Missionar in Algerien (Abd alMasih)

Charles R. Marsh

Abd alMasih – Gottes Bote unter Berbern

– Erfahrungen mit moslemischen Christen –

Jeremia 32 Vers 17:
»Ach HERR, siehe, du hast Himmel und Erde gemacht durch deine große Kraft und durch deinen ausgestreckten Arm, und es ist kein Ding vor die unmöglich«.

Kapitel 1    Auf in den Kampf
Kapitel 2    Der Ruf und die Vorbereitung
Kapitel 4    Das Erlernen der Sprache
Kapitel 5    Der Widersacher
Kapitel 6    Zur Offensive antreten
Kapitel 8    Die Kosten der Jüngerschaft
Kapitel 9    Von der Geburt bis zum Tod gebunden
Kapitel 10  Prüfungen
Kapitel 13  Ein strategisches Zentrum
Kapitel 14  Das finstere Tal
Kapitel 15  Dämmerung – eine neue Ara
Kapitel 17  Kein Ding ist vor Dir unmöglich

Der englische Originaltitel lautet: Too Hard For God?, die deutsche Ausgabe Unmöglich für Gott?, Hänssler-Verlag, 1980.  –  Gekürzt von Horst Koch, Herborn, im Mai 2006  –

Einleitung

Bei vielen Versammlungen, auf denen der Autor sprach, haben Leute gesagt «Ich wünschte, er würde ein Buch darüber schreiben!» Das hat er jetzt auch getan.
Es war schwierig, sich über die Form des Buches klar zu werden. Vieles wird darin über Herzenskummer und Tränen, Entschlossenheit und Mut berichtet. Einigen vertrauten Freunden davon zu berichten, ist ganz etwas anderes, als das für einen größeren Kreis niederzuschrei­ben. Deshalb kam man überein, das Buch in der dritten Person zu schreiben. Es berichtet also von Abd alMasih (d.h. «Diener Christi») und Lalla Jouhra (Lalla ist der Ausdruck der Ehrerbietung für eine Frau und Jouhra heißt «Perle»).
Unter diesen Namen sind er und seine Frau in Algerien bekannt geworden. Dann meinte man auch, daß eine chronologische Reihenfolge der Ereignis­se den Stil erheblich beeinträchtigen würde und der Ein­druck sich verminderte. Deshalb die chronologische Rei­henfolge der Hauptereignisse in diesem Buch vorab:

26. Oktober 1925 – Der Autor geht über Frank­reich nach Algerien
12. April 1927 – Er heiratet Lalla Jouhra in Algerien. Sie ist die Tochter eines Missionars in der Ka­bylei und erhielt in England ihre Ausbildung

14. April 1927  – Sie beginnen ihre Arbeit in Lafayette
Juni 1928  – Aus Lafayette ausgewiesen, gehen sie nach Hamman
Juni 1930 – Sie kehren nach Lafayette zurück.
1945-46 – Hall und Außenstation in Beni Ourtilane begonnen
1. November 1954  –  Die Revolution beginnt
3. Juli 1962  –   Die Unabhängigkeit wird er­klärt
1969  –  Letztlich erwähnte Bibel­schule und Freizeiten

 

Kapitel 1  –  Auf in den Kampf

Abd alMasih und Lalla Jouhra waren auf der heißen, staubigen Straße zu einem kleinen Dorf unterwegs, hoch in den Bergen von Algerien. Sie hatten erst vor zwölf Ta­gen geheiratet. Die vergangene Nacht hatten sie auf dem harten, feuchten Fußboden eines Raumes zugebracht, den sie von dеn Kabylen gemietet hatten.
Warum waren sie hier? Was taten sie hier?
Beide waren Pioniermissio­nare. Sie waren hierhergekommen, um eine der Festun­gen Satans anzugreifen und die Moslems aus der Kleinen Kabylei für Jesus Christus zu gewinnen.

Am Dorfeingang mußten sie sich der Sitte entspre­chend trennen. Er ging zu den Männern in die Moschee, sie zu den Frauen in ihre Häuser. Die schweren Eichentü­ren eines jeden Hauses waren fest verschlossen und von innen verriegelt. Wie konnte diese junge englische Frau mit jenen isolierten, ängstlichen Frauen in Kontakt kom­men, die in ihren Harems eingeschlossen waren?
Lalla war in der Kabylei aufgewachsen und kannte die große Furcht der Frauen vor Fremden sehr gut. Sie wußte um ihre Unwilligkeit, jemandem die Tür zu öffnen, den sie nicht kannten. Doch sie wollte so sehnlich mit ihnen in Kontakt kommen, freundlich zu ihnen sein, mit ihnen auf ihren Matten sitzen und mit ihnen reden. – Plötzlich hatte sie einen Gedanken. Sie war von dem langen Weg in der Hitze des Tages müde und durstig und konnte um einen Trunk Wasser bitten. Leise klopfte sie an eine der Türen und rief:
«A thamrarth (alte Frau), öffne die Tür!» Die Tür wurde einen kleinen Spalt weit geöffnet, und das ängstli­che Gesicht einer jungen Frau blickte heraus.
«Mach, daß du fortkommst. Hau ab! Wir wollen dich nicht», sagte sie.
«Sebah alkheyr! (Guten Morgen)», war der freundli­che Gruß.

«Oh, du bist eine Kabylin!» sagte die Frau. Ihre Furcht wich.
Diese Fremde konnte ihre Sprache reden, und sie beherrschte sie gut.
«Wer bist du? Was willst du? Bitte geh doch weg!»
«Ich bin so durstig. Gib mir etwas zu trinken!»
«Ja, wir haben einen Brunnen im Hof. Komm herein und setz dich nieder.»
Die Missionarin trat in den Hof. Eine Binsenmatte wurde gebracht, und sie setzte sich nieder. In wenigen Augenblicken war sie von allen Frauen des Hauses umringt. Sie berührten ihr Haar, strichen ihr über das Kleid und hoben es hoch, um zu sehen, was sie darunter trug. Ein Eimer wurde an einem langen Seil, das aus Ziegen­haar geflochten war, in den Brunnen hinabgelassen und ein Krug mit kühlem Wasser gefüllt. Lalla Jouhra schau­derte es. Sie wußte, daß das Wasser verseucht sein konn­te, doch es half nichts. Sie mußte trinken. Sie hielt den Krug so, daß das Wasser ihr direkt in den Mund lief, oh­ne daß ihre Lippen das Gefäß berührten.
«Alhamdoullah (Preist den Herrn)», kam es von jeder der Frauen zurück.
«Danke. Möge Er euch Gesundheit schenken», erwi­derte sie.
Dann holte sie ihr Neues Testament hervor und las ih­nen die Begebenheit von der Frau am Brunnen vor. Wie überrascht waren ihre Zuhörerinnen, daß eine Frau lesen konnte. Nie im Leben hatten sie davon auch nur gehört. Nur die Jungen und die Männer lernten lesen. – Lalla las weiter: «… Wer von diesem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten…» Die Frauen hörten wie gebannt zu, ergriffen von der Botschaft.
Plötzlich wich die Farbe aus ihren Gesichtern. Furcht und Entsetzen ergriffen sie. Als Lalla Jouhra sich um­wandte, verstand sie, warum. Ein altes Weib mit fürchterlichem Gesichtsausdruck kam auf sie zu. Sie schien die Personifizierung des Bösen zu sein. Es war die Hausmut­ter, die ihren Haushalt mit eiserner Faust regierte. Sie hatte in ihrer Jugend Schweres erlitten und war fest dazu entschlossen, ihre Schwiegertöchter durch jedes in ihrer Macht stehende Mittel leiden zu lassen. Jetzt hatte eine von ihnen es gewagt, diese Fremde in ihren Hof, in ihr Haus einzulassen. Das würde sie teuer zu stehen kom­men. Doch zuerst mußte sie es dieser Fremden zeigen. – Inzwischen waren alle Frauen geflohen.
«Was hat dich hierher gebracht? Bist du gekommen, um diese Geschichten von deinem Jesus zu erzählen? Möge Gott dich und deine Religion verfluchen!» kreisch­te sie. Immer näher kam sie, bis ihr böses Gesicht dicht vor dem Gesicht der jungen Frau Halt machte. Ihr Atem roch ekelhaft.
«Komm herein und rede!» bestimmte sie.

Lalla ging hinein, die Alte schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel herum.
«Jetzt habe ich dich», sagte sie. «Ich werde dich ein­schließen und dich zwingen, meinen Sohn zu heiraten. Du wirst einfach verschwinden. Bevor dein Mann weiß, wo du bist, wird es zu spät sein. Ich werde dich schon leh­ren! Hier hast du’s!» Sie spuckte – wieder und wieder, ihr Speichel landete direkt im Gesicht der jungen Missio­narin. Und wiederum spuckte und fluchte sie, immer mehr geriet sie in Wut. Plötzlich aber öffnete die Alte ei­ne Tür und stieß Lalla mit einem groben Fluch hinaus. Sie fiel kopfüber in den Staub und Dreck der engen Gas­se. – Sie war gekommen, um diese Frauen für Christus zu gewinnen, gekommen mit «der Botschaft der Liebe» – scheinbar nur, um mit bitterem Haß und Verachtung empfangen zu werden.
Sie erhob sich vom Boden. Staub und Dreck und der scheußliche Speichel klebten an ihr. Frauen tauchten plötzlich von überallher auf. Sie zogen sie in einen Nachbarhof hinein, wischten den Schmutz von ihrem Kleid und boten ihr klares Wasser an, damit sie sich Hände und Gesicht abwaschen konnte.
«Komm in unseren Hof», sagten sie. «Das alte Weib ist grausam und böse. Ihre Schwiegertöchter haben uns von deinem wunderbaren Buch erzählt. Lies uns vor!»
«Wie sind denn diese Frauen hier hereingekommen, sie waren doch eingeschlossen?» fragte Lalla Jouhra.
«Ach, das ist ganz einfach. Sie klettern über das Dach und lassen sich in unseren Hof fallen. Schau, da kommen noch einige.»
Drei weitere Frauen waren auf einen Feigenbaum an der Mauer geklettert und ließen sich im Hof auf den Bo­den fallen.
«Wir warten alle auf eine neue Braut, die in diesen Ta­gen gebracht werden soll», sagten sie. «Lies uns etwas vor, während wir warten.»
So begann der Herr die Türen zu öffnen.
Eine Woche später wurde Abd alMasih von einem er­fahrenen Missionar begleitet, während Lalla Jouhra da­heim blieb. Die beiden Männer saßen auf den großen Steinplatten vor der Moschee jenes fanatischen Dorfes. Fast einhundert Kabylen hatten sich um sie versammelt, und der ältere Missionar, der sehr gut Kabylisch sprach, las ihnen aus den Psalmen vor. «Wohl dem, dessen Über­tretung vergeben ist, wohl dem, dessen Sünde bedeckt ist…»
«Es gibt für niemanden eine Vergebung außerhalb des Islams», schrie der Scheik, der religiöse Führer des Dor­fes.
«Glaubst du an Mohammed?» fragte ein anderer.
«Wir wollen nichts über Mose und David und Jesus hören, sondern nur über Mohammed», rief ein dritter scharf und hatte ein verächtliches Grinsen auf dem Gesicht.
«Chehed (bezeugt)! Sagt, daß es keinen Gott außer Al­lah gibt und daß Mohammed sein Prophet ist! …» Plötz­lich waren alle auf den Beinen und brüllten aus Leibes­kräften:
«Bezeugt, bezeugt, sagt uns, daß ihr an Mohammed glaubt! Möge Gott eure Religion verfluchen! Möge er euch blenden! Möge er euch in das Höllenfeuer schicken!»
Von überall her hagelte es Flüche auf sie.
Eine Hand schoß hervor und traf den jüngeren Missio­nar an der Kehle. Durch den unerwarteten Schlag tau­melte er rückwärts. Ein anderer Mann räusperte sich be­sonders gründlich und spuckte dann voller Boshaftigkeit. Der Tumult nahm derartig zu, daß der ältere Missionar nichts mehr ausrichten konnte. Er hatte nur den einen Vers aus einem Psalm gelesen! In diesem Getöse war es unmöglich, sich noch weiter verständlich zu machen.
Die Situation sah jetzt gefährlich aus. Wie konnten sie den wütenden Männern entrinnen? Zur Raserei aufgesta­chelt, brüllten und schriee die Moslems durcheinander und drangen auf die beiden ein. – Der ältere Missionar verschränkte die Arme, blickte sie an und lächelte. Er würde seine innere Unruhe nicht zeigen.
«Schaut, er hat keine Angst. Er lacht uns aus!» be­merkten sie. Einen Augenblick herrschte Totenstille. Die Spannung ließ nach.

«Komm, wir müssen hier fort!» sagte der Missionar zu seinem Gefährten. Der Ring öffnete sich und man ließ sie durch.

«Geht, und möge der Fluch Gottes ewig auf euch ru­hen!» schrie die Stimme des alten Moslem-Scheiks ihnen mit einer letzten Verwünschung hinterher. Er hatte es ge­schafft, hatte sie aus seinem Dorf hinausgejagt! Außer­halb des Dorfes sagte der erfahrene Missionar zu dem jungen Pionier: «Du darfst nie allein hierher zurückkeh­ren. Es ist viel zu gefährlich. Man würde dich töten.»
Doch Gott hatte Abd alMasih gerufen. Gott hatte ihn in dieses Dorf geschickt, zu diesem Stamm fanatischer Männer. Er mußte zurück … allein.
So erkannten Abd alMasih und Lalla Jouhra von An­fang an, daß sie im geistlichen Kampf an harten Fronten standen. Sie waren mit einer Botschaft des Friedens und mit gutem Willen gekommen und begegneten heftiger Feindseligkeit, ja bitterem Haß. Sie konnten mit Paulus sagen: «Wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämp­fen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel» (Eph. 6,12).
Konnten die beiden jungen Menschen angesichts so starker Opposition überhaupt etwas ausrichten? Er allein mit den Männern? Sie allein mit den Frauen? Der Herr hatte seine Jünger zu zweit ausgesandt; doch die Bot­schafter, die unter Moslems arbeiten, haben fast immer ihre Furche allein pflügen müssen. In den ersten Tagen ihres Missionarslebens begleitete Lalla Jouhra ihren Mann auf seinen Besuchen in die Dörfer, doch ein frem­der Mann kann nicht gemeinsam mit seiner Frau das Haus eines Moslems betreten. Sie konnte nie mit ihm un­ter den Männern sitzen. Jeder mußte seinen Weg allein gehen. Zwei einsame Arbeiter unter einer Bevölkerung von über einer Viertelmillion! Konnten sie auch nur mit dem geringsten Erfolg rechnen? Konnten sie wenigstens einige dieser Moslems für den Herrn gewinnen?
Durch Gottes Gnade gelang es ihnen. – Dieses Buch erzählt, wie es möglich ist, mit dem Evangelium diejeni­gen zu erreichen, die man oft als «für Gott unmöglich» betrachtet. Es berichtet von Gottes Macht und seiner Treue ипд seinem vielfältigen Wirken. Nicht immer sind dabei seine Wege auch unsere Wege. Das Buch berichtet vom Sieg Jesu Christi im Leben von Moslems und über einige Methoden, durch die das Evangelium im Grient verkündigt wird.
Die Länder Nordafrikas sind immer zu den schwierig­sten Missionsgebieten in der ganzen Welt gezählt wor­den. Die heutigen Bewohner dieser Länder sind die Nachkommen jener, die die christliche Urkirche zerstör­ten. Dieser Tatsache sind sie sich voller Stolz bewußt. Sie sind allesamt Moslems, und der Islam ist fest in ihrem Charakter verwurzelt und ihrem Sinn unauslöschlich ein­geprägt. Die Bevölkerung teilt sich in Berber und Araber auf. Die Berber, zu denen fast alle Kabylen gehören, wurden von den einfallenden Arabern in die Berge ver­trieben. Zwei arabische Invasionswellen fegten über das Land; der ersten 647 v. Chr. folgte eine weitere im 10. Jahrhundert n. Chr.
Der Islam, die Religion Algeriens, bedeutet Hingabe an Gott. Ein Mensch, der dem Islam folgt, wird Moslem oder Muslim genannt. Er gibt vor, sich Gott ganz hinzu­geben. Kabylen wie Araber sind Moslems. Sie glauben, daß Abraham der erste Moslem war – obgleich es offen­sichtlich ist, daß er es nicht war und die Grundlehren ih­rer Religion gar nicht befolgen konnte. Abraham ver­traute Gott völlig und befolgte seine Gebote.
Die Kabylei ist eine gebirgige Gegend, und fast die ge­samte Bevölkerung lebt in Dörfern. Diese Dörfer, meist festungsartig angelegte Bergnester, sind nur auf schma­len, steilen Pfaden erreichbar.
Die Kabylei ist der Teil Algeriens, der sich an der Küste von Dellys nach Djidjelli entlangzieht und sich vom Mit­telmeer aus etwa achtzig Kilometer weit landeinwärts er­streckt. Sie gliedert sich in zwei Gebiete, die Große und die Kleine Kabylei. Die Kleine Kabylei liegt im Osten und im Süden des Soumam-Flusses.
Professor Sayce verfolgte die Kabylen bis zu den Amo­ritern des Alten Testaments zurück. Sie sind eine weiß­häutige Rasse mit europäischen Charakterzügen. Ihre Bergfestungen wurden von den Römern nie völlig unter­worfen. Sogar die späteren Invasionen der Araber, Tür­ken und Franzosen hatten keine Assimilation zur Folge. Die Kabylen haben ihre Berbersprache beibehalten, mit verschiedenen Dialekten in der Großen und Kleinen Ka­bylei. Missionare u.a. haben die Sprachen zu einer Schriftsprache zusammengefaßt, doch sind die Dialekte von Stamm zu Stamm und oft von Dorf zu Dorf unter­schiedlich geblieben.
Man kann die Menschen in der Kabylei in zwei Grup­pen einteilen, in Kabylen und Marabouts; alle sprechen Kabylisch und sind eingefleischte Moslems. Die Mara­bout-Familien behaupten, die direkten Nachkommen Mohammeds zu sein, doch kamen sie wahrscheinlich von Marokko durch religiöse Pioniere des Islams ins Land. Sie bilden die Oberschicht, Männer und Frauen mit Cha­rakter, freundlich und höflich, auch wenn sie manchmal entsetzlich arm sind. Sie leben getrennt von den Kabylen, entweder in anderen Dörfern oder in einem besonderen Teil des gleichen Dorfes. Ein Marabout kann wohl ein kabylisches Mädchen zur Frau nehmen, aber ein Marabout-Mädchen darf einem Kabylen nicht zur Frau gegeben werden.

Die kabylischen Männer tragen gewöhnlich zwei Ge­wänder, ein Unterkleid oder Tunika, die man gandourah nennt, und ein lose herabfallendes Obergewand, das in einem Stück nahtlos gewebt ist und Burnus genannt wird. Der rote thachachith oder Turban weist sie als Moslems aus. Die Kleine Kabylei steht noch stärker unter dem Einfluß des Islams, und viele Männer tragen einen weißen Turban. – Diejenigen, die in den Städten arbei­ten oder in Frankreich waren, tragen gewöhnlich europä­ische Kleidung.

Die kabylischen Frauen tragen immer leuchtend­farbige Kopftücher und Kleider, die bis zu den Knöcheln reichen. Wenn eine junge Frau oder ein Marabout-Mädchen ausgeht, trägt sie gewöhnlich einen langen, weißen alhaf oder Schal, der ihren Körper ganz umhüllt, und einen Schleier, der ihr Gesicht bedeckt und nur ein Auge oder beide Augen freiläßt. – In den Städten kämp­fen die jüngeren Frauen um die Abschaffung des Schlei­ers, und viele gehen dort unverschleiert und europäisch gekleidet. – Als rauhe Bergbewohner tragen die Kabylen den Stempel ihrer Umgebung. Viele von ihnen sind aber hochintelligent und können es im Universitäts- und Ge­schäftsleben in jeder Beziehung mit den Europäern auf­nehmen. Sie sind intensiver und starker Gefühle fähig, sind ihren Freunden tief ergeben, ihren Gegnern jedoch bitterlich feind, und sie können bigotte, religiöse Fanati­ker werden. Ein Kabyle ist vertrauenswürdig und wird ei­nen Freund oder jemanden, der unter seinem Schutz steht, niemals verraten; und für diesen Wesenszug ist der Autor den Kabylen zu tiefem Dank verpflichtet. Niemals wird er ihnen diese Freundlichkeit vergelten können; das kann allein Gott tun.

 

Kapitel 2  – Der Ruf und die Vorbereitung

«Diese Menschen haben noch nie etwas von unserem Heiland gehört», sagte der ältere Missionar. «Niemand ist gekommen, um ihnen die wunderbare Botschaft von seiner Erlösungstat für sie zu bringen.» Tief im Herzen des jungen Abd alMasih wurde die Überzeugung gebo­ren: «Ich bin der Mann, der es ihnen sagen muß. Hier ist meine Ecke des ‘großen Erntefeldes’!»
 
