Israel – ein Gottesbeweis (A.Köberle)

Adolf Köberle

Israel ‑ ein Gottesbeweis

 

1.

 

Die Leugnung und Verleugnung Gottes, die in unseren Tagen in aller Welt immer weiter um sich greift, legt die Frage nahe, wie der skeptischen Generation von heute eine Überführung von der Wirklichkeit Gottes nahegebracht werden kann. Die antike Philosophie, die Stoa, die mittelalterliche Scholastik und auch noch die altpro­testantische Orthodoxie lutherischer wie reformierter Ausprägung sind dem Zweifel an der Existenz Gottes in schöner Einhelligkeit entgegengetreten mit dem Hinweis auf eine Vielzahl von Gottesbeweisen. Man sprach von einem ontologischen, von einem historischen, kosmologi­schen und moralischen Gottesbeweis und war der guten Zuversicht, es sei möglich, der menschlichen Vernunft die Realität Gottes auf diesem Weg einsichtig und ein­leuchtend zu machen.

Es war der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, der als erster die Beweiskraft dieser metaphysischen Postulate und Argumentationen in Frage stellte, ja zertrüm­merte. Seitdem sind ihm viele radikale Geister darin ge­folgt, ein Ludwig Feuerbach, ein Karl Marx, ein Sigmund Freud. Auch Karl Barth hat sich mit seinem Kampf ge­gen jede Art von »natürlicher Theologie« dieser Kritik an den überlieferten Gottesbeweisen mit Entschiedenheit angeschlossen.

Auf dem Hintergrund all solcher Erschütterung mag uns die Anekdote eigenartig berühren, die sich am Hof des Preußenkönigs Friedrich II. zugetragen haben soll. Friedrich der Große war bekanntlich ein Freund und Verehrer des geistreichen Spötters Voltaire und teilte dessen Geringschätzung aller Religion. So soll er einmal seinen Leibarzt sarkastisch gefragt haben: »Nenn’ er mir einen Gottesbeweis, wenn er kann!« Der also Angeredete aber soll darauf die bündige Antwort gegeben haben: »Die Juden ‑ Majestät.«

Inwiefern ist Israel ein Gottesbeweis, der stärker und überzeugender spricht als alle anderen metaphysischen Be­gründungen, die uns aus der Geschichte von Philosophie und Theologie überliefert sind? Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

2.

 

Über dem jüdischen Volk und seinem Geschichtsver­lauf liegt ein rätselvolles Geheimnis. Selbst Profanhistoriker, die bei dem Verständnis der Geschichte die Blick­richtung auf die Wirklichkeit Gottes am liebsten völlig ausschalten, haben zugeben müssen: das Dasein dieses Volkes, dem das Gesetz der Vergänglichkeit in der Zeit nichts anhaben kann, ist ein einmaliges, rational nicht mehr faßbares Phänomen. Man hat sich mit Recht die Frage vorgelegt: was verleiht diesem Volk eine so unge­wöhnliche Zählebigkeit? Jahrhunderte kommen und ge­hen, Völker blühen auf, erreichen ihre Höhe, werden alt und gehen wieder unter. Nur dieses eine Volk wird von dem Gesetz der Völkersterblichkeit nicht betroffen. Es schwimmt wie ein Tropfen Öl auf dem Völkermeer und läßt sich nicht auflösen.

Dieser auffällige Tatbestand wird dadurch noch merk­würdiger und überraschender, wenn man sich vor Augen hält, daß es in der Geschichte dieses Volkes wahrhaftig nicht an gefährlichen Lagen und Stunden gefehlt hat, wo alles dafür zu sprechen schien, daß Auflösung und Untergang eintreten würden. Wir wollen uns einige solcher gefahrenbedrohten Stationen vergegenwärtigen, um dar­an das Staunen zu lernen, wie auch schwerste Krisen den Bestand dieses Volkes nicht verletzen konnten.

Als das israelitische Volk nach der langen Zeit der Wü­stenwanderung in Palästina endlich seßhaft wurde, stieß es dort auf die kanaanitische Urreligion. Der einheimische Baalskult war ein heißer, rauschhafter Naturdienst. Wein und Tanz, dazu die heilige Prostitution auf Bergeshöhen, waren bevorzugt gepflegte Formen, die zum Erlebnis der Gottheit führen sollten. Wir wissen aus den Geschichts­büchern und aus den prophetischen Schriften des Alten Testaments, wie stark und verlockend diese üppige, sinn­lich‑schwüle Naturreligion die neuangekommenen Ein­wanderer umgarnt hat. Dazu brachten im weiteren Ver­lauf Prinzessinnen aus Phönizien bei ihrer Verheiratung die Verehrung der Fruchtbarkeitsgöttin Astarte mit an den Hof der Könige von Israel. Die Goten der Völ­kerwanderungszeit erschlafften unter der Süßigkeit ita­lienischer Frauen und Weine. Das jüdische Volk wird von einer dionysisch geprägten Religion überschwemmt, aber es geht darin nicht unter.

