Stalins Angriffskrieg (J.Hoffmann)

Joachim Hoffmann

STALINS VERNICHTUNGSKRIEG 1941 – 1945

Inhalt 

1. Stalin entschloß sich zum Angriffskrieg
2. Der Angriff Hitlers kam Stalin zuvor
3. Durch Terror zum Kampf. Sowjetsoldaten werden ins Feuer getrieben
7. Beiderseitige Greueltaten und ihre Probleme
12. Greueltaten der Roten Armee beim Vordringen auf deutschen Boden

  • Der Text wurde stark gekürzt, auch die Hervorhebungen wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im März 2009 –

Vorwort
Der fünfzigste Jahrestag des Kriegsendes soll Anlaß sein, den Blick zurückzuwenden und sich ‑ abweichend von den üblichen Gepflogenheiten ‑ vor Augen zu halten, in welchen Formen und mit welchen Methoden die so schicksalhafte deutsch‑sowjetische Auseinandersetzung von der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken aus geführt worden ist. Denn eine jahrzehntelange und immer einseitiger werdende Meinungsbeeinflussung hat unter dem breiten Publikum in Deutschland mittlerweile eine Unwissenheit hervorgerufen und Vorstellungen entstehen lassen, die auch in der Presse in geradezu entwaffnenden Behauptungen und Aussagen über die tragischen Ereignisse jener Jahre Ausdruck finden. Daß die 1994 abziehenden letzten Truppen der ehemaligen Okkupationsarmee der Sowjetunion nach wie vor erfüllt sind von der überhaupt erst nachträglich eingeschobenen Propagandathese, die Rote Armee hätte 1944/1945 in Deutschland eine >Befreiungsmission< erfüllt, auch seien die Rotarmisten in Deutschland schließlich als >Befreier< aufgetreten und empfangen worden, wird man den jetzigen russischen Soldaten nicht verübeln. . . . Was es mit solchen Behauptungen auf sich hat, wird der Inhalt der vorliegenden Darstellung erweisen. Wenn in der deutschen Öffentlichkeit jedoch eine Stimmung um sich greift, nach der die Deutschen von den Armeen der stalinistischen Sowjetunion >befreit< worden seien, so wird die historische Wirklichkeit damit doch geradezu auf den Kopf gestellt. Denn nicht als >Befreierin< ist die Rote Armee eingedrungen, und wohl von niemandem in Deutschland wurde sie damals als Befreierin empfunden.

Die Soldaten Stalins kamen eigenen Parolen zufolge nicht als Befreier, sondern als gnadenlose Rächer. Alle gegenteiligen Behauptungen der heutigen Zweckpropaganda kommen einer glatten Verdrehung der historischen Tatsachen gleich. Wenn es hierfür eines Beweises bedarf, so ist er schon in der Panik zu finden, die die gesamte Bevölkerung in den Ostprovinzen des Reiches bei der Annäherung der Roten Armee erfüllte.  . . .

Ebenso wie man jetzt mit Sicherheit nachweisen kann, daß der von Hitler als unvermeidbar angesehene Waffengang ‑ nach dem Molotov‑Besuch zeitlich gesehen nur knapp einem von Stalin mit Hochdruck geplanten und vorbereiteten Eroberungskrieg zuvorgekommen ist, lassen sich heute noch weitere historische Tatsachen konstatieren. So hat nicht nur Hitler, wie eine bestimmte Zeitgeschichtsschreibung immer glauben machen will, sondern gerade auch Stalin, die politische und militärische Führung der Roten Armee, in der Auseinandersetzung von Anfang an Methoden angewendet, die in ihrer Brutalität alles bisher Dagewesene in den Schatten stellten.  . . .

In der Sowjetunion sind auch von deutscher Seite Verbrechen begangen worden, für die vor allem die zuständigen Organe des Reichsführers SS Himmler die Verantwortung tragen. Doch alle diese Untaten sind immer wieder Gegenstand eingehender Schilderungen; sie sind heute fast bis ins Detail hinein bekannt. Die von den Sowjets begangenen Verbrechen dagegen werden bewußt der Vergessenheit anheimgegeben . . .

Der vorliegende Band behandelt also unbeeindruckt von sogenannten >Denkverboten< ‑ ganz bewußt die Methoden der Kriegführung auf der anderen Seite der Front. Diese Darstellung hat also vorzugsweise die sowjetischen Untaten zum Inhalt, ohne daß die unter Mißbrauch des deutschen Namens auf deutscher Seite begangenen Untaten dabei aus dem Blickfeld verloren und verschwiegen worden wären. In jedem Fall aber gilt es zu differenzieren und propagandistische Übertreibungen auf ihren tatsächlichen Wahrheitsgehalt zurückzuführen.  . . . Ausgangspunkt der vorliegenden Darstellung ist die nunmehr unbestreitbar gewordene Tatsache, daß Hitler mit der Eröffnung der Kriegshandlungen dem von Stalin vorbereiteten Angriffskrieg nur kurzfristig zuvorgekommen ist.

Die vorliegende Veröffentlichung ist noch während meiner 35jährigen Zugehörigkeit zum Militärgeschichtlichen Forschungsamt im Rahmen des Generalthemas >Stalin und die Rote Armee< entstanden.
Freiburg, im März 1995   Joachim Hoffmann

1. Stalin entschloß sich zum Angriffskrieg


Die dem sowjetischen Staatswesen von Anfang an innewohnende imperialistische Machtpolitik hat ‑ von der Öffentlichkeit nicht beachtet ‑ auch äußerlich einen sinnfälligen Ausdruck gefunden, und zwar in dem noch 1991 gültigen Staatswappen (gosudarstvennyj gerb) der UdSSR. In der Symbolik dieses Staatswappens lasten Hammer und Sichel drohend und klobig auf dem gesamten Erdball, vielsprachig umrandet von der aufrührerischen Parole: »Proletarier aller Länder vereinigt Euch!« Was sich hier so eindrucksvoll manifestiert, ist das sowohl von Lenin als auch von Stalin in aller Klarheit proklamierte Ziel eines »Sieges des Sozialismus in der ganzen Welt«. Niemand anderer als Lenin hatte es am 6. Dezember 1920 gewiesen, als er in einer Rede erklärte, es komme darauf an, die Gegensätze und Widersprüche unter den kapitalistischen Staaten auszunutzen und dieselben »aufeinanderzuhetzen«, »die Messer solcher Halunken wie der kapitalistischen Diebe gegeneinander zu lenken«, »denn wenn zwei Diebe sich streiten, ist der Ehrliche der lachende Dritte. Sobald wir stark genug sind, den gesamten Kapitalismus niederzuwerfen, werden wir ihn sofort an der Gurgel packen.« »Der Sieg der kommunistischen Revolution in allen Ländern ist unvermeidlich«, hatte er schon am 6. März 1920 erklärt. »In nicht allzu ferner Zeit wird dieser Sieg gesichert sein.«

Und wie schon die bekannte Rede Stalins vor dem Zentralkomitee der Allunionskommunistischen Partei im Juli 1925 erweist, hat sich auch Stalin diesem Grundsatz des Bolschewismus frühzeitig verschrieben. Er erklärte damals: »Sollte der Krieg beginnen, so werden wir nicht untätig bleiben ‑ wir werden auftreten, aber wir werden als letzte auftreten. Und wir werden das entscheidende Gewicht in die Waagschale werfen, ein Gewicht, das ausschlaggebend sein dürfte.« Entgegen anderslautenden Behauptungen ist die >Stalin‑Doktrin<, wie auch Aleksandr Nekric feststellt, niemals aufgegeben worden. Sie behielt ihre Gültigkeit, »das faschistische Deutschland und den Westen aufeinanderzuhetzen«, war, wie Dasicev es formuliert, bei Stalin geradezu eine >fixe Idee< geworden.

Als die Rote Armee sich vermittelst einer schnellwachsenden gigantischen Kriegsrüstung im Zustande zunehmender Erstarkung befand, im Jahre 1939, hielt Stalin den Zeitpunkt für gekommen, um in die Krise des >Weltkapitalismus< kriegführend einzugreifen. Schon der Botschafter Großbritanniens, Sir Stafford Cripps, und der Botschafter der Vereinigten Staaten, Laurence F. Steinhardt, hatten darauf aufmerksam gemacht, daß Stalin nicht nur in Europa, sondern auch in Ostasien ab 1939 einen Krieg herbeizuführen wünschte.

Bekanntgewordene Dokumente des Volkskommissariates des Äußeren (Narkomindel) geben uns hierüber mit hinreichender Klarheit Aufschluß. »Der Abschluß unserer Vereinbarung mit Deutschland«, so das Narkomindel am 1. Juli 1940 an den Sowjetbotschafter in Japan, »war diktiert von dem Wunsch nach einem Krieg in Europa.« Und im Hinblick auf den Fernen Osten heißt es ganz entsprechend in einem Telegramm aus Moskau an die Sowjetbotschafter in Japan und China am 14. Juni 1940: »Wir würden allen Verträgen zustimmen, die einen Zusammenstoß zwischen Japan und den Vereinigten Staaten heraufbeschwören.« Unverhohlen ist in diesen diplomatischen Weisungen die Rede von einem »Japanisch ‑ Amerikanischen Krieg, den wir gern entstehen sehen würden«.

Russische Historiker erblicken heute längst auch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem 23. August 1939 und dem 22. Juni 1941. Durch den Pakt mit Hitler vom 23. August 1939 hatte Stalin sein erstes Ziel erreicht, und er war, wie Marschall der Sowjetunion Zkukov sich erinnert, »überzeugt, er würde aufgrund des Paktes Hitler um den kleinen Finger wickeln«. »Nun, für das erste haben wir Hitler getäuscht«, so die Meinung Stalins nach Nikita Chruscev. Der Pakt vom 23. August 1939 hatte Hitler dazu ermutigt, Polen anzugreifen und als Folge hiervon, wie erwartet, einen europäischen Krieg entstehen lassen, an dem die Sowjetunion vom 17. September 1941 an als Aggressor teilnahm, ohne daß sie damit freilich die Kriegserklärung der Westmächte auf sich gezogen hätte. »Ein einziger Schlag gegen Polen«, so der verantwortliche Leiter der sowjetischen Politik, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare Molotov am 31. Oktober 1939 vor dem Obersten Sowjet, »erst seitens der deutschen, dann seitens der Roten Armee, und nichts blieb übrig von dieser Mißgeburt des Versailler Vertrages, die ihre Existenz der Unterdrückung nichtpolnischer Nationalitäten verdankt hatte.« Auf ausdrücklichen Wunsch Stalins hin sollten nicht einmal Reste der staatlichen Existenz Polens bestehen bleiben.

Durch die Angriffskriege gegen Polen und Finnland, durch die erpresserische Annexion der souveränen Republiken Estland, Lettland und Litauen und die Androhung des Krieges gegen Rumänien vermochte die Sowjetunion im Gefolge der Verträge mit Hitler ihr Gebiet um ein Territorium zu vergrößern, das mit 426.000 qkm etwa der Ausdehnung des Deutschen Reiches von 1919 entsprach. Damit hatte Stalin die auch ihn schützende Staatenbarriere an seiner Westgrenze niedergerissen und seine Aufmarschbasis nach Westen bedeutend verbessert. Für ihn kam es nun auf den nächsten Schritt an, und die Voraussetzungen hierzu waren günstig. Denn die politisch‑strategische Lage Deutschlands wurde, seiner Anfangserfolge ungeachtet, in Moskau als kritisch eingeschätzt. Die Entscheidung im Krieg mit England rückte in immer weitere Ferne. Hinter Großbritannien aber standen mit wachsender Entschiedenheit die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Streitkräfte Deutschlands waren jetzt überall in Europa verzettelt und von Norwegen bis zu den Pyrenäen Großbritannien gegenüber in einer Front gebunden. Zum anderen aber war die Unfähigkeit Deutschlands, einen langen Krieg wirtschaftlich durchzustehen, in Moskau sehr wohl bekannt. Und wie verletzbar war das Deutsche Reich erst im Hinblick auf die Möglichkeit, es von den lebenswichtigen Erdölzufuhren aus Rumänien abzuschneiden!

In dieser Situation des Spätjahres 1940, als sich die Kriegslage für Deutschland und seinen >Achsenpartner< Italien immer mehr komplizierte, ließ Stalin durch Molotov in Berlin am 12./13. November 1940 jene Forderungen überbringen, die auf eine Ausdehnung der sowjetischen >Interessensphäre< auf Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Jugoslawien und Griechenland, also auf gesamt Südosteuropa, und im Norden auf Finnland hinausliefen, mit dem doch erst im März des Jahres feierlich ein Friedensvertrag geschlossen worden war. Selbst eine sogenannte >schwedische Frage< wurde zur Sprache gebracht. Die Sowjetunion beanspruchte mit anderen Worten jetzt eine beherrschende Stellung in ganz Osteuropa und im Ostseeraum, verlangte überdies die Errichtung von Stützpunkten an den Schwarzmeerausgängen und eine beliebige Passage durch die Ostseeausgänge (Großer Belt, Kleiner Belt, Sund, Kattegat, Skagerrack), so daß das im Existenzkampf befindliche Reich gleichsam von Norden und Süden her umklammert werden mußte.

Diese in einer sich versteifenden Kriegslage überbrachten Insinuationen (Einflüßterungen) waren so herausfordernd, daß sie Deutschland praktisch nur noch die Wahl ließen, sich zu unterwerfen oder zu kämpfen. Es handelte sich um eine vorsätzlich berechnete Provokation, bei der vor allem das psychologische Motiv von Interesse ist, weil es erkennen läßt, wie sicher und überlegen sich Stalin zu diesem Zeitpunkt schon gefühlt haben muß. Wenn er sich nämlich, wie dies die deutsche Botschaft in Moskau verschiedentlich verlauten ließ, tatsächlich vor Hitler gefürchtet haben sollte, dann würde er ihn wohl kaum in einer Art und Weise provoziert haben, die nach dem Urteil von Ernst Topitsch einer >Sommation< gleichkam, einer kaum noch verhüllten Aufforderung zur Unterwerfung. Molotov hat in den Tagen seiner Berliner Mission in einem ständigen, intensiven, telegraphischen Austausch mit Stalin gestanden, woraus zweifelsfrei hervorgeht, daß er auf unmittelbare Weisung Stalins hin gehandelt haben muß.

Daß mit der Molotov‑Mission in der Tat eine Herausforderung verbunden war, geht auch aus den Aufzeichnungen hervor, die Wanda Wasilewska, einstmals Vorsitzende des Verbandes Polnischer Patrioten (Kommunisten) in der Sowjetunion, noch vor ihrem Tode 1964 ausdrücklich festgehalten wissen wollte. »Ich erinnere mich«, so die Wasilewska, die sich der besonderen Gunst Stalins erfreut hatte, »daß wir Kommunisten unabhängig von der offiziellen Stellung der Sowjetregierung der Meinung waren, daß dies (die freundliche Haltung Deutschland gegenüber) lediglich eine Taktik der Sowjetregierung ist, daß aber in Wirklichkeit die Dinge völlig anders aussehen. Man darf ja nicht vergessen, daß für jeden von uns es schon damals klar war, daß ein deutsch‑sowjetischer Krieg kommen muß . . . Unabhängig von den offiziellen Äußerungen glaubten wir, daß der Krieg kommen wird, und wir warteten von Tag zu Tag auf ihn. Im Frühjahr 1940 war ich zum erstenmal in Moskau bei Stalin und schon damals (als ganze sechs deutsche Divisionen an der Ostgrenze standen) hat mir Stalin gesagt, daß der Krieg mit den Deutschen früher oder später kommen werde. Also hatte ich schon damals die Versicherung der höchsten Autorität und die Bestätigung, daß wir recht hatten, wenn wir auf den Krieg warteten.«

Aufschlußreich ist, was Wanda Wasilewska in den Tagen der Molotov‑Mission Ende 1940 über eine Unterredung mit dem 1. Sekretär der KP Weißrußlands, Ponomaremko, dem späteren Chef des Zentralen Stabes der Partisanenbewegung, berichtet, dessen Worte sie folgendermaßen wiedergibt: »Molotov war in Berlin. Er ist gerade zurückgekommen. Es wird Krieg geben. Sicherlich wird es dazu im Frühjahr 1941 kommen, aber wir müssen uns schon jetzt vorbereiten.«

Das Überlegenheitsgefühl Stalins, wie es in der Offenlegung seiner aggressiven Absichten Ausdruck fand, war freilich wohl begründet, wenn man nur einen Blick auf die geradezu gigantische sowjetische Rüstungsproduktion wirft, die damals immer mehr auf Touren kam. So verfügte die Rote Armee schon ein halbes Jahr später, mit dem Tage des Kriegsbeginnes, am 22. Juni 1941, über nicht weniger als 24.000 Panzer . . .  Die Luftstreitkräfte der Roten Armee hatten allein seit 1938 insgesamt 23.245 Kriegsflugzeuge erhalten, darunter 3719 Maschinen neuester Bauart. Fernerhin verfügte die Rote Armee über 148.000 Geschütze und Granatwerfer aller Gattungen und Systeme. . . . Die Sowjetarmee gebot damit über eine größere U‑Bootflotte als alle anderen Länder der Erde, und sie übertraf die führende Seemacht Großbritannien in der Zahl der U‑Boote um mehr als das Vierfache.

Was die sowjetischen Panzerstreitkräfte angeht, so waren sie nach dem Urteil eines kompetenten Sachverständigen, des Marschalls der Panzertruppen Polubojarov, sowohl ihrer Zahl, als auch ihrer »technischen Ausrüstung, ihrer Organisationsformen und ihrer Kampfverfahren« nach einer jeden auswärtigen Macht überlegen. Dies galt nicht nur für den unübertroffenen mittleren Panzer T 34, sondern auch für die sogenannten älteren Modelle T 26, T 28 und T 35, von denen der mittlere Panzer T 28 und der schwere Panzer T 35, in fast allen Gefechtseigenschaften und technischen Daten den deutschen Kampfpanzern III und IV deutlich überlegen waren.  . . .

Ebenso standen die seit 1940 zur Auslieferung gelangten 3719 sowjetischen Flugzeuge modernster Bauart, die Jagdflugzeuge Mig 3, das Sturzkampfflugzeug Pe 2 und das Schlachtflugzeug IL 2, von denen allein 2650 im ersten Halbjahr 1941 hergestellt worden waren, den vergleichbaren deutschen Mustern in keiner Weise nach, übertrafen sie vielmehr allein schon durch ihre Geschwindigkeit.  . . .
Schließlich war auch das Artilleriematerial der Roten Armee, einschließlich des Salvengeschützes BM‑13, der 7,6 cm Divisionskanone, der 12,2 cm Haubitze, der 15,2 cm Haubitzkanone teilweise von einer Qualität, die das Erstaunen der deutschen Führungsstellen hervorrief. Alle diese Erkenntnisse sind durch neue russische Forschungsarbeiten bestätigt und noch präzisiert worden.

Die personelle und materielle Überlegenheit der Truppen der Roten Armee am 22. Juni 1941 ergibt sich aus einem einfachen Kräftevergleich. So gehörten zu deren Bestand schon am 15. Mai 1941, wie der Generalstab an Stalin meldete, 303 Divisionen, von denen zu diesem Zeitpunkt 258 Divisionen und 165 Fliegergeschwader in offensiver Aufstellung Deutschland, Finnland und Rumänien gegenüber versammelt waren.
Die vom Generalstab der Roten Armee Stalin am 15. Mai 1941 gemeldete Gesamtstärke der Roten Armee von mindestens 375 Divisionen. … 3.550 deutschen Panzern und Sturmgeschützen standen nach russischen Angaben 14.000 sowjetische Panzer gegenüber, eine Anzahl, die bei einem Gesamtbestand von 24.000 Panzern noch niedrig gegriffen ist

Den 2500 einsatzbereiten deutschen Flugzeugen standen von insgesamt 23.245 vorhandenen sowjetischen Maschinen angeblich nur 10.000 Flugzeuge gegenüber, die, wie selbst der Reichsminister Goebbels in seinen Tagebüchern klagte, in kritischen Situationen immerhin in Erscheinung traten und der deutschen Luftwaffe zu schaffen machten.

Und den 7146 deutschen Artillerierohren gegenüber befanden sich nach russischen Angaben 37.000 von insgesamt doch 148.000 Geschützen und Granatwerfern, die die sowjetische Rüstungsindustrie an die Rote Armee abgegeben hatte.  . . . In dieser Größenordnung bestand auf seiten der Roten Armee am 22. Juni 1941 demnach eine 5‑6fache Überlegenheit an Panzern, eine 5‑6fache Überlegenheit an Flugzeugen und eine 5‑10fache Überlegenheit an Artilleriestücken. Dabei muß berücksichtigt werden, daß der Serienausstoß moderner Waffen gerade erst angelaufen und ein sprunghaftes Hochziehen der Produktionszahlen nicht nur vorgesehen war, sondern trotz der ungeheuren Einbuße an industrieller Kapazität infolge des deutschen Raumgewinnes tatsächlich schon im zweiten Halbjahr 1941 erreicht werden konnte.

Auf der materiellen Grundlage einer gigantischen und sich immer schneller entwickelnden Kriegsrüstung hatte die Rote Armee eine einseitig auf den Angriffsgedanken zugeschnittene abenteuerliche Kriegstheorie hervorgebracht. Charakteristisch für diese Lehre vom Kriege war die Aufhebung des Begriffs eines >Angriffskrieges< wie auch des eines >ungerechten< Krieges, sofern nur die Sowjetunion als Kriegspartei auftrat. Schon Lenin hatte verkündet, es komme nicht darauf an, wer als erster angreife, sondern auf die Ursachen eines Krieges, auf seine Ziele und auf die Klassen, die ihn führten. Für Lenin und Stalin war ein jeder Angriffskrieg der Sowjetunion gegen jedes beliebige Land von vornherein immer ein reiner Verteidigungskrieg ‑ und damit in jedem Falle ein gerechter und moralischer Krieg, wodurch auch der Unterschied zwischen einem Präventiv‑ und einem Gegenschlag entfiel.

Die sowjetische Kriegstheorie ging im übrigen von der Voraussetzung aus, daß Kriege heute nicht mehr erklärt werden, da jeder Angreifer das natürliche Bestreben habe, sich den Vorteil des Überraschungsmomentes zu sichern. »Überraschung wirkt lähmend«, heißt es schon in der Felddienstordnung von 1939, »daher müssen alle Kampfhandlungen unter größter Tarnung und mit größter Schnelligkeit durchgeführt werden.« Überfallartig, ohne regelrechte Kriegserklärung, waren auch die sowjetischen Angriffe auf Polen und Finnland 1939 begonnen worden. Die Kampfhandlungen sollten durch eine überfallartige Kriegsöffnung sofort in das Land des Gegners getragen und von Beginn der Feindseligkeiten an sollte damit das Gesetz des Handelns gewonnen werden.
Im Hinblick auf die Angriffsvorbereitungen im Frühjahr 1941 lassen sich die Grundsätze der sowjetischen Kriegslehre thesenartig wie folgt zusammenfassen:

1. Die RKKA (Rote Arbeiter- und Bauernarmee) ist eine >offensive Armee<.
2. Der Krieg wird immer auf feindlichem Territorium geführt und unter geringen eigenen Opfern mit der vollständigen Zerschmetterung des Gegners enden.
3. Das Proletariat im Lande des Gegners ist ein potentieller Verbündeter der Sowjetmacht und wird durch Aufstände im Rücken des feindlichen Heeres den Kampf der Roten Armee unterstützen.
4. Kriegsvorbereitungen sind Angriffsvorbereitungen, Verteidigungsvorkehrungen dienen einzig der Durchführung der Angriffsunternehmen in den Nebenrichtungen.
5. Die Möglichkeit des Eindringens feindlicher Streitkräfte in das Territorium der UdSSR ist ausgeschlossen.

Es wird zu zeigen sein, daß alle sowjetischen Maßnahmen sich an diesen Grundsätzen orientierten. Das Dogma von der Unbesiegbarkeit der Roten Armee hatte 1941 im übrigen die Bedeutung eines Gesetzes und unterlag keiner theoretischen Erörterung. Abweichungen von der offiziellen Lehre galten als Opposition gegen die Generallinie der Partei und damit Stalins und waren für den Betreffenden nahezu mit unfehlbarer Sicherheit von tödlicher Konsequenz.
In welcher Weise den Angehörigen der Roten Armee und Seekriegsflotte das Gefühl einer Unüberwindlichkeit der Streitkräfte der Sowjetunion eingeimpft worden war, darüber erhielten die Deutschen nach Kriegsbeginn vielfachen Aufschluß. So berichtete der sowjetische Oberstleutnant des Generalstabes Andrusat, (39. Schützenkorps), der Gelegenheit gehabt hatte, auf die deutsche Seite überzuwechseln, schon am 25. April 1941 von einer massiven Propagandaeinwirkung, die tiefe Spuren in der Truppe hinterlasse: »Die Politkommissare betonen ununterbrochen, daß der Krieg auf fremdem Gebiet stattfinden wird, nie auf eigenem . . . Die Sowjetunion wird immer siegen, da sie im Innern bei jedem Gegner unzählige Bundesgenossen hat . . . Aufgrund der Vorträge der Politkommissare hält die Rote Armee sich für die beste der Welt. Sie könne daher von niemandem geschlagen werden. Es herrscht eine ungeheuere Selbstüberschätzung.«

Immer wieder äußerten sich sowjetische Offiziere auch nach Kriegsbeginn in derselben Weise. Major Filippov (29. Schützenkorps) etwa berichtete am 26. Juni 1941 von der in der Truppe »vorherrschenden Meinung, daß die Rote Armee nicht zu schlagen sei«. Dies entsprach dem, was Oberst Ljubimov und Major Michajlov (beide 49. Panzerdivision) am 4. August 1941 zum Ausdruck brachten, als sie von der »in vollem Umfange vorhandenen Überzeugung« sprachen, »daß die Rote Armee auf das Allerbeste ausgerüstet und ausgebildet und dadurch unbesiegbar sei«. Auch Major Ornugkov (11.Panzerdivision) war »fest davon überzeugt, daß die russische Armee nicht zu schlagen sei«. Er erklärte am 6. August 1941: »Nach der für die Rote Armee entwickelten Propaganda konnte das russische Volk auch das größte Vertrauen zu seiner Wehrmacht haben. Militärzeitschriften, Presse, Kino und Rundfunk betonen immer wieder den gewaltigen Ausbau der Panzer‑ und Luftwaffe.
Und immer stand im Hintergrund, was der als »ungewöhnlich intelligent« geschilderte Leutnant Il’jin (vom Stabe des Schützenregimentes 964 der 296. Schützendivision), ein Student der Philologie, seinen deutschen Vernehmern am 3. Januar 1942 zutreffend bestätigte: »Man habe in Rußland bis in die ersten Kriegsmonate hinein noch stark mit dem Ausbruch innerdeutscher Unruhen gerechnet.« . . .

Stalin hielt eine Auseinandersetzung mit Deutschland seit Frühjahr 1940 für unvermeidlich, und im Bewußtsein der wachsenden Stärke der Roten Armee und der sich verschlechternden Lage des Reiches nahm er die Ausmusterung der Absolventen der Militärakademien am 5. Mai 1941 zum Anlaß, um vor der Führung der Armee zu verkünden, daß angesichts der inzwischen erreichten Überlegenheit der Sowjetarmee nunmehr der Zeitpunkt gekommen sei, um, so wörtlich, »von der Verteidigung zur Kriegspolitik von Angriffsoperationen überzugehen«.

Welche Bedeutung dieser Rede Stalins für die von ihm gehegten aggressiven Absichten zukommt, geht allein schon aus der Tatsache hervor, daß seine Worte der Öffentlichkeit entgegen sonstigen Gepflogenheiten vorenthalten wurden und der Text seiner Rede in zentralen Parteiarchiven verschwand. Stalinistische Desinformatoren wie der berüchtigte General Golikov und der Journalist Bezymenskij hatten frühzeitig irreführende Versionen in Umlauf gesetzt, die Eingang besonders in der westdeutschen Geschichtsschreibung fanden und hier als Beweis für die angeblich friedfertigen Absichten Stalins herhalten mußten.
Unser bisheriges Wissen um die aggressiven Absichten Stalins findet denn auch schon in dieser Kurzfassung vollauf eine Bestätigung . . .  und es blieb dem Bonner Historiker Alexander Fischer vorbehalten, in einem Gedenkartikel der renommierten FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, anläßlich der fünfzigsten Wiederkehr des Tages des Angriffs auf die Sowjetunion, die irreführende Version Bezymenskijs als letzte Erkenntnis einer in Bewegung geratenen Geschichtsschreibung in Rußland zu präsentieren. Kriegsgefangene sowjetische Offiziere hatten den Deutschen schon bald nach Kriegsbeginn ziemlich einhellig hierüber Aufschluß gegeben.

Der erste bekannte Hinweis auf den Inhalt der Stalinrede findet sich in den Akten am 15. Juli 1941, als der Kommandeur der 53. Schützendivision, Oberst Bartenev, berichtete, Stalin habe auf einem Bankett im Kreml den Toast eines Generalmajors auf die Friedenspolitik sofort zurückgewiesen und erwidert: »Nein, Kriegspolitik!«
Sechs junge Offiziere verschiedener Divisionen sagten am 20. Juli 1941 übereinstimmend aus: »Bei der Entlassung der Generalstabsoffiziere aus der Kriegsschule im Mai dieses Jahres sagte Stalin u. a.: >Ob Deutschland will oder nicht, der Krieg mit Deutschland kommt<.«

Der Oberbefehlshaber der 32. Armee gab die »kurz vor Beginn des Krieges, gelegentlich eines Empfanges der Absolventen der Kriegsakademie« von Stalin gehaltene Rede im Oktober 1941 in der Weise wieder, daß dieser die große technische Überlegenheit der Roten Armee über die »sogenannt unbesiegbare deutsche Wehrmacht« hervorgehoben und erklärt habe, »es sei eine falsche Ansicht, die deutsche Armee für unbesiegbar zu halten. Indirekt ging aus Stalins Worten hervor, daß ein Angriff auf Deutschland geplant war«.

Sehr genau erinnerte sich zudem einer der Absolventen, Oberleutnant Kurilskij, noch am 24. März 1942 der am 5. 5. 18.00 Uhr im Sitzungssaal des Obersten Sowjet im Kreml, Moskau, vor den Absolventen der Kriegsakademien gehaltenen Stalinrede. Demnach habe Stalin gesagt: »Die deutsche Wehrmacht ist nicht unbesiegbar. Sowjet‑Rußland hat bessere Panzer, Flugzeuge und Artillerie als Deutschland und in größerer Zahl. Darum werden wir früher oder später gegen die deutsche Wehrmacht kämpfen.«

Die Kernpunkte der Stalinrede vom 5. Mai 1941 finden eine Bestätigung auch in Unterredungen, die Botschaftsrat Gustav Hilger am 18. Januar 1943 mit dem Oberbefehlshaber der 3. Gardearmeee, Generalmajor Krupennikov, und am 22. Juli 1943 mit dem Artilleriekommandeur der 30. Armee, Generalleutnant Masanov, führte. Krupennik, der ebenso wie Masanov an der Veranstaltung im Kreml selbst nicht teilgenommen hatte, meinte zwar, »daß Stalin zu vorsichtig sei, um seine Pläne so offen zu verraten«, erklärte aber mit Bestimmtheit, »daß Stalin sich auf einen Krieg mit Deutschland seit Jahren systematisch vorbereitet habe und ihn unter einem geeigneten Vorwand spätestens im Frühjahr 1942 entfacht hätte . . . Das Endziel Stalins sei die Erringung der Weltherrschaft mit Hilfe der alten bolschewistischen Schlagworte von der Befreiung der Werktätigen«. Masanov dagegen zeigte sich, wie Hilger schreibt, »über die Rede Stalins auf dem Bankett im Kreml am 5. 5.1941 genau unterrichtet. Obwohl er selbst bei der Veranstaltung nicht anwesend war, zitierte er den Ausspruch Stalins über die Notwendigkeit, sich auf einen Angriffskrieg vorzubereiten, fast wörtlich und brachte anschließend die eigene Überzeugung zum Ausdruck, daß Stalin den Krieg gegen Deutschland im Herbst 1941 entfacht hätte«.

Die Deutschen waren also recht bald im Bilde. Und bereits am 18. Oktober 1941 richtete der Chef der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres, Oberst i. G. Gehlen, an den Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Oberkommando des Heeres, Rittmeister d. R. von Etzdorf, ein Schreiben, dem er die »voneinander unabhängig verfaßten Berichte« dreier kriegsgefangener sowjetischer Offiziere beifügte, die »übereinstimmend« zum Ausdruck brachten, daß Stalin am 5. Mai 1941 auf einem Bankett im Kreml »Kriegsdrohungen gegen Deutschland ausgestoßen« hatte . . .

Gehlen fügte hinzu: »Einer der drei Berichte enthielt die bemerkenswerte Äußerung, daß der mit Deutschland bestehende Friedensvertrag >nur eine Täuschung und ein Vorhang sei, hinter dem man offen arbeiten könne<.« Oberst i. G. Gehlen nahm Bezug auf Äußerungen gefangengenommener Sowjetoffiziere in einer anderen Quelle, nach denen Stalin im Mai 1941 Pläne gegen Deutschland geschmiedet und einem Kreise von Offizieren gegenüber geäußert habe, jetzt oder nie sei die Gelegenheit, den Kapitalismus zu liquidieren, der Hauptgegner in diesem Kampf werde Deutschland sein.