Sie standen auf einem schmalen, steinigen Pfad fast 1700 Meter hoch im Gebirge der Kabylei. Ungefähr acht­zig Kilometer weiter vor ihnen erhob das stattliche Atlas­gebirge seine schneebedeckten Kuppen. Zug um Zug breitet sich das Gebirge mit seinen Erhebungen aus, so­weit das Auge reicht. Dörfer säumen die Bergketten. Abd alMasih blickte wie gebannt auf das erhabene Pano­rama. Mehr als fünfzig Dörfer waren sichtbar, und Hun­derte lagen noch in den Tälern und hinter den Bergen verborgen. Direkt zu ihren Füßen war eine Gruppe von fünf großen Dörfern zu sehen, jedes mit seiner Moschee, in die jetzt die Männer zum Freitagsgebet strömten. Das monotone Gemurmel der Schüler und Jungen, die Verse aus dem Koran hersagten, stieg bis zu ihnen herauf, und die schrille Stimme eines Muezzins (Gebetsrufers) rief die Gläubigen zum Gebet.
 
Abd alMasih wollte in einer Woche heiraten. Danach hätten er und seine Frau sich als Pioniermissionare in diesem Bergland der Kleinen Kabylei niederlassen wol­len. Er war unter einer evangelikalen Missionsgesell­schaft nach Algerien gegangen und hatte sich seit fünf­zehn Monaten eifrig mit dem Studium der kabylischen Sprache befaßt. Manchmal hatte er zwölf, fünfzehn Stunden täglich studiert. – Dann hatte ihn die Missions­gesellschaft überraschend in eine Stadt geschickt, wo nur Arabisch gesprochen wurde. Sein Mut sank. Waren alle die Monate des sauren Studiums der kabylischen Sprache verlorene Zeit? Mußte er gleich wieder eine andere Spra­che erlernen? Und konnte es Gottes Wille für ihn und sei­ne Frau sein, eine Arbeit in einer arabischen Stadt zu be­ginnen, von der das nächste kabylische Dorf achtzig Ki­lometer weit entfernt war?
 
Der ganze Vormittag des gestrigen Tages war mit der vergeblichen Suche nach einem Quartier oder einem Haus in der großen arabischen Stadt verbracht worden. Abd alMasih war zu der Überzeugung gelangt, daß Gott ihn zu den Kabylen gerufen hatte, und jetzt erhärtete sich diese Überzeugung und wurde zur Gewißheit, als er über diese Dörfer hinwegblickte. Ein tiefes Mitgefühl, eine unwiderstehliche Sehnsucht ergriff ihn.
«Wir müssen zurück», sagte sein Gefährte und unter­brach damit Abd alMasihs Gedanken, «doch auf dem Rückweg werden wir bei der Ortsverwaltung in Lafayette vorbeigehen und sehen, ob wir nicht ein Haus für dich finden. Ich sage dir aber, daß das ziemlich unwahr­scheinlich ist, – und die Missionsgesellschaft meint ja, du solltest in der Stadt Setif arbeiten.»
 
Zehn Minuten, nachdem sie in Lafayette eingetroffen waren, war das Haus gefunden und ihnen durch eine Mietvorauszahlung sicher. Es gab keine lange Suche. Gott hatte vorgesorgt. Dort sollten sie also beginnen! So bestätigte Gott seinem Diener durch seine Fügung und Führung das innere Drängen des Heiligen Geistes im Herzen. – In all den nun folgenden vierzig Jahren seines Dienstes hat Abd alMasih nie ohne tiefe Ergriffenheit über dieses gewaltige Gebirgspanorama blicken können, und er verspürte dabei immer wieder die starke Sehn­sucht, diese Dörfer mit der Botschaft der Erlösung durch Jesus Christus zu erreichen.
Wenige Jahre zuvor hatte ein altgedienter Missionar aus Algerien die Gemeinde besucht, zu der Abd alMasih gehörte. Er hatte vom Werk des Herrn in einigen Ländern des Islams gesprochen und von einer seiner Reisen in ei­nem Teil Algeriens erzählt, der vom Evangelium über­haupt noch nicht erreicht worden war. In einem Dorf hat­ten die Moslems ihn inständig darum gebeten, sich doch unter ihnen niederzulassen. Man versprach ihm ein Ein­-Zimmer-Haus ohne Miete, fünf Feigenbäume, ungefähr fünf Pfund Bezahlung im Jahr, ein Schaf zu ihrem jährli­chen Fest und so viele Eier, wie er nur essen konnte!
 
«Die Tür zu diesem Stamm ist weit offen. Die Men­schen sind ohne jedes Zeugnis von Christus, und nie­mand ist da, der hingeht», sagte der Redner. «Der Herr Jesus sagte: `Gehet hin in alle Welt und predigt das Evan­gelium aller Kreatur’, und das schließt auch die Moslems ein.»
 
Als Abd alMasih den Diener Gottes von dieser offenen Tür erzählen hörte, spürte er innerlich das Drängen des Heiligen Geistes, der ihn davon überzeugte, daß er nach Algerien gehen müsse. Gott brauchte ihn dort. Es war .Gottes Werk, doch es sollte auch sein Werk sein. Die Versammlung schloß mit dem Lied:
«Dein Leben wurde für mich gegeben!
Dein Blut, o Herr, vergossen,
damit ich erkauft und vom Tod errettet werde.
Dein Leben wurde für mich gegeben –
was aber gab ich dir?»
 
Während dieses Lied gesungen wurde, entschloß sich Abd alMasih, sein Leben ganz dem Herrn Jesus zur Ver­fügung zu stellen. Von ganzem Herzen hatte er dei letz­ten Vers gesungen:
«Dir geb ich alles hin,
Mein Heiland und mein König!»
So gab er Gott seine Antwort auf den Ruf.
Lange Jahre des Wartens waren vorausgegangen. Jahre, in denen sein Geist sich in der Disziplin des Auf-der­-Stelle-treten-Müssens fast wundgerieben hatte. Doch hätte es diese Jahre der Prüfungen in seinem Heimatland nicht gegeben, so wären er und seine Frau nicht fähig ge­wesen, die langen Jahre mühseliger Arbeit zu verkraften, die folgten. Eines wußten sie immer: Sie waren berufen .worden. Sie mußten gehen.
 
Viele junge Menschen fragen sich, auf welche Weise denn ein Ruf Gottes eigentlich an sie ergeht. Das hängt von ihrer Liebe zu Jesus Christus ab. Gott offenbart sei­nen Willen selten jemandem, der ihn nur wissen möchte. Er offenbart seinen Willen immer nur demjenigen, der auch bereit ist, ihn zu befolgen, koste es, was es wolle. «So jemand dessen (Gottes) Willen tun will, der wird in­newerden…» (Joh. 7,17). Das war die Verheißung, an die auch Abd alMasih sich klammerte. «Er leitet die Sanftmütigen recht und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg» (Psalm 25,9).
 
Er fand heraus, daß für ihn eine enge Beziehung zwi­schen Gottes Ruf zu seiner Umkehr und Gottes Ruf in den Dienst bestand. Gott gebrauchte drei Dinge, um ihn zu Jesus Christus zu ziehen: eine Schriftstelle, seine Die­ner und die Überzeugung, daß er, Abd alMasih, auch et­was dazu tun mußte. – Er hatte sich vorbehaltlos seinem Herrn Jesus Christus anvertraut. Dann berief ihn Gott in seinen Dienst. Wiederum hatte er ihm Worte aus der Hei­ligen Schrift sehr eindringlich in den Sinn gebracht. Der Ruf an ihn war ergangen, als er den Missionar sprechen hörte. Und wieder war da dieses innere Drängen gewe­sen, diese Überzeugung, daß er handeln mußte; die Er­kenntnis, daß er auch etwas zu tun hatte. Nun hieß es, dem Herrn völlig zu vertrauen und ihm vorbehaltlos nachzufolgen. –
 
Wenn Gott jemanden in den Zeugendienst ruft, dann spricht er zuerst durch ein Schriftwort oder eine Schrift­stelle zu ihm – er macht ihm durch den Heiligen Geist Seinen allgemeinen Missionsauftrag klar. Der persönli­che Ruf in einen bestimmten Dienst erfolgt zwar auf be­sondere, einmalige Art und Weise; doch hat die Erfah­rung gezeigt, daß dieser spezielle Ruf meist durch das Wort eines Nachfolgers Jesu über dem Lesen eines Bu­ches oder bei einem Bericht aus der Mission gehört wird. Gott hat da vielerlei Möglichkeiten, aber er gibt immer die innere Gewißheit: «Ich bin dieser Mann. – Ich bin diese Frau. – Dies ist meine Aufgabe.
»Wenn diese Überzeugung und ein innerer Drang zum Handeln uns in Bewegung setzen, tun wir gut daran, ei­nen gereiften Nachfolger Gottes ins Vertrauen zu ziehen und auf den Rat geisterfüllter Geschwister zu hören. Oft gibt es Hindernisse zu überwinden, der Glaube wird ge­prüft; doch Gott führt den Ihm Gehorsamen Schritt für Schritt nach seinem Plan weiter. Rückblickend kann man erkennen, daß Er keine Fehler macht.
 
Abd alMasih und Lalla Jouhra heirateten im Monat April in Algier. Um mit der Arbeit in Gottes Auftrag so schnell wie möglich beginnen zu können, beschlossen sie, auf eine Hochzeitsreise zu verzichten und verbrachten nur einen Tag in einem Badeort am Meer. Gleich danach ging es auf die lange Eisenbahnreise nach Setif, wo sie übernachteten. Am nächsten Tag machten sie sich um 5 Uhr morgens in einem altersschwachen, wackeligen Li­nienbus auf, um nach Lafayette zu reisen. Sie wurden mit unverhohlenem Interesse angeblickt. Weder Europä­er noch Araber hatten hier je zuvor Missionare gesehen. Wie fremd und unerfahren kamen sie sich vor! Die kahlen, öden Berggipfel des Hochplateaus standen in solch krassem Gegensatz zu der wunderschönen Landschaft der Kabylei. – Bald entdeckten sie, daß, obgleich in La­fayette das Verwaltungszentrum der kabylischen Stämme des Guergour ist, die meisten Menschen dort Arabisch sprachen. Das erste, wirklich kabylische Dorf war im­merhin noch ungefähr 32 Kilometer weit weg. Sie hatten kein Transportmittel. Wie konnten sie diese Dörfer errei­chen?
 
Jeden Tag verließ zwischen 12 und 15 Uhr ein Bus die Stadt in Richtung Guenzet und kehrte am nächsten Mor­gen wieder zurück. Es gelang ihnen, in Guenzet einen un­möblierten Raum in einem Gehöft mieten zu lassen, und sie planten, dort in jeder Woche zwei Nächte zu verbrin­gen.
Die Sitzreihen in dem Bus waren jeweils für fünf Per­sonen vorgesehen, doch oft drängten sich acht Personen in einer Reihe zusammen. Die dicken, wollenen Burnusse (wollene, mantelartige Gewänder der Männer, mit Kapu­zen) machten jede Bewegung unmöglich, nachdem die Leute wie Ölsardinen eingepackt waren. Das Dach war mit Waren und Gepäck aller Art beladen. Wenn niemand mehr in das Innere des Vehikels paßte, ließ man die ande­ren auf das Dach steigen. Dort saßen sie, und ihre Beine baumelten bis vor die Gesichter der unter ihnen sitzenden Passagiere herab. An verschiedenen Stellen war die Stra­ße so eng, daß der Bus scharfe Kurven nicht nehmen konnte. Dann jonglierte ihn der Fahrer soweit wie mög­lich vor, schaltete den Rückwärtsgang ein und der Bus kratzte an der steil aufragenden Klippe entlang, während das Vorderteil mit dem Motor über den Abhang hinaus­ragte. Es gab viele Episoden bei solchen Reisen, die ei­nem die Haare zu Berge stehen ließen.
Viele Unfälle passierten auf diesen gefährlichen Berg­straßen. Abd alMasih wird niemals den Lastwagen ver­gessen, der außer Kontrolle geriet, sich überschlug und Feuer fing. In wenigen Sekunden stand er in einem Flam­menmeer. Zehn verschleierte Frauen befanden sich zu­sammen mit einigen Kindern und zwei Schafen auf der Verladefläche. Die Plane war hinten und an den beiden Seiten fest verschnürt, so daß niemand die Frauen sehen konnte. Sie konnten sich nicht befreien, und die zwei Männer vorne machten keinerlei Anstalten, sie zu retten. Alle verbrannten.
 
Gott bewahrte seine Diener in all den Jahren vor ernst­haften Unfällen. Auf dieser ersten Fahrt in einem der altersschwachen Busse, kamen sie vor Einbruch der Dun­kelheit in dem großen Dorf Guenzet an. Ein buntes Ge­misch von Männern und Kindern wartete auf den Bus, und es gab manche Mutmaßung über das Woher und Wohin der beiden Fremden. Sie waren froh, in den Schutz des gemieteten Raumes zu kommen. Er war unge­fähr 2,70 Meter im Quadrat groß, hatte Kopfsteinpfla­ster als Fußboden und ein strohgedecktes Dach, von dem sich ständig kleine Insekten fallen ließen. Es gab weder ein Fenster noch eine Feuerstelle, noch Licht. Der Fuß­boden roch übel nach Feuchtigkeit, da man vorher Salz darauf gelagert hatte. Und hier wollten sie wöchentlich zwei Nächte verbringen!
 
Nachdem sie ihre Taschen ausgepackt und ihr Abend­brot bei Kerzenlicht gegessen hatten, schickten sie sich an, auf dem einen Feldbett, das sie besaßen, zu schlafen. Beide paßten jedoch nicht hinein, und so mußte ein Schlafsack auf den Fußboden gelegt werden, trotz seines schlimmem Zustandes, und ein Bettlaken kam zwischen Sack und Boden. Bald drang die Feuchtigkeit durch das Laken und den Schlafsack. In jener Nacht bekamen sie nur wenig Schlaf. – Wurden diese Verhältnisse ihnenzur Anfechtung werden? Jedenfalls wußten die beiden jungen, unerfahrenen Missionare, daß sie jetzt ihre Stel­lung an der Front bezogen hatten.
 
Um 4 Uhr früh erscholl der Gebetsruf des Muezzins von der großen Moschee nebenan über das schlafende Dorf. Dann fielen die Gebetsrufer der anderen acht Mo­scheen ein. «Kommt zum Gebet! Beten ist besser als schlafen!» Wie nahe erschienen diese Stimmen Abd al­Masih und seiner jungen Frau! Auch das tiefe, eintönige Geleier der Männerstimmen, die bald darauf lange Gebe­te hersagten, drang bis zu ihnen. Jetzt war es Zeit, zur Moschee hinüberzugehen und sich mit dei Männern be­kannt zu machen, um sie trotz ihrer wahrscheinlich feindseligen Haltung für den König aller Könige zu ge­winnen. Doch zuerst beteten die beiden Missionare zu Je­sus Christus.
«Wir ruhen in dir – unser Schild und Hort!
Wir gehen nicht allein in den Kampf gegen den Feind.
Stark sind wir in deiner Macht, sicher unter dei­nem Schutz;
wir ruhen in dir, und in deinem Namen gehen Wir.»
 
Die Sonne ging gerade über dem Horizont auf, als Abd alMasih die Geborgenheit des dunklen Raumes verließ. «Der Herr sei mit dir, Liebster, ich werde für dich beten», sagte Lalla. Sie drehte den Schlüssel an der Tür herum und schloß sich ein, und ihre einsame Wartezeit begann. – Nie war der junge Mann sich seiner Schwach­heit so bewußt gewesen! Sein Herz war voller Angst und banger Vorahnung. «… Wir ruhen in dir, und in deinem Namen gehen wir…» Er erreichte die Moschee. Die Män­ner hatten ihr Gebet beendet. Einige saßen auf den Stein­bänken. Andere standen herum und sprachen über ihr heutiges Tagewerk. Er setzte sich nieder.
 
«Sebah kum belkheyr (Guten Morgen, ihr alle)», sagte er.
«Merahba bik (Willkommen)», erwiderten sie. «Sag uns, bist du ein guter Moslem?»
«Hast du das Morgengebet gebetet?»
«Bezeuge Mohammed! Sage, daß es keinen anderen Gott außer dem einen Gott gibt…»
«War Jesus der Sohn Gottes? Oder war er nur der Sohn Marias?»
«Sage uns: Wie viele Propheten gibt es?»
»Wer war der letzte, der größte, das Siegel der Prophe­ten? »
«Starb Jesus, oder wurde er lebendig zum Himmel er­hoben?»
 
In schneller Folge prasselten die Fragen auf ihn herab, und der Versuch, sie zu beantworten, war sinnlos. Sie wollten das auch gar nicht.
 
Er holte sein Neues Testament in Kabylisch hervor und las, als sie ruhiger wurden, einen oder zwei Verse daraus vor.
«Wir verstehen dieses Buch nicht. Es ist nicht unsere Sprache! Es ist noch nicht einmal gutes Kabylisch», sag­ten sie.
 
Sie wollten ihm gar nicht zuhören, sie wollten sich ge­genseitig recht geben. Ihre Stimmen schwollen zu einem lauten Gebrüll an, und seine junge Frau in dem nahen fensterlosen Raum mußte das mitanhören. Sie fragte sich, ob diese Fanatiker ihren Mann wohl in Stücke zer­reißen würden.
 
Sie durfte es nicht wagen, hinzugehen, um bei ihm zu sein – doch sie konnte beten. Mit welcher Dankbarkeit hörte sie bald darauf sein Klopfen, und wie glücklich war sie, sein Gesicht wiederzusehen! Sie tranken gemeinsam eine Tasse Kaffee, bevor sie sich auf den Weg in die um­liegenden Ortschaften machten.
 
Ein diskretes Hüsteln vor der angelehnten Tür deutete ihnen an, daß jemand sie besuchen wollte. Es war der junge Kabyle, der ihnen das Zimmer vermietet hatte. Er war mit einem tadellosen europäischen Anzug bekleidet, trug einen weißen Turban und schwarze Lackschuhe. Of­fensichtlich war er ein kabylischer Edelmann mit guten Manieren. Er trank eine Tasse Kaffee, und Lalla Jouhra bot von dem Kuchen an, den sie gebacken hatte und mit dem sie drei Tage auskommen mußten. Sie schnitt ein Stück Kuchen ab und reichte dem Besucher den ganzen Teller. «Vielen Dank», sagte er, «doch es ist ziemlich viel.» Zum Entsetzen Lalla Jouhras nahm er den ganzen Kuchen und ließ das abgeschnittene Stück liegen! Das war wahre Höflichkeit, denn der Gastgeber bricht hier immer ein Stück Brot ab und ißt es zuerst, um zu bewei­sen, daß das Essen nicht vergiftet ist. Der Besucher soll sich nach Appetit und Belieben vom Ganzen nehmen. Dann gibt er den Rest dem Gastgeber zurück. – Wahre Höflichkeit! Doch das nächste Mal wußte sie besser Be­scheid. Es muß eben alles gelernt sein.
 
Sobald ihr Besucher gegangen war, machten sie sich auf den Weg zu den Dörfern. Die Landschaft war malerisch und leuchtete in der Morgensonne herrlich grün. Hinter ihnen lagen Berge, die mit Korkeichen und Aleppokie­fern (Seekiefern) bewachsen waren. Zu ihrer Linken wur­den in der Ferne eine Reihe von Geröllhalden sichtbar, die von tiefen Rinnen durchfurcht waren. Die hier im Winter reichlich herabströmenden Wasser begannen be­reits spärlich zu fließen. Der Berghang unter ihnen war terrassenförmig mit kleinen Gärten mit Weinstöcken, Granatapfel- und Feigenbäumen angelegt, die dort spä­ter im Jahr gut gedeihen würden. Die Felder auf den un­teren Hängen waren in winzig kleine Parzellen aufgeteilt, wo Gerste, Linsen, Erbsen und Bohnen wuchsen. Feigen­disteln sah man überall. Auch gab es einige Orangenbäu­me. (In Meeresnähe gibt es außerdem Walnüsse, Oran­gen und Grapefruits im Überfluß.) – Das Ehepaar war betroffen von der Ähnlichkeit dieser Landschaft mit der des Landes Kanaan nach der bim fischen Beschreibung in 5. Mose 8,7-9.
 
An jenem ersten Tag besuchten sie vier Dörfer, bevor sie wieder in ihr Quartier zurückkehrten. Sie entdeckten, daß die Kabylen im allgemeinen sehr gastfreundlich wa­ren und sie in ihrem Dorf willkommen hießen. Sobald sie jedoch den Grund ihres Besuches herausfanden, verwan­delte sich ihre freundliche Haltung in Argwohn und Feindseligkeit. – Den ganzen ersten Sommer und Herbst hindurch fuhren sie fort mit diesen wöchentlichen Besu­chen. Sie erreichten Dörfer in einem Umkreis von etwa 12 bis 14 km und kehrten dann zurück, um in dem kal­ten, kahlen Raum zu schlafen. Doch sie wurden immer noch nicht von den Leuten akzeptiert, hatten sich immer noch keinen Weg zu deren Herz bahnen können. Der Bus würde am nächsten Morgen um 5 Uhr früh zurückfah­ren, doch mußten sie mindestens einåtunde frü­her an der Bushaltestelle sein, um überhaupt einen Platz zu bekommen. Dies war schrecklich zeitraubend und er­müdend, und so beschlossen sie, ein Motorrad mit Bei­wagen zu kaufen. Der Herr hatte ihr unermüdliches Be­mühen, anderen von Ihm Zeugnis zu geben, gesehen und hatte einen besseren Plan für sie. Ohne ihr Zutun beka­men sie von einem freundlichen Spender das Geld für ei­nen kleinen Wagen – ein wahrer Luxus für viele in jener Zeit – doch für sie eine Notwendigkeit, wenn sie jene Hunderte von Dörfern erreichen wollten. Wie gut ist der Herr! «Bevor sie rufen, will ich antworten.»
 