Eine noch stärkere Belastungsprobe für die Kohäsions­kraft mußte die Verbannung in die Babylonische Gefangenschaft bedeuten. Ohne Tempel, fern von der Heimat, als wehrlose Schar einem übermächtigen Sieger ausge­liefert, umgeben von der Astralreligion des Zweistrom­landes, wahrlich, hier waren alle Voraussetzungen vor­handen, auseinanderzubrechen und aufgelöst zu werden. Oft genug hatten Assyrer, Babylonier und Perser die Taktik erfolgreich geübt, besiegte Völker zu verpflanzen und sie allmählich aufzusaugen. Nur in diesem einen Fall versagt das vielmals bewährte Rezept. Eher gestärkt als geschwächt kehren die Nachkommen der Verbannten aus dieser Prüfungszeit an den Ursprungsort ihrer geschicht­lichen Bestimmung zurück.

Eine dritte Belastungsprobe von besonderer Heftigkeit fällt in die Zeit der Makkabäerkämpfe. Alexander der Große ist wie ein gewaltiger Komet von Hellas aus durch die Welt des Orients gezogen, herrlich aufglühend und ebenso rasch wieder verlöschend. Ungleich stärker als die Nachwirkungen der militärischen Siege sollten sich die kulturellen und religiösen Auswirkungen dieses Gesche­hens erweisen. Griechischer Geist und orientalisches Le­bensgefühl vermählen sich von jetzt an miteinander zu einer neuen einheitlichen Größe, die wir Hellenismus zu nennen pflegen. Durch Syrien, Kleinasien, Armenien und Mesopotamien flutet im Zeitalter der Diadochen, der Er­ben Alexanders, unter den Seleuziden und Ptolomäern der neue Geistesstrom und macht alle Länder im Aufgang der Sonne sich untertan.

Nur an einer Stelle stößt der hellenistische Einfluß auf zähen und unüberwindlichen Widerstand, das ist im jüdischen Volk. Der syrische Großkönig Antiochus Epi­phanes meint, es müsse doch ein Leichtes sein, mit dem hartnäckigen Völklein auf dem schmalen Palästinastrei­fen fertig zu werden. Er überschwemmt das Land mit Truppen, er bringt griechische Schulen, Kampfspiele und Bäder, aber er kommt damit nicht durch. Er muß zuletzt nachgeben und dem jüdischen Volk seine völkische und religiöse Freiheit belassen.

Nicht weniger nötigt die Entwicklung im römischen Kaiserzeitalter zum Staunen. Die Völker‑ und Religionsmengerei hatte damals einen nicht mehr überbietbaren Umfang angenommen. Das Weltfriedensreich des Kai­sers Augustus war tolerant bis zum Äußersten, sowohl im Blick auf die Verleihung des Bürgerrechts wie im Blick auf die Ausübung der verschiedensten Kulte.

Der jüdische Geist nimmt in diesem Zeitraum die grie­chische Sprache an. Er übersetzt das Alte Testament in die herrschende Weltsprache. Es kommt auf alexandrini­schem Boden zu einer innigen Begegnung mit dem grie­chischen Geistesgut, wofür der Name Philos als Beispiel gelten mag. Aber auch in diesem Zeitraum eines allge­meinen Synkretismus bewahrt das jüdische Volk unver­wechselbar seine Eigenart. Die vier Beispiele umfassen immerhin einen Zeitraum von nahezu tausend Jahren. Tausend Jahre bedeuten etwas in der Geschichte eines Volkes und müssen nachdenklich stimmen. Hitler wollte ein Tausendjähriges Reich germanisch-arischer Kultur schaffen und war nach 12 Jahren pleite.