Der alarmierende Inhalt der Stalinrede ist durch Veröffentlichungen des Botschaftsrates Hilger und des britischen Korrespondenten in Moskau Alexander Werth in den Jahren nach dem Kriege aber längst auch einem breiteren Publikum bekanntgeworden. . . .

Nach den Informationen, die Werth nach Kriegsausbruch zugespielt worden waren, habe Stalin erklärt, es sei notwendig, den Krieg mit Deutschland bis zum Herbst hinauszuzögern, weil es für einen deutschen Angriff dann zu spät sei. Der Krieg mit Deutschland werde aber >fast unvermeidlich< 1942 stattfinden und zwar unter viel günstigeren Bedingungen. Je nach der internationalen Situation werde die Rote Armee »entweder einen deutschen Angriff erwarten, oder sie wird die Initiative zu ergreifen haben«.  . . .

Schließlich hat auch der Stalinbiograph, Generaloberst Professor Volkogonov, die Rede Stalins, die in >Kriegsdrohungen gegen Deutschland< gipfelte, in treffenden Worten wiedergegeben. Nach Volkogonov war Stalin »aufrichtig wie sonst selten und sprach über vieles, was ein Staatsgeheimnis darstellte«. Es war jedoch weniger Aufrichtigkeit als vielmehr der Alkohol, der seine Zunge gelöst hatte, nach dem russischen Sprichwort: >Was einer betrunken auf der Zunge hat, das hat er nüchtern im Kopf.< Denn wie Augenzeugen berichten, war er >in vorgerückter Stunde< bereits stark alkoholisiert. Volkogonov faßte die Rede vom 5. Mai 1941 folgendermaßen zusammen: »Der Vozd’ (Führer) machte unmißverständlich klar: Der Krieg ist in Zukunft unausweichlich. Man muß bereit sein zur >bedingungslosen Zerschlagung des deutschen Faschismus<«, »Der Krieg wird auf dem Territorium des Gegners geführt und der Sieg mit geringen Opfern errungen werden.«

Die Rede vom 5. Mai 1941, in der Stalin seine Angriffsabsichten offenbarte, bedeutete aber nur die Fortsetzung einer Rede des >Genossen Stalin< vom 13. Januar 1941 vor höheren Truppenkommandeuren und einer weiteren Rede vom 8. Januar 1941 vor höheren Luftwaffenoffizieren, beide gehalten im Zentralkomitee, die schon ganz ähnliche Gedanken verraten hatten. Dem erbeuteten Tagebuch des bei Lochvica gefallenen Majors des NKVD (im Range eines Generalmajors) Murat aus dem Stabe der 21. Armee lassen sich einige Kernpunkte entnehmen. Demnach hatte Stalin von einem >kultivierten Gegner<, nach dem damaligen Sprachgebrauch der Führung der Roten Armee also von Deutschland, und von >Angriffsoperationen< gesprochen, die beginnen könnten, wenn man eine zweifache Überlegenheit besitze.

»Eine zweifache Überlegenheit ist Gesetz, eine stärkere noch besser«, so Stalin am 13. Januar 1941: »Das Spiel nähert sich den kriegerischen Operationen.«, »Wenn 5000 Flugzeuge alles zerstören, dann kann man versuchen, über die Karpathen zu gehen.« Der Balkan stand im Frühjahr 1941 mehrfach im Mittelpunkt der sowjetischen Planungen. Und wie ungefähr man sich ein Vorgehen dachte, enthüllte bald darauf der sowjetische Bevollmächtigte Vertreter in Belgrad. »Die UdSSR wird erst im entsprechenden Moment reagieren«, so heißt es in einem Referat von ihm im Frühjahr 1941: »Die Mächte verzetteln ihre Kräfte immer mehr. Daher wird die UdSSR unerwartet gegen Deutschland antreten. Hierbei überquert die UdSSR die Karpathen, was als Signal für die Revolution in Ungarn dient. Von Ungarn aus dringen die Sowjettruppen in Jugoslawien ein, stoßen zum Adriatischen Meer vor und schneiden den Balkan und den Nahen Osten von Deutschland ab.« . . .

Das Akademiemitglied Varga, ein besonderer Protegé Stalins, erklärte in einer Rede vor der Militärpolitischen Akademie V. I. LENIN am 17. April 1941, daß, sobald aufgrund des Krieges eine >revolutionäre Krise< eintrete, die >bürgerliche Macht< geschwächt sei und das »Proletariat die Macht in seine Hände nimmt«, »die Sowjetunion dann verpflichtet ist, und sie wird es tun, der proletarischen Revolution in anderen Ländern zu Hilfe zu kommen«.
»Das sowjetische Volk vergißt nicht seine internationalen Verpflichtungen im Hinblick auf das Weltproletariat«, hatte die SOVETSKAJA UKRAINA schon am 21. Januar 1941 verkündet. Das Streben, das >Feuer der Weltrevolution< zu entfachen, verband sich hier, wie noch an anderer Stelle deutlich wird, mit dem sowjetischen Eroberungsdrang, der sich in das Propagandagewand eines revolutionären Befreiungskrieges hüllte.

Vor diesem Hintergrund ist die Rede des Genossen Stalin anläßlich der Entlassung der Hörer der Akademien der Roten Armee im Kreml am 5. Mai 1941 zu bewerten. Das eigentliche Anliegen der Ausführungen Stalins bestand darin, dem Führerbestand der Armee die Überzeugung zu vermitteln, daß die deutsche Wehrmacht nicht unbesiegbar sei, sondern von der Roten Armee jetzt geschlagen werden könne.  . . .

Die von Stalin am 13. Januar 1941 geforderte mehrfache Überlegenheit war damit auf dem für Angriffsoperationen ausschlaggebenden Panzersektor eindeutig gegeben. Die Rote Armee verfügte über eine gewaltige Streitmacht gepanzerter Stoßkräfte, die sie zu weiträumigen Angriffsoperationen befähigte. Daß sich später Mängel ergaben, war für die vor dem 22. Juni 1941 getroffenen Entscheidungen unerheblich.

Ähnlich lagen die Verhältnisse auf dem Felde der Luftwaffe. »Wir haben«, so Stalin, »in genügender Anzahl und produzieren massenweise Flugzeuge, die eine Geschwindigkeit von 600 ‑ 650 Stundenkilometern erreichen.  . . . Im Kriegsfall werden diese Flugzeuge in erster Linie eingesetzt.« Wie Stalin ausführte, hatte die deutsche Armee demgegenüber »weder hinsichtlich der Panzer, noch hinsichtlich der Artillerie, noch hinsichtlich der Luftwaffe etwas Besonderes aufzuweisen«.  . . .

Bezymenskij unterschlägt den wichtigsten Abschnitt der Veranstaltung im Kreml, der ein ungewöhnliches Vorkommnis darstellt. Als ein Generalmajor der Panzertruppen zu vorgerückter Stunde auf dem Bankett einen Toast auf die friedliche Stalinsche Außenpolitik ausbrachte, geschah etwas Unerwartetes. Stalin erhob sich zum dritten Mal, um den General seiner gutgemeinten Worte wegen zurechtzuweisen ‑ Beweis dafür, daß dieser die entscheidende Frage berührt hatte. Stalin sagte: »Erlauben Sie mir eine Korrektur anzubringen. Die Friedenspolitik sicherte den Frieden unseres Landes, Friedenspolitik ist eine gute Sache. Wir führten bis jetzt, bis zur Gegenwart, die Linie der Verteidigung ‑ bis jetzt, solange unsere Armee nicht umgerüstet war, solange die Armee nicht mit neuzeitlichen Kampfmitteln ausgerüstet war. Aber jetzt, wo wir unsere Armee rekonstruiert haben, . . . ‑ jetzt ist es notwendig, von der Verteidigung zum Angriff überzugehen. . . . Es ist notwendig, unsere Erziehung, unsere Propaganda, unsere Agitation, unsere Presse auf den Angriffsgedanken hin umzustellen. Die Rote Armee ist eine neuzeitliche Armee, und eine neuzeitliche Armee ist eine Angriffsarmee.«

Die von den obengenannten Offizieren aller Dienstgrade mitgeteilten Kriegsdrohungen Stalins gegen Deutschland am 5. Mai 1941 finden also einen unmißverständlichen Ausdruck, ebenso übrigens wie der Wille Stalins zur Durchführung eines Angriffskrieges. Wenn die westdeutsche Zeitgeschichtsschreibung immer argumentierte, es sei nirgendwo der politische Angriffswille Stalins nachweisbar, so sei darauf hingewiesen, daß es noch weitere Belege gibt.

Aleksandr Nekric, der in jüngster Zeit die persönlichen Papiere der engsten Vertrauten Stalins, von Kalinin, Zdanov, Scerbakov, Berija und anderer in Moskau studiert hatte, macht uns auf diese Beweise aufmerksam. Demnach hat im Politbüro niemals der geringste Zweifel darüber bestanden, daß die Sowjetunion zu einem geeigneten Zeitpunkt einen Angriffskrieg gegen Deutschland eröffnen werde. Das politische Ziel der Sowjetunion ist in diesen Kreisen in einer Reduzierung der >kapitalistischen Welt< und in einer Ausdehnung der >sozialistischen Zone< gesehen worden, die mit der Sowjetunion gleichgesetzt wurde.

In diesem Zusammenhang soll Kalinin angeführt werden, Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjet und damit Staatsoberhaupt der UdSSR, einer der ergebensten Spießgesellen Stalins, der auch den Erschießungsbefehl für die 15.000 polnischen Offiziere von Katyn mitunterzeichnet hatte. Kalinin hielt am 20. Mai 1941 eine Rede vor Funktionären des Obersten Sowjet, in der er die Grundidee der sowjetischen Außenpolitik bekräftigte: Im Falle der gegenseitigen Erschöpfung der kapitalistischen Staaten entsprechend der Stalindoktrin von 1925 mit unverbrauchten Kräften in den Krieg einzutreten und zum Schluß die eigenen Bedingungen zu diktieren. Zwar war dieses Konzept 1940 vorerst durchkreuzt worden. Aber Kalinin fuhr fort, Kommunisten sollten sich nicht mit Fragen der Friedensbewahrung befassen, sondern »vor allem an der Frage interessiert sein, welchen Vorteil die Kommunistische Partei aus Ereignissen ziehen könne, die nur einmal in fünfzig Jahren stattfinden«. Er sagte des weiteren wörtlich: »Krieg ist ein sehr gefährliches Geschäft, mit Leiden verbunden«, aber zu einem Zeitpunkt, »wo es möglich ist, den Kommunismus auszudehnen«, sollte ein Krieg »nicht außer Betracht bleiben«.

Kalinin drückte seine Genugtuung darüber aus, daß es der Sowjetunion gelungen war, »die Zone des Kommunismus ein wenig auszudehnen, und zwar unter verhältnismäßig geringen Einbußen«. Und er fügte hinzu, die Ausdehnung der Zone des Kommunismus müsse fortgesetzt werden. Am 5. Mai 1941 hatte Stalin den Angriffsgedanken einer breiten militärischen Öffentlichkeit verkündet. Und Kalinin stand nicht allein, als er ihn am 20. Mai 1941 ebenfalls vor einem offiziellen Gremium auf seine Weise kommentierte. Auch Zdanov und andere Mitglieder des Politbüros haben sich in ihren Reden aus dieser Zeit rückhaltlos zu der aggressiven Zielsetzung der Politik Stalins bekannt.

2. Der Angriff Hitlers kam Stalin zuvor


Stalin hatte am 5. Mai 1941 offiziell die geistig‑propagandistische Umstellung der Roten Armee auf den Angriffsgedanken gefordert und die große Überlegenheit der Roten Armee gerühmt, nicht aber die eigentliche Frage einer operativen Vorbereitung des Angriffskrieges gegen Deutschland berührt, was vor dem Auditorium der Versammlung im Kreml auch nicht gut möglich war. Die militärischen Vorbereitungen waren jedoch längst angelaufen. So hatte die Rote Armee, wie der spätere Chef des Generalstabes, Marschall der Sowjetunion Zukov, zugestehen muß, schon im Jahre 1940, also lange vor dem deutschen Aufmarsch, eine Offensivaufstellung in den exponierten Frontbogen bei Bialystok und Lemberg eingeleitet. Eine Konferenz hoher Befehlshaber der Roten Armee unter dem Vorsitz des Volkskommissars der Verteidigung, Marschall der Sowjetunion Timosenko, hatte im Dezember 1940 den Beschluß gefaßt, einen künftigen Krieg als Offensivkrieg zu führen. Im Januar 1941 erbrachten zwei großangelegte Stabsmanöver des hohen Führerbestandes der Roten Armee erste Erkenntnisse für die Durchführung eines Angriffskrieges gegen Deutschland. Durchgespielt worden war einmal eine Offensive starker sowjetischer Kräfte aus dem baltischen Raum heraus zur Eroberung von Ostpreußen und Königsberg, zum anderen eine Offensive überwältigender Kräfte aus dem Raum um Brest heraus und über die Karpathen hinweg in südwestlicher Stoßrichtung zur Eroberung von Südpolen, der Slowakei und Ungarn.

Zehn Tage nachdem Stalin dann seine Kriegsdrohungen ausgestoßen hatte, am 15. Mai 1941, überreichte der Chef des Generalstabes der Roten Armee, Armeegeneral Zukov, dem >Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR Genossen Stalin< im Beisein des Volkskommissars der Verteidigung, Marschall Timosenko, den gemeinsam von ihnen unterfertigten Plan für einen Angriffskrieg gegen Deutschland unter dem unverfänglichen Titel »Erwägungen zum strategischen Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion für den Fall eines Krieges mit Deutschland und seinen Verbündeten«. Der Stellvertretende Chef der Operationsabteilung des Generalstabes, Generalmajor Vasilevskij, hatte dieses der größten Geheimhaltung wegen nur in einem Exemplar vorhandene Dokument handschriftlich in die Reinschrift übertragen und es persönlich im Empfangsraum Stalins im Kreml Zukov übergeben.

Dieser Plan für einen Angriffskrieg gegen Deutschland, den der Kandidat der Geschichtswissenschaften, Oberst Valerij Danilov, unter Beiwirkung des Universitätsdozenten Dr. Heinz Magenheimer von der Landesverteidigungsakademie in Wien in der renommierten ÖSTERREICHISCHEN MILITÄRISCHEN ZEITSCHRIFT veröffentlicht und eingehend kommentiert hat, ist die Quintesenz noch anderer Projekte, die der Generalstab im Frühjahr 1941 für einen Angriff gegen Deutschland ausgearbeitet hatte.  . . .

Inhaltlich übereinstimmend ist das >Angriffscredo< des Generalstabsplanes vom 15. Mai 1941 auf jeden Fall mit den »Erwägungen zum Plan eines strategischen Aufmarsches der Streitkräfte der Sowjetunion«, den Oberst Karpov in der Zeitschrift KOMMUNIST im Jahre 1990 auszugsweise abgedruckt hat und der von der Wochenschrift DER SPIEGEL 1991 als Zukovs Angriffsplan vorgestellt worden ist mit dem vielsagenden Untertitel »Wie der Generalstabschef der UdSSR im Mai 1941 Hitler zuvorkommen wollte«.

Das Verdienst Oberst Danilovs besteht darin, daß er den sowjetischen Angriffsplan vollständig veröffentlicht und umfassend kommentiert hat, dabei überaus beweiskräftige Einzelheiten der militärischen Vorbereitungen ausbreitend.  . . .

Worin bestanden nun die Einzelheiten des Generalstabsplanes? Das oben erwähnte kurze >Angriffscredo< lautete folgendermaßen: »Wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland sein Heer mit eingerichteten Rückwärtigen Diensten mobil gemacht hält, so kann es uns beim Aufmarsch zuvorkommen und einen Überraschungsschlag führen. Um dies zu verhindern und die deutsche Armee zu zerschlagen, erachte ich es für notwendig, dem deutschen Kommando in keinem Falle wie auch immer die Initiative zu überlassen, dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und die Deutsche Armee in dem Moment anzugreifen, wenn sie sich im Stadium des Aufmarsches befindet und noch nicht in der Lage ist, eine Front aufzubauen und das Zusammenwirken der Waffengattungen zu organisieren.« …

Erstes strategisches Ziel nach dem Generalstabsplan war die Vernichtung der Hauptkräfte der deutschen Wehrmacht südlich der Linie Brest-Deblin und das Erreichen der Linie Ostroleka‑Narew‑Lodz‑Kreuzburg-Oppeln‑Olmütz innerhalb von 30 Tagen. Zweites strategisches Ziel war die Fortsetzung der Offensive aus dem Raum um Kattowitz heraus nach Norden und Nordwesten, um auch die Kräfte des linken deutschen Flügels zu zerschlagen und ganz Polen und Ostpreußen in Besitz zu nehmen. Der Hauptstoß sollte mit Kräften der Südwestfront aus dem Lemberger Frontbogen heraus geführt und das deutsche Heer von seinen südlichen Verbündeten abgeschnitten werden. …

Gegen Finnland und Ostpreußen, ebenso wie gegen Rumänien und Ungarn sollte zunächst eine aktive Verteidigung organisiert, im Süden aus den Räumen um Czernowitz und Kisinev heraus alsdann aber ein Angriff gegen Rumänien zur Einnahme von Jasi und zur Zerschlagung des linken Flügels der rumänischen Armee geführt werden.  . . .

Der Generalstabsplan vom 15. Mai 1941 bedeutete in einem zentralen Punkt ein Abgehen von der bisherigen Lehre: Denn nicht mehr sollte ein feindlicher Angriff mit einem vernichtenden Schlage beantwortet werden, sondern mit einem vernichtenden Schlag sollte die Rote Armee einem feindlichen Angriff zuvorkommen, der zu diesem Zeitpunkt freilich noch insofern rein hypothetisch war, als die gepanzerten Stoßkräfte des deutschen Ostheeres überhaupt erst seit dem 3. Juni 1941 an der Ostgrenze aufmarschierten. Da dieser große Vernichtungsschlag dazu bestimmt war, wie Kalinin am 20. Mai 1941 verraten hatte, um »die Ausdehnung der Zone des Kommunismus«, das heißt um die Ausdehnung der Macht der Sowjetunion, war es demnach ein reiner Angriffs‑ und Eroberungskrieg, nicht aber ein Präventivkrieg, der hier vorbereitet wurde, so wie Hitler ‑ obwohl aus anderen Beweggründen ‑ einen Angriffskrieg plante. Es ist dies unabhängig davon, daß ein deutscher Aufmarsch zum Anlaß genommen wurde und es sich auch als notwendig erwies, die Angriffsvorbereitungen, das Zusammenziehen und den Aufmarsch der Truppen der Roten Armee, vorübergehend durch eine örtliche Verteidigung zu decken. . . .

Der Generalstab hatte auf Weisung Stalins hin schon am 13. Mai 1941 unter strengster Geheimhaltung vier Armeen aus dem Landesinnern in die Grenzrayone in Marsch gesetzt, denen im Juni weitere Armeen folgten. Es handelte sich um die 16., 19., 20., 21., 22., 24., 28., insgesamt also um sieben Armeen sowie um das 21. und 23. mechanisierte Korps und das 41. Schützenkorps. Diese gewaltige Truppenverschiebung vollzog sich unter dem Schirm der von Stalin inspirierten Dementis. So wandte sich die Nachrichtenagentur TASS am 15. Mai 1941 gegen die Gerüchte über starke Truppenkonzentrationen mit der geradezu entwaffnenden Behauptung, besserer Unterkunftsverhältnisse wegen sei eine einzige Division von Irkutsk nach Novosibirsk verlegt worden. Am 13. Juni 1941 bezeichnete TASS Gerüchte über Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland als »erlogen und provokatorisch«, die Einberufung von Reserven und die bevorstehenden Manöver dienten allein der »Ausbildung« und der »Kontrolle des Eisenbahnapparates«. Zu diesem Zeitpunkt war nach späteren deutschen Feststellungen schon »fast die gesamte verfügbare Streitmacht der SU in einer Monate dauernden Bewegung aus dem Innern Rußlands an die deutsche Ostfront herantransportiert worden«. Anders hätten vor der deutschen Heeresfront auch kaum Großverbände in einer Anzahl auftreten können, die nach dem Feindlagebericht der Panzergruppe 4 vom 10. August 1941 330 sowjetische Divisionen betrug. Eine solche Truppenmassierung mußte nach Überzeugung des Generalstabes des Heeres eben lange vor Kriegsbeginn eingeleitet worden sein, zumal wenn man die »Weitläufigkeit der Gebiete« und die »schwierigen Transportverhältnisse« in der Sowjetunion berücksichtigt.

»Daß die Sowjetunion zu einem Offensiv‑Krieg gegen das Deutsche Reich vorbereitet war«, ergibt sich aber auch aus der Art der Aufstellung der Truppen, der eigentlichen »Schlachtordnung«, wie ein von dem Chef der Abteilung Fremde Heere Ost des Generalstabes des Heeres, Generalmajor Gehlen, am 9. September 1943 unterfertigtes Memorandum »Belege für russische Angriffsabsichten gegen Deutschland (personelle Kriegsbereitschaft und Aufmarsch)« mit Nachdruck betont. So waren starke Kräfte vorzugsweise in den weit in deutsches Gebiet hineinragenden Frontbögen bei Bialystok und Lemberg zusammengezogen worden. »Diese beiden Schwerpunkte lassen deutlich die Absicht erkennen, durch Vorstoß in allgemeiner Richtung Litzmannstadt (Lodz) die in dem vorspringenden Teil des Generalgouvernements stehenden deutschen Kräfte einzukesseln und zu vernichten und bei günstiger Entwicklung der Lage im Norden durch Vorstoß in Richtung Elbing Ostpreußen vom Reich abzutrennen.« Dabei war das volle Ausmaß des Generalstabsplanes vom 15. Mai 1941 hier noch nicht einmal entfernt richtig erkannt worden. . . .

Auch die geheime Konzentrierung der Luftstreitkräfte, der Ausbau der Bodenorganisation und der Aufbau der Rückwärtigen Dienste waren am 22. Juni 1941 schon fast vollendet. Der Generalstab der Roten Armee hatte »in unmittelbarer Nähe der Staatsgrenzen die kampfstärkste Angriffsgruppierung an Fliegerkräften« der gesamten bisherigen Luftkriegsgeschichte versammelt und zu diesem Zweck seit Frühjahr 1941 in dieser Zone ein dichtes Netz operativer Flugplätze angelegt. Und dies folgerichtig vorzugsweise in den Frontbögen von Bialystok und Lemberg, aus denen heraus entsprechend dem Generalstabsplan vom 15. Mai 1941 die großen Überraschungsschläge der Westfront und der Südwestfront erfolgen sollten. Eine vom deutschen Luftwaffenführungsstab im Kriege angefertigte Karte läßt die Massierung sowjetischer Flugplätze in den beabsichtigten Hauptstoßrichtungen auch überaus eindrucksvoll in Erscheinung treten. So wurden westlich der Linie Wilna‑Kovel’ mindestens 142 und westlich der Linie Luck‑Czernowitz mindestens 260 sowjetische Flugplätze festgestellt. Auffällig war auch die Massierung von Flugplätzen im Baltikum sowie Rumänien gegenüber. Die sowjetischen Luftstreitkräfte hatten schon zwischen 1937 und 1940 im übrigen genaue Zielbeschreibungen über eine große Anzahl deutscher Städte mindestens bis hin zur Linie Kiel‑Celle‑Erfurt ausgearbeitet – für den Luftwaffenführungsstab war dies »ein eindeutiger Beweis« für die methodischen Kriegsvorbereitungen der Roten Armee schon in diesen Jahren.
Deutliche Angriffsabsichten verriet auch das Vorziehen aller Materialressourcen der Streitkräfte unmittelbar an die westliche Staatsgrenze. Riesige Depots für Munition, Waffen und Gerät, Treibstoff, Verpflegung und sonstige Versorgungsgüter, für alle Mobilmachungsvorräte, waren, wie Oberst Danilov es formuliert, praktisch im Wirkungsbereich des feindlichen Feuers angelegt worden ‑ sogar Eisenbahnschienen lagen bereit. So sind beispielsweise allein in Brest‑Litovsk 10 Millionen Liter Betriebsstoff in deutsche Hand gefallen ‑ »untrügliches Anzeichen für Offensivplanungen«, weil diese Benzinmengen unmittelbar an der Grenze und noch vor den aufmarschierten Verbänden des 14. mechanisierten Korps gelagert waren. »Alle Maßnahmen«, so schrieb der damalige Chef der Verwaltung für Nachrichtenwesen des Volkskommissariates der Verteidigung, Generalmajor Gapic, aus der Kenntnis seines Sachbereiches, »waren darauf gerichtet, Brückenköpfe zu schaffen und vorzubereiten, um einen Schlag auf den Gegner zu führen und den Krieg in feindliches Territorium zu tragen.«

Ein untrügliches Indiz für großangelegte Angriffsplanungen bildete fernerhin die Kartenausstattung der Truppen der Roten Armee. Den deutschen Truppen ist an verschiedenen Stellen im grenznahen Bereich, aber auch im tieferen Hinterland Kartenmaterial in die Hände gefallen, das weit nach Westen, in den deutschen Raum, hineinreichte, und ebenso reichhaltige Unterlagen, die über Deutschland aufklärten. Solche Kartenfunde wurden in Kobryn, in Dubno, in Grodno, aber auch an vielen anderen Stellen gemacht. Noch im Oktober 1941 erbeutete das XXIV. Panzerkorps eine Karte von Litauen und Ostpreußen, eine »anscheinend operative Studie: Angriff auf Ostpreußen«. … Große Mengen von Übungsaufgaben für Generalstabsoffiziere und Vortragsunterlagen über Deutschland wurden ebenfalls gefunden. Auf einem nicht näher bezeichneten Truppenübungsplatz wurden Mob.‑Karten der Roten Armee gefunden, die ausschließlich Südlitauen, die ehemaligen polnischen Gebiete und Teile Ostpreußens darstellen. Aus diesen Karten wird die Absicht der Roten Armee, das Deutsche Reich zu überfallen, erneut erhärtet.

Am 23. Juli 1941 bezeugte auch Hauptmann Bondar, Chef des Stabes des Schützenregimentes 739 der 213. Schützendivision, daß »die Rote Armee sich gar nicht auf eine Verteidigung, sondern auf einen Angriff gegen das Generalgouvernement eingestellt habe«. Ebenso wie anderen Teilen der Roten Armee seien auch seinem Regiment »bereits Karten bis einschließlich Krakau zugewiesen« worden. »Durch den überraschenden Vorstoß der Deutschen seien alle diese Pläne über den Haufen geworfen worden.« Eine solche Kartenausstattung der Roten Armee ist in der Tat umso verräterischer, als es den sowjetischen Truppen durchweg an Kriegskarten gebrach, nachdem sich die Operationen wider Erwarten plötzlich östlich der Staatsgrenze auf eigenem Gebiet abspielten. Wie verläßliche Zeugen, so Oberst Ljubimov , Artilleriekommandeur der 49.Panzerdivision und langjähriger Taktiklehrer an der Artillerieakademie in Moskau, Oberst Ovanov, Chef des Stabes der 46.Schützendivision, Major Kononov, Kommandeur des Schützenregimentes 436 der 155.Schützendivision, aber auch der ebenso charaktervolle wie kluge Sohn Stalins, Oberleutnant Dzugasvili, vom Haubitzenartillerieregiment 14 der 14. Panzerdivision, aussagten, war der Kartenmangel in den Verbänden tatsächlich so gravierend, daß die Kampfführung durch ihn ernstlich behindert wurde. Der unlängst verstorbene Ordinarius für Osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz, Professor Dr. Gotthold Rhode, seinerzeit Dolmetscher im Stabe der 8. Infanteriedivision, fand am 23. Juni 1941 im Stabsgebäude der sowjetischen 3. Armee in Grodno, wie er in seinem Tagebuch vermerkte, »in einem Raum Stöße von Karten Ostpreußens, hervorragend gedruckt, im Maßstab 1 : 50.000, viel besser als unsere eigenen Karten. Ganz Ostpreußen war abgedeckt«. Wieso, so fragte er damals, braucht die Rote Armee »gleich jeweils Hunderte von Karten des Nachbarlandes«?

»Unbegreiflich bleibt eines«, so Rhode in unseren Tagen, »wenn Stalin den eigenen Angriffskrieg nicht schon im späteren Sommer 1941 wollte ‑ wieso steckte er dann den Sack von Bialystok so voll mit Divisionen, die für eine Verteidigung viel zu zahlreich waren? Oder wollte er gar als der Angegriffene, der Überfallene, dastehen, der schnell zurückschlagen konnte, und hat sich nur bei der Kräfteabwägung verkalkuliert?«

Für sowjetische Angriffsabsichten spricht auch die Tatsache, daß Kriegsspiele, Stabsübungen und dergleichen mehr grundsätzlich offensiv waren und Angriffscharakter trugen. Selbst im Divisionsrahmen, so der 1. Ordonnanzoffizier der 87. Schützendivision, Oberleutnant Filipenko, wurde »fast ausschließlich Angriff mit Unterstützung von Artillerie und Kampfwagen« geübt. Am 24. Mai 1941 überwachte die deutsche Funkaufklärung im Grenzgebiet bei Grodek eine Übung unter Beteiligung von Panzereinheiten: »Angriff auf das Land N«, womit Deutschland gemeint war. Oberstleutnant Kovalev, zuletzt Kommandeur der 223. Schützendivision, sowie Hauptmann Pugacev, berichteten über Planspiele im Armeerahmen. Nach Kovalev wurden an der Moskauer >Kriegsakademie< Planspiele für folgende >Gegenoffensiven< angelegt: »Von Leningrad Richtung Helsinki, aus Linie Grodno-Brest‑Litovsk Richtung Ostpreußen, im Süden von der Ukraine Richtung Warschau‑Lodz mit Flankensicherung durch die Pripjetsümpfe und die Karpathen«.
Aufschlußreicher noch waren die Angaben Pugacevs über ein Planspiel vom 18. bis 21. März 1941: »Die 3. Armee hatte den Auftrag, über Augustow nach Suwalki vorzustoßen. 4. und 10. Armee hatten den Auftrag, auf Warschau und Litzmannstadt (Lodz) vorzustoßen. Dieser Auftrag sollte in 14 Tagen erledigt sein. Die in Litauen stehenden Truppen sollten die Grenzen nach Ostpreußen halten und, sobald die südlichen Armeen die genannten Aufgaben erfüllt haben, in Ostpreußen einmarschieren.«
Das Heranschieben der Hauptkräfte der Roten Armee nach Westen und an die Staatsgrenze war unter strikter Geheimhaltung vonstatten gegangen, konnte natürlich aber nicht völlig verborgen bleiben. Nur das tatsächliche Ausmaß dessen, was sich östlich der deutsch‑sowjetischen Grenze vorbereitete, war den Deutschen unbekannt. Eine wenig förderliche Rolle in dieser Hinsicht hat die deutsche Botschaft in Moskau gespielt, in Sonderheit sowohl der Militärattaché, Generalleutnant Köstring, als auch der Marineattaché, Kapitän zur See von Baumbach, die sich beide als wenig unterrichtet zeigten. Baumbach schrieb desorientierende Berichte nach Berlin, die anscheinend selbst den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Dr. h. c. Raeder, veranlaßten, bei Hitler gegen das Unternehmen >Barbarossa< vorstellig zu werden, weil er in der Sowjetunion keine Gefahr zu erblicken vermochte. Denn Baumbach war bestrebt gewesen zu suggerieren, die »militärische Unterlegenheit der Sowjetwehrmacht gegenüber Deutschland« sei so groß, daß sie selbst bei »anstrengendster ungestörter Arbeit« auch in Jahren nicht behoben werden könne. Mindestens ein Jahrzehnt sei erforderlich, »bis die sowjetischen Rüstungen ein gewichtiger Faktor neben der deutschen Wehrmacht geworden sind«. Infolgedessen, so die absurde Folgerung, sei die Sowjetunion, selbst bei »jahrelanger Dauer des derzeitigen Krieges nicht in der Lage, der deutschen Kriegführung in den Rücken zu fallen«.

Verwirrung stiftete die Berichterstattung Köstrings, der aus mangelnder Unterrichtung falsche Schlüsse zog. Als im März 1941 die Frage einer operativen Verwendung sowjetischer Panzerverbände auftauchte, setzte Köstring, der anstelle von 24.000 nur von einer Gesamtzahl von rund 6.000 Panzern ausging, in einer >persönlichen Orientierung Nr.4< auseinander, dieser Panzerbestand reiche im wesentlichen nur zur Ausstattung von 200 Infanteriedivisionen mit je einer Panzerabteilung zu 30 Panzern aus, so daß die Bildung selbständiger operativer Panzerverbände daneben kaum noch möglich sein werde. Unter dem Einfluß solcher Berichte wurde vom Oberkommando des Heeres mit der Verwendung starker Panzerverbände zu weiträumigen Angriffsoperationen nicht gerechnet, die Panzerwaffe vielmehr weiterhin vorzugsweise als Hilfswaffe der Infanterie angesehen, wenngleich Panzerangriffe mit begrenzten Zielen und Gegenangriffe gegen durchgebrochenen Feind als durchaus denkbar erschienen.
Da die Deutschen vor dem 22. Juni 1941 das Bestehen von Rund 100 Panzer‑ und motorisierten Divisionen nicht erkannt hatten, sie vielmehr nur sieben Panzerdivisionen und 38 motorisierte mechanisierte Brigaden voraussetzten, zeigten sie sich nach Kriegsbeginn sehr überrascht über die Masse der Panzerdivisionen, die ihnen mit einem Male gegenüberstanden.