Kapitel 3  – Ausweitung der Arbeit

Der kleine Wagen machte es den beiden Pioniermissiona­ren möglich, ihren Aktionsradius auszuweiten. Durch ei­nen ständig wachsenden Umkreis war es Abd alMasih schließlich möglich, über 500 Dörfer in der Kleinen Ka­bylei zu evangelisieren. Die Dörfer kleben oft förmlich an den Berghängen und Kuppen, oft sind sie aber auch in den Tälern verborgen. An manchen Orten leben oft mehr als sechshundert Bewohner auf einem bzw. 1,5 Quadrat­kilometer.
 
Jedes Dorf wird von einem Ältestenrat verwalte, de­ren Obersten man `aurin’ nennt. Ein örtlicher Gesetzes­kodex behandelt alle Fragen über Eigentum und allge­meine Gesetzesübertretungen.
In jedem Dorf läßt sich die Ahnentafel bis zu ihrem Gründer zurückverfolgen. Gewöhnlich sind die Dörfer in `sofs’ oder rivalisierende Sippschaften aufgeteilt, die ur­sprünglich durch Eheschließungen entstanden waren.
 
Von den fünfhundert Dörfern, die Abd alMasih mehr oder weniger regelmäßig mit dem Evangelium erreichte, lagen nur 25 an einer «Art von Straße». Der Rest mußte zu Fuß erreicht werden. Das bedeutete täglich einen vier­- bis sechsstündigen Fußmarsch über unebene, holprige und steinige Pfade, das Durchwaten von Flüssen, oft ei­nen 1200 m hohen Anstieg zu einem Dorf, dann wieder der Abstieg, um das nächste Dorf zu ersteigen. Lalla Jouhra konnte ihn zu diesen wehentlegenen Orten nicht begleiten. So ging er allein.
 
Ihr Arbeitsfeld konnte man in drei Gebiete aufteilen. Einige Ortschaften waren an einem Tag zu erreichen. Dann fuhr er mit dem Auto hinaus, ließ es irgendwo an der Straße stehen, und sehr früh am Morgen, oft noch vor Tagesanbruch, machte er sich auf seinen langen Weg. Abends kehrte er zu seinem Wagen zurück. Er fand ihn immer intakt und unberührt vor und machte sich auf die lange Heimreise. Nur einmal in 37 Jahren wurde ein­gebrochen, und dann auch nur von einem Fremden, der nicht aus der Gegend stammte. Andere Dörfer konnten nur erreicht werden, indem er die Nacht in einem ent­fernt gelegenen Dorf verbrachte und Gehöfte und Dörfer auf dem Hin- und Rückweg besuchte. Dazu brauchte er meistens zwei Tage. Die dritte Gruppe konnte schließlich nur mit großer Mühe erreicht werden. Er lud alles, was er für zehn Tage, eventuell auch länger, brauchte, auf den Rücken eines Esels und marschierte so von Dorf zu Dorf. Abwechselnd nahm er auch ein Zelt mit und stellte es an passenden Stellen am Straßenrand auf; während des Ta­ges besuchte er dann die Dörfer. In jedem Frühjahr und Herbst unternahm er eine solche Tour von 10 Tagen, um diese entfernten Dörfer zu erreichen.
 
Die Kabylen sind Menschen, die Gemeinschaft lieben, und wenn ihre Arbeit getan ist, versammeln sie sich in Gruppen in der Moschee, im Kaffeehaus oder im örtli­chen «thejmath». Das thejmath ist ein überdachtes Ge­bäude am Eingang des Dorfes. Hier treffen sich die Dorfältesten. Oft sind große, flache Steine darum po­stiert, die als Sitzgelegenheiten benutzt werden. Von jahrhundertealter Benutzung sind sie glatt und blank ge­worden. Die Kabylen sind äußerst fleißig; tagsüber arbei­ten sie auf den Feldern, pflügen, ernten, sammeln Oliven oder Feigen oder machen mit ihren primitiven Ölpressen, die noch aus biblischen Zeiten zu stammen scheinen, Oli­venöl.
 
Im Sommer versammeln sich dann während der Hitze des Tages zwanzig bis dreißig Männer im thejmath, ge­gen Sonnenuntergang sind es manchmal über hundert. Deshalb ist dies der beste Ort für eine Evangelisations­versammlung, und oft wird der Botschaft respektvoll zu­gehört.
 
Es war vier Uhr morgens an einem kalten Wintertag. Reif bedeckte den Boden; die Gipfel der umliegenden Berge waren bereits mit Schnee bedeckt. Im Bett war es an solchen Tagen wohl am schönsten, überlegte Abd al­Masih. Doch immer noch gab es Hunderte von Men­schen, die die Botschaft noch niemals gehört hatten. «Wie sollen sie hören, ohne einen Prediger?» Und er war jener Prediger. Also, heraus aus dem Bett, schnell eine Tasse Kaffee und einen Happen Brot. Dann ein flüchti­ger Blick in seine Tasche. Am Vorabend hatte er einige Traktate in seine Tasche gepackt, eine Bibel, Butterbrote für das Mittagessen, eine Orange, eine Handvoll Feigen, zahnärztliche Zangen, einen Regenmantel und schließ­lich eine gute Auswahl christlicher Literatur, gestiftet von der Schriftenmission in französischer, kabylischer und arabischer Sprache. Er schloß die Tür und ging in die Nacht hinaus.
 
Hell erstrahlte der Morgenstern im Osten. Das gering­ste Geräusch hallte in der klaren Bergluft wider, als er mit seinem Auto die gewundene Landstraße hinauffuhr. Unter den Rädern knisterte es. Nach einer plötzlichen scharfen Kurve ragten riesige schwarze Schatten im Scheinwerferlicht auf. Er trat gerade noch rechtzeitig auf die Bremse, um nicht in eine Herde von zwanzig Kamelen zu rasen, die in ihrer plumpen Gangart die Straße ent­langschaukelten, ein jedes mit einer Vierteltonne Weizen beladen.
 
Eine halbe Stunde später parkte er seinen Wagen ein wenig abseits der Straße. Im Osten begann es zu däm­mern. Keine Menschenseele war zu sehen, als er das Auto abschloß und es demjenigen anbefahl, der ihn in all den Jahren nie im Stich gelassen hatte. Er machte sich auf den Weg zu den Dörfern. Am Fluß angekommen, zog er Stiefel und Socken aus, rollte seine Hose so hoch wie möglich und stieg in das eisige Wasser hinein. Gurgelnd und strudelnd schoß es an ihm vorbei. Die Schneeschmel­ze hatte den Fluß ansteigen lassen. Tränen traten ihm in die Augen. Es war bitterlich kalt. Große Gesteinsbrocken, die der reißende Strom mit sich trug, schlugen an seine Knöchel und Beine. Fast verlor er den Boden unter den Füßen. Doch er tastete sich weiter. Plötzlich stolper­te er mitten im Fluß in ein tiefes Loch. Das Wasser stand ihm bis zu den Hüften.
 
«Was bist du doch für ein Narr?» sagte er sich. «Geh weiter!» befahl sein Herr. So schleuderte er seine Stiefel ans andere Ufer und kämpfte sich Schritt für Schritt wei­ter. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Eiskalt und völlig durchnäßt erreichte er schließlich das andere Ufer. Er wrang das Wasser aus seinen durchnäßten Kleidern, zog Socken und Stiefel an und machte sich zu Fuß auf den fast zehn Kilometer langen Weg.
 
Die Sonne erhob sich über den Hügeln, als er sich den letzten steilen Hang zu dem Dorf emporkämpfte. Er fand die Männer um den kleinen Platz sitzen und begrüß­te sie.
 
«Guten Morgen, zusammen», sagte er.
«Möge Gott dir einen guten Morgen geben», erwider­ten sie. «Wo bist du hergekommen? Wo hast du die Nacht verbracht?»
«In meinem Haus», antwortete er.
«Unmöglich!»
«Doch, sicher.»
«Wer hat dich über den Fluß getragen? Du hast kein Tier bei dir.»
«Ich durchwatete den Fluß, so wie ihr es gewöhnlich tut.»
«Aber warum so früh am Morgen?»
«Ich glaube, ihr wißt alle warum. Ich habe eine Bot­schaft für euch aus dem Worte Gottes. Werdet ihr mir zuhören?» Sie blieben und hörten zu.
 
Schnell brachten die Männer eine große Matte herbei, die sie auf dem Boden ausbreiteten, damit er sich nieder­setzen konnte. Er zog seine Stiefel aus, setzte sich mit überkreuzten Beinen auf die Matte und wartete, bis die Männer ihn umringt hatten. Einige standen noch in der Ferne. Aus seiner Tasche zog er ein großes Bild der eher­nen Schlange hervor, die er auf Kattun aufgezogen hatte. Er entfaltete das Bild, breitete es auf der Matte aus und ließ sie es betrachten, Fragen dazu stellen und Meinun­gen äußern. Als sich dann eine größere Gruppe versam­melt hatte, begann er, aus der Bibel vorzulesen.
 
Nach der Versammlung sagte ein Mann: «Komm zu mir in mein Haus und frühstücke mit mir. In dieser Jah­reszeit essen wir immer, bevor wir an die Arbeit gehen.» Sie kamen in einen Innenhof, und der Mann rief seiner Frau zu: «Smail, bring eine Matte!» Ein Mann redet hier seine Frau niemals mit Vornamen an. Er gebraucht den Namen seines ältesten Sohnes, um sie zu rufen. Die Frau kam heraus und brachte die Matte, doch mit abgewand­tem Gesicht. Kurz darauf kam sie wieder mit einem Korb, auf dem ein Laib heißes Brot und einige Feigen la­gen. Das Brot war flach wie ein Fladen, ungefähr 22 cm im Durchmesser und nicht einmal 1 Zentimeter dick. Es war wohl auf einem Grill über dem Holzfeuer gebacken worden. Die Kunst des Backens lag darin, das Brot im richtigen Augenblick umzuwenden, damit beide Seiten richtig durchgebacken wurden. Dieses hier war meister­haft gelungen. Der Mann brach das Brot in Stücke, nahm selbst ein Stück und gab Abd alMasih den Rest. Der brach ein kleines Stückchen ab, stippte es in eine kleine Schüssel mit Olivenöl und kaute dazu eine Feige. Das war ein gesundes Frühstück! Die Frau rief den Mann und gab ihm noch eine Schüssel Olivenöl, in dem vier Ei­er schwammen. «Du brauchst Kraft, um über unsere Berge zu wandern», sagte er, während er sie ihm reichte.
 
Dann führte er ihn zu einem armen, leidenden Jungen, der in einem dunklen Raum bestimmt schon viele Mona­te lag. Er bestand nur noch aus Haut und Knochen, schreckliche Geschwüre bedeckten seinen ganzen Körper – es stank entsetzlich. Kein Arzt kam jemals in dieses Dorf. So gut er konnte, versorgte Abd alMasih den Jun­gen, bevor er sich auf den Weg zum nächsten Dorf mach­te.
 
Er entdeckte bald, daß er den Weg zum Herzen der Kabylen dann fand, wenn er bis zu einem gewissen Grad ihr Leben teilte, ihre Mühsal verstand, ihr Essen genoß, ihre Kranken versorgte, mit ihnen zusammensaß, zuhör­te, Mitgefühl zeigte. So hatte es unser Herr gemacht. All­mählich kehrte sich die Haltung dieser rauhen Bergbe­wohner von einstmaligem Mißtrauen und Feindseligkeit in Freundlichkeit und Zutrauen um.
 
Als er jenes Dorf verließ, machten sich die Männer schon auf den Weg zur Arbeit. Jeden Tag trieben sie ein Gespann Ochsen vor sich her und trugen den schweren Pflug auf den Schultern, bis sie ihre drei bis sechs Kilo­meter entfernten Felder erreichten. Das nächste Dorf lag fast 5 km weiter entfernt. Dort fand Abd alMasih eine kleinere Gruppe von Männern, die um den blinden Ha­mid herumsaßen.
 
Hamid legte ihnen die Lehre des Korans aus. Er verlieh seinen Worten mit einem Stock Nachdruck, den er ausge­streckt vor sich hielt. Von Geburt blind und unfähig zu arbeiten, hatte er viele Jahre lang in einer Koranschule zugebracht. Er hatte zugehört, wenn andere Zeilen des heiligen Buches vorsagten, bis er sie auswendig konnte. Er kannte all die Lieblingsargumente der örtlichen Scheiks und die grundlegenden Lehren des Islam. Abd alMasih setzte sich zu den Männern. Der blinde Mann sprach nicht mehr weiter, sondern hörte der Evangeli­umsbotschaft, die Abd alMasih ihnen erzählte, einige Minuten aufmerksam zu. Dann bestürmte er ihn mit ei­nem Schwall von Fragen. Er erwartete und wollte keine Antwort. Sein Ziel war nur, unter Beweis zu stellen, wie er – ein blinder Mann – seine Religion kannte. Um je­den Preis wollte er die anderen Männer davon abhalten, das Evangelium zu hören. Abd alMasih versuchte auf Hamids Fragen einzugehen, doch dieser erhitzte sich im­mer mehr, und das Gespräch schien zu einer unsinnigen Diskussion auszuarten. Da kam dem Missionar eine gute Idee.
 
«Sage uns doch einmal, was Mohammed wirklich für dich getan hat, mein Freund. Ich lasse dir zehn Minuten Zeit, um uns das zu sagen, in der Zwischenzeit werde ich schweigen. Dann hörst du mir zehn Minuten zu, während ich erzähle, was Christus für mich getan hat.» Der Han­del war abgemacht.
«Du fängst an», sagte Abd alMasih.
Hamid schoß los: «Mohammed hat uns gesagt, wir sollen vom ihm zeugen, fünfmal täglich beten, fasten, Almosen geben, den Koran lesen … das tat er für uns Moslems.»
«Weiter», drängte der Diener Gottes. «Sag uns doch, was er für dich persönlich getan hat?»
 
Eine Minute war erst vergangen, doch mehr Zeit brauchte er nicht. Mohammed hatte ihm befohlen, dies und jenes zu tun. Das wußte er alles auswendig, doch … Einfach und schlicht erzählte Abd alMasih von dem, was Christus für ihn getan hatte. «Der Herr Jesus hat mich errettet, Er hat mein Leben umgewandelt. Er ist mein ständiger Freund und Gefährte. Er gibt mir Kraft, Gott nachzufolgen und die Zusicherung der Vergebung. Er hat mir beigebracht meine Feinde zu lieben. Er wird bald zurückkommen, nicht um vierzig Jahre zu regieren, son­dern ewig. Er wird wiederkommen, um mich für immer zu sich zu holen.»
 
Der arme, blinde Hamid konnte nicht länger an sich halten. Er fluchte und bespuckte Abd alMasih, der bald einsah, daß es sinnlos war, weiterzureden.
Als er wieder die Dorfstraße entlangging, sah er immer noch das emporgewandte Gesicht Hamids, den drohend geschwungenen Stock, das unkontrollierte Spucken und Fluchen. Die Leidenschaftlichkeit jener armen, sichtlo­sen Augen – ein blinder Leiter der Blinden! Er ging wei­ter zum nächsten Dorf. Auf seinem Weg machte er sich Gedanken über den scheinbaren Widerspruch, daß diese bittere und harte Opposition oft einem wahren Herzens­hunger im nächsten Dorf entgegensteht. Wie sehr glich dies doch dem Vorbild der Apostelgeschichte.
 
Ein Fußmarsch von ungefähr einer Stunde brachte ihn zum Eingang des nächsten Dorfes. Berge von schwarzen Oliven lagen in der Sonne ausgebreitet. Ein Mann mittle­ren Alters hob sie auf und wog sie auf einer großen Waa­ge ab.
 
«Wo gehst du hin, Scheik?» fragte er.
«Ich gehe in das Kaffeehaus, um mit den Männern über Gott zu sprechen.»
«Setz dich doch, und erzähle mir hier davon.»
«Nein, ich gehe dorthin, wo ich die Männer finden kann.»
«Na gut. Dann will ich auch mitkommen, denn letzte Woche war mein Sohn in deiner Versammlung und er­zählte uns alles, was er gehört hat. Wir Tauben an Jesus, doch wir verstehen Sein Werk nicht. Wir möchten gern darüber Bescheid wissen.»
 
Er ließ seine Arbeit stehen und kam, um zuzuhören.
Das Kaffeehaus war voller Männer. Einige spielten Domino, einige Karten, einige schlürften nur schwarzen Kaffee. Abd alMasih zog seine Schuhe am Eingang aus. Er ging über die Matten und setzte sich nieder. Er bestell­te eine Tasse Kaffee und sah zu, wie sie zubereitet wurde. Ein kleines Kohlefeuer brannte in einer Ecke. Über die­sem Feuer kochte in einer Büchse Wasser. Der Wirt tat einige Löffel Kaffeepulver in einen kleinen Kaffeetopf und fügte genausoviele Löffel mit Zucker hinzu. Der Kaffee war mit einem Mörser zu feinem Pulver zermah­len worden. Der Kaffeetopf bestand aus einer kleinen Blechbüchse, an die man einen langen Henkel gelötet hat­te. Der Kaffee wurde für jeden Kunden in einem speziellen Topf zubereitet; so standen sieben oder acht von diesen Töpfen um das Feuer herum. Man kochte zuerst den Kaf­fee auf; sobald er im Topf hochkam, wurde er leicht her­untergeklopft. Dies geschah dreimal hintereinander. Die starke Kälte war schon vorüber, sonst hätte der Wirt Ca­yennepfeffer hinzugefügt, um dem Kaffee eine besondere Würze zu geben. Jetzt goß er die dicke, sirupartige Flüssig­keit in einen kleinen Blechtopf mit einem winzigen Deckel, stellte ihn neben eine Tasse und händigte beides Abd alMasih aus. Der schlürfte ihn herunter und machte dabei mög­lichst viele Geräusche, um damit seinen Dank auszu­drücken. Dann rief er die Männer zusammen, forderte sie auf, ihre Spiele doch zehn Minuten zu lassen, damit er ih­nen aus der Bibel vorlesen könne.
 
Er mußte sich kurz fassen, deshalb las er 1. Timotheus 1, 15. Ein Mann, der sehr aufmerksam und konzentriert zuhörte, fiel ihm auf. Aber dann schien draußen irgend­etwas Besonderes los zu sein, und innerhalb einer Minute war das Kaffeehaus leer. Jedoch der interessierte Mann blieb. Er kam näher heran und flüsterte: «Sag mir, was soll ich denn glauben?»
Abd alMasih las ihm aus Jesaja 53, 6 vor.
«Jetzt verstehe ich. Meine Sünden liegen auf Ihm. Er trug sie für mich. Er bezahlte für mich. Ich danke dir.»
 
Die Männer kamen wieder zurück, und er war nun wieder ein Moslem unter Moslems. Abd alMasih brachte seine Kurzbotschaft zu Ende und schickte sich an, weg­zugehen. Erneut hielt ihn der Mann zurück: «Sag mir, Scheik, gibt es hier in diesem Lande einige, die an den Herrn Jesus Christus glauben? Irgendein Kabyle?» Er hatte entsetzliche Angst, allein dazustehen!
 
Abd alMasih wanderte in einer halben Stunde zum nächsten Dorf. Gewöhnlich fand er die Männer auf den Steinplatten sitzen, mit denen der Vorplatz gepflastert war. Es war kein einziger Mann dort zu sehen, doch aus dem Inneren der Moschee kam ein großes Stimmen­gewirr. Ein Junge klärte ihn darüber auf, daß ein neuer Moslem-Scheik eingeführt worden war und daß er die ganze männliche Bevölkerung zusammengerufen hatte, um sie den Koran zu lehren. Es war klar, daß er hier nicht erwünscht war; so hängte er sich traurig wieder sei­ne Tasche um und machte sich davon. Er war erst einige Schritte gegangen, als ein Mann ihm von der Moschee aus hinterherrief.
«Scheik, gehst du fort, ohne uns vorzulesen? Hast du denn heute keine Botschaft für uns vom Worte Gottes?»«Aber ihr habt doch einen neuen Scheik, der euch den Koran lehrt, und so wollt ihr mich sicherlich nicht», er­widerte er.
«Komm zurück zu uns. Komm in die Moschee und lies uns vor!» entgegnete man ihm.
 
Auf diese Einladung hatte er innerlich gewartet. Er zog seine Stiefel am Eingang zur Moschee aus, stellte sie zu denen der Männer und ging hinein, um dem neuen Scheik vorgestellt zu werden. Die Männer machten ihn mit dem neuen Scheik bekannt:«Leg deine Bücher weg. Dieser Mann kam schon hier­her und lehrte uns, als wir noch keinen Scheik hatten. Wir werden ihm zuhören.» Dann wendeten sie sich an Abd alMasih: «Wir warten. Lies uns vor!»Der neue Koran-Scheik hörte zehn Minuten lang zu, dann erhob er sich und ging wortlos hinaus. Die anderen Männer hörten eine halbe Stunde zu und waren für die Evangeliumsbotschaft sehr dankbar.Abd alMasih besuchte noch ein weiteres Dorf, bevor er sich auf den langen Weg zurück zu seinem Auto machte. Er durchwatete den Fluß abermals und fand seinen Wa­gen in gutem Zustand wieder. Bald hatte er die halbe Stunde Fahrt nach Hause zurückgelegt.

 

Kapitel 4  –  Das Erlernen der Sprache

«Abd alMasih, wie lange hast du dazu gebraucht, um die Sprache zu erlernen?» fragte der junge Mitarbeiter.
«Welche Sprache meinst du?» erwiderte er und fügte hinzu: «Ich lerne sie alle immer noch.»

