Georg Müller (Dr.U.Bister)

Ulrich Bister

GEORG MÜLLER

(1805 – 1898)

Zum 200. Geburtstag

Gedenket eurer Führer, die das Wort Gottes zu euch geredet haben, und, den Ausgang ihres Wandels anschauend, ahmet ihren Glauben nach!
Hebräer 13, 7

VORBEMERKUNGEN
Gerorg Müller, ein Mann des Glaubens – allein diese biographische Notiz rechtfertigt schon eine Neubesinnung auf ihn, auf das Segenswerk der Schul- und Waisenhausarbeit in Bristol und an zahlreichen weiteren Standorten so wie auf die über fünfzehn Jahre lang durchgeführten Missionsreisen in der letzten Phase seines Lebens. Es war ihm ein Herzensanliegen, nicht nur das Evangelium zu predigen, vielmehr auch die Christen zur Arbeit zu ermuntern und ihnen den Charakter der letzten Tage (gegenwärtige Einrichtungen der Dinge und des Endes derselben) aufzuzeigen.
Das konnte er tun, weil er die Gemeinde in Bristol unter der Aufsicht geübter Mitarbeiter zurücklassen konnte und die Waisenhausarbeit während seiner Abwesenheit der verantwortlichen Leitung seines Schwiegersohnes, Herrn Wright, übergeben konnte.

Nun geht es nicht ausschließlich um das Leben des ‚Waisenhausvaters von Bristol’, oder des ‚englischen A. H. Francke’; mit der Lebensbeschreibung Georg Müllers treffen wir auf eine bedeutsame Zeit der Geschichte der ‚Brüder’ oder ‚Brethren’ deutscher und englischer Prägung. Bei den Anfangsstudien dieser Geschichte und bei den langjährigen Quellensammlungen begegneten dem Verfasser immer wieder Druck- und Handschriften zum Leben und Wirken Georg Müllers. Eine genaue Einordnung und erst recht das Verständnis derselben – dies sollte erst jetzt zur Ausführung kommen, gerade in dem Jahr, in dem wir den 200. Geburtstag des Waisenhausvaters von Bristol begehen. Von besonderer Bedeutung bei diesem Versuch, Müllers Leben im Kontext der Erweckungs-geschichte Europas und ganz speziell dem der Geschichte der Brüder zu bewerten, ist in Bezug auf Johannes Warns’ Stellungnahme, die erst jetzt mit der Herausgabe der Zeitschrift ’Wahrheit in der Liebe’ und einer ersten Sichtung seiner kirchengeschichtlichen Gesamtdarstellung verständlich wird. Die weithin genannten Quellen und Buchtitel liegen dem Verfasser vor.

Zunächst verbleiben uns mehrere Berichte über die Reisen Georg Müllers, die ihn nach Deutschland, auf europäische Festland und schließlich auch nach Asien, Australien und Amerika brachten. Im Jahre 1843, wenig später nach Erscheinen der ersten Teile seiner ’Narratives’ in englischer Sprache, läßt er 4000 Exemplare einer deutschen Übersetzung drucken (übrigens auf Empfehlung von R. C. Chapmans, ’zur Stärkung seiner Brüder im Glauben’): ’Des Herrn Führungen im Lebensgang des Georg F. Müller. Von ihm selbst geschrieben. Suttgart. Im Verlag des Volks. In Commision bei A. Liesching, 1844’.
In der Vorrede wird vermerkt, das ’das Werk entweder freie oder wörtliche Übersetzungen des englischen Originals enthält; auch sind bedeutende Zusätze oder sonstige Veränderungen gemacht, und hier und da sind Stellen ausgelassen, gerade wie es für Deuschland am passendsten schien.“
Später, in seinen Nachbemerkungen, mahnt er, daß „er vor den Brüdern in Deutschland sein Zeugnis ablegen möge, daß es weder schriftgemäß noch auch nötig sei, zu denen zu gehen, die den Herrn Jesum nicht lieb haben und augenscheinlich der Welt angehören, um Hilfe für das Reich Gottes von ihnen zu erhalten. Durch das Gebet habe ich Brüder und Schwestern erhalten, um mir in den Anstalten zu helfen… .

Lieber wollte ich sogleich das ganze Werk aufgeben, als daß eine einzige Person in den Anstalten als Mitarbeiter angestellt werden sollte, von der ich nicht die völlige Überzeugung habe, so weit Menschen es wissen können, daß sie ein Kind Gottes sei“.

Dann wird als weiterer Grund der deutschen Fassung angegeben, ihm mit seinen Glaubenserfahrungen nicht etwa Schwärmerei zu unterstellen, auch weil er sich seit etwa vierzehn Jahren von der Staatskirche getrennt habe.

Ausdrücklich bestätigt Müller, daß sich viele ihm bekannte Jünger des Herrn in den verschiedenen Staatskirchen befinden, und daß der Herr seine Zeugen daselbst habe. Sein eigenes Tun und seine Entschlüsse stehen auf biblischem Grund; er selbst reiße nicht hier und da Stellen aus dem Zusammenhang, um sie seinen Meinungen anzupassen, sondern er mühe sich, den ganzen offenbarten Willen des lebendigen Gottes in allen seinen Teilen zu erforschen.“ So bittet er ausdrücklich die Glaubensgeschwister in Deutschland darum, alle Vorbehalte ihm oder solchen gegenüber, die keiner Staatskirche angehören, fallenzulassen.

Etwa die Hälfte der deutschsprachigen Autobiographie wird von Müller selbst auf seiner mehrmonatigen Deutschlandreise verteilt. Später kommen weitere autobiographische Darstellungen dazu, so diejenigen von A. T. Pierson und des Appenzeller Sonntagsblatts, Traktate und Berichte in Zeitschriften. Schließlich sollte man noch auf eine größere Zahl von ihm in deutscher Sprache verfaßte Einzelschriften hinweisen, die er wiederum in seinen ’Narratives’ nennt. In der Tat, die Beziehungen des Wahlengländers zu den Erweckten in Halle und darüberhinaus zu den ’Brüdern’ – ob eher im Verständnis der ’Offenen’ (die zunächst noch garnicht bekannt waren) oder der ’Geschlossenen’ – erst diese Beziehungen ermöglichten eine umfangreiche Drucklegung des Müllerschen Schrifttums, das in dem bald bestehenden Beziehungsnetz der Versammlungen und Gemeinschaftskreise eine weite Verbreitung erfuhr. Nicht umsonst erfuhr Georg Müller noch in hohem Alter besondere Aufmerksamkeit, als er im Jahr 1890 in Neukirchen zu Gast war.
Nach Julius Stursberg verdankt die Waisen- und Missionsanstalt in Neukirchen ihre Entstehung der Arbeit Müllers in Bristol, wie auch die Werke in Neerbosch/Nijmegen und die des Dr. Comandis in und bei Florenz. …
Es ist auch Georg Müller, von dem wir in der Geschichte der ’Brüder’ bis heute ganz entscheidende Impulse wahrnehmen, dessen Erinnerung an die Plymouth – Bethesda Auseinandersetzung aufrechterhält, die zur Trennung zwischen ’Offenen’ und ’Geschlossenen’ Brüdern führte.