Es »stellte sich bald heraus, daß der Russe weit mehr Verbände zur Verfügung hatte, als vor Beginn des Ostfeldzuges vom OKH angenommen war«, vermerkte die 1. Panzerarmee am 19. Dezember 1941. »Im gesamten Abschnitt war der Feind offenbar doch stärker als im Anfang der Operation angenommen wurde«, so die Panzergruppe 3 schon am 23. Juni 1941. Das Erstaunen bezog sich dabei nicht nur auf die Panzer‑ und Flugzeugzahlen, die alle Erwartungen übertroffen hatten, sondern auch auf die Güte der sowjetischen Waffen und des Gerätes. Teilweise fand sogar die sowjetische Führung ein lobenswertes Wort, wurde sie doch etwa in der Feindbeurteilung der Panzergruppe 3 vom 8. Juli 1941 als »äußerst geschickt, energisch tätig und zielbewußt« dargestellt.
Das Eingeständnis einer krassen Unterschätzung der Roten Armee findet sich selbst in den Tagebüchern von Goebbels, der unter dem 19. August 1941 rückblickend notierte: »Wir haben offenbar die sowjetische Stoßkraft und vor allem die Ausrüstung der Sowjetarmee gänzlich unterschätzt. Auch nicht annähernd hatten wir ein klares Bild über das, was den Bolschewisten zur Verfügung stand. Daher kommen auch unsere Fehlurteile…« Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda verbreitete sich darüber, wie schwer Hitler ohnehin der Entschluß zum Angriff auf die Sowjetunion gefallen sei, und er fügte hinzu: »Wenn aber die Sorgen, die bei unserer falschen Einschätzung des bolschewistischen Potentials vom Führer getragen werden mußten, schon so groß waren und … so schwer an seinen Nerven zerrten, wie wäre es erst in dem Falle gewesen, daß wir uns über die ganze Größe der Gefahr klar geworden wären!« Hitler, so fügte Goebbels hinzu, sei jetzt sehr ungehalten darüber, »daß er sich durch die Berichte aus der Sowjetunion so über das Potential der Bolschewisten hat täuschen lassen. Vor allem seine Unterschätzung der feindlichen Panzer- und Luftwaffe hat uns in unseren militärischen Operationen außerordentlich viel zu schaffen gemacht. Er hat darunter sehr gelitten. Es handelte sich um eine schwere Krise…«. Die schließlichen Erfolge der Wehrmacht ließen eine reale Lageeinschätzung freilich nicht mehr zu.
Da dem Generalstabsplan der Roten Armee bis 8. August aber schon 350 Divisionen vor der deutschen Heeresfront aufgetreten sind, wird man nicht fehlgehen in der Annahme, daß bereits am Tage des Kriegsbeginnes annähernd 300 sowjetische Divisionen im näheren oder weiteren Abstand von der Staatsgrenze versammelt gewesen sein müssen. Das Oberkommando des Heeres hatte bis 17. Juni 1941 nur 182 Divisionen (einschließlich 7 Panzerdivisionen) auf sowjetischer Seite erkannt, ja Hitler sprach in seiner Proklamation vom 22. Juni gar nur von »160 sowjetischen Divisionen an unserer Grenze«, schon diese Größenordnung in seinen Augen somit ein bedrohlicher Faktor. Obwohl man also nur unzutreffende Vorstellungen von dem wirklichen Umfang und der offensiven Stoßkraft des sowjetischen Angriffsheeres hatte, war der Aufmarsch auch in seiner nur angenommenen Gestalt schon Gegenstand sorgfältiger Erwägungen gewesen. Nicht zuletzt aus politischen Gründen wurden die sowjetischen Maßnahmen im allgemeinen zwar als defensiv eingeschätzt. Gleichwohl brach sich der erkannten Kräftebereitstellung wegen seit Frühjahr 1941 immer wieder die Sorge vor zuvorkommenden Angriffen der Roten Armee Bahn.

Schon im März 1941, als sich die Nachrichten über eine starke Truppenverdichtung im Baltikum mehrten und von lettischen Offizieren, so von Oberst Opitis und Oberst Carlson, Äußerungen vorlagen, es würden große Manöver in der Nähe der deutschen Grenze stattfinden und der Krieg mit Deutschland würde anschließend beginnen, wurde erstmals ein »Überfall auf das Memelgebiet für möglich gehalten«. Der Chef des Generalstabes der 18. Armee gab vorbeugend Befehl zum »Halten des Brückenkopfes von Tilsit«, und er ließ dem XXVI. Armeekorps eine entsprechende Warnung zukommen. »Es ist möglich, daß der Russe wenigstens in begrenztem Ausmaße den Kampf durch Angriffe eröffnet«, so auch das Oberkommando der 16. Armee am 1. Mai und ähnlich das Kommando der Panzergruppe 3 am 30. Mai 1941: »Die schnellen russischen Verbände in unmittelbarer Grenznähe lassen es nicht unmöglich erscheinen, daß der Russe in eine deutsche Bereitstellung hineinzustoßen beabsichtigt.« 
Von April an war klar geworden, daß die Rote Armee auch »an der rumänischen Grenze genügend starke Kräfte stehen hatte, um überraschend eine Angriffsoperation zu beginnen«. Im Mai und Juni häuften sich Überlegungen, die das Zusammenziehen »starker beweglicher Kräfte« in unmittelbarer Grenznähe bei Czernowitz und in Südbessarabien und das Bereitstellen von Übersetzmitteln am Pruth mit Offensivabsichten in südlicher Richtung gegen Rumänien in Verbindung brachten.

Und wie stand es mit den markanten Frontbögen um Bialystok und Lemberg, aus denen heraus ja die Hauptangriffe geführt werden sollten? … Trotz einer wachsenden Beunruhigung in den Wochen des Mai und Juni 1941 lag ein Generalangriff aus den Räumen um Lemberg und Bialystok heraus in westlicher Richtung bis an die Oder nach Oppeln mit anschließendem Eindrehen nach Norden und mit dem erklärten Ziel einer Zerschlagung des gesamten deutschen Ostheeres und der Inbesitznahme ganz Polens und Ostpreußens und anderer Gebiete noch außerhalb des Vorstellungsvermögens der deutschen Führungsstellen.

Wenn sich zusammenfassend feststellen läßt, daß die militärischen Angriffsvorbereitungen des Generalstabes der Roten Armee bereits weit gediehen waren, so gilt dies mit noch größerer Bestimmtheit auch für die gleichzeitig angelaufenen politischen Angriffsvorbereitungen, die von der Hauptverwaltung für Politische Propaganda der Roten Armee (GUPPKA) unter Armeekommissar 1. Ranges Zaporozec getroffen wurden. Denn Stalin hatte nicht nur dem Generalstab, sondern auch der politischen Hauptverwaltung ganz bestimmte Direktiven erteilt. 

Generaloberst Volkogonov brachte sie auf folgende prägnante Formel: »Der Vozd’ (Führer) machte unmißverständlich klar: Der Krieg ist in Zukunft unausweichlich. Man muß bereit sein zur >bedingungslosen Zerschlagung des deutschen Faschismus<«.

Stalin verlangte die Ausarbeitung einer Weisung: »Die neuen Bedingungen, unter denen unser Land lebt erfordern eine revolutionäre Entschlußkraft und die ständige Bereitschaft, zu einem zerschmetternden Angriff auf den Feind überzugehen . . . Alle Formen der Propaganda, der Agitation, sind auf ein einziges Ziel zu richten ‑ auf die politische, moralische und kämpferische Vorbereitung des Personalbestandes auf die Führung eines gerechten offensiven und alles zerschmetternden Krieges . . .
Der Personalbestand ist im Geiste des aktiven Hasses auf den Feind zu erziehen und zu dem Streben, den Kampf mit ihm aufzunehmen, zur Bereitschaft, unser Vaterland auf dem Territorium des Feindes zu verteidigen und ihm einen tödlichen Schlag zu versetzen . . . «

Diese Propagandaweisung verriet ebenso den >Geist< des gleichzeitig ausgearbeiteten Generalstabsplanes wie eine weitere Weisung der Hauptverwaltung für Politische Propaganda: Es wurde in ihr an das Leninwort erinnert, daß, »sobald wir stark genug sind, den gesamten Kapitalismus niederzuwerfen, wir ihn sofort an der Gurgel packen«.  . . .

Solche Worte zu diesem Zeitpunkt lassen erkennen, worum es in Wirklichkeit ging, um die >weitreichenden Pläne der kommunistischen Ambitionen<. Der angebliche Präventivschlag war nur Anlaß und Vorwand, um Deutschland, den >Faschismus<, und damit das Haupthindernis einer eigenen Machterweiterung, aus dem Wege zu räumen. Und natürlich, angesichts so hehrer politischer Ziele wie der Weltrevolution, wie Danilov es formuliert, »galt die Entfesselung des Krieges durch die Sowjetunion gegen jedes beliebige Land vom Standpunkt Stalins aus als eine rechtmäßige, ja sogar moralische Angelegenheit«.  . . .

Schon im Mai 1941 hatte eine großangelegte Propagandakampagne eingesetzt mit dem Ziel, den gesamten Personalbestand der Roten Armee den Forderungen Stalins entsprechend politisch auszurichten. In der Weisung »über die Aufgaben der Politischen Propaganda in der Roten Armee … « steht zu lesen: … »Es ist notwendig, … dem Feind einen sehr starken blitzartigen Schlag zu versetzen, um die moralische Widerstandskraft der Soldaten rasch zu erschüttern«.  . . .

Der »Plan für die Politische Sicherung … « gab den Politarbeitern der 5. Armee genaue Anweisungen für ihre Aufgaben bei der durchzuführenden Angriffsoperation. Zu den umfassenden Propagandavorbereitungen gehörte auch die Herstellung von Zeitungen (»Auflage für die ersten Tage deutsch 50.000«) und Flugblättern sowohl für die deutschen Soldaten als auch für die polnische Bevölkerung. Entsprechende Flugblätter für die »feindlichen Truppen«, »deren Inhalt unsere Absichten verschleiert, die imperialistischen Pläne des Gegners enthüllt, die Soldaten zum Ungehorsam auffordert«, wurden schon vor Kriegsausbruch in großer Zahl bereitgehalten. So war es denn auch nicht verwunderlich, daß im Abschnitt der deutschen 16. Armee schon am ersten Kriegstag, am 22. Juni 1941, bei Sakiai in Litauen, »Flugblätter der Sowjetunion an die deutschen Soldaten« entdeckt wurden. Diese Flugblätter, so das Oberkommando der 16. Armee, »sind ein schlagender Beweis für die Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion«.

Nicht wenige Politarbeiter und Offiziere der Roten Armee haben Zeugnis abgelegt für die Wirkung der nun mit Macht einsetzenden antideutschen Kriegspropaganda. In einer Ausarbeitung POLITKOM UND POLITORG finden sich die Worte: »So wurde das Ziel der sowjetischen Propaganda kurz vor Beginn des Ostfeldzuges eindeutig. Ganz unerwartet tauchten neue Stichworte auf: Um Deutschland steht es schlecht. Mangel an allem Notwendigen . . . Stalin sieht einen zweiten Weltkrieg heraufziehen, der sich diesmal auf deutschem Boden abspielen wird.«
Der übergelaufene Kriegskommissar der 16. Schützendivision, Gorjajnov, machte am 21. Juli 1941 folgende dem Auswärtigen Amt mitgeteilte schriftliche Aussage: »Am 15. 6. 41, im Lager Gagala (Zsoland), hat an einem Ausgehtag ‑ Sonntag – der Div. Kommissar Mschawandse in einer Rede zu den Rotarmisten erklärt, daß wir auf einen Angriff Deutschlands nicht warten werden, sondern uns einen günstigen Augenblick aussuchen und Deutschland selbst angreifen werden.«

Der übergelaufene Brigadekommandeur der 7. Schützenbrigade Nikonov, bis 8. August 1941 in der Politischen Abteilung des Stabes der 13. Armee, berichtete am 23. August 1941, die Propaganda gegen Deutschland sei nach »Abschluß des Paktes offiziell gestoppt worden. Unter der Decke wurde sie jedoch uneingeschränkt weiterbetrieben, insbesondere im Führerbestand der R. A. stark genährt. Seit Mai 1941 wurde wieder überall offen gehetzt«.  . . .

Die in der Roten Armee geschürte Kriegsstimmung fand einen beweiskräftigen Ausdruck in dem von einem maßgeblichen Funktionär am 15. Juni 1941 gehaltenen politischen Vortrag vor einem prominenten Auditorium. Er wurde gehalten eine Woche vor Kriegsbeginn. Der volle Wortlaut dieser enthüllenden Propagandarede ist den deutschen Truppen am 19. Juli 1941 in der Kaserne von Buiuoani vor Chisinau in die Hände gefallen. Und dies sind einige Kernsätze: »In der letzten Zeit hat sich Deutschland durch Eroberung von Ländern ausgebreitet und aufgebläht, was nicht zu bedeuten hat, daß es dadurch lebensfähig geworden ist . . . Der Krieg zieht sich in die Länge und nimmt eine Form an, die Deutschland zu Tode schwächen wird . . . Deutschland vermag Blitzkriege zu führen, nicht aber einen Dauerkrieg. . . . Selbstverständlich schreitet Deutschland seiner Niederlage entgegen . . .«

Aus der ungünstigen politisch‑strategischen Lage Deutschlands zog dieser hohe Funktionär im Hinblick auf die Sowjetunion am 15. Juni 1941 eine Schlußfolgerung, die im Einklang stand mit den Direktiven Stalins vom Monat zuvor. Er sagte: »Die Völker der UdSSR sind gegen den imperialistischen Krieg. Wir sind für den revolutionären Krieg. Zu diesem Krieg der Revolutionen sind die Völker der UdSSR bereit. Sie kämpfen gern und sind gute Kämpfer. . . Wir sind für den gerechten Krieg. Im Interesse der Beschleunigung der Weltrevolution unterstützen wir die Völker, die für ihre Befreiung kämpfen. Die Rote Armee wird so kämpfen, daß die völlige Vernichtung des Feindes erreicht wird. . . .«

Der Hauptverwaltung für Politische Propaganda ist es in der Tat gelungen, den Weisungen Stalins entsprechend in der Roten Armee bis zum 22. Juni 1941 eine Stimmung zu erzeugen, nach der es zwischen der Sowjetunion und Deutschland unausweichlich zum Kriege kommen und die Rote Armee den ersten Schlag zu führen haben werde. Es liegen hierüber viele übereinstimmende Zeugnisse vor, von denen einige zum Beweise angeführt werden sollen. So meldete der Abschnittsstab Gotzmann (17. Armee) am 22. Mai 1941: »Russische Kommissare, die parteiamtlich eingesetzt sind (Politruk), klären die Bevölkerung dahingehend auf, daß es unbedingt einen Kampf gegen Deutschland geben müsse und die Armen gegen die Reichen kämpfen müßten.« Ebenfalls noch vor Kriegsbeginn berichtete die Panzergruppe 4 über die Aussagen eines Überläufers: »Seit Molotows Besuch in Berlin herrscht die Meinung vor, daß der Krieg zwischen Deutschland und Rußland unvermeidlich ist. Die Offiziere sagen, wenn Stalin befiehlt, wird angegriffen.«

Unzählige entsprechende Aussagen liegen aus der Anfangsphase des Krieges vor. Das IV. Armeekorps etwa meldete am 30. Juni 1941 folgendes: »Aus Gefangenenvernehmungen geht wiederholt hervor, daß die politischen Kommissare über bevorstehende russische Angriffe auf Deutschland gesprochen haben. Mit dem Hinweis, daß Deutschland im Kampf mit England geschwächt sei.« Nach den Aussagen eines ungenannten Fliegerleutnants vom 17. Juli 1941 »galt es als offenes Geheimnis, daß die Rote Armee in Deutschland einfallen werde«. Auf der Militärtechnischen Akademie in Leningrad, so Leutnant Sasonov (60. Schützendivision) am 3. August 1941, »wurde täglich gesagt, alles diene der Kriegsvorbereitung gegen Deutschland. Ein solcher Krieg müsse kommen«.
Der am 30. Mai 1941 in das 151. Medizinische Sanitätsbataillon der 147. Schützendivision für 45 Tage einberufene Militärarzt Kotljarevskij sagte am 24. September 1941 aus: »Am 7. 6. wurde das medizinische Personal versammelt und ihm vertraulich mitgeteilt, daß nach Ablauf der 45 Tage keine Entlassung bevorstehen werde, da es in kürzester Zeit zu einem Krieg mit Deutschland kommen wird.« Nach dem, was Kravcenko am 25. Juni 1941 aussagte, »wurde in der neuen Stellung von einer beabsichtigten Invasion in Deutschland gesprochen, die Rote Armee sollte dazu auserwählt sein, das deutsche Heer zu schlagen«. Und Major Klepikov (255. Schützendivision) teilte am 24. August 1941 mit, »daß schon vor dem Krieg zwar nicht offiziell, aber in ständigen Gesprächen unter den Offizieren die Vorbereitung des Krieges gegen Deutschland Tagesgespräch gewesen sei«.

Auch hohe Offiziere berichteten immer wieder von der gegen Deutschland entfachten Kriegsstimmung. Der Oberbefehlshaber der 12. Armee, Generalmajor Ponedelin, und der Kommandeur des 13. Schützenkorps, Generalmajor Kirillov, gaben am 7. August 1941 ihrer Meinung Ausdruck, die Gegensätze zwischen der Sowjetunion und Deutschland müßten »unweigerlich zu einer Auseinandersetzung führen. Man sei sich dessen bewußt, daß die ständige Drohung mit der Weltrevolution . . . Deutschland nicht gleichgültig bleiben könne«.

Und der Oberbefehlshaber der 32. Armee gab zu Protokoll: »Es war klar, daß ein Krieg gegen Deutschland erwartet wurde . . . Anscheinend sollte nach Stalins Berechnung wohl Rußland als Angreifer hervortreten, weil doch der Krieg auf fremdem Boden geführt werden soll.«


Auch der Stellvertretende Oberbefehlshaber der Volchovfront, Generalleutnant Wlassow, erklärte dem Botschaftsrat Hilger am 7. August 1942, Angriffsabsichten Stalins hätten 1941 »zweifellos bestanden . . . Die Truppenkonzentrationen in dem Bezirk von Lemberg deuteten darauf hin, daß ein Schlag gegen Rumänien in Richtung auf die Ölquellen geplant war. Die in der Gegend von Minsk versammelten Verbände waren dazu bestimmt, den unvermeidlichen deutschen Gegenstoß aufzufangen«.


Bei gleicher Gelegenheit äußerte der Kommandeur der 41. Schützendivision, Oberst Bojarskij, »daß der Kreml . . . spätestens aber im Frühjahr 1942 losgeschlagen hätte. Die Rote Armee hätte sich dann in >südwestlicher Richtung<, d. h. gegen Rumänien in Bewegung gesetzt«. 
Ähnlich ein wohl unterrichteter Funktionär aus dem Zentralen Apparat des NKVD, Zigunov, schon am 18. September 1941:
»Der Freundschaftspakt von 1939 ist abgeschlossen worden, um Deutschland in den Krieg hineinzutreiben und von seiner infolgedessen erwarteten Schwächung zu profitieren . . . Wenn Deutschland Moskau nicht zuvorgekommen wäre, hätte die Sowjetunion früher oder später angegriffen.«  . . .

Es ist gewiß auch kein Zufall, daß sowjetische Ober‑ und Stabsoffiziere, die ja nicht nur einer massiven Propagandawirkung ausgesetzt, sondern auch mit dem aktuellen Stand der Kriegsvorbereitungen einigermaßen vertraut gewesen waren, mit einem Beginn der Feindseligkeiten zwischen Juli und September 1941 rechneten. Hauptmann Krasko, Adjutant des Schützenregimentes 661 der 200. Schützendivision, erklärte etwa am 26. Juli 1941: »Im Mai 1941 wurde unter den Offizieren bereits die Meinung geäußert, daß der Krieg bereits nach dem 1. Juli beginnen würde.«


Von Major Koskov, Kommandeur des Schützenregimentes 24 der 44. Schützendivision, wurde zu Protokoll genommen: Nach Ansicht des Regiments‑Kommandeurs traf die Begründung ‑ nämlich die Räumung der Westukraine, »weil die Sowjets angeblich unvorbereitet überfallen worden seien« ‑ »keineswegs zu, weil Kriegsvorbereitungen von seiten der Sowjets seit langem getroffen wurden und die Russen in spätestens 2 ‑ 3 Wochen von sich aus Deutschland angegriffen hätten.«


Oberst Gaevskij, Regimentskommandeur in der 29. Panzerdivision, erklärte den Deutschen am 6. August 1941: »Unter den Kommandeuren ist viel über einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland gesprochen worden. Es bestand die Meinung, daß der Krieg etwa am 15.7.41 ausbrechen würde, bei welchem Rußland die Rolle des Angreifers übernehmen würde.«

Leutnant Charcenko von der 131. Schützendivision gab am 21. August 1941 an, »daß seit Frühjahr 1941 große Vorbereitungen zum Krieg mit Deutschland im Gange waren. Er meint, der Krieg wäre spätestens Ende August oder Anfang September, nach der Ernteeinbringung, ausgebrochen, wenn die Deutschen nicht zuvorgekommen wären. Die Absicht war selbstverständlich, den Krieg auf feindlichem Boden zu führen. Durch den Ausbruch des Krieges in Rußland sind die ganzen Kriegsführungspläne umgestoßen worden.«


Leutnant Rutenko, Kompaniechef im Schützenregiment 125 der 6. Schützendivision, wollte den Kriegsbeginn am 2. Juli 1941 russischerseits auf den 1. 9. 41 datieren, auf welchen Termin hin »alle Vorbereitungen getroffen« worden seien. Und Oberstleutnant Ljapin, Chef der Operationsabteilung der 1. motorisierten Schützendivision, sprach am 15. September 1941 davon, man habe mit einem sowjetischen Angriff »im Herbst 1941 gerechnet«. Auch Generalleutnant Masanov hatte, wie erwähnt, mit Bestimmtheit erklärt, »daß Stalin den Krieg gegen Deutschland noch im Herbst 1941 entfesselt hätte«.

Auffällig sind die verschiedenen Hinweise auf den August als Angriffstermin. So hatte ein ungenannter Kommandeur eines Artillerieregimentes am 26. Juli 1941 zwar erklärt, Deutschland habe »den Nichtangriffspakt einseitig gebrochen und uns überfallen«, dann aber hinzugefügt: »Ich gebe aber zu, daß die Massierung der Roten Armee an Ihrer Ostgrenze eine Bedrohung für Deutschland bedeutete . . .

«
Generalmajor Malygkin, seinerzeit Chef des Stabes der 19. Armee, hatte dem Feldmarschall Ritter von Leeb gegenüber am 11. September 1945 eine ähnliche, auch in der Zahlenangabe bemerkenswert genaue Äußerung gemacht, nämlich, »daß Rußland Mitte August mit etwa 350 ‑ 360 Divisionen angegriffen hätte«.

Der Schlüssel zum Verständnis der Offensivvorbereitungen Stalins im Frühjahr 1941 liegt in der großen »Überschätzung der Kräfte der UdSSR und der Roten Armee«, in einer »ungeheueren . . . Selbstüberschätzung«, von der sowjetische Militärs aller Grade, unter ihnen auch Marschall der Sowjetunion Vasilevskii, und russische Militärhistoriker übereinstimmend immer wieder berichten. Dieses Gefühl der eigenen Stärke war materiell auch wohl begründet, wenn man die mehrfache Überlegenheit der Roten Armee an Panzern, Flugzeugen und Artillerierohren ins Auge faßt und wenn man bedenkt, daß die industrielle Kapazität der UdSSR einen Umfang erreicht hatte, um den sowjetischen Streitkräften in kürzester Zeit »eine geradezu unvorstellbare Rüstung« zu verschaffen. Die Überlegenheit bezog sich aber nicht nur auf die materielle Ausstattung, sondern auch auf den Personalbestand und selbst auf die Führungskader. Man braucht beispielsweise nur daran zu erinnern, daß etwa das deutsche Reichsheer noch im Jahre 1935 nur über rund 4.000 Offiziere, die Rote Armee damals aber schon über rund 50.000 >Kommandeure< verfügte, die Deutschen also eine wesentlich schlechtere Ausgangslage gehabt hatten.
Woher sollten denn ihre Offiziere während der Aufrüstungsphase gekommen sein? Auch auf dem Sektor des Führungspersonals bestand eine sowjetische Überlegenheit, da, wie Oberst Filippov nachgewiesen hat, selbst der gewaltige Aderlaß der >Großen Cistka< durch die Absolventen der zahlreichen militärischen Bildungseinrichtungen, einschließlich der Akademie des Generalstabes und der Militärakademie Frunze, im Sommer 1941 bis zu einem gewissen Grade bereits wieder ausgeglichen war. Stalin rechnete zudem mit einer beginnenden Demoralisation der Truppen der Wehrmacht. Auch herrschte in Moskau die Meinung vor, im Falle eines Krieges mit der Sowjetunion würde das gegnerische Proletariat der Roten Armee zu Hilfe eilen. Es war dies zwar eine Täuschung, aber solche Illusionen haben den aggressiven Stimmungen vor dem 22. Juni 1941 weiteren Auftrieb gegeben und nicht etwa sie herabgemindert.

Das Bewußtsein der eigenen Stärke und zugleich das Wissen um die schwierige politisch‑strategische Lage Deutschlands, das ja, wie man wußte, einem Zweifrontenkrieg nicht gewachsen sein konnte, haben jenen Entschluß entstehen lassen, der im Bolschewismus im Keime seit den Zeiten Lenins angelegt war, nämlich, daß es gelte, eine einmalige historische Chance zu nutzen, um einen sogenannten >revolutionären Befreiungskrieg< zu inszenieren und die Macht des Sowjetstaates ins Unermeßliche auszudehnen, wie es ja das Symbol des sowjetischen Staatswappens drastisch vor Augen führt. Stalin und Kalinin, aber auch andere hohe Funktionäre wie Zdanov, haben den Sowjetimperialismus in ihren Reden des Frühjahrs 1941 mehrfach offen verkündet. Das Gefühl einer wachsenden Überlegenheit hatte Stalin im November 1940 veranlaßt, in Berlin Forderungen zu stellen, die dieses eine jedenfalls erkennen lassen, daß er in Deutschland schon damals eine Gefahr nicht erblickte. Die Rote Armee hatte an der Westgrenze mit überwältigenden Kräften eine offensive Aufstellung eingenommen, die auch dann nicht zur Verteidigung umgegliedert wurde, als zutage trat, daß Deutschland seinerseits einen Angriff vorbereitete.

Es ist heute zweifelsfrei erwiesen, daß Stalin über den deutschen Angriff genauestens unterrichtet gewesen war. Bemerkenswerterweise ließ auch Chruscev hierüber keinen Zweifel, als er erklärte: »Niemand, der auch nur den geringsten politischen Verstand besitzt, kann glauben, daß wir von einem unerwarteten, hinterhältigen Angriff überrascht worden sind.« Von einem »deutschen Überfall« könne nicht die Rede sein, so kürzlich noch Oberst Filippov. Das Überlegenheitsgefühl Stalins war im übrigen so groß, daß er meinte, selbst aus dem Stand heraus einen »beliebigen Überraschungsüberfall Deutschlands abzuwehren«, »einen beliebigen Angriff abzuschlagen und den Angreifer zu vernichten«.

Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR, Kalinin, hat unverblümt versichert: »Die Deutschen beabsichtigen uns anzugreifen… Wir warten darauf! Je eher sie das tun, desto besser, da wir ihnen dann ein für allemal den Hals umdrehen werden.«

Stalin und der Generalstab rechneten in jedem Fall mit einem leichten Sieg der Roten Armee, sie erwarteten, der geplante Großangriff werde unter geringen eigenen Opfern mit einer vollständigen Zerschmetterung des Gegners enden. Und was Hitler und die Deutschen angeht, so hatten diese überhaupt nur sehr unvollständige Vorstellungen von dem, was sich auf sowjetischer Seite vorbereitete. Zieht man aber das Ausmaß dieser Vorbereitungen in Betracht, so wird deutlich, daß Hitler nur knapp einem mit Hochdruck vorbereiteten Angriff Stalins zuvorgekommen ist. Der 22. Juni 1941 war so ziemlich der letzte Termin, um überhaupt noch einen >Präventivkrieg< führen zu können.

Der Kandidat der Geschichtswissenschaften, Oberst Petrov, hat dies zum Jahrestag des Sieges, am 8. Mai 1991, in einem Leitartikel der parteiamtlichen PRAVDA in schlichte, aber zutreffende Worte gekleidet: »Infolge der Überschätzung eigener Möglichkeiten und der Unterschätzung des Gegners schuf man vor dem Krieg unrealistische Pläne offensiven Charakters. In ihrem Sinn begann man die Gruppierung der sowjetischen Streitkräfte an der Westgrenze zu formieren. Aber der Gegner kam uns zuvor«.

3. Durch Terror zum Kampf. Sowjetsoldaten werden ins Feuer getrieben

Der sowjetischen Geschichtsschreibung über den deutsch‑sowjetischen Krieg liegt eine Behauptung zugrunde, die mit eiserner Konsequenz bis in unsere Tage hinein aufrechterhalten wird. Sie war von Stalin unter dem Stichwort des sogenannten >Sowjetpatriotismus< zum 27. Jahrestag der Oktoberrevolution am 6. November 1944 öffentlich proklamiert worden und lautete in Kurzform, die Völker der Sowjetunion hätten sich, erfüllt von »glühendem und lebenspendendem Sowjetpatriotismus«, von »heißer Liebe zu ihrer sozialistischen Heimat«, »von grenzenloser Treue zu den Ideen des Kommunismus«, und sich in »brennendem Haß gegen die Eroberer« zusammengeschlossen. Die »moralisch‑politische Einheit der Sowjetgesellschaft«, die »unerschütterliche Freundschaft der Völker der UDSSR« untereinander hätten sich in dem >Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion< in »glänzender« Weise bestätigt und bewahrt.

Im Hinblick auf die Rote Armee wurde man nicht müde zu verbreiten, ein jeder Rotarmist, sei ein »seiner sozialistischen Heimat grenzenlos ergebener Kämpfer« gewesen, getragen von dem »Gefühl der hohen Verantwortung für die ihm anvertraute Aufgabe der Verteidigung der sozialistischen Heimat«, erfüllt von »hoher Moral, hervorragender Standhaftigkeit, Mut und Heldentum«, »für Partei und Regierung, für den Genossen Stalin«, bis zur letzten Patrone, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen.

Allen Gegenbeweisen zum Trotz und noch zu einer Zeit, da der »Genosse Stalin« längst als ein Menschheitsverbrecher entlarvt und die Sowjetunion zugrunde gegangen war, noch im Oktober 1991, konnte der Stellvertretende Chef des Instituts für Militärgeschichte des Verteidigungsministeriums in Moskau, Generalmajor Professor Dr. Chor’kov, im Rahmen einer vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Freiburg veranstalteten Internationalen Tagung über das »Unternehmen Barbarossa« von dem »Widerstandswillen des sowjetischen Volkes und seiner Armee« am 22. Juni 1941, von dem »Massenheroismus der sowjetischen Soldaten« sprechen, die die Rotarmisten von Kriegsbeginn an unterschiedslos bewiesen hätten. Wurden solche Behauptungen schon von einem Auditorium widerspruchslos aufgenommen, das Anspruch auf Sachverstand und Wissenschaftlichkeit erheben sollte, was ist dann erst von einer breiteren Öffentlichkeit zu erwarten, deren historisches Wissen meist nur aus den oberflächlichen Verlautbarungen eines kaum weniger kundigen, dafür aber politisch eindeutig festgelegten Journalismus herrühren?

Wer die russische Militärgeschichte kennt, weiß um die hohen Qualitäten des russischen Soldatentums, um die oft bewiesene Tapferkeit und Standhaftigkeit der russischen Krieger beim Angriff und besonders bei der Verteidigung ihres Vaterlandes. Von den Deutschen ist 1941 vielfach verkannt worden, welch hohes Maß an Heimat‑ und Vaterlandsliebe den russischen Menschen und den russischen Soldaten seit jeher innewohnt. In den Akten finden sich nach Kriegsausbruch in der Tat ungezählte Beispiele dafür, daß sowjetische Soldaten, aus welchen Gründen auch immer, an manchen Stellen in aufopfernder Gegenwehr bis hin zu ihrem Tode ausgeharrt und gekämpft haben. Solche Fälle sind von der sowjetischen Geschichtsschreibung jedoch in unzulässiger Weise verallgemeinert und in bewußter Irreführung ist alles ignoriert worden, was mit dem Propagandabild des Sowjetheroismus nicht übereinstimmt. Denn es erhebt sich doch die Frage, welchen Grund die russischen Soldaten eigentlich gehabt haben sollen, »bis zur letzten Patrone, bis zum letzten Blutstropfen« für den »Genossen Stalin« und sein terroristisches Regime zu kämpfen, das ihnen und ihren Völkern die entsetzlichsten Leiden und Entbehrungen auferlegt hatte.