Als er in Algerien ankam, hatte er die ersten drei Monate damit verbracht, sein Schulfranzösisch aufzufrischen. Danach begann er Kabylisch zu lernen. Er konnte nicht abwarten, die Grammatik Lektion für Lektion mit seinem Lehrer durchzugehen, sondern las sie wie einen Roman von Anfang bis zum Ende durch. Er las solange darin, bis sein Kopf zu bersten drohte, dann erst hörte er auf. Auf diese Weise erhielt er einen allgemeinen Überblick über die Grammatik, während er sich zur gleichen Zeit systematisch hindurcharbeitete. Dann begann er, das Neue Testament auf Kabylisch zu studieren. Eine Liste von dreißig neuen Vokabeln wurde jeden Tag aufgeschrieben, die er dann auswendig lernte. Eine solche Liste hing an seinem Spiegel, damit er sie las, wenn er sich rasierte. Eine trug er bei sich, wenn er unterwegs war. Es ging sogar das Gerücht um, daß er selbst bei den wenigen Gelegenheiten des Zusammentreffens mit seiner Braut in einer Hand eine Liste mit Vokabeln hielt, während er sie mit der anderen umarmte.

Eine Sprache zu erlernen, war ihm noch nie leicht gefallen. Er mußte jedes Wort erst einmal niederschreiben und vor sich sehen, um es lernen und behalten zu können. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Wortschatz, der bei der Boulifa-Grammatik dabei war, auswendig zu lernen. Und es kam ihm in späteren Jahren sehr zugute. Dann machte er sich an schwierigere Grammatiken wie die von Hanoteau und Ben Sedira.
Zehn Wochen, nachdem er diese schwierige Sprache begonnen hatte, wurde er eingeladen, einige Tage lang mit seinem zukünftigen Schwiegervater eine Rundreise durch die Dörfer zu machen. Dieser besaß – mit einem anderen jungen Missionar zusammen – einen Esel, und beim Reiten oder Wandern unterhielt sich Abd alMasih mit dem kabylischen Maultiertreiber. Er machte sich eine Liste von passenden Sätzen aus der Bibel und lernte sie auswendig. Er bat den Maultiertreiber, seine falsche Aussprache zu korrigieren. Jedem Vers fügte er noch einige erklärende Worte hinzu und bat den Kabylen, sie zu verbessern. So hielt er zehn Wochen, nachdem er das Studium der kabylischen Sprache begonnen hatte, seine erste Predigt. Sie war noch recht stockend und fehlerhaft, doch zog er wenigstens fünf Minuten lang die Aufmerksamkeit jener rauhen Bergbewohner auf sich. Später ermunterte er alle seine Sprachschüler, die er zu unterrichten hatte, immer wieder, das Wenige, das sie besaßen, sobald als möglich einzusetzen.

Vierzehn Monate nach dem Beginn des kabylischen Sprachstudiums machte er bereits die Prüfung für das erste und zweite Studienjahr und wurde deshalb von der Missionsgesellschaft gebeten, in einem neuen Gebiet eine Pionierarbeit aufzubauen. Jetzt stand seiner Eheschließung nichts mehr im Wege. Fünf lange Jahre waren seit ihrer Verlobung vergangen, doch bedauerten sie ihre Entscheidung nicht. Die Wartezeit war ihnen fast endlos erschienen, doch jetzt waren sie beide fähig und bereit, sofort mit der Arbeit zu beginnen. Der Herr vertraute ihnen das unschätzbare Vorrecht an, das Evangelium Menschen zu bringen, die nie zuvor etwas davon gehört hatten.
Ende des ersten Jahres konnte er genug Kabylisch, um eine weitere Sprachprüfung zu bestehen. Er hielt eine Predigt und konnte bis zu einem gewissen Grad auch die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf sich ziehen. Doch das reichte ihm nicht aus; er wollte besser verstehen können, wenn andere etwas zu ihm sagten. Es ist enorm wichtig, schlagfertige Antworten zu geben, besonders um unter Moslems in den Dörfern zu evangelisieren.

Er entdeckte drei Stufen bei der Erlernung einer Sprache. Die erste ist erreicht, wenn man über Dinge des täglichen Lebens sprechen und eine Predigt in der Sprache halten kann. Die zweite ist erreicht, wenn man den anderen versteht und fähig ist, eine Unterhaltung über jedes x-beliebige Thema zu führen. Die letzte Stufe erreicht man erst, wenn man wirklich alles versteht, was zwei Einheimische in einem Gespräch miteinander reden, wenn man ihren Redewendungen folgen kann, ihren Wortschatz völlig beherrscht und ihre Sprichwörter versteht. Abd alMasih setzte sich das letztere zum Ziel. Er erkannte sehr schnell, daß man eines Menschen Herz nicht erreichen kann, wenn man nicht seine Muttersprache spricht. Trotzdem nahmen viele seiner Kollegen den Standpunkt ein, daß Französisch zum Predigen reiche und daß es Zeitvergeudung sei, zusätzlich einen einheimischen Dialekt zu erlernen. Es erfüllte ihn mit großem Kummer, zuzusehen, daß solche Mitarbeiter selten lange auf dem Missionsfeld blieben. Sie waren in ihrem Aktionsradius sehr begrenzt und praktisch gezwungen, ihre Bemühungen auf Studenten in den Städten zu beschränken. Sie verstanden die Mentalität der Menschen nicht und befanden sich deshalb oft, manchmal ohne es zu bemerken, in peinlichen Situationen.

Er wird Gott immer dankbar sein, daß seine Vorgesetzten ihn von Anfang an von anderen Pflichten entbanden – besonders in den ersten achtzehn Monaten seines Missionarlebens -, damit er sich ganz dem Sprachstudium widmen konnte. Er hatte das Vorrecht, altgedienten Missionaren wie (den bereits verstorbenen Männern) H.G. Lamb, J. Griffiths und S. Arthur zuzuhören. Währenddessen notierte er sich ständig Neues und lernte so dazu. Nie sah man ihn ohne Notizbuch und Bleistift. Jedes unbekannte Wort, jeder brauchbare Satz, der ein ihm schon bekanntes Wort enthielt, Redewendungen und Sprichwörter wurden alle fleißig notiert und mit einem erfahrenen Mitarbeiter besprochen. Seine Braut war ihm auch eine große Hilfe dabei.

Drei Wochen lang machte er mit einem Scheik Leseübungen. Was ihm dabei an diesem Mann auffiel, waren eine Reihe von zentimetergroßen Geschwüren an seinem Körper. Er konnte, den vorgeschriebenen Stunden nicht entrinnen; zu allem Übel fanden die Lektionen in einem Raum statt, der noch vor kurzem Kranke beherbergt hatte. Eine ganze Armee von Flöhen kroch ständig über seinen Leib, so daß es ihm fast unmöglich war, sich zu konzentrieren. Nach einer solchen Heimsuchung rannte er einmal auf die Toilette, schüttelte seine Hosen über einer Wasserschüssel aus und fing dabei dreißig seiner Peiniger.

Jetzt, da Abd alMasih seine Arbeit als Pioniermissionar praktizierte, tauchten eine Reihe neuer Probleme auf. Der Berberdialekt, der in der Kleinen Kabylei gesprochen wurde, war ein völlig anderer Dialekt. Er fand zum Beispiel heraus, daß ein Wort von fünfen beim Lesen des Neuen Testaments anders war. Er hatte keinen Sprachlehrer. Der Berberdialekt wird in arabischen Gebieten gesprochen und ist deshalb keine Hauptsprache mehr. Eine Anzahl von Leuten halfen ihm in mühevoller Arbeit über lange Zeit hinweg. Der junge Missionar war entschlossen, ganz von vorne zu beginnen, ohne von den Fehlern seiner Vorgänger abhängig zu sein. Er legte alle Wörterbücher und Grammatiken auf die Seite und machte sich daran, die Geschichte des verlorenen Sohnes zu übersetzen. Er lernte sie auswendig und ratterte sie wie ein Maschinengewehr herunter. Fünf Jahre lang arbeitete er auf diese Weise, lernte aber die Sprache überhaupt nicht. Tapfer gab er jedoch zu, daß sein Versagen dadurch entstanden war, daß er die Arbeit der anderen verachtet hatte. Das war eine Lektion, die Abd alMasih niemals vergaß. Er durchforschte nun jede erhältliche kabylische Grammatik, jedes Wörterbuch und jede Übersetzung, inklusive denjenigen, die schon von Katholiken angefertigt worden waren. Wenn er die Schrift bei sich zu Hause oder in den Dörfern vorlas, beobachtete er dabei genau den Gesichtsausdruck seiner Zuhörer. Der Anflug eines Schmunzelns oder ein verständnisloser Blick bedeutete, daß etwas nicht stimmte und daß der Gedanke schlecht zum Ausdruck gekommen war. Er notierte das sofort und mittels beharrlicher Bemühungen entdeckte er später den Fehler und korrigierte ihn.

Er fand, daß die Einheimischen sehr hilfsbereit waren, doch ging das bis zu einem bestimmten Punkt. Sie korrigierten falsche Aussprache einmal, vielleicht zweimal, eventuell auch dreimal. Doch wenn er nicht konsequent seine Aussprache verbesserte, dann erlaubten sie sich einfach, das Wort so auszusprechen oder den Satz so umzubauen, wie er es tat, indem sie seine verkehrte Wortbildung nachvollzogen. So entstand und setzte sich der Jargon der Missionsstation fort. Diejenigen, die mit dem Missionar in unmittelbarem Kontakt standen, verstanden seine Worte; doch sobald er bemüht war, neue Kontakte zu knüpfen, war er verloren. So beschloß Abd alMasih lieber den Leuten zuzuhören, ihrer Unterhaltung in den Kaffeehäusern zu lauschen, oder auch in ihren Häusern oder auf der Straße. In dem Maße, in dem er seine Aktivität ausweitete, vergrößerte sich sein Wortschatz, und seine Fähigkeit, die Botschaft weiterzugeben, rahm zu.
Als Jahre später der Vizepräsident der British and Foreign Bible Society ihn einmal fragte, wie er denn die Fehler in dem kabylischen Neuen Testament entdeckt habe, da konnte er antworten: «Ich fand sie durch schlechte Erfahrungen, indem ich unter den Leuten saß und sie mir ständig sagten: `Du behauptest zwar dies, doch dein Buch sagt etwas anderes’.» Die Notwendigkeit der vorgeschlagenen Revision wurde sofort eingesehen.

So meisterte Abd alMasih nach und nach schließlich den schwierigen Dialekt der Kleinen Kabylei, bis er nach fünfundzwanzig Jahren des Zuhörens und Notierens fähig war, die vier Evangelien zu übersetzen.

Wenig später, als Abd alMasih und Lalla Jouhra gezwungen waren, in einem arabischen Dorf zu leben, wurden die Kenntnisse des Arabischen unbedingt erforderlich. Hier stieß er jetzt auf wirkliche Schwierigkeiten, denn es war seine vierte Sprache in ebenso vielen Jahren. Es gab keinen Missionar, an den er sich hilfesuchend wenden konnte. Er hatte keine Gelegenheit, einer geistlichen Botschaft auf Arabisch zuzuhören. Er konnte niemanden wegen der religiösen Redewendungen und Worte um Hilfe bitten.

Si Bederdin war ein junger Lehrer des Koran, der Kabylisch genauso gut verstand wie seine Muttersprache. Von ihm erfuhr Abd alMasih solche Redewendungen wie: «Wie heißen Sie? – Was ist dies? – Wieviel kostet das?» Damit konnte er sich wenigstenş unter den Leuten bewegen. Vom ersten Tag an konnte er zum Markt gehen und sich dort verständigen und auch zuhören. Er entdeckte, daß einige kabylische Worte aus dem Arabischen hergeleitet wurden, doch sprach man sie etwas anders aus. Das Verwirrendste war die Konjugation der Verben, die ähnlich klang, doch ganz andere Bedeutung hatte. Zum Beispiel heißt «Naktab lek» auf Kabylisch `wir haben euch geschrieben’. Auf Arabisch heißť «Naktab lek» – `ich werde dir schreiben’. Es gibt Veränderungen in der Person, vom Plural zum Singular und bei der Zeit, nämlich von der Vergangenheit zur Zukunft. Dies trifft auf alle Verben zu, die in beiden Sprachen gebraucht werden. Kabylisch unterscheidet sich sehr vom Arabischen, doch sind viele religiöse Begriffe übernommen worden. Man kann sich vorstellen, wie verwirrend diese Veränderung der Person und Zeit für Redner und Zuhörer sein kann. Zwei Jahre hindurch pflegte er, jede Botschaft in vollem Wortlaut niederzuschreiben und sie dann auswendig zu lernen.

Allmählich lernte er, in beiden Sprachen zu denken. Er hatte wohl Grammatiken und Wörterbücher, doch fand er heraus, daß er das meiste lernte, indem er sich mit den Leuten unterhielt und ihnen zuhörte. Er hatte nie einen Lehrer für Arabisch. In späteren Jahren wurden Sprachschulen in Algerien eingerichtet, die von Missionaren aus ganz Afrika besucht wurden. Er wurde von Missionaren aus Algerien vorgeschlagen, für alle Arabischkurse in Chrea und in Cap Matifou verantwortlich zu sein. Im darauffolgenden Jahr leitete er eine Sprachschule, in der er vormittags Arabisch und nachmittags Kabylisch unterrichtete. Der Junge, der einmal der schlechteste Schüler in seiner Französischklasse gewesen war, erlebte, daß «in Christus sein» bedeutet, eine neue Kreatur zu sein. Die Kraft des Heiligen Geistes befähigt einen Menschen, die Schranken eines trägen, schwerfälligen Geistes zu überwinden, eine abgebrochene Ausbildung abzuschließen, und dies alles zur Ehre Gottes zu tun. Doch bedeutet es harte Arbeit.

Abd alMasih fand heraus, daß das größte sprachliche Hindernis für einen neuen Missionar der Jargon der Missionsstationen war, sowie die falsche Aussprache älterer Mitarbeiter, die vielleicht erst in ihrer zweiten Lebenshälfte in dieses Land gekommen waren. Immer mußte er vor Worten auf der Hut sein, die falsch ausgesprochen wurden. Eine Dame bestand darauf, jedermann zu sagen, daß sie geschieden sei. Da sie ledig war, gab das manchen Grund zur Belustigung und Verwirrung bei denen, die nicht verstanden, daß sie eigentlich «ich möchte dies» sagen wollte. Sie hatte ein rollendes «r» benutzt, statt des «r» grasseyé (in der Kehle gesprochenes «r»). Er war äußerst vorsichtig beim Gebrauch von Wörterbüchern und ziemlich mißtrauisch bei der Anwendung von Wörtern, die aus dem religiösen Wortschatz der Moslems stammten. Er entdeckte da z. B., daß der Übersetzer des kabylischen Neuen Testamentes das Wort für «weise» in einem französisch-kabylischen Wörterbuch nachgeschlagen hatte. «Sage» bedeutet jedoch entweder «weise» oder «gut erzogen», je nach Sinn. Doch besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen «une sage femme» (Hebamme) und «une femme sage» (eine weise Frau). Wenn eine Mutter zu ihrem Kind sagt: «sois sage», dann meint sie damit «benimm dich». Der Übersetzer hatte offensichtlich das falsche von den fünf «wohlerzogenen» Jungfrauen und von «Christus, der uns zum guten Benehmen geworden ist.» Wie fand er den Fehler? Indem er die Leute schmunzeln sah, wenn das Wort falsch gebraucht wurde und dann nachprüfte, wo der Fehler lag.

Der Islam ist eine Religion mit guten Werken, und es ist deshalb von äußerster Wichtigkeit, klarzumachen, daß die Erlösung aus Gnaden kommt und nicht aus Werken. Doch haben gute Werke ihren Platz im Leben eines jeden Christen. Der erste Übersetzer hatte das Wort alhasanath für gute Werke gebraucht. Dies ist völlig korrekt, bis man bemerkt, daß alhasanath die fünf guten Werke der Moslem-Religion sind, nämlich 1. Mohammed bezeugen, 2. die Einhaltung des Fastens zu Ramadan, 3. Moslem-Gebete, 4. Almosengehen und 5. die Pilgerreise nach Mekka.


Das kabylische Neue Testament behauptete also: «… denen, die in Geduld mit diesen fünf guten Werken trachten nach dem ewigen Leben» (Römer 2, 7). Ein kabylisches Sprichwort sagt: «Gute Werke nehmen Sünden hinweg.» Ein Christ glaubt das nicht, doch das kabylische Neue Testament behauptet es. Das öffnete Abd alMasih Augen und Ohren. Er entdeckte viele, schwerwiegende Fehler und versuchte, sie zu korrigieren.

Manchmal machte er eine solche Entdeckung, wenn er eine Missionsstation besuchte. Eine junge Missionarin erzählte ihrer Nachbarin, daß sie einfach einen neuen Hund brauche, um in den Himmel zu kommen. Sie wollte natürlich sagen ein neues Herz. Das Wort für Hund ist gelb und das Wort für Herz ist kelb. Eine andere sagte: «Kennt ihr uns nicht? Wir sind eure Frösche.» Sie hatte sagen wollen: «Wir sind eure Nachbarn», doch hatte sie einen kurzen Vokal statt eines langen gebraucht und «jiran» anstatt «jeeran» gesagt.
Eine andere, die ihre aufbrechende Besucherin zur Eile antreiben wollte, sagte: «Fee saa. Fee saa!» Doch gebraucht man dieses Wort nur, um einen Hund wegzuschicken! Glücklicherweise war ihre Aussprache unsicher, sodaß ihr Moslem-Gast Zweifel hegte und ihr zugute hielt, daß sie eigentlich «Fiser, Fiser» sagen wollte.

Abd alMasih fand die Zwischenfälle oft amüsant; doch lernte er auch aus eigener schmerzlicher Erfahrung, daß die falsche Aussprache eines einzigen Buchstabens ernsthafte Folgen nach sich ziehen kann. Ein Missionar, der ihn in ein entferntes Dorf begleitet hatte, wo sie die Nacht verbringen sollten, bewunderte einen schönen Jagdhund und meinte zu seinem Eigentümer: «Agjoun agi inek?» Er hatte beabsichtigt zu sagen: «Ist dies Ihr Hund?» Doch hatte er dabei ein scharfes «k» anstatt eines weich gesprochenen gebraucht und hatte, ohne es zu wollen, eine äußerst obszöne Bemerkung gemacht. Innerhalb weniger Minuten waren die ungefähr dreißig Männer, die die Zuhörer ausmachten, verschwunden. Sie waren entsetzt. Es war unmöglich, noch eine Botschaft zu geben. Ihre Haltung wurde zu offener Feindseligkeit. Abd alMasih und sein Begleiter wagten nicht, die Nacht in jenem Dorf zu verbringen. Sie sahen sich gezwungen, nach Sonnenuntergang zum nächsten Flecken zu gehen, was man sonst eigentlich nie tut. Doch wäre es unmöglich gewesen, ja sogar gefährlich, noch dort zu leiben. Außerhalb des Dorfes nahm Abd alMasih einen Mann beiseite und drang in ihn, ihm doch zu sagen, was geschehen war. «Es hat mit dir doch nichts zu tun», wurde ihm gesagt. «Der andere ist es, denn er hat ein ordinäres Mundwerk.» Der arme junge Missionar war unschuldig, doch keine noch so ernst gemeinte Erklärung oder Entschuldigung konnte etwas ausrichten. Sie gingen in Ungnade davon. Er hatte nur einen einzigen Buchstaben falsch ausgesprochen!

Die größte Schwierigkeit bereitete die Zweideutigkeit einzelner Worte, die sich aus dem Unterschied im Dialekt ergaben. Sie bedeuten in der Großen Kabylei etwas ganz anderes als in der Kleinen Kabylei. Einige Beispiele mögen genügen, doch gibt es Hunderte solcher Worte. Thakherit kann in einigen Orten «Geldbörse» bedeuten, doch in anderen ist es ein schmutziges Wort. Acheboub kann das Haar einer Dame bedeuten, aber auch einen gewissen Teil des Körpers. Die Kabylen lassen das Wasser aus den Quellen in Wassertröge laufen, um dann damit ihre Gärten zu bewässern. Diese Tröge sind ungefähr 90 cm tief und 2,40 m im Quadrat. Sie werden asaridj genannt. Doch das gleiche Wort bedeutet in einem anderen Teil des Landes «See». Dies war auch das Wort, das man für den See Genezareth gebraucht hatte. Die Vorstellung entsetzter Jünger in einem Boot, das auf wenigen Quadratmetern Wasser segelte, und die in Todesgefahr schrieen: «Herr rette uns, wir verderben» war in höchstem Maße lächerlich. Es brauchte viel Zeit, diese Unterschiede in der Bedeutung einzelner Worte heraus zu finden, und emsig notierte er solche Irrtümer.

So versuchte Abd alMasih durch eifriges Studium, seine Kenntnisse in den verschiedenen Sprachen zu vervollständigen. Sein Ziel war nicht in erster Linie, korrekt zu reden, sondern die Botschaft weiterzugeben. Indem er die Sprache erlernte, begann er, die Menschen zu verstehen, und mit dem Verständnis kam auch eine tiefe Liebe zu ihnen und die Fähigkeit, ihre Herzen gewissermaßen mit dem Wort des Lebens anzurühren.