BIOGRAPHISCHE NOTIZEN
Georg Müller wurde am 27. September 1805 in Kroppenstedt bei Halberstadt in der Provinz Sachsen geboren. Seine Kindheit verlebt er ab dem Jahre 1810 im benachbarten Heimersleben. Er studiert Theologie in Halle, um 1825 hören wir von seiner Erweckung und Bekehrung in einer Stubenversammlung bei einem gewissen Wagner; bei ihm versammelt er sich bald mit weiteren gläubigen Studenten.
Schließlich bildet sich im Jahre 1827 bei Müller zu Hause eine regelmäßige Stubenversammlung von etwas 20 Gesinnungsgenossen. Jahre später sollte er nochmals bei einer Besuchsreise im Hause Wagners einkehren. Bereits im Jahre 1826 entschließt sich Müller, Missionar zu werden. Der Hallenser Professor Dr. Friedrich A. G. Tholuck fördert Müller in seinem Institut, und hier lernt der Student mehr und mehr die Arbeit des Waisenhauses in den Franckeschen Stiftungen kennen. Durch Tholucks Vermittlung reist Müller nach London, um in der Londoner ’Gesellschaft zur Verbreitung des Christentums unter den Juden’ für den Dienst der Judenmission vorbereitet zu werden.
In Erinnerung an diese Zeit schreibt er später Tholuck als seinem verehrten Freund und Bruder: „Ohne Übertreibung kann ich sagen, daß mich Gott seit dem Jahr 1826 weitergeführt hat, da, wo Sie mich an die Hand nahmen. Und das geschah während Sie mit den Brüdern in Christo zusammenwaren, daß sie doch aufgebaut und ermuntert würden… . So habe ich allen Grund, Gott immer zu preisen, daß Sie das Werkzeug waren, mich nach England zu bringen. Wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise dienen kann, lassen Sie es mich unbedingt wissen. Denn das bin ich Ihnen so sehr schuldig, und ich kann es nie ganz vergelten.“
Im Mai des Jahres 1838 bittet er Tholuck, „die Brüder Wagner und alle anderen, die sich an ihn erinnern, zu grüßen und ihnen für alle erwiesene Freundlichkeit zu danken.“
Mittlerweile war Georg Müller mit den ’Brethren’ in England über die Erlebnisse und Erfahrungen der Konventikel in Halle hinausgegangen, wie später berichtet werden soll.

Johann Veit Wagner, geb. am 17. Dezember 1775 im fränkischen Bayern, war als Stellmacher nach Halle gekommen und hatte dasselbst die Tochter des Erweckten Hubert geheiratet. In Halle erlebte zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Rationalismus eine erste Hoch-Zeit.
Aber gerade in dieser Zeit erscheinen für die Stillen im Lande als deutliche Signale die ’Mitteilungen der deutschen Christentumsgesellschaft’ aus Basel oder die zahlreichen Schriften des Johann Heinrich Jung (genannt Stilling) und anderer Erweckter. Offensichtlich gab es im Hubertschen Hause schon Konventikel, die zu damaligen Zeit ohne Präsenz eines ordinierten Predigers noch nicht geduldet waren, die aber für den Halleschen Pietismus in Berufung auf M. Luther einen festen Platz hatten. …
Nach Wagners Tod in 1862 wurde die Aufstellung eines Grabsteines „Dem Patriarchen der hallischen Christen und geistlichen Vater des englischen A. H. Francke von einigen Christen“ veranlaßt.
So erhalten wir bereits im Jahre 1830 einen recht wohlwollend verfaßten Bericht über die Stillen im Lande, unter ihnen Joh. Veit Wagner und Georg Müller; etwas 30 Jahre später folgt unmittelbar nach Wagners Heimgang ein zweiter Bericht: „Der fromme alte Wagner, ein christlicher Handwerker, der mit Tholuck korrespondierte, sammelte wiederholt einen Kreis von Studenten um sich, denen Tholuck am Abend erbauliche Aussprachen hielt. …“
Am 19. März 1829 kommt Müller nach England, nachdem er zuvor die Freistellung vom preußischen Militärdienst erreicht hatte. Zunächst studiert er in London Hebräisch, allerdings erkrankt er bald und verläßt London, um sich zur Genesung im südenglischen Teignmouth aufzuhalten.
Hier lernt er Henry Craik kennen, dem er 36 Jahre freundschaftlich verbunden bleibt. In den Tagebuch- und Briefaufzeichnungen seines Freundes Henry Craik erinnert er den Leser später in der Einführung an diese für ihn prägende und erlebnisreiche Zeit.

G. F. Bergin geht dann recht ausführlich auf seine erste große und für ihn folgenreiche Glaubensentscheidung ein: er löst sich mehr und mehr von der ihm auferlegten Pflicht des Weiterstudiums in London und sieht seine Berufung als eine ausschließlich vom Herrn bestätigte. So teilt ihm im Jahr 1830 das Komitee der Londoner Gesellschaft mit, daß man ihn nicht länger als Missionszögling ansähe; für Georg Müller ist dies ein erster Schritt in der Berufung zum Dienst als Prediger unter den Juden in England, aber auch unter seinen Mitmenschen ganz allgemein, die er zu Christum führen kann.
Bald übernimmt er regelmäßige Predigtdienste in einer Gemeinde in Teignmouth, ebenso in Exeter, Exmouth und der weiteren Umgebung. Sein segensreiches Wirken veranlaßt die Glaubensgeschwister in Teignmouth, jeden Sonntag regelmäßig das Brot zu brechen.

