernen und mit des Herrn Hilfe aufrichten und trösten.  . . .  Mein tägliches Flehen ist um ein stilles, demütiges Herz . . .  Und was wirst Du an mir haben? Oh, ich möchte Dir so gern etwas sein und immer in heitern und trüben Stunden mit treuer, starker Liebe Dir innig zur Seite stehen.  . . .
Von Simla aus schrieb sie unter dem 13. Oktober: „Bei unserer Ankunft sah ich mit großer Sehnsucht einem Gruß von Dir entgegen. Doch umsonst. Es ist mir tröstlich, in Emmy Rosenhauer eine Leidensgefährtin zu haben.  Am 17. Oktober gedenken wir aufzubrechen und in drei Wochen in Kyelang anzukommen.  . . .”
Bis Kotghur kam Jäschke der Reisegesellschaft entgegen. Je tiefer man in die Bergwelt eindrang, um so mehr wurden die Frauen von den Einwohnern wie Wunderwesen angestaunt und ihre Kleider von allen Seiten betastet und untersucht. Sie waren die ersten Europäerinnen in jenen Gegenden. Am 8. November wurde der Rotang-Paß überschritten. Am 10. November war der letzte Reisetag. Alle waren sehr zeitig munter. Jedoch Marie Hartmann brach eine Stunde früher auf als die übrige Reisegesellschaft, um auf dem Wege ihrem Bräutigam allein zu begegnen. Zwei Stunden vor Kyelang führte der Weg auf einer langen, gefährlichen Brücke über den reißenden Bergstrom. Dort sahen sich die beiden zum ersten Mal. „Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief“; und auf dem schmalen, schwankenden Steg wurde die Braut vom Schwindel befallen. Aber da half der Weggenosse und führte sie mit starker Hand hinüber. Ein Zurück gab es nicht mehr, darum vorwärts mit Gott. Gemeinsam wanderten die zwei nach Kyelang. Gegen Mittag kamen auch die andern an.
Nach einer Woche fand die Hochzeit statt. Bis dahin wohnten die beiden Bräute noch in der Druckerei. Vom Hochzeitstag heißt es im Kyelanger Tagebuch: „Am 18. November nachmittags um 3 Uhr war Trauung, indem Bruder Jäschke Heydes — und dann Bruder Heyde Geschwister Jäschke traute.”
Tara Tschand, aber, das Oberhaupt des Dorfes, traktierte die Gesellschaft mit einem Mittagessen, Tee und Konfekt. Er selbst nahm an der Mahlzeit nicht teil, bat aber um die Gunst, zusehen zu dürfen, wie die weißen Leute aßen

Aller Anfang ist schwer
Aller Anfang ist schwer! — Es ist nicht unsere Aufgabe, eine Geschichte der Brüdermission in Tibet zu schreiben. Doch können wir nicht umhin, auf die Schwierigkeiten einzugehen, die die drei Missionsschwestern bei ihrer Ankunft in Kyelang vorfanden. Denn die Art, wie sie ihnen begegneten, bleibt vom Standpunkt des Reiches Gottes aus betrachtet denkwürdig und vorbildlich.
Das Problem bestand darin, daß die Köpfe der Männer hart aneinandergerieten; und die Lösung des Problems wurde nicht zuletzt dadurch herbeigeführt, daß die Herzen der Frauen sich um so enger zusammenschlossen.
Im tiefsten Grunde waren Heyde, Jäschke und Pagell selbstverständlich eines Sinnes. Sie wollten Christus dienen und sein Reich im Innern Asiens ausbreiten. Aber dies hohe gemeinsame Ziel beseitigte nicht die Unterschiede des Charakters, der Ansichten und Fähigkeiten, auch nicht die Fehler und Unvollkommenheiten der menschlichen Natur. So mußten es auch die Missionare im fernen Tibet erleben: „Leicht beieinander wohnen die Gedanken/ doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.”

Jäschke, der geniale Sprachforscher und wissenschaftlich gebildete Mann, war zum Missionsleiter berufen. Aber er trat erst vier Jahre später in die Arbeit ein als die andern. Heyde und Pagell hatten bereits ihre Erfahrungen gesammelt und waren sowieso durch Begabung und Vorbildung Männer des praktischen Lebens. Auch Jäschke wollte letzteres sein, doch darüber kam es zu Reibungen, wie sie zwischen dem Theoretiker und dem Praktiker, dem Theologen und dem Laien, dem Gelehrten und dem Handwerker sich leicht einstellen können.
Schon mit dem ersten Tag ihrer Begegnung hatte es begonnen: Pagell und Heyde waren der Landessitte entsprechend beritten und hatten auch für Jäschke ein Reittier erstanden. Letzterer aber, ein Original, von dem man sich später erzählte, daß er die 200 englischen Meilen von Kyelang nach Simla über die gewaltigen Bergriesen hinweg ohne Gepäck nur mit der Kaffeetasse in der Rocktasche zurückzulegen pflegte, wollte von einem Pferde nichts wissen. Sein Ideal war des Schusters Rappen.

Vor allem waren die Köpfe über den Hausbau aneinandergeraten. Jäschke war nicht einverstanden mit dem, was er vorfand. Die ganze Anlage sei verfehlt. Das Haus sei gebaut, als wolle man für immer in Lahoul bleiben, und sollte doch nur eine leichte Hütte auf Abbruch sein, ein Vorposten an der Grenze der Mongolen. — Die Missionsdirektion in Herrnhut entschied in diesem Falle gegen ihn. Andererseits war es keine Frage, daß er mit seinem Sprachgenie in einem halben Jahr den Geist der Sprache besser erfaßt hatte als die beiden anderen trotz ihrer mühseligen jahrelangen Studien. Naturgemäß gab es da für letztere manche bittere Pille zu schlucken; und da alle drei Männer einen sehr ausgeprägten Willen hatten, ging es nicht immer ohne Funken ab.
So war die innere Lage keineswegs leicht. Wohl bürgte der christliche Charakter der drei Missionare dafür, daß die Spannung nicht zum Riß wurde. Heyde hat niemals anders als in großer Liebe und Verehrung von Jäschke gesprochen: „Ich bin immer noch froh und dankbar” — so schreibt er einmal — „daß gerade Jäschke zu uns gekommen ist. Er ist ein Bruder von reicher Herzenserfahrung und vielseitigen Kenntnissen, mit denen er unverdrossen und liebreich uns zu Hilfe kommt.” —
Aber nicht am wenigsten trugen damals die Frauen dazu bei, daß das Werk ungehindert seinen Fortgang nahm.
Heydes Frau war durch ihre glückliche Veranlagung wie geschaffen dazu, als Öl in der Maschine zu dienen. Sie war ein Kind des Friedens, liebhabend und freundlich gegen jedermann, immer bereit, sich unterzuordnen. Ihre ruhige, stets gleichbleibende Art ergänzte je länger je mehr das feurige Temperament des Gatten in trefflicher Weise. Doch mußte auch sie eine nicht immer leichte Schule durchmachen, um das ganz zu werden, was in ihr lag. Ihre glückliche Art war nicht nur Veranlagung, sondern zugleich ein in dem Kampf des Glaubens gefestigter Besitz.  . . .

. . . Marie Heyde aber war im Kreis der Kolleginnen die Jüngste. Bei ihrer Ankunft in Kyelang war sie 22 Jahre. Naturgemäß lag ihre starke Seite nicht in der Küche, sondern auf dem geistigen Gebiet. Dagegen für den Haushalt, zumal unter den schwierigen tibetischen Verhältnissen, war sie nicht ausgerüstet. . . .  So war es klar, daß sie es einer erfahrenen Köchin nicht gleichtun konnte, und das drückte sie mehr als die Erlernung der tibetischen Sprache.  . . .

Nomadenleben
Zum schweren Anfang gehörte auch die Zeit vom Herbst 1862 bis zum Sommer 1864. Es sind dies die einzigen Jahre, die das Ehepaar Heyde nicht in Kyelang verlebte; eine Zeit des ruhelosen Wanderns und der bangen Ungewißheit, reich an Entbehrungen aller Art. Es hatte sich nämlich als notwendig herausgestellt, daß die drei Missionarsfamilien im Kyelanger Haus wenigstens teilweise sich trennten. Der Arbeit würde es förderlicher sein, wenn noch eine zweite Station irgendwo im Umkreis gegründet würde. — Dazu kam, daß Marie Heyde erkrankt war und den nächsten erreichbaren Arzt aufsuchen sollte. Der Arzt wohnte aber 14 Tagereisen weit in Dharmsala am Südhang des Himalaja. So wurde Missionar Heyde beauftragt, mit seiner Familie Kyelang zu verlassen und einen Platz für die neue Station ausfindig zu machen.
Am 24. Oktober 1862 brach das Ehepaar auf. Außer einem Tibeter hatten sie ihr zweijähriges Töchterlein Elly bei sich, das ihnen im Dezember 1860 geschenkt worden war. Der Rotang-Paß wurde zwar glücklich überstiegen, aber in Dschaga Sukh, einem hindustanischen Dörflein am Südfuß des Rotang, erfolgte die Frühgeburt eines toten Kindleins. Die Unterkunft in dem leerstehenden, verwahrlosten Haus eines Engländers war sehr dürftig, und so zwang sich die Kranke schon am sechsten Tage zur Weiterreise nach Dharmsala.
Dort blieb sie drei Monate unter ärztlicher Aufsicht mit ihrem Kinde, während der Gatte am 24. Dezember sich auf dienstliche Reisen begab. So gab es für die Zurückbleibende ein einsames und wehmütiges Weihnachten in fremder Umgebung.

. . .  Einen besonderen Dienst taten ihr damals die Briefe, die einst die Mutter aus dem Urwald Südamerikas an ihr Kind geschrieben hatte, und die sie auch in Asien mit sich führte. Hier konnten sie ihre volle Segenswirkung ausüben, denn hier befand sich die Tochter in einer ähnlichen Lage wie einst die Mutter im Urwald, auf einsamem, entsagungsreichem Posten im Dienste des Heilandes.
Marie Heyde und ihr Töchterlein Elly hausten in Dschaga Sukh in einem dürftigen Raum mit Ratten und Mäusen zusammen . . .

