Der Mensch zwischen Engel+Dämon (Köberle)

Adolf Köberle

  

Der Mensch zwischen Engel und Dämon

 

Wenn ein Merkmal für den Geist der Neuzeit charakte­ristisch ist, dann ist es die ungeheure Intensität, mit der wir die vordergründigen, habhaften Dinge des Lebens empfinden und in uns aufnehmen. Eine Modeschau, ein Fußballänderkampf, ein Hochhaus, ein Computer, das al­les sind Realitäten, unter denen wir uns etwas vorstellen können und die unser Interesse mächtig erregen.

In dem Maß freilich, als diese sichtbare Erscheinungs­welt über uns Gewalt gewonnen hat, sind wir blind geworden für das Reich der Seele, für die geheimnisvol­len Kräfte des Übersinnlichen, und gleich gar für die Realität einer transzendenten göttlichen Welt. In beson­derer Weise hat sich die metaphysische Erblindung ausgewirkt im Blick auf den Erlebnisbereich von Engel und Dämon. Die Skepsis gegenüber diesen überirdischen Mächten reicht heute weit hinein bis in die Reihen der christlichen Theologie. Das Entmythologisierungspro­gramm der Marburger Schule richtet sich bekanntlich vor allem auch gegen jede Art von Angelologie und Dämonologie.[1] Im Zeitalter von Dampfmaschine, Radio und Elektrizität, so werden wir belehrt, könne kein wissenschaftlich gebildeter Mensch mehr an die Realität von Engeln und Dämonen glauben, ohne sich selbst gegen­über unehrlich zu werden. Mag man in der religiösen Sprache solche Worte in Gebet, Predigt und Kirchenlied gelegentlich noch gebrauchen, man muß sich klar darüber sein: es sind das lediglich Umschreibungen in mythischer Sprachform, die auf die innerseelischen Vorgänge von Vertrauen oder Zerrissenheit in der menschlichen Exi­stenz hinweisen.

Angesichts von so viel Skepsis gegenüber einer Welt der höheren Mächte, die Beistand gewährend oder versucherisch auf uns einwirken, hat es keinen Sinn, so etwas wie eine Glaubensforderung im Blick auf die An­erkennung derartiger Realitäten zu erheben. Der moderne Mensch würde sich dagegen nur wehren und er­klären, er lasse sich intellektuell nicht vergewaltigen. Im übrigen wäre ja auch mit einem bloßen Für-wahr-Halten nichts gewonnen und niemand gedient. Man muß schon versuchen, durch innere Überführung den kritischen Geist der Neuzeit zu überwinden, so daß er sich wieder zu öffnen wagt für eine Schau, die ihm verloren gegan­gen ist.

1.

Bei der Bemühung, die modernen Zweifel gegenüber Engel und Dämon zu überwinden, mag uns folgende Erwägung ein Stück weiterhelfen. Die Schöpfung steigt in hierarchischen Stufen auf vom Sandkorn über Pflanze und Tier bis hin zu vormenschlichen und vollmensch­lichen Gestalten. Wer sagt uns denn, daß der Bau der Schöpfung damit seinen Abschluß gefunden hat? Ist die Überzeugung, daß die Schöpfung mit dem Menschen ihr Ziel erreicht hat, nicht ein naiv‑anthropozentrischer Hochmut? Sollte es uns nicht zu denken geben, daß in dem biblischen Zeugnis des Alten wie des Neuen Te­staments das Wort für Himmel nicht in der Einzahl, sondern im Plural gebraucht wird? Damit kommt zum Ausdruck: die Schöpfung hört bei der Welt der visibi­lia[2] nicht auf, sie erstreckt sich in unsichtbare Welten hinein, mag auch unser sinnliches Auge dazu keinen unmittelbaren Zugang haben.

Für das christliche Bewußtsein wird immer richtunggebend bleiben, was für eine bedeutsame Rolle Engel und Dämonen in der Botschaft Jesu spielen. Machen wir uns dieses Ausmaß zunächst klar, ehe wir uns der Frage zuwenden, ob auch dieser Klang in der Verkündigung Jesu ernst genommen zu werden verdient!