Und dies war nicht etwas ein Sondergut der sog. Brethren, vielmehr hatten sich in England oder in den Niederlanden schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts in vielen Regionen staatskirchenunabhängige Philadelphiakreise oder Collegia gebildet, in denen ohne Beisein von Amtspersonen Brot gebrochen wurde. Die Brüder mögen in ihren Anfängen mit dieser Mahlfeier dem Gedanken der Einheit des Leibes Jesu eine besondere Note gegeben haben.
Später formuliert Müller mutig, daß auch und gerade die Missionsgesellschaften Gottes Wort als einzige Richtschnur für die Jünger des Herrrn anzusehen hätten, und daß das gut gemeinte Unterfangen, daß die ganze Welt sich bekehre, nach Habakuk 2:4 oder Jejaja 11:9 sich nicht auf unsere „Dispensation“ beziehen kann, sondern sich erst auf die, die sich mit der Rückkehr des Herrn entfaltet. Im Herbst 1830 heiratet Müller Marie Groves, die Schwester des Indienmissionars A. N. Groves. Seit 1832 hält er sich dann in Bristol auf Bitten seines Freundes Henry Craik auf, dort mieten beide die Bethesdakapelle an, um daselbst Evangelisationsversammlungen abzuhalten.
Durch das Studium der Biographie A. H. Franckes hatte sich Müller gleichzeitig auch für die Armenarbeit in Bristol interessiert. Dann gründete er im März des Jahres 1834 die ’Anstalt zur Verbreitung von Schrifterkenntnis in der Heimat und im Ausland’.
Im Februar des Jahres 1840 unternimmt er eine länger dauernde Orientierungsreise auf das europäische Festland; hier hören wir von seinen Aufenthalten jeweils in Hamburg, Berlin, Magdeburg (Begegnung mit seinem Vater), Sandersleben und in Halberstadt.
Es kommt zu weiteren Missions- und Evangelisationsreisen, auf die noch später genauer eingegangen werden muß. Am 10. März des Jahres 1898 wird Müller im 93. Lebensjahr von seinem Herrrn heimgerufen.


STUTTGART – GEORG MÜLLER IN SEINER VERANTWORTUNG ALS PREDIGER UND MISSIONAR IN SEINER HEIMAT
Auf Bitten seines Schwagers A. N. Groves sollte Müller ihn nach Deutschland begleiten, um dort Missionare für Indien zu finden.
Zunächst erreichten sie im März 1835 Basel, danach sollten beide in Tübingen mit dem Studenten Gundert (zukünftiger Hauslehrer der Grovesschen Kinder in Indien) zusammentreffen.
Gunderts Vater geleitete Müller dann bis nach Stuttgart, und von da aus zog es ihn nach Halle, um neben weiteren Brüdern auch den bereits erwähnten Dr. Tholuk zu treffen.
Seine Vaterstadt Heimersleben und die Begegnung mit den dort wohnenden Verwandten sollten den Abschluß dieser Reise bilden.

In Stuttgart machte Müller auch die Bekanntschaft mit einer Dame, die durch seine autobiogaphischen Entwürfe berührt wurde und auf der Suche nach einer christlichen Gemeinschaft war, die Müllers Grundsätzen entsprach. Sie selbst hatte sich jetzt (1843) einer kleinen abgetrennten Baptistengemeinde in Stuttgart angeschlossen. Auch der Vorsteher dieser Gemeinde, ein Dr. Römer, hatte Müller brieflich um Stellungnahme in Fragen der Gemeindeordnung gebeten, und Müller hielt nicht damit zurück, daß „weder die Staatskirchen, noch die außerordentlich engen und separatistisch gesinnten Sekten der Baptisten recht mit der heiligen Schrift übereinstimmten.“
Nach 14 Jahren Dienst in England sollte nun für ihn die Zeit gekommen sein, seinen Landsleuten mit dem Evangelium und der Lehre der Heiligen Schrift zu dienen. So erreichte er im Spätsommer des Jahres 1843 Stuttgart und schon sehr bald kommt es zwischen ihm und den Glaubensgeschwistern zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten. Zunächst läßt sich nach den Berichten kaum eine genaue Zuordnung dieses Geschwisterkreises vornehmen; eindeutig aber die Gesetzesstrenge, eine kaum ertragbare Selbstgefälligkei („Wir sind die Kirche, alle anderen sind in Irrlehre und Babylon“) und die Allversöhnung (Wiederbringungslehre).
Müller wendet sich dann auch gegen eingefahrene Gewohnheiten (Bruderkuß nach der Abendmahlsfeier, als Anrede unter den Geschwistern das übliche Du), auch gegen eine Festlegung in der Taufpraxis (Säuglings- oder Erwachsenentaufe).
Es gehe doch ausschließlich um die persönliche Beziehung zu dem gekreuzigten und erhöhten Heiland und immer wieder um das Bewußtsein, daß uns doch Gott in Gnade ein demütiges Herz geben und bewahren möge.

Zum konfessionellen Verständnis dieser Baptistengemeinde helfen uns hier mehrere Quellenschriften, einmal die von Carl Grüneisen und Christian Palmer, sowie die des Gemeindeältesten der taufgesinnten C. A. Schaufler über ’Die Vollendung der Reformation’, Stuttgart, 1862.

Carl Grüneisen spricht von einer „kleinen Gesellschaft von Erbauung suchenden Freunden der christlichen Wahrheit“, die in Dr. Römer’s Wohnung zusammenkam, der neben Schaufler an der Spitze des Vereins stand. Hinzu kamen weitere Personen aus Rohracker und Nellingen. . . .

Diese führten damals Briefkontakt mit Johann G. Oncken, dem damaligen Leiter der hamburgischen Traktatgesellschaft; er konnte diesen gewinnen, 1838 zu einem Besuch in Stuttgart zu verweilen, Vorträge im Hause Römer zu halten und schließlich 22 Taufwillige in Gaisburg/Neckar zu taufen; unter seinem Vorsitz wurde dann auch das Abendmahl ausgeteilt.
Allerdings mußte Oncken dem Wunsch Schauflers nach Ordination widersprechen, da er ihm und seinen Gesinnungsgenossen die Unvereinbarkeit ihres Verständnisses von Prädestination und Wiederbringungslehre unterstellen mußte.
Ein nochmalige Besuch Onckens wird für das jahr 1840 angegeben, aber er wurde ebenso wie Fröhlich, der zwischenzeitlich im Jahr 1839 in Stuttgart gewesen war, durch die Polizei ausgewieden.
Eine Verbindung zu den Mennoniten scheint es nach Grüneisen bislang nicht gegeben zu haben, die Bezeichnung Wiedertäufer (Anabaptistes) durch andere – wie in der benachbarten Schweiz üblich – lehnten die Neutäufer deutlich ab.

Auch Christian Palmer möchte den Kreis der Stuttgarter Baptisten nicht übersehen. Seit 1837 treten sie in Würtemberg in Erscheinung als Taufgesinnte oder evangelisch getaufte Gemeinde, unter ihnen der Instrumentenmacher Schaufler und Prokurator Römer.
Nach dem Würtembergischen Pietistenrescript des Jahres 1743 und dem Religionsedikt von 1806 werden nunmehr die Taufgesinnten weniger als Separatisten eingestuft, sondern „als fremde Konfession, die zwar nicht staatlich als eine Kirche anerkannt, aber unter der nötigen Beschränkung toleriert ist“. Insgesamt zeigen die Taufgesinnten scharfe Ablehnung jeder landeskirchlichen Arbeit, den Pfarreren gegenüber sind sie agressiv und verspotten sie öffentlich. Erwachsenentaufe und Wiederbringungslehre finden in ihren Sonderlehren einen besonderen Platz.