. . . Das Wochenbett in Dschaga Sukh war recht ruhelos, da die Mutter außer der treuen Pflege des Vaters keine Hilfe hatte. Der Ersatz für die entlassene Rahemie war nämlich ein zehnjähriges tibetisches Mädchen, das noch nichts konnte, sondern selbst gepflegt werden mußte. Missionar Heyde hatte das Kind auf einer seiner Reisen in öder Gegend «gefunden«. Es trieb sich eltern- und heimatlos mit zwei Brüdern herum und nährte sich vom Betteln und kleinen Diebereien. Die Missionsleute beschlossen, die kleine Gangsom, die von den dreien den verkommensten Eindruck machte, ganz zu sich zu nehmen und zu erziehen. Gangsom oder wie sie später als Christin hieß, Betty, gehörte fortan ganz zur Familie. Es kostete in den nächsten Jahren viel Mühe und Geduld, bis sie das Lügen und Stehlen sowie die anderen Gewohnheiten des Landstreichertums aufgab. Doch die Liebe war nicht umsonst. Nach manchen Enttäuschungen, die sie den Pflegeeltern bereitete, entwickelte Betty sich überaus günstig. Sie wurde ein zuverlässiger Charakter und eine treue Christin. Betty heiratete später in Kyelang einen braven Mann und wurde die Mutter einer Reihe wohlerzogener Kinder.

. . . Im April 1864 verließen Heydes ihre Hütte in Dschaga Sukh, um eine Tagereise südlicher in Munsala die beabsichtigte Missionsstation anzulegen. Dort schien endlich der passende Ort dafür gefunden zu sein. Verschiedene Bauplätze wurden besichtigt, und bis zur Fertigstellung des Hauses wollte die Familie in einem Zelt wohnen. Da traf am 14. Mai ganz unerwartet die Nachricht ein, daß Heydes wiederum nach Kyelang berufen seien, da Jäschke nach Simla übersiedeln werde, um sich dort ausschließlich den Sprachstudien zu widmen. (Jäschkes blieben nur einen Winter in Simla und kehrten dann wieder nach Kyelang zurück, wo sie noch bis 1868, dem Jahr ihrer Rückkehr nach Europa, in harmonischer Weise mit Heydes zusammenarbeiteten. Pagells hatten schon 1862 Kyelang verlassen und arbeiteten fortan auf der von ihnen gegründeten Missionsstation Poo in Kunavar, einer Landschaft südöstlich von Kyelang.) Dieser Befehl, nach Kyelang zurückzukehren, bewegte die seit zwei Jahren heimatlosen Missionsleute aufs freudigste. Kyelang war eben doch die erste Liebe. Dort war ihre Heimat inmitten der tibetischen Gebirgswelt. Als Heydes am 19. Juni 1864 mit ihren zwei Kindern, mit Tobsi und der tibetischen Pflegetochter fröhlich in Kyelang einzogen, ahnten sie nicht, daß nun dieser Ort fast 40 Jahre hindurch der Schauplatz ihrer Tätigkeit sein sollte.

„Liebhaben müssen Sie die Leute!“
Als Frau Heyde einmal in den letzten Jahren ihres Lebens von einem angehenden Missionar, der unter den Tibetern arbeiten sollte, um Ratschläge gebeten wurde, antwortete sie: „Liebhaben, liebhaben und noch einmal sehr liebhaben müssen Sie die Leute. Das ist das einzige, was ich Ihnen sage. Es wird Ihnen dort drüben vieles sehr fremd vorkommen. Da kann nur die Liebe helfen. Und die müssen Sie sich schenken lassen. Alles andere kommt dann von selbst.”
Diese Antwort ist für alte und junge Missionare auf jedem Missionsgebiet in gleicher Weise beherzigenswert. Sie war aus der Erfahrung einer langjährigen Arbeit herausgewachsen. Denn das Heydesche Ehepaar hatte sich im Lauf der Jahrzehnte immer tiefer hineingeliebt und dadurch auch hineingelebt in das den Europäern so fremdartige und fernstehende Volk der Tibeter.
Schon die Häuser hatten nichts Einladendes. Vor allem an Bauholz fehlte es. So bestanden sie im wesentlichen aus Stein und Lehm. Durch eine niedrige Eingangstür kam man in den unteren Stock. Er war völlig dunkel und diente als Stall für Pferd und Rind. . . .

Das Loch, das in der Decke zum flachen Dach hinausführte, und die zwei auch im Winter immer offenen Fenster genügten nicht, um den Rauch abzuführen. Der Raum war vielmehr so von Rauch und Ruß gefüllt, daß dem Eintretenden gleich die Tränen in die Augen traten. Die Fenster waren klein und so niedrig in der Wand angebracht, daß man auf dem Boden sitzend hinausschauen konnte. . . .

Als Bettdecke dienten die Kleider und Pelzmäntel. Zwei niedrige Tischchen, kaum höher als Fußbänke, standen vor den Matten. — So etwa sah die Wohnung eines wohlhabenden Tibeters aus. . . .
Und nun die Bewohner selbst. Sie waren noch mehr als die Häuser, in denen sie wohnten, eine fremdartige Erscheinung für den Europäer. Die geschlitzten Augen, die hervortretenden Backenknochen . . . kennzeichnen den Tibeter als zur mongolischen Gruppe gehörig. So gelten z. B. die Bewohner in und um Kyelang als Halbtibeter.
An der Reinlichkeit mangelte es leider in hohem Maße. Nur Wohlhabende trugen ein Hemd. . . .

 Das Haupthaar wurde in mindestens acht mit Öl oder Butter eingefettete Zöpfe geflochten, die infolge eingelegter Wolle bis auf die Hüften hinabreichten, und dort zu einem dichten Wollzopf sich vereinigten. Diese Zöpfe wurden meist nur einmal im Monat geflochten, ein sehr umständliches und zeitraubendes Verfahren!  . . .

Begegnung mit Buddha
Die schweren Hindernisse, die sich der christlichen Liebe entgegenstellten und zu denen sie nicht schweigen konnte, lagen auf dem Gebiet der Religion und der Sittlichkeit. Allgemein verbreitet und nach der Volksanschauung auch zu Recht bestehend war zum Beispiel die Sitte, nach der eine Frau nicht nur mit ihrem Mann, sondern zugleich auch mit dessen Brüdern in ehelichem Bunde stand. . . .

Die eigentliche Mauer, die das Herz der Tibeter gegenüber den Einflüssen der christlichen Liebe abschloß, war jedoch der Lamaismus, die bizarre Religionsform, die mit den Jahrhunderten so hart geworden ist wie das Urgestein der tibetischen Berge. — Der Lamaismus ist eine tiefstehende Form des Buddhismus, mit starken vorbuddhistischen Bestandteilen verquickt und in tote Formen erstarrt. Etwas unserem Gottesbegriff Entsprechendes gibt es im Tibetischen nicht. Die Missionare haben für Gott das Wort Kontschock, d. h. Kleinod, eingeführt. Dasselbe wird für gewöhnlich mit dem Zahlwort „sum – drei” zusammen ausgesprochen.
Kontschock-sum ist das indische Triratna, das dreifache Kleinod, nämlich Buddha, seine Lehre und seine Gemeinde. Diese Dreiheit gilt dem Buddhisten als verehrungswürdig, zu ihr soll er seine Zuflucht nehmen.
Die erste Pflicht des Frommen besteht in der Verehrung von Buddha, dem großen indischen Heiligen, der eine eigene Lehre gestiftet, seinen Jüngern den Weg zur Erlösung gezeigt und im Tode sich in das Nichts (Nirwana) aufgelöst hat. Selig werden, das heißt nichts anderes als es dahin bringen, daß man diesem unbeschreiblich erhabenen und verehrungswürdigen Buddha in das Schattenreich der Vernichtung folgen darf. Sein Bild, die bekannte mit verschränkten Knien dasitzende Gestalt, gilt als heilig. Es wird in mannigfacher Weise als Gemälde, Statue oder Amulett hergestellt und angebetet. In jedem Tempel oder Kloster, aber auch in jedem Privathaus steht ein solches Bild. Dabei verehrt der Tibeter noch eine ganze Heerschar von anderen hilfreichen Geistern und Göttern. Eine noch größere Rolle aber spielen die vielen bösen Geister oder Dämonen, die das Gemüt des Volkes mit beständiger Furcht erfüllen.

Die zweite religiöse Pflicht des Tibeters besteht in der Befolgung der Lehren Buddhas. Diese Lehren werden Tschos genannt und sind in hunderten von oft sehr umfangreichen Büchern niedergelegt. Manches gute Wort von moralischem Wert ist in diesen Büchern zu finden; doch verschwindet es in “einem Wust von dunklen, für den Laien völlig unverständlichen Aussprüchen. Aber das stört nicht. Gilt doch schon das mechanische Lesen dieser Schriften für verdienstlich, und man befolgt Buddhas Lehre schon dadurch, daß man sie liest. Das Lesen selbst besorgt der Priester. Mehrmals im Jahr wird derselbe in das Haus gerufen, damit er aus den Tschos lange Gebete vorlese, die Krankheit, Gefahren und böse Einflüsse von Haus, Hof, Garten und Feld, sowie von den Menschen selbst fernhalten sollen. Fabrikmäßig wird oft von mehreren im Kreis beieinander sitzenden Lamas das Lesen besorgt; eine Arbeit, die tagelang währen kann. Nicht auf die Qualität des Gelesenen kommt es an, sondern auf die Quantität. —

Tritt wider Erwarten der gewünschte Erfolg des Gebetes nicht ein, so läßt man sich z. B. bei einer Erkrankung vom Lama einen Spruch auf einen Zettel schreiben, näht letzteren zusammengefaltet in ein rotes oder grünes Täschchen und befestigt diesen Zauber an der Mütze des Erkrankten. Oder der Zettel wird zur Pille gedreht und verschluckt. Das muß unweigerlich helfen, denn in den Tschos wohnt göttliche Kraft. Der Lama aber wird für seine Bemühungen reichlich bezahlt.