Nach der Zerstörung Jerusalems werden die auseinan­derziehenden Gewalten noch stärker wirksam. Die Zerstreuung des jüdischen Volkes, die erstmalig mit dem babylonischen Exil begonnen hatte, steigert sich ins Un­gemessene. Der jüdische Mensch nimmt die Sprache aller Völker an. Er wird gehaßt, verfolgt, unterdrückt, verjagt. Der Antisemitismus ist nicht erst eine moderne Erschei­nung. Er ist so alt wie das jüdische Volk und geht mit seiner Geschichte wie ein niemals weichender Schatten durch die Jahrhunderte und Jahrtausende von dem Ägyp­ten der Pharaonen bis Auschwitz und Theresienstadt. Aber alle Pogrome, alle grausamen, blutigen Ausrot­tungsversuche ändern nichts an der Tatsache, daß dieses Volk gleichwohl weiter besteht und daß jeder, der es an­tastet, zuletzt den kürzeren gezogen hat.

Die Auflösungstendenzen kommen nach der endgül­tigen Zerstörung Jerusalems nicht mehr nur von außen, sie kommen jetzt auch von innen. Das Judentum zer­splittert sich im Lauf seiner Entwicklung in Parteigruppen und Gegensätze von tief einschneidender Art. Im Osten behauptet sich der mächtige Block der Altgläubigen, von denen die Tora und die rabbinische Tradition in peinli­cher Treue und Strenge gehütet wird. Daneben tritt das westliche Reformjudentum, das einen ausgesprochen auf­geklärten liberalen Charakter trägt und mit der Sitte der Väter nicht mehr viel gemeinsam hat. Der eine Teil der Judenschaft erwirbt die Reichtümer der Erde, er beherrscht durch immense Kapitalanhäufung die Banken der Welt, es genügt, dafür als Beispiel das Haus Rothschild zu nen­nen, während ein anderer Teil in Polen und Galizien in Schmutz und Elend schier verkommt. Und doch, mö­gen Reichtum und Armut, Talmudtreue und säkularer Freisinn noch so sehr trennen, es bleibt ein letztes über­greifendes Band, das alle unsichtbar miteinander zusam­mengeschlossen sein läßt.

 

3.

 

Der menschliche Forscherdrang hat viel darüber nach­gesonnen, wie sich das weltgeschichtliche Rätsel des jüdischen Volkes erklären läßt. Man hat verständlicherwei­se zuerst gedacht an das Phänomen der Rasse. Zweifel­los besitzt der jüdische Mensch eine ungewöhnliche leib­liche und geistige Vitalität. Die jüdische Ehe ist fast immer kinderreich. Und doch genügt die rassische Deu­tung nicht, um die zeitüberlegene Lebensdauer dieses Volkes zu begreifen. Warum sind die Nachbarvölker Is­raels, die Amoriter und Moabiter, die Amalekiter, Aramäer und Phönizier samt und sonders untergegangen, warum haben sich die germanischen Stämme mit dem »edlen nordischen Blut« in den Stürmen der Völkerwande­rung nicht bewahren können, und warum ist das jüdische Volk noch immer da, obwohl es Vermischungen mit dem Blut aller Erdteile in sich aufgenommen hat? Wir müssen schon tiefer graben, wenn wir eine Erklärung für dieses geheimnisvolle Völkerschicksal erhalten wollen.

Schon über der Frühgeschichte des Volkes Israel liegt ein einzigartiges Ernstnehmen der Gottesfrage. Griechenland hat geleuchtet in der Entfaltung von Philosophie und Kunst und hat dadurch nachhaltig auf die Menschheit gewirkt. Babylon war groß in der Art und Weise, wie es in die Geheimnisse des gestirnten Himmels eindrang und Bezeichnungen dafür fand, die zum Teil heute noch gelten. Ägypten hat frühzeitig schon Außerordentliches geleistet in einer priesterlich geführten Ärzteheilkunst. Aber das eine muß man Israel lassen: hier ist mit einer Intensität um die Wirklichkeit Gottes gerungen worden wie nirgends sonst. Besonders das Auftreten der prophe­tischen Rufergestalten im Nord‑ und Südreich Israels ist etwas schlechthin Einmaliges und Einzigartiges inner­halb der gesamten Religionsgeschichte der Menschheit. Zu wiederholten Malen reißen die Propheten das Volk zurück von den Abgründen, in die es bald aus Verlockung, bald aus Verzweiflung hineinzustürzen droht. Die­se bevollmächtigten Prediger der Wahrheit sprechen nicht Gedanken und Meinungen aus, die sie sich über Gott ge­macht haben. Sie wissen sich, sehr oft wider ihren eige­nen Willen, als Berufene, die reden müssen, weil der göttliche Auftrag mit heiliger Zwangsgewalt über sie her­eingebrochen ist. Der Prophet Jeremia hat dieses innere Müssen unter der Machtwirkung Gottes einmal mit fol­genden Worten umschrieben: »Herr, du hast mich über­redet und ich habe mich überreden lassen; du bist mir zu stark geworden und hast gewonnen. Aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Da dachte ich, wohlan, ich will sein nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es war in meinem Herzen wie ein brennendes Feu­er, daß ich schier wäre vergangen« (20, 7‑9).