C. Palmer, als Ältester der Evangelisch getauften Gemeinde Jesus Christi in Würtemberg, Baden und Amerika . . . schreibt er seine Erkenntnis in 17 Glaubensartikeln nieder, hier bes. zu erwähnen Artikel 5, ’Von der Erwählung und der Wiederbringung aller Dinge’ sowie Artike 8 ’Von der heiligen Taufe’.

C. Palmer geht in seiner Arbeit auch auf die Darbysten ein, erstmals 1847. Davon zeugen übrigens die unmittelbar später in Tübingen aufgelegten Druckschriften von J. N. Darby.
Zunächst erfahren wir von keiner näheren Beziehung zu Müllers erstem Aufenthalt in Stuttgart 1843.
John N. Darby soll zuerst in den bereits bestehenden Tübinger Gemeinschaftskreisen gewirkt haben, allerdings kommt es dann, so Palmer, sehr bald zur Separation: 24 Personen erklären ihren Austritt aus der Landeskirche.
Und hier können wir nur annehmen, daß es sich um Gläubige aus den innerkirchlichen Gemeinschaftskreisen (Hahnsche Gemeinschaften) handelte. Darby selbst soll zwischenzeitlich in Tübingen die Separierten besucht haben. Sein neutestamentliches Lehrverständnis etwas zu den Fragen von Amt, Gemeinde und Haushaltung bleibt der Kirchenbehörde in Stuttgart nicht unbekannt.

Georg Müller selbst gibt uns in seinen ’Narratives’ noch genauere Hinweise zu seinen Erlebnissen in Stuttgart im Jahre 1843/44. Für Müller waren die Christen, denen er in Stuttgart begegnete, Leute mit separatistischen Ansichten, für die ihr Establishment so ungemein wichtig war; ihnen möchte er helfen, daß sie diesen Sektengeist loswerden. Die dann jeweils aus Weinheim und Stuttgart (1843) aufgeführten Briefkorrespondenzen mit der eimatgemeoinde in Bristol geben uns Einblick in zahlreiche Begegnungen mit Christen, Bekannten und Freunden.
So begegnete er in Mannheim dem Bruder T. H. und der lieben Frau M. In Heilbronn waren ihm bereits vier Gläubige bekannt; bei ihnen bleibt er über nacht. Für den Stuttgarter Kreis fürchtet er allerdings große Auseinandersetzungen: „andere wünschen es bereits, daß ich nie nach Stuttgart gekommen wäre“.

Dies sind für Müller Erfahrungen, die er mit seinen Glaubenmsgeschwistern in Bristol in den letzten Jahren gemacht hatte, einer Gruppe von Gläubigen um H. Craik, aber auch die mit den befreundeten R. C. Chapman und A. N. Groves.
Etwa um 1830, als durch umfangreiche Evangelisationsarbeit viele in Bristol und Umgebung erweckt worden waren, entstand dort eine kleine Versammlung, die innerhalb weniger Jahrzenhte bis auf 600 Personen wuchs (Bethesda-Chapel).

Apostolische Einfachheit der Anbetung, Darbietung des Evangeliums an Fernstehende, die leitende und regierende Macht des Heiligen Geistes in allen Versammlungen und das geistliche Priestertum aller Gläubigen – dies waren einige Merkmale dieser Meetings, ähnlich wie bei vielen der auf den britischen Inseln, aber auch in Europa an vielen Stellen neu entstandenen staatskirchen-unabhängigen Versammlungen von Gläubigen.
Übereinsimmend wird auch erwähnt, daß sie alle regelmäßig das Brot brachen.

In einem Nachwort der erstmals in Stuttgart (1844) vorgelegten Ausgabe ’Des Herrn Führungen im Lebensgange des Georg Müller’ berichtet er den Glaubensgeschwistern in Deutschland. „Die Zahl der Gläubigen, die Gemeinschaft mit uns zu suchen, ist so groß, als zu irgend einer Zeit, seitdem wir in Bristol gewesen sind; und seit mehreren Jahren sind jährlich gegen hundert Brüder und Schwestern unter uns aufgenommen worden: so daß jetzt die Anzahl derer, die mit uns in Gemeinschaft sind, sich auf 680 beläuft, obgleich viele Geschwister entschlafen sind, andere Bristol verlassen haben… . Unter diesen 680 Geschwistern arbeiten 7 Brüder in der Lehre, Seelsorge, im Vorstehen und in der Armenpflege… . Dies sage ich nicht… , um mich zu rühmen, denn wer bin ich denn anders, als ein armer unnützer Knecht“.

So wundert es nicht, daß Müller im August des Jahres 1843 sonntags zweimal das Wort unter den Stuttgarter Taufgesinnten ausgelegt hatte, danach aber am Abend in seinem Zimmer mit einigen Heiligen das Brot brach, was in der Stuttgarter Baptistenkirche der Neutäufer nur einmal monatlich üblich war. Deutlich dann Müllers Hinweis, daß die Taufgesinnten ihm andeuteten, niemals Abendmahlsgemeinschaft mit Leuten zu haben, die noch der Staatskirche angehörten und den bei ihnen verbindlichen Taufritus nicht anerkennen würden.
Sie selbst betonten dabei, daß die Wiedergeburt sich erst mit der Bekenntnistaufe manifestiere (No one was born again exept he was baptized), daß auch niemand ein Recht zur Behauptung hätte, seine Sünden seien vergeben, es sei denn er wäre getauft. Daß sie sich gar inhaltlich mit diesen Äußerungen auch auf die Apostel und den Herrn selbst bezogen, veranlaßt Müller zu der Feststellung, daß jene die Grundwahrheiten des Evangeliums angriffen.

Trotz zahlreicher Unterweisungen Müllers bleiben die Stuttgarter Taufgesinnten bei ihrer Einstellung, sie warfen ihm vor, er sündige, wenn er mit ungetauften (gemeint sind hier solche, an denen die Säuglingstaufe vollzogen worden war) Gläubigen Brot breche, erst recht mit solchen, die zur Staatskirche gehörten – das würde sie selbst verunreinigen, wenn er mit ihnen Gemeinschaft pflege. So werde er, Müller, der Sünde anderer teilhaftig und diese Sünde laste nun auf ihm, (wenn er zu ihnen komme). Auch die tatsächliche Existenz von Leib und Blut Christi in Brot und Wein war den Taufgesinnten unumstößliches Dogma.