Stalin selbst hat sich hinsichtlich dieser Frage jedenfalls keinen Illusionen hingegeben. Er führte den Zusammenbruch der Fronten zutreffend nicht nur auf ein Versagen der Führung, sondern vor allem auf einen mangelnden Kampfeswillen der Truppen der Roten Armee zurück. Und um den Soldaten >Sowjetpatriotismus< einzuhauchen und jene Haltung zu erzeugen, die bis in unsere Tage hinein als >Massenheroismus< bezeichnet wird, gab es für ihn nur eine Methode, auf der sein ganzes Herrschaftssystem beruhte, die Anwendung eines Höchstmaßes von Zwang und Terror, verbunden mit der Entfachung einer zügellosen Propagandakampagne zur politischen Beeinflussung. Als er es am 3. Juli 1941 wagte, sich im Radio erstmals an die Völker der Sowjetunion zu wenden, kündigte er an, worauf es ihm jetzt ankam: »Es ist ferner notwendig, daß in unseren Reihen kein Platz für Panikmacher und Deserteure sei«, hieß es in dieser ersten Kriegsrede: … Der Führungsapparat der Roten Armee setzte die Intentionen umgehend in Befehle um, die den Soldaten keine andere Wahl mehr lassen sollten, als zu kämpfen oder zu sterben.

An erster Stelle war es die Hauptverwaltung für Politische Propaganda der Roten Armee (GUPPKA) unter Armeekommissar Mechlis, die jetzt alle Register zog, um »die Rede des Führers der Völker, des Genossen Stalin, und unsere Aufgaben« einem jeden »einzelnen Soldaten« einzuhämmern. In einer Reihe von Befehlen wurden die entsprechenden Parolen ausgegeben. Sie alle standen unter dem Motto, »jeden Fußbreit des Sowjetlandes«, wie die Formel lautete, »bis zum letzten Blutstropfen« zu verteidigen. Das eigenmächtige »Verlassen der Stellung«, die »Flucht vom Schlachtfelde«, das »Sichergeben in die Gefangenschaft«, wurden als »Verrat an der Heimat und an der Regierung« deklariert. Den »Zersetzern, Panikmachern, Feiglingen, Deserteuren« unter den »Soldaten, Kommandeuren (Offizieren) und politischen Mitarbeitern« wurden von nun an ein »unerbittlicher Kampf«, »eine »schonungslose« Verfolgung, in Aussicht gestellt.

Wie dies im einzelnen zu geschehen hatte, wurde demonstriert, nachdem am 26. Juni 1941 ein Rotarmist in der 131. Division wegen Nichtausführung eines unbedeutenden Befehls vor aller Augen mit dem Bajonett erstochen worden war: »So soll man alle Verräter des Vaterlandes behandeln«, lautete die Aufforderung in Befehlsform. Die Kommandobehörden beeilten sich, aus der Fülle der nun vorgenommenen Erschießungen Einzelfälle unter Namensnennung zur allgemeinen Abschreckung herauszugreifen.



Durch Befehl Nr. 1 an die Truppen der Südwestfront wurde am 6. Juli 1941 die Erschießung der Soldaten Ignatovskij, Vergun, Koliba und Adamov bekanntgemacht. Der Oberbefehlshaber, Generaloberst Kirponos, das Mitglied des Kriegsrates, Michajlov, der Stellvertretende Chef des Stabes, General Trutko, verkündeten drohend: »In diesem Moment verdienen Deserteure, die zu Verrätern an ihren Kameraden werden, die ihren gegebenen Schwur vergessen, nur ein Urteil, das Todesurteil . . .«


Aufgeräumt wurde auch in der Westfront, nachdem der bisherige Volkskommissar der Verteidigung, Marschall Timosenko, Ende Juni an die Stelle des verhafteten Oberbefehlshabers, Armeegeneral Pavlov, getreten war. Schon der gemeinsam mit dem Mitglied des Kriegsrates, Armeekommissar Mechlis, unterzeichnete Befehl Nr. 01 sollte allen Offizieren zur Warnung dienen. Bekanntgemacht wurde, daß Hauptmann Sbirannik, Militärarzt Ovcinnikov, Militärarzt Beljavskij, Major Dykmann, Bataillonskommissar Krol und der Gehilfe eines Abteilungschefs des Frontstabes, Berkovic, »für gezeigte Feigheit« und wegen Verrates dem Militärtribunal übergeben werden würden.

Der am folgenden Tage, dem 7. Juli 1941, herausgegebene und ebenfalls von Timosenko und Mechlis unterzeichnete Prikaz Nr. 02 an die Truppen der Westfront setzte die Einschüchterung des Führerbestandes fort. Nunmehr war es der Inspekteur der Pioniertruppen der Roten Armee, Major Umanec, der »wegen Nichtausführung eines Kampfauftrages und Verrates« dem Militärtribunal übergeben wurde. Sein Vergehen hatte darin bestanden, daß er es versäumte, rechtzeitig die Brücken über die Berezina bei Borisov zu sprengen, das infolgedessen in deutsche Hände fiel. Dieser Befehl wurde allen Offizieren der Westfront zur Kenntnis gebracht. Timosenko gab einen Tag später den ebenfalls zur Abschreckung bestimmten Befehl Nr. 03 heraus, in dem die Aburteilung des Kommandeurs des Flakregimentes 188, Oberst Galinskij, und des Bataillonskommandeurs Cerkovnikov durch das Militärtribunal angekündigt wurde. Die »verbrecherische Handlungsweise« der beiden Offiziere hatte in nichts anderem bestanden, als daß es den Deutschen bei Minsk am 26. Juni 1941 durch überraschenden Vorstoß gelungen war, einen Teil des Kriegsgerätes dieses Flakregimentes zu erbeuten.

Das rücksichtslose Durchgreifen des bisherigen Volkskommissars der Verteidigung sollte beispielhaft wirken und wurde von den Kommandostellen aller Ebenen denn auch überall nachgeahmt, so etwa von der 20. Armee des Generalleutnants Kurockin, der durch Befehl Nr. 04 vom 16. Juli 1941 in allen Einheiten bekanntgeben ließ, er habe den Kommandeur des Panzerregimentes 34, Oberstleutnant Ljapin, den Batailionskommandeur im Panzerregiment 33, Oberleutnant Pjatin, und den Stellvertretenden Kommandeur des Aufklärungsbataillons der 17. Panzerdivision, Hauptmann Curakov, »für Feigheit und Erzeugung von Panikstimmung« dem Militärtribunal übergeben, was einem Todesurteil gleichkam.

Die Marschälle der Sowjetunion Vorosilov und Budennyj standen ihrem Kollegen Timosenko natürlich in keiner Weise nach. Und dasselbe galt für den in der Roten Armee seiner Brutalität wegen gefürchteten Armeegeneral Zukov, der, so als Oberbefehlshaber der Westfront, am 13. Oktober 1941 Befehl gab, »Feiglinge und Panikmacher« auf der Stelle zu erschießen. Die Militärtribunale hatten nur noch die Ausführung dieses Befehls zu garantieren. Und der Oberbefehlshaber der 43. Armee, Generalmajor Golubev, stellte allen >Feiglingen< durch seinen Befehl Nr. 0179 vom 19. November 1941 in Aussicht, »wie Hunde totgeschlagen zu werden«.

Am 10. Juli hatte Stalin verlangt, die >verräterischen< Kommandeure der Nordwestfront, die vor dem Feinde zurückgegangen waren, zur Verantwortung zu ziehen. Er machte den ganzen Frontstab und die Stäbe der Armeekorps und Divisionen für die >Schande< verantwortlich und gab Weisung, mit den »Feiglingen und Verrätern« an Ort und Stelle abzurechnen.

Der von ihm als neuer Oberbefehlshaber der Nordwestfront eingesetzte Vorosilov und Zdanov, Mitglied des Kriegsrates und einer der allerengsten Vertrauten Stalins im Politbüro, setzten die Forderung in die Tat um. In dem Befehl Nr. 3 vom 14. Juli 1941 wurde angeordnet, »Kommandeure (Offiziere) und Soldaten«, die aus der vorderen Linie zurückgehen, vor das Militärtribunal zu stellen und zum Tode zu verurteilen oder sie einfach »auf der Stelle zu vernichten«. Erschießungen von Offizieren, Politarbeitern und Rotarmisten in großem Maßstab mit und ohne Urteil waren längst überall an der Tagesordnung, als Stalin abermals eingriff, um den Terror noch weiter anzufachen.

Stalin hatte beschlossen, an dem verhafteten Oberbefehlshaber der Westfront, Armeegeneral Pavlov, und seinem Stab ein Exempel zu statuieren, das die ganze Rote Armee in Schrecken versetzen und von seiner eigenen Verantwortung für den Zusammenbruch der Westfront ablenken sollte. Von ihm befohlen war ein Todesurteil gegen Armeegeneral Pavlov, gegen den Chef des Stabes der Westfront, Generalmajor Klimovskich, gegen den Chef der Nachrichtenverbindungen des Frontstabes, Generalmajor Grigor’ev, ferner gegen den Oberbefehlshaber der 4. Armee, Generalmajor Korobkov. Das von dem Vorsitzenden des Militärkollegiums des Obersten Gerichtes der UdSSR, dem blutbefleckten Armeejuristen Ul’rich, unterzeichnete Urteil war entsprechend den Weisungen Stalins formuliert, diesem dann vorgelegt und von ihm genehmigt worden, ohne daß auch nur formal eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hätte. Das waren die üblichen Praktiken der Sowjetjustiz der sowjetischen Militärtribunale.  . . .

Wiederum dienten drei Generale als abschreckende Beispiele: der in Wirklichkeit am 4. August 1941 bei Starinka durch Granattreffer gefallene Oberbefehlshaber der 28. Armee, Generalleutnant Kacalov, aus dessen Soldatentod auf diese Weise Kapital geschlagen wurde, der schwerverwundet gefangengenommene Oberbefehlshaber der 12. Armee, Generalmajor Ponedelin, sowie der Kommandeur des 13. Schützenkorps, Generalmajor Kirillov. Ihnen wurde vorgeworfen, sich in feiger Weise den >deutschen Faschisten< gefangengegeben, dadurch das Verbrechen der Desertion begangen und den Militäreid gebrochen zu haben. Doch der Vorwurf traf nicht nur diese Generale allein, sondern auch die Mitglieder der Armee-Kriegsräte, die Kommandeure, politischen Funktionäre, selbst die Angehörigen der Besonderen Abteilungen, die Regiments‑ und Bataillonskommandeure und praktisch jeden Soldaten der Roten Armee, der sich für den >Genossen Stalin< an vorderster Front nicht hatte totschlagen lassen.

»Feiglinge und Deserteure müssen vernichtet werden«, wiederholte Stalin, und er befahl jetzt, »Kommandeure und Politische Leiter«, die vor dem Feinde fliehen oder sich ihm gefangengeben, »als böswillige Deserteure, als Eidbrüchige und Landesverräter« anzusehen und »an Ort und Stelle zu vernichten«. So sollten die Generale Ponedelin und Kirillov nach Kriegsgefangenschaft und fünfjähriger Untersuchung noch am 25. August 1950 vom Militärkollegium des Obersten Gerichtes der UdSSR zum Tode verurteilt und erschossen werden. . . .

Daß es für die Sowjetregierung keine Kriegsgefangenen, sondern nur Landesverräter gab, war in der Roten Armee spätestens seit dem Finnischen Winterkrieg allgemein bekannt, die verwerfliche Einrichtung der Sippenhaft jedem Sowjetmenschen vertraut. Allen Angehörigen der Roten Armee wurde ausdrücklich angedroht, die Familien sich ergebender Offiziere würden verhaftet werden und die Familien sich ergebender Rotarmisten >jede Unterstützung des Staates< verlieren. Doch die Praxis sah meistens noch weitaus schlimmer aus.  . . .  . . .

Die nachsowjetische Literatur, die nicht mehr anders konnte, als Stalin gewissermaßen zu opfern und viele seiner verbrecherischen Maßnahmen beim Namen zu nennen, bietet gleichwohl allen Scharfsinn auf, um gewisse Positionen der stalinistischen Geschichtspropaganda zu behaupten. Zu den Legenden, die nicht in Frage gestellt werden, gehört die Version von dem »feigen, wortbrüchigen Überfall der Faschisten auf die nichtsahnende, friedliche Sowjetunion«, die Formel von dem »Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion«, den es in dieser Form nicht gegeben hat, und von dem unterschiedslosen >Sowjetpatriotismus< und >Massenheroismus< der Angehörigen der Roten Armee.  . . .

Fragt man, wie das Ziel erreicht wurde, die wenig enthusiastischen Rotarmisten schließlich zu einem >Widerstand um jeden Preis< für das Sowjetregime zu veranlassen, so gibt es hierauf nur eine Antwort. Es war die bewährte Stalinsche Methode >stärksten Terrors und bewußter Irreführung<. Allein die Methode des Terrors erwies sich als durchschlagend, und ihre Wirksamkeit wurde auch von dem Stalin gegenüber ablehnend eingestellten Generalobersten Volkogonov in seiner Stalinbiographie notgedrungen anerkannt. Massenerschießungen von Offizieren, Politarbeitern und Rotarmisten und sonstige drakonische Maßnahmen standen an erster Stelle. Hand in Hand damit ging das Verbot einer Gefangengabe und die Brandmarkung eines jeden in Kriegsgefangenschaft Geratenen als eines Landesverräters, verbunden mit den in der Sowjetunion üblichen Repressalien gegenüber Familienangehörigen. Hinzu trat noch eine zügellose Greuelpropaganda gegen die Deutschen und deren Verbündete, die einem jeden Rotarmisten von vornherein die Lust nehmen sollte, sich den >Faschisten< gefangenzugeben.

4. Sowjetsoldaten dürfen sich nicht gefangengeben. Verhinderung der Flucht nach vorn

Die Sowjetunion als einziger Staat der Welt hatte die Kriegsgefangenschaft ihrer Soldaten zu einem Schwerverbrechen deklariert. Der Militäreid, der Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR und sonstige Dienstvorschriften, ließen keinen Zweifel daran, daß eine Gefangengabe als >Überlaufen zum Feind<, >Verrat< und >Desertation< in jedem Fall mit dem Tode bestraft werde. »Gefangenschaft ist ein Verrat an der Heimat. Es gibt keine abscheulichere und betrügerische Tat«, so heißt es: »Den Verräter an der Heimat aber erwartet die höchste Strafe ‑ die Erschießung.«

Stalin, Molotov und andere führende Persönlichkeiten wie etwa Frau Kolontaj haben mehrfach auch öffentlich erklärt, in der Sowjetunion existiere allein der Begriff von Deserteuren, Landesverrätern und Volksfeinden, der Begriff von Kriegsgefangenen sei unbekannt. Da es für die >Arbeiter- und Bauernmacht< eine Unmöglichkeit darstellte zuzulassen, daß sich die revolutionären Soldaten der Roten Arbeiter‑ und Bauernarmee in die Gefangenschaft des Klassenfeindes salvierten, hatte sich die Sowjetregierung bereits im Jahr 1917 nicht mehr als Signatar der Haager Landkriegsordnung betrachtet und es im Jahre 1929 auch abgelehnt, die Genfer Konvention zum Schutz der Kriegsgefangenen zu ratifizieren. Diese Haltung den Kriegsgefangenen gegenüber gilt es im Auge zu behalten, will man ein taktisches Manöver Moskaus vom Juli 1941 verstehen, das bis in die Gegenwart hinein eine gründliche Verwirrung der Geister hervorgerufen hat. . . .

Die Diskriminierung der Kriegsgefangenschaft als eines Verbrechens galt natürlich vor allem im deutsch‑sowjetischen Krieg. Der Chef der Verwaltung für Politische Propaganda der Roten Armee, Armeekommissar Mechlis, gab in der Weisung Nr. 20 vom 14. Juli 1941 eine entsprechende Sprachregelung aus. Am Eingang steht der sowjetpatriotische Appell: »Du hast den Eid geleistet, bis zum letzten Atemzuge treu zu sein Deinem Volk, der Sowjetheimat und der Regierung. Erfülle heilig Deinen Eid in den Kämpfen mit den Faschisten.« Es folgt die Abschreckung: »Der Kämpfer der Roten Armee gibt sich nicht gefangen. Die faschistischen Barbaren peinigen, foltern und töten die Gefangenen viehisch. Lieber den Tod als faschistische Gefangenschaft. Das Sichergeben ist Verrat an der Heimat.« . . .

Das Schicksal, das sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Hand angeblich zu erwarten hätten, wurde den Angehörigen der Roten Armee mit einer derartigen Eindringlichkeit vor Augen gestellt, daß die Wirkung einer solchen Propaganda nicht ausblieb. So meldeten die deutschen Kommandobehörden immer wieder, unter den Rotarmisten sei aufgrund der systematischen Bearbeitung durch ihre »Offiziere und Kommissare« die Meinung verbreitet, daß »jeder russische Kriegsgefangene von uns erschossen, ja vorher mißhandelt werde«. Es waren, wie sich ergab, einmal die »einfachen Naturen« unter den Soldaten, die oft mit einer Erschießung rechneten. Der Mediziner des Mikrobiologischen Lehrstuhles in Dnepropetrovsk, Kotljarevskij, sagte am 24. September 1941 aus, »alle seine Verwundeten, denen er als Hilfsarzt zugeteilt wurde, waren der festen Überzeugung, daß sie von den Deutschen umgebracht werden«. Diese Befürchtung wurde auch in Offizierskreisen geteilt. So etwa hatten der … Generalmajor Besonov und andere Offiziere unter dem Eindruck gestanden, in deutscher Kriegsgefangenschaft ihr Leben verwirkt zu haben. »Viele Offiziere und Kommandeure glaubten, daß sie in deutscher Gefangenschaft erschossen würden«, bekannte Major Elmolaev, Kommandeur des Haubitzenartillerieregimentes 464 am 20. September 1941.

Nun ist allgemein bekannt, daß politische Funktionäre der Roten Armee als angebliche Nichtkombattanten aufgrund der berüchtigten Kommissarrichtlinien Hitlers von der Sicherheitspolizei und dem SD und teilweise auch befehlsgemäß von der Truppe ‑ wenngleich in relativ beschränkter Zahl und mit wachsendem Widerstreben ‑ tatsächlich erschossen worden sind. Es erscheint jedoch notwendig, in diesem Zusammenhang anzuführen, daß es eine völlige Entsprechung auch auf sowjetischer Seite gab, wurden doch auch hier Wehrmachtangehörige, insbesondere Offiziere, deren Mitgliedschaft in der NSDAP bekannt geworden war, meist ebenfalls sofort liquidiert. Oberst Gaevskj von der sowjetischen 29. Panzerdivision bezeugte am 6. August 1941 sogar das Bestehen eines Befehls der übergeordneten Armee (4. oder 10.), demzufolge »Offiziere niederen Dienstgrades erschossen werden sollten, weil man in ihnen Hitler ergebene Offiziere vermutete«.

Kriegsgefangenschaft auf deutscher Seite konnte durchaus von unterschiedlichen Behandlungsmethoden geprägt sein, wie ein kurzer Überblick zeigen soll. Denn während beispielsweise das deutsche Heer gemäß Erlaß des Generalquartiermeisters vom 25. Juli 1941 dazu überging, sowjetische Kriegsgefangene ukrainischer und bald auch weißrussischer Nationalität in ihre Heimat in den besetzten Gebieten zu entlassen ‑ im OKH-Bereich waren es nach russischen Angaben bis zum Abstoppen der Aktion am 13. November 1941 292.702, im OKW‑Bereich 26.068 Gefangene ‑ und während etwa die Panzergruppe 3 den 200.000. von ihr eingebrachten Kriegsgefangenen, Drjuk, mit einer Belobigung nach Hause schickte und andere Verbände ähnlich handelten, begannen die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD >untragbare Elemente<, das heißt vor allem politisch und >rassisch< Mißliebige physisch zu liquidieren. Diesen Mordaktionen sind auch Angehörige der Völker Turkestans und des Kaukasus zum Opfer gefallen, sehr oft gerade die unversöhnlichsten Gegner des Sowjetregimes, die nun ob ihres bisweilen exotischen Aussehens als Prototypen eines als >asiatisch< oder >mongolisch< mißverstandenen Bolschewismus ausgesondert wurden. Und gerade die Angehörigen dieser Minderheitenvölker wiederum waren es, die vom Oberkommando des Heeres ab Winter 1941/1942 für würdig befunden und dazu aufgerufen wurden, als Mitkämpfer und gleichberechtigte Soldaten in die im Entstehen begriffenen Nationalen Legionen der Turkestaner, Azerbajdzaner, Norkaukasier, Wolgatataren, Georgier und Armenier sowie in das Kalmykische Kavalleriekorps einzutreten und das deutsche Hoheitszeichen mit dem Hakenkreuz in den Fängen an der feldgrauen Uniform anzulegen.

Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam ist im Winter 1941/1942 im allgemeinen bekanntlich furchtbar gewesen. Mit Recht ist es eine »Tragödie größten Ausmaßes« genannt worden, waren es doch Hunderttausende von ihnen, die in diesen Monaten an Hunger und Seuchen zugrunde gingen. Die Ursachen für dieses Massensterben sind vielfältiger Natur. Unkenntnis der Völker des Ostens, auch menschliche Gleichgültigkeit und ein aus politischer Verhetzung resultierender böser Wille mögen nicht selten mitgespielt haben, vor allem auf der unteren Ebene. In einem höheren Sinne aber war es nicht so sehr böser Wille als vielmehr das technische Unvermögen, eine Millionenmasse oft schon völlig entkräfteter Kriegsgefangener unter den Bedingungen des Winters 1941/1942 im Ostraum notdürftig zu versorgen und zu behausen, denn nach dem fast völligen Zusammenbruch des Transportsystems sah sich auch das in einem Abwehrkampf auf Leben und Tod stehende deutsche Feldheer zu dieser Zeit schwerem Mangel ausgesetzt. Und es würde einfach der historischen Wahrheit widersprechen, nun ausgerechnet gerade den für das Kriegsgefangenenwesen im Generalstab des Heeres zuständigen Generalquartiermeister hierfür verantwortlich zu machen und ihn, wie geschehen, mit einer sogenannten >Vernichtungspolitik< Hitlers im Osten in Verbindung zu bringen. Denn es war der Generalquartiermeister im Generalstab des Heeres gewesen, der durch Erlasse vom 6. August, 21. Oktober und 2. Dezember 1941 für alle Kriegsgefangenen in den besetzten Ostgebieten, einschließlich der Bereiche Wehrmachtbefehlshaber Ukraine und Ostrußland sowie Norwegen und Rumänien, Lebensmittelrationen in einer für die Erhaltung des Lebens und der Gesundheit ausreichenden Höhe festgesetzt hatte. Es stellt sich von daher allein die Frage, ob und in welchem Umfange diese Erlasse befolgt wurden oder auch nur befolgt werden konnten und warum gegebenenfalls eine Befolgung unterblieb.

Befehle und Verfügungen des Oberkommandos konnten jedenfalls nicht einfach ignoriert werden. Und es läßt sich in der Tat auch nachweisen, daß die zuständigen Befehlshaber der Rückwärtigen Heeresgebiete und Kommandanten der Rückwärtigen Armeegebiete sowie viele Lagerkommandanten sich im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten bemühten, die Lage der Kriegsgefangenen zu verbessern und irgendwelche Aushilfen zu schaffen. Wenn ihnen nur ein sehr begrenzter Erfolg beschieden war, so lag dies an den wachsenden Nachschubschwierigkeiten angesichts einer ungeheuren Gefangenenzahl und schließlich, wie gesagt, an dem völligen Zusammenbruch des Transportsystems im Winter 1941/1942, der auch die Versorgung des deutschen Ostheeres schwerstens gefährdete. Im Frühjahr 1942 aber, als das Eis brach, wurden vielfältige und energische Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der sowjetischen Kriegsgefangenen getroffen, die bewußt an die von der Sowjetunion niemals anerkannten Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung anknüpften. Von Frühjahr 1942 an begannen sich die Verhältnisse sowohl in OKH‑ als auch im OKW-Bereich Zug um Zug zu konsolidieren, so daß ein bloßes Überleben in den Lagern für die Kriegsgefangenen bald keine Frage mehr war.

Die Greuelpropaganda als wichtiger Faktor der sowjetischen Kriegsanstrengungen blieb hiervon natürlich unberührt und nahm in der Roten Armee unbeirrt ihren Fortgang. Noch im Frühjahr 1943, als in allen Kriegsgefangeneneinrichtungen und Divisionen des deutschen Ostheeres längst >Russische Betreuungsstaffeln< der ROA (Russische Befreiungsarmee) in Stärke von 1 Offizier, 4 Unteroffizieren und 20 Mannschaften amtierten, deren Aufgabe in der Wahrnehmung der Interessen ihrer kriegsgefangenen Landsleute bestand – eine Einrichtung übrigens, die auf die Rotarmisten nachhaltigen Eindruck machte ‑ wurde sowjetischerseits unablässig verbreitet, daß die Deutschen einen jeden Kriegsgefangenen »erhängen oder erschießen«, ihm »grausame Quälereien« auferlegen würden und, wie unlängst in Katyn, »im Rayon Smolensk, 35.000 Gefangene niedergeschossen« hätten , womit die Ermordung der polnischen Offiziere durch das sowjetische NKVD gemeint war.

Insgesamt gesehen mußten die deutschen Truppen frühzeitig die Erfahrung machen, daß die systematische Verbreitung von Nachrichten über angebliche oder wirkliche Greuel an Kriegsgefangenen automatisch eine Versteifung des Widerstandes der Roten Armee zur Folge hatte und die Neigung der Rotarmisten, sich gefangenzugeben, nachließ. Major Solov’ev, Stabschef des Schützenregimentes 445 der 140. Schützendivision, kleidete dies in die Worte: »Die einzige Erklärung für den Widerstand der Roten Armee ist ausschließlich in dem Umstand zu suchen, daß mit einer Intensität sondergleichen von Greueltaten Angehöriger der deutschen Wehrmacht gesprochen und geschrieben wird.« Schon am 24. Juni 1941 bezeichneten Kriegsgefangene als »Grund ihres hartnäckigen Widerstandes«, es sei ihnen »eingeschärft worden:

1. Wenn sie die Stellung räumen und zurückgehen, werden sie von den politischen Kommissaren sofort erschossen.

2. Wenn sie überlaufen, werden sie von den Deutschen sofort erschossen.

3. Werden sie von den Deutschen nicht erschossen, so geschieht dies sofort dann, wenn die Roten Truppen wieder eingedrungen sind. In diesem Fall fände auch die Enteignung des Besitzes und die Erschießung von Angehörigen statt«.

Diese Worte umreißen die ausweglose Lage, in der die sowjetischen Soldaten sich in der Tat sahen.   . . .

5. Der Terrorapparat. Wie „Massenheroismus“ und „Sowjetpatriotismus“ erzeugt wurden

Es ist bisher schon deutlich geworden, daß die Rote Armee außer auf dem militärischen Führungsapparat noch auf einer weiteren Säule beruhte, dem autonomen politischen Apparat, der über einen eigenen Dienstweg verfügte und dem Chef der Hauptverwaltung für Politische Propaganda, dem berüchtigten Armeekommissar 1. Ranges Mechlis, unmittelbar unterstand. Hinzu kam, im Verborgenen arbeitend, aber desto gefährlicher, noch eine weitere unheilschwangere Einrichtung, der Terrorapparat des NKVD, der mit der Roten Armee organisatorisch nichts zu tun hatte, seine Weisungen vielmehr vom Volkskommissariat des Inneren unter Berija empfing. Das Herrschaftssystem der Sowjetunion war, wie gesagt, von dem einfachen Prinzip getragen, daß derjenige, der der Propaganda keinen Glauben schenkte, den Terror zu spüren bekam. Und auch in der Roten Armee war institutionell hierfür bestens vorgesorgt.  . . .

Die Kriegskommissare und Politischen Leiter hatten die >bedingungslose Erfüllung< aller Kampfaufträge sicherzustellen und waren dafür verantwortlich, daß die Soldaten mit >Tapferkeit< und >unerschütterlicher Bereitschaft< »bis zum letzten Blutstropfen mit den Feinden unserer Heimat kämpfen«. Sie also in erster Linie waren es, die die Rotarmisten ohne Rücksicht auf Verluste in das Feuer jagten. Zugleich war der Kommissar verpflichtet, einen »rücksichtslosen Kampf mit den Feiglingen, Panikmachern und Deserteuren zu führen, indem er mit harter Hand die revolutionäre Ordnung und Kriegsdisziplin wiederherstellt«. Dies bedeutete, einen jeden Soldaten unabhängig von seinem Rang, beim Versuch des Überlaufens (oder der Gefangengabe) oder bei Sichtbarwerden von >Angriffsmüdigkeit< »auf der Stelle zu erschießen«.  . . .

Ihre überragende Rolle in der Roten Armee als Aufpasser und Antreiber brachte es für die Kommissare und Politischen Leiter mit sich, daß die Masse der Soldaten in ihnen einen Gegenstand der Furcht und Abneigung erblickte. Dies galt insbesondere auch für die in ihrer Führerstellung eingeengten und oft auch persönlich bedrohten Offiziere, die den Deutschen gegenüber mit ihrem Urteil dann jedenfalls nicht zurückhielten. So sprach sich der Kommandeur des 49. Schützenkorps, Generalmajor Ogurcev, der das Sowjetregime im übrigen »als den größten Volksbetrug der Weltgeschichte« geißelte, am 11. August 1941 »mit größter Bitterkeit über die Zusammenarbeit mit seinem politischen Kommissar« aus, der, obwohl über »keine militärische Kenntnis« verfügend, doch mit »unbegrenzten Vollmachten« ausgestattet und »in allen Fragen entscheidend« gewesen sei. Dadurch seien die Kampfhandlungen »erheblich zuungunsten des Korps« beeinflußt worden. Stets habe der Kriegskommissar mit einer Anzeige gedroht.

Ebenso berichtete der Kommandeur der 139. Schützendivision, Oberst Logionov, am 14. August 1941 von der zwischen einem Offizier und einem Kommissar bestehenden tiefen und »nur durch Angst und Terror« überbrückten Kluft.
Der Divisionskommandeur der 43. Schützendivision, Generalmajor Kirpicnikov, sah am 30. September 1941 die Kommandeure von den Kommissaren an »Händen und Füßen« gebunden und »in ihrer Schaffenskraft und ihrem operativen Denken« geradezu erstickt. »Wie das Verhältnis ist«, so die >resignierte< Antwort des Hauptmanns der Luftstreitkräfte Ogrisko am 19. September 1941, »können Sie sich wohl vorstellen. Wenn Sie bedenken, daß auf einen jeden militärischen Führer ein politischer Kommissar oder Kontrolleur kommt . . . In der Armee kommt auf 2 Soldaten im allgemeinen ein dritter, der als Mitglied des Komsomol der Partei oder des NKVD diesem Apparat dient. Im Offizierskorps ist das Verhältnis 1 : 1«.

Und dies bestätigte der Oberbefehlshaber der bei Vjaz’ma eingeschlossenen 19. Armee Generalleutnant Lukin aufgrund eigener Erfahrungen: Ein Armeeführer sei »auch nicht zu einem selbständigen Schritt« mehr in der Lage. »Er ist von Kommissaren, Spitzeln und seinem Kriegsrat umgeben . . .«. Wenn solches allgemein schon im Hinblick auf den noch relativ >offen< arbeitenden politischen Apparat galt, was mußte dann erst über den im Geheimen arbeitenden eigentlichen Terrorrapparat in der Roten Armee, das NKVD, zu sagen sein, der im folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen werden soll.

Über das für die Millionenmorde, für das System der Konzentrationslager (GULag) und für die fortwährende Bedrückung und Terrorisierung der Bewohner des Sowjetstaates zuständige und verantwortliche NKVD (Narodnyj Komissariat Vnutrennych Del, Volkskommissariat des Inneren), das sich zur Ausübung seiner Funktionen entsprechender Unterorgane und der Sondertruppen bediente, ist bereits so viel geschrieben worden, daß sich allgemeine Ausführungen an dieser Stelle erübrigen. Nur eine kleine, aber bezeichnende Meldung aus der Anfangsphase des Krieges über die Arbeitsweise dieser verbrecherischen Organisation sei hier nachgetragen.

Der Chef des Amtes Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht, Admiral Canaris, hatte im Juli 1941 einen Bericht über die Besichtigung des sowjetischen Botschaftsgebäudes in Paris, also einer exterritorialen diplomatischen Einrichtung, vorgelegt. Demnach hatte sich ergeben, daß ein Seitenflügel der Pariser Botschaft »als Zentrum der GPU eingerichtet war mit Vorrichtungen für Folterung, Exekution und für die Beseitigung von Leichen«, ein in der Geschichte der Diplomatie zivilisierter Staaten wohl einzigartiger Vorgang. Der Bericht spricht die Vermutung aus, »daß seinerzeit hier auch die Leichen der verschiedenen weißrussischen Generäle in Paris beseitigt wurden, die vor einigen Jahren auf geheimnisvolle Weise in Paris verschwunden sind«.
Am 16. Juli 1941, als Stalin die bevorstehende Aburteilung der verhafteten Generale des Stabes der Westfront und einiger in Kriegsgefangenschaft geratener Generale bekanntmachte, wurde von ihm auch der Beschluß gefaßt, den Apparat des NKVD in der Roten Armee zu restituieren. . . .