Jesus warnt vor der Versuchung, sich an einem Kind zu versündigen, mit den Worten: »Sehet zu, daß ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet; denn ich sage euch, ihre Engel im Himmel sehen allezeit das An­gesicht meines Vaters im Himmel« (Mt. 18,10). Dem­nach ist dem Kleinkind in besonderer Weise eine Engelschutzmacht zugeordnet. Man vergeht sich nicht unge­straft an dem unmündigen Leben. Solches Fehlverhalten wird weitergereicht und muß uns vor Gott belasten.

Die Gleichnisse Jesu vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen (Lk. 15) schließen mit den Worten: »Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut, mehr denn über 99 Gerechte.« Demnach geht eine Bewegung der Freude durch die höheren Welten, wenn ein Mensch bereut und umkehrt. Den Pharisäern aber, die von der moralischen Verrechnung nicht loskommen, wird zum Vorwurf gemacht, daß sie nicht fähig und willig sind, in diesen himmlischen Freudenjubel mit einzustimmen.

Auch im Vaterunser geht es um Engel und Dämonen, und das sowohl in der dritten wie in der siebten Bitte. Wenn es im Herrengebet heißt »Dein Wille geschehe auf Erden ebenso wie in den himmlischen Bereichen«, so sind zwei Auslegungen denkbar. Die eine geht in der Richtung: hier auf Erden muß Gott immer noch kämpfen um die Ausbreitung seiner Reichs‑ und Königsherrschaft. Von den Cherubim und Seraphim dage­gen wird er in willigem und widerspruchslosem Gehor­sam geehrt und angebetet. Unser Herzensanliegen soll darum darauf gerichtet sein, ebenfalls in diesen kosmi­schen Lobpreis und Gehorsam mit einzumünden.

Es ist aber auch die andere Deutung möglich. Es geht Aufstand und Empörung gegen Gott sowohl durch die sichtbare wie durch die jenseitige Schöpfung, indem daß sich luziferische Mächte gegen den Herrn über Alles er­hoben haben und sich an seine Statt setzen wollen, weil sie der Rausch des »eritis sicut Deus«[3] erfaßt hat. So verstanden, werden wir im Vaterunser aufgefordert, be­tend mitzukämpfen, daß der göttliche Wille allüberall zum sieghaften Durchbruch kommen möge.

Die siebte Bitte lautet: Erlöse uns von dem Bösen! Der dazu gehörige Nominativ aber heißt nicht das Bö­se, sondern der altböse Feind, der Widersacher Gottes, dem im Reich der Dämonen eine diabolische Herrschafts­macht zur Verfügung steht, vor deren Anschlägen wir auf der Hut sein sollen.

Aufgrund der Erzählung Jesu vom reichen Mann und armen Lazarus kommt den Engeln ein Auftrag der Ster­behilfe zu. So lesen wir Lk. 16, 22: »Es begab sich aber, daß der Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schoß.« Es gibt eine Fülle von glaubwürdig bezeugten Berichten, daß sich das Angesicht von Ster­benden in ergreifender Weise verklärt habe, daß sie die Hände hoben, wie als streckten sie sich einem unsicht­baren Boten entgegen, der bereit ist, sie abzuholen. Wer am Sterbebett der eigenen Mutter solche Erfahrungen miterlebt hat, mag darüber nicht mehr spötteln.

Die Theologie der Gegenwart, sofern sie kritisch ein­gestellt ist, bestreitet nicht, daß der Hinweis auf den Dienst der Engel und auf den Kampf mit widergöttli­chen Gewalten in der Christusbotschaft und im Christus­leben eine beherrschende Rolle spielt. Aber man ist der Überzeugung, daß Jesus mit einem derartigen Denken ein Kind zeitgebundener Vorstellungen geblieben ist und daß darum diese Seite seiner Verkündigung für uns heute nicht mehr verbindlich sein kann. Darauf ist zu erwidern: unsere Vertrauenswürdigkeit gegenüber der urchristlichen Botschaft wird im allgemeinen nicht bei dem Zeugnis von Engel und Dämon einsetzen. Ist uns aber Christi Erscheinung in Wort und Tat groß, ehr­würdig und vertrauensvoll geworden aufgrund der ma­jestätischen Hoheit, die dieses Leben ausströmt, dann wird es uns nicht mehr so leicht fallen, ihn in einem so wesentlichen Punkt seiner Verkündigung abzulehnen.

2.