Diese Auseinandersetzungen und Streitfragen führten zu einer Spaltung in der Stuttgarter Taufgesinntengemeinde, obwohl es Müllers ausdrücklicher Wunsch war, den Glaubensgeschwistern zu helfen. Der leitende Älteste entschied dann kurzerhand, daß alle diejenigen, die mit Müller gemeinsam das Brot brächen, nicht länger als Mitglieder der Gemeinde angesehen werden: gleichzeitig untersagte er Müller weiteres öffentliches Lehren in der Gemeinde.

Gemeinsam mit 12 Geschwistern dieser Baptistengemeinde sowie einigen andernen bricht Müller dann in seiner gemieteten Wohnung das Brot. „Es ist der Anfang“, so schreibt er, und dieser Anfang war gleichsam die Erfüllung einer Hoffnung, die er vor seiner Reise auf das Festland in seinem Herzen hatte: „eine kleine lebendige Gemeinde, gegründet auf den Prinzipien der Schrift, ein Licht für andere“, diesen Gläubigen „ein Glaubensfundament zu vermitteln“.

Aber zwischenzeitlich bekennt er in einem Brief vom 7. September 1843:
 „Diese Gotteskinder hatten recht, wenn sie die Taufe der Gläubigen für schriftgemäss erachteten und sich von der württembergischen Staatskirche trennten. Aber sie hatten diesen beiden Lehrpunkten eine unzutreffende Bedeutung zugemessen. In der Tat ist die Taufe der Gläubigen wahrhaft von Gott, ist Trennung von Staatskirchen auf Seiten der Gotteskinder unabdingbar, da sie sich bewußt sind, daß eine Kirche eben eine Versammlung von Gläubigen ist, allerdings gleichzeitig in Staatskirchen eine Vermischung von Weltgeist mit einigen treuen Gläubigen wahrnehmen.
Wenn diese Punkte jedoch zu sehr betont werden, wenn sie aus ihrem Zusammenhang gerissen werden, als bedeuteten sie alles, dann muß es bei denen, die so verfahren, zu geistlichem Verlust führen, auch wenn es die kostbarste Wahrheit in Verbindung mit unserer Auferstehung in Christo, mit unserer himmlischen Berufung oder auch mit der Verheißung wäre; immer dann, wenn Teile dieser Wahrheit zu sehr herausgestellt werden, werden früher oder später diejenigen, die eine ungebührliche Betonung auf diese Teilwahrheiten legen und sie so als besonders wichtig herausstellen, in ihren eigenen Seelen Verlust erleiden; und, falls sie als Lehrer tätig sein sollten, jene verletzen, die sie belehren. Und eben dies war in Stuttgart der Fall. Taufe und Separation von der Staatskirche war schließlich diesen lieben Brüdern beinahe alles geworden.
Wir sind Kirche. Die Wahrheit soll nur unter uns gefunden werden. Alle anderen sind im Irrtum und in Babylon. Dies waren die Phrasen, die immer wieder durch unseren Bruder … gebraucht wurden.
Aber Gott muß in diesem Zustand Züchtigung anwenden. Dieser geistliche Stolz hatte von einem Irrtum zum nächsten geführt. Oh, daß es doch mir selbst und allen Gläubigen, die es lesen, eine Warnung sei und daß doch Gott Gnade gebe und ihnen und mir ein demütiges Herz zubereite!“. – Soweit Müllers Brief vom 7. 9. 1843.

Und, um es vorwegzunehmen, Müller schienen diese Erfahrungen aus früherer Zeit tief zu Herzen gegangen zu sein: einmal in der Auseinandersetzung mit R. C. Chapman, als dieser ihm in der Taufpraxis widersprochen hatte:
„Im August des Jahres 1836 hatte ich eine Unterredung mit Bruder Chapman…: Ungetaufte Gläubige, so Chapman, gehören zu den Leuten, die unordentlich wandeln, und in diesem Falle sollten wir uns von ihnen zurückziehen, 2. Thess. 3:6 …. .
Wenn aber ein Gläubiger unordentlich wandelt, sollten wir uns nicht nur von ihm am Tisch des Herrn zurückziehen … . Nun, dies ist eben nicht vertretbar für das Verhältnis von getauften und ungetauften Gläubigen. Der Geist Gottes möchte es uns nicht auferlegen, aber er bezeugt, daß solche nicht unordentlich wandeln, auch wenn sie nicht getauft sind. Und so darf auch eine kostbare Gemeinschaft zwischen getauften und ungetauften Gläubigen bestehen … .
 Wir sollten alle aufnehmen, die Christus aufgenommen hat, Römer 15:7, unbeachtet des Maßes der Gnade oder des Verständnisses, das sie hierin haben … . 
Die Aufnahme all derer, die unseren Herrn Jesus lieben, in volle Gemeinschaft mit uns, ohne die Taufe zu berücksichtigen, war nie Quelle von Streit unter uns, obwohl mehr als 57 Jahre seither vergangen sind.“

Noch deutlicher versteht Müller diese Grundsatzentscheidung in der Plymouth-Bethesda Angelegenheit, in der er dazu auffordert, alle Glaubensgewister der umliegenden Versammlungen, erst recht die aus Plymouth, aufzunehmen (auch mit der ausdrücklichen Bitte, sich von der falschen Lehre Newtons zu distanzieren). In einer abschließenden Bewertung weiter unten wollen wir noch genauer darauf eingehen.

Nach fünf Monaten Aufenthalt in Stuttgart scheinen etwa 50 Personen mit Müller regelmäßig zusammenzukommen. Ende Juli 1845 ist Müller erneut in Stuttgart; „ein falscher Lehrer aus der Schweiz hatte sich zu den Brüdern und Schwestern in Stuttgart begeben und beinahe alle waren durch ihn weggezogen worden…“
Auch von dieser Reise zeugen mehrere Briefkorrespondenzen mit den Glaubensgewistern in Bristol; erneut werden regelmäßige Versammlungen in Stuttgart für etwa 150 Personen gehalten. Dann nennt Müller insgesamt 11 Titel von Evangeliumstraktaten. Sie sollen in großer Stückzahl in Stuttgart und auf weiteren Reisestationen verteilt werden. Weitere Reisen bringen ihn dann nach Heilbronn, Heidelberg, Darmstadt, Fulda, Erfurt, Eisenach, Eisleben, Nordhausen, Göttingen, Kassel, Elberfeld, Düsseldorf und Köln, insgesamt 25 Tage lang.

REISETÄTIGKEIT
In seinen bis 1855 fortgesetzten „Narratives“ geht Müller nicht weiter auf die Stuttgarter Glaubensgewister ein. Von weiteren und späteren Reisen nach Deutschland erfahren wir dann jeweils im Missions- und Heidenboten aus Neukirchen, so von einem Aufenthalt im Basler Missionshaus am 26. September 1881, in Düsseldorf in 1882 sowie im Basler Vereinshaus in 1890.