Unter dem Eindruck solcher numinoser Beauftragung, wie sie einzelnen Gestalten in diesem Volk zuteil wurde, dürfen wir die Gewißheit fassen: der lebendige Gott, der Herr der Geschichte, hat dieses Volk als ersten Baustein aus dem Steinbruch der Völkerwelt herausgegriffen und hat in das Rohmaterial dieses Volkes seinen heiligen Wil­len und seine herrliche Verheißung tief eingeschrieben.

Aber warum hat Gott gerade an dieser Stelle mit sei­ner Bauarbeit, mit seinem Liebesmühen begonnen? Si­cher nicht darum, weil das israelitische Volk in Gottes Au­gen als besonders williges, dankbar empfängliches Ma­terial gegolten hat. Die Propheten können ja oft genug ihre eigenen Leute ein halsstarriges, trotziges, ungetreu­es, Gott allezeit widerstrebendes Volk nennen.

Calvin hat auf die Frage, warum Gott gerade hier mit seinem Offenbarungshandeln eingesetzt hat und nicht an einer ganz anderen Stelle, geantwortet: Gott ist frei in der Wahl seiner Wege. Wenn es ihm gefällt, also zu han­deln, haben wir nicht mit ihm zu hadern. Der Mensch, die vergängliche, sündig‑unreine Kreatur, darf sich nicht anmaßen, Gott mit Vorwürfen zu überschütten: warum machst du es also?

Hamann, der Magus des Nordens, ist noch einen Schritt weitergegangen und hat als Deutung angeboten: Gott hat bei seinem Rettungswerk zugunsten der Menschheit absichtlich mit einem besonders spröden und harten Ma­terial den Anfang gemacht, um damit ein für allemal zu bekunden, daß sein Heil den Verlorenen gilt und daß es nicht unserem Verdienst und unserer Würdigkeit ent­stammt. So verstanden, ist nicht erst das Kreuz Christi, sondern bereits die Erwählung Israels das Unterpfand, dafür, daß Gott allein aus Gnaden rechtfertigt.

Ob wir uns der irrationalen Erklärung anschließen, die der Genfer Reformator gibt, oder der soteriologischen Interpretation, für die der Königsberger Hamann eintritt, in jedem Fall wird dabei klar: das Geheimnis des jüdi­schen Volkes liegt in seiner Gottesbeziehung. Gott hat auf dieses Volk als erstes die Hand gelegt. Von hier aus wollte er beginnen, um dann weiter fortzuschreiten bis zur Heimholung aller Völker unter seine Friedensgemein­schaft und Königsherrschaft. Wo aber Gott in diesem gültigen Sinn beruft, da entsteht eine ewige Bindung, die von der menschlichen Seite her nie mehr ungeschehen gemacht werden kann. Es fragt sich nur, ob eine solche Bindung zum Segen bejaht oder zum Verhängnis ver­neint wird. Die erfolgte Beschlagnahmung ist jedenfalls nicht mehr abzuschütteln. Sie bleibt als Verheißung wie als Last auf dem Erwählten liegen. Die Geschichte des jüdischen Volkes ist die Geschichte der Unentrinnbarkeit Gottes. Es mag daran auch dem oberflächlichen Betrachter deutlich werden, daß Geschichte nicht nur ein Getriebe aus Hunger und Liebe ist, daß hier vielmehr heilige Ge­setze, Zusammenhänge und Ziele walten, von denen Gott nicht abläßt.

 

4.

 

Wir müssen noch konkreter fragen: was waren die starken Kräfte, die es bewirkten, daß das jüdische Volk von den vielfach wirksamen Auflösungstendenzen nicht zersetzt werden konnte? Es waren und sind bis auf den heutigen Tag die beiden Realitäten: Gesetz und Messias­hoffnung.