Das Hereinwirken überirdischer Mächte in den Ge­schichtsverlauf spielt nicht nur in den Reden Jesu eine bedeutsame Rolle. Der Engel erscheint nach der neute­stamentlichen Berichterstattung als Bote Gottes überall da, wo der Offenbarungseinbruch zeichenhaft angezeigt werden soll. Sowohl die Empfängnis wie die Geburt Chri­sti und ebenso das Auferstehungsereignis sind von En­gelerscheinungen begleitet. Wenn sowohl von den Hir­ten auf den Fluren von Bethlehem wie von den Frauen am Grabe im Garten des Joseph von Arimathia erzählt wird: »und sie fürchteten sich sehr«, »und sie erschra­ken und schlugen ihre Augen nieder«, so ist dieser Hin­weis von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Boten Gottes im Heilsgeschehen.

Die moderne Abneigung gegenüber jeder Art von Angelologie wird zu einem guten Teil begreiflich, wenn wir uns vor Augen halten, wie das Bild des Engels in der religiösen Kunst, sowohl in der Dichtung wie in der Malerei, in der übelsten Weise verniedlicht, verharmlost, ja verkitscht worden ist. Schon die Verkleinerungsform, das Reden in der Kinderstube von den lieben Engelein, muß als völlig unangemessen bezeichnet werden. Wie ganz anders ist Rilke demgegenüber der Wahrheit nä­her gekommen, wenn es in den »Duineser Elegien« heißt: »Aber der Engel ist schrecklich.« Wenn auf Bil­dern zur Firmung oder zur Konfirmation ein in ein weißes Nachthemd gekleideter Engel erscheint, der seine Hand mit süßlicher Gebärde auf Jüngling oder Jungfrau legt, dann kann einem dabei wahrlich schlecht werden. Wie ganz anders haben es demgegenüber Erwin von Straßburg, Stefan Lodiner, Albrecht Dürer in seinen Bil­dern zur Johannesapokalypse und Matthias Grünewald bei der Gestaltung des Isenheimer Altars verstanden, uns das Erhabene und Herrliche, das Strahlende und Machtvolle der starken Helden Gottes nahezubringen und ahnen zu lassen! In der Hohen Messe läßt Johann Sebastian Bach in Anlehnung an das Berufungserlebnis des Propheten Jesaja ein sechsstimmiges Sanktus von wunderbarer Pracht und Größe erklingen. In fließender Triolenbewegung steigen die Doppelchöre empor zu ei­nem überwältigenden Lobpreis, der ein Abglanz sein will von dem Tedeum, das die himmlischen Chöre Gott zu Eh­ren darbringen. Erfahrungen in der Singebewegung haben gezeigt, daß viele junge Menschen über solche heilige Kunst einen erneuten Zugang zu der Welt der Engel gefunden haben, was keine dogmatische Belehrung bei ihnen jemals hätte erreichen können.

3.

Der Vollständigkeit halber sei nicht verschwiegen, daß es im Neuen Testament auch eine Abwehr gibt gegen­über einer Überbewertung der »Throne, Herrschaften, Fürstentümer und Gewalten«, von denen die uns verborgene Welt Gottes erfüllt ist. So legt der Kolosserbrief Wert darauf zu betonen, daß auch die Engel hohe, er­habene Kreaturen sind und daß ihre Herrlichkeit uns nicht dazu verführen darf, ihnen die Ehre und Anbetung zu erweisen, die Christus als dem Haupt der ganzen Schöpfung allein gebührt. Wenn der Apostel Paulus in Röm. 8 bezeugt: »Ich bin gewiß, daß weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus für uns of­fenbar geworden ist«, so denkt er dabei jedenfalls nicht nur an Höhen und Tiefen menschlicher Beglückung und Enttäuschung. Nein, es steht ihm dabei die Welt der Engel und der Dämonen vor Augen, deren Herrlichkeit verblassen und deren Furchtbarkeit zurückweichen muß vor dem Lichtglanz, der von Christus als dem Pantokra­tor[4] ausgeht. Oder es sei erinnert an jene Szene im letz­ten Kapitel der Johannesoffenbarung (22,8). Der Seher auf Patmos berichtet: »Und es kam zu mir einer von den sieben Engeln und redete mit mir und zeigte mir die gro­ße Stadt, das heilige Jerusalem. Und da ich’s gehört und gesehen, fiel ich nieder, anzubeten zu den Füßen des Engels, der mir solches zeigte. Und er sprach zu mir: Siehe zu, tue es nicht! Ich bin dein Mitknecht.« Also, der Engel lehnt den Akt der Huldigung ab. Er erlaubt es nicht, zu ihm zu beten. Wohl aber dürfen wir uns jederzeit mit ihm im Gotteslob vereinigen.