F. Bergin beschreibt darüberhinaus eine Deutschlandreise für die Zeit August 1876 bis Juni 1877 (Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt, Preußen) und eine Städtereise (1890/91) nach Köln, Mainz Heidelberg, Korntal, Karlsruhe, Pforzheim, Wiesbaden und Frankfurt am Main, sowie Mülheim/R., wo er vor 1600 Menschen spricht.
 Wiederum reist Müller für ca. 11 Monate nach Deutschland in 1891/92 und predigt in Barmen, Elberfeld, Kassel, Berlin, Hamburg, Halberstadt, Breslau und anderen Orten.
Pierson erwähnt eine achte Europareise von Müller um 1892, die ihn bis St. Petersburg (Oberst Paschkoff und Fürstin von Lieven) führt, sowie bis in die Schweiz und Italien.
Einen Gesamtüberblick schließlich erhalten wir in den Reiseberichten ’Preaching Tours’, bereits im im Jahre 1883 durch Mrs. Müller herausgegeben.
Hier wird uns von neun Reisen berichtet, unter ihnen die dritte, fünfte und neunte nach Europa. Einige Gründe, die Müller bewogen, immer wieder die Glaubensgeschwister aufzusuchen, sollten hier kurz genannt werden.

1) Der Gläubige ist in Christo angenehm gemacht. Das Bleiben in Jesu vermittelt ihm rechte Heilsfreude.
2) Es war nötig, die Gläubigen zum rechten Gebrauch der H. Schrift zu führen, damit sie deren verborgenen Schätze fänden: daß sie an diesem Prüfstein alles beurteilen, daß sie sie täglich mit Sammlung und Gebet vor dem Herrn lesen, um sie dann im Gehorsam auszuleben.
3) Unter allen Gläubigen gilt es die brüderliche Liebe zu fördern; eben nicht die nebensächlichen Fragen, mehr aber die grundlegenden Wahrheiten, in denen sie alle eins seien; daß sie sich doch über engherzige sektiererische Vorurteile hinwegsetzten.
4) Es gilt, den Glauben der Gotteskinder an die in Seine (Gottes) unwandelbaren Verheißungen zugesagte Erhörung des Gebets zu stärken.
5) Die Gläubigen mögen angehalten werden zur Scheidung von Welt und Weltwesen und zum Trachten nach himmlischen Dingen. Gleichzeitig wolle er vor schwärmerischen Verirrungen wie z.B. vor der Lehre von der Sündlosigkeit schon im Erdenleben warnen.
6) Schließlich sollten die Jünger des Herrn sich auf die Wiederkunft des Herrn Jesus konzentrieren.


Eine im Jahr 1892 in Berlin gehaltene Predigt sollte darüberhinaus noch einige wesentlichen Punkte vertiefen (Übers. Pierson):
 Die Gläubigen sollten unter den größten Schwierigkeiten nicht verzagt sein. Das Hauptgeschäft jedes Tages bestehe darin, Ruhe und Frieden in Gott festzuhalten. Diesen Gott gelte es mit ganzem Ernst kennenzulernen, so wie er sich in der H. Schrift offenbart. Dazu gehöre das regelmäßige Forschen in der Schrift, das Gebet, ein heiliger Wandel und reichliches Geben für Seine Sache. Durch völlige Übergabe an Seinen Willen und im Dienst für Ihn kommt es so zur Verherrlichung Gottes

DIE BRÜDER (BRETHREN) IM KONTEXT DER BIOGRAPHIE GEORG MÜLLERS

Georg Müller selbst geht so gut wie garnicht auf die Schwierigkeiten des Plymouth – Bethesdastreites ein. Die kurzen Hinweise in seinen ’Narratives’, besonders herausgestellt durch F. Bergin, sollen genügen, einiges aus dem Verständnis des frühen Brüdertums wiederzugeben: „Während dieses Sommer (1830) war es mir von der Schrift her klar, nach dem Beispiel der Apostel (Apg. 20:7), jeweils am Tag des Herrn das Brot zu brechen”.

Ausführlicher berücksicht dann William H. Harding in der bereits genannten Biographie das Verhältnis Müllers zu den ’Brüder’; so zunächst in Kap. II (Müller and the Brethren), dann später mit der Bemerkung, daß etwa seit 1832 sich die Bethesdakirche als ’Versammlung der Brüder’ auf die Bibel und die Verkündigung des Evangeliums in Bristol und darüberhinaus mit den apostolischen Anliegen ausrichtete. Später geht dann der Verfasser auf die Auseinandersetzungen der Jahre 1845/48 ein. Er selbst greift auf die in englischer Sprache vorliegende Schrift ’Die Prinzipien der Offenen Brüder’ (The Principles of Open Brethren) zurück und vermerkt, daß „Müller und Craik nicht jene (vom Mahl des Herrn) ausschlossen, die von Herrn Newtons Versammlung gekommen waren, es sei denn, sie hielten fest an seinen Irrlehren” (Harding: The Ministry of the Word”, 116, 123.)

Kurz später, im Juli des Jahres 1849, bat Darby Müller um ein Gespräch, das dieser jedoch wegen dringender Verpflichtungen nur für zehn Minuten hätte wahrnehmen können.

Harding wagt an dieser Stelle den Vergleich mit Paulus und Barnabas oder Wesley und Whitefield. Leider ist es hiernach nicht mehr zu einer versöhnenden Begegnung zwischen Darby und Müller gekommen! Und dann möchte Harding nicht versäumen, beider Anliegen besonders herauszustellen: Darbys Verständnis über den verherrrlichten Menschensohn oder über Christus, sowie die Gerechtigkeit des Christen vor Gott; in gleicher Weise Müllers Ausführungen über Hoh. 8:5 („Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste her, sich lehnend auf den ihren Geliebten?“): daß wir (als Erlöste Christi) doch auf den Herrn sehen, auf seine unergründliche Fülle, bei Ihm Kraft, Trost, Hilfe und Erquickung zu empfangen in der Stunde der Not.
Welch herrliche Aussicht, solch einen Freund für immer zu haben! (Aus Harding: Chapter ‘The Redeemed in the Wilderness’, 125)
Wie bereits zwischenzeitlich angedeutet, werden weitere Einzelpredigten erwähnt, etwas die über ’Das zweite Kommen unseres Herrn Jesu Christi’. Hier entdecken wir eine für Müller eindeutige Position in der Lehre der ’Brüder’, und es läßt in all den weiteren Zeugnissen nichts darauf schließen, daß er sich jemals in wesentlichen Punkten davon entfernt oder sie gar widerrufen hat.