Durch die Sinai‑Offenbarung, durch den De­kalog hat das jüdische Volk eine sittliche Bindung von einzigartiger Größe empfangen. Die Tora war wie ein Stahlband, das sich um das Volk legte und es zusammen­hielt, daß es sich nicht verlieren konnte an das heidnische Wesen der Nachbarvölker. Die Höhenlage der Zehn Ge­bote, die das Verhältnis des Menschen zu Gott und dem Nächsten regeln, sorgt zudem dafür, daß der Mensch Gott gegenüber nicht sicher, satt und schläfrig wird. Das Ver­sagen gegenüber dem Gesetz, das Zurückbleiben hinter seiner Reinheitsforderung führt dahin, daß das Herz un­ruhig wird und aus der Tiefe um Vergebung rufen lernt. Wer für die Bedeutung solcher Einflußgewalt in der Ge­schichte eines Volkes kein Sensorium hat, sollte lieber gar nicht anfangen, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Er greift sonst doch nur zu kurz.

So nachhaltig die Rolle ist, die das Gesetz für die Seele des Judentums spielt, es ist daneben eine zweite Realität zu nennen, die mächtiger noch als alles andere den Schick­salsweg dieses Volk bestimmt hat: Die Messiashoffnung. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, muß etwas wei­ter ausgeholt werden.

Durch das Alte Testament zieht sich die schmerzliche Erkenntnis: die Welt, in der wir leben, ist nicht wie sie sein soll. Wohl ist der Kosmos ein herrliches Werk der Schöpfermacht Gottes. Wohl ist der Mensch als Gottes Ebenbild Krone und Haupt der Schöpfung, aber all diese Schöpfungswerke haben ihren ursprünglichen Glanz ver­loren. Ein Todeshauch von Weh und Vergänglichkeit liegt über Mensch und Kreatur ausgebreitet.

Von diesem Riß, der durch alles geschaffene Leben hin­durchgeht, weiß nicht nur das Buch Hiob und der Pre­diger Salomonis. Wir begegnen diesem leidvollen Grund­gefühl ebenso in der Philosophie des Neuplatonismus und in der buddhistischen Meditation. Aber nun gilt es, den bedeutsamen Unterschied zwischen der biblischen und außerbiblischen Erlösungserwartung wahrzunehmen. Die griechische und die indische Mystik sucht dem Jam­mer der Welt dadurch zu entgehen, daß man durch einen kühnen Aufschwung der Seele diese ganze zerbrochene Wirklichkeit weit hinter sich läßt. Man betrachtet den Aufenthalt auf dieser Erde nur als ein kurzfristiges Gast­spiel, bei dem es sich nicht lohnt, zu lange zu verweilen.

Das Alte Testament dagegen nimmt die Erde und den Auftrag des Menschen an der Erde ungeheuer ernst. Wenn der leidenden, gefallenen Schöpfung geholfen wer­den soll, dann kann das nicht geschehen durch die Flucht in eine andere höhere, bessere Welt. Nein, dann muß hier in dieser unserer Welt ein Neues beginnen, sonst werden wir nicht heil. Diese Einsicht in die Not, die Menschheit und Schöpfung solidarisch miteinander teilen, ist die Voraussetzung zum Verständnis der biblischen Erlösererwartung, die einen völlig andersartigen Charak­ter trägt als die Erlösungssehnsucht der Mystik.

Die prophetische Verkündigung des Alten Testaments leitet die Menschen nicht an zu irgendeinem ekstatischen Seelenaufschwung, um sich dadurch über die Gebrech­lichkeit der Erde zu erheben. Die prophetische Erwar­tung blickt vorwärts, sie ist horizontal gerichtet, sie geht in der Längsrichtung der Geschichte, sie wartet auf eine Zeitenwende, da durch Gottes Machtwirkung hier auf dieser Erde ein neuer Weltentag anbrechen wird.

Diese Zeitenwende vollzieht sich nicht in Form eines allmählich fortschreitenden Regenerationsprozesses. Da­zu stehen dem Kommen des Neuen zu viele Widerstände entgegen, als daß die große Verwandlung auf kontinuier­lichem Weg eintreten könnte. Es bedarf dazu einer Per­son, eines Mittlers, einer Gestalt der Gnade, die von Gott gesalbt, mit Geist und Kraft aus der Höhe ausge­rüstet, den Umbruch und Neuanfang für Menschheit und Schöpfung heraufführen wird.