Es ist bezeichnend, daß die Existenz der mit unbegrenzten Vollmachten ausgestatteten terroristischen Geheimorganisation >Osobyj otdel< in der Roten Armee bis in die Gegenwart hinein so gut wie unbekannt geblieben und etwa in der westdeutschen Publizistik immer nur von sogenannten >politischen Kommissaren< die Rede ist. Und gerade diese Filiale des NKVD hatte in den Streitkräften eine Aufgabe von höchster Wichtigkeit zu erfüllen, sie war beauftragt zu »einem erbarmungslosen Kampf mit Spionage und Verräterei in den Verbänden, Liquidation der Deserteure unmittelbar in dem der Front benachbarten Streifen«.

Dementsprechend erhielten die Besonderen Abteilungen aller Ebenen die Befugnis, Deserteure aus dem Stande der Soldaten, Unteroffiziere und in unaufschiebbaren Fällen der Offiziere jederzeit zu verhaften und erforderlichenfalls auf der Stelle zu erschießen.  . . .

Das Aktenmaterial der Besonderen Abteilung des NKVD der 19. Armee unter dem Oberst (der Staatssicherheit) Korolev gibt einigen Aufschluß über die durchschnittliche Tagesarbeit des übrigens auch die Kriegskommissare und Politischen Leiter überwachenden NKVD: Sie bestand, kurz gesagt, in der Entlarvung, Verhaftung und Liquidierung der >Verräter<. Ständig mußten >viele hundert Anzeigen< von Kompaniespitzeln gegen die Soldaten ausgewertet werden. Zwischen dem 25. und 27. Juli 1941 wurden durch die Besondere Abteilung allein einer Division und deren Bewachungskommando >bis zu 1000 Frontflüchtlinge< festgenommen. Und so lauteten einige wahllose Einzeleintragungen: »Vor versammelter Mannschaft sind 7 Mann erschossen worden . . . Erschossen wurden weiterhin ohne Gerichtsurteil 5 Mann: 3 Deserteure und 2 Vaterlandsverräter, die den Versuch machten, zum Gegner überzulaufen. Erschossen wurden laut Urteil des Kriegstribunals 3 Deserteure, 16 Selbstverstümmeler, 2 Überläufer und 2 Mann wegen eigenmächtigen Verlassens des Schlachtfeldes.« »Am 29. August d. J. wurde vor versammelter Mannschaft der Kommandeur des 3. Bataillons des 400. Schützenregimentes, Jurgin Fedor, Mitglied der Allrussischen Kommunistischen Partei, erschossen. Jurgin hatte den Angriffsbefehl des Regimentskommandeurs, Major Novikov, nicht ausgeführt.«

Welche Methoden üblich waren, läßt sich auch einer zufällig aufgefundenen >Sondermitteilung< der Besonderen Abteilung des NKVD der 264. Schützendivision an den Chef der Besonderen Abteilung des NKVD der 26. Armee, Major (der Staatssicherheit) Valis, über die erste Kampfhandlung des Schützenregimentes 1060 entnehmen. Als die jungen Soldaten der 4. Kompanie des 2. Bataillons versagten, eröffneten schwere Maschinengewehre das Feuer auf sie und töteten mindestens 60 von ihnen: »Der Kommandeur und der Politische Leiter erschossen alle, die versuchten, sich zu ergeben.«

Einem Brief des Schriftstellers Stavskij an den >lieben Genossen Stalin< zufolge wurden allein in der 24. Armee im Raum um El’nja innerhalb weniger Tage des August 1941 nach Angaben des Oberkommandos und der Politabteilung 480 ‑ 600 Soldaten »wegen Fahnenflucht, Panikmacherei und anderer Verbrechen erschossen«. Angesichts solcher Größenordnungen sind die Akten denn auch angefüllt mit Angaben über Einzel‑ und Massenerschießungen in den Verbänden der Roten Armee. »Verblüffend hoch ist die Zahl der täglichen Hinrichtungen wegen Fahnenflucht und Selbstverstümmelung«, lautete ein deutsches Auswertungsergebnis. Kein Wunder also, daß, wie es an einer Stelle heißt, sich schon das bloße Bestehen der Besonderen Abteilungen »lähmend auf die Offiziere und Soldaten« auswirkte oder, wie die kriegsgefangenen Generale Snegov und Ogurcev und andere hohe Offiziere den Deutschen gegenüber bekannten: »Die Angst vor der gespenstischen Macht des NKVD war nicht zu überwinden«.

Dies räumte auch der an sich den systemtreuen Offizieren zuzurechnende Oberbefehlshaber der 6.Armee, Generalleutnant Muzycenko, am 9. August 1941 bereitwillig ein: »Das NKVD ist ein furchtbares Organ, das jeden von uns in jedem Augenblick vernichten kann.« . . .

Allgemein gilt die Feststellung, daß die unmenschliche Behandlung der sowjetischen Soldaten sich nur durch ihre Perfektion von der Behandlung auch der sowjetischen Zivilbevölkerung im Kriegsgebiet unterschied. Das Stichwort hatte Stalin gegeben, als er am 3. Juli 1941 dazu aufrief, dem Feind »kein Kilogramm Getreide, keinen Liter Benzin« zu überlassen und »alles wertvolle Gut … das nicht abtransportiert werden kann … unbedingt« zu vernichten. Dies wurde der Bevölkerung durch den sowjetischen Rundfunk am 7. Juli 1941 noch einmal besonders eingeschärft.

Vernichtet werden sollten das gesamte rollende Material, alle Rohstoffvorräte, der gesamte Treibstoff, jedes Kilogramm Getreide und jedes Stück Vieh. Eine Verwirklichung des nunmehr proklamierten Zerstörungsprinzips bedeutete, daß damit auch die Lebensgrundlagen der Zivilbevölkerung unweigerlich zerstört wurden. Und ebenso mußte der gleichzeitig entfachte völkerrechtswidrige Partisanenkrieg unabsehbare Konsequenzen heraufbeschwören und die Bevölkerung der Gefahr härtester Repressalien seitens der deutschen und verbündeten Truppen aussetzen.

Schon am 29. Juni 1941 hatten der Rat der Volkskommissare Anweisung gegeben, alle Kräfte der >sowjetischen< Bevölkerung zum Kampf gegen die Deutschen zu mobilisieren und einen umfassenden Volkskrieg im Hinterland des Feindes zu organisieren: »Jede Verbindung im Hinterland des Gegners zu vernichten, Brücken und Straßen zu sprengen oder zu beschädigen, Treibstoff‑ und Lebensmittellager, Kraftfahrzeuge und Flugzeuge anzuzünden, Eisenbahnkatastrophen zu arrangieren, Feinde zu vernichten, ihnen weder Tag noch Nacht Ruhe gebend, sie überall zu vernichten, wo man sie erwischt, sie mit allem zu töten, was man zur Hand hat: Beil, Sense, Brecheisen, Heugabeln, Messern . . .  Erwürgt, zerhackt, verbrennt, vergiftet den faschistischen Auswurf.«

Es waren nicht nur die aus der männlichen Bevölkerung rekrutierten Partisanengruppen, die jetzt einen völkerrechtswidrigen Freischärlerkrieg eröffneten. In verantwortungsloser Weise wurde die gesamte Zivilbevölkerung einbezogen, wie schon ein Aufruf verrät: »Überfallt und vernichtet die deutschen rückwärtigen Verbindungen, . . . zündet Häuser und Wälder an . . . Schlagt den Feind, quält ihn zu Tode durch Hunger, verbrennt ihn durch Feuer, vernichtet ihn durch die Kugel und Handgranate … Zündet die Lager an, vernichtet die Faschisten wie tolle Hunde.« Alles leicht gesagt von denjenigen, die sich in Sicherheit wußten; die Folgen hatte das Volk zu tragen. Denn keine Armee in der ganzen Welt, die gegen eine solche Art der Kriegführung nicht die härtesten Repressalien ergriffen haben würde.  . . .

Wie Oberleutnant Kovalev aussagte, wurde die Bevölkerung überdies zu Arbeitsverweigerungen aufgerufen. Felder, Wälder und Gebäude sollten in Brand gesetzt werden. Die Landbevölkerung sollte das Getreide verbrennen, landwirtschaftliche Geräte zerstören, die Arbeiterschaft in den Städten die Maschinen vernichten und die Werksanlagen niederlegen. »Es lebe unser großer Stalin!«, riefen Timosenko und Bulganin der Bevölkerung zu , die aufgefordert wurde, sich selbst ihrer letzten Lebensmöglichkeiten zu berauben.

Um der von Stalin am 3. Juli 1941 proklamierten und von den Staatsorganen eingeführten Politik der >verbrannten Erde< Nachdruck zu verleihen, wurden sogenannte >Vernichtungsbataillone< aus systemtreuen Elementen formiert. Ihre Aufgabe bestand darin, in den vom Feind bedrohten Zentren und Städten des Landes Zerstörungen in größtmöglichem Umfange durchzuführen. Auf Befehl des Hauptquartiers des Obersten Befehlshabers bildete man unter der Leitung der Hauptverwaltung für Militäringenieurwesen, etwa in Char’kov, Kiev und in anderen Städten, auch operative Pioniergruppen zu dem alleinigen Zweck, alle wichtigen Objekte und Häuser in der Region zu sprengen und zu unterminieren.

Von Generaloberst Volkogonov wurde zudem der Befehl Nr. 0428 des Hauptquartiers des Obersten Befehlshabers vom 17. November 1941 veröffentlicht. In diesem für seine Grausamkeit charakteristischen schrecklichen Befehl ordnete Stalin an, in jedem Regiment Brandstifterkommandos zu formieren, die gemeinsam mit Partisanen alle menschlichen Siedlungen im deutschen Hinterland in einer Tiefe von 40 ‑ 60 Kilometern und 20 ‑ 30 Kilometern rechts und links der Straßen ohne Ausnahme »vollständig zu zerstören und niederzubrennen« hatten. Zusammengefaßte Kräfte der Luftwaffe sollten sich an diesem Zerstörungswerk beteiligen. Irgendeine Rücksichtnahme auf die hier ja auch lebende Bevölkerung, die ihres letzten Unterschlupfes beraubt und in die eisigen Schneewüsten hinausgejagt wurde, gab es nicht. »Dörfer und Häuser brannten immer dort, wo keine Deutschen waren«, schreibt Volkogonov.  . . .

Die unmenschliche Haltung Stalins und seines Regimes der eigenen Bevölkerung gegenüber zeigte sich vollends, nachdem die deutschen Truppen 1943 den Rückzug angetreten hatten und sowjetische Truppen Zug um Zug die bisher besetzten Gebiete zurückgewannen. Den Truppen der Roten Armee auf dem Fuße folgten überall Truppen des NKVD zur Sicherung des Hinterlandes, die die Aufgabe hatten, »tschekistische Maßnahmen« zu ergreifen, um »das gesamte von den Okkupanten befreite Territorium«, »bis zum letzten von feindlichen Elementen«, zu säubern, die Situation >wiederherzustellen< und eine >revolutionäre Ordnung< im Rücken der kämpfenden Front zu schaffen. Was dies zu bedeuten hatte, zeigte die Praxis der sowjetischen Sicherheitsorgane mit hinreichender Klarheit: Die Erschießung aller Einwohner ohne Rücksichtnahme auf Alter und Geschlecht, die ein wenn auch nur leidliches Verhältnis zur deutschen Besatzungsmacht oder deren Soldaten unterhalten hatten. Es waren Hunderttausende, die den Säuberungsmaßnahmen des NKVD jetzt zum Opfer fielen, eine Größenordnung, die mit der Anzahl der Opfer der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD auf deutscher Seite vergleichbar ist.

Ein furchtbares Schicksal erwartete die kaukasischen Völker der Kalmyken, Karacajer, Cecenen, Ingusen, Balkaren sowie die Krimtataren ihrer Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht wegen. Nach ersten, schon tiefgreifenden blutigen Säuberungswellen wurden diese Völker auf Beschluß Stalins aus ihren angestammten Wohnsitzen gerissen und entweder in die Konzentrationslager Sibiriens oder aber nach Mittelasien deportiert, dort zerstreut, ihrer Volkspersönlichkeit somit entkleidet und fortan praktisch als Sträflinge behandelt. Zehntausende sind diesem von Chruscev 1956 so genannten >Massenverbrechen<, an dem er selbst beteiligt gewesen war, zum Opfer gefallen, einem Verbrechen, das unter Anwendung brutaler Methoden verübt wurde mit den üblichen Begleiterscheinungen von Erschießungen und systematischem Auseinanderreißen von Familien. Es liegt hier eindeutig der Tatbestand des Völkermordes vor.

Wer schon der eigenen Zivilbevölkerung gegenüber so schonungslos verfuhr, der konnte natürlich auch den eigenen Soldaten gegenüber keine Schonung kennen. Es läßt sich dies an vielen Eigentümlichkeiten erweisen. Eine verbreitete Erscheinung in der Roten Armee war es zum Beispiel, daß Soldaten sich vor ernsthaften Angriffen selbst Verletzungen beibrachten, um sich den Kampfhandlungen zu entziehen. Die in allen Truppenteilen anzutreffenden Selbstverstümmeler wurden, wie sich den Akten immer wieder entnehmen läßt, in der Regel erschossen.   . . . 

Generaloberst Volkogonov hat Tausende von operativen Dokumenten des Obersten Befehlshabers Stalin durchgesehen und nicht in einem einzigen von ihnen einen Hinweis darauf gefunden, daß es darauf ankomme, Menschenleben zu schonen, die gestellten Ziele mit einem Minimum von Opfern zu erreichen, die Soldaten nicht in unvorbereitete Angriffe zu werfen. Ganz im Gegenteil verlangte Stalin Erfolge »um den Preis beliebiger Opfer«.  . . .

Und so führte Stalin, nach Volkogonov, die Streitkräfte zum Siege »um den Preis unaussprechlicher Verluste«. Woher kommt es, so Volkogonov, »daß unsere Verluste zwei‑ bis dreimal so hoch waren, wie die des Gegners?« ‑ eine noch untertreibende Frage, da nach den Erfahrungen der finnischen Armee die sowjetischen Verluste schon im Winterkrieg die finnischen um das Fünffache übertroffen hatten: »Ohne jede Rücksicht auf Verluste ist die Infanterie in Massen gegen die finnischen Stellungen getrieben worden.«

Das bereits im Winterkrieg in der Roten Armee angewandte Angriffsverfahren, das sich von demjenigen aller anderen Armeen unterschied, wiederholte sich in vergröberter Form während des deutsch‑sowjetischen Krieges, entsprechend der Devise: »Sie können nicht alle töten!« »Mißlingt der erste Angriff, so führt stures Festhalten am Auftrag oft zum Verbluten der russischen Infanterie im Abwehrfeuer«, heißt es in einem deutschen Erfahrungsbericht aus dem Jahre 1941. Und die Majore Anikin und Goracev vom 10. Schützenkorps umschrieben dieses Angriffsverfahren am 10. März 1943 im Kuban’‑Brückenkopf folgendermaßen: »Wenn einmal die Durchführung befohlen ist und sich die Durchführbarkeit dieses Befehls als unmöglich herausstellt, so werden trotz höchster Verluste die Rotarmisten immer wieder in den Kampf an derselben Stelle gejagt.«

Wie konnte dies auch anders sein in einer Armee, in der schon die Armeeführer persönlich bedroht wurden. Stalin war in der letzten Dekade des Juli 1941 auf das Äußerste darüber erregt, daß die Deutschen Smolensk eingenommen hatten, sah er doch die Gefahr eines strategischen Durchbruchs auf Moskau heraufziehen. Im Auftrage des Hauptquartiers des Obersten Befehlshabers befahlen der Chef des Stabes des Oberkommandos der Westrichtung, General Malandin, und das Mitglied des Kriegsrates, Bulganin, dem Oberbefehlshaber der 16. Armee, Generalleutnant Lukin, dessen Truppen eingeschlossen waren, am 20. Juli 1941 die Wiedereinnahme der Stadt Smolensk um jeden Preis: »Der Befehl des Hauptquartiers ist durch Sie nicht ausgeführt worden. Antworten Sie! Der Befehl ist auf jeden Fall bis zum Letzten auszuführen. Für die Nichtausführung werden Sie arretiert und dem Gericht übergeben.«
Einen entsprechenden Befehl hatte auch der Oberbefehlshaber der ebenfalls bei Smolensk eingeschlossenen 20. Armee, Generaloberst Kurockin, erhalten. Der schwerverwundete Generalleutnant Lukin vermittelte den Deutschen einen Eindruck davon, in welcher Form die Angriffe nun abliefen. Die demoralisierten Soldaten seien >vorgetrieben< und bei den vergeblichen Versuchen >immer wieder< zu Zehntausenden geopfert worden. »Die Truppen greifen nur unter dem härtesten Zwang der politischen Organe an«, so auch die Erfahrung des bereits genannten Regimentskommandeurs, Major Kononov.

Für das Bild derartiger Angriffe seien aus der unübersehbaren Menge einige entsprechende Zeugnisse angeführt. »Von den eingesetzten Kräften in Stärke von etwa 700 Mann sind von dem ersten Vorstoß nur 70 ‑ 80 zurückgekommen«, so etwa der Chef des Stabes der 46. Schützendivision, ein Oberst, am 24. Juli 1941. »Der zweite Vorstoß mit einem neu herangekommenen Bataillon ist . . . ebenso verlustreich gewesen.«

Das deutsche IX. Armeekorps meldete am 2. August 1941, die feindlichen Angriffe würden »trotz stärkster Verluste außerordentlich zähe geführt . . . Durch eigene Beobachtung und durch Gefangenenaussagen wurde festgestellt, daß die russische Infanterie durch MG‑Feuer von rückwärts und mit der Pistole von den Kommissaren in den Kampf getrieben wird.« »Seit 5 Tagen versuchen wir anzugreifen«, vertraute der gefallene Oberleutnant Sergeev, am 17. April 1943 seinem Tagebuch an: »In den Kompanien sind 6 ‑ 8 Mann geblieben.«

Was eine so abartige Angriffstaktik für die Soldaten der Roten Armee bedeutete, dafür mögen die Aussagen einiger gefangener Überlebender stehen: »Am 7. 7. wurde die Brigade zum erstenmal bei dem Angriff auf Baskino eingesetzt«, so das Vernehmungsprotokoll. »Bei diesem ersten Angriff wurde das 1. Bataillon fast vollständig aufgerieben . . . Das Angriffsgelände soll bereits durch die vorangegangenen Angriffe der 12. Garde‑Division mit Toten übersät gewesen sein. Nachdem das Bataillon sich nach dem ersten Angriff wieder gesammelt hatte, erschienen der Brigade‑Kommandeur und der Brigade‑Kommissar. Sie ließen alle Komsomolzen und Parteimitglieder heraustreten und bildeten aus ihnen die 1. Kompanie, die bei dem nächsten Angriff in zweiter Linie vorgehen und alle diejenigen erschießen sollte, die zurückgingen oder sich hinlegten. Auf Befehl des Kommissars wurden 3 Rotarmisten erschossen . . . .
Bei dem nächsten Angriff am 9. 7. traten abermals sehr starke Verluste ein, so daß die Reste der Brigade gegen Mittag zu einem Bataillon zusammengefaßt wurden, das wiederum zu einem erneuten Angriff auf Baskino eingesetzt wurde. Von diesem Angriff kehrten am Abend des 9.7. beim Versammeln des Bataillons nur noch 60 Mann zurück. Das Angriffsgelände stellte ein furchtbares Bild durch die große Zahl der Leichen dar, insbesondere in den Mulden lagen durch Volltreffer überall Teile von menschlichen Körpern umher, so daß kein Rotarmist sich diesem grausamen Anblick entziehen konnte.«

Erwähnenswert sind noch einige weitere Praktiken des Kampfverfahrens in der Roten Armee, etwa daß vor Angriffen, wenn irgendmöglich, Schnaps ausgegeben wurde. Als Folge hiervon gingen die Rotarmisten in dichter Zusammenballung vor und erlitten hohe Verluste. Anders als die deutsche war die sowjetische Infanterie oft nicht einmal mit Stahlhelmen ausgerüstet und dem Risiko schwerer Kopfverletzungen somit schutzlos preisgegeben. Schon in den Kämpfen mit den Japanern am Chasan‑See und mit den Finnen im Winterkrieg waren Panzerbesatzungen in ihren Kampfwagen zuweilen mit Schlössern eingeschlossen worden. Eine solche Einsperrung sowjetischer Soldaten wurde 1941 deutscherseits auch in Bunkern festgestellt. In den Luftstreitkräften bestand das Verbot, mit Fallschirmen über deutschem Gebiet abzuspringen. Häuser, so ein Befehl von Major Romanenko, vom 16. Januar 1942, sollten auch in brennendem Zustand weiter verteidigt werden. Es spielte keine Rolle, wenn die Rotarmisten in den Flammen umkamen. In diesen Zusammenhang schließlich gehört auch, was Marschall der Sowjetunion Zukov nach dem Kriege dem hierüber sprachlosen amerikanischen General Eisenhower offenbarte, daß nämlich »wenn wir an ein Minenfeld kommen, unsere Infanterie genauso angreift, als wenn dasselbe nicht dort wäre«. Die entstehenden Menschenverluste wurden als Selbstverständlichkeit hingenommen.  . . .

Stalin persönlich auch war es, der bei Kriegsende durch Befehl an die Oberbefehlshaber und an die »Genossen Berija, Merkulov, Abakumov, Golikov, Chrulev, Golubev« die Einrichtung riesiger NKVD/NKGB‑Lager mit einem Fassungsvermögen für eine Million Personen für »ehemalige Kriegsgefangene und repatriierte Sowjetbürger« gefordert hatte. Was aber speziell die Zahl der Militärtoten angeht, so sei in Erinnerung gebracht, daß sich die Sowjetunion nicht nur mit dem Deutschen Reich, sondern zwischen 1939 und 1945 auch mit folgenden Staaten im Kriegszustand befunden oder diese mit Waffengewalt angegriffen hatte: Polen, Finnland, Italien, Rumänien, Ungarn, Slowakei, Kroatien, Iran, Bulgarien und Japan. Wenn schon Generaloberst Volkogonov die sowjetischen Verluste als zwei‑ bis dreimal so hoch wie die des Gegners veranschlagt, sie tatsächlich allein im Winterkrieg gegen Finnland >vorsichtig geschätzt< aber das Fünffache des Gegners betragen hatten und sich das Verhältnis zwischen 1941 und 1945 weiter negativ verschoben haben dürfte, so müssen die Ursachen hierfür primär auf sowjetischer Seite zu suchen sein.
Die Sowjetunion hatte die Haager Landkriegsordnung nicht anerkannt und die Genfer Kriegsgefangenenkonvention nicht ratifiziert, um zu verhindern, daß Sowjetsoldaten sich in die Gefangenschaft des Gegners salvierten.

Kriegsgefangene galten grundsätzlich als >Landesverräter< und >Deserteure<, die mit allen Mitteln zu Lande und aus der Luft vernichtet werden sollten, wie sie denn von den sowjetischen Luftstreitkräften in den Lagern auch gezielten Bombenangriffen ausgesetzt gewesen waren. Für die Verluste unter den Kriegsgefangenen war, so auch die Meinung des Internationalen Roten Kreuzes, ursächlich also die Sowjetregierung selbst verantwortlich, was die Deutschen aber nur insoweit zu entlasten vermag, als die Behandlung auf ihrer Seite nicht von Gleichgültigkeit und bösem Willen, sondern von der Macht der Umstände diktiert gewesen war. Die in der Roten Armee während der ganzen Dauer des Krieges üblichen Einzel‑ und Massenerschießungen haben des weiteren unter den Soldaten Verluste hervorgerufen, die nur schwer zu bestimmen sind, allgemein aber gewaltig gewesen sein müssen. Und endlich hat die Barbarei sowjetischer Angriffsverfahren Hekatomben von Menschenleben gekostet. Durch diese von der sowjetischen Führung kaltherzig einkalkulierten Angriffsmassaker unterschied sich die Rote Armee von den Armeen aller anderen Länder, einschließlich der deutschen.

Allen Gegenmaßnahmen zum Trotz hatten sich bis Ende 1941 über 3,8 Millionen, insgesamt während des Krieges 5,245 Millionen Sowjetsoldaten, nach amtlicher Definition >Landesverräter< und >Deserteure<, den Deutschen gefangengegeben. Zwei Millionen von ihnen sind vorwiegend im ersten Kriegswinter an Hunger und Seuchen zugrundegegangen. Eine große Anzahl ist von den Organen der Sicherheitspolizei und des SD in völliger Verblendung auch erschossen worden. Eine Million sowjetischer Soldaten aber hatte freiwillig Kriegsdienste auf deutscher Seite genommen und sich zum Kampf gegen das Sowjetregime auf deutscher Seite bewaffnen lassen. Unter solchen Umständen stellt sich denn auch die Frage, wie man im Ernst von einem »Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion« sprechen kann. Welche Berechtigung hat zudem die stereotype Redeweise eines angeblichen >Massenheroismus< und >Sowjetpatriotismus< der sowjetischen Soldaten, wenn es der Anwendung der verwerflichsten Zwangsmittel bedurfte, um die Rotarmisten in den Kampf zu treiben?
»Ich wiederhole, die militärische Niederlage war das Resultat des Unwillens der Armee zu kämpfen«, schrieb der ehemalige Leutnant Oleg Krasovskij, später Adjutant des Generalmajors Blagovegcenskij und bis zu seinem Tode 1993 Chefredakteur des vom Russischen Nationalverein herausgegebenen Almanach VECE., im Hinblick auf 1941.
Nach Generalleutnant Professor Pavlenko sind die Fragen des deutsch‑sowjetischen Krieges von der Sowjethistoriographie »skrupellos verfälscht« worden.

6. Grundfragen der Sowjetpropaganda und deren Werkzeuge

Der 22. Juni 1941 hatte die internationale Situation der Sowjetunion von Grund auf verändert und sie von dem Odium ihrer bisherigen Partnerschaft mit Deutschland mit einem Schlage befreit. Denn durch das »in höchstem Grade amoralische und verbrecherische Abkommen« vom 23. August 1939 hatte sich Stalin, wie Dasicev dies formuliert, zum »Komplizen der faschistischen Aggression« gemacht. »Der deutsch‑sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939«, schon für den Sozialisten Rossi über jeden Zweifel erhaben, »war ein Angriffspakt gegen Polen . . . Das Geheimabkommen bewies auf juristischer Ebene, daß dieses Verbrechen zu zweit begangen wurde, nämlich von Deutschland und Rußland
Vom ersten Tage des deutsch‑polnischen Krieges, dem 1. September, an hatte die Sowjetunion unmittelbar militärische Beihilfe zur Zerschlagung der Republik Polen geleistet, indem sie bereitwillig einem Ersuchen des Chefs des Generalstabes der deutschen Luftwaffe nachkam und durch den Rundfunksender in Minsk Peilzeichen für die in Polen operierenden deutschen Kampfflugzeuge gab. Am 3. September 1939 hatte die Sowjetregierung ihre >unbedingte< Zustimmung zur Einnahme der ihr in Moskau zugesprochenen >Interessensphäre< gegeben, seit dem 10. September mit dem deutschen Botschafter in Moskau, Graf von der Schulenburg, die technischen Modalitäten hierfür verabredet und am 17. September einen unprovozierten und vertragsbrüchigen Angriffskrieg in den Rücken des um seine Existenz ringenden Polen begonnen.

Die deutsch‑sowjetischen Militärverhandlungen vom 20. September 1939 in Moskau gipfelten in einem Protokoll, in welchem die deutsche Wehrmacht sich verpflichtete, »notwendige Maßnahmen« zur Verhinderung »etwaiger Provokationen und Sabotageakte durch polnische Banden und dergleichen« in den der Roten Armee zu übergebenden Städten und Orten zu treffen. Die Rote Armee ihrerseits verpflichtete sich, die »nötigen Kräfte zur Vernichtung polnischer Truppenteile und Banden« auf dem Rückzugsweg deutscher Truppen zur Verfügung zu stellen. »Ein einziger Schlag gegen Polen«, so Volkskommissar Molotov, der verantwortliche Leiter der sowjetischen Politik, am 31. Oktober 1939 in einer Rede vor dem Obersten Sowjet, »erst seitens der deutschen, dann seitens der Roten Armee, und nichts blieb übrig von dieser Mißgeburt des Versailler Vertrages, die ihre Existenz der Unterdrückung nichtpolnischer Nationalitäten verdankt hatte.«  . . .

Nachdem die polnische Frage in sowjetischer Sicht ‑ und zwar >endgültig geregelt< war, wollte die Sowjetregierung, wie Stalin erklärte, sofort an die Lösung des >Problems< der baltischen Staaten gemäß Protokoll vom 23. August 1939 herantreten, das heißt sie begann die souveränen Republiken Estland, Lettland und Litauen ungeachtet der bestehenden Verträge massiv unter Druck zu setzen und deren Unabhängigkeit Zug um Zug unter Anwendung politischen Terrors und der Androhung militärischer Gewalt zu erdrosseln.

Finnland, das in Übereinstimmung mit dem deutschsowjetischen Vertrag vom 23. August 1939 ebenfalls als der >Interessensphäre< der UdSSR zugehörig betrachtet wurde, war zweifellos ein ähnliches Schicksal zugedacht wie Polen und den baltischen Staaten, nur nahm der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Finnland infolge des hartnäckigen finnischen Widerstandes einen unerwarteten Verlauf, so daß die Sowjetregierung, um der drohenden Verwicklung mit den Westmächten zu entgehen, ihre Ziele Finnland gegenüber zurückstecken und sich mit der Annexion großer Gebietsteile in Karelien begnügen mußte. Auf der Grundlage des deutsch‑sowjetischen Abkommens vom 23. August 1939 nahm die Sowjetunion im Frühjahr 1940 auch Rumänien gegenüber eine aggressive Haltung ein. Das Oberkommando der an der sowjetisch‑rumänischen Staatsgrenze konzentrierten sowjetischen 12. Armee hatte am 26. Juni 1940 bereits Befehl zu einem Überraschungsangriff auf Rumänien erteilt, als die Regierung in Bukarest der ultimativen Forderung der Sowjetregierung nach Abtretung Bessarabiens und der Nordbukowina auf dringenden Ratschlag Deutschlands hin nachgab und der Ausbruch eines kriegerischen Konfliktes unterblieb.

Die Vereinbarungen Stalins mit Hitler hatten unmittelbar also zur Folge gehabt, daß die Sowjetunion Angriffskriege gegen Polen und Finnland führte, daß Rumänien unter Kriegsandrohung zu gewaltigen Landabtretungen gezwungen wurde und die Selbständigkeit der baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen unter indirekter oder direkter Gewaltanwendung beseitigt und diese Länder in das Sowjetimperium inkorporiert wurden. Polen war von der Sowjetregierung als eine ausschließlich die Sowjetunion und Deutschland angehende Frage ausgegeben und den Westmächten Großbritannien und Frankreich das Recht zu einer Einmischung in die polnischen Angelegenheiten grundsätzlich bestritten worden. Denn, so wurde in Moskau verbreitet, England und Frankreich, die über »Hunderte Millionen von Kolonialsklaven ungeteilt herrschen«, hätten überhaupt nicht die moralische Qualität, »von der Freiheit der Völker« zu sprechen.  . . .

England und Frankreich wurden von der Sowjetregierung als Urheber eines imperialistischen Krieges gebrandmarkt und für seine Fortführung und Ausweitung verantwortlich gemacht. So bezeichnete denn auch Molotov in seiner Rede vor dem Obersten Sowjet am 31. Oktober 1939 das von den Westmächten vorgebrachte Motiv für eine Weiterführung des Krieges gegen Deutschland, den Kampf gegen den auch in der Sowjetunion bis 1939 und ab 1941 wiederum mit allen Mitteln bekämpften >Faschismus<, als eine sinnlose und verbrecherische Dummheit und Grausamkeit oder, wie die PRAVDA am 30. September 1939 schrieb, »ein von Provokateuren und ehrlosen Politikern an den Völkern begangenes Verbrechen«. Und Stalin, die offizielle Meinung zusammenfassend, erklärte der PRAVDA in einem Interview am 29. November 1939:
»l. Nicht Deutschland hat Frankreich und England angegriffen, sondern Frankreich und England haben Deutschland angegriffen und damit die Verantwortung für den gegenwärtigen Krieg auf sich genommen;
2. Nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten hat Deutschland Frankreich und England Friedensvorschläge gemacht, und die Sowjetunion hat die Friedensvorschläge Deutschlands öffentlich unterstützt, weil sie dachte und immer noch denkt, ein rasches Ende des Krieges würde die Lage aller Länder und Völker radikal erleichtern;
3. Die herrschenden Kreise Frankreichs und Englands haben Deutschlands Friedensvorschläge und die Bemühungen der Sowjetunion nach rascher Beendigung des Krieges in verletzender Weise zurückgewiesen. Das sind die Tatsachen.«

Die Partnerschaft und Komplizenschaft Stalins und Hitlers zeigte sich nicht nur darin, daß die Sowjetunion aktiver Mithandelnder war bei der gewaltsamen Umgestaltung der staatlichen Verhältnisse in Osteuropa, sondern daß sie das Deutsche Reich auch in seinem Kampf gegen die Westmächte politisch, wirtschaftlich und militärisch aktiv unterstützte. Die maritime Hilfeleistung für die deutsche Seekriegführung gegen England, die auf Geheiß Moskaus von der Kommunistischen Partei Frankreichs unternommene Sabotierung der französischen Kriegsanstrengungen, das durch keinerlei Rücksichten gehemmte Bestreben der Sowjetregierung, die durch die Waffenerfolge Deutschlands in Europa geschaffene Lage völkerrechtlich zu sanktionieren, und schließlich die gigantischen strategischen Wirtschaftslieferungen an das Reich ‑ alle diese Vorgänge sind bereits hinreichend bekannt und brauchen an dieser Stelle nicht mehr wiederholt zu werden. Nur einige markante Außerungen seien angeführt, um die Haltung des Sowjetstaates zu charakterisieren.