Nach vorliegenden Briefzeugnissen hatten ihm die Begegnungen auf den prophetischen Konferenzen in Powerscourt (Irland) mit Craik, Darby, Newton, Soltau und Miss Trelawny, um nur einige zu nennen, die wesentlichen Impulse gegeben, und die ihm und Craik oft angetragenen Bezeichnung von ’Baptist-Brethren’ ist einseitig vorbelastend. Das uns heute vorliegende umfassende Schrifttum der ’Offenen’ Brüder findet, abgesehen von der Definition der Unabhängigkeit der Gemeinde/Versammlung, weithin auch unter den ’Geschlossenen’ Brüdern lebhaftes Interesse; hier zu nennen u.a. das Schrifttum von R. C. Chapman, G. H. Lang, W. Vine oder auch A. v. d. Kammer und Erich Sauer.
Für den Wiedenester Bibelschullehrer Johannes Warns war gerade zur Zeit der Stündchenbewegung der sogenannte Bethesdastreit aus dem Jahr 1848 längst noch nicht eindeutig geklärt, und seine ausführliche Analyse mag nicht wenigen unter den geschlossenen (Elberfeldern) Brüdern damals als Signal gewirkt haben, endlich den alten Streit zu beenden.
In seiner Schrift ’Georg Müller und John Nelson Darby. – Ein Rückblick auf den sogenannten Bethesdastreit zu Bristol im Jahr 1848’. (Wiedenest 1936) bleibt er nicht bei allzu Bekanntem stehen. Die Wiedergabe der Rechtfertigung Newtons und gleichzeitig sein Versuch, Darby nicht einfach Unlauterkeit oder Lieblosigkeit den Brüdern Müller, Craik und Newton gegenüber zu unterstellen, lassen seine Argumentation zunächst als gründlich und gelungen gelten.

Dabei versucht er, die Hintergründe des Bethesdastreites zu erläutern: der Gegensatz zwischen der evangelischen urchristlichen (bezogen auf Müller) und dem katholischen (bezogen auf Darby) Gemeindeideal, oder auch die Frage nach der Darstellung der (unsichtbaren) Gemeinde Jesu, wie sie sich in unterschiedlichen Erscheinmungsformen zeigt.
Leider wurde, so der Verfasser, in diesem Strei das ursprüngliche Ideal der Brüder nicht nur beiseitegesetzt, sondern auch preisgegeben, zugunsten eines rigorosen Exklusivismus.
„Darbys Kirchenbild widerspricht dem NT und der Geschichte“, während „Müller und seine Freunde im neutestamentlich – evangelischen Sinne die Freiheit und Selbständigkeit der örtlichen Gemeinde verteidigen.“

Nach den uns heute vorliegenden Quellen, nicht zuletzt den umfangreichen Briefbeständen der ’Bethren’, konnte Johannes Warns damals nur auf einige dieser Quellen zurückgreifen, die meisten hat er mit Sicherheit nicht gekannt. Auch die durch Johannes Menninga verfaßte ‘Erwiderung’ geht von mehr oder weniger bekannten Vorlagen aus, ohne Einzelheiten aus dem Leben G. Müllers näher zu erläutern.
Dennoch muß es Warns zugestanden werden, daß er es erstmals im Gegensatz zu vielen anderen vor ihm versucht hat, ’offene’ und ’geschlossene’ Positionen kritisch gegenüberzustellen und das Kirchen/Gemeindeverständnis der beiden Brüdergruppen genauer zu bestimmen, ohne dabei von den meisten seiner Geschwister verstanden zu werden. Bei diesem ihm wesentlichen Anliegen kommt allerdings der eigentliche Anlaß des Plymouth – Bethesdastreites zu kurz.
Die damals bereites vorliegenden Arbeiten etwa von G. Ischebeck, W. B. Neatby, N. Noel oder W. Trotter, um nur einige zu nennen, stellen die Angelegenheit je nach Gemeindezugehörigkeit ihrer Verfasser ganz unterschiedlich dar.

Für den den Freien Evangelischen Gemeinden verbundenen G. Ischebeck ist J. N. Darby verantwortlich für den Darbysmus, und „all denen, die sich in der Bethesdafrage nicht zu seiner Ansicht bekannten, wurde die Gemeinschaft aufgesagt“. Und weiter:
„Darby ging von einem Ort zum andern, indem er suchte, überall die Annahme seiner Haltung Bethesda gegenüber durchzusetzen…, Versammlungen der Heiligen wurden durch ihn in den Bann des Ausschlusses getan für nichts mehr, als daß sie nicht erkennen konnten, daß Darby recht und Bethesda unrecht hatte… . Das Wenigste, was gesagt werden kann, ist, daß Darby sich nicht genug Mühe gab, seine Behauptungen und Beschlüsse zu prüfen, und daß er jetzt auf die schwächsten – um nicht zu sagen irrigen – Befürchtungen einen amtlichen Erlaß stützte, der Zank, Elend, Zerreißung und Scham wie eine Brandfackel bis an die entferntesten Grenzen des Brüdertums ausbreiten sollte.“
G. Müller selbst sah sich gemeinsam mit den Brüdern in Bethesda nach zahlreichen Beratungen, so Ischebeck, zum Beschluß genötigt, „Niemanden, der Herrn Newtons Ansichten oder Schriften verteidigte, behauptete oder aufrecht hielt, zur Gemeinde zuzulassen“.
Die in Deutschland weit verbreitete Biographie Ischebecks sollte für die Christen in Gemeinschaft und Freikirche, erst recht für viele in den eher offenen Versammlungen, verbindliches Kriterium in der Beurteilung von Darby und Müller sein und bleiben. Auch heute noch scheint mit der Neuauflage von Th. Croskerys ’Brethrenismus’ (London 1879) durch Manuel Peters eine insgesamt einseitig und scharf verurteilende Position Darby gegenüber Oberhand zu gewinnen.
Ganz anders dann die überaus deutliche Antwort durch P. Tapernoux in seiner Broschüre ’Die Bethesdafrage’, (Vevey, o.D.): „24 Jahre nach der Verkündigung der Irrtümer von Bethesda erklärt ihr hauptsächlier Urheber (gem. ist G. Müller, der Verf.) feierlich, daß die unabhängige und schlaffe Handlungsweise, welche diese Versammlung angenommen hat, immer noch dieselbe ist und daß keiner der im ’Brief der Zehn’ niedergelegten Grundsätze zurückgezogen worden ist.“

Andreas Steinmeister, heute eher den Geschlossenen Brüdern zuzurechnen, gibt hierzu in seiner unlängst erschienenen Arbeit zunächst eine Kurzbiographie Georg Müllers:
„Zusammen mit seinem Mitarbeiter Henry Craik (1805-1866) kam G. Müller ebenfalls schon früh zu der Erkenntnis, daß sie Kirchenfragen allein nach dem Vorbild der ersten Christen regeln sollen. So begannen sie mit viel Forschen in der Schrift und eifrigem Gebet, Gottes Gedanken zu diesem Thema kennen zu lernen… .
Darby schrieb einmal über die Kapellen, wo Georg Müller und seine Mitarbeiter predigten, daß sie ihm im geistlichen Sinn zu eng seien, daß sie nur getaufte Baptisten aufnähmen. Später haben Müller und Craik das auch praktiziert.“