Damit haben wir den Ansatzpunkt zum Verständnis der alttestamentlichen Messiaserwartung gewonnen. Das jüdische Volk lebt vom Messiasglauben bis auf den heu­tigen Tag, und es wird noch zu zeigen sein, wie die unruhige und leidvolle Geschichte dieses Volkes zutiefst zusammenhängt mit den Wandlungen und Verirrungen seiner Messiaserwartung. Auch Politiker und Historiker sollten sich um der Sache willen an dieser Stelle mit bi­blischer Theologie beschäftigen. Denn wer diese Tiefendi­mension nicht sieht, muß unfehlbar zu dilettantischen und völlig unzureichenden Urteilsbildungen im Verständ­nis der Judenfrage kommen.

Die messianische Hoffnung durchläuft im Alten Testa­ment einen langen Weg. Sie schreitet in Stufen voran. Sie gewinnt im Lauf der Zeit an Reinheit und Größe. Sie erhält bei Deuterojesaja Passionsreife und gewinnt im Buch Daniel kosmische Ausweitung. Man muß diesen Weg kennen; denn nur auf dem Hintergrund dieser groß­artigen und erhabenen Erwartungsgeschichte kann man einigermaßen ermessen, was die Verwerfung Jesu für die Geschichtszukunft des jüdischen Volkes bedeuten mußte.

Es sind nicht alle Stunden im Leben eines Menschen und im Leben eines Volkes von gleicher Tragweite. Es gibt einen Unterschied der geschichtlichen Stunden. Sie können bestehen in einem Bekenntnisakt, wie ihn Luther 1521 in Worms vor Kaiser und Reich abgelegt hat. Sie können bestehen in einem Schuß, der fällt, und der die Herrschergestalt einer Nation trifft, wie es im Sommer 1914 der Fall war oder bei der Ermordung von Kennedy. Durch solche Geschichtsereignisse werden Abläufe einge­leitet und ausgelöst, die weit über die jeweilige Augen­zeugen‑Generation hinaus reichen. Auch das Geschick der Ungeborenen wird davon in Mitleidenschaft gezogen. Wer nicht zu verstehen vermag, daß die Tatsachenwucht des Geschichtlichen über Jahrhunderte hinweg wirksam blei­ben kann, dem wird das Geheimnis des jüdischen Vol­kes immer verschlossen bleiben. In der Geschichte dieses Volkes war zweifellos die Messiasverwerfung Jesu im Akt der Kreuzigung das verhängnisvollste Ereignis, das bis auf den heutigen Tag in der Seele des jüdischen Men­schen nachzittert. Seit diesem Geschehen kreist das jüdi­sche Denken in heimlicher Unruhe um die Frage: wir wer­den doch nicht den Gesalbten Gottes verworfen haben, von dem die Propheten in den heiligen Schriften Zeugnis geben und auf den unsere Väter sehnsuchtsvoll gewartet haben! Nein, dieser Jesus von Nazareth darf nicht der Weltheiland gewesen sein! Das wäre zu furchtbar! Wir müssen weiter harren und hoffen. Der wahre Messias ist noch nicht erschienen, er wird erst kommen.

Warum wurde Jesus damals aus der Mitte seines Vol­kes ausgestoßen? Er hatte sich doch im Anschluß an die große Erlösererwartung der alttestamentlichen Weis­sagung als die Erfüllung der uralten Hoffnung in lauterer Klarheit bezeugt. Der Göttinger Neutestamentler Joa­chim Jeremias hat mit Recht darauf hingewiesen, daß Worte wie der Hirte, der Bräutigam, der Menschensohn, die Jesus als Selbstbezeichnungen wählt, für das damalige Ohr und Sprachempfinden gesättigt waren mit messia­nischem Hoheitsbewußtsein. Oder es sei erinnert an die Worte Christi, die das Markusevangelium als älteste und geschichtlich zuverlässigste Quelle überliefert hat: »Selig Eure Augen, daß sie sehen, was Ihr seht, und Eure Ohren, daß sie hören, was Ihr hört! Viele Prophe­ten und Könige wollten sehen, was Ihr seht, und haben es nicht gesehen, wollten hören, was Ihr hört, und ha­ben es nicht gehört«13, 10 f.).

 

5.