Da es in sowjetischer Sicht allein die Westmächte waren, die eine Fortsetzung des Krieges wünschten, wurde die Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die deutschen Truppen im Frühjahr 1940 als ein berechtigter Gegenzug gegen die von Großbritannien und Frankreich betriebene Ausweitung des Krieges auf Nordeuropa gewertet. Molotov hatte der Reichsregierung am 9. April 1940 in aller Form das Verständnis der Sowjetunion für die, wie er sich ausdrückte, Deutschland »aufgezwungenen … Verteidigungsmaßnahmen« ausgesprochen und ihr hierbei »vollen Erfolg« gewünscht. Die auflagenstärksten Zeitungen der UdSSR, das Parteiorgan PRAVDA, das Regierungsorgan IZVESTIJA und das Gewerkschaftsorgan TRUD, kommentierten die Vorgänge in Skandinavien in der Weise, daß sie schrieben, England und Frankreich seien in die neutralen Gewässer der skandinavischen Länder >eingefallen<, um Deutschlands militärische Lage zu unterminieren. Angesichts der Tatsache, daß die Westmächte »die Souveränität der skandinavischen Staaten verletzt«, die »Kriegshandlungen auf Skandinavien ausgedehnt« hätten, sei eine Diskussion der Rechtmäßigkeit des Deutschland >aufgewungenenk Vorgehens eine >Lächerlichkeit<. England und Frankreich hätten die »ganze Schwere der Verantwortung für die Ausdehnung der Kriegshandlungen nach Skandinavien auf sich genommen«. In seiner Rede vor dem Obersten Sowjet am 31. Juli 1940 erklärte Molotov in aller Offenheit, ohne indirekte Unterstützung durch die UdSSR hätte Deutschland seinen Machtbereich nicht auf Skandinavien und Westeuropa ausdehnen können.

Auch für die deutschen Angriffe auf die neutralen Länder Holland und Belgien fand die Sowjetregierung nur verstehende und verteidigende Worte. PRAVDA und IZVESTIJA, von Stalin persönlich instruiert, verwiesen darauf, es hätte schon lange zu den Plänen des anglo‑französischen Blockes gehört, auch Holland und Belgien »in den imperialistischen Krieg hineinzuziehen«. Deutschland habe infolgedessen vor der Notwendigkeit gestanden, einen Gegenschlag gegen den von den Westmächten geplanten Einmarsch in das Reichsgebiet zu führen. Nicht Deutschland, sondern England und Frankreich hätten somit »zwei weitere kleine Länder in die Flammen des imperialistischen Krieges« gestoßen. Ebenso wurde die deutsche Westoffensive gegen Frankreich in Moskau 1940 durchaus nicht als >Einfall faschistischer Truppen<, sondern als eine meisterhaft angelegte und durchgeführte strategische Operation gefeiert. Als Frankreich niedergeworfen war, sprach Molotov dem deutschen Botschafter Graf von der Schulenburg »die wärmsten Glückwünsche der Sowjetregierung zu diesem glänzenden Erfolg der deutschen Wehrmacht« aus. Die Sowjetunion hatte sich in der Rolle eines >wertvollen Sekundanten< Deutschlands begriffen, und Botschafter Graf von der Schulenburg berichtete nach Berlin, die Verlautbarungen des sowjetischen Presse‑ und Propagandaapparates während der Operationen in Frankreich hätten den »besten Erwartungen« der Deutschen entsprochen. Molotov sollte mehrfach, so in seiner Rede vom 31. Juli 1940 und in seinen Unterredungen mit Hitler im November 1940, daran erinnern, daß die deutsch‑sowjetischen Abkommen von 1939 »nicht ohne Einfluß auf die großen deutschen Siege gewesen seien«.

Die Komplizenschaft Stalins und Hitlers auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg und in der ersten Kriegsphase war mit dem 22. Juni 1941 abrupt beendet. Ohne eigenes Zutun fand sich die Sowjetunion unversehens im Kreise der Staaten wieder, die sich Deutschlands zu erwehren hatten und sich im Kriege mit dem Reich befanden, eine, wie Stalin schon in seiner Rede vom 3. Juli 1941 aussprach, überaus günstige Situation, »ein ernster Faktor von langer Dauer, auf dessen Grundlage sich die militärischen Erfolge der Roten Armee im Kriege gegen das faschistische Deutschland entwickeln müssen«. Deutschland hatte sich, so Stalin, »in den Augen der ganzen Welt als blutiger Aggressor entlarvt«, aus welchem Grunde nach Stalin »die besten Menschen Europas, Amerikas und Asiens … der Sowjetregierung ihre Sympathien entgegenbringen, die Handlungsweise der Sowjetregierung billigen und erkennen, daß unsere Sache gerecht ist . . . « Von nun an gab es nur noch zwei klar voneinander geschiedene Kriegsparteien, die Angreifer, mit Deutschland an der Spitze, und die Angegriffenen, deren sichtbarstes Opfer jetzt ironischerweise die Sowjetunion geworden war. Diese günstige politische Lage wußte die Sowjetführung vom ersten Kriegstage an in einer noch nicht dagewesenen Hemmungslosigkeit auszunutzen, indem sie nun auch die Propaganda als Waffe voll in den Dienst der Kriegsanstrengungen stellte.

Es waren die sowjetischen Journalisten und Literaten, die Künstler und auch Historiker, die aufgerufen wurden, auf ihre Weise einen Beitrag zum Siege der Sowjetunion zu leisten.  . . .

Die »nichtsahnende, friedliche Sowjetunion«, so die bis heute kolportierte und anscheinend unausrottbare Geschichtslegende, sei von den »Faschisten heimtückisch und wortbrüchig« überfallen worden. Folgt man der Legende, so stand die Sowjetführung unter dem Schock dieses unerwarteten Treubruches ihres bisherigen Vertragsfreundes, Komplizen und Partners.  . . .

Wohlgesteuert brach in der Tat eine Propagandalawine los, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte, die den gesamten sowjetischen Machtbereich durchdrang und tiefe Spuren auch in nichtsowjetischen Ländern hinterließ. Und die Deutschen hatten wenig Ahnung davon, was sich hier gegen sie zusammenbraute.  . . .

In erster Linie aber gilt es, sich an Il’ja Grigor’evic Éhrenburg zu erinnern, der in der Kriegspropaganda der Sowjetunion die beherrschende Rolle spielte.  . . . Die jahrelang von ihm mit großem Geschick betriebene politische Agitation mit der er nach dem Tode seines Meisters Stalin in dem Roman »Tauwetter« und in seinen Lebenserinnerungen »Ljudi, gody, iizn’« (Menschen, Jahre, das Leben) das Vergangene und seine eigene Handlungsweise umzubewerten und zu verschleiern und sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen wußte, hat ihm auch in westlichen Ländern einen nicht zu unterschätzenden und bis in die Gegenwart hineinreichenden Kredit eingeräumt. Die Bundesrepublik Deutschland macht hiervon keine Ausnahme. Und es ist einigermaßen erschütternd zu verfolgen, wie wenig der hier verbreitete Intellektualismus die Sowjetwelt verstanden hat oder vielleicht auch nur verstehen wollte, und mit welcher Leichtigkeit man sich gerade hier über die Gebote von Anstand und Moral hinwegsetzt.  . . .

 Wer also war Ehrenburg?
Der 1891 in Kiev als Sohn eines jüdischen Bierbrauers geborene Ehrenburg . . . als sogenannter >sechzehnjähriger bolschewistischer Revolutionär< emigrierte er nach Paris, um von nun an das unstete Dasein eines heimat- und wurzellosen Intellektuellen zu führen, der für Menschen, die in einem geordneten bürgerlichen Leben ehrlichem Broterwerb nachgehen, zeitlebens nur tiefe Abneigung empfand. . . . Doch von der Revolution angezogen, ging er 1917 nach Moskau, wo er sich freilich mit den neuen Machthabern wieder überwarf, so daß er abermals versuchte, in Paris Fuß zu fassen. Von der französischen Polizei indessen ausgewiesen, fand er bis 1924 seinen Aufenthalt in der ungesunden Atmosphäre des damaligen Berlin, wo er, seit 1921 in sowjetischen Diensten stehend, seinen Lebensunterhalt anscheinend als Mitarbeiter der sowjetischen Presse und vor allem als Zuträger und Spitzel der berüchtigten sowjetischen Geheimpolizei GPU (Gosudarstvennoe Politiceskoe Upravlenie, Staatliche Politische Verwaltung) verdiente. Anschließend in Moskau und auch wiederum in Paris, wurde er im Spanischen Bürgerkrieg 1936‑1939 als Korrespondent und Agitator nach Spanien abkommandiert, hielt sich 1939‑1940 dann abermals in Paris und, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, mit unklarem Auftrag in Berlin auf, um seinen Wohnsitz alsdann endgültig nach Moskau zu verlegen.

Ehrenburg ist internationalen Kreisen in den zwanziger Jahren durch verschiedene Veröffentlichungen bekanntgeworden . . .

Denn als der deutsch‑sowjetische Krieg begann, war die Sowjetpropaganda in gewissem Sinne gefangen in ihrem eigenen Garn. . . . Stalin jedoch kam es darauf an, »Haß, Haß und nochmals Haß« nicht nur gegen den >Faschismus<, sondern gegen alles Deutsche überhaupt zu erzeugen, wie Generalleutnant Wlassow berichtete, Ohrenzeuge, als Stalin nach der Schlacht bei Kiev im Kreml ein entsprechendes Ansinnen an Berija richtete. . . . In der Tat verfaßte er von nun an jeden Tag einen, oft mehrere und bis zu fünf Artikel für das Regierungsorgan IZVESTIJA, für das Parteiorgan PRAVDA und vor allem für das Armeeorgan KRASNAJA ZVEZDA, aber auch für prosowjetische Blätter im Ausland.  . . . »Mit Ehrenburgs Artikeln legten wir uns abends hin und standen wir morgens auf.« Ehrenburgs Name war, wie es am 21. September 1944 heißt, jedem Rotarmisten bekannt: »Das Sowjetvolk betrachtet ihn als einen seiner besten Schriftsteller und größten Patrioten.«

So wurde Ehrenburg manchmal befragt, wie man ständig nur über einen und denselben Gegenstand, die Menschenunähnlichkeit der Deutschen, schreiben könne. »Können sie wirklich solche Henker sein?«, fragten die Moskauer im Sommer 1944. . . . und DAGPOSTEN schrieb: »Ehrenburg hält alle Rekorde in intellektuellem Sadismus. Wozu diese schweinische Lüge noch widerlegen und nachweisen, daß Ehrenburg den Deutschen Dinge nachsagt, die bei den Rotarmisten gang und gäbe sind.«

Es ist auch durchaus nicht so, daß Ehrenburg in Großbritannien und den USA überall Verständnis fand. Ein bekanntes Magazin in New York etwa rief 1945 zum Protest gegen die »Grausamkeit sowjetischer Schriftsteller wie Alexej Tolstoy und Ilya Ehrenburg« auf.  . . .

Welcher Wertschätzung Ehrenburg sich zu dieser Zeit bei Stalin erfreute, zeigte sich, als der Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika, Byrnes, 1945 angesichts der sowjetischen Gewaltakte und Übergriffe in Rumänien mit der Veröffentlichung amerikanischer Korrespondentenberichte drohte. Diesen Protest beantwortete Stalin, wie überliefert ist, »mit verächtlicher Handbewegung: >Dann schicke ich Ilja Ehrenburg nach Rumänien und lasse ihn berichten, was er sieht. Sein Wort wird mehr gelten als das Eures Mannes«. . . .

Und eine Analyse dieser Artikelflut ist auch ganz dazu angetan, Erinnerungen an einen anderen Artikelschreiber wachzurufen, an Julius Streicher, den Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes DER STÜRMER, das aber, wie man vielleicht hinzufügen sollte, selbst in den Kreisen der NSDAP seiner Niveaulosigkeit wegen weitgehend abgelehnt wurde. Streicher befand sich 1945/1946 unter den Angeklagten vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, er wurde schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt, weil, wie es in der Urteilsbegründung heißt, er »in seinen Woche um Woche, Monat um Monat erscheinenden Artikeln die Gedankengänge der Deutschen mit dem Giftstoff des Antisemitismus verseuchte und das deutsche Volk zu aktiver Verfolgung der Juden aufhetzte«.

Wenn er also unter dem Anklagepunkt 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) in Nürnberg zum Tode durch den Strang verurteilt worden ist was ist dann erst von Ehrenburg zu sagen, der über Jahre hinweg »Woche um Woche, Monat um Monat«, die Gedankengänge der Völker der Sowjetunion (und auch der westlichen Länder) mit dem Giftstoff des Antigermanismus verseuchte und zu aktiver Verfolgung und Tötung der Deutschen aufhetzte? Ist Streicher der >Judenhetzer Nr. l< gewesen, dann erscheint es nur berechtigt, Ehrenburg den >Deutschenhetzer Nr. l< zu nennen. »Streicher war verantwortlich für den Tod von Millionen von Juden«, schrieb Ehrenburg als Prozeßbeobachter in Nürnberg am 13. Dezember 1945. Es wird noch ausführlicher darzulegen sein, daß er Streicher nicht nur in nichts nachstand, sondern ihn in seiner Bosheit vielleicht sogar vielfach noch übertroffen hat.
Die Sowjetunion, ohne eigenes Verdienst plötzlich nicht mehr im Lager der Angreifer, sondern der Angegriffenen, bot ihren Propagandaapparat auf, um ihre bisherige Komplizenschaft mit Deutschland vergessen zu machen und sich als Verteidiger »freiheitsliebender Völker« zu präsentieren. Wie war es doch gewesen?

Am 17. September 1939 hatten die Sowjets Polen überfallen, die Gegend östlich von Lemberg in der Nacht »bombardiert«, »polnische Truppen« »umgangen« und »vernichtet«, »polnische Infanteriedivisionen und Kavalleriebrigaden« »vernichtet«, Flugzeuge »abgeschossen«, Kriegsmaterial und Geschütze »erbeutet« oder ebenfalls »vernichtet«, Gefangene »gemacht«, Städte »eingenommen«, das Kampffeld, Wälder, Landstücke, das Land »von der polnischen Armee gesäubert«, die Festungen Osowiec und Brest, die Stadt Bialystok und andere Plätze in »feierlicher Form« aus den Händen der deutschen Truppen entgegengenommen.
In Lemberg waren 8500 polnische Soldaten, darunter 100 Offiziere, zu den deutschen Truppen geflohen, um sich nicht von den Sowjets gefangennehmen zu lassen ‑ ein glücklicher Entschluß, erwartete sie doch eine Behandlung entsprechend den Grundsätzen der Genfer Konvention und nicht der Genickschuß. Denn die 15 000 in die Hand der Sowjets gefallenen polnischen Offiziere, außer den Berufssoldaten Tausende von »Universitätsprofessoren, Ärzten, Wissenschaftlern, Künstlern, Oberschullehrern«, »die Blüte der polnischen Gesellschaft«, »die als Reserveoffiziere ihre Pflicht erfüllten«, wurden bei Katyn, in Charkov (und an anderen Stellen) bekanntlich auf Befehl Stalins, Kalinins und der anderen Führer der Sowjetunion vom NKVD erschossen. Von 250 000 polnischen Kriegsgefangenen sind 148 000, von 1,6 Millionen deportierter polnischer Zivilpersonen 600 000 in der Sowjetunion zugrundegegangen, und von 600 000 in die Sowjetunion deportierten polnischen Juden verschwanden 450 000 spurlos.

Die Sowjetregierung hatte die Westmächte beschuldigt, unter dem Vorwand der Verteidigung Polens einen imperialistischen Krieg entfacht und alsdann die Ausdehnung der Kriegshandlungen auf Skandinavien, Belgien und die Niederlande verschuldet zu haben. Sie hatte die deutschen Feldzüge propagandistisch, teilweise auch militärisch, unterstützt und diplomatisch sanktioniert, indem sie den neuen Gegebenheiten ‑ um das Reich in Sicherheit zu wiegen ‑ ostentativ Rechnung trug. Schon im Jahre 1939 hatte Moskau die Beziehungen zur Tschechoslowakei abgebrochen, der sie doch vertraglich zur Hilfeleistung verpflichtet war, stattdessen hatte sie die Unabhängigkeit der sezessionistischen Slowakischen Republik anerkannt. Im Mai 1941 entzog sie den Exilregierungen Norwegens, Belgiens, der Niederlande mit der Begründung, sie übten keine Souveränität mehr über ihre Länder aus, die Anerkennung, kurz darauf erfolgte der Bruch mit Griechenland und, in einer Weise, »die selbst die erfahrensten und abgestumpftesten Beobachter der Sowjetmethoden« verblüffen mußte, mit Jugoslawien, dessen Unabhängigkeit von Moskau noch vor Monatsfrist feierlich anerkannt worden war. Dies alles sollte jetzt vergessen sein. Stalin, so verkündete Ehrenburg am 8. Februar 1942, »dachte nicht daran, die Länder anderer Völker anzugreifen . . . Wir bauten Städte, arbeiteten und studierten . . . Wir erzogen menschliche Wesen . . . Aber die Deutschen bauten Panzer« ‑ dies in Anbetracht einer sechs‑ bis achtfachen Panzerüberlegenheit der Roten Armee am 22. Juni 1941.

Ehrenburg, das propagandistische Sprachrohr Stalins, schrieb am 4. Januar 1945 im Hinblick auf die seinerzeitige Politik der Westmächte und nicht etwa der Sowjetunion: »Europa und die Welt können die Moral dieser unmoralischen Politik an den Ruinen von Warschau, dem Leiden von Paris und den Wunden von London erkennen.« In Polen hatten die Sowjets geholfen, deutsche Kampfflugzeuge an ihre Ziele zu lotsen. Jetzt aber waren allein die Deutschen die >Brandstifter<. Heimtückisch war die Sowjetunion Polen am 17. September 1939 in den Rücken gefallen. »Wir grüßen unsere Schwester Polen«, schrieb Ehrenburg am 14. Dezember 1941 heuchlerisch: »Wir wollen Freiheit für uns und für alle Nationen«. »Wir wollen nicht, daß Polen ein Land deutscher Galeerensklaven wird.«
Die Kommunistische Partei Frankreichs war 1939/1940 von Moskau dazu angestiftet worden, die französischen Kriegsanstrengungen zu sabotieren. Nach der Kapitulation hatte die Sowjetregierung der Reichsregierung ihre Glückwünsche ausgesprochen und sich beeilt, den >Französischen Staat<, >Vichy<, diplomatisch anzuerkennen. Nun mit einem Male war Marschall Pétain nur noch der >Judas von Frankreich<, und Ehrenburg beschimpfte Reynaud und die Generale Weygand, Georges, Gamelin als >Kapitulationisten< und erklärte die Volksfront und vor allem die (landesverräterischen) französischen Kommunisten als die einzig wahren Patrioten.  . . .

Was die deutschen Truppen in Frankreich angeht, so herrschte unter ihnen bekanntlich die strengste Disziplin, und selbst André Malraux, Mitglied der KPF bis 1939, Schriftsteller und Minister de Gaulles, der der Résistance angehört hatte, bestätigte nach dem Kriege aus freien Stücken, er habe mit der »deutschen Wehrmacht nur gute, mit der Gestapo nur schlechte Erfahrungen gemacht«. Ehrenburg aber behauptete am 14. Juli 1941: »Die Nazigangster marschierten auf den Boulevards«, um in Frankreich zu plündern und zu rauben, französische Kinder zu morden und die Bevölkerung mit 50 Gramm Brot am Tage dem Hungertode preiszugeben.  . . .

Ehrenburg war dazu ausersehen, die Kriegsrede Stalins vom 3. Juli 1941 propagandistisch sofort umzusetzen. »Wir haben Millionen treuer Verbündeter«, schrieb er am 4. Juli 1941: »Mit uns sind alle jene, die die Freiheit und ihr Land verloren haben: Tschechen, Norweger, Franzosen, Holländer, Polen und Serben . . . Stalins Worte werden die Stadt der niedergetretenen Freiheit erreichen, das mit Füßen getretene Paris. Sie werden die Bauern von Jugoslawien erreichen, die Studenten von Oxford, die Fischer von Norwegen und die Arbeiter von Pilsen. Sie werden eine neue Hoffnung hervorrufen in den Herzen der Völker, die unter den faschistischen Barbaren leiden. Stalins Rede wird von der Bevölkerung Londons gehört werden, die Hunderte barbarischer Luftangriffe erlebt hat, von den Bergleuten von Wales und den Webern von Manchester … Unser Vaterländischer Krieg wird ein Krieg zur Befreiung Europas von dem Joch Hitlers werden.«  . . .

Im Jahre 1930 hatte kein Geringerer als Winston Churchill von dem >Pestbazillus< Lenin geschrieben, mit dem es »in Bezug auf Lebensvernichtung von Männern und Frauen … kein asiatischer Eroberer oder Dschingis Khan« aufnehmen könne. Für Churchill hatten sich mit dem Siege des Bolschewismus »die Grenzen Asiens und die Zustände der finstersten Zeitalter . . . vom Ural bis zu den Pripjetsümpfen« vorgeschoben, war Rußland »in einem endlosen Winter inhumaner Doktrinen und übermenschlicher Barbarei erstarrt«.

Und diese, nach Churchill »niederträchtige Affenschande von Bolschewismus« hatte, wie Ehrenburg den Völkern der Welt am 29. Januar 1942 weismachte, nun eine Fackel erhoben: »Wir haben die Fackel zum Himmel erhoben … die Fackel unserer Kultur und der Kultur, die wir zu Recht als Besitz der ganzen Menschheit betrachten. Das ist die Fackel des antiken Griechenland, der Renaissance, des achtzehnten Jahrhunderts ‑ alles dessen, was die Menschheit der Sklaverei, Stagnation und dem Atavismus entgegengesetzt hat. Es gibt ein leuchtendes moralisches Prinzip in unserem Kampf gegen Deutschland … das Prinzip der Vernunft, der geistigen Reinheit, Freiheit und Würde.«

Eine solche Phraseologie ist vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, daß an der Spitze der Sowjetunion Stalin stand, »der größte Verbrecher aller Völker und Zeiten«, der mit Hilfe der von ihm eingesetzten Kreaturen Jagoda, Ezov, Berija, Kruglov, Abakumov und anderer eine Herrschaft aufgerichtet hatte, die an jedem beliebigen Tag über das »Los ausnahmslos aller Bürger des Landes nach seinen blutigen Launen bestimmen konnte«.

Propagandistisch hatte die Sowjetunion spätestens seit dem 3. Juli 1941 die Position vertreten, sie sei militärisch unvorbereitet und von dem bevorstehenden deutschen Angriff nicht unterrichtet gewesen, sie führe daher einen reinen Verteidigungskrieg und verfolge keine expansiven Ziele. Die Geschichtslegende von dem »heimtückischen faschistischen Überfall auf die nichtsahnende, friedliebende Sowjetunion« ist nachweislich unwahr und hat heute keinen Bestand mehr.  . . .

In dem Maße, wie der Krieg sich seinem Ende näherte und die Rote Armee tief in das Kerngebiet Europas hinein vordrang, mischten sich in die rein defensiven Rechtfertigungen jedoch immer mehr offensive Töne. Die Sowjets, sich ihrer gewaltigen Stärke bewußt, begannen politische Forderungen anzumelden, was in der Weise geschah, daß die Propagandaformel von einer großen >Befreiungsmission< der Roten Armee aufgebracht und der Weltöffentlichkeit präsentiert wurde. ImOktober 1944, als Sowjettruppen die Reichsgrenze in Ostpreußen überschritten, tauchten bei Ehrenburg die ersten entsprechenden Passagen auf, so wenn er am 12. Oktober 1944 schrieb: »Wir retteten die europäische Kultur . . .« Am 12. April 1945 klang es schon deutlicher: »Es ist Zeit festzustellen, daß die Siege der Roten Armee Siege des Sowjetsystems sind, … welches Europa und die Welt vom Faschismus errettete.«

Am 12. Juli 1945 lesen wir in derselben Tonart: »Die Sowjetunion hat die Völker Europas gerettet. . . . Wir lieben Stalin.«

Die Sowjetunion, die angeblich sogar das Schicksal von Prag, Paris und Rom entschieden hatte, war, so Ehrenburg am 10. Januar 1946, im Bewußtsein der Nationen nunmehr »nicht nur ein geographisches, politisches, sondern auch ein moralisches Konzept«, mit anderen Worten also, durch militärische Siege war sie für alle Staaten zu einem Vorbild geworden, woraus sie dann von selbst das Recht ableitete, sich auch ihrerseits in andere Länder einzumischen. Stalin denke nicht daran, »andere Länder anzugreifen«, er denkt daran, »eine neue Welt zu errichten«, hatte Ehrenburg am 8. Februar 1942 geschrieben.

Nun, da der Sieg errungen war, konnte Stalin beginnen, seine Träume von »einem neuen Europa«, zu verwirklichen, einem Europa, wie Ehrenburg sofort erklärte, in dem alle »Mikroben des Faschismus« beseitigt werden. Und wer waren die »Mikroben des Faschismus«? Als >Faschisten< wurden von nun an nicht nur die Deutschen, die Anhänger Hitlers, verstanden, sondern alle diejenigen, die sich den Bolschewisierungspläne der Sowjets aus den unterschiedlichsten Motiven heraus entgegenstellten, alle diejenigen, die Begriffe von »Regierung, Reform und Fortschritt« anders verstanden als die Kommunisten, vor allem das verhaßte Bürgertum aller Schattierungen, die Befürworter des Rechtsstaates nach westlicher Tradition, der ganze »geistige Untergrund anscheinend ordentlicher Leute«. Stalin hatte das politische Ziel gewiesen, Ehrenburg und seinesgleichen machten sich daran, es in gewohnter Weise zu propagieren.

Wenige Tage nachdem die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert hatte, am 17. Mai 1945, schrieb Ermasev: »Der Zusammenbruch des Hitlerreiches befreit die Menschheit nicht automatisch von all den Gefahren, mit denen die dunklen Kräfte des Faschismus und der Reaktion die Welt bedrohen können« ‑ zukunftsweisende und keineswegs unbedeutende Worte. Denn was sich hier ankündigte, war ein wichtiges Anliegen der Sowjetregierung, der dringende Wunsch nämlich, die »faschistischen Verbrecher«, die »Kriegsverbrecher«, auf das strengste bestraft zu sehen. Durch Veranstaltung eines internationalen Schauprozesses nach bewährtem Muster unter führender Beteiligung der Sowjetunion sollte eine abschreckende Wirkung auf alle als »Nachfolger Hitlers und Mussolinis« apostrophierten Kräfte der >Reaktion<, das heißt auf die potentiellen Gegner der stalinistischen Herrschaftsansprüche erzielt werden.  . . .

Deutlicher brauchten die Expansionsabsichten Stalins kaum noch ausgesprochen zu werden. Hier war eine Fortsetzung der Aggressionen gemeint, die mit dem Pakt mit Hitler am 23. August 1939 begonnen hatten und jetzt zum dritten Male eine andere Gestalt erhielten. In gewissem Sinne war hier auch das bis in die Gegenwart hinein gültige Stichwort für die Aktivisten und geistigen Helfershelfer des >Sozialismus< ausgegeben: Kampf gegen den >Faschismus<, so wie er von den Sowjets verstanden wurde. Wer sich also den aggressiven Plänen des sowjetischen Sozialismus entgegensetzt, ist nach dieser Definition jetzt eben ein >Faschist< oder >Nazi<, zu dessen Bekämpfung ein jedes Mittel recht ist. »Wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf«, hatte Stalin dem Vertrauten Titos und Partisanenführer Djilas 1945 eröffnet, »Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armeen kommen. Es kann gar nicht anders sein.« In Wirklichkeit aber begann die Sowjetpropaganda bereits im Frühjahr 1945 über diese Grenzen hinauszuwirken. Und dies erklärt die warnenden Worte Winston Churchills, der in seiner berühmten Rede in Fulton im März 1946 darauf hinwies, daß »fern von Rußland die Fünfte Kolonne des Kommunismus am Werke ist«, die eine >wachsende Bedrohung< für den Frieden und die gesamte >christliche Zivilisation< darstellt.

7. Beiderseitige Greueltaten und ihre Probleme

Ein gewichtiges Argument in der sowjetischen Kriegspropaganda stellten die Greueltaten dar, die auf deutscher Seite tatsächlich oder auch nur angeblich verübt worden sind. Eine wachsende Flut von Beschuldigungen wurde vorgebracht, berechtigte und unberechtigte. Sie sind, will man den rechten Maßstab gewinnen, vor dem Hintergrund überdimensionaler sowjetischer Menschheitsverbrechen zu sehen. So gilt es, die Spreu vom Weizen zu trennen und an den hervortretenden Beispielen die Berechtigung der sowjetischen Anschuldigungen zu untersuchen und zu prüfen, welche politischen Absichten sich hinter der Propagandakampagne verbargen. Denn bevor die Deutschen in der Sowjetunion oder in den von ihr annektierten Gebieten auch nur eine Untat begehen konnten, hatten die Bol’seviki von sich aus bereits Millionen und Abermillionen unschuldiger Menschen vernichtet.

Der Terror als eine feststehende Einrichtung des sowjetischen Herrschaftssystems hatte unmittelbar nach der Oktoberrevolution eingesetzt und nicht nur die soziale, sondern vielfach auch die physische Liquidierung ganzer Klassen zum Ziel, die Ausrottung des Adels, der Geistlichkeit, des Bürgertums, aber auch der Anhänger nichtbolschewistischer sozialistischer Parteien wie der Menseviki und der Sozialrevolutionäre, ganz zu schweigen von denen bürgerlicher Parteien wie etwa der vielgeschmähten konstitutionellen Demokraten (>Kadetten<).

Noch Jahre nach dem Umsturz, am 19. März 1922, hatte Lenin in einem an Molotov gerichteten und nur für die Mitglieder des Politbüros bestimmten geheimen Schreiben erklärt: »Je mehr Vertreter der reaktionären Geistlichkeit und Bourgeoisie wir erschießen können, desto besser.« In seinem 1930 erschienenen Buch NACH DEM KRIEGE zitierte Winston Churchill eine statistische Untersuchung von Professor Sarolea, der zufolge die bolschewistischen >Diktatoren< allein bis 1924 folgende Personen ermordet haben: »28 Bischöfe, 1219 Geistliche, 6.000 Professoren und Lehrer, 9.000 Doktoren, 12.950 Grundbesitzer, 54.000 Offiziere, 70.000Polizisten, 193.290 Arbeiter, 260.000 Soldaten, 355.250 Intellektuelle und Gewerbetreibende, 815.000 Bauern«. »Diese Zahlen«, so Churchill, »werden von Mr. Hearnshaw, King’s College, London, in seiner glänzenden Einleitung zu A SURVEY OF SOCIALISM bestätigt. Sie enthalten natürlich nicht die ungeheuere Einbuße der russischen Bevölkerung an Menschenleben, die infolge von Hungersnot zugrunde gingen.«
Wenn solches schon unter dem von Churchill als >Pestbazillus< apostrophierten Lenin geschehen konnte, was muß dann erst unter Stalin geschehen sein, einem >Ungeheuer< nach Meinung seines Biographen, General-Oberst Professor Volkogonov, wie es in der Weltgeschichte seinesgleichen sucht. Es bedarf in diesem Zusammenhang nur einer Erinnerung an die Hauptphasen des Stalinterrors. So sind im Zeitraum der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft seit 1929 und in dem in Verbindung hiermit sorgfältig geplanten und organisierten Hunger‑Holocaust von 1932/1933, dem verschwiegenen Völkermord an dem ukrainischen Volk, übereinstimmenden Schätzungen und demographischen Untersuchungen zufolge zwischen sieben und zehn Millionen Menschen beseitigt worden.

Die bereits zu Beginn der Dreißiger Jahre einsetzenden Massenerschießungen sogenannter >Volksfeinde<, die in dem Fieberwahn der >Großen Säuberung< 1937 bis 1939 gipfelten, haben weitere fünf bis sieben Millionen Menschen ihres Lebens beraubt. Sie sind erschossen worden oder in dem System des GULag zugrunde gegangen.


Etwa eine Million Menschen kam im Gefolge der Annexion Ostpolens und der baltischen Republiken zwischen 1939 und 1941 ums Leben. Der auf Befehl Stalins hin sofort nach Kriegsbeginn 1941 vorgenommenen Erschießung aller der Spionage verdächtigten Personen und der auf sein Geheiß hin vorgenommenen Niedermetzelung politischer Gefangener durch die Organe des NKVD vor dem Rückzug sind unzählige ‑ nach Feststellungen eines Untersuchungsausschusses des amerikanischen Kongresses unter dem Vorsitz des Abgeordneten Charles J. Kersten allein in der Ukraine 80.000 bis 100.000 Menschen zum Opfer gefallen. Die Leichen der Hingemordeten wurden in den weiter unten aufgeführten ukrainischen Städten und in anderen Orten überall in der Ukraine, in Weißrußland und in den baltischen Republiken aufgefunden. Schauplatz solcher Massaker waren auch solche Zentren wie Brest, Minsk, Kaunas, Wilna, Riga, um nur einige Stätten beispielhaft zu nennen. Massenerschießungen fanden aber auch im tiefen Hinterland statt, so in Smolensk, Berdicev, Uman’, Stalino, Dnepropetrovsk, Kiev, Char’kov, Rostov, Odessa, Zaporoz’e, Simferopol’, Jalta, im Kaukasus und anderswo . . .