Die Aufgabe, also abzugrenzen, kann auch heute wie­der aktuell werden. Wer mit Anhängern der Anthro­posophie Rudolf Steiners und der von ihr geprägten re­ligiösen Bewegung der »Christengemeinschaft« ins Ge­spräch kommt, der mag aufs Erste tief davon beein­druckt sein, mit welchem Realismus hier von dem »Hü­ter der kleinen und großen Schwelle«, von Gabriel, Uriel, Raphael und Michael gesprochen wird. Man weiß uns dort Vieles und Genaues mitzuteilen von den heiligen Ämtern, die diesen hohen Wesenheiten anvertraut sind, zu schützen und zu bewahren und einen Mittlerdienst zwischen Gott und Mensch zu übernehmen. Sieht man aber näher zu, so wird man die Sorge nicht los, daß hier über der erlangten Erkenntnis höherer Welten die unmit­telbare persönliche Gemeinschaft mit Gott, die sich in kindlichem Vertrauen äußern darf, an Bedeutsamkeit ver­liert und zurücktritt.

4.

Wir wollen gewiß niemand scheel ansehen, der kei­nen Zugang zu der Welt der Engel zu finden vermag. Wohl aber dürfen wir uns dafür öffnen, daß Gott mehr ist als nur ein theologischer Lehrbegriff, daß zwischen Gott und irdischer Erscheinungswelt nicht ein Vakuum gähnt, daß die göttliche Wirklichkeit vielmehr erfüllt und umgeben ist von Mächten und Gewalten, die im göttli­chen Auftrag stehen, auch uns zugute. So verstanden, handelt es sich nicht um einen Glaubenszwang, sondern um eine Ausweitung unseres Weltbildes.

Im übrigen ist es eine merkwürdige Inkonsequenz: Von Engeln zu reden gilt in unseren Tagen noch immer als unwissenschaftlich. Man schadet seinem akademi­schen Ruf, wenn man es tut. Dagegen gilt es in keiner Weise als anstößig, von Dämonen zu sprechen. Frank Thiess schreibt die Geschichte des oströmischen Kaiser­reiches unter dem Titel »Das Reich der Dämonen«. Von Bernanos gibt es das Buch: »Die Sonne Satans.« Stefan Zweig schildert uns das Leben großer neuzeitlicher Den­kergestalten unter der Sammelüberschrift: »Der Kampf mit dem Dämon.« Psychiater und Psychotherapeuten tragen keine Bedenken, von einem »Teufelskreis« zu sprechen, wenn sie einen Patienten in das unruhige Auf und Ab von Überbewertung und Unterbewertung aus­weglos verstrickt sehen. Nun geht es aber nicht an, die Dämonen ernst zu nehmen, während man gleichzeitig die Realität der Engel leugnet. Wenn es Dämonen gibt als außerirdische, übermenschliche Wesenheiten, dann können das nur gewaltige Geistermächte sein, die sich von Gott losgerissen haben, um im geschöpflichen Aufstand gegen Gott eine Gegenregierung zu bilden.