Die dritte Pflicht des frommen Tibeters besteht in der Hingebung an die Gemeinde der Vollkommenen, d. h. an die Priester oder Lamas. Ihr Haupt ist der Dalai-Lama in Lhasa, der über einer großen, in mannigfachen Abstufungen nach unten sich erweiternden Gemeinde thront. (Seit 1959 befindet sich der Dalai-Lama in Indien.) Die Lamas wohnen in Klöstern beisammen, 
doch gibt es auch Heilige, die ein Einsiedlerleben
 führen oder wandernd umherziehen. Die meisten 
kennzeichnen sich durch die Farbe ihres Gewandes
 als zur roten oder zur gelben Sekte gehörig; das
 sind die zwei bekanntesten Mönchsorden.
Diese Lamas nun bilden die Gemeinde der Vollkommenen. In ihnen sieht der Laie die Gottheit vermenschlicht und sichtbar nahe gebracht. Sie machen sich anheischig, die Sorge für das Seelenheil der Menge zu übernehmen und für sie, wie der bezeichnende Ausdruck lautet, „Religion zu machen” . . . .

Lamas von höherem Rang, in denen ein früherer verstorbener Heiliger wieder Mensch geworden ist, werden geradezu als Heilande angesehen.  . . .

Daß der Anhänger des Buddhismus von einem so weitgehenden Abhängigkeitsgefühl dem Lama gegenüber erfüllt ist, beruht zum großen Teil auf der buddhistischen Lehre von der Sünde und der Seelenwanderung. Nicht nur das einzelne sittliche und religiöse Vergehen, sondern die Liebe zum Leben überhaupt ist Sünde. Um davon geheilt zu werden, muß die Seele nach dem Tode immer wieder in einen sterblichen Tier- oder Menschenleib zurückkehren und in jeder neuen Existenz die Früchte dessen ernten, was sie in einer früheren gesät hat. Auch was der Mensch im einzelnen während seines irdischen Lebens tut und erduldet, Freud und Leid, seine Gesinnung und sein Charakter, auch seine Sünden, faßt der fromme Tibeter als die Wirkungen und Ergebnisse dessen auf, was er in einem früheren Dasein verfehlt oder geleistet hat. Die Macht aber, die — Gutes und Böses abwägend — über die jeweilige Existenz des Menschen entscheidet, ist das Karma.
Die Folge dieser Anschauung ist, daß der buddhistische Tibeter kein Bewußtsein von Schuld und Verantwortlichkeit besitzt, weder im Blick auf seine Vergehungen in einer früheren Existenz, noch im Blick auf sein gegenwärtiges Leben. Allein das Karma entscheidet, welchen Wert das Gute oder Böse seiner augenblicklichen Daseinsform in der Gesamtrechnung auch seiner früheren Existenz einnimmt. — Da gehört denn in der Tat viel Liebe dazu, um in der Arbeit an einem solchen Volke nicht zu ermüden. Und solche Liebe, die alles glaubt und duldet und niemals verzagt, kann sich ein Missionar nicht selbst schenken; sie muß ihm von oben gegeben werden.

Pionier auf hartem Boden
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die Arbeit, die Heydes über 40 Jahre in Kyelang und von Kyelang aus getan haben, in zeitlicher Reihenfolge darzustellen. Das würde den Leser ermüden. Pflegte doch auch Mutter Heyde auf die Frage, was sie im Himalaja getan hätte, stets die Antwort zu geben: „Oh, nichts Besonderes, nichts Außergewöhnliches, immer wieder dasselbe.”
Stellen wir stattdessen an den Anfang dieses Abschnittes eine Schilderung der Persönlichkeit des siebzigjährigen Mannes und seiner Gattin, die aus der Feder von Missionar Schnabel stammt, des Letzten unter den vielen Mitarbeitern, die Heydes in Kyelang hatten kommen und gehen sehen:
„Der 4. Oktober 1895″ — so schreibt Schnabel — „war der Tag unserer Ankunft in Kyelang. Vom ersten Tage ab entspann sich ein schönes, fast möchte ich sagen ein ideales Verhältnis zwischen dem altehrwürdigen Streiterpaar und uns, den Neuangekommenen. . . .  Beide, Bruder Heyde und seine Frau, dienten uns als Vorbilder treuer Pflichterfüllung. Und was konnten wir nicht alles von ihnen lernen; ich von ihm, dem Pionier auf diesem Arbeitsfelde, und meine Frau von ihr, der liebreichen, stets hilfsbereiten Haus- und Missionsmutter. Welch reicher Schatz von Erfahrungen und mancherlei Erlebnissen hatte sich bei beiden nach so viel Dienstjahren angesammelt!
Worüber man sich am meisten wundern mußte, das war die fast jugendliche Art des Empfindens und die Geistesfrische, die sie sich trotz der Einsamkeit und einer jährlich wiederkehrenden mehrmonatigen Abgeschlossenheit von aller Welt bewahrt hatten.
Dazu haben sie nie einen Europaurlaub genommen, und nur zweimal waren sie gemeinsam in Simla und Nordindien zur Erholung! . . . Teure Kunst- und Luxusgegenstände suchte man vergeblich in ihren Wohnräumen; alles war schlicht und einfach. So auch die Kleidung, die von Tibetern geschickt aus einheimischen Wollstoffen in Schwarz, Braun oder Grau angefertigt war. Und wie einfach waren diese Leute auch im Verkehr mit anderen Europäern! Niemals drängten sie einem ihre Meinung, ihr reiches Wissen auf geistigem, religiösem und praktischem Gebiete auf. Wenn aber jemand fragte und sich für eine Sache interessierte, dann teilten sie ihm frei aus ihrer gemeinsamen Fülle mit.
War es daher ein Wunder, wenn so mancher sich zu ihnen hingezogen fühlte? Besonders jüngere und unerfahrene Personen hatten es gern mit dem alten Missionarenpaar zu tun, denn wie konnten sie noch jung sein mit der Jugend! Noch sehe ich z. B., wie begeistert der 70jährige Vater Heyde auf meinen Vorschlag einging, für die Dorfjugend eine Turnschule einzurichten. Reck, Barren, Sprungbrett konnten nicht schnell genug fertiggestellt werden, und oft schaute er dem munteren Treiben auf dem Turnplatz zu.  . . .
Viele Reisende haben es mir bezeugt, daß der Besuch im Kyelanger Missionshaus für sie reichen Gewinn bedeutete. . . . Ihr Ruf und Einfluß reichte in der Tat weit über die Grenzen ihres Wirkungskreises hinaus.  . . .”
Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, als der äußere Erfolg der Arbeit, d. h. die Zahl der getauften Christen, verhältnismäßig gering geblieben ist. Doch davon später.

Gefahr und Bewahrung
Wie jeder Missionar, so hat auch Heyde mit seiner Frau als Evangelist und Seelsorger, als Arzt und Erzieher unter dem Volke gewirkt, zu dem er gesendet war. —
In den zwei ersten Jahrzehnten seiner Tätigkeit ist er viel und weit umhergereist, um in Dörfern und Städten, auf Marktplätzen, an Wallfahrtsorten und in Nomadenlagern das Evangelium zu verkünden. Mehrfach drangen Regierungsbeamte und Forschungsreisende in ihn, sie als Führer und Dolmetscher zu begleiten. Solche Anträge, so verlockend sie waren, lehnte Heyde stets ab.
Dagegen unternahm er auch im höheren Alter immer noch gern seine jährlichen Evangelisationsreisen. Einmal blieb er sogar (1882 auf 1883) 10 Monate unterwegs, als er in seinem 58. Lebensjahr die Gründung der Missionsstation in Leh vorbereitete. (In den Jahrzehnten seit Heydes Heimkehr ist Leh immer mehr zum fast einzigen Mittelpunkt der Himalaja-Mission der Brüdergemeine geworden. 1926 mußte Poo als Missionsstation geschlossen werden und 1940 gar Kyelang.)
Diese Reisen in der Hochgebirgswelt waren nicht immer ungefährlich, und mehrfach erfuhr Heyde wunderbare Lebensbewahrungen. Einmal rollte eine Lawine dicht neben ihm zu Tal, ein andermal geriet er bei fast 6000 m Höhe mit seinen Begleitern in den Schneesturm und verirrte sich. Wie durch ein Wunder kam die der Erschöpfung nahe Gesellschaft wieder auf den rechten Weg und unter Schutz. Bei einem Flußübergang riß ihm die starke Strömung das Pferd unter dem Leibe weg, und er selbst wurde eine weite Strecke flußabwärts gespült, bis er schon halb bewußtlos eine Uferwurzel erreichen konnte. Und wieder bei einer anderen Gelegenheit scheute das Pferd kurz, bevor er es besteigen wollte und stürzte in den Abgrund.
Der allbeherrschende Gegenstand seiner Predigten war die Versöhnung durch Christi Tod, die er immer und immer wieder der buddhistischen Gesetzlichkeit und Vollkommenheitslehre gegenüberstellte.
„Gott ward Mensch und ist gestorben,

Menschenherz, für dich, des freue dich ewiglich.”

Diese Glaubenswahrheit betrachtete Missionar Heyde als das Fundament seines Lebens, aus ihr schöpfte sein kindlicher, einfältiger Glaube wie aus einer nie versiegenden Quelle.

Was will der weiße Sahib?
Hand in Hand mit der Wortverkündigung ging die Schriftenverteilung. Keine Reise wurde angetreten, ohne daß sich der Missionar mit Bibelteilen und Traktaten versah. Diese aber mußten zuvor übersetzt und gedruckt sein. —
Der große und bahnbrechende Sprachforscher und Gelehrte in der tibetischen Mission ist Dr. Jäschke. Aber auch Heyde hat sich mit hingebendem Fleiß und der ihm eigenen Zähigkeit den Sprachstudien gewidmet. Immer wieder vertiefte er sich in die alten heiligen Bücher der Tibeter, so in den Kangyur, das Hauptwerk ihrer Literatur mit seinen 108 Bänden. Wandernde Lamas, die ihn bei solcher Lektüre antrafen, konnten da wohl gelegentlich der Meinung sein, als wolle der weiße Sahib sich zu ihrer Religion bekehren; doch wurden sie bald eines Besseren belehrt. Unermüdlich schmiedete sich Heyde dadurch, daß er in den Geist der tibetischen Sprache einzudringen suchte, die Waffen, um dem Evangelium zum Sieg zu verhelfen.