Nicht zu vergessen sind zudem die hohen Menschenverluste infolge der vom Politbüro des Zentralkomitees der VKP und vom Rat der Volkskommissare 1941 organisierten Deportation der Wolgadeutschen aus der Ukraine, von der Krim und aus dem Kaukasus, die unter unmenschlichen Methoden vonstatten ging und den Tatbestand des internationalen Verbrechens des Genocide ebenso erfüllte wie die im Jahre 1943/1944 vorgenommene Deportation der Völker der Kalmyken, Karacajer, Ingugen, Balkaren sowie der Krimtataren. Weiter oben ist bereits auf das den deutschen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD vergleichbare Exekutivinstrument der Grenztruppen und Sondertruppen des NKVD hingewiesen worden, die den regulären Truppen der Roten Armee auf dem Fuße folgten und eine >Massensäuberung< unter der Bevölkerung in den wiedereingenommenen Gebieten durchführten. Es waren, wie gesagt, Hunderttausende von Menschen, die im Zuge der nun einsetzenden Vergeltungs‑ und Säuberungsmaßnahmen von den Organen des NKVD erschossen worden sind, allein in der kurzfristig in sowjetischer Hand befindlich gewesenen Stadt Char’kov im März 1943 eingehenden deutschen Erhebungen zufolge nicht weniger als 4000, ohne Rücksichtnahme auf Alter und Geschlecht.

Im gesamten Gebiet der Sowjetunion hatte der Sozialismus seine mörderischen Spurenhinterlassen. »Mehr als 100.000 unmarkierte Massengräber sind in der Sowjetunion verstreut«, so der ukrainische Forscher Carynnyk, »das ganze Land ist auf Gebeinen aufgebaut«, jede einzelne Stadt und jeder einzelne Landstrich hatte »eigene Massengräber«.


In der Ukraine sind allein . . . unfern von Kiev die sterblichen Überreste von 200.000 bis 300.000 Männern, Frauen und Kindern aufgefunden worden, die städtischen Friedhöfe Kievs waren gefüllt mit Erschossenen. Massengräber wurden bei Dnepropetrovsk, bei Char’kov, bei Zitomir, Odessa, Poltava, Vinica, Doneck aufgedeckt, um nur wenige markante Stätten zu nennen.


In Weißrußland werden 102.000 Opfer in den Massengräbern bei Kuropaty unfern von Minsk, insgesamt in der Umgebung von Minsk 270.000 Opfer vermutet.
Für Großrußland seien Smolensk und Katyn (der Wald von Kozy Gory) genannt, wo die Leichen von 50.000 Erschossenen seit 1935 auf Förderbändern transportiert wurden, für den Ural Sverdlovsk und Gori. Dem Nobelpreisträger Sacharov zufolge gibt es im Ural keine einzige Kreisstadt ohne Massengräber ‑ und dies nicht nur dort. In stillgelegten Bergschächten bei Lyssaja Gora nahe von Celjabinsk verschwanden in den dreißiger Jahren die Leichen 300.000 erschossener Männer, Frauen und Kinder. Die Schergen des Bolschewismus verrichteten ihr Mörderhandwerk aber auch in Mittelasien, am Altaj, im Fernen Osten bis hin nach Sachalin.

Im Umkreis der in der Sowjetunion bestehenden 80 Konzentrationslagersysteme mit Hunderten von Einzellagern unter der Verantwortung des GULag, so bei Vorkuta und Karaganda, war der Boden mit den Leichen ermordeter >Volksfeinde< buchstäblich gedüngt. Allein in den Konzentrationslagern bei Kolyma starben mindestens drei Millionen Menschen an den entsetzlichen Lebensbedingungen bei Temperaturen bis zu minus 60 Grad.

»Gaskammern ähnlich denen von Auschwitz waren in Workuta schon seit 1938 in Betrieb«, so der britische Historiker Graf Tolstoy in seinem Buch >Victims of Yalta<. Die technischen Grundlagen zur Herstellung und Verwendung giftiger Gase in großem Maßstab ‑ eine chemische Industrie sind in der UdSSR in der Tat seit den zwanziger Jahren schnell entstanden. Man erinnert sich in diesem Zusammenhang auch der von der deutsch‑russischen Gesellschaft >Bersol< in Trock bei Samara während der Zusammenarbeit der zwanziger Jahre errichteten Fabrik zur Erzeugung von Giftgas und der dortigen Schule für die Ausbildung und Technik des Gaskampfes unter der Tarnbezeichnung >Tomka< (Torski).

Über die Gesamtzahl der unter der Sowjetmacht Ermordeten herrscht insofern Übereinstimmung, als es sich hier um wahre Hekatomben von Menschenleben gehandelt hat. Der russische Historiker Medvedev, ein ehemaliger Dissident, der sich 1992 den Kommunisten wieder angenähert hat, wollte 1989 40 Millionen Opfer von Repressivmaßnahmen zugestehen und gelangte aufgrund eigener Recherchen zu einer Zahl von immerhin mindestens 15 Millionen Toten. Der amerikanische Historiker Conquest veranschlagte die Todesopfer allein des Stalinterrors nach eingehenden Analysen auf 20 Millionen, hielt zehn Millionen weitere Tote aber für wahrscheinlich. Demgegenüber rechnete der Nobelpreisträger Solzenicyn mit 40 Millionen, während andere Sachverständige sogar auf eine Gesamtzahl von bis zu 68 Millionen Menschen gelangen, die dem Sozialismus der Sozialistischen Sowjetrepubliken zum Opfer gefallen sind, »die Toten des Zweiten Weltkrieges nicht mitgerechnet«.

Die in diesen Dimensionen noch nicht dagewesenen Massenverbrechen sind in der Sowjetunion begangen worden, bevor die deutsche Wehrmacht und die ihr verbündeten Armeen, gefolgt von den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, 1941 auf den Plan traten, welche letztere nun ihrerseits im Osten eine Blutspur zogen. Über die Untaten auf deutscher Seite ist bereits eine so reichhaltige Literatur erschienen, und sie sind so eingehend nach allen Aspekten hin erörtert worden, daß es an dieser Stelle genügen muß, nur noch auf die Hauptverfahrensarten kurz einzugehen, die seitens des Apparates des Reichsführers SS zur Beseitigung der rassisch‑ethnisch oder politisch Mißliebigen im Ostraum angewendet wurden: Die Tötungshandlungen der im Rücken der Heeresfronten operierenden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD und die Vernichtungsaktionen oder das Massensterben in den Konzentrationslagern des ehemaligen polnischen Staatsgebietes: Treblinka, Sobibor, Belzec, Majdanek, Auschwitz. Vor allem Auschwitz hat sich als Sinnbild nationalsozialistischer Greueltaten tief in das öffentliche Bewußtsein eingegraben, obwohl es bis lange nach dem Kriege und auch im Nürnberger Prozeß gegen die >Hauptkriegsverbrecher< noch keineswegs den heutigen Symbolcharakter aufwies. Mit dem Namen des >Vernichtungslagers Auschwitz< in erster Linie verbindet sich auch die Vorstellung von Gaskammern zur systematischen Massenvernichtung von Menschenleben. Es soll die Frage erörtert werden, wie das Wissen um das Bestehen solcher Gaskammern aufgekommen ist.

Am 25. November 1942 veröffentlichte die NEW YORK HERALD TRIBUNE nach vorangegangenen Pressekonferenzen einen Bericht unter der Überschrift: »Wise sagt, Hitler habe 1942 die Ermordung von 4.000.000 Juden befohlen.« So sensationell diese von dem Präsidenten des AMERICAN JEWISH CONGRESS, Dr. Wise, im Umlauf gebrachte Meldung auch war, das State Department schenkte ihr wenig Glauben, und die amerikanische Regierung und selbst Präsident Roosevelt weigerten sich, irgendwelche Konsequenzen aus ihr zu ziehen. Die Sowjetunion aber, voll in der Haßcampagne gegen Deutschland begriffen, nahm diese Nachricht begierig auf und versuchte, ihr einen amtlichen Anstrich zu geben, indem das Volkskommissariat des Äußeren der UdSSR am 19. Dezember 1942 eine Erklärung herausgab über die »Ausführung eines Planes der hitlerischen Behörden, die jüdische Bevölkerung in den besetzten Gebieten Europas zu vernichten«.  . . .

Von Giftgas war hier noch nicht die Rede, nur von der Vernichtung durch »planned starvation, pogroms, forced labour und deportations«. Die Anwendung von Giftgas zu Tötungszwecken wurde in der Sowjetunion im Zusammenhang mit dem in Char’kov im Dezember 1943 veranstalteten Schauprozeß, dem ersten >Kriegsverbrecherprozeß< gegen Deutsche überhaupt, einem breiten Publikum zu Bewußtsein gebracht, nachdem frühere Erwähnungen noch nicht recht durchgedrungen waren. In dem gegen die deutschen Kriegsgefangenen Hauptmann Langheld, SS‑Untersturmführer Ritz und Unteroffizier Rezlaw am 15. Dezember 1943 in Charkov eröffneten Prozeß vor dem Militärtribunal der 4. Ukrainischen Front wurde der Einsatz sogenannter »Mordwagen durch die Deutschen zur Vernichtung sowjetischer Bürger« zur Sprache gebracht und in die sowjetische Kriegspropaganda damit endgültig eingeführt. Der als Prozeßberichterstatter anwesende sowjetische Schriftsteller und Propagandist Tolstoj, Mitglied der >Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung der Verbrechen der deutsch‑faschistischen Eindringlinge<, verbreitete in mehreren für die Auslandspropaganda bestimmten Kommentaren zudem irreführend, >Mordwagen< seien auf »Befehl des Oberkommandos der deutschen Armee zur Massenvernichtung friedlicher Bewohner im deutsch besetzten Territorium« eingesetzt worden. Der hier unternommene Versuch, die deutsche Wehrmacht mit derlei Dingen in Verbindung zu bringen, war freilich absurd und entsprach in keiner Weise den Tatsachen. Aber die schon in dem Kommuniqué der >Außerordentlichen Staatlichen Kommission< vom 7. August 1943 im Fall Stavropol’ genannten >Mordwagen< waren in der Propaganda doch nun ein feststehender Begriff geworden. Zu Erhöhung der Glaubwürdigkeit trat in diesem Prozeß als Zeuge sogar ein SS‑Obersturmbannführer Heinisch auf, der vom Hörensagen gewußt haben wollte, »der Tod durch Gas sei schmerzlos und humanitär«.

Das Vorhandensein sogenannter >Mordwagen< wurde in den zahlreichen Untersuchungsberichten der >Außerordentlichen Staatlichen Kommission< fortan als bekannt vorausgesetzt und immer wieder erwähnt, so zum Beispiel in einem Kommunique vom 23. März 1944 unter der Überschrift >They murdered 2,000,000 People< in welchem in Anlehnung anscheinend an das in den USA gegebene Stichwort verbreitet wurde, die Deutschen hätten in den besetzten Gebieten der Sowjetunion zwei Millionen Menschen, neben Zivilpersonen vor allem Kriegsgefangene, »durch Gas in >Mordwagen< oder durch Torturen bis zum Tode umgebracht«.

Die Gasangelegenheit gewann neuen Auftrieb, nachdem sowjetische Truppen die Grenzen des damaligen Generalgouvernements Polen überschritten und im August 1944 das Konzentrationslager Majdanek eingenommen hatten. Der sowjetische Schriftsteller und Propagandist Simonov behauptete bereits am 17. August 1944 in einem seiner Artikel, in dem Vernichtungslager Lublin seien außer den Mordwagen des gewöhnlichen Typs zu Tötungszwecken, der von Ehrenburg so genannten >GaswagenMethode<, erstmals auch ortsfeste, als Desinfektionskammern getarnte Gaskammern eingesetzt worden. Über die in Majdanek angeblich vorgenommene Vergasung von Menschen ließ Simonov sich in einem Artikel unter der Überschrift »Nazi‑Gaskammern« am 24. August 1944 ausführlich, jedoch ohne stichhaltige Beweise aus, wobei er einschränkend zugleich auch feststellte oder jedenfalls nicht vorenthielt: »Nebenbei bemerkt, Cyclon (das Tötungsgas) ist in Wirklichkeit ein Desinfektionsmittel.«

Der am 28. September 1944 veröffentlichte Bericht der >Außerordentlichen Staatlichen Kommission< über das Konzentrationslager Majdanek, (THE MAIDANEK INFERNO), setzte als Haupttötungsart, abgesehen von Torturen, Massenerschießungen an die erste Stelle, erwähnte neben den >Mordwagen< dann ebenfalls das Vorhandensein von >Gaszellen<, die auf ihre Funktionstüchtigkeit hin von den Sowjets auch technisch untersucht worden seien. Die eigentliche Informationsquelle scheinen die Aussagen von Zeugen des NKVD gewesen zu sein, und auf dieser Grundlage gelangte das amtliche sowjetische Kommuniqué denn auch zu recht widerspruchsvollen Schlußfolgerungen. Denn einmal, so läßt sich entnehmen, sei die Tötung der Menschen durch Giftgas mehr die Ausnahme gewesen und vor allem in Fällen von Krankheit und körperlicher Erschöpfung ‑ zudem in relativ begrenztem Umfang ‑ zur Anwendung gelangt. Andererseits setzte die >Außerordentliche Staatliche Kommission< aber voraus, in den fast drei Jahren des Bestehens des Konzentrationslagers Majdanek seien Hunderttausende von Personen durch Gas vergiftet worden. . . .

Größere Bedeutung noch als dem Konzentrationslager Majdanek wurde in der Sowjetpropaganda verständlicherweise dem Konzentrationslager Auschwitz zugemessen. Vergleicht man nun die Berichterstattung über das Konzentrationslager Auschwitz mit der über das Konzentrationslager Majdanek, so wird ebenfalls deutlich, daß Erschießungen und Torturen als Tötungsart in der Sowjetpropaganda bis Kriegsende die Hauptrolle, Vergasungen nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Schon in dem Rapport, den das Mitglied des Kriegsrates der 1. Ukrainischen Front, der (politische) Generalleutnant Krajnjukov, am 30. Januar 1945, drei Tage nach der Einnahme des Lagers, an den Sekretär des Zentralkomitees Malenkov in Moskau richtete, heißt es denn beispielsweise: »In Auschwitz wurden, nach vorläufigen Aussagen der Häftlinge, Hunderttausende von Menschen zu Tode gequält, verbrannt, erschossen.« Von einer Vergasung, die doch sensationell genug gewesen wäre, ist hier nicht die Rede.
Und selbst das schließliche Kommuniqué der >Außerordentlichen Staatlichen Kommission< über Auschwitz weist in dieser Hinsicht eine bezeichnende Textabweichung auf. Denn in der am 7. Mai in dem Parteiorgan PRAVDA veröffentlichten russischen Fassung dieser sowjetamtlichen Mitteilung wurde von der Tötung durch »Erschießen, Hunger, Vergiften und ungeheuere Mißhandlungen« gesprochen, in der am 24. Mai 1945 von der sowjetischen Botschaft in London herausgegebenen Propagandazeitschrift SOVIET WAR NEWS, in der englischen Fassung also, von »Erschießungen und ungeheueren Torturen«. Von >Vergiften< wird hier nicht mehr gesprochen, obwohl der Fall Auschwitz von der Sowjetpropaganda doch weidlich ausgenutzt und das Konzentrationslager Auschwitz zutreffend als weitaus schrecklicher denn Majdanek hingestellt wurde. Zwar erwähnte der Bericht der >Außerordentlichen Staatlichen Kommission< vom 7. Mai 1945 über Auschwitz in Analogie schon zu dem Bericht über Majdanek die Existenz von Gaskammern (gazovye kamery, gas chambers) in räumlicher Nähe zu den Krematorien. So seien ab Sommer 1943 insgesamt vier Krematorien in Verbindung mit solchen Gaskammern in Auschwitz vorhanden gewesen. Doch standen diese Gaskammern erstaunlicherweise nicht im Mittelpunkt des sowjetischen Propagandainteresses. Ihre Existenz sei überhaupt als so wenig bekannt vorausgesetzt worden, daß sie zur Täuschung selbst der ahnungslosen Opfer von den Deutschen noch als >Bäder für besondere Zwecke< (banjami osobogo naznacenija) ausgegeben werden konnten.

Als Tötungsarten wurden in dem sowjetamtlichen Kommuniqué über Auschwitz in erster Linie also >Erschießungen und ungeheuere Torturen< angeführt. Vergasungen wurden, wie in Majdanek, zwar erwähnt, und es wird sogar vorgerechnet, in den vier, später fünf Krematorien hätten während der gesamten Dauer theoretisch angeblich 5.121.000 Leichenverbrennungen vorgenommen werden können. In der sowjetischen Propaganda rangierten Gasvergiftungen indessen hinter Vivisektionen, medizinischen Experimenten an lebenden Menschen und ähnlichen Untaten. Auch haben sie, wie sich den kürzlich veröffentlichten Protokollen der Verhöre der >Auschwitz‑Ingenieure< Prüfer, Sander und Schultze durch Organe des NKVD im Jahre 1946 entnehmen läßt, letztlich anscheinend doch nur relativ kleine Personengruppen ‑ in der Größenordnung jeweils von einigen Hundert ‑ getroffen. Von der Vernichtung von Juden ist in dem Kommuniqué vom 7. Mai 1945 übrigens nicht die Rede, sondern von der von Bürgern aus der Sowjetunion und aus vielen anderen europäischen Staaten. Die Untersuchungsergebnisse der >Außerordentlichen Staatlichen Kommission< über Majdanek und Auschwitz wurden dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg als Anklagedokumente der Sowjetunion vorgelegt, aufgrund des Artikels 21 des Londoner Statutes ebenso wie die Untersuchungsergebnisse über Katyn als regierungsamtliches Beweismaterial der Sowjetunion vorbehaltlos akzeptiert und von dem Ankläger, Oberjustizrat Smirnov, in der Sitzung vom 19. Februar 1946 vorgetragen. Der Internationale Militärgerichtshof hat sich in der Vergasungsfrage dennoch eine bemerkenswerte Zurückhaltung auferlegt und in der Urteilsbegründung vom 30. September 1946 nur lapidar verkündet: »Von diesen (nämlich von den Gaskammern mit Öfen zum Verbrennen von Leichen) wurden einige tatsächlich zur Ausrottung von Juden als Teil der >Endlösung< des jüdischen Problems verwendet.«

Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg, dessen fragwürdige Kompetenz, Zusammensetzung und Praktiken an dieser Stelle nicht zur Erörterung stehen, konnte sich hierbei auch auf die allgemein als glaubwürdig empfundenen Aussagen des SS‑Richters, Sturmbannführer Dr. Morgen, und des Stellvertretenden Amtschefs des Hauptamtes SS‑Gericht und Chefrichters des Obersten SS‑ und Polizeigerichtes, Oberführer Dr. Reinecke, vom 7. und 8. August 1946 stützen. Die genannten SS‑Richter und andere hatten 1943/1944 im Auftrage Himmlers langwierige Ermittlungen gegen die Kommandanten und das Bewachungspersonal von sieben bis zehn Konzentrationslagern, aber nur wegen dort vorgekommener >Unregelmäßigkeiten<, durchgeführt, in deren Verlauf sie durch Zufall den systematischen Vernichtungsaktionen auf die Spur gekommen waren. Morgen war in Lublin 1943 mit der Existenz eines entsprechenden »Geheimen Sonderauftrages des Führers von höchster Wichtigkeit« bekanntgeworden und im Zusammenhang hiermit 1944 in Auschwitz mit dem Bestehen von Gaskammern (getarnt als >Groß‑Badeeinrichtungen<) in Verbindung mit Krematorien zur Menschenvernichtung in dem von ihm so genannten >Vernichtungslager Monowitz<. Der Umstand, daß nach dieser unter Eid gemachten Aussage selbst führende Kreise der SS von den Vernichtungsaktionen offenbar keine Kenntnis gehabt hatten, war für die Anklagebehörde übrigens einer der Gründe, um von einem Kreuzverhör dieses Zeugen der Verteidigung Abstand zu nehmen, sollte doch die Pauschalanklage gegen alle Angehörigen der SS um jeden Preis aufrechterhalten werden.

Das Auschwitzproblem in allen seinen Aspekten ist in unseren Tagen im Inland und Ausland Gegenstand einer intensiven Debatte geworden, auch wenn manche Kreise den gebotenen Rahmen in politischer Absicht eifernd überschreiten. Diese Auseinandersetzung spielt sich weniger in der >offiziellen< Literatur als vielmehr in mehr abgelegenen Publikationen ab, und sie wird nicht wenig beeinträchtigt durch amtlich dekretierte Denk- und Formulierungsverbote, über deren Einhaltung das politische Denunziantentum argwöhnisch wacht. Die hierin liegende Behinderung der freien Erörterung eines bedeutenden zeitgeschichtlichen Problems, so mißlich sie heute auch manchmal sein mag, wird auf die Dauer freilich keinen Bestand haben. Denn erfahrungsgemäß läßt sich die freie Geschichtsforschung durch strafrechtliche Maßnahmen nur zeitweise behindern. Historische Wahrheiten pflegen im Verborgenen fortzuwirken und sich endlich dennoch Bahn zu brechen.

Im Hinblick auf das Auschwitzproblem geht es im übrigen auch gar nicht um die >offenkundige< Tatsache einer grausamen Verfolgung und Vernichtung der Angehörigen des jüdischen Volkes, die sich jeder weiteren Diskussion entzieht, sondern es geht einzig und allein um die Frage des angewandten Tötungsmechanismus und um die Frage, wieviele Menschen den Verfolgungen zum Opfer gefallen sind.

Wenn selbst heute beispielsweise noch eine Gesamtzahl von sechs Millionen Todesopfern als Ausdruck unbestreitbarer historischer Fakten, eines feststehenden Axioms, hingestellt wird, dann erhebt sich die Frage, wann und wo diese Sechsmillionenzahl denn überhaupt aufgekommen ist und worauf sie beruht. Gerichte in der Bundesrepublik, die nicht etwa das >Leugnen<, was ein fehlgegriffener Ausdruck ist, sondern ein bloßes Nichtglaubenkönnen, das Vorbringen von Zweifeln an der Berechtigung dieser Zahl, als Straftatbestand werten und verfolgen, sind, zur Rede gestellt, nicht in der Lage, eine Antwort hierauf zu erteilen. Es fordert dies einige Ausführungen heraus.

Nachdem die Truppen der sowjetischen 60. Armee das Gelände des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 besetzt hatten, dauerte es, sieht man von einigen unbestimmt gehaltenen Meldungen ab, bis zum 1. März 1945, daß eine sowjetamtliche Erklärung vorlag, in der auf der Grundlage dubioser Untersuchungen nunmehr behauptet wurde, in diesem Konzentrationslager seien »mindestens fünf Millionen Menschen vernichtet worden«. Die am 30. Januar 1945 von Generalleutnant Krajnjukov an Malenkov gemeldete Zahl hatte jetzt also eine gewaltige Erhöhung erfahren und war so groß geworden, daß selbst die Sowjetpropaganda es für geboten hielt, sie wieder ein wenig zu reduzieren. So ist in dem am 7. Mai 1945 in dem Parteiorgan PRAVDA veröffentlichten Kommuniqué der >Außerordentlichen Staatlichen Kommission< nur mehr von »über vier Millionen Bürgern« die Rede, die in Auschwitz ihr Leben verloren hätten. Diese Viermillionenzahl blieb im sowjetischen Machtbereich (Sowjetunion und Volksrepublik Polen) als feststehende Größe unangefochten bis zum Jahre 1990, obwohl selbst der unter dem Eindruck des sowjetischen >Beweismaterials< (Dokument USSR‑008) stehende Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg in seiner Urteilsbegründung vom August 1946 nur noch drei Millionen Opfer in Auschwitz hatte anerkennen wollen. Unerfindlich blieb, wie sich diese Viermillionenzahl eigentlich berechnete und aus welchem Grunde sie in westlichen Ländern ‑ von der Justiz in Westdeutschland sogar noch bis zum Jahre 1990 ‑ als zutreffend hingestellt werden konnte.

Im April 1990 endlich hatte der Direktor des Staatlichen Museums in Auschwitz, Dr. Franciszek Piper, der überhaupt mehr zu wissen scheint, als er manchmal zu erkennen gibt, die auf 19 Gedenksteinen in 19 Sprachen angebrachten Inschriften zur Erinnerung an die in Auschwitz ermordeten vier Millionen Juden heimlich entfernen lassen. Doch auch die von ihm nunmehr genannte Zahl von 1 ‑ 1,2 Millionen sollte nur kurzen Bestand haben und wurde bald auf 800.000 reduziert. 74.000 Todesopfer, wohlgemerkt nur unter den >arbeitsfähigen Deportierten<, sind aus den Registern der in sowjetischen Archiven freigegebenen >Sterbebücher< (Totenbücher) zu bestätigen. Sie machen freilich nur einen Teil der Gesamtopferzahl aus, deren wirkliche Höhe aber im Dunkeln bleibt. Die Differenz von 726.000 Toten wurde jüngsten Meldungen zufolge nach Auswertung der »verfügbaren technischen Daten«, also, ähnlich wie in dem sowjetischen Kommuniqué vom 7. Mai 1945, nach der angenommenen Kapazität der Krematorien in Auschwitz, etwas summarisch hinzugerechnet. Daher konnten auch diese Zahlen letztlich nicht als erwiesen gelten. Heute gibt Jean Claude Pressac eine Gesamtzahl von 631.000 – 711.000 Auschwitztoten an.

Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg, der mit den Falsifikaten der sowjetischen >Außerordentlichen Staatlichen Kommission< methodisch irregeführt worden war, stimmte allerdings hinsichtlich der Gesamtopferzahl des jüdischen Volkes mit der sowjetischen Kriegspropaganda überein. Denn obwohl selbst der britische Hauptankläger, Sir David Maxwell‑Fyfe, Zweifel an der Glaubwürdigkeit sowjetischer Zahlen durchblicken ließ, als er am 21. März 1946 hypothetisch von drei Millionen jüdischer Todesopfer sprach, und obwohl kurz zuvor, am 3. Januar 1946, der ehemalige SS‑Hauptsturmbannführer Wisliceny aus dem Judenreferat des Reichssicherheitshauptamtes in Nürnberg ausgesagt hatte, SS‑Obersturmbannführer Eichmann (Abteilungsleiter im Amt IV) habe ihm gegenüber im Februar 1945 vier bis fünf Millionen genannt, bezifferte der Internationale Militärgerichtshof die Anzahl jüdischer Todesopfer in seiner Urteilsbegründung mit sechs Millionen.
Er stützte sich hierbei auf eine andere Aussage aus dem Reichssicherheitshauptamt, nämlich auf die eidesstattliche Erklärung (Affidavit) des ehemaligen SS‑Sturmbannführers Dr. Hoettl (Dokument PS‑2738 vom 26. November 1945), dem der Judenreferent Eichmann anläßlich einer Unterredung in Budapest zu Ende August 1944, »nach dem Einschenken von Barack, dem ungarischen Marillengeist«, von insgesamt sechs Millionen getöteter Juden erzählt haben soll. Hoettl hatte, wie er angibt, »bereits vor dem deutschen Zusammenbruch« (das heißt im Frühjahr 1945) »nähere Angaben darüber an eine amerikanische Stelle im neutralen Ausland (Allen Dulles in der Schweiz)« gemacht, so daß es zumindest erklärbar ist, wenn diese Zahl schon im September 1945 in dem US‑Lager Freising kursieren konnte, von den empörten Gefangenen aber nicht geglaubt wurde. Als der hier einsitzende Hoettl das im August 1944 von Eichmann Gehörte jetzt noch einmal wiederholte, wurde seine Aussage vom CIC sofort zu Protokoll genommen. Die von Eichmann angegebenen Zahlen werden indessen »nach den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft« »eindeutig als zu hoch angesehen«, und auch Dr. Hoettl selbst spricht heute von der Neigung des ihm seit 1938 bekannten Eichmann zu Übertreibungen.

Läßt sich also zusammenfassen, daß die Sechsmillionenzahl erst im Frühjahr 1945 zu amerikanischer Kenntnis gelangt ist, so operierte die sowjetische Kriegspropaganda mit ihr jedenfalls schon Monate früher. Wie anders ist es nämlich zu erklären, daß der führende Sowjetpropagandist Ilja Ehrenburg bereits am 4. Januar 1945 ‑ also fast einen Monat vor der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz mit dort doch angeblich fünf Millionen Todesopfern ‑ in einem Aufsatz unter der Überschrift »Noch einmal ‑ Erinnere Dich!« ‑ folgendes mit anscheinend größter Selbstverständlichkeit verbreiten konnte: »Frage irgendeinen deutschen Gefangenen, warum seine Landsleute sechs Millionen unschuldiger Menschen vernichteten, und er wird ganz einfach antworten: >Warum, Sie sind Juden<.«

Bereits am 5. Oktober 1944 hatte Ehrenburg seine Thesen in einem Aufsatz eingeführt: »Sie (die Deutschen)«, so schrieb er, »machten auch keinen Versuch, ihre Taten in Polen zu tarnen, wo sie >Vernichtungslager< in Maidanek, Sobibur, Bolzyce und Treblinka errichteten und Millionen ‑ ich wiederhole Millionen ‑ wehrloser Menschen abschlachteten.« Indem er den heute gängigen entsprechenden Propagandabegriff aufbrachte, fügte er bezeichnenderweise hinzu: »Wenn die Deutschen Millionen von Juden töteten, so ist die Tatsache, daß diese Juden waren, nur für >Rassisten< von Wichtigkeit. Für menschliche Wesen ist es von Wichtigkeit, daß die Opfer menschliche Wesen waren.« Die verleumderische Schlußfolgerung lautete dann: »Hunderttausende (von Deutschen) sind schuldig an Verbrechen und Millionen der Komplizenschaft.« Wie ist es zudem zu erklären, daß Ehrenburg am 15. März 1945 ‑ sechs Wochen nach der Befreiung von Auschwitz in einem Aufsatz unter dem Titel »Wölfe waren sie – Wölfe bleiben sie« unbeirrt abermals verbreiten konnte:
»Die Welt weiß jetzt, daß Deutschland sechs Millionen Juden getötet hat«, ‑ eine Behauptung, von der die Welt damals eben überhaupt nichts wußte. Die stereotype Wiederholung einer bereits am 4. Januar 1945 erstmals aufgekommenen und behaupteten Gesamtzahl von sechs Millionen Ermordeter ‑ und dieses in dem für englischsprechende Leser bestimmten Propagandaorgan SOVIET WAR NEWS ‑ läßt eine wichtige Schlußfolgerung zu, die Schlußfolgerung nämlich, daß es sich bei den sechs Millionen, ebenso wie am 7. Mai 1945 bei den Auschwitzer vier Millionen, um eine Zahl der Sowjetpropaganda gehandelt hat, dazu bestimmt, die Öffentlichkeit und vor allem das Denken in den angelsächsischen Ländern zu beeinflussen.

Wir wissen heute, daß die Meldungen über Greueltaten der Nationalsozialisten in der westlichen Welt wohl Eingang gefunden haben, dort aber nicht ohne weiteres geglaubt wurden. In Großbritannien war der Begriff >Auschwitz< wie Gilbert nachweist, bis zum Juni 1944 unbekannt. Als zu dieser Zeit zwei entkommene Flüchtlinge, Vrba und Wetzler, von Vergasungen berichteten, wurde ihnen nicht geglaubt, und die Alliierten lehnten hieran geknüpfte jüdische Forderungen ab. Sie vertraten die Auffassung, die jüdischen Organisationen seien »einem bewußten Täuschungsmanöver der Nazis auf den Leim gegangen«. Und noch im November 1945 notierte der Vorsitzende des jüdischen Weltkongresses, Chaim Weizmann, in seinen Memoiren entmutigt: »Die englische Regierung wollte sich die Auffassung nicht zu eigen machen, daß sechs Millionen Juden in Europa getötet worden sind.«

Für die sowjetische Propaganda, der es darum zu tun war, von den eigenen Untaten abzulenken, ergab sich in dieser Hinsicht ein reiches Betätigungsfeld. Ehrenburg war frühzeitig mit der Aufgabe betraut worden, die Öffentlichkeit in den USA und in Großbritannien den sowjetischen Einflüsterungen geneigt zu machen. Als prominenter sowjetischer Jude erschien er auch besonders prädestiniert, um als Bindeglied der Sowjetunion zu den so einflußreichen Juden in den USA zu fungieren. In seinen Erinnerungen berichtet er, er habe im Sommer 1943 den Auftrag erhalten, »an die amerikanischen Juden ein Schreiben über die Bestialitäten der deutschen Faschisten« zu richten, um die »dringende Notwendigkeit« einer baldigen Zerschlagung Deutschlands, das heißt ‑ darum ging es konkret ‑ einer baldigen Eröffnung der zweiten Front zu unterstreichen.  . . .