Kapitel 5  –  Der Widersacher

In der Kriegsführung ist es von äußerster Wichtigkeit, die Strategie des Feindes zu durchschauen und seine möglichen Waffen und Angriffsmethoden zu erkennen. Das trifft auch auf den geistlichen Konflikt zu, in dem sich die Christen befinden. Seit der Zeit, in der unser großer Feind Eva den verführerischen Köder hinhielt «Ihr werdet wie Gott sein» bis auf die heutigen Tage, in der er darauf bedacht ist, Unkraut unter den Weizen zu säen, ist eines seiner Haupttätigkeiten das Imitieren gewesen. Seine erklärte Absicht ist es, «dem Höchsten gleich zu werden». In der Religion des Islam finden wir Satans Meisterwerk. Sie ist mit Wahrheiten der Bibel durchdrungen, doch sind sie alle auf kunstvolle Weise verdreht und entstellt. Der Moslem glaubt, er gibt Zeugnis von seinem Glauben, er fastet, er betet und gibt Almosen. All das praktizierten auch die Christen der Urgemeinde, die an Christus glaubten und Zeugnis von ihrem Glauben gaben. Sie fasteten, beteten und gaben Almosen. Sie betrachteten sich als Pilger in der Welt und als solche, die einer riesigen Bruderschaft von Gläubigen angehören. Dies hat der Islam kopiert.

Diese falsche Religion befriedigt den Wunsch des Menschen nach einer Religion, der er folgen kann, die ihm dennoch in vollem Umfang ein Leben nach dem Lustprinzip erlaubt. Dieser große Gegensatz bleibt zwischen Islam und Christentum immer bestehen. Der Islam ist eine Religion der Werke. Das Evangelium kommt aus dem Glauben. Für den Islam ist wichtig, was der Mensch für Gott tut. Das Evangelium zeigt, was Gott für den Menschen tut.

Während Abd alMasih sich unter den Leuten bewegte, lernte er ihr religiöses Verständnis besser verstehen. Dabei entdeckte er immer wieder, daß diese Religion vom Gott dieser Welt inspiriert war. Sie ist die beste Imitation des Christentums. Die Moslems führen ihren Ursprung auf Abraham zurück, der ihrer Meinung nach der erste Moslem war. Sie sind, wie sie stolz feststellen, die direkten Nachkommen Ismaels. Christen sind jedoch die Kinder Abrahams und Isaaks und deshalb Kinder der Verheißung. Obgleich Abd alMasih den Islam theoretisch aus Büchern kannte, erlebte er erst jetzt, wie er sich auf das Leben der Menschen auswirkte. Die Bücher hatten ihn gelehrt, der Islam bestehe aus Glauben und Praxis. Die «Glaubensartikel» des Islam sind: Glauben an einen Gott, an Engel, an böse Geister, an den Tag des Gerichts, an Himmel und Hölle und an die offenbarten Schriften (von denen es vier große gibt: das Gesetz, die Psalmen, das Evangelium und den Koran). Ferner der Glaube an 124.000 Propheten und Apostel, von denen Mohammed der größte und letzte war. Es existiert eine feste Lehrmeinung über Prädestination: das Schicksal eines jeden Menschen ist ihm von Gott auf die Stirn geschrieben; der Wille Allahs bestimmt jede Handlung des Menschen, wie auch sein endgültiges Geschick.
Praktisch gesehen gründet sich der Islam auf fünf Säulen. Diese sind:

1. Mohammed bezeugen,
2. das Fasten im Monat Ramadan,
3. rituelles Beten,
4. Almosengeben,
5. die Pilgerreise nach Mekka.
Auf den nächsten Seiten wird jede dieser Säulen im Licht persönlicher Erfahrungen erklärt.

1. Mohammed bezeugen
«Bezeuge, daß es keinen Gott außer Allah gibt, und Mohammed der Gesandte Gottes ist. Dann ist alles gut, sonst…»

Abd alMasih war wieder einmal irgendwo in einem Dorf hoch oben in den Bergen und viele Kilometer von zu Hause entfernt. Er hatte alles, was er für zehn Tage brauchte, auf einen kleinen Esel geladen, nahm sich einen Kabylen als Begleiter mit und machte sich zu Fuß auf, um etwa vierzig oder fünfzig Dörfer von drei entfernten Stämmen zu erreichen. Das Dorf Thirilt liegt hoch oben auf einem Berg, ca. 1200 m über dem Meeresspiegel. Er beschloß, den Kabylen mit seinem beladenen Esel über den Höhenrücken, auf dem die Straße lag, langsam vorangehen zu lassen, während er inzwischen zu dem Dorf hinaufstieg. Nach der dort gehaltenen Versammlung machte er sich auf, um über einen schmalen, steinigen Pfad zu dem ausgemachten Treffpunkt zu gelangen, doch der Mann war nirgends zu erblicken. Er rief, schrie und pfiff, doch kein Laut war zu hören. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden. Die kalte Nacht brach an, und er war mutterseelenallein, nur von Gräbern umgeben, weit von zu Hause entfernt in einem unbekannten Land. Was er bei sich hatte, war eine Bibel, einige zahnärztliche Instrumente und etwas Geld.

Er machte sich auf den Weg zum nächsten Dorf und fand die Männer dort in der Moschee versammelt. Es war das letzte Gebet des Tages, das sie verrichteten, eine Stunde nach Sonnenuntergang. Er erklärte ihnen sein Mißgeschick und bat um Obdach für die Nacht. Nach Beendigung des Gebets kam ein Mann in der Dunkelheit auf ihn zu, tippte ihm auf die Schulter und forderte ihn auf: «Folge mir!» Gemeinsam gingen sie eine dunkle, enge Gasse zwischen den Häusern entlang. Er sah lediglich schattenhafte Umrisse zweier Männer in langen wollenen Kutten. Bittere Kälte ließ ihn erschauern. Mit einem Ruck wurden seine Arme mit eisernem Griff nach hinten gedreht und festgehalten, während etwas Hartes in sein Kreuz gestoßen wurde. Er wußte, daß es ein scharfes Messer war, ein Instrument, das sie sonst fachmännisch dazu gebrauchen, um ein Schaf zu töten, den Kopf eines Knaben zu scheren, oder auch einen Menschen zu ermorden. Eine Stimme durchschnitt die Dunkelheit. «Du bist in unseren Bergen verloren. Niemand weiß, wo du steckst. Du bist fast 100 km von jeglicher Hilfe entfernt und deshalb völlig in unserer Hand. Das Einzige, was du zu tun hast, ist Mohammed zu bezeugen, um dein Leben zu retten. Spreche uns einfach nach: `Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist der Gesandte Allahs’ Dann geht alles in Ordnung, sonst…» Das harte Ding wurde dabei fester in seinen Rücken gestoßen. Abd alMasih dachte angestrengt nach. Er war diesen fanatischen Männern völlig ausgeliefert. Das Leben war ihm lieb, auch hatte er Frau und Kinder zu Hause. Es lief ihm kalt den Rücken herunter. Es handelte sich um eine wahre Prüfung seines Glaubens. Ruhig antwortete er: «Ihr wißt, daß ich Christ bin. Eure Glaubensformel zu wiederholen, würde für mich eine Verleugnung meines Herrn bedeuten. Trotzdem, Gott schaut das Herz an, und selbst wenn ich eure Worte nachspreche, ist euch ganz klar, daß ich sie nicht wirklich glaube.» Sie lockerten ihren Griff, erlaubten ihm weiterzugehen und sagten: «Wir wollten dich zum Moslem machen.»

Er folgte ihnen in ihr Haus, aß die ihm vorgesetzten aufgewärmten Reste einer Mahlzeit und streckte sich dann auf einer Matte aus. Sie ließen ihn allein. Er rollte sich in die dicke, wollene Decke, breitete sein Taschentuch über das Kissen und schlief ein. In den Decken der Kabylen wimmelt es meist von Tieren, so daß ihn keine ruhige Nacht erwartete. Doch war er von einem langen, ermüdenden Tag völlig erschöpft und schlief fest durch bis zum Morgen. Als er erwachte, war die Sonne schon aufgegangen und färbte die Berggipfel rötlich-violett. Sein Begleiter hatte inzwischen vernommen, wo er sich befand und war von dem anderen Dorf herübergekommen.

Auf dem Marsch in das nächste Dorf dachte Abd alMasih darüber nach, wie wichtig es diesen Moslems war, jemand zu ihrem Glauben zu bekehren. Sie wußten, daß er sich in ihrer Gewalt befand und wollten die Situation zu ihren Gunsten ausnützen – nicht um sein Geld oder seine zahnärztlichen Instrumente zu stehlen, sondern um ihn zu ihrem Glauben zu bekehren. Er prüfte sein eigenes Herz und fragte sich: «Bin ich genauso eifrig bemüht, Menschen für meinen Herrn zu gewinnen? Wenn ich mit einem Moslem allein bin, versuche ich dann jedesmal die Unterhaltung auf Jesus Christus zu bringen?»

Wenige Wochen später war er unter völlig anderen Umständen von einem alten Moslem beeindruckt, der der tiefen Überzeugung war, daß allein die Moslems die Wahrheit über Gott wissen und sie aus diesem Grunde auch weitergeben müssen.
Der eben erwähnte alte Mann war entsetzlich arm und nur mit schmutzigen, zerrissenen Lumpen bekleidet. Sein ganzes Bein war mit Geschwüren bedeckt. Der Gestank war abscheulich, doch nach wochenlanger Behandlung waren die Geschwüre endlich abgeheilt, und zum letzten Mal legte Abd alMasih einen trockenen Verband an. Der Patient würde zu keiner weiteren Behandlung wiederkommen müssen. Seine Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Er erhob seinen Kopf, blickte in das Gesicht des Missionars und sagte: «Wie kann ich dir nur genug dafür danken. Was kann ich dir geben? Ich bin ja so arm, ich kann dir nichts geben, nichts anbieten, außer…» Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. «Wenn du doch nur sagtest: `La illah ila Allah’, und Mohammed bekennst, dann wirst du in den Himmel gehen. Wiederhole nur diese Worte, Scheik, und du bist erlöst.» Es war die einzige Art, auf die er seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen konnte. Er wies auf seinen Propheten hin, der aber ein toter Prophet war und niemals erretten kann. Wiederum mußte Abd alMasih sein Herz prüfen. War er ebenso eifrig wie dieser Mann?

Jeder Moslem ist ein starker Zeuge für seinen Glauben. Das Glaubensbekenntnis ist einfach, leicht erlernbar, und das Hersagen dieser Formel hat nicht zwangsläufig eine Veränderung des moralischen Lebens dessen zur Folge, der sie hersagt. Den Satz mit wirklicher Überzeugung auszusprechen bedeutet, Mitglied einer riesengroßen Moslem-Bruderschaft zu werden, mit der Hoffnung auf das Paradies.

Durch das Glaubensbekenntnis bestätigt der Moslem seinen Glauben an den einen, wahren Gott. Er ist einmalig, er ist der höchste und einzige Gott. Sein Wille bestimmt alles. Der Moslem ist ein «hingegebener» Mensch, ausgeliefert dem Willen Gottes. Das Schicksal jedes Menschen wird von Gott auf dessen Stirn geschrieben, und dies bestimmt auch sein endgültiges Geschick, sein Wohl und Wehe. Es ist unsinnig, daß der Mensch gegen Gottes Beschlüsse ankämpft. Denn er ist der höchste Meister, der Richter, der am Letzten Tag alle Moslems in den Himmel bringen und alle Ungläubigen in die lodernden Flammen der Hölle hinabstoßen wird.

Abd alMasih entdeckte bald, daß die Kabylen überzeugte Moslems sind, obwohl sie nicht Arabisch sprechen. Einige hatten den Koran auswendig gelernt, doch nur die wenigsten verstanden ihn. Sie waren unwissend, aber dabei fester Überzeugung, ja fanatisch, oft sogar mehr als ihre arabischen Brüder.

2. Das Fasten zu Ramadan
Wie alle Missionare bei den Moslems, entdeckten Abd alMasih und Lalla Jouhra schnell, daß dies das größte Hindernis bei der Arbeit in einem mohammedanischen Land ist. Man muß den unvermeidlichen Schluß ziehen, daß es nicht nur um das Fasten an sich geht, sondern, daß dahinter unheimliche Mächte des Bösen stehen, dessen Ziel es ist, Gott zu imitieren. Wenn das Hersagen des Glaubensbekenntnisses eine leichte Übung ist, so daß selbst ein Kind es lernen kann, so stellt die Pflicht des Fastens schwere Ansprüche an den Körper jedes Moslems. Dadurch wird das Werk Gottes stark beeinträchtigt, denn der Moslem wird alljährlich erneut daran erinnert, daß die Erlösung auf seinen eigenen Werken und nicht auf Glauben beruht. Nur wenige Christen sind über dieses Fasten informiert, etliche meinen gar, es sei ein «Fest», deshalb wollen wir darauf, wie auf dessen Auswirkungen, eingehen.

Es ist Pflicht für jeden Moslem, dieses Fasten einzuhalten. Während des Ramadan-Monats darf vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang weder Speise noch Trank genossen werden. Der Beginn jeglicher Abstinenz wird theoretisch von dem Augenblick an bestimmt, in dem man einen weißen Faden von einem schwarzen unterscheiden kann. Im Zweifelsfalle versucht der fromme Moslem, ob es schon hell genug ist, um eine Nadel einzufädeln. Doch praktisch wird es folgendermaßen gehandhabt. Die meisten Moslems nehmen ihre letzte Mahlzeit ungefähr um 1 Uhr morgens ein und gehen dann zu Bett. Von da an bis zum Sonnenuntergang darf nichts mehr genossen werden, selbst Schnupftabak und Tabak ist verboten. Jeglicher Kontakt mit dem anderen Geschlecht ist ebenso untersagt. Die reichen Leute verbringen ihre Tage meistens mit Schlafen und die Nächte mit Festen und Gelagen. Doch für die Armen und diejenigen, die tagsüber nicht schlafen können, ist die lange Zeitspanne von sechzehn Stunden ohne Essen und Trinken äußerst strapaziös – vor allem, da hier die Temperaturen 30-45° im Schatten betragen. Es zerreißt einem fast das Herz, wenn man den sich abwendenden Blick eines fastenden Moslems sieht, der an einem heißen Sommertag an einer frischen Quelle vorbeikommt.

Die Moslem-Lehrer behaupten, daß Ramadan den Menschen lehre, seine Gelüste und Begierden zu beherrschen, die am stärksten sind, wenn er ißt und trinkt, weil ihn da der Böse versucht. Sich solchen Sünden wie Fluchen, Meineid, Lügen, Verleumdung und Zorn hinzugeben, ist gleichbedeutend mit dem Fastenbrechen. Doch lange Zeit ohne Essen und Trinken zu sein und ohne genügenden Schlaf, macht Menschen leicht erregbar. Männer, die daran gewöhnt sind, ständig starken Kaffee zu trinken, sowie Tabak und Hasch zu rauchen, empfinden besonders in den ersten Tagen des Fastens den auferzwungenen Entzug dieser Dinge. Viele Moslems geben zu, daß sie durch Ramadan sich mehr zuschulden kommen ließen als sonst. Es ist erwiesen, daß die Polizei in diesem Monat immer mehr zu tun hat als zu irgendeiner anderen Jahreszeit. Die kabylischen Ehefrauen fürchten sich vor Ramadan, weil dann die meisten Ehescheidungen stattfinden. Abd alMasih und Lalla Jouhra erschien das Zusammenleben und der tägliche Kontakt mit diesen Menschen während des einen Monats wie das Leben mit einer Zeitbombe, die jeden Augenblick explodieren kann! Der fromme Moslem verdient sich mit dem Fasten während dieses Monats einen Platz im Himmel, und glaubt, daß jeder Moslem, der während Ramadan stirbt, sofort das Paradies betritt.

Während des Fastens herrscht ein fanatischer Geist, und in dieser Zeit trifft die Botschaft der freien Gnade Gottes auf Granit in den Herzen der Moslems. Deutet man ihnen auch nur leise an, daß all ihr Leiden um die Erlösung vergeblich sei, so läßt sich das vergleichen mit einem Engländer, dem man erklärt, sein ganzes Vermögen bei der Bank von England sei überhaupt nichts mehr wert. Ramadan ist einer der Hauptpfeiler dieser Religion, die aus guten Werken besteht. Das Gebot des Fastens um Christi willen zu durchbrechen, heißt, sich den Zorn der ganzen Moslem-Gemeinde zuzuziehen. Diejenigen, die keine Christen sind, dürfen es in aller Heimlichkeit ungestraft brechen, doch die Christen werden scharf verurteilt, müssen dafür leiden. Wenn ein Christ zur Rede gestellt wird, kann er nicht leugnen, daß er gegessen hat. Er wird ehrlich sein. Aus diesem Grunde begehen viele Christen, die den Herrn wirklich lieb haben, dieses Fasten auch weiterhin. Doch erst, wenn ein Christ das Fasten gebrochen hat, kann er getauft werden. Denn in den Augen aller Mitmenschen ist er immer noch ein Moslem. Er folgt immer noch einer «Religion der Werke». Paulus hätte gesagt: «Er ist Ismael und nicht Isaak.»

Deshalb bedeutet dieser Monat des Ramadan für alle wahren Christen eine harte Prüfung. Sie werden versucht, mit dem Strom zu schwimmen, um Ächtung und Verfolgung zu entgehen. Einige kommen in den Konflikt, im Geheimen zu essen, während sie öffentlich vorgeben zu fasten. Doch solche Falschheit bringt dem Herrn keine Ehre, sie belastet den Menschen und führt zur Selbstverdammung.

Sadeya war eine kabylische Frau, die den Herrn Jesus von Herzen lieb hatte. Sie wollte Ihm gefallen und aß und trank jedes Jahr zu Ramadan – sehr zum Ärger ihrer Moslem-Nachbarn. Sie forderten sie oft heraus: «Du weißt sehr wohl, wie schwer es ist, den ganzen Tag ohne Essen und Trinken auszukommen. Fasten ist für euch Christen viel zu schwer. So wählt ihr den leichten Weg wie die Heiden und freßt wie die Tiere.» Sadeya war durch diese harten Worte tief getroffen und betete zum Herrn. Sie entdeckte im Neuen Testament, daß auch die ersten Christen fasteten, daß aber für sie Fasten und Beten eng miteinander verbunden waren. Sie beschloß, jeden Monat einen Tag lang zu fasten und den Tag im gläubigen Gebet um die Errettung ihrer ungläubigen Nachbarn zu verbringen. Sie bereitete die Mahlzeiten für ihre drei Kinder und ihren Mann vor. Dann begann sie ab sechs Uhr früh ihre einsame Gebetswache.

Der Tag erschien ihr so lang. Zur Mittagszeit war sie ganz entmutigt. Niemand teilte ihre Gebetsanliegen, und sie hatte ihre Gebetsliste durchgebetet. Plötzlich hörte sie Geräusche. Ihre Nachbarin Zakeea war zu Besuch gekommen.
«Was, du arbeitest heute nicht? Du hast noch nicht einmal das Brot für deinen Mann und die Kinder vorbereitet? Müssen sie den ganzen Tag hungern?»
Sadeya erwiderte: «Nein, nur ich faste heute, um die Zeit im Gebet zu verbringen.»
«Aber der Monat des Ramadan ist noch nicht da. Warum solltest du jetzt fasten?»

«Ich kann während Ramadan nicht fasten wie ihr. Denn ihr fastet, um euch einen Platz im Himmel zu verdienen. Ich weiß, daß mein Herr Jesus starb, um mir Vergebung zu schenken. Wenn ich während Ramadan faste, bedeutete das, ihn zu verleugnen. Doch ich habe keine Angst, zu fasten und ohne Essen zu sein. Darum faste ich wie die ersten Christen: sie fasteten und beteten.»

Das stimmte Zakeea nachdenklich. Sie ging, um es den anderen zu erzählen, während Sadeya eine lange Zeit für sie im Gebet verbrachte. Bald kam eine andere Nachbarin und dann noch etliche, bis insgesamt fünf beisammen waren. Nun konnte sie jeder erklären, warum sie nicht zu Ramadan fasten brauchte. Satan wollte das Fasten gebrauchen, um sie zum Ungehorsam zu verleiten, doch Gott verhinderte das in Seiner Gnade und eröffnete ihr dadurch neue Möglichkeiten.

In christlichen Freizeiten für die dortigen jungen Leute wurde es immer deutlicher, daß das Einhalten des Fastens zu Ramadan eines der größten Probleme darstellt, denen der Jungbekehrte ausgesetzt ist. Der christliche Leiter wird oft gefragt: «Ist es denn für einen Christen falsch, das Fasten einzuhalten, wenn er doch weiß, daß er durch Gnade errettet ist?»