 

Wie ist es zu erklären, daß das Christusleben, das mit suchender Liebe um Jerusalem und das ganze jüdische Volk gerungen hat, verworfen und verstoßen wurde? Es gibt darauf nur eine Antwort. Das Bild, wie der Messias Gottes vor sein Volk hintrat, entsprach nicht den Erwar­tungen, die sich das Volk von der messianischen Heils­zeit gemacht hatte. Wer Heilbringer in der Zäsur der Zeit sein wollte, mußte die verhaßte römische Besat­zungsmacht aus dem Land jagen, er mußte Jerusalem zur Hauptstadt und zum Mittelpunkt einer neuen Reichs­herrschaft machen, er mußte sein Volk auch äußerlich zu Sieg, Glanz und Herrlichkeit führen. Wie Jesus nichts von alldem erfüllt, wie er im Gegenteil die üppigen sinn­lichen Erwartungen Lügen straft und statt dessen den Armen und Elenden, den Verirrten und Gefallenen die innerlichsten Güter der Sündenvergebung und der Her­zensreinigung bringt, da wendet sich gegen ihn der Groll und Haß der führenden Kreise in Jerusalem, und diesen Spitzen der Religionsbehörde gelingt es schließlich, das zum Frühjahrsfest in der Landeshauptstadt versammelte Volk in die Feindschaft mit hineinzureißen.

Auch die Judas‑Tragödie muß in dem gleichen Zusam­menhang gesehen werden. Mag dieser Jünger den Beutel getragen haben, es war gewiß nicht Geldgier, was ihn dazu trieb, seinen Herrn und Meister zu verraten. Der Mann aus Ischariot war zu Jesus gestoßen, weil er den Umbruch der Zeit erwartete und in dem Propheten aus Nazareth die Erfüllung all seiner Hoffnung sah. Wie aber Jesus den Jüngern zu zeigen beginnt, daß der Weg des Messias über das Kreuz zur Krone führt, da wendet sich dieser Enthusiast enttäuscht von Jesus ab. Er läßt ihn fal­len und liefert ihn dem Verderben aus.

Es gibt auch noch eine zweite Deutung. Demnach habe Judas durch die von ihm inszenierte Verhaftung Jesus dazu zwingen wollen, endlich aus seiner Niedrigkeit und Wehrlosigkeit herauszutreten und sich als den macht­vollen Herrscher zu erweisen, dessen Bild er bisher in Un­scheinbarkeit verhüllt hatte.

Welcher Interpretation wir den Vorzug geben mögen, in jedem Fall bleibt der Jünger Judas der Typus des jü­dischen Menschen, der Zeichen fordert und der an dem Verzicht Jesu auf die Schauwunder scheitert, damals wie heute.

Das jüdische Volk hat nach der Verwerfung Jesu die Glut der Messiaserwartung, zunächst jedenfalls, unver­ändert beibehalten. Die stille, reine Gestalt dessen, der sich »der Menschensohn« genannt hatte, durfte es nicht gewesen sein. So galt es, nach anderen Helfern Ausschau zu halten, denen das Messiasprädikat mit mehr Recht zugebilligt werden durfte. Freilich, man muß es schon aussprechen, es lag kein Segen über den jüdischen Mes­siasbildern und ‑gestalten, die der Zeit nach dem Karfrei­tag folgen. Immer aufs neue erscheint ein Fanatiker, der den Messiasrang für sich in Anspruch nimmt und den nationalistischen Ehrgeiz des Volkes aufreizt und anfeu­ert. Es kommt unter der Führung solcher Rufer zum Streit zu dreimaligen schweren Aufständen im Jahr 70 und in den Jahren um 115 und 135. Jesu düstere Weis­sagung vom Untergang der Stadt Jerusalem, von der Zer­störung des Tempels, erfüllt sich bis auf das letzte Wort. Es bleibt kein Stein auf dem anderen. Das Volk, das in der entscheidenden Stunde seiner Geschichte nicht er­kennen wollte, was zu seinem Frieden dient, wird von einem fragwürdigen Schwärmer nach dem anderen in die Irre geführt und verblutet sich aufgrund falsch erregter Hoffnungen in aussichtslosen Kämpfen. Man zählt in der Geschichte des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems einige Hunderte solcher religionspolitischer Empörer, die mit dem Anspruch auftraten, der wahre Gesalbte Gottes zu sein.

Auf das Versagen der chauvinistischen Kämpfernatu­ren folgt eine Zeit der Ernüchterung. Die Messiashoffnung bleibt wohl erhalten, aber das Messiasbild verliert mehr und mehr die personhaften Züge. Dieser Prozeß vollzieht sich in einer zweifachen Richtung.

Man vertritt jetzt die Auffassung: Israel als Volk ist der Messias der Welt. Indem Israel leidet, erfüllen sich an ihm die prophetischen Weissagungen vom Leiden des Messias. Auf die Passion Jesu will man Jesaja 53 nicht beziehen. So wendet man das Kapitel von dem leidenden Knecht Gottes auf das eigene Volk an.