Er war wohl der erste, der mit Nachdruck die Notwendigkeit betonte, die christlichen Wahrheiten nicht nur in das klassische Tibetisch (die Gelehrtensprache) zu übersetzen, wie Jäschke es getan hatte, sondern auch in die Umgangssprache des gemeinen Volkes. Mit Energie suchte er den Lahouler Dialekt, das sog. »Bunan«, zu erforschen und für die Sache des Evangeliums zu verwerten. So sammelte und veröffentlichte er die buddhistischen Wallfahrtsgebete in der Bunansprache und übersetzte in dieselbe eine Reihe der wichtigsten Bibelsprüche. Auch richtete er frühzeitig sein Augenmerk auf hoffnungsvolle, junge Tibeter — ob es Söhne christlicher Eltern waren oder solche, die selbst erst zum Christentum übertraten — und bemühte sich eifrig, sie zu Evangelisten und Missionsgehilfen heranzuziehen. Und nicht umsonst! Welch wertvolle Hilfe hat z. B. Zodpa, der doch ganz und gar aus Heydes Schule hervorgegangen ist, den Missionaren bei ihren Übersetzungsarbeiten geleistet! Und in wie gesegneter Arbeit standen danach Männer wie Jamsga Puntsog* (Einer der beiden ersten Geistlichen, die 1921 ordiniert wurden), Tschompel (der einstige Lama von Traschilumpo) und Dewazung! —
In der Bibliographie der Himalajamission der Brüdergemeine von Francke wird Heyde u. a. genannt als der Übersetzer von Tobias Becks Glaubenslehre, (564 Seiten), und eines tibetischen Gesangbuchs (Übersetzung deutscher und englischer Kirchenlieder). Ferner als der Herausgeber der von Missionar Redslob übersetzten fünf Bücher Mose mit Hinzuübersetzung der fehlenden Stücke; als der Revisor des englisch-tibetischen Wörterbuchs (im Auftrag der indischen Regierung), sowie des Neuen Testaments (im Auftrag der britischen Bibelgesellschaft). Endlich wird er genannt als der Verfasser einer Reihe von Lehrbüchern für die Christenschule (Geographie, Astronomie, Rechenbücher, Sonntagsschulthemen, Sprichwörter, biblische Geschichten) und von Traktaten.
Zum Übersetzen und Schriftstellern kam das Drucken. Heyde und besonders seine Frau wurden je länger je mehr zu Meistern in der tibetischen Schönschreibekunst. Schon Jäschke stellte fest, daß er in Schwester Heyde den »tibetischen Kalligraphen« entdeckt habe. So sind denn Tausende von Seiten von den fleißigen Händen der beiden in schönster tibetischer Druckschrift geschrieben und auf der Kyelanger Presse vervielfältigt worden.

Besucher auf Kyelang
Wie das Evangelium von Kyelang aus in die Heidenwelt getragen wurde, so kamen auch umgekehrt die Heiden vielfach nach Kyelang. Mit Vorbedacht war nämlich grade dort eine Missionsstation angelegt worden, weil dieser Ort in der Mitte der Provinz Lahoul und an der Handelsstraße liegt, die von Leh aus in die Ebene Nordindiens führt. Auch führte der Weg zu dem nur zwei Tagereisen entfernten weltberühmten Wallfahrtsort Repag (Triloknath) an Kyelang vorbei.
Kaum hatten sich daher im Frühjahr die Schneepässe geöffnet, so erschienen auch schon die ersten Trupps der Wallfahrer oder Händler im Tal, und die meisten von ihnen statteten dem Missionshaus einen Besuch ab, zunächst gewöhnlich aus Neugier, denn sie wollten doch etwas sehen; niemals aber verließen sie das Haus, ohne irgendwie mit dem Geist Gottes in Berührung gekommen zu sein. Fast noch wichtiger als die öffentliche Predigt und Schriftenverteilung war dem erfahrenen Missionar das Gespräch unter vier Augen. Diese persönlichste Art des Verkehrs liebte er am meisten und übte sie allerorts, früh und spät, wo sich ihm nur eine Gelegenheit dazu bot. So suchte er den alten Lama auf, der in seiner Einsiedlerhöhle sich versteckte wie ein Fuchs in seinem Bau; so ließ er sich unterwegs mit dem unbekannten Wanderer in ein Gespräch ein, um an sein Herz zu kommen; so sprach er regelmäßig von Zeit zu Zeit wie ein treubesorgter Vater mit jedem einzelnen Mitglied seines Gemeindleins; so stand er aber auch für jedermann zur Verfügung, der von ihm Rat und Hilfe begehrte.
Und das geschah sehr häufig, von nah und fern kamen sie, Christen und Heiden, und brachten ihre oft merkwürdigen Anliegen vertrauensvoll vor ihn. Nur ein Beispiel statt vieler, um die Art und Weise zu beleuchten, in der Vater Heyde mit seinen Tibetern umging: Kam da eines Tages ein Fremdling zum Kyelanger Padre Sahib mit der Bitte, ob er ihm 80 Rupis (108,— Mark in Friedenszeiten) borgen wolle. „Wozu brauchst du das Geld?” „Nun, ich benötige es, und zwar bald”, lautete die Antwort. „So — aber ich kenne dich nicht, würdest du einem Stockfremden so ohne weiteres eine solch hohe Summe leihen?” — „Nein — und ja!” — „Das würdest du nicht tun. Auch ich werde es nicht tun, solange du mir fraglich erscheinst”, erwiderte der Sahib. Verlegen, nicht recht wissend, was er antworten solle, greift da der Tibeter in die inneren Falten des Gewandes und bringt ein Päckchen zum Vorschein mit dem Bemerken: „Bitte gib mir das Geld, und nimm das dafür.” „Ja, was soll ich mit dem Päckchen, und was ist darinnen?” — „Saphire!”
„Wie, Saphire? Die werden wohl nicht echt sein, mein Geld ist mir lieber”, antwortete Vater Heyde. „Ich habe aber die Steine als echt gekauft, sie sind hier in den Bergen gefunden worden”, spricht der Tibeter. „Bitte, Sahib, behalte die Steine und gib mir das Geld.” Endlich läßt sich der Missionar erweichen und gibt dem Fremden die 80 Rupis.
Mit dem Edelsteinpäckchen konnte er nun eigentlich tun, was er wollte. Aber er verwahrt es sorgfältig in der Meinung, die Steine könnten wirklich echt sein und der Tibeter könnte wiederkommen. Wochen und Monate vergehen, ohne daß sich jemand zeigt. Doch siehe, eines Tages erscheint der Tibeter ganz unerwartet wieder in Heydes Studierstube: „Hast du noch mein Päckchen?” so lautet die erste Frage. „Hast du noch mein Geld?” so ertönt prompt die Gegenfrage. „Ja, das habe ich.” Und darauf holt der Sahib das wohlverwahrte Päckchen hervor und gibt’s dem Fremden zurück. Dieser ist überglücklich, daß der Sahib die Steine nicht verkauft hat, denn sie waren wirklich echt. Der Tibeter reiste bald darauf nach Delhi, verkaufte die Saphire und kehrte als reicher Mann zurück. — So und ähnlich begegneten sich gar oft das Vertrauen der Eingeborenen mit der Uneigennützigkeit des Missionars; und jedesmal leuchtete dann etwas von der Herrlichkeit des Reiches Gottes in jener stillen Bergwelt auf.
Nichts wäre übrigens verkehrter, als wenn jemand aus dieser Begebenheit den Schluß ziehen wollte, Missionar Heyde sei ein leicht zu überredender, gutmütiger Mann gewesen. Er hatte vielmehr einen sehr festen Willen, neigte in seiner Jugend zum Jähzorn und bekannte, daß er in den ersten Zeiten seines Amtes oft zu tatkräftig, herb und streng gewesen wäre und dadurch gelegentlich bei seinen lieben Kollegen Anstoß gegeben habe. — Und wenn auch im Alter sein Charakter und Wesen weit mehr zur Milde neigte und ein bestimmtes „Nein” nicht mehr leicht über seine Lippen zu kommen schien, so wußte er dennoch zu gegebener Zeit fest und entschieden aufzutreten.
So hatte sich einst ein junger Mann aus dem Mantschat-Tal den Arm von oben bis unten verbrüht, so daß die Haut in Fetzen herabhing. Wie Unzählige eilte er alsbald zum „Kyelang Sahib”, um Hilfe und Medizin zu erbitten. Da dieser ähnliche Fälle schon mit gutem Erfolg behandelt hatte, wußte er sofort, was zu tun war. Und als der Arm des jungen Freundes gut verbunden in der Binde lag, wurde ihm gesagt, er solle in drei Tagen wiederkommen. Der Patient erschien jedoch nicht. Vater Heyde schöpfte Verdacht, und erst nach zehn Tagen stellte sich der junge Mantschater ein, um weitere Medizin bittend.
„Warum bist du nicht eher gekommen?” — „Ich hatte dringende Geschäfte“. „So, dann zeig einmal deinen Arm!“ Der „Kyelang Sahib“ hilft ihm beim Abwickeln der Binde, und siehe da — ein dicker geschwollener, furchtbar aussehender Arm kommt zum Vorschein. „Das ist eine schöne Bescherung, lieber Freund, was ist hier geschehen?
Diesen Breiaufstrich habe ich nicht gemacht und die Birkenrinde habe ich auch nicht aufgelegt. Gestehe es nur, die Medizin-Lamas haben deinen Arm in Kur gehabt und ihren Hokuspokus vorgenommen. Und jetzt, wo sich die Herren vom roten Kollegium keinen Rat mehr wissen, kommst du wieder zu uns. Geh nur und bleib bei deinen Lamas! Ich mag jetzt mit deinem Arm nichts mehr zu tun haben.” — So wurde der junge Mann abgewiesen und ganz mit Recht; denn es war im ganzen Lande bekannt, daß es beim „Kyelang Sahib” nur ein Entweder — Oder gibt, entweder eine Behandlung durch den Missionar oder durch die Lamas. Der Patient verlegte sich nun aufs Bitten und machte allerlei Versprechungen. Alles umsonst, er mußte gehen. Aber er kam wieder, nicht nur einmal, sondern sechsmal. Dann erst nahm sich Missionar Heyde seiner wieder an; und der Arm heilte, wenn auch langsam, da die Lamas mit ihrer Heilkunst den Heilungsprozeß schwer gestört hatten. —
Dieser Grundsatz, die hilfesuchende Hand zurückzuweisen, sobald das Eingreifen der „Rot-Röcke” festgestellt wurde, konnte im einzelnen Fall wohl hart erscheinen. Er war aber vom Standpunkt des Arztes und des Missionars aus richtig und zeitigte auch je länger, je mehr seine Frucht. Die Menge des Volkes suchte Rat und Hilfe in der Erfüllung ihrer verschiedensten Wünsche nicht mehr bei den heidnischen Zauberdoktoren, sondern meistens im Missionshaus zu Kyelang.
Heyde war ohne Frage ein für das praktische Leben besonders begabter vielseitiger Mensch. Und wenn man eine Liste zusammenstellen wollte von Dingen, die er angefertigt hatte, so würde sie recht bunt ausfallen, u. a. würde darauf zu finden sein: Eine Sonnenuhr aus Stein gemeißelt, ein Globus aus Zinkblech, Kinderspielzeug, Konservenbüchsen und Gießkannen, überhaupt Klempner- und Schreinerarbeiten, sowie bautechnische Anlagen der verschiedensten Art;  selbstgemachte Würste, selbstgebundene Bücher, selbstentworfene Wandkarten und dergleichen mehr. Es war kein Wunder, daß man glaubte, beim Padre Sahib alles bekommen zu können:

Bücher, Fibeln, Handwerkszeug, Saatkartoffeln, Stecklinge und Hammelfleisch, Strümpfe, Mützen, Handschuhe, Arznei für Mensch und Vieh, und nicht zuletzt Ratschläge für alle möglichen und unmöglichen Fälle. Der eine hatte zu viel Kinder, der andere zu wenig oder gar keine. Einem Dritten war die Frau weggelaufen, ein Vierter lebte in Streit mit seinen Kindern, ein Fünfter wollte eine Eingabe an die Regierung angefertigt haben. Ein Sechster suchte Arbeit und einem Siebenten sollte der Zahn gezogen werden. Wie viel Gelegenheit gab es da, durch all die äußeren Angelegenheiten hindurch auf das Innere zu sprechen zu kommen und Arbeit an den Seelen zu tun.

Oft genug mußte auch die Frau einspringen, wenn der Mann auf Reisen war. So kam einst eine Mutter mit ihrem Büblein, dem ein Yak den Leib aufgerissen hatte. Es war kein Missionsarzt da und kein ärztliches Instrument. Und doch sollte geholfen werden. So schickte Mutter Heyde einen Gebetsseufzer zum Herrn, griff dann zu gewöhnlichem Zwirn und Nadel und nähte die klaffende Wunde zu. Statt der Narkose bekam der kleine Patient eine getrocknete Aprikose in den Mund, damit er nicht schreien sollte. Die Wunde heilte übrigens unter Gottes Segen aufs schönste, und noch lange eilte der Junge, wenn Mutter Heyde einmal durch sein Dorf kam, auf sie zu, hob sein Röcklein auf und zeigte die gut verheilte Narbe. —
Noch ein anderes ergreifendes Beispiel, das manchen Zweifler auch hier in Europa zum Nachdenken veranlassen könnte: Als einst der Rinderpest die meisten Kühe im Tal zum Opfer fielen, kam Dana, eine arme Christin, zu Mutter Heyde mit der einfaltigen Bitte, sie möchte doch darum beten, daß ihre einzige Kuh am Leben bliebe. Danas Kuh stand im Stall der Missionsfarm. Heydes hatten sich nun bereits vorgenommen, nicht darum zu beten, daß das Vieh der Mission von der Krankheit verschont bleibe. Sie wollten mit dem ihnen ans Herz gewachsenen Volk in Freud und Leid das gleiche Los teilen. Nun aber wurde ihnen so zumute, daß sie freudig gerade für das Anliegen der Dana beten sollten, damit der Glaube jener einfältigen Christin nicht beschämt würde. Und siehe da — sämtliche Kühe der Missionsfarm gingen ein, und nur Danas Kuh in der Ecke des Missionsstalles blieb am Leben und gab während der ganzen Zeit gute Milch, die den Kindern der armen Mutter zugute kam

Musterfarm und Strickschule
Auf zwei Dinge müssen wir noch besonders eingehen, wenn wir die Tätigkeit der beiden Heydes in Kyelang betrachten: auf die von Vater Heyde gegründete landwirtschaftliche Musterfarm und auf die von Mutter Heyde ins Leben gerufene Strickschule.
Durch Anlegung einer Musterfarm mit Viehwirtschaft hat sich Heyde ein bedeutsames Verdienst erworben, nicht nur bei der tibetischen Christengemeinde, sondern auch bei der gesamten Bevölkerung dieses Landstrichs. Das großzügig angelegte und durchgeführte Unternehmen wollte er ebenso wie die Wortverkündigung als Missionsarbeit gerechnet wissen. Und das wird sehr wohl verständlich, wenn man sich die Gedanken vergegenwärtigt, die ihn bei jener Arbeit leiteten.
Er sagte: „Der Tibeter neigt dazu, das Christentum als eine Art von Buddhismus anzusehen, die auch nur aus religiösen Lehren und Übungen zusammengesetzt ist, dem wirklichen Leben aber fremd gegenübersteht. Darum muß das Christentum den Tibetern vorgelebt werden. Und zwar nicht nur durch den persönlich tadellosen Wandel des Missionars, sondern durch eine das ganze Leben schöpferisch befruchtende Tätigkeit. So sollen auch die dort landesüblichen Erwerbszweige der Acker- und Weidewirtschaft den christlichen Geist als eine göttliche Lebensmacht erfahren, die segnend und heiligend wirkt.”

Die Schwierigkeiten bei der Ausführung des Unternehmens waren freilich groß. Das oft zu steile Gelände, das die Regierung zur Verfügung gestellt hatte, mußte stufenweise behandelt und waagerecht gemacht werden. Und der wasserarme Boden bedurfte einer künstlichen Berieselung. Zu diesem Zweck aber mußte eine 15 Kilometer lange, Lawinen- und Schlammstromsichere Wasserleitung angelegt, d. h. mit den einfachsten Mitteln in stetem Kampf einer unwirtlichen Gletscherwelt abgerungen werden. Die Quelle der Wasserleitung lag nämlich im Gletscher. Die Lamas hatten zunächst ihren Spott, als sie diese Arbeiten sahen. Doch bald schwiegen sie, denn sie mußten es erleben, daß die Missionsfelder ohne die üblichen Zaubermittel eine so viel bessere Ernte lieferten als die ihrigen; ja, daß viele ihrer Pflegebefohlenen sich bei der Arbeit nicht mehr nach ihren Vorschriften richteten, sondern nach dem, was in der Missionsfarm geschah.

Als letztes Ziel strebte Heyde eine oberhalb von Kyelang sich ausbreitende christliche Niederlassung an, indem er anfing, Teile der Farm an christliche Familien zu verpachten. Dort lag Tingtse, eines der fünf Farmhäuser, in lieblicher und zugleich großartiger Umgebung. Dort in feierlicher Stille verbrachte der greise Missionar mit Vorliebe, wenn es möglich war, die Zeit seiner jährlichen Erholung.
Wenn Ende November oben in der Missionsfarm das Erntedankfest gefeiert wurde, dann wurde die kleine Christenschar ganz eigentlich zu einer Predigerin der Güte ihres Gottes. Dann schleppte sie ihre Feld- und Gartenerzeugnisse heran: Melonen, Kürbisse, Äpfel, Aprikosen, Rot- und Weißkraut, Gerste, Weizen und Kartoffeln. Das alles gedieh bei einer Höhe von 3000 m. Roggen und Kartoffeln waren früher in Tibet eine unbekannte Frucht und sind erst durch die Missionare im Lande eingeführt worden.
Acht kleine Kartoffeln, in einer Blechbüchse verlötet, ließ Heyde einst aus Europa kommen. Sie bildeten den Grundstock zu späteren reichen Kartoffelerträgen.
Und es war eine Lust, dem fröhlichen Treiben zuzuschauen, denn alle wußten es: Es ist Gottes Segen, und der Erlös kommt der Mission zugute. —

Das Gegenstück zu Vater Heydes Farm war die Strickschule Mutter Heydes. Auch diese Arbeit führte die Mission mit der Bevölkerung wie von selbst zusammen. Denn von der Wolle auf dem Schaf bis zum fertigen Strumpf am Fuß stand die ganze „Industrie” unter Obhut und Leitung der Mission. — Die gekaufte, übrigens recht gute Wolle wurde von den Frauen auf der Missionsstation gereinigt, gewaschen und eigenhändig gesponnen. Und dann setzte die Strickschule ein.
Das Stricken war, bevor die Frauen der deutschen Missionare kamen, in Tibet eine unbekannte Kunst. Und es kostete viel Mühe, eine Strickschule einzurichten. Jahre hindurch kamen trotz eifriger Einladung nur ein oder zwei Personen, und das waren Männer. Denn alle Handarbeiten, außer dem Spinnen, waren ursprünglich bei den tibetischen Frauen verpönt. Lieber liefen sie mit großen Löchern in den Kleidern herum, als daß sie eine Nadel zur Hand genommen hätten.
Mutter Heydes Geduld aber machte sich schließlich bezahlt. Mit der Zeit kamen 80 — 90 Frauen aus sechs Dörfern in zwei Abteilungen zweimal wöchentlich während des Winters im Missionshaus zusammen und fertigten 100 — 120 Paar Strümpfe in jeder Woche. Diese wurden zum Besten der Mission nach Indien verkauft. Durch die bezahlte Arbeit kam Wohlstand unter die Leute, zumal da sie anfingen, auf eigene Hand zu stricken und die Strumpfwaren an Fremde zu verkaufen. So waren die Mädchen, die mit ihren Tragkörben auf dem Rücken zum Teil weite Wege zurücklegten und dabei den Strickstrumpf in der Hand hatten, kein seltener Anblick, ja gehörten geradezu mit in das Bild des neuen, von der Mission beeinflußten Lahoul.