«Wenn unsere Eltern uns zum Fasten zwingen, obwohl wir Christen sind, sollen wir dann unseren Eltern gehorchen oder Gott?»
«In der Schule bekommen wir tagsüber kein Essen, deshalb sind wir gezwungen, mit den Moslems nachts zu essen. Wie können wir Gott gehorchen?» Fragen wie diese zwingen uns, scharf darüber nachzudenken. Abd alMasih pflegte ungefähr so zu antworten:

«Ihr wißt, daß jeder religiösen Ausübung im Islam eine Formulierung eurer Absicht vorausgehen muß (niya). So sagt der Moslem zum Beispiel: `Ich beabsichtige, die Mittagsgebete zu sprechen’, oder `Ich beabsichtige, heute zu fasten’. Ohne diese Formel, die die Absicht zum Ausdruck bringt, ist das bloße Einhalten des Fastens ungültig. Sich nur vom Essen und Trinken zu enthalten, reicht nicht aus, um Verdienste zu erwerben. Erst die Formulierung der eigenen Absicht, die dem Fasten jeden Tag vorausgeht, läßt diese Pflichtübung gelten. Ein junger Christ sollte deshalb seinen Eltern erklären, daß er an Jesus Christus glaubt und durch die Gnade Gottes errettet ist. Das Ziel des Ramadan ist, etwas für Gott zu tun. Er kann also zu seinen Eltern sagen: `Da ich noch unmündig bin, Vater, und Kinder ihren Eltern gehorsam sein sollen, werde ich mich aller Speise und allen Trankes während des Fastens enthalten, doch nur, weil ihr das von mir verlangt. Wenn ich das so praktiziere, tue ich es gegen meine Überzeugung. Ich bin durch den Glauben an Jesus Christus und durch die Gnade Gottes gerettet. Deshalb kann ich die Absicht nicht formulieren. Dagegen erneuere ich täglich mein Verlangen, Jesus Christus allein zu vertrauen. Wenn ich mündig und frei bin, dann werde ich das Fasten brechen. Wenn ihr mich also dazu zwingt, faste ich, aber es hat für mich keinen Wert, weder vor Gott noch für die Moslems. Gott kennt die wahre Absicht meines Herzens.’»

Das mag keine endgültige Antwort auf dieses außerordentlich schwierige Problem sein, denn es ist äußerst gefährlich, jungen Menschen oder Kindern beizubringen, ihren Eltern ungehorsam zu sein. Doch ebenso furchtbar ist es, jemanden zu zwingen, seinem Gewissen und den Prinzipien des Wortes Gottes ungehorsam zu sein. Der christliche Missionar wird von keinem jemals verlangen, das Fasten zu lassen. Er wird es vermeiden, starre Regeln aufzustellen; aber er muß den Bekehrten auf die Lehre des Wortes Gottes hinweisen. Für den ehemaligen Moslem ist diese Lehre klar im Galaterbrief dargelegt.

3. Gebet
«La illah ila Allah…» (Es gibt keinen Gott, außer dem einen Gott). Die schrille Stimme des Moslem-Scheiks ertönte durch die Stille der Nacht. Abd alMasih setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Er übernachtete in einem kabylischen Dorf. Nach europäischen Maßstäben war das Bett nicht gerade bequem, nur eine Binsenmatte, auf der er seinen Schlafsack nach einer anstrengenden Reise ausgebreitet hatte. Es war vier Uhr früh, und die Stimme des Muezzin ertönte noch einmal: «Gott ist größer. Gott ist größer. Gebet ist besser als Schlaf. Kommt zum Gebet! Kommt zum Gebet!»

Die großen hölzernen Türen öffneten sich, und dunkle Schatten huschten in die Moschee. Neugier trieb Abd alMasih auf, um mit ihnen zu gehen. Er würde nicht mit ihnen beten, doch könnte er draußen stehen und zuschauen. Der erste Schnee hatte das Dorf mit einer leichten Decke überzogen, der Weg war noch deutlich sichtbar. Es war der Pfad, der zur Moschee führte, der einzige, der bis jetzt begangen worden war. Er schaute zu, wie einer nach dem anderen ankam, eine kleine Büchse mit Wasser in der Hand. Jeder Mann sagte bei seiner Ankunft in der Moschee: «Oh Gott, ich beabsichtige, das Morgengebet zu sprechen. Ich bezeuge, daß es keinen anderen Gott außer Allah gibt und daß er keinen Partner hat, und ich bezeuge, daß Mohammed sein Diener und Apostel ist.» Da jeder Mann nach der Vorschrift rein sein muß, um beten zu können, wusch er sich, und zwar seine Arme bis hoch zu den Ellbogen, seine Füße, seine Beine und andere Körperteile, sowie Gesicht und Nacken bis hinter die Ohren. Auch spülte er seinen Mund. Ein Nachzügler rieb seine Hände nur an der blank gescheuerten und abgenutzten Säule der Moschee und machte dann Bewegungen des Waschens, während er fromme Sprüche zitierte.

Außerhalb der Moschee standen zitternd vor Kälte zwei Frauen und schauten den Männern zu, denn sie dürfen es nicht wagen, in die Moschee zu gehen, um zu beten. Im Inneren standen vierzig Männer beim trüben Licht einer Öllampe gegen Osten gewandt. Der Scheik stand vor ihnen. Direkt vor diesem befand sich die kiblah, die Nische in der Wand, die in Richtung Mekka wies. Als der letzte Mann sich zugesellt hatte, begann das Gebet:
«Gott ist groß. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Apostel. Meine Zuflucht ist in Gott vor Satan, dem Versteinerten…»
Gemeinsam zitierten sie das erste Kapitel des Korans:
«Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Aller Lobpreis gebührt Allah, dem Herrn der ganzen Welt. Dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Herrn des Gerichtstages. Dich allein beten wir an, und dich allein flehen wir um Hilfe an. Führe uns den rechten Weg, den Weg der Menschen, die du segnest, die dein Mißfallen nicht erregt haben, die nicht vom Wege abgeirrt sind.»

Draußen in der Kälte standen die armen alten Frauen und murmelten die Worte mit.

Der Scheik sagte: «Gott ist groß» und beugte sich vor, bis seine Stirn den Boden berührte. Die Männer taten es ihm nach.
In dieser Haltung fuhren sie fort: «Ehre sei Gott, dem Herrn des Universums.»
Daran standen sie wieder auf und begannen erneut: «Gott hört diejenigen, die ihn loben.»
Dreimal verbeugten sie sich: «Ehre sei Gott; dem höchsten Herrn.»
Sie knieten nieder, erhoben ihre Häupter und schrieen gemeinsam: «Gott ist groß.»
Dann zitierten sie: «Oh Gott, vergib mir. Habe Erbarmen mit mir. Führe mich auf dem rechten Weg. Bewahre mich und mache mich groß. Stärke meinen Glauben und mache mich reich… »

Und so setzte sich das Gebet fort. Die Frauen beobachteten alles von draußen und machten alles genau mit. Wie sehnten auch sie sich danach, das Rechte zu tun! Doch sie waren ausgeschlossen.
Schließlich war das Gebet beendet. Jeder Mann wandte seinen Kopf zuerst nach rechts, dann nach links und grüßte die Engel mit der jahrhundertealten Formel: «Friede sei mit euch, Friede sei mit euch.»

Während Abd alMasih zuschaute, war er tief bewegt. Es lag etwas Unheimliches, zutiefst Mystisches und sehr Beeindruckendes in diesem frühen Morgengebet. Er konnte nicht umhin, dieses feierliche Gebet zu respektieren, die Anerkennung des einen wahren Gottes. Viele dieser Männer drückten damit ein aufrichtiges Verlangen, ein tiefes Sehnen nach Gott aus. Für einige war es offensichtlich nur eine Formalität, etwas, was man eben zu tun hatte. Doch für viele war es der Ausdruck eines wahren Durstes nach Gott. Als er sich auf den Rückweg zum Hause seines Gastgebers machte, überdachte er nochmals die Bitten. «Führe uns den rechten Weg.» «Vergib uns.» «Bewahre uns vor dem Übel.» Er dachte auch an Davids Gebet: «Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.» Hier hatten Menschen Durst nach Gott, ein tiefes Verlangen. Doch die wahren, lebensspendenden Ströme waren ihren Augen verborgen. «Führe uns auf dem rechten Weg», hatten sie gefleht. Doch wie konnten sie den Weg finden? Es gibt nur einen Weg zurück zu Gott. «Vergib uns», hatten sie gerufen, doch «ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung». Jede einzelne Segnung, nach der sich ihre Seele sehnte, war einzig in Jesus Christus und nur in Ihm allein zu finden. Und er, Abd alMasih, war hier, um es ihnen mitzuteilen, um ihnen von Ihm zu sagen.

Als er das Haus erreichte, lud ihn sein Gastgeber ein, eine Tasse Kaffee mit ihm zu trinken. Das Feuer brannte hell, und darüber hatte man einen Fladen ungesäuertes Brot auf einen Rost zum Backen gelegt. Sobald es gar war, nahm Hamid das Brot, gab etwas davon Abd alMasih und steckte etwas in seine eigene Tasche. Dann öffnete er die Tür zum Hof und ließ die beiden Ochsen hinaus, lud sich den groben hölzernen Pflug auf die Schulter, nahm die Stachelspitze in die Hand und machte sich auf in die Ebene, wo der Schnee bald schmelzen würde. Die nächste Gebetszeit war um ein Uhr, dann wieder um drei Uhr nachmittags, bei Sonnenuntergang und eine Stunde danach.

So betet dieser einfache Bauer jahraus, jahrein fünfmal täglich und verbringt damit eine Stunde lang jeden Tag in der Anbetung. Dies ist das salat oder das rituelle Gebet. Es gibt auch das duwa, das der Fürbitte des Christen ähnelt. Bei dieser Form des Gebets hält der Andächtige seine Hände, mit den Handflächen nach oben ausgestreckt, vor sich. Nach Beendigung des Gebetes küßt er seine Fingerspitzen und streicht sich mit den Handflächen über seinen Bart.

Schon gleich am Anfang sah Abd alMasih, daß in den Herzen dieser Männer die Furcht Gottes war. Mutig bekannten sie ihren Glauben und gaben Zeugnis von Mohammed; sie fasteten und beteten.

4. Geben
Von Anfang an war Abd alMasih von der Großzügigkeit der Kabylen beeindruckt gewesen. Obwohl er doch ein völlig Fremder war, pflegten sie ihm eine Mahlzeit, eine Tasse Kaffee oder Gastfreundschaft für die Nacht anzubieten. Wenn sie Walnüsse sammelten, während er durch ihr Dorf ging, boten sie ihm fünfzig oder hundert Nüsse an. War es Feigenzeit, dann schenkten sie ihm die besten getrockneten Feigen oder erlaubten ihm, sich selbst an den frischen Feigen am Baum gütlich zu tun. Obgleich sie arm waren, gaben sie von ihrem Besten, denn er war doch ein Diener Gottes. Er registrierte wohl, daß sie zweifellos damit auch ihre Dankbarkeit für geleistete Dienste oder Krankenversorgung zum Ausdruck brachten, und es gleichzeitig auch bis zu einem gewissen Maße Bestandteil ihrer Religion war. Sie sammelten Verdienste und gute Werke, die für die Ewigkeit auf ihr Konto verbucht wurden.

Für diese Moslems ist Almosengehen in zwei Gruppen aufgeteilt: zakat, das heißt obligatorisch, und sadagah, welches ein freiwilliges Opfer bedeutet. Zakaz liegt als besondere Steuer auf allem Besitz oder Einkommen. Diese Moslems sind der festen Überzeugung, daß Gott dem Geber doppelt und mit Zinsen zurückzahlen wird. Die freiwilligen Gaben gibt man vom persönlichen Eigentum und Verdienst. Als Reisender in den Bergen wurde Abd alMasih als einer angesehen, dem man Hilfe zu leisten hatte. Die anderen Hilfsbedürftigen waren die Moslem-Lehrer, die Armen, die Witwen und Waisen und diejenigen, die für den Islam kämpften. Indem sie dem christlichen Missionar Gastfreundschaft gewährten, verdienten sie eine Belohnung, hier und im Paradies.

Er fand ebenso heraus, daß sie fest überzeugt waren, wenn sie ihn um Geld oder Medizin angingen, ihm damit einen Dienst zu erweisen. Sie schufen ihm Gelegenheiten, für sich Verdienstpunkte zu sammeln. Ebenso wie sie darauf aus waren, freigiebig zu sein, und dies manchmal recht prahlerisch hervorkehrten, so sollte er es tun. Dies erklärte wohl auch teilweise ihren scheinbaren Mangel an Dankbarkeit für so vieles, das für sie in den Missionskliniken getan wurde. Erlangte der Missionar nicht durch sie Verdienste? Er sollte doch dann dankbar sein! «Ror ek loujour, a sheikh» («du verdienst dir eine Belohnung, oh Scheik»), meinten sie. Sie praktizierten eine Religion der Werke, der Verdienste. Endlich begriff er es. Wie anders dachten sie doch als er!

5. Die Pilgerreise
Eines Tages besuchte Abd alMasih seinen alten Freund Si Tahar. Er war Polizist eines Stammes und hatte immer ein echtes Interesse am Worte Gottes gezeigt. Wenn Abd alMasih bei diesem Stamm war, pflegte er Si Tahar zu besuchen, der ihn dann darum bat, ihm eine Bibelstelle vorzulesen und zu erklären. Er schien sogar an Jesus Christus zu glauben – doch wenn, dann nur heimlich. Heute war er seltsam still und zurückhaltend. Dann kam heraus, daß er gerade von einer Pilgerreise nach Mekka zurückgekehrt war. Er war ein hajji.

«Warum trägst du nicht einen grünen Turban, um zu zeigen, daß du ein hajji bist?» begehrte Abd alMasih zu wissen.
«Ach, das gehört doch der Vergangenheit an, Scheik. Nur wenige tragen ihn noch.»
«Was hat dich dazu veranlaßt, nach Mekka zu gehen? Ich dachte, du wärest zu arm, um für solch eine Reise bezahlen zu können.»
«Du weißt doch, Scheik, daß ich Beamter bin und für Frankreich arbeite. Jedes Jahr bezahlt die Regierung für einige von uns eine Pilgerreise. Du weißt, daß jeder Moslem diese Pilgerreise einmal in seinem Leben machen muß. Viele tun es sogar dreimal. Wenn ein Mann für seine Reise bezahlen und seine Familie währenddessen unterstützen kann, sollte er gehen. Der Administrator fragte mich, ob es mir möglich wäre zu gehen. Es würde mich nichts kosten – oder wenigstens nicht sehr viel. Und so ging ich eben.»
«Erzähle mir davon!» sagte Abd alMasih.
Si Tahar wollte nur ungern erzählen, was er getan und gesehen hatte. Doch nach einer Weile begann er: «Wir verließen Algier mit dem Schiff, das die Regierung in Beschlag genommen hatte. Es war furchtbar überfüllt und so unbequem, wie du dir nur denken kannst. Außerdem war es sehr heiß; das Schiff über und über schmutzig. Wir reisten nach Port Said, dann durch den Suezkanal und das Rote Meer bis in den Hafen von Jiddah. Dort begann erst die eigentliche Pilgerreise. Nun mußten wir quer durch die Wüste reisen; die Hitze war unerträglich. Einige ritten auf Kamelen, manche fuhren per Taxi, und etliche reisten per Lastwagen oder Bus. Ich fuhr mit einem Lastwagen. Du kannst deinen ganzen Besitz für den Kauf von Trinkbarem hergeben. Das ist nämlich alles, was du dort tun möchtest – trinken. Es gibt keine Quellen, wie wir sie in unseren Bergen haben. Jeden Tropfen Wasser mußt du teuer kaufen. Nachts mußte ich ständig aufpassen, damit mir keiner mein Geld stahl. Natürlich war ich nicht allein, doch niemand wußte, daß ich Polizist bin. Als wir in die Nähe der heiligen Stadt kamen, mußten wir zu Fuß laufen. Dort begann die wirkliche Pilgerreise. »
«Erzähle mir mehr davon, was du getan und gesehen hast!»
Si Tahar war immer noch unwillig, doch fuhr er fort: «Als wir ungefähr zehn Kilometer von Mekka entfernt waren, entledigte sich jeder seiner Kleider und zog zwei nahtlose Gewänder an. Danach waren wir ihram, das heißt heilig oder abgesondert. Es wurde uns nicht erlaubt, uns zu rasieren oder unser Haar zu schneiden. Wir besuchten die heilige Moschee, küßten den schwarzen Stein und gingen immer wieder um die Kaaba (ein Tempel) herum. Es war wirklich wunderbar, unter Tausenden von Moslems aus der ganzen Welt zu sein. Der Islam ist eine weltweite Religion, Scheik. Daraufhin besuchten wir den heiligen Stein, den sie Magam Ibrahim nennen. Was wir dort tun mußten, war dasselbe, was sonst die Frauen in der Kabylei tun, wenn sie auf die Berggipfel steigen und die heiligen Stätten besuchen. Zur gleichen Zeit mit allen Moslems in der ganzen Welt töteten wir die Widder und dachten daran, wie Gott unserem Herrn Abraham einen Widder schickte, damit er ihn anstelle Isaaks opfern konnte.»
«Aber sicherlich konntet ihr nicht das Fleisch eines ganzen Tieres in den wenigen Tagen, in denen du dort warst, essen.»
«Nein, wir aßen etwas, den Rest gaben wir weg, denn es gibt Tausende von Bettlern. Nie zuvor habe ich so viele gesehen.»
«Erzähle mir noch mehr von dem, was ihr dort gemacht habt.»
«Vielleicht ein anderes Mal. Man braucht viel Geld. Was ich nur allein für Getränke und Limonade ausgegeben habe, ruiniert jeden.»
«Das scheint dich mehr als alles andere beeindruckt zu haben», meinte Abd alMasih. «Du bist nun wieder zurück, und ich nehme an, du wirst dich jetzt stolz alhajj nennen.»
« Wie kann ich stolz sein. Ich sah einiges, worüber ich mich zeit meines Lebens schämen werde. Ich will dir lieber nicht davon erzählen. Doch die Regierung schickte mich, und so ging ich eben.»
«Vors jetzt ab werde ich dich alhajj nennen.»
«Nein, Scheik. Du solltest doch das Sprichwort kennen, daß wir in Kabylisch haben: `Wenn ein Mann einmal eine Pilgerreise gemacht hat, bleibe nicht mit ihm im gleichen Hause. Wenn er zweimal nach Mekka gereist ist, bleibe nicht mit ihm in der gleichen Stadt. Doch wenn er dreimal dort war, so solltest du nicht einmal mit ihm im gleichen Lande bleiben.»

So sah Abd alMasih, während er sich unter dem Volk bewegte, wie es seinen islamischen Glauben praktizierte. Die fünf Säulen des Islam stellten die Hauptkomponenten dieser Religion der Werke dar. Woher kamen sie? Mohammed schrieb sie ab, kopierte sie: Sie imitierten den wahren Glauben, indem alles ein wenig verdreht und frisiert wird. Sie sind sowohl Wahrheit als auch Lüge. Sie sind eine Waffe, die Satan heute gebraucht, um Millionen von Menschen zu blenden.

Sie verkörpern das, was ein Mensch für Gott tun kann. Doch dies muß zwangsläufig unvollkommen sein. Abd alMasih war gekommen, um ihnen zu sagen, was Gott für den Menschen getan hatte und Sein Werk ist immer vollkommen. Das ist der große Unterschied. Der Islam beinhaltet, was der Mensch für Gott tut, das Evangelium bezeugt, was Gott für den Menschen getan hat und tut.