Daneben tritt eine zweite Umformung. Man erhofft nicht mehr die Ankunft des Messias als einer konkreten geschichtlichen Gestalt. Dafür wartet man jetzt auf den Anbruch einer messianisch geprägten Heilszeit. Die Erlö­sung kommt nicht durch einen Erlöser, die Erlösung kommt durch eine Vielzahl von Menschen guten Willens, die sich verantwortlich fühlen für die Heilung der Welt.

Von daher ist es zu erklären, warum so viele jüdische Denker, es sei nur an die Philosophieprofessoren Cohen und Arthur Liebert erinnert, überzeugte und begeisterte Anhänger von Immanuel Kant gewesen sind. Sie fühlten sich angezogen von der »Kritik der praktischen Ver­nunft«, in der der Ethik so weitreichende religiöse Mög­lichkeiten eingeräumt werden. Auch nach der Säkularisie­rung der Messiaserwartung kann der jüdische Mensch nicht anders, als messianisch zu denken, zu wirken und zu hoffen. So haben sich viele bedeutende jüdische Namen je und je begeistert für humanitäre Wohlfahrtsbestre­bungen aller Art, für den Völkerbund und für den Pa­zifismus, ja selbst in der areligiösen Welt des Marxismus lebt das messianische Verlangen, hier auf dieser Erde ein Reich der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit und des Welt­friedens zu schaffen. Solange freilich der Weg nach dort­hin mit Leichen gepflastert ist, kann man füglich bezwei­feln, ob er in ein Menschheitsparadies führen wird.

Besonders deutlich läßt sich an dem Lebenswerk von Martin Buber der Übergang vom personhaften Messias­bild zu einer messianischen Ära wahrnehmen. Martin Buber redet wohl mit Hochachtung von der Gestalt Jesu, aber sein Messiasanspruch gilt ihm durchaus als eine Selbsttäuschung. Nach der Überzeugung von Martin Buber haben wir nicht auf eine Heilandsgestalt in der Zu­kunft der Geschichte zu warten, wir müssen das messia­nische Zeitalter selbst heraufführen durch Gutsein und Gutestun. Buber hat über seinen Großvater den Chassidismus in unmittelbarer Berührung kennengelernt, und er ließ sich davon ergreifen. In dieser jüdischen Erwec­kungsbewegung Ostgaliziens im Verlauf des 19. Jahr­hunderts glüht eine Tat‑Mystik von hingebungsvoller Aufopferung. Der gegenwärtige Weltzustand wird ver­neint. Doch die Welt könne und müsse anders werden, wenn sich nur genügend Menschen bereit fänden, an der Weltverbesserung mitzuarbeiten.

 

6.

 

In schrecklicher Verblendung hat die Christenheit ihr grausames Wüten gegen das jüdische Volk oftmals mit dem Satz begründet, mit dem die Frauen von Jerusalem damals den Passionsweg Jesu begleitet haben: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!« Man fühlte sich bei dem hemmungslosen Toben gegen die Synagoge und ihre Glieder gewissermaßen als Vollstrecker dieser Fluchworte. Aber es ist traurig und nie und nimmer zu verantworten, wenn die Christenheit dieses schicksals­schwere Wort als einen Freibrief zum zerstörerischen Handeln auslegt. Denn das Blut Christi »schreit ja nicht Rache, sondern bittet um Vergebung«. Wenn Jesus am Kreuz den Vater im Himmel für seine Feinde angerufen hat, so waren es doch in erster Linie jüdische Menschen, für die er den göttlichen Versöhnungswillen erfleht hat. Unter den dreitausend, die an Pfingsten getauft wurden, waren gewiß auch solche, die das Hosianna und kurz danach das Kreuzige mitgerufen hatten. Daß sie zum Glauben an Jesus Christus kommen durften durch den Sturmwind und die Feuersglut des Heiligen Geistes, macht deutlich, daß Gott ihnen vergeben hatte.

Das Kreuz Christi ist das Zeichen des Friedens, gerade auch zwischen Israel und den Völkern. Im Zeichen dieses Kreuzes sind wir alle gemeinsam gerichtet, aber noch viel mehr gemeinsam geliebt. Daß dieser Friede siegen möge über alle vorhandenen wechselseitigen Spannun­gen, Entfremdungen, Gereiztheiten und Schuldvorwürfe, dazu kann jeder einzelne beitragen.

A. Köberle <!–[if !supportFootnotes]–>[1]<!–[endif]–>

 

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Herr Dr. theol. Adolf Köberle war Professor an der Universität Tübingen