Die Quellen sagen das Gegenteil aus, und wir fragen uns, wie es möglich ist, daß nach nur 150 Jahren in unseren Geschichtsbüchern so viele Phrasen auftauchen. Gerorg Müller hatte in der Tat die wesentlichen Impulse zum Sola Scriptura bereits in Halle erfahren, und im Blick auf das Taufverständnis hatte er ein weites Herz.
Mehr Details gibt Steinmeister dann im zweiten Teil seiner Arbeit, wenn er ausführlicher die Ereignisse in Plymouth und Bethesda erläutert, ohne leider auch hier systematisch und quellenorientiert vorzugehen. Zu viele Episoden verdecken die Tatsachen, oder der Verfasser greift auf namhafte Autoren zurück, daß bislang gültige Behauptungen „völlig unzutreffend“ sind.

Gemeinsam mit Johannes Warns urteilt er dann, daß es „bei der Trennung im Jahre 1845 in Plymouth nicht um Irrlehre, sondern um Klerikalismus ging.“ Die später (1847) immer stärker hervortretende Irrlehre Newtons veranlaßte dann die Bethesda-Versammlung in Bristol zu einer Haltung, die im ’Brief der Zehn’ verdeutlicht wird. Leider wird dieser Brief hier nur in Auszügen wiedergegeben und unmittelbar danach die notwendige Trennung der ’Brüder’ von Bristol gerechtfertigt, auch mit entsprechendem Hinweis auf die Arbeiten von Gardiner (’Raven-Taylor Brethren’), Kelly, Miller, Noel, Smith und Trotter.

Steinmeister schließt sein Resumé mit einem Zitat Darbys: „Das Böse in Bethesda ist die prinzipienloseste Zulassung von Lästerern Christi, die kälteste Mißachtung Seiner (Jesu), der ich je begegnet bin“. (J. N. Darby, Letters II, 216, 1864, S.87).

Es ist kaum anzunehmen, daß mit dieser Bemerkung die Bruderschaft zu den Geschwistern in Bristol gewahrt bleibt, noch weniger Wahrhaftigkeit zum Christenleben der Gläubigen in Bethesda, unter ihnen G. Müller. Mittlerweile gilt dieser Satz Darbys vielen als klarer Beweis dafür, Bethesda als böse zu verwerfen. Vielleicht tun wir gut daran, all diese Vorgänge jener Zeit an den Worten der Heiligen Schrift zu messen, wenn es heißt: Prüfet aber alles, das Gute haltet fest, 1. Thess. 5:21.

„Aufnahme“ und „Zulassung“ (zur Gemeinde – Mitgliedschaft) sind mittlerweile Prinzipien von verkirchlichten Versammlungen, weniger das „Nehmet einander auf, wie auch Christus euch aufgenommen hat, zu Gottes Herrlichkeit“, Römer 15:7. Georg Müller waren die Erfahrungen von Stuttgart zu Herzen gegangen; er selbst wollte die Ausschließlichkeit der exklusiv denkenden Täufer keineswegs nachahmen, und er hatte sehr wohl verstanden, daß Bruderschaft auf einer anderen Ebene stattfand, in der eigenen Fehlbarkeit und dem Bewußtsein, immer wieder der Gnade zu bedürfen. So wesentlich diese Glaubensaussage der ’Brüder’ ist, gerechtfertigt in Christo zu sein, (Röm. u. a.), so sehr verführt diese Überzeugung dazu, andere Christen vorschnell der Ungerechtigkeit zu bezichtigen und ihnen jede weitere Berechtigung abzusprechen.
Bei allen Versuchen, die Bethesda – Angelegenheit darzustellen, fällt zu sehr auf, daß sich Georg Müller in seinem Glaubenswerk in Bristol kaum auf das für viele so dogmatisch eindeutig erklärbare Abgleiten Newtons einlassen konnte und wollte.

Es war nicht seine Aufgabe, und umgekehrt suchte er die Gemeinschaft zu allen Gotteskindern, was wiederum für diejenigen, die sich der Lehre so überaus verpflichtet fühlten, nicht unbedingt vordringlich war.
Das bereits erwähnte Nachwort seiner erstmals in deutscher Sprache vorgelegten Autobiographie gibt Müllers Einstellung wieder, die er bereits vor den Ereignissen in Stuttgart hatte: „Was die Gemeine in Bristol betrifft, so nehmen wir einen jeden auf, der Gemeinschaft mit uns wünscht, so lange er das Haupt, Christum, festhält, wie sehr er auch verschiedener Meinung von uns sein mag. Auch hat ein jeder Bruder, der zu uns kommt, sei es als ein besuchender Fremder, oder als Einer, der unter uns lebt, völlige Freiheit des Gebrauchs der Gabe, die ihm der Herr zur Erbauung der Kinder Gottes gegeben haben mag.
In diesen beiden Punkten zeigt es sich, ob man sich zu der großen Kirche Christi hält, oder zu einer Sekte, d. h. ob man alle lieb hat, die den Herrn Jesum lieb haben, und sie als Jünger des Herrn behandelt und in Gemeinschaft auf zunehmen bereit ist, und auch ihnen volle Freiheit gestattet, alle Gaben, die ihnen der Herr zur Erbauung der Gemeinde gegeben hat, ungehindert zum Besten der Kinder Gottes zu gebrauchen, oder nicht. Ist das Erstere der Fall, so findet keine Sektiererei statt; ist das Letztere der Fall, so sind wir dennoch Sektierer, obgleich wir selbst dieser oder jener Staatskirche angehören (’Des Herrn Führungen’, 188).“

So tritt der Waisenhausvater von Bristol mit seiner Arbeit bei der allgemeinen Beurteilung der Ereignisse um 1845/48 eher in den Hintergrund; viel stärker wird der leidenschaftliche Kampf eines John Nelson Darby um die rechte Wahrheit hervorgestellt. Daß beide mit ihren Begabungen und mit ihrem weitreichenden Wirken in der Folge nicht mehr zusammenstanden, hat für die gesamte Brüderbewegung ungeahnte Folgen: wir können hier allein die Gnade Gottes rühmen, der uns und so viele andere bisher erhalten hat; ein Gott, der uns aber auffordert, Bruderschaft neu zu leben oder sie gar wieder zu beleben, und nicht in einem falsch verstandenen und traditionell verhafteten Brüdertum zu erstarren.
Dr. theol. Ulrich Bister, Herborn – Hörbach


Auf meine Webseite gestellt; von Horst Koch, Herborn, im Januar 2024-01-12

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