Kapitel 6  –  Zur Offensive antreten

Mit der zunehmenden Gewandtheit in den Fremdsprachen wuchs in Abd alMasih auch das Verlangen, die Botschaft des Lebens weiter hinauszutragen. Die Kabylei ist ein Land der Dörfer. Es gibt nur zwei mittelgroße Städte in der ganzen Gegend: Tizi Ouzou in der Großen Kabylei und Bougie in der Kleinen Kabylei. Viele Kabylen leben auch in Algier. Der Apostel Paulus besetzte zuerst die strategisch wichtigen Städte und stieß dann erst zu den kleineren Zentren vor. Die Städte Algeriens waren seit vielen Jahren mit Missionaren besetzt. Immer gab es jedoch Probleme, wie man Kontakt mit einzelnen Menschen oder ganzen Gruppen knüpfen und auch aufrechterhalten könne. Die Missionarsfrauen finden schneller irgendwie Eingang in die Häuser, hingegen versammeln sich die Männer meist in den riesigen Kaffeehäusern und Moscheen der Städte, in denen es nahezu unmöglich ist, das Evangelium zu predigen. In den Dörfern jedoch läßt sich eher Kontakt mit den Männern aufnehmen.
Der Stamm Beni Seliman (Söhne Salomos) war nur zu erreichen, wenn man eine Nacht in einem ihrer Dörfer zubrachte. Abd alMasih machte sich deshalb eines Morgens früh mit seinem Auto auf den Weg, fuhr ungefähr fünfundzwanzig Kilometer, ließ es dann bei einem freundlichen französischen Straßenarbeiter stehen und informierte ihn, daß er es am nächsten Tag wieder abholen würde. Er packte einen Laib Brot und seinen Schlafsack in einen Rucksack; dazu noch einige Traktate und sein Neues Testament. Schnell stieg er die Schlucht hinunter, die jetzt mit voll erblühten Oleanderbüschen gesäumt war. Nachdem er durch den Fluß gewatet war, begann er seinen langen Marsch.
Er erreichte das erste Dorf, das so winzig war, daß man es schon fast nicht mehr Dorf nennen konnte. Die zwei Dutzend Häuser standen eng zusammen, doch kein Mann war zu sehen. Offensichtlich waren alle auf den Feldern. Er wagte es nicht, zu den Häusern zu gehen, denn die jungen Frauen durften niemals einen fremden Mann sehen; deshalb wurden die Häuser auch von bissigen Hunden bewacht. Manchmal macht sich ein bißchen Kühnheit für den Herrn reich bezahlt. Er zog seine Schuhe am Eingang der Moschee aus, erklomm das Minarett und ließ den Gebetsruf erschallen, indem er sorgsam den Namen des falschen Propheten vermied. Das rüttelte sie auf und brachte die Männer aus ihren Häusern heraus. Binnen weniger Minuten war er von einer Gruppe neugieriger und interessierter Männer umgeben.
Dies war das letzte Dorf dieses Stammes, und um den nächsten Stamm zu erreichen, würde es eines langen Marsches von ca. neun Kilometern bedürfen mit einem Aufstieg über einen gewundenen Ziegenpfad zu einer Höhe von 1200 Metern, bevor man dann zu der nächsten Gruppe von Dörfern dieses Stammes hinunterstieg. Die Sonne brannte auf ihn herab, während er sich mit gemischten Gefühlen weiterschleppte. Doch in ihm war die Begeisterung, zu denen zu gehen, die noch niemals das Evangelium gehört hatten. Ein Drängen war in seinem Herzen, das ihn weitertrieb und die Gewißheit, daß diese Männer ohne Christus in ihrer Sünde sterben würden. Doch empfand er auch das Gefühl äußerster Einsamkeit, eine lauernde Furcht. Wie würde er in diesem neuen und unbekannten Stamm empfangen werden? Wo würde er schließlich die Nacht zubringen? Er kannte keine Menschenseele, und natürlich gab es keine Hotels oder Herbergen, wo er übernachten konnte.
Als er sich dem Stamm näherte, sah er einige ältere Frauen an der Quelle. Sie wuschen Wäsche und füllten ihre Ziegenhäute und Krüge mit Wasser. Er war wie ausgedörrt, deshalb blieb er zirka dreißig Meter vor der Quelle stehen und rief mit abgewandtem Gesicht den Frauen zu: «Alte Frau, bring mir zu trinken!» Die älteste Frau, ein verhutzeltes Weib mit Henna-gefärbtem rotem Haar, brachte ihm einen Krug mit Wasser. Er wandte nur halb seinen Kopf um und sagte: «B ism Allah» (im Namen Gottes) und trank. Als er seinen Durst gestillt hatte, sagte er: «Preis sei Gott» und gab ihr den Krug zurück. Es ist schon eine Kunst, aus einem irdenen Krug zu trinken, ohne ihn mit dem Mund zu berühren und ohne sein Hemd völlig zu durchnässen. Er hatte lange zuvor gelernt, daß ein Mann nie mit einer Frau redet. Wenn er einer Frau auf der Straße begegnen sollte, gibt er kein Erkennungszeichen, selbst wenn er sie gut kennt und sie vielleicht schon bei ihm zu einer klinischen Untersuchung gewesen war. Eine Frau, verschleiert oder unverschleiert, schlägt ihre Augen in der Öffentlichkeit immer nieder und geht vorüber, ohne einen Mann anzusprechen, während er sein Haupt abwendet. Selbst ein Ehemann redet seine Frau nie direkt in der Öffentlichkeit an, und niemals gibt er ihr einen Abschiedskuß, wenn er sie verläßt. All dies ist kabylische Etikette und muß beachtet werden.
Abd alMasih erreichte das Dorf el Koudia, einen malerischer Flecken, dessen rote Ziegeldächer sich gut neben den umgebenden Felsen und Aleppokiefern ausnahmen. Beherrschend war wie üblich die Moschee mit ihrem hohen Minarett. Aus diesem Gebäude ertönte das eintönige Geleier von Stimmen, die den Koran herunterrasselten. Nie zuvor war er in diesem isolierten Dorf gewesen. Er folgte den Lauten und stieß auf eine Gruppe von dreißig Koranschülern im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren. Sie saßen in einem großen Raum auf einer Seite der Moschee. Es war ein theologisches Seminar, eine wahrhaftige Schule der Propheten. Jeder hatte eine hölzerne Tafel, auf die er einen Abschnitt aus dem Koran geschrieben hatte. Sie wiederholten diese Abschnitte und schrieen dabei aus voller Kehle, obwohl jeder einen anderen Abschnitt brüllte. Und doch konnte ihr Lehrmeister, der mit einem langen Stock mitten im Kreis saß, jeden kleinsten Fehler in ihrem Lesen entdecken. Geschah das, dann stieß er an die Tafel des Sündenbocks mit seinem Stock. Diese Lehrer sind so schwer zu erreichen, weil sie stolz, bigott und unnahbar sind. Plötzlich wandte sich der Lehrer um und erblickte ihn. Er kam auf ihn zugerannt, begrüßte ihn, küßte ihn auf beide Wangen, schüttelte freundlich seine Hand und hieß ihn herzlich willkommen. Doch warum diese Begeisterung in einem Dorf, das er noch nie zuvor mit dem Evangelium erreicht hatte?
«Sicherlich erinnerst du dich an mich, Abd alMasih? Ich brachte meine kleine Tochter in deine Klinik. Sie war am Sterben. Du pflegtest sie. Du betetest für uns. Wir brauchten für die Rückreise nahezu sieben Stunden. Wir werden das nie vergessen! Doch Gott erhörte dein Gebet im Namen des Herrn Jesus. Er heilte sie. Heute geht es ihr sehr gut. Willkommen in unserem Dorf und in unserem Stamm.» Ein freundliches kleines Mädchen mit einem farbenfrohen Kopftuch kam herbeigelaufen.
«Schau, hier ist sie, Scheik. Gesund und munter. Gott sei gepriesen! Und aller Dank gebührt dir, Abd alMasih. Komm und iß mit uns!»
«Dank sei dir, oh Lehrer», erwiderte Abd alMasih, «doch nur eines hat mich hierher gebracht. Ich habe eine Botschaft von Gott, die ich euch hier weitergeben muß. Bitte jetzt deine Schüler, ihre Tafeln beiseite zu legen. Gib mir nur zwanzig Minuten, um ihnen zu sagen, wie sie Vergebung ihrer Sünden finden können. Dann können sie mir Fragen stellen.»
Wie Theologiestudenten so sind auch Koranschüler sehr darauf bedacht, ihre Intelligenz in einer Diskussion zur Schau zu stellen. Zwanzig Minuten lang hörten sie Abd alMasih zu. Der saß mit einer Karte, die zwei Wege aufzeigte, vor ihnen. Er zeigte ihnen daran, daß Christus allein der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, und daß Er allein die Last der Sünde hinwegnehmen kann. Viele Fragen wurden noch gestellt, bevor der Moslem-Scheik ihn mit in sein Haus nahm. Dort hatte seine Frau schon eine Mahlzeit vorbereitet. Sie hatte ein Dutzend Eier in ein Gefäß geschlagen, feinen Weizengrieß dazugemengt und daraus ein köstliches Omelett in heißem Olivenöl gebacken, das sie ihm jetzt vorsetzte. Abd alMasih war nach seinem langen Marsch hungrig und langte bei der Mahlzeit kräftig zu. Nachdem er mit dem Scheik eine Weile gesprochen hatte, machte er sich zum nächsten Dorf auf.
Zakoo war ein großes Dorf, und die Männer hatten sich in dem geräumigen Kaffeehaus etwas außerhalb des Dorfes versammelt. Wie gewöhnlich saßen die Männer um ihre niedrigen Tische herum und spielten. Abd alMasih begrüßte sie. Einer von ihnen wandte sich zu ihm und sagte: «Wenn du nur hierhergekommen bist, um uns zu sagen, daß wir nicht stehlen, lügen und töten sollen, dann kannst du wieder fortgehen, denn unsere Scheiks sagen uns das auch. Doch wenn du uns sagen kannst, wie man dem Guten folgen und das Böse meiden kann, dann sprich frei heraus.» Eine Botschaft über Römer 7,18-25 folgte. Aufmerksam wurde sie aufgenommen, ja die Männer ließen sogar ihre Spiele stehen, um zuzuhören.
Nach Beendigung der Botschaft erhob sich Abd alMasih, um wieder weiterzugehen. Einer der Männer stand ebenfalls auf und kam zu ihm herüber. Er sagte: «Ich möchte dir eine Frage stellen, Scheik. Sage mir, würde es dir gefallen, ein ganzes Jahr lang nur eine Mahlzeit zu bekommen?» Abd alMasih mußte zugeben, daß das eine lange Fastenzeit für ihn bedeuten würde. Der Mann fuhr fort: «In diesem Dorf sind wir hungrig. Unsere Herzen sind hungrig. Wir sehnen uns nach einer geistlichen Befriedigung, einer Gewißheit der Vergebung. Unsere Religion befriedigt unsere Herzen nicht.. Domino- und Kartenspiele geben uns diese innere Zufriedenheit, wonach wir uns sehnen, auch nicht. Die Worte, die du da aus jenem Buch liest, gehen uns aber direkt zu Herzen. Und doch kommst du so selten, eine Mahlzeit im Jahr.»
Abd alMasih dachte angestrengt nach. Nie zuvor war er in diesem Dorf gewesen, und es war schon einige Jahre her, seitdem er bei dem Nachbarstamm gewesen war, wo einige dieser Männer ihm begegnet waren. Im vergangenen Jahr hatte er fast einhundertfünfzig Dörfer besucht, doch nur etwa zwanzig lagen an einer «Straße». Zweihundertfünfunddreißig Besuche waren gemacht worden, doch dieses hier lag am Rande seines großen, weiten Feldes. Um es zu erreichen, mußte man viele Stunden lang tief in den Bergen und Hügeln unterwegs sein. Und da gab es noch Menschen in der Heimat, die behaupteten, daß es unmöglich sei, Moslems zu evangelisieren!
Er verließ Zakoo und kletterte zu einer kleinen Kuppe hinauf, von der aus man das Tal überblicken konnte. Neun Dörfer gab es in diesem Stamm, und zwei davon hatte er schon erreicht. Noch zu einem weiteren konnte er an jenem Abend gehen. Schon stieg der Rauch auf von den Häusern, in denen die Frauen die Abendmahlzeit zubereiteten. Er bat Gott, ihn doch an den rechten Ort für diese Nacht zu bringen. Es hing so viel von der freundlichen oder feindseligen Haltung der Menschen in diesem letzten Dorf ab.

Er lenkte seine Schritte zu dem größten Dorf und fand die Männer beim thejmath versammelt, dem Tor zum Dorf. Dort versammeln sich die Dorfältesten, um die Belange der Gemeinde zu besprechen. Strafen werden denjenigen auferlegt, die die örtlichen Gesetze übertreten haben. In der Nähe lag die Moschee, doch der Scheik blieb noch diskret im Verborgenen. Schnell verbreitete sich die Nachricht, daß ein Fremder, der Kabylisch konnte, angekommen war. Die Männer saßen auf den Steinbänken, die das thejmath auf jeder Seite säumten. Hinter ihnen saßen die jüngeren Männer, und ganz im Hintergrund reckte sich eine Gruppe von Jungen die Hälse aus, um besser sehen zu können. Die ganze männliche Bevölkerung hatte sich eingefunden. Ein armer Mann litt offensichtlich unter fürchterlichen Zahnschmerzen. Vor zwei Tagen war er beim Dorfschmied gewesen, der versucht hatte, den Zahn mit einer selbst gemachten Zange zu ziehen. Jedoch hatte er ihn abgebrochen und die Wurzel war geblieben. Abd alMasih untersuchte den Zahn und sah sogleich, daß man die Wurzel so schnell als möglich herausziehen mußte. Er hatte keine Möglichkeit zur Betäubung, doch die Wurzel kam in einem Stück heraus zum offensichtlichen Erstaunen der Zuschauer. Sofort wollte eine ganze Reihe von Männern und Jungen Zähne gezogen bekommen. Doch die Zeit drängte, und sie wurden gebeten, sich bis zum Morgen zu gedulden. Es war so wichtig, noch an diesem Abend eine Botschaft anzubringen. Er setzte sich unter die Männer.
«Möge Gott deinen Vorvätern gnädig sein», sagte einer.
«Möge Er dir deine Sünden vergeben, wenn Er will», fiel ein zweiter ein.
Abd alMasih ergriff die Gelegenheit beim Schopfe.
«Preist Gott, Er hat mir vergeben! » sagte er.
«Niemand kann das hundertprozentig wissen», meinte ein alter Mann.
«Wie können wir wirklich wissen, daß uns Gott unsere Sünden vergeben hat?» ließ sich ein weiterer vernehmen.
Tief im Herzen eines jeden Moslems liegt das große Verlangen nach der Gewißheit der Erlösung. Seine Religion erschöpft sich in Werken. Er glaubt, Gott würde am Letzten Tag seine guten Werke gegen seine schlechten aufwiegen, und erst dann wird klar, ob seine Sünden vergeben sind. Fünfmal am Tage sagt er: «Oh, Gott, sei mir gnädig und vergib mir. » Unzählige Male am Tage betet er: «Asterofer Allah» (ich bitte Gott um Verzeihung). Doch fragt ihn jemand, ob er Vergebung gefunden habe, wird er erwidern: «Ich weiß es nicht. Wenn Gott es will…» Abd alMasih las ihnen die Geschichte von dem gelähmten Mann aus Lukas 5 vor.
«Mensch, deine Sünden sind dir vergeben … Auf daß ihr aber wisset, daß des Menschen Sohn Macht hat auf Erden, Sünden zu vergeben.» Er erinnerte sie an die Opfer in alten Zeiten, an die Geschichte aus 1. Mose 22, an den Widder und daß «ohne Blutvergießen keine Vergebung geschieht.» Schließlich las er aus Apostelgeschichte 10: «Von diesem zeugen alle Propheten, daß durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen.»

Die Stimme des Scheiks ließ sich von der nahegelegenen Moschee vernehmen. Er rief die Gläubigen zum Gebet. Nicht ein einziger reagierte darauf. Sie hörten der Predigt weiter zu. Fragen wurden gestellt. Ein Mann forderte Abd alMasih auf: «Komm!» Er folgte ihm, bis sie zu einer großen Eichentür kamen, die reich mit orientalischen Schnitzereien verziert war. Diese öffnete sich und gab den Weg frei zu einem mit Steinen gepflasterten Hof. In einer Ecke kauten einige Schafe an den Zweigen eines Baumes, den man gefällt hatte. Sein Gastgeber rief nach seinem ältesten Sohn, doch eilte daraufhin seine Frau herbei, um die Tür zu öffnen. «Willkommen in unserem Hause», sagte Ali, sein Gastgeber. Fathema, seine Frau, kam auf ihn zu, zog den Kopf Abd alMasihs bis auf ihre Höhe herab und küßte ihn auf seine Baskenmütze. Sie war in der Krankenstation zur Behandlung gewesen. Dann verspritzte sie etwas Wasser auf den Fußboden, um ihn zu reinigen. Eine Matte wurde niedergelegt, Abd alMasih zog seine Stiefel aus und streckte sich todmüde auf der Matte aus.
Die Suppe kochte auf dem Feuer in einem großen irdenen Topf. In einem darüberhängenden Sieb befand sich couscous, das Hauptnahrungsmittel der Kabylen, welches im Wasserdampf garte. Couscous wird aus Weizengrieß oder Mehl gemacht und zu kleinen Körnern gerollt. Die Suppe besteht aus Zwiebeln, Linsen, Bohnen oder Erbsen und wird mit Gewürzen und Pfeffer scharf gewürzt. Abd alMasih beobachtete, wie Fathema das Tuch abnahm, das sowohl Sieb wie Topf umhüllte, um zu verhindern, daß der Dampf entwich. Sie nahm einige Streifen getrocknetes, wie Leder aussehendes Fleisch aus einer Schüssel mit Wasser und gab sie in die Suppe. Man muß bedenken, daß Abd alMasih für diese Leute ein völlig Fremder war, und daß er spät und völlig unerwartet gekommen war. Ihre Gastfreundschaft Fremden gegenüber stellt viele Christen in den Schatten.
Eine halbe Stunde später nahm Fathema das Sieb, das den couscous enthielt und leerte es in den tharbouth (eine große Holzschüssel, die von Hand aus einem Baumstumpf geschnitzt wird). Mit einer geschickten Handbewegung ölte Fathema den couscous, wobei sie zur Feier des Tages Butter gebrauchte. Sonst wird starkes Olivenöl verwendet. Sie schüttete den couscous in eine andere große Schüssel und steckte eine Reihe hölzerner Löffel hinein.
«Komm her und iß!» sagte Ali. Er, seine beiden Söhne und ein Vetter, der von nebenan gekommen war, hockten sich um die Schüssel auf den Boden. Abd alMasih setzte sich zu ihnen. Jeder machte sich ein kleines Loch in den Berg von couscous und Ali schöpfte etwas Suppe mit Linsen und Bohnen in jedes Loch. Die Fleischstücke kamen oben drauf. Alles sah recht appetitlich aus. Dann sagte der Vater: «B ism Allah» (Im Namen Gottes), und alle begannen zu essen.

Zuerst essen sich die Männer und Knaben bei den Kabylen satt, und diese Familie bildete keine Ausnahme.
Fathema hielt sich im Hintergrund in Rufweite, doch fast unsichtbar im Schatten. Als alle zu Ende gegessen hatten, sagte Ali: «Nimm dir noch etwas.»
«Ich habe genug gehabt», erwiderte Abd alMasih.
«Schäme dich nicht, noch mehr zu essen, iß!» sagte Ali.
«Danke, ich habe genug gehabt. Preist den Herrn.»
«Schwöre, daß du genug gegessen hast!»

Ein Kabyle wird niemals alles aufessen, sondern noch eine ganze Menge übriglassen, um zu zeigen, daß er wirklich genug gegessen hat. Seinen Teller leerzuessen, zeigt äußerst schlechte Manieren an.
Das restliche Essen wurde dann Fathema und den beiden kleinen Mädchen weitergereicht. Kein Fleisch war für sie übriggeblieben. Dennoch waren sie froh, daß sie noch couscous bekamen. In vielen ländlichen Gebieten, in denen Gerste das Hauptnahrungsmittel darstellt; gibt man den Frauen nur die äußeren Hülsen, eine Nahrung, die bei uns noch nicht einmal Vögel fressen würden.

Nach dem Abendessen zogen sich der Vater, die Jungen und der Nachbar die Kapuzen ihrer weiten, wollenen bournouse über den Kopf und legten sich um die glühende Asche des Feuers, auf ihre Ellenbogen gestützt, zurück. Die Frau und die Mädchen hockten hinten im Schatten, und man konnte ihre Gesichter in dem Licht der altmodischen Lampe nur schwer erkennen. In diesem entlegenen Dorf bekam man kaum Parafin, deshalb schwamm ein einfacher Docht in einer irdenen Lampe in Olivenöl. Die Lampe mußte ungefähr alle halbe Stunde mit neuem Öl versorgt werden und gab nur eine rauchende, flatternde Flamme. Doch war das Licht gerade hell genug, um aus dem Neuen Testament vorzulesen. Von den Frauen nahm er nicht die geringste Notiz, er sprach nicht mit ihnen und sie nicht mit ihm. Während des Lesens war er sorgfältig darauf bedacht, kein Wort zu äußern, das Anstoß erregen konnte. Er vermied jeden, auch indirekten Hinweis auf Sünden des Fleisches. Er wußte, daß allein das Wort Ehebruch in einer öffentlichen Versammlung zur Folge haben konnte, dass er dann seine gesamte Zuhörerschaft verlor. Wieviel vorsichtiger mußte er hier sein! Früher hatte er einmal die Geschichte der Frau in Simons Haus gelesen, die des Herrn Füße gesalbt und sie mit den Haaren getrocknet hatte. Sein damaliger Gastgeber gab ihm recht eindeutig zu verstehen, daß das Lesen eines solchen Abschnittes vor den Frauen der Familie einen Verstoß gegen die Etikette darstellte. Jene Frau in Simons Haus offenbarte ihren Charakter zu offen, und das einer Familie vorzulesen, bedeutete, daß man Zweifel an der Moral der anwesenden Frauen hegte.

Als Abd alMasih vom Sohn Gottes sprach, der sie geliebt hatte und für sie gestorben war, fühlte er, daß Gott gegenwärtig war. Wie sehr glich das Ganze einer Szene aus dem Neuen Testament! Nach der Botschaft begannen sie, sich darüber zu unterhalten, und viele wohlüberlegte Fragen wurden beantwortet. Man versuchte nicht, davon abzulenken, sondern es herrschte ein wissensdurstiger Geist. Er bat um Erlaubnis, dieses Haus im Namen Gottes segnen zu dürfen, und Ali gab sie ihm von Herzen gern. Jeder Anwesende streckte seine Hände mit nach oben gehaltenen Handflächen in alttestamentlicher Weise aus, während Abd alMasih Gottes Segen im Namen des Herrn Jesus auf dieses Haus erflehte. Der Nachbar verabschiedete und erhob sich, um zu gehen. Ali begleitete ihn hinaus und verschloß die Hoftür. Danach kam er wieder herein und verriegelte auch die Tür des Hauses. Bis zum Tagesanbruch würde sie geschlossen bleiben, und niemand würde ein- und ausgehen können. Nur Ali hatte das Recht, jene Tür zu öffnen oder zu schließen.