Nicht die Völker ‑ Deutsche, Russen, Georgier, Letten oder auch Juden und andere ‑ sind für die begangenen Greueltaten verantwortlich, sondern immer nur Einzelpersonen. Und was speziell das deutsche Volk angeht, so wird niemand behaupten können, daß es zu seinen Traditionen gehörte, eine friedliche Bevölkerung zu verfolgen und umzubringen. Wenn hier von Traditionen die Rede ist, dann sind es solche politischer Natur, wie sie in neuerer Zeit von dem Jakobinertum der Französischen Revolution begründet worden sind. Es sind die Traditionen des Convents, der in seinem Wahn 1793/1794 die >totale Vernichtung< der Vendeé gefordert und durchgeführt hatte, die Ausrottung der Bevölkerung durch die Guillotine, durch >Massenertränkungen<, >senkrechte Deportationen<, >republikanische Hochzeiten<, und ähnliche Errungenschaften der >glorreichen Revolution<.

Nicht Franzosen als solche haben damals 250.000 Menschen massakriert, sondern >republikanische Citoyens<, nicht die Deutschen, sondern Nationalsozialisten, Gefolgsleute Hitlers und Himmlers, haben in unserer Zeit entsprechende Untaten begangen und ebensowenig Russen, Georgier, Letten oder Juden, sondern Kommunisten, die Gefolgsleute eines Lenin und Stalin, die Einpeitscher des sowjetischen Sozialismus.

Es kommt hinzu, daß die Täter auf deutscher Seite im Gegensatz zu denen auf sowjetischer Seite, so weit man ihrer habhaft werden konnte, streng zur Verantwortung gezogen worden sind. Denn selbst Präsident Gorbacev erlaubte es wohl, manche Verbrechen beim Namen zu nennen, keinesfalls aber die Verbrecher, geschweige denn, auch nur einen von ihnen vor Gericht zu stellen.
Zbigniev Brzezinski, der frühere Sicherheitsberater des Präsidenten der Vereinigten Staaten, wollte, wie er noch unlängst schrieb, mit wachsendem Ärger folgendes festgehalten wissen: 

»Hitlers Verbrechen werden immer noch gerecht bestraft. Aber in der Sowjetunion gibt es buchstäblich Tausende von ehemaligen Killern und ehemaligen Folterern, die von offiziellen Pensionen leben und den verschiedenen revolutionären Festlichkeiten, geschmückt mit ihren Medaillen, beiwohnen.« Teilweise sei es so, daß sie sich ihrer Untaten auch noch rühmten. Die Geheime Staatspolizei und die SS seien in Nürnberg zu verbrecherischen Organisationen erklärt worden, so betonte Brzezinski, und er fügte hinzu, es sei an der Zeit, auch das NKVD/KGB und vielleicht die Kommunistische Partei der Sowjetunion ebenfalls zu verbrecherischen Organisationen zu erklären.

12. Greueltaten der Roten Armee beim Vordringen auf deutschen Boden
13. Untaten nehmen ihren Fortgang
Schlesien
Pommern
Ostpreußen . . .  (Weggelassen, da alles etwas viel u. hinlänglich bekannt, H.Koch)

Schlußbetrachtung
Der deutsch‑sowjetische Krieg war unvermeidlich. Nur noch die Frage war offen, welche der beiden Mächte dem Gegner zuvorzukommen vermöchte. Schon die gewaltige und immer schneller anwachsende Rüstungsüberlegenheit der Sowjetunion, besonders an Panzern, Flugzeugen und Artillerie, über die nunmehr in ganz Europa verstreuten Truppen der Wehrmacht ließ den Juni 1941 als den letztmöglichen Termin erscheinen, um überhaupt noch einen präventiven Krieg führen zu können. Jedes weitere Zuwarten mußte auch den einzigen Vorteil der Deutschen, ihren besseren Ausbildungsstand, zunichte machen. Aus jüngsten Funden sowjetischer Akten wissen wir heute, wie weit Aufmarsch und Kriegsvorbereitung der Roten Armee in der Tat bereits gediehen waren.  . . .

Was die Deutschen angeht, so war ihnen das tatsächliche Ausmaß der Stärke der Sowjetarmee verborgen geblieben, wenngleich sie offensichtliche Angriffsvorbereitungen an ihrer Ostgrenze durchaus registriert hatten. Die deutschen Kommandobehörden zeigten sich nach dem 22. Juni 1941 aber überrascht von dem gegnerischen Potential, auf das sie östlich der Grenze stießen. Von Hitler sind Äußerungen überliefert, die Goebbels in seinen Tagebüchern auch bestätigte, daß ihm nämlich der Entschluß zum Angriff noch weitaus schwerer gefallen wäre, wenn er das volle Ausmaß der Stärke der Roten Armee vorher gekannt hätte. Es mag im übrigen der Phantasie überlassen bleiben sich auszumalen, was aus Deutschland und anderen europäischen Ländern geworden wäre, wenn Hitler am 22. Juni 1941 nicht das Signal zum Angriff gegeben und stattdessen umgekehrt Stalin den von ihm geplanten Vernichtungskrieg hätte führen können. Natürlich liegt darin nicht eine Rechtfertigung der politisch und moralisch so verderblichen Methoden, die Hitler nun seinerseits in Rußland (und in Polen) anwandte. Auch Hitler plante einen Eroberungskrieg.  . . .

Stalin, der geplant hatte, die an seiner Westgrenze konzentrierten Kräfte der Wehrmacht in einer gewaltigen Angriffsoperation in mehreren wuchtigen Schlägen zu vernichten, war auch durch den präventiven Angriff Hitlers anfangs nicht aus dem Konzept gebracht worden. Im Vollgefühl der gewaltigen Überlegenheit der Sowjetunion und wohlunterrichtet von den mannigfachen Schwächen der nunmehr in einem Zweifrontenkrieg befindlichen deutschen Wehrmacht waren Stalin und die Führung der Roten Armee auch nach dem 22. Juni 1941 noch von absoluter Siegeszuversicht erfüllt. Erst als der deutsche Angriff sich wider Erwarten erfolgreich entwickelte, zerrannen mit einem Schlage alle Illusionen. Nach einer kurzen Phase der Lethargie indessen begann das bolschewistische Regime einen >vaterländischen< Krieg zu proklamieren, der in seiner Radikalität den auf deutscher Seite erst nach >Stalingrad< ausgerufenen sogenannten >totalen< Krieg nur noch als bloße Redensart erscheinen läßt.

Stalin war es in erster Linie darum zu tun, die wankenden Fronten wieder zum Stehen zu bringen. Es geschah dies durch rücksichtslose Anwendung der bewährten stalinistischen Methoden, der Methode einmal einer zügellosen Propaganda und zum anderen der Methode brutalsten Terrors. Das System war ebenso einfach wie probat: Wer der Propaganda nicht glaubte, der bekam den Terror zu spüren. Man war sich natürlich darüber im klaren, daß es nicht genügen würde zu versuchen, die Rotarmisten mit »glühendem Sowjetpatriotismus«, mit »grenzenloser Ergebenheit zur Sache der Kommunistischen Partei«, mit »grenzenloser Liebe zur Partei und Regierung, zu dem Genossen Stalin« zu erfüllen und zu begeistern und wie dergleichen Parolen sonst lauteten. Wichtiger noch war der Appell an die niederen Instinkte. Es mußten Haß- und Rachegefühle gegen die fremden Eindringlinge, gegen >Faschisten<, gegen deutsche Okkupanten und deren Verbündete, wachgerufen werden. Und in dieser Hinsicht sollte die Sowjetpropaganda unter der maßgeblichen Beteiligung von Ilja Ehrenburg denn auch einen in seiner Primitivität und Niedertracht noch kaum dagewesenen Tiefpunkt erlangen.

Zuallererst aber kam es darauf an, in der Roten Armee und Seekriegsflotte eine Atmosphäre der Furcht und des Terrors zu erzeugen und Bedingungen zu schaffen, die den Sowjetsoldaten keinen anderen Ausweg mehr ließen, als für die »Sowjetheimat« (was immer das sein mochte), »für Partei und Regierung«, »für den geliebten Stalin« usw zu kämpfen und dann zu sterben. Die Möglichkeit, sich in die Kriegsgefangenschaft der deutschen oder verbündeten Truppen zu salvieren, hat es für Angehörige der Roten Armee entgegen den Behauptungen deutscher Geschichtsinterpreten auch nicht zu einem Augenblick gegeben. Stalin, Molotow und andere führende Sowjetfunktionäre haben bei verschiedenen Gelegenheiten darüber nicht den geringsten Zweifel gelassen. Die Sowjetunion als einziger Staat hatte aus diesem Grunde die Haager Landkriegsordnung von 1907 aufgekündigt und es auch abgelehnt, die Genfer Kriegsgefangenen-konvention von 1929 zu ratifizieren.
Der Begriff von Kriegsgefangenen war in der UdSSR unbekannt. Hier kannte man in Übereinstimmung mit den Militärgesetzen nur die Begriffe von Verrätern und Deserteuren, der Flucht auf das Territorium des Klassenfeindes und der antisowjetischen Zusammenarbeit mit ihm. Sowjetische Fliegerkräfte sind denn auch nachweislich dazu übergegangen, gezielte Bombenangriffe auf Kolonnen sowjetischer Kriegsgefangener zu fliegen. Gegen die Familienangehörigen von Kriegsgefangenen wurden nach dem in der Sowjetunion herrschenden Prinzip der Sippenhaftung brutale Repressalien bis hin zur Erschießung ergriffen.

Den Maßnahmen zur Unterbindung einer Flucht nach vorn entsprachen die Maßnahmen zur Unterbindung einer Flucht nach hinten. Ein in den Armeen anderer Staaten undenkbares System der Bespitzelung und Bewachung durch den Politischen Apparat, durch die im Verborgenen arbeitende NKVD ‑ Organisation und deren Agenten, durch die terroristische Tätigkeit der Absperrabteilungen, Militärtribunale usw sollten den Rotarmisten keinen Ausweg mehr lassen. Dies und die massenweisen Erschießungen von Soldaten, Angehörigen des Kommandobestandes einschließlich vieler Generale bis hin zum Frontoberbefehlshaber stellten sicher, was in der Geschichte des »Großen Vaterländischen Krieges« bis in unsere Tage hinein als >Sowjetpatriotismus< gepriesen wird. Russische Soldaten sind gemeinhin von todesverachtender Tapferkeit. Nur eben läßt sich wahrer Heroismus nicht durch Terror erzwingen. . . .

Bei der Darstellung des Stalin’schen Vernichtungskrieges erwies es sich ‑ so heikel die ganze Thematik auch sein mag ‑ als unumgänglich, vergleichend kurz auf die Massenmorde einzugehen, die das Stalinregime, vereinfachend gesagt, aus klassenkämpferischen, das Hitlerregime aus rassenkämpferischen Motiven heraus begangen hat. Denn diese politisch‑ideologisch bedingten Untaten, die in der Weltgeschichte ihresgleichen suchen, waren auch Teil des Propagandakrieges, der neben dem Krieg der Waffen zwischen der Sowjetunion und Deutschland geführt wurde. Man muß freilich, um einen adäquaten Maßstab zu gewinnen, daran erinnern, daß, bevor die Mordkommandos des Reichsführers SS überhaupt in Aktion treten konnten, von der Sowjetmacht übereinstimmenden Schätzungen zufolge bereits mindestens 40 Millionen Menschen ihres Lebens beraubt worden waren.

Kolyma, nur eines der Zentren im System des GULag, mit drei Millionen Toten, lag zeitlich gesehen eben vor Auschwitz. Schon unmittelbar nach Beginn des deutsch‑sowjetischen Krieges setzten auf Befehl Stalins hin die Erschießungen echter oder vermeintlicher politischer Gegner in allen Landesteilen ein, in Ostpolen, den baltischen Staaten, in Weißrußland, der Ukraine, auch in Großrußland und schließlich im Kaukasus.
Dem NKVD auf dem Fuße aber folgten die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die, in Lemberg noch als sogenannte Vergeltung für das zuvor begangene sowjetische Massaker, die hieran doch völlig unschuldige jüdische Bevölkerung zu erschießen begannen und das ganze Land mit einer Blutspur durchzogen. Im Ersten Weltkrieg noch hatten Österreicher und Deutsche, das Besatzungsregime des Oberbefehlshabers Ost Gerechtigkeit gegen jedermann, einschließlich der durchaus deutschfreundlichen jüdischen Bevölkerung, walten lassen. Was sich nun aber in den besetzten Ostgebieten abspielte, undenkbar einfach unter dem ancién regime, war der Ausdruck schon eines neuen barbarischen Zeitalters. Mit deutschen Traditionen hatten solche Aktionen jedenfalls nichts mehr zu tun.  . . .

Eine Reihe von Mordstätten hat in dem deutsch‑sowjetischen Propagandakrieg eine hervorgehobene Bedeutung gewonnen. Lemberg, Kiew, Char’kow, Minsk stehen, wenngleich in unterschiedlicher Relation, für Untaten der beiden Kriegführenden. Katyn und Vinica fallen in den Verantwortungsbereich Berijas, Majdanek und Auschwitz in den Himmlers. Ihre jeweiligen Auftraggeber waren Stalin und Hitler.

Die Konzentrationslager im System des GULag allerdings lagen außerhalb des östlichen Kriegsschauplatzes und bleiben in diesem Zusammenhang daher außer Betracht. Die Sowjetunion, militärisch und politisch zunächst in die Defensive gedrängt, vermochte propagandistisch zunehmend an Boden zu gewinnen, nachdem im Zuge der deutschen Rückwärtsbewegung die antijüdischen Exzesse der Einsatzgruppen zutage traten. Eine >Außerordentliche Staatliche Kommission< als geeignetes Instrument zur Verschleierung der bolschewistischen und zur Propagierung der faschistischen Untaten wurde niedergesetzt. Katyn und Vinica wurden den an sich wohl unterrichteten alliierten Regierungen gegenüber wahrheitswidrig als Verbrechen der >Faschisten< hingestellt. Die endlosen Massengräber von Bykovnia, Darnica und Bielhorodka in der Umgebung von Kiev mit Hunderttausenden von Opfern verschwanden hinter dem Begriff der Altweiberschlucht Babij jar, die freilich noch große Rätsel aufgibt. Und auch die Massaker des NKVD von Char’kov, Minsk und Lemberg wurden von dem sowjetischen Propagandagetöse über die dort ebenfalls begangenen >faschistischen< Untaten übertönt.

Nachdem im Zuge des weiteren Vordringens der Truppen der Roten Armee die Konzentrationslager des Generalgouvernements Polen, vor allem Majdanek und Auschwitz, zu Ende 1944/Anfang 1945 eingenommen worden waren, gewann die Sowjetpropaganda dann aber die Oberhand. Die Schreckenstaten in den Vernichtungslagern in Polen, deren sich die >Außerordentliche Staatliche Kommission< sofort mit Genugtuung annahm, schienen alle bisherigen Behauptungen zu bestätigen und hinterließen besonders in den alliierten Ländern einen verheerenden Eindruck. Daß die Opferzahlen in diesem Zusammenhang eine Überhöhung erfuhren, blieb in der Auseinandersetzung ‑ und dies bis in die Gegenwart hinein ‑ ohne Belang. Ja, heute gilt es schon fast als strafwürdig, wenn »die Verluste unter den Juden als ungeheuer übertrieben dargestellt werden«. Der Historiker wird hierdurch freilich nicht wenig in Verlegenheit versetzt, denn auf der einen Seite sieht er sich der politischen Justiz und einem entsprechenden Spitzel‑ und Denunziantentum ausgesetzt, auf der anderen Seite steht er in einer berufsmäßigen Wahrheitspflicht, in der Verpflichtung nämlich zu größtmöglicher Zahlengenauigkeit.

So wird, um ein instruktives Beispiel anzuführen, im Hinblick auf die Menschenverluste durch die anglo‑amerikanischen Luftangriffe auf die offene Stadt Dresden im Februar 1945 bis heute immer die Minimalzahl von 35.000 Todesopfern genannt, obschon selbst die Stadtverwaltung der Landeshauptstadt Dresden in einem Schreiben vom 31. Juli 1992 aufgrund von »gesicherten Angaben« 250.000 – 300.000 Todesopfer, überwiegend Frauen und Kinder, als »realistisch« bezeichnete. Im Hinblick auf die Menschenverluste des Vernichtungslagers Auschwitz aber gilt umgekehrt immer die Maximalzahl von vier Millionen Todesopfern, wenngleich diese Zahl doch nachweislich vom sowjetischen NKVD aufgebracht worden. ist. Diese Opferzahl hat im Jahre 1990 allerdings eine starke Herabminderung erfahren, sie beträgt nach letzten Meldungen ‑ und nicht weniger furchtbar ‑ heute zwischen 631.000 und 711.000 und scheint sich damit einer realistischen Vorstellung anzunähern. Daß die dokumentarisch verbürgte Zahl von 74.000 nur einen Teil der tatsächlichen Verluste umfassen kann, dürfte im übrigen nicht zu bezweifeln sein. Allgemein muß es aber zu denken geben, wenn nachweislich niemand anderer als der Menschheitsverbrecher Ilja Ehrenburg schon am 4. Januar 1945 von sechs Millionen jüdischer Opfer des Nationalsozialismus gesprochen und diese Größenordnung in die sowjetische Auslandspropaganda eingeführt hat. Wie, so ist zu fragen, kam er darauf? Das Konzentrationslager Auschwitz mit ‑ so wurde berichtet ‑ vier bis fünf Millionen Todesopfern ist von sowjetischen Truppen doch überhaupt erst am 23. Januar 1945 eingenommen worden! Es bedarf dies noch einer Antwort.

Stalins >Vernichtungskrieg< andererseits begann mit dem 3. Juli 1941, auch wenn er selbst den Begriff erstmals am 24. Jahrestag der >Großen Sozialistischen Oktoberrevolution<, am 6. November 1941, offiziell gebrauchte. Die Mordtaten an deutschen Kriegsgefangenen setzten bereits am ersten Kriegstage ein, am 22. Juni 1941, spontan und auf der ganzen Linie der Front und nicht etwa, wie behauptet, als angebliche Reaktion auf die sowjetischerseits anfangs überhaupt nicht bekannten und im übrigen im Mai 1942 auf Druck des deutschen Heeres hin wieder aufgehobenen Kommissarrichtlinien. Morde an wehrlosen deutschen und verbündeten Soldaten wurde nicht selten von sowjetischen Offizieren, vielfach solchen höherer Ränge, befohlen, zumindest aber geduldet, auch wenn manche Kommandostellen, schon aus Gründen der Feindaufklärung, immer wieder, und das heißt vergeblich, versuchten, eigenmächtige Erschießungen zu unterbinden. Was aber war von der Masse der Rotarmisten auch anderes zu erwarten, wenn sie in Abständen von wenigen Tagen von der Frontpropaganda unter der Anführung eines Ehrenburg dazu aufgerufen wurden, »alle Deutschen zu töten, die in unser Land eingedrungen sind«, »sie ganz einfach zu vernichten«, »diese menschenfreundliche Mission zu erfüllen«, die Deutschen »unter die Erde« zu schaffen, sie ganz einfach »vom Erdboden zu vertilgen«. Angesichts der in der Roten Armee erzeugten Pogromstimmung, die sich nicht etwa gegen die >Faschisten<, sondern grundsätzlich gegen alle Deutschen richtete, war es für den gemäßigten Teil des sowjetischen Kommandobestandes schwierig (und manchmal nicht ungefährlich), dem zügellosen Treiben Einhalt gebieten zu wollen.

Nach dem Eindringen der Sowjettruppen in das deutsche Reichsgebiet im Oktober 1944 waren es dann nicht nur wehrlose Kriegsgefangene allein, sondern auch deutsche Zivilpersonen, Männer, Frauen und Kinder, die der aufgehetzten Soldateska zum Opfer fielen. Mindestens 120.000 von ihnen sind erschlagen worden, 100.000 – 200.000 weitere in Gefängnissen und Lagern zugrundegegangen. 200.000 Zivilpersonen starben als Arbeitssklaven nach der Deportation in die Union Sozialistischer Sowjetrepubliken und, unzählige andere, in Königsberg allein 90.000, sind verhungert. Insgesamt wurde in den späteren >Vertreibungsgebieten< eine Zahl von 2,2 Millionen >ungeklärter Fälle< geschätzt, die in ihrer Mehrheit bei weiterer Begriffsauslegung als >Verbrechensopfer<, das heißt als Opfer des antideutschen Genocides, anzusehen sind. Die sowjetischen Frontoberbefehlshaber, die anfangs selber zu Racheakten aufgerufen hatten, sahen sich bald genötigt, gegen die Verwilderung, ja Vertierung von beträchtlichen Teilen ihrer Truppen einzuschreiten. Alle solche Bemühungen mußten jedoch wirkungslos bleiben angesichts der antideutschen Haßpropaganda, die unter der Federführung Ehrenburgs bis kurz vor Kriegsschluß weiterlief und die in der Forderung gipfelte, mit »Deutschland ein Ende zu machen«, in dem Anliegen, das Ehrenburg »bescheiden und ehrenwert« nannte, nämlich, die »Bevölkerung von Deutschland zu vermindern«, wobei es nur noch darauf ankomme zu entscheiden, ob es besser sei, »die Deutschen mit Äxten oder Knüppeln zu erschlagen«.

Die deutsch‑sowjetische Auseinandersetzung, von jeder der beiden Mächte auf ihre Weise in den Formen eines Vernichtungskrieges geführt, würde den absoluten Tiefstand jahrhundertealter deutsch‑russischer Beziehungen darstellen, wenn es nicht doch einen hoffnungsvollen Aspekt gegeben hätte. Wendet man den Blick zurück auf den Anfang des Krieges, so springt schon in die Augen, mit welcher Freundlichkeit große Teile der Bevölkerung, wenn auch nicht gerade in den großen Industriezentren, so doch sonst im allgemeinen auf dem flachen Lande, in den Städten und Dörfern, die deutschen Truppen empfangen hatten. Das gilt für die baltischen Staaten und Ostpolen ebenso wie für Weißrußland und die Ukraine, aber auch für Großrußland bis weit über Smolensk hinaus, für die Krim und 1942 auch für den Kaukasus. »Je weiter man nach Osten kommt«, so das Oberkommando des Heeres am 12. Juli 1941, »desto freundlicher scheint sich die Stimmung der Bevölkerung der deutschen Wehrmacht gegenüber, vor allem auf dem Lande, zu gestalten.«

An nicht wenigen Stellen wurden die Deutschen geradezu als Befreier begrüßt. Aber selbst dort, wo das nicht direkt der Fall war, wo die Bevölkerung ihnen nur mit zurückhaltender Freundlichkeit oder abwartender Neugier begegnete, würde das der Sowjetdoktrin nicht minder widersprochen haben. Unberechtigte Requisitionen und teilweise auch Plünderungen und sonstige Übergriffe deutscher Soldaten, gegen die die Kommandobehörden im allgemeinen freilich einschritten, haben stellenweise wohl eine Ernüchterung herbeigeführt, ohne daß das gegenseitige Verhältnis hierdurch aber schon ernsthaft getrübt worden wäre. Erst in weiterer Entwicklung sollte ein Umschwung in der Haltung der Bevölkerung eintreten. Er wurde bewirkt durch das Ausbleiben eines konstruktiven Besatzungsprogrammes und durch manche Unterdrückungsmaßnahmen ebenso wie durch die blindwütigen, auch Unbeteiligte in Mitleidenschaft ziehenden Versuche zur Bekämpfung des in kalter Berechnung eröffneten völkerrechtswidrigen Partisanenkrieges.
Auch die Judenverfolgungen
haben in manchen Kreisen der russischen Bevölkerung vielleicht einen tieferen Eindruck hinterlassen, als die Deutschen wohl meinten. Es sollte allerdings hinzugefügt werden, daß die unter Militärverwaltung verbleibenden Armeegebiete trotz vieler Unbilden sich oft positiv von den unter Zivilverwaltung befindlichen Gebieten abhoben. Die im Kaukasus stehende Heeresgruppe A hatte auch politische Vollmachten erhalten, so daß sich die Verhältnisse zu den dort lebenden Minderheitenvölkern, zu den Kosaken, aber auch zu dem russischen Bevölkerungsteil, überaus positiv gestalteten.

Vergegenwärtigt man sich zudem, daß allen Terrormaßnahmen zum Trotz es schon im Jahre 1941 nicht weniger als 3,8 Millionen sowjetischer Soldaten gewesen waren, die sich in deutsche Kriegsgefangenschaft begeben hatten, dann wird deutlich, wie günstig die Aussichten auch für ein politisch‑militärisches Zusammengehen der >Russen< mit den >Deutschen< an sich gewesen sind. Die unabdingbare Voraussetzung hierfür aber hätte in einer Anerkennung Rußlands als eines verbündeten Staates bestanden. Von Kriegsbeginn an haben sowjetische Offiziere in deutscher Kriegsgefangenschaft immer wieder die Grundbedingung für ein Zusammengehen mit Deutschland gegen das Stalinregime genannt: Die Bildung »einer russischen Nationalregierung und einer russischen Befreiungsarmee mit vollkommen russischer Führung«, die »tatsächliche Anerkennung einer russischen Nationalregierung« und einer »eigenen Nationalarmee«.  . . .

Es war Hitler, der die sich bietenden Möglichkeiten einer deutsch‑russischen Allianz verstreichen ließ und realistisches Handeln durch >rassenideologische< Prinzipien ersetzte. So war seine Politik der Eroberung, der Unterdrückung und Ausbeutung zum Scheitern verurteilt. Und dennoch, obwohl das geringste Zugeständnis ausblieb, hat neben Hunderttausenden sowjetischer Soldaten und Offizieren auch eine kleine Gruppe sowjetischer Generale sich im Vertrauen auf eine schließlich unausbleibliche Änderung der Verhältnisse dazu entschlossen, den Kampf an der Seite Deutschlands aufzunehmen:
Der Stellvertretende Oberbefehlshaber der Volchovfront, Generalleutnant Wlassow, der Armeekommissar und zeitweilige Führer der 32. Armee Zilenkov und die Generalmajore Arcezo (Assberg), Blagovegscenskij, Bogdanov, Malygkin, Sapovalov, Sevast’janov, Truchin und Zakutnyj.

Die entgegen dem Willen Hitlers seit 1941 aus kleinsten Anfängen heraus sich entwickelnde militärische Zusammenarbeit war auch politisch gesehen vielleicht die positivste Erscheinung des deutsch‑sowjetischen Krieges. Mochten deutscherseits anfangs weniger politische als militärisch‑praktische Erwägungen maßgebend gewesen sein, so war die Aufstellung der Freiwilligenverbände aus Angehörigen der Völker der Sowjetunion doch das einzige Feld, auf dem den verhängnisvollen Bestrebungen Hitlers im Osten erfolgreich entgegengearbeitet werden konnte. Hitler hatte noch am 8. Juni 1943 erklärt, niemals eine russische Armee aufbauen zu wollen, weil er damit »von vornherein die Kriegsziele völlig aus der Hand geben« würde. Die mit Unterstützung so gut wie aller Oberbefehlshaber des Ostheeres unter tatkräftiger Beiwirkung des zuständigen Gruppenleiters II in der Organisationsabteilung des Generalstabes des Heeres, Major i. G. Graf von Stauffenberg, betriebene Aufstellung der Freiwilligenverbände ließ sich indessen nicht mehr rückgängig machen, nahm vielmehr jetzt einen neuen Aufschwung. Aus den Ostlegionen der nichtrussischen Minderheitenvölker der Turkestaner, Nordkaukasier, Azerbajdianer, Georgier, Armenier und Wolgatataren entwickelten sich nationale Befreiungsarmeen der Völker Turkestans und des Katikasus. Entstanden waren Verbände der Krimtataren, ein Kalmykisches Kavalleriekorps, ein Kosakenkavalleriekorps als Befreiungsheer der Don‑, Kuban‑, Terek‑ und Sibir‑Kosaken und, in Divisionsstärke, auch ein Ukrainisches Befreiungsheer.

Alle Soldaten russischer Nationalität im deutschen Heeresgefüge aber durften sich ab 1943 als Angehörige einer damals freilich erst dem Namen nach bestehenden Russischen Befreiungsarmee betrachten. Doch nach der in Prag am 14. November 1944 erfolgten Gründung des Komitees zur Befreiung der Völker Rußlands (KONR) sollte eine Russische Befreiungsarmee (ROA), die über ein eigenes Oberkommando und über alle Waffengattungen einschließlich einer kleinen Luftwaffe verfügte, unter der Bezeichnung Streitkräfte des Komitees zur Befreiung der Völker Rußlands (VS KONR) wirklich ins Leben treten. General Wlassow als Vorsitzender des Komitees, das einer Exilregierung gleichkam, wurde in Personalunion auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte, bei denen es sich um eine de facto und de jure völlig unabhängige, mit dem Deutschen Reich nur noch verbündete russische Nationalarmee handelte. Das Wort Hitlers war damit in sein Gegenteil verkehrt worden. Und wenn, wie schon Aleksandr Solzenicyn schrieb, Hunderttausende, in Wirklichkeit, wie wir wissen, aber eine Million sowjetischer Soldaten aller Grade in einem als groß und vaterländisch apostrophierten Krieg im Lager des Feindes den Kampf gegen das eigene Regime aufnahmen, dann kann es sich in der Tat nicht mehr um einen wie auch immer gearteten Verrat gehandelt haben, dann haben wir es mit einer elementaren politischen Erscheinung zu tun, die es in diesem Ausmaß in der Geschichte wohl noch niemals gegeben hat. Dieses einzigartige historische Phänomen wäre schon für sich genommen eine glatte Widerlegung des gedankenlosen Schlagwortes von der uneingeschränkten Gültigkeit eines sogenannten >Sowjetpatriotismus< und >Massenheroismus<.

Der Krieg des Deutschen Reiches und der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken ist von beiden Seiten mit Methoden geführt worden, die der jeweils vertretenden Ideologie entsprachen. Stalin selbst hatte nach der Schlacht von Kiev 1941 von Berija im Kreml gefordert, kein Mittel auszulassen, um gegen alles Deutsche »Haß, Haß und nochmals Haß« zu entfachen. Und am 6. November 1941 hatte er expressis verbis die Führung eines Vernichtungskrieges gegen die Deutschen proklamiert. Schließlich aber waren es Soldaten beider Seiten, die als erste eine Brücke über diese Abgründe des Hasses hinweg schlugen. »In den Jahren des gemeinsamen Kampfes«, so rief General Wlassow seinen Truppen anläßlich der Übernahme des Oberbefehls am 10. Februar 1945 auf dem Truppenübungsplatz Münsingen zu, »entstand eine Freundschaft des russischen und deutschen Volkes. Die Fehler, die von beiden Seiten gemacht wurden, und ihre Verbesserung beweisen die Gemeinsamkeit der Interessen. Die Hauptsache ist das Vertrauen, das gegenseitige Vertrauen in die Arbeit auf beiden Seiten. Ich danke den deutschen und russischen Offizieren, die an der Aufstellung dieses Verbandes teilnahmen.«

Das waren Wendungen, wie man sie in diesem Vernichtungskrieg bisher noch kaum gehört hatte. Wlassow schloß seine mit freudiger Zustimmung aufgenommene Ansprache mit den Ausruf: »Es lebe die Freundschaft des deutschen und russischen Volkes! Es leben die Soldaten und Offiziere der russischen Armee!« Von Hitler und von Stalin war nun nicht mit einem Wort mehr die Rede. Die Russische Befreiungsbewegung, die auch das Ziel einer Vereinbarung mit einem erneuerten Deutschland verfolgte, ist an der Ungunst der Verhältnisse des Jahres 1945 zwar gescheitert, aber sie ist nicht vergebens gewesen, wie denn gerade auch mißlungene Befreiungsversuche in der Geschichte der Völker eine besondere Ausstrahlungskraft erlangen können.

Der Text wurde stark gekürzt, auch die Hervorhebungen wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im März 2009

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Joachim Hoffmann (* 1. Dezember 1930 in Königsberg; † 8. Februar 2002 in Freiburg im Breisgau) war ein deutscher Historiker und Publizist, der sich vor allem mit der Militärgeschichte des Zweiten Weltkrieges beschäftigte.
Die Familie Hoffmanns stammte aus Königsberg in Ostpreußen, von wo sie infolge des Zweiten Weltkrieges in den Westen Deutschlands fliehen musste und sich in Berlin niederließ. Ab 1951 studierte er Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte und Vergleichende Völkerkunde an der FU Berlin und der Universität Hamburg. 1959 promovierte er zum Dr. phil. mit Die Berliner Mission des Grafen Prokesch-Osten 1849-1852. Von 1960 bis 1995, als er in den Ruhestand ging, war er am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr tätig, zuletzt als im Range eines Wissenschaftlichen Direktors. Sein dienstliches Forschungsgebiet waren die Streitkräfte der Sowjetunion. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze zur politischen, diplomatischen und militärischen Geschichte des 19. Jahrhunderts und zur Geschichte des Krieges gegen die Sowjetunion.
Einen Schwerpunkt der Arbeit Hoffmanns im Militärgeschichtlichen Forschungsamt bildete die Rolle der Orientvölker der Kaukasusregion während des Zweiten Weltkrieges. Er veröffentlichte mehrere Bücher zu diesem Thema. Angesichts der aktuellen Nationalitätenkonflikte, welche zum Zusammenbruch der Sowjetunion mit beigetragen haben, trugen die Abhandlungen dazu bei, deren historische Dimension aufzuzeigen.