Nun aber die Hauptsache, die Missionsarbeit: „Noch sehe ich Mutter Heyde vor mir“, schreibt Frau Schnabel, „wie sie in der großen Stube des Missionshauses inmitten ihrer Frauen, Mädchen und Kinder stand, hier eine Frage beantwortend, dort einen Rat erteilend, immer freundlich und mütterlich auf alles eingehend. An der Wand aber hängt das große bunte Bild von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen; und nun schildert sie mit eindringlichen Worten das ,zu spät’. Dann wird ein passender Spruch oder Vers gelernt. Noch höre ich z. B., wie sie sich abmüht, den Strickerinnen Text und Melodie des Liedes einzuprägen: ‚Jesus liebt mich, das weiß ich’. Und daß ihre Arbeit nicht vergeblich war, erfuhr ich, als wir 16 Jahre später wieder in Kyelang arbeiteten. Da erinnerten sich die Strickerinnen noch gut an jenes Lied und an manches Wort, das ihnen Mutter Heyde gesagt hatte. Auch erklärten die heidnischen Mädchen von selbst: ‚Ja, Jesus ist der große Helfer in aller Not. Zu ihm beten wir’“.   . . .   . . .

Kinder in Gottes Hand
Um so schmerzlicher war das herbe Dahingehenmüssen, der bittere Verzicht, der im Familienleben der Missionare nun einmal eine solche Rolle spielt. Vater Heyde pflegte immer zu betonen, daß die Mission für den Missionar kein Opfer bedeute; er habe ihr viel mehr zu verdanken als umgekehrt. Nur eines wurde auch von Heydes als schweres Opfer empfunden: Die Trennung von den Kindern! Wenn die Kinder ein gewisses Alter erreicht haben, müssen sie um ihrer weiteren Erziehung willen nach Europa. In Kleinwelka bei Bautzen in Sachsen, wo die Mutter selbst einst gewesen, wurden auch ihre Kinder erzogen. Elly, die älteste Tochter, fuhr mit Missionar Jäschke im Jahr 1868 nach Deutschland. Paul, den ältesten Sohn, hätten sie gern selbst in die deutsche Heimat gebracht und damit ihren ersten Urlaub verbunden. Doch traten sie zurück, als ein anderes Missionarehepaar in die Heimat wollte . . .“ —

Noch schwerer als dieser Abschied war ein anderes Opfer, das die Eltern in ihrem Missionsberuf bringen mußten: Die Zahl der Kindergräber auf dem Gottesacker zu Kyelang ist unverhältnismäßig groß. Die dünne Luft (gegen 3000 m Höhe) und das Bergklima des Himalaja scheint vielfach den Kindern europäischer Eltern verhängnisvoll geworden zu sein. Auch Heydes mußten drei Kinder im blühenden Alter dahingeben: 1870 ging die kleine 3jährige Agnes heim. Vor allem aber war es das Jahr 78, das von den Eltern ganze Ergebung in Gottes Willen forderte, und dessen Führung der Vater damals als die schwerste Heimsuchung in seinem bisherigen Leben empfand. Rasch nacheinander entschliefen die siebenjährige Lydia und der neunjährige Hermann zu einer Zeit, wo die Mutter bereits emsig an deren Ausstattung für die Reise nach Europa arbeitete, die sie gemeinsam antreten sollten. Lydia muß nach der Aussage der Eltern das lieblichste und Hermann das begabteste unter ihren Kindern gewesen sein. Ein typhöses Bergfieber raffte sie dahin. Das Tagebuch berichtet darüber unter dem 8. Oktober 1878: „Die ganze Nacht am Bett unserer lieben Lydia verbracht! Sie war ruhig, mit Ausnahme von einigen Erstickungsanfällen. —
Am Morgen faßten wir wieder Hoffnung, wichen aber den ganzen Tag nicht von ihrem Lager. Sie lag still, konnte nur wenig lispeln, war aber viel bei sich und verstand alles, was wir sagten. Wir sprachen viel über ihr Heimgehen. Wenn sie uns weinen sah, streichelte sie uns und lispelte: „Papa, ei, ei — Mama, ei, ei!“ Es war rührend. Und dazwischen konnte man verstehen: „weh, weh“, während sie auf den Hals zeigte. —
Abends nach 5 Uhr trat die Veränderung ein, der Todeskampf begann. — Wir empfahlen nochmals unter Tränen unseres Kindes Seele in des Heilandes Hände. Nur wenige Augenblicke noch, da richtete sie den klaren Blick mit dem Ausdruck des Erstaunens in die Höhe — und ihr Atem stand stille. O liebes, teures Kind, wüßten wir doch, was du da gesehen hast!“ —

Und unter Sonntag, dem 1. Dezember, lesen wir: „Schmerz — und tränenvolle Tage liegen hinter uns. Am Dienstag stellte sich bei Hermann das Fieber wieder ein. Der Hals wurde schlimmer trotz Pillen, Salbe und Medizin. In den Nächten Unruhe und Phantasieren; am Tage mehr Stille, besonders beim Erzählen biblischer Geschichten. Freitag früh merkten wir, daß es zum Ende ging. Das Fieber war heftig, er redete viel irre. Sein Durst war unauslöschlich. Dazwischen war er bei sich, kannte uns, und seine letzten Worte waren: „Papa, Mama!“ Dann schloß er die Augen, gerade als die Sonne aufging. Wir empfahlen im Gebet seine scheidende Seele dem Heiland, bei dem unser Junge wohlaufgehoben ist. — Am 29. November, gerade 7 Wochen, nachdem Lydia begraben worden war, ging unser geliebter Hermann heim.“
Auch Gerhard, das jüngste Kind, war damals dem Tode nahe. Es wurde gegen Erwarten wieder gesund und war noch 2 Jahre hindurch der betrübten Eltern Freude und Trost. Dann verließ auch er das Elternhaus und trat unter der Obhut der Frau eines höheren Regierungsbeamten die Reise nach Europa an. Die Eltern brachten ihren Jüngsten von Kyelang bis nach Simla. Dort fiel das Büblein vom Pferd und brach den Arm. Eine Maultierkarawane hatte das sonst lammfromme Roß scheu gemacht. Das geschah 3 Tage vor dem Abschied. Gerhard reiste mit dem Arm in der Schlinge über das Weltmeer. Er war unterwegs fast stumm und fing erst wieder an zu reden, als er in München von seiner großen Schwester in Empfang genommen wurde. — Der Eltern Herz hatte bei jenem Abschied geblutet. Doch konnten sie nichts anderes tun, als auch dieses Kind wie die schon vorangegangenen in Gottes Hand zu legen.

Nicht gezählt, sondern gewogen
Lebenshemmungen werden für den Christen zu Lebensförderungen, das heißt sie bringen ihn dem Urquell alles Lebens näher. Sie führen ihn tiefer hinein in das Reich Gottes. Das erlebten auch Heydes. Denn die Opfer, die von ihnen gefordert wurden, vor allem die Trennung von ihren Kindern, machten sie nur um so williger, in ihrer Missionsarbeit freudig dem Herrn zu dienen, dem sie ihr Leben geweiht hatten.
Als im Jahre 1880 ihr letztes Kind von ihnen gegangen war, stand Heyde bereits 27 Jahre in der Arbeit. Und nun folgte eine fast ebenso große Zeit gesegneter Wirksamkeit. Von der Art der Arbeit hatten wir bereits gehört. Es bleibt uns noch übrig, von den Erfolgen der Arbeit ein Wort zu sagen.
Der sichtbare Kern dieses Erfolges war das Christenhäuflein, das sich in Kyelang sammelte und festigte. Diese Gemeinde trat seit 1880 für Heydes ganz an die Stelle der Familie. Sie zählte zum Schluß etwa 50 Personen; eine geringe Schar, die nur langsam gewachsen war.
Über 10 Jahre hatte es gedauert, bis der erste Tibeter, ein Lama namens Puntsog, vom Geist des Evangeliums innerlich überwunden, sich zur Taufe meldete. Das war im Jahre 1870. Und es schien, als wollte sich damals die Bevölkerung in größerer Menge zum Christentum bekehren. Sie war willig zur Aufnahme des Wortes und machte kein Hehl daraus. Da fiel am 2. März 1870 in eigentümlicher Weise jener Puntsog vom Dach und starb. Es war ein offenes Geheimnis und den Missionaren eine ausgemachte Sache, daß er von seinen Kollegen herabgestürzt worden war. Die Lamas fürchteten für ihren Einfluß, und nun setzte im geheimen eine Gegenströmung ein, deren Wirkungen nur zu deutlieh wurden. Die Leute wurden seit jener Zeit scheu und zurückhaltend, sobald man auf ihre Religion zu sprechen kam. Vorher waren sie harmlos und empfänglich gewesen, nun wurden sie ängstlich und verschlossen. Wohl nahmen die Talbewohner nach wie vor die Hilfe der Missionare bei mannigfachen Gelegenheiten in Anspruch, aber sie fanden keinen Mut zum offenen Übertritt. Wie viele haben es dem Vater und der Mutter Heyde gesagt: „Im Herzen sind wir Christen, wir beten zu Jesus, aber wir dürfen es nicht zeigen.“ — Sie fürchteten die Rache und den Zorn der Lamas.
Das war nun freilich eine schmerzvolle Enttäuschung, eine herbe Glaubensprüfung für die Missionare. Mit großen Hoffnungen und voll Begeisterung hatte einst die heimatliche Gemeinde jene ersten Sendboten nach Innerasien geschickt. Und nun so langsame und spärliche Erfolge! Es blieb für Heyde und seine Gattin stets ein großer Kummer, daß die tibetische Mission nicht mit größeren sichtbaren Erfolgen aufwarten konnte. Aber dieser Kummer trieb nur um so tiefer in Gebet und Fürbitte hinein; und das war wiederum der Weg, auf dem sie den Mut der Hoffnung und die Arbeitsfreudigkeit stets aufs neue erlangten.
In den Anfangszeiten der Brüdermission war man rascher bei der Hand, die Zelte abzubrechen, wenn die Arbeit erfolglos schien, und sie an anderer Stelle wieder aufzuschlagen. Vielleicht wäre das auch, menschlich gesprochen, in bezug auf die tibetische Arbeit das Richtigere gewesen. Aber Gott wollte hier offenbar ein Schulbeispiel dafür schaffen, daß der Wert eines Christenlebens und auch eines missionarischen Lebens nicht von dem äußeren Erfolg der Arbeit abhängt, sondern von der Treue, mit der sie getan wird. Die Brüdergemeine, und besonders der englische Teil derselben, bestand auf Fortführung des tibetischen Missionswerkes, und da waren auch die Heydes von ganzem Herzen dabei. „Wenn Gottes Stunde einst für Tibet schlagen wird, werden andere ernten, was wir gesät haben.” Das war ständig ihre stille Hoffnung.
Im übrigen freuten sie sich des Satzes, der ihnen einst aus einer Missionsfestpredigt in Deutschland entgegengeklungen war: „Im Reich Gottes wird nicht gezählt, sondern gewogen.” Die Wahrheit dieses Wortes empfanden sie bei ihrer Arbeit unter den Tibetern.