In dem Buch Henoch, das zu den apokryphen Schrif­ten des Alten Testaments zählt, wird in mythischer Sprache angedeutet, wie es zu einer solchen Empörung in himmlischen Welten hat kommen können. Es heißt da, eines Tages hätten sich, wie es auch im Eingang zum Buche Hiob geschildert wird, die Trabanten Gottes versammelt, um miteinander Rat zu halten. Dabei sei einer der herrlichsten Geister, der den edlen Namen Lu­zifer, das heißt Lichtträger, zu eigen hatte, aufgestanden und habe erklärt: Warum sollen wir, die wir selbst so hohe Regenten sind, vor Gott in der Gehorsamshaltung des Dienens verharren? Auf, laßt uns diese Ordnung durcheinanderwerfen und selbst die absolute Herrschafts­macht einnehmen! Die uralte Überlieferung berichtet, damals sei eine andere, hohe Engelmacht dieser Hybris entgegengetreten mit den Worten: Mi‑ka‑el, das bedeutet: Wer ist wie Gott, daß wir, die Kreatur, es wagen dürften, uns gegen die höchste Majestät im Himmel und auf Erden zu empören! Seitdem trägt der Engelfürst, der Luzifer in die Schranken wies, den Namen Michael. Er gilt hinfort als der Verteidiger der Ehre Gottes in sichtbaren und unsichtbaren Reichen, während der En­gel des Hochmuts aus dem himmlischen Hofstaat aus­gestoßen wird und seitdem Gott haßt und den nach dem Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen.

Fragen wir uns: Wie kommt es, daß sich der moderne Mensch trotz aller grundsätzlichen Skepsis gegenüber übersinnlichen Realitäten für das Vorhandensein einer dämonischen Herrschaftsmacht ungleich williger auf­schließt als für die Botschaft von den Engeln Gottes? Es hängt gewiß damit zusammen, daß unsere Zeit furchtbare Ausbrüche zerstörerischer Gewalt erlebt hat und weiterhin mitansehen muß. Wenn man bedenkt, daß Männer wie Hitler und Stalin Millionen von un­schuldigen Menschen auf dem Gewissen haben, daß diese unheimlichen Gestalten den Frieden und das Glück ganzer Völker vernichten durften, dann mag man sich wirklich fragen, ob so abgründige Existenzen ausschließlich von diesseitigen Aspekten her verstehbar sind. Ge­wiß, man kann das Phänomen Hitler rein psychologisch zu erklären versuchen aus der Tatsache, daß sein Vater ein uneheliches Kind war, daß er im Ersten Weltkrieg, den er vom Anfang bis zum Ende mitmachte, über den Rang eines Gefreiten nicht hinauskam, daß sich seine öster­reichische Heimat in den Jahren nach 1919 in schmerz­licher Auflösung befand. Aber reicht das alles aus, um die unheimliche Einflußwirkung zu erklären, die diese Gestalt über Männer und Frauen gleichermaßen besaß? War bei dem märchenhaften Aufstieg, bei den glück­haften Erfolgen in den ersten Schlachten gegen Polen, Frankreich und Rußland nicht die Macht am Werk, die es liebt, ihre Opfer zunächst zu erhöhen, um sie nach kur­zer Zeit um so erbarmungsloser wieder fallen zu lassen und in den Abgrund zu stürzen?

Dietrich Bonhoeffer hat während seiner Gestapo‑Haft in Berlin Tagebuchblätter geführt, die unter dem Titel »Widerstand und Ergebung« erschienen sind. Er weist dort darauf hin: Es gibt ein Überfallenwerden von bö­sen Einflüsterungen, die wie aus heiterem Himmel auf uns einstürmen. Der Mensch hat das Abwegige weder gewollt noch gesucht. Gleichwohl kann es über ihn hereinbrechen mit einer irrationalen Gewalt, die nötigt, an die listigen Anläufe einer versucherischen Macht zu denken. Der Züricher Systematiker Emil Brunner sieht einen beachtenswerten Hinweis für den dämonologischen Realismus darin, daß das Werk des Zerstörers nach einem planmäßig gelenkten, zusammenhängenden Prinzip zu arbeiten scheint. So gibt es Mächte, die dafür Sorge tragen, daß es auf Erden nicht Frieden werden kann. Es gibt Tendenzen, die in der Richtung der Auflösung aller sittlichen Ordnung arbeiten. Diese beharrliche, zielstrebige Konsequenz, wie das Böse in der Welt vorangetrieben wird, legt den Rückschluss nahe, daß eine persönliche Spitze mit vielen Hilfstruppen am Werk ist. Was hat unser Jahrhundert alles schon an wilden und verheerenden Ausbrüchen erlebt! Man fragt sich manchmal: Reicht es immer noch nicht, was muß denn noch geschehen, um die Menschheit, um selbst die Theologen zu überführen, daß ein Reich der Finsternis darauf ausgeht, das Herz des Menschen und Gottes gute Schöpfung zu verderben?

5.