Der weitgehende indirekte Einfluß der Mission auf das gesamte Volksleben ist bereits erwähnt worden. Er ging über die auch heute noch verschlossene Grenze bis in das Innere von Großtibet; denn wo die Missionare selbst nicht hingelangen konnten, dahin fanden die zahlreichen von ihnen gedruckten Schriften den Weg.
Heyde sagte: „Im Himmel werde ich sicherlich einer ganzen Reihe von ungetauften Tibetern begegnen, denen ich den Weg zum Leben zeigen durfte.“ Und Mutter Heyde ging regelmäßig am Sonnabendnachmittag mit dem Bergstock bewaffnet in die nächsten Dörfer, um diejenigen unter den Heiden zu besuchen, die alt, schwach oder krank waren; und dabei ist manch gutes Samenkörnlein ausgestreut worden.
Gestaltete sich so das Verhältnis der ehrwürdigen Missionsleute zu ihrer heidnischen Umgebung im Lauf der Zeit immer fruchtbringender, so war doch die Pflege der Christengemeinde in Kyelang das Allerwichtigste ihrer Tätigkeit. War sie der Zahl nach auch gering, so waren ihre erwachsenen Mitglieder doch in erfreulicher Weise herangereift und innerlich gefestigt, so daß Kyelang mit Recht ein helles Sternlein am dunklen Himmel des Heidentums genannt wurde. Solides Christentum wurde dort ausgelebt und diente als Vorbild für Christen und Heiden nah und fern.
Ein das ganze Jahr hindurch gehaltener Morgensegen vereinte die an eine große Patriarchenfamilie erinnernde Gemeinde. Viele Familienväter wie Drogpa, Jorpuntsog, Tsan Rintschen und Gapuntsog, wenn er von seiner Außenstation herüberkam, beteiligten sich am Halten desselben. —
Und wenn erst die Feldarbeit ruhte und der „Winterplan” einsetzte, dann erhielt das Leben noch deutlicher ein familiäres Gepräge. An Stelle der Arbeit im Freien trat die im Hause und Gehöft, in der Druckerei und im Frauenarbeitssaal. Dreimal in der Woche fanden Abendversammlungen statt: Eine Bibelkunde, eine Missionsgeschichte und ein Gesanggottesdienst. —
In den Unterrichtsstunden, die für Männer und Frauen getrennt gehalten wurden, sollte die christliche Erkenntnis planmäßig vertieft werden; so wurden da Teile der Beckschen Glaubenslehre durchgenommen.
Und die Christen nahmen es ernst, der Geist Gottes war am Werk. Nach einer Predigt über den inneren Schmuck des Weibes (1. Petri 3, 4) legten z. B. alle Frauen mit einer Ausnahme ihren Berak-Schmuck freiwillig und für immer ab. Und das wollte etwas heißen!
Sogenannte Reischristen gab es in Kyelang auf jeden Fall nicht. So nannte man in China diejenigen, die um eines äußeren Vorteils willen zum Christentum übertraten. —   . . .  . . .

So wußten die Christen Kyelangs von keiner Kluft zwischen sich und den Missionaren. Wie Kinder bei ihren Eltern, so gingen sie bei Vater und Mutter Heyde aus und ein, so wurden sie von ihnen besucht. —
Und wenn dann eine besondere Gelegenheit wie das Abendmahl die Gemeinde zusammenrief, dann kam es auch in festlicher Weise zum Ausdruck, daß man zusammengehörte und in einem Herrn verbunden war. Dann erschienen die Männer weiß gekleidet und die Frauen in dunklem Gewand mit weißem Überwurf. Ein erhebender Anblick! Und wenn sie dann beim Knien nach Landessitte die Erde mit dem Haupt berührten, um sich vor Gott in den Staub zu beugen, so war das mehr als eine Form. Dann war der unsichtbare Hirte inmitten seiner Herde, und sie hatten keinen Mangel. —
Oft nahmen auch Heiden an den Gottesdiensten teil. Besonders in der Christnacht, wo die Gemeinde ihre Weihnachtslieder sang, und am Silvesterabend reichte der Kirchensaal bei weitem nicht aus, um die Besucher alle aufzunehmen.
Und wie strömte beinahe das ganze Tal zusammen, als die Abschiedsstunde schlug. Es hatte einen schweren Entschluß gekostet, bis Vater Heyde sich dazu durchgerungen hatte, die ihm übertragene Leitung der tibetischen Mission niederzulegen und Kyelang zu verlassen. Noch fühlte er sich rüstig, ebenso wie seine Frau, doch wußte er, daß er mit 73 Jahren einer jüngeren Kraft Platz zu machen hatte.

Abschied von den Tibetern
Als er zum letzten Mal nach seinem geliebten Tingtse hinaufstieg, folgte ihm wie zufällig ein alter Lama den Berg hinauf. Derselbe stand nicht gerade in dem Geruch, ein Freund der Mission zu sein, und unterbrochen murmelte er auf dem Weg allerhand Unverständliches vor sich hin, so daß Vater Heyde sich schließlich veranlaßt fühlte, sich umzuwenden und ihn zu fragen, was er wolle. Da stieß er mit rauher Stimme die Worte aus, und die ganze Gestalt bebte vor Erregung: „Warum wollt ihr gehn, ihr seid unsere Freunde, euch haben wir lieb, ihr sollt bleiben.“
Ach, und wie gerne wäre Vater Heyde geblieben! —
Als vor einer Reihe von Jahren auf einer Konferenz allerhand tibetische Missionsprobleme geäußert wurden, hatte er sich fast leidenschaftlich einem Kollegen gegenüber geäußert: „Und wenn ich mit Kyelang unterginge über all den Schwierigkeiten, ich weiche nicht!“ Und nun wich er doch, aus Gehorsam gegen den allerhöchsten Befehl.
Aber der Abschied war unsagbar schwer, ein schmerzliches Sichlosreißen. Frau Schnabel schreibt darüber: „Dicht gedrängt standen die Leute auf der großen Veranda, im Hausflur und in den Stuben. Jeder wollte noch einmal die Hand drücken und ein Abschiedswort hören. Da drängte Vater Heyde, denn die Pferde standen längst bereit. Ein Schluchzen ging durch die Menge, als die beiden, die über ein Menschenleben Vater und Mutter des Tales gewesen waren, sich schweigend hindurchdrängten, da sie vor Bewegung kein Wort mehr sagen konnten. Außerhalb des Tores bestiegen sie die Pferde, und bald waren sie unseren Blicken entschwunden. Oh, wie verwaist und einsam kamen wir uns vor!“
Zwei Stunden hinter dem Dorf, nicht weit von der Brücke, wo sich die beiden zum erstenmal gesehen hatten, begegnete ihnen, aber auf der anderen Seite des Flusses, eine Herde mit Schafen. Sie wurden von Mädchen getrieben, die auch in die Strickschule gekommen waren. Mutter Heyde winkte ihnen zu und rief, so laut sie konnte, über das schäumende Wasser ihren Abschiedsgruß. Aber die Entfernung war zu weit. Die Mädchen hatten sie nicht erkannt. Mutter Heydes Worte wurden vom Rauschen des Flusses und vom Blöken der Schafe verschlungen. Da brach sie schluchzend zusammen und sank in die Arme ihres Gefährten. —
Vorwärts mit Gott, so hieß es wieder wie vor 39 Jahren, und ein Zurück gab es nicht!

Neue Aufgaben
Heydes Aufbruch von Kyelang im Herbst 1898 hatte noch einen besonderen Grund. Er sollte eine Durchsicht und Umarbeitung der tibetischen Übersetzung des Neuen Testaments vornehmen. Diese hatte sich als notwendig herausgestellt, und zwar sollte sie in Fühlung mit einer skandinavischen Missionsgesellschaft, die im südöstlichen Himalaja unter den Tibetern arbeitete, vollzogen werden. Die britische Bibelgesellschaft wollte für diese Arbeit und den aus ihr sich ergebenden Neudruck aufkommen. —
Außerdem trat die indische Regierung mit dem Ansuchen an Heyde heran, auf Grund der reichen Kenntnisse, die er sich durch den langjährigen Umgang mit den Tibetern angeeignet hatte, eine Revision des englisch-tibetischen Wörterbuches vorzunehmen.
Diese beiden ehrenvollen Aufträge erforderten viel Mühe und Zeit. Doch waren sie ganz nach dem Sinne des noch immer arbeitsfreudigen Missionars. Und seine Gattin, ohne deren treue und umsichtige Pflege der hochbetagte Mann nicht mehr leben konnte, war selbstverständlich auch die freudige Gehilfin dieser seiner letzten Lebensarbeit. Die britische Bibelgesellschaft hat später das Heydesche Missionarspaar in Anerkennung dieser verdienstvollen literarischen Arbeit zu Ehrenmitgliedern gemacht.
So reisten die beiden von Kyelang nach Darjeeling, der prächtigen Villenstadt nördlich von Calcutta, am Südhang des Himalaja. Dort bezogen sie in dem benachbarten Dörflein Ghum ein kleines Landhaus, wo sie sich für ihre Arbeit häuslich einrichteten.
Von ihrer Veranda aus hatten sie einen wundervollen Blick: Tief unter sich die Täler und Bergeshänge mit ihrer tropischen Fülle; oft genug aber auch ein großes, wildbewegtes Wolkenmeer. Und über allem thronte in majestätischer Ruhe und blendender Schönheit — greifbar nahe und doch meilenweit entfernt — die reine Gletscherwelt des Kangtschendzönga, des zweithöchsten Berges der Erde.
Vier Jahre durften sie bei ihrer Arbeit diese stillen Schönheiten der ihnen so lieb gewordenen Bergeswelt genießen; ein freundliches Abschiedsgeschenk ihres Gottes, bevor sie die Berge für immer verließen! Auch sonst hatten sie manche Annehmlichkeiten in Ghum, vor allem Gelegenheit zu wertvollem Verkehr und zur Pflege reger Beziehungen mit ihren skandinavischen und englischen Freunden.
Ein dunkler Schatten fiel allerdings auf diese Zeit, und zwar von der fernen deutschen Heimat aus. Beunruhigende Nachrichten über das Ergehen ihrer einzigen Tochter liefen ein. Elly war damals in Herrnhut verheiratet und die Mutter von sechs kleinen Kindern, als sie von einer schweren Krankheit befallen wurde. Durch diese Nachricht wurde die Sehnsucht nach der geliebten deutschen Heimat, die sich besonders in den letzten Jahren bei ihnen geregt hatte, noch mächtig gesteigert. Und doch hielten sie es für ihre Pflicht, auszuhalten, bis die begonnene Arbeit vollendet war. Vater Heyde schrieb in jenen Tagen: „Auch wenn meine Tochter sterben sollte, ohne daß wir sie vorher gesehen haben, ich kann nicht anders; ich darf nicht reisen, bevor ich meinen Auftrag erfüllt habe. Denn ich nahm ihn aus des Herrn Hand.“
Unter heißen Tränen und mit Herzweh lasen sie dann den Brief, der ihnen von dem letzten schweren Leiden und dem Tod ihrer Tochter berichtete. Doch ihre Seele war stille zu Gott.

Heim nach Europa
Im Frühjahr 1903 konnten sie endlich nach vollbrachter Arbeit Indien verlassen. —
Wie viel bequemer war doch jetzt die Reisegelegenheit als damals vor 50 Jahren. Und doch, die Überfahrt, der Klimawechsel und vor allem die Ankunft in Europa waren für den bald 80jährigen und seine fast 70jährige Reisegenossin nicht leicht. In Genua, wo sie landeten, war der Agent, der sie in Empfang nehmen und weitergeleiten sollte, nicht an Ort und Stelle. Hilflos und verlassen saßen die beiden Alten auf ihren Koffern, umwogt vom Getriebe des Hafens, bis freundliche Menschen ihnen weiterhalfen. In Luzern lag die Mutter blutüberströmt im Wartesaal, da ihr beim Aussteigen der Koffer eines Mitreisenden auf den Kopf gefallen war. In Basel genossen sie die liebenswürdige Gastfreundschaft bei den Verwandten eines ihrer früheren Mitarbeiter.
Am 10. Mai endlich gab es ein Wiedersehen mit den beiden Söhnen, die ihnen noch geblieben waren. Das war für alle Beteiligten ein denkwürdiger Tag. Der eine Sohn hatte die Eltern 32 Jahre, der andere 23 Jahre nicht mehr gesehen. Klopfenden Herzens warteten sie am Bahnhof zu Halle. Sie wußten nur im allgemeinen die Zeit der Ankunft. So suchten sie von 4 Uhr nachmittags bis abends um 11 Uhr die Züge ab, die von Süden kamen, ob sie da wohl Leute fänden, die ihre Eltern sein könnten. Endlich um 11 Uhr mit dem letzten D-Zug kamen sie an. Als die Menge sich bereits verlaufen hatte, stiegen aus dem hintersten Wagen zwei Personen aus, bei deren Anblick eine innere Stimme uns sagte: „Das sind die Eltern!“
Der Vater, in grauem Ulster, mit schneeweißem Bart und breitkrämpigem schwarzem Hut, schritt voran, in grader Haltung und fast militärischem Schritt. Ihm folgte ein gebeugtes Mütterlein. Der Vater ging an uns vorüber. Das Mutterauge aber erkannte die bärtigen Söhne. Sie stutzte einen Augenblick, als sie uns sah, dann breitete sie die Arme aus und sagte: „Da sind sie ja!“
Sooft der Schreiber dieser Zeilen später an das Wiedersehen dachte, fiel ihm das Wort aus dem ersten Petrusbriefe ein: „Nicht gesehen und doch lieb haben, und dann ein Wiedersehen mit unaussprechlicher herrlicher Freude!“ So muß es einst im Himmel sein. Wie leicht wurde unsern Armen der schwere indische Koffer, wie flogen die Füße, als es galt, den durstigen Eltern das erste Glas Wasser zu holen!
Es ist keine Seltenheit, daß die heimkehrenden Missionare und ihre Kinder sich auseinandergelebt haben und innerlich entfremdet sind. Wir empfanden es als ein großes Geschenk, daß dies bei uns nicht der Fall war. Vom ersten Augenblick an waren wir ein Herz und eine Seele. Die Eltern hatten trotz ihrer Bergeinsamkeit mit der Zeit fortgelebt und waren geistig frisch geblieben. Vor allem aber verdanken wir jenes kostbare Gut ihren treuen Gebeten und den Briefen der Mutter. Sie waren niemals langweilig, niemals oberflächlich. Sie enthielten niemals eine Strafpredigt an den fernen Jungen, obwohl er sie oft verdient hätte. Sie waren auch nicht mit langen frommen Ermahnungen beschwert und wirkten gerade dadurch erzieherisch. Sie waren voll Weisheit und frommen Geistes, und aus jedem Wort spürte man sofort die Liebe. —

Was wir nun noch zu erzählen haben, ist bald gesagt. In Herrnhut ließen sie sich nieder. Dort hat der alte Streiter, „der in seinem Panzer ehrsam und grau geworden ist“, noch vier Jahre gelebt, und es war im ganzen eine glückliche Zeit. Wohl waren die alten Freunde und Bekannten, die er vor 50 Jahren gehabt hatte, hinweggestorben, wohl brannte das Heimweh nach dem geliebten Tibet oft heiß im Herzen, wohl galt es manche Enttäuschung und unerwartetes Herzeleid zu überwinden, aber der Heiland, an den er sich in seinem kindlichen, einfältigen Glauben stets gehalten hatte, half durch alles hindurch. Eine Quelle reicher Freuden blieb der Verkehr mit den Kindern und Kindeskindern; eine Stärkung und Erquickung auch die Teilnahme an dem Herrnhuter Gemeindeleben, das er in religiöser und sittlicher Hinsicht für geförderter hielt als vor 50 Jahren.
Besonders aber half ihm über manche schwere Stunde die Arbeit hinweg, die er auch jetzt noch Hand in Hand mit seiner Gattin für die Sache der Mission tun durfte. Es handelte sich um die Durchsieht und Überwachung des tibetischen Druckes der fünf Bücher Moses, um dessentwillen das greise Ehepaar auch einige Monate in Berlin weilte. Über diesem Werk ist ihm seine letzte Schaffenskraft ausgegangen. Noch sehen wir den ehrwürdigen Greis mit doppelter Brille und Vergrößerungsglas über seinen Korrekturbogen sitzen, bis das Augenlicht schließlich fast ganz versagte. Als er drei Monate vor seinem Tode diese Arbeit vollendet hatte, war er voll Lob und Dank; in dem freudigen Gefühl, wie es ein Landmann hat, der noch vor dem hereinbrechenden Unwetter die Ernte unter Dach und Fach gebracht hat. „Nun will ich freudig sterben“, so sagte er in seiner mannhaften Art, „um das, was ich andern so oft gepredigt habe, selbst mit der Tat zu bezeugen.“
Ein langes Krankenlager wurde ihm erspart. Der Kräfteverfall nahm rasch zu. Ein Zeichen der zunehmenden Schwäche war es, daß seine Gedanken wanderten, willenlos, doch ohne Fieber-Phantasien und geistige Umnachtungen. Unaufhörlich beschäftigte er sich mit seinen lieben Tibetern und dann stets in ihrer Sprache. Sein letztes Wort galt Puntsog, den er ermahnte: „Du mußt den Leuten nicht immer sagen, daß sie besser werden sollen. Das tun die Lamas auch. An Jesus sollen sie sich halten, an den gekreuzigten Jesus. Das Kreuz muß deine Hauptpredigt bleiben.“
Am 27. August 1907 schloß er die müden Augen im Alter von 82 Jahren und 6 Monaten. —
Und seine Gattin? Sie lebte noch 10 Jahre, nachdem sie ihren Wohnsitz in die Nähe ihres ältesten Sohnes nach Gnadau bei Magdeburg verlegt hatte. Sie hat in ihrer Witwenschaft die Wahrheit des Spruches erfahren, den ihr Freunde aus Indien mitgegeben hatten, und der stets über ihrem Bette hing: „At evening time it shall be light.” (Um den Abend wird es licht sein.) Körperlich und geistig frisch durfte sie bis an ihr Ende Liebe austeilen, Kranke besuchen und sich an ihren Kindern und Kindeskindern freuen.
Die Kriegszeit zehrte an ihrer Kraft und lastete auf ihrem Gemüt. Besonders der Gedanke an die Bundesgenossenschaft mit den Türken und die Feindschaft mit den Engländern war ihr schwer. 14 Tage vor ihrem Ende erkrankte sie infolge eines Falles und mußte sich zu Bett legen. Sie spürte bald, daß es zum Ende ging; aber sie wußte sich in ihrem Gott geborgen. „Der Heiland hat mir alle meine Sünden vergeben!“ sagte sie am Tage vor ihrem Tode. — Bei ihrem selbständigen Charakter war es eine freundliche Fügung, daß sie den Kindern nicht lange zur Last fiel. Sie entschlief am 6. April 1917 im Hause ihres Sohnes zu Schönebeck an der Elbe.
In den letzten Tagen hatte sie viel geschlummert. Doch eine Stunde vor ihrem Tode kam sie noch einmal zu sich und sagte das für sie bezeichnende Wort: „Ob ich wohl knien kann, oder wenigstens noch stehen? Der Livingstone ist doch auch auf den Knien gestorben.“ Dann schloß sie die Augen, um nicht wieder zu erwachen.
Sie hat ihr Alter gebracht auf 80 Jahre weniger 13 Tage.



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