Es sei im Zusammenhang damit ein Wort zu dem Problem der Besessenheit gesagt. Wir verstehen darunter, daß ein Mensch von einer friedlosen, abgeschiedenen Seele oder von einer dämonischen Invasion derart okkupiert wird, daß er seiner selbst nicht mehr mächtig ist, daß er das Opfer einer Fremdeinwohnung wird. Ärzte und Seelsorger mahnen mit Recht, mit einer derartigen Diagnose so sparsam und zurückhaltend wie möglich umzugehen. Es kann namenloses Unheil angerichtet werden, wenn wir in der Richtung zu freigebig vorge­hen. Mag ein Mensch in seiner seelischen Verfassung einen noch so verstörten, ja verwüsteten Eindruck ma­chen, es müssen auf jeden Fall zuerst alle medizinischen, psychiatrischen, psychologischen und psychotherapeuti­schen Deutungen und Hilfen bis zum Letzten eingesetzt worden sein, ehe wir uns dazu entschließen, das Phäno­men der Besessenheit in den Bereich der Erwägung zu ziehen. Die Psychiatrie der Gegenwart ist nicht geneigt, die Grenzen der innerweltlichen Deutung zu überschrei­ten. Gleichwohl mag es seltene Ausnahmefälle schauriger Art geben, wo kaum mehr etwas anderes übrigbleibt, als den dunklen Hintergrund einer Fremdeinwohnung ins Auge zu fassen.

Eines ist jedenfalls klar: wer das Reich der Dämonen leugnet, bedarf auch des Reiches der Engel nicht. Er wird sich vielmehr zu der Parole bekennen, wie sie jüngst nicht gerade geschmackvoll ausgegeben worden ist: »Die Zeit ist da, daß diese Spukgestalten abgeknallt werden.« Wer dagegen einmal gründlich erschrocken ist über die Abgründigkeit der Welt in sichtbaren und unsichtbaren Bereichen, der versteht, was mit dem letzten Satz in Luthers Morgensegen gemeint ist: »Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde.«

Die unverkennbare Mattigkeit und Mittelmäßigkeit, die das christliche Leben in unserem Jahrhundert in allen Ländern und in allen Kirchen der Welt angenommen hat, dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß wir das Erschauern und Erbeben vor der Macht der Finster­nis bis hin zur völligen Ahnungslosigkeit verharmlost haben. In dem Augenblick, wo wir die Einflussgewalt des Radikal‑Bösen wieder wahrnehmen, hört alles fromme Geplätscher von selbst auf. Das Gebet wird uns dann zu einem unentbehrlichen Geschehen, weil wir nicht nur mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, sondern mit Ge­walten, die größer und stärker sind als wir selbst und die nur in der Verbindung mit der absoluten Macht Got­tes bezwungen werden können. Erst recht bekommt das Erlösungswerk Christi von daher eine Bedeutung, die nur der ermessen kann, der das Geheimnis der Bosheit wahrgenommen hat.

6.

Die Philosophie des 19. Jahrhunderts war von dem hochgemuten Pathos erfüllt: der Mensch ist seiner selbst mächtig. Bei Johann Gottlieb Fichte erscheint das Ich geradezu als eine Größe von unbegrenzter Geistesstärke. Das Ich setzt die Welt als Nicht‑Ich aus sich heraus und gestaltet sie nach seinem souveränen Willen. Die Beschäftigung mit Engel und Dämonen aber macht uns darauf aufmerksam: der Mensch ist nicht eine in sich geschlossene Größe, der Mensch ist vielmehr offen, of­fen nach dem Licht und nach dem Dunkel hin. Der Mensch kann sich für das Reich der Wahrheit, der Güte, der Her­zenslauterkeit aufschließen. Dann kommen die Engel Gottes und dienen ihm, gleich wie sie nach dem Bericht des Matthäusevangeliums zu Christus traten und ihm dienten, nachdem der Versucher in der Wüste in drei­maliger Auseinandersetzung zurückgeschlagen worden war.

Und der Mensch kann sich den verderblichen Ein­flüsterungen dämonischer Verführung hingeben. Zu Be­ginn wird er davon immer berauscht sein. Er wird sich in seinem Lebensgefühl gesteigert und erhöht vorkom­men. Am Ende dieses Weges aber wird er merken, daß er sich in eine schmerzliche Unfreiheit, ja unter eine bös­artige Zwangsherrschaft begeben hat. Der Mensch ist offen. Dieser Satz besagt: er ist Kampffeld, es wird in ihm und um ihn gerungen, wobei es keinesfalls gleich­gültig ist, wie wir uns in eigener Wahl dazu verhalten. Wir tragen die Möglichkeit in uns, sowohl das Heilsame wie Heillose einzulassen und zu assimilieren.

Dabei gilt es darauf zu achten, wie verschiedenartig die Weise ist, in der sich Engel und Dämon uns nahen. Altbischof Wilhelm Stählin sagt dazu treffend: »Der Engel ist zurückhaltend, der Dämon ist aufdringlich. Der Engel will erbeten sein, der Dämon kommt von selbst.« Der Engel bietet sich an, uns zu begleiten auf unserem Weg durch das Leben. Der Dämon stürmt das Haus der Seele und saugt sein Opfer aus. Es ist wichtig, um diese Gegensätzlichkeit des Kommens zu wissen. Wir brauchen ein feines Gehör für das stille, vornehme Werben des Engels, und wir brauchen einen klar und fest entschlossenen Geist zur Abwehr der frechen Ein­brüche aus der Welt des Argen.

Wir wollen auch dafür offen sein, daß wir selbst für andere zum Engel werden können, wie wir gewiß auch füreinander zu dämonischen Wesen werden können. Es ist das nicht nur in dem allgemeinen Sinn gemeint, daß wir, wenn wir in momentane Geldverlegenheit geraten sind, einen Freund, der uns in den Weg läuft, mit dem Ruf begrüßen: Du kommst gerade recht als rettender Engel! Es ist mehr darunter zu verstehen. Es kann ein Mensch, und wäre es nur für gewisse Stunden oder Zeiten, ein ungewöhnliches Maß von Güte, Schönheit und Adel ausstrahlen, weil um ihn und in ihm eine Engelmacht gegenwärtig geworden ist. So wurde Mathilde Wrede allgemein »Der Engel der Gefangenen« genannt. Sie konnte als schwache, wehrlose Frau in die Zellen der Mörder und der Tobsüchtigen gehen. Es ge­schah ihr kein Leid, weil der Engel mit ihr ging und aus ihr herausleuchtete. In gleicher Weise wurde die Dänin Karin Jeppe von den armenischen Flüchtlingen empfunden. Und es gibt das Gegenteil, daß wir vor gewissen Menschen erschrecken und zurückweichen, weil sie sich an die Macht des Bösen bedenkenlos ausgeliefert haben und das Diabolische durch sie hindurchscheint.

Unter den Theologen der Gegenwart hat Karl Barth das Verdienst, in seiner »Kirchlichen Dogmatik« (III, S.426‑525) der Lehre von den Engeln ein ausführ­liches Kapitel gewidmet zu haben, darin einem Diony­sius Areopagita und Thomas von Aquin folgend. Barth geht davon aus, daß die Engel von den meisten Men­schen unserer Tage als »metaphysische Fledermäuse« empfunden werden, denen etwa die gleiche fragwürdige Rolle zukommt wie dem Rotkäppchen, dem Storch, der die Kinder bringt, dem Osterhasen und dem Nikolaus. Er stellt aber mit Recht die Frage: Wer ist in diesem Fall überholungsbedürftig?, und er meint, es seien nicht so sehr die Engel, sondern wir, die wir gut daran täten, un­sere höchst zeitgebundenen Anschauungen gründlich zu überprüfen.

Wir werden gewiß ein geduldiges Verständnis auf­bringen müssen für die vielen, die im Zeitalter der Au­tomation und der Astronautik das Gestelltsein des Men­schen zwischen Engel und Dämon nicht mehr zu fassen vermögen. Und doch, wie sehr möchte man diesem Men­schen der »in sich ruhenden Endlichkeit« wünschen, daß er wieder sprechen lernt:

Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

 

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[1] Angelologie = Lehre von den Engeln

[2] Visibilia: die Bereiche des Sichtbaren

[3] Eritis sicut Deus: Ihr werdet sein wie Gott

[4] Pantokra­tor: Weltenherrscher

 Der Autor Dr. theol. Adolf Köberle war Professor an der Universität Tübingen

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