In der Zwischenzeit hatte Fathema noch weitere Matten ausgebreitet. Die Kinder waren schon eingeschlafen und wurden in ihre Decken gerollt. Dann wandte sich Ali an Abd alMasih und sagte: «Ich möchte, daß du meine Frau untersuchst und ihr die notwendige Behandlung gibst.» Sie streckte sich auf einer Matte aus und bedeckte sich mit einem Teppich. Offensichtlich hatte sie eine Geschlechtskrankheit.
Abd alMasih rollte seinen Schlafsack aus und machte ein Bett. Das Ehepaar kümmerte sich sehr um ihn. Sie boten ihm Decken an und sogar ein schmutziges Laken, das er aber bescheiden ablehnte. Er legte seinen Schlafsack auf die Binsenmatten, die den Lehmfußboden bedeckten und hüllte sich ein. Die anderen streckten sich neben ihm aus. Das Licht wurde ausgelöscht, und er versuchte zu schlafen. Hinter ihm lagen zwei wiederkäuende Kühe und ein ganzes Dutzend Ziegen, die für genügend Insekten sorgten. Diese schienen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Fremden mit seiner zarten Haut zu widmen. Er versuchte, wenigstens auszuruhen, wenn er schon nicht schlafen konnte und lauschte dem lauten Schnarchen seines Gastgebers, der sich in seinen schmutzigen, verlausten Decken hin und her warf.
Abd alMasih wartete sehnlichst auf das Krähen des Hahnes, der direkt über seinem Kopf saß, und der damit das Dämmern eines neuen Tages ankündigte. Ali brachte ihm etwas Seife und eine Tasse Wasser. Er goß ein wenig über seine Hände und machte einen Seifenschaum, mit dem er sein Gesicht einseifte. Dann kippte er den Rest des Wassers nach und nach über seinen Rücken und Nacken, um den Schaum abzuwaschen. Wie erfrischend war doch das Waschen mit einem Viertelliter Wasser, nachdem man eine Nacht im Hause eines Kabylen zugebracht hatte! Eine Tasse Kaffee folgte, und dann verabschiedete er sich von seinem Gastgeber.

Er machte sich auf zu dem Versammlungsort der Männer und predigte noch einmal. Viele Zähne und Zahnwurzeln mußten noch gezogen werden, insgesamt dreiundfünfzig. Danach nahm ihn einer nach dem anderen mit nach Hause, wo er noch weitere Zähne ziehen sollte. Schließlich begab er sich auf die Heimreise und besuchte auf dem Rückweg noch eine Anzahl anderer Dörfer. Diese Dorfversammlungen, die große Abendversammlung, zu der oft über hundert Menschen kamen, sowie das traute Zusammensein mit einer Familie um ein Feuer, machten seine zahleichen Bemühungen durchaus lohnend.

Kapitel 7  –  Wir kommen nicht um

«Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängsten uns nicht; uns ist bange, aber wir verzagen nicht; wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen; wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um» (2. Kor. 4, 8-9).

Als Missionar bei den Moslems ist man sich dessen zutiefst bewußt, daß man einem mächtigen Gegner gegenübersteht. Wie ein geschickter Boxer, der einen Hagel von Schlägen auf seinen Gegner herniederprasseln läßt mit der Absicht, ihn k.o. zu schlagen, so versucht Satan immer wieder, das Werk Gottes zu durchkreuzen. Doch der Missionar darf nicht aufgeben, sondern er steht wieder auf und kämpft weiter. Und dabei erkennt er, daß Gott stets neue Möglichkeiten zum Dienst schafft. Welch gutes Beispiel gibt uns Paulus in seinem Leben und Werk!
Es war nie vorgesehen, Lafayette zur Missionsstation zu machen; es sollte vielmehr Ausgangsbasis sein, von der das Evangelium in die umliegenden Stämme und Ortschaften getragen wurde. Doch Lalla Jouhra und Abd alMasih erkannten gleichzeitig die ungeheuere geistliche Not unter Moslems und Europäern in diesem Ort. Sie begannen je eine Kinderstunde für Mädchen und für Jungen. Diese hielten sie in ihrem Wohnzimmer. Nach diesen Stunden waren ihre Möbel gewöhnlich über und über mit Lehm und Schmutz bedeckt. Jeden Sonntag kamen zwischen fünfzehn und zwanzig Franzosen zu den Evangelisationsversammlungen. Für die Missionare war es eine große Freude, ein eigenes Heim zu besitzen und es für die Arbeit des Herrn zu gebrauchen, obwohl es nur aus drei Zimmern und einer Küche bestand, sowie einer Toilette in einem öffentlichen Hof, der allerdings etwa hundert Meter entfernt lag. Das Wohnzimmer diente als Eßzimmer, Klassenzimmer, Versammlungsraum und Empfangszimmer für Besucher.

Niemals vergessen sie den ersten Besuch des römisch-katholischen Priesters. Er war fast ebenso unerfahren wie sie. Nach einer kurzen einleitenden Unterhaltung erwähnte Abd alMasih Johannes 1,12 und bot dem guten Mann eine Bibel an, woraufhin sich dieser anschickte, die ersten Seiten des 1. Buches Mose aufzuschlagen, um das Johannesevangelium zu finden. Dann ging es weiter zum 2. Buch Mose und schließlich ein Sprung in die Psalmen.
«Kann ich Ihnen helfen, Monsieur le curé?» fragte Abd alMasih. Er schlug Johannes 1,12 für ihn auf, und ein sehr interessantes Gespräch schloß sich an.
Der Priester ging wieder und meinte zum Schuldirektor, den er bald darauf traf: «Diese Menschen werden meine Arbeit zunichte machen und mir meine kleine Herde wegnehmen. Was kann ich nur dagegen tun?»
Der Lehrer erwiderte: «Es ist doch so: Wenn Sie die Wahrheit lehren, dann brauchen Sie keine Angst zu haben. Wenn dagegen die anderen recht haben, was erwarten Sie dann? Dann werden Sie wohl Ihre Herde verlieren.»
Am nächsten Tag schickte die Frau des Schulmeisters nach einer Bibel. Sie besuchte auch die Evangelisationsversammlungen, zu denen damals eine ganze Reihe von Katholiken kam. Der Priester hörte von ihrem Interesse und lud sich selbst zum Tee bei ihr ein. Er wollte gerne die protestantische Bibel sehen. Die Frau gab sie ihm. Ohne ein weiteres Wort, ja, ohne einen Abschiedsgruß verließ er fluchtartig das Haus und nahm die Bibel mit. Als ihr Mann nach Hause kam, wurde er wütend und ließ ausrichten, er werde den Priester wegen Diebstahls vor Gericht bringen. Abd alMasih bat ihn inständig, es zu unterlassen. Der Schulmeister schrieb einen Brief an den Priester, in dem er ihn aufforderte, die Bibel sofort wieder zurückzubringen und ihn vor den Konsequenzen bei einer Weigerung warnte. Postwendend kam ein Brief zurück, worin der Priester erwiderte, es täte ihm leid, aber er könne die Bibel unmöglich wieder zurückbringen, denn er hätte sie vor einem Tag verbrannt! Die Fortsetzung dieser Geschichte ereignete sich wenige Monate später, als ein protestantischer Busfahrer sich mit dem Gasthausinhaber im Dorf des Priesters unterhielt. Die Unterhaltung kam auf die Missionare.

«Wir kennen sie nicht, doch haben wir eine ihrer Bibeln, in denen ihr Name steht. Es scheint ein gutes Buch zu sein. Schau, hier ist es!»
«Sag mir», erwiderte der Busfahrer, «wo hast du sie her?»
«Der Priester verkaufte sie mir für dreißig Francs.»
«Aber eine neue Bibel kostet doch nur zehn Francs.»

Diese Tage sind glücklicherweise vorbei. Heute dürfen auch Katholiken die Bibel lesen. Der Böse hatte versucht, einen Schlag durch den Priester anzubringen, doch durch die Gnade Gottes wurde dieser abgewehrt. Er gab sich nicht so leicht geschlagen.

Die Katholiken besuchten auch weiterhin die Evangelisationsversammlungen und schließlich bekehrte sich die Frau des Hauswirts der Missionare, die eine entsetzliche Vergangenheit hinter sich hatte. Aus Furcht davor, sie könnte konvertieren, beschloß der Hauswirt, die Missionare aus dem Dorf auszuweisen. Er verkaufte einfach ohne ihr Wissen das Haus, und sie bekamen kurzfristig die Mietkündigung. Sie konnten so schnell noch nicht einmal einen Raum zum Leben finden. Gottes Werk war gut vorangekommen. Es war ihnen gelungen, Kontakte mit vielen Moslems aufzunehmen; Dutzende von Kindern besuchten die Kinderstunden, viele Häuser standen ihnen offen und Kontakte waren mit vielen Männern geknüpft worden. Gott war am Wirken. Dann dieser Schlag! Die Kündigung! Sie waren ohne ein Zuhause, praktisch auf die Straße gesetzt und hatten noch nicht einmal das Recht, dagegen anzugehen. Wie ihr Herr, hatten sie keinen Platz, um ihr Haupt hinzulegen. Der französische Richter war sehr freundlich und fand schließlich für sie ein Haus in einem arabischen Dorf, etwa sechs Meilen entfernt (ca. 10 km). Doch konnten sie damals kein Arabisch, lediglich Französisch und Kabylisch. Schweren Herzens luden sie ihre wenigen Habseligkeiten auf einen Karren und machten sich zu diesem Dorf auf, in dem sie die einzigen Europäer sein würden. Es war das fanatischste Moslemdorf der ganzen Gegend. Wie niedergeschlagen und deprimiert waren sie, als sie ihrem Heim den Rücken kehrten!

Der Ort, in den Gott sie in Seiner unendlichen Weisheit führte, hieß Hamman. Obwohl seine Bewohner fast ausschließlich Araber waren, gab es doch einige kabylische Frauen, die arabische Männer geheiratet hatten. Dort fing Abd alMasih an, seine vierte Sprache zu erlernen. Er eröffnete eine Art Klinik und begann mit Kinderstunden für Jungen und Versammlungen für Männer. Bald kamen unzählige Menschen zur Behandlung. In dem Maße, in dem seine Sprachgewandtheit zunahm, wuchs die Zahl der Menschen, die zu ihnen kamen. Viele fanden zum Glauben. Selbst in jenen ersten Tagen ruhte der Segen des Herrn auf dieser Arbeit. Fünfunddreißig Jahre lang ging die Arbeit des Herrn in diesem fanatischen Dorf weiter. Fast 8000 Patienten wurden pro Jahr behandelt, und so verbreitete sich die Evangeliumsbotschaft über ein weites Gebiet. In dieses strategische Zentrum führte der Herr sie, und das durch ein Mittel, das Satan als Gegenschlag konzipiert hatte! Satan ist mächtig, doch Gott ist allmächtig. Er ist souverän. Er läßt uns alle Dinge zum besten dienen, doch nur denen, die Ihn lieben. Aber solche Schläge sind für uns Menschen meist schwer zu verkraften.

Das Dorf Hamman erwies sich als ein sehr interessanter Ort. Eine große Anzahl römischer Ruinen war eine ständige Mahnung daran, daß in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung dieser Ort der Sitz zweier Bistümer gewesen war. Ein Gedenkstein mit Namen von zwölf Männern, die für ihren Glauben den Märtyrertod gestorben waren, erinnerte an frühe Christen, die ihrem Herrn treu gewesen waren und dafür leiden mußten. In den Bergen hinter dem Dorf befanden sich etliche Höhlen und Katakomben, die davon zeugten, wie die Menschen, die den Herrn liebten, in den Untergrund getrieben wurden. Wie mußten in diesen Gewölben die Lobeshymnen widerhallen! Die heißen radioaktiven Quellen waren vor Jahrhunderten schon von den Römern nutzbar gemacht worden. Sie hatten weiträumige und kunstvolle öffentliche Bäder errichtet («Hamman» bedeutet Bad), deren Reste noch deutlich erkennbar waren, und von denen sogar einige noch immer in Gebrauch sind. Besonders im Frühjahr und in den Sommermonaten strömten unzählige Kranke Heilung suchend in dieses Thermalzentrum. Viele kamen von weither. Bald war klar, daß dieser Ort ein strategischer Mittelpunkt war, und jetzt lag es an Abd alMasih und Lalla Jouhra, diese neue Station voll auszunutzen.

Die Bevölkerung fand bald heraus, daß Abd alMasih etwas von Medizin verstand und wandte sich hilfesuchend an ihn. Der einzige französische Arzt (für eine Bevölkerung von über 100.000 Menschen) lebte etliche Meilen weiter weg. Bald wurde sichtbar, daß die Missionare durch die Behandlung der Kranken und das Lindern mancher Nöte nicht nur den Menschen einen Dienst erwiesen, sondern ihnen auch ganz praktisch beweisen konnten, wie sehr der Herr sich um sie kümmerte. Die gesamte Bevölkerung bestand aus Moslems und die meisten stammten von den Marabouts oder aus der priesterlichen Kaste. Es war allgemein bekannt, daß sie besonders fanatisch waren und stark gegen solche opponierten, die Christen wurden, ja sie sogar verfolgten. Doch der Herr Jesus hatte gesagt: «Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen.» Er selbst hatte geheilt. Tiefes Mitgefühl ergriff Ihn beim Anblick der Kranken und Leidenden, und Er heilte viele. Als Er Seine Jünger aussandte, gab Er ihnen Macht, alle möglichen Krankheiten und Leiden zu heilen. Praktische Liebe ist eine der wirksamsten Waffen im geistlichen Kampf.

In dieser Zeit bemühten sich Abd alMasih und Lalla Jouhra auch, die Dörfer und Gehöfte in der Umgebung zu erreichen. Es war weit schwieriger, die Leute dazu zu bewegen, daß sie zu ihnen kamen und sich versammelten, um in Ruhe der Botschaft zuzuhören. Wie konnten sie die Männer dazu bringen, daß sie kamen? Wiederum war die Antwort eine kleine Klinik, in der diejenigen, die krank waren, Behandlung und Heilung finden konnten. Gleichzeitig bot sie den Schüchternen und Ängstlichen eine Entschuldigung, die Botschaft zu hören. Die Missionare waren von ihrer Ausbildung und ihren Mitteln her nicht in der Lage, ein Krankenhaus zu eröffnen. In einer kleinen Klinik jedoch würde es ihnen möglich sein, mehr Gewicht und Zeit auf die geistliche Seite ihrer Arbeit zu legen. So kündigte Abd alMasih an, daß zweimal wöchentlich in einer Garage neben ihrem Haus die Kranken versorgt und behandelt würden.

Als Abd alMasih es mit den Leuten zu tun bekam, war er zunächst entsetzt über das viele Leid, das durch Unwissenheit, Vernachlässigung und das Fehlen eines geschickten Arztes herrührte.

Die Leute hatten ihre eigenen, sonderbaren Methoden, um für ihre Kranken und Verletzten zu sorgen. Doch meist wurden Schmerzen und Leiden nur noch verschlimmert. In einem abgeschiedenen Dorf fand er einen Jungen mit einem komplizierten Speichenbruch. Dieser war von einem kabylischen «Knochenspezialisten» behandelt worden. Er hatte vier kleine Holzstücke von ungefähr 15 cm Länge und 1-2 cm Breite fest um den Arm gebunden. Die Hand und der Arm über der Wunde waren auf das Doppelte angeschwollen, das Gewebe direkt um die Wunde herum war zusammengeschrumpft. Die Enden des Knochens stießen schon durch die Haut und rieben sich an den Holzkeilen. Alles war vereitert und mit einem schwarzen, klebrigen, teerähnlichen Zeug zugeschmiert. Die Haut schien zu faulen – und dieser arme Junge befand sich seit fast einem Monat in diesem erbärmlichen Zustand.

Und wie unwissend waren erst die armen Frauen! Ein Baby hatte die Masern. Wie es oft der Fall war, hatte sich dabei eine Augenentzündung eingestellt, doch ein fachmännischer, medizinischer Rat war nicht zu haben. Die guten Nachbarinnen schlugen der Mutter vor, zu feinem Staub verriebenes Glas zu nehmen, die Augenlider hochzuheben und das feingemahlene Glas hineinzutun. Danach sollte sie jedes Auge kräftig massieren. Das Baby würde zwar schreien, doch sie sollte ruhig weitermachen, selbst wenn die Augen anfingen zu bluten. Die Tragödie ist, daß diese arme Mutter die Anweisungen genau befolgte und damit ihr Kind für sein ganzes Leben schädigte.
Um eine Blutung zu stillen, pflastern sie die Wunde oft mit einer Mischung aus Kuhdung und Antimonblüte zu. Dadurch entzündet sich aber die Verletzung, es bildet sich Eiter, und da er nicht entweichen kann, schwillt die Wunde an und platzt schließlich auf. Um eine solche Wunde dann zu reinigen, bevor man einen Verband anlegen kann, braucht unermeßlich viel Geduld und Geschicklichkeit.
Ein häufig angewandtes Mittel, um eine Entzündung oder ein Ödem zu heilen, ist das Ausbrennen. Eine Sichel wird zum Glühen gebracht und die Spitze dann wiederholt in den angeschwollenen Körperteil gestoßen, bis eine ganze Anzahl von kleinen Brandwunden entstanden ist.
Diese Methode wird häufig bei kleinen Kindern angewendet. Man behauptet, daß dies stark mache! Manchmal wird eine rotglühende Nadel direkt ins Fleisch hineingestoßen, ein Stück nicht sterilisierter Faden in das entstandene Loch gezogen und darin belassen, damit das Ganze als Dränage dient.
In der Moschee in Hamman lernen die Jungen den Koran von hölzernen Tafeln, die mit Kalk oder Kreide überzogen sind. Das Kapitel des Korans, das auswendig gelernt werden soll, wird mit einem Griffel aus Schilfrohr auf die Tafel geschrieben. Diesen tunkt man in Tinte aus verkohlter Schafswolle und Gummi. Das Wasser, mit dem die Tafeln abgewaschen werden, nennt man das «Heilige Wasser». In einem großen irdenen Gefäß vor der Moschee bewahrt man es auf, da es für viele Krankheiten als Heilmittel dienen soll. Und die Patienten trinken es auch.
Um Verdauungsstörungen oder Dyspepsie zu heilen, genügt ein Würgegriff an die Gurgel, bis man blau wird und in Ohnmacht fällt. Schwindelanfälle sind oft Begleiterscheinungen von Anämien, und diesen versucht man beizukommen, indem man den Patienten mit zusammengebundenen Füßen, den Kopf nach unten am Hauptbalken seines Hauses aufhängt. Der Patient vertreibt eine oder auch mehrere Stunden in dieser Position. Als sicheres Heilmittel gegen eine ganz gewöhnliche Erkältung gilt das Trinken von einem Achtelliter Paraffin!
Wenn eine gebärende Mutter schon einige Zeit Wehen gehabt hat, beschleunigt man die Geburt dadurch, daß man einen schweren Balken über ihren Bauch legt, oder eine Frau auf ihren Leib drückt.
Augenleiden gibt es unzählige. Einheimische Ärzte operieren auf recht rohe Weise den grauen Star. Sie machen einen Einschnitt in деп Augapfel und nehmen den grauen Star wie eine Erbse heraus. In fünfzig Prozent aller Fälle gelingt die Operation. In vielen Gebieten leidet fast die gesamte Bevölkerung an Trachom oder Hornbildung der Augenlider. Das bringt oft ein Einwachsen der Augenwimpern mit sich. Das ständige Reiben der Wimpern gegen die Augäpfel entzündet das Auge und führt schließlich zu Trübung der Hornhaut und Blindheit.
Ein Patient litt unter Hornhautgeschwüren. Er erschien mit einer höchst seltsamen Vorrichtung am Kopf, von einem arabischen Arzt als Behandlung gegen das Einwachsen der Augenwimpern angewendet. Die äußere Haut des oberen Augenlides war zwischen zwei kleine Holzstöckchen geklemmt. Diese waren mit einem Faden fest zusammengebunden. Dadurch löste sich aber die Haut des Lides allmählich ab und als Folge dessen bildete sich Narbengewebe, wodurch die Wimpern von der Hornhaut weggezogen wurden. Während der Dauer dieser Behandlung wurden die Augen des Patienten offengehalten mit Hilfe zweier Bindfäden, die an einem Kragen um seinen Nacken befestigt waren. Einen Monat lang hatte er seine Augen nicht schließen können, und dadurch hatten sich Hornhautgeschwüre gebildet. Das Prinzip war schon richtig, doch die Methode höchst grausam, und es brachte dem Patienten furchtbares Leid und Schmerzen.
In den ersten Dienstjahren von Abd alMasih und Lalla Jouhra waren die Pocken noch weit verbreitet, besonders in den abgelegenen Dörfern. An einem Ort versammelten sich etwa dreißig Männer und Jungen mit großen, offenen Geschwüren und viele schüttelten sich im Fieber. In ihren Wunders nisteten Fliegenschwärme. Diejenigen, die noch stark genug waren, versuchten sie mit einer Fliegenklappe, bestehend aus einem Kuhschwanz, zu vertreiben. Plötzlich ertönte ein Schrei aus einer nahe gelegenen Hütte: «Vater, komm und hilf mir! Bringe mich doch hin, damit ich geheilt werde!» Ein zwölfjähriger Junge wurde auf einer Trage herbeigebracht. Er bot einen entsetzlichen Anblick. Riesengroße Geschwüre auf seinem ganzen Körper waren in eins zusammengeflossen und bildeten eine einzige eitrige Masse. Fliegen umschwärmten ihn. Er flehte um Hilfe. Was konnte man da noch tun? Es war viel zu spät, um da noch auf Heilung zu hoffen. Er würde bald sterben. Die einfachen Hilfsmittel, die Abd alMasih zur Verfügung standen, gab er weiter. In aller Schlichtheit erklärte er das Evangelium. Zum ersten Mal in ihrem Leben, und für viele auch zum letzten Mal, hörten jene Männer und Jungen vom ewigen Leben, einer Hoffnung nach dem Tode, von der Liebe eines Gottes, der vergibt. Die armen Frauen blieben in ihren Häusern, um lautlos zu leiden und zu sterben. Niemand kümmerte sich um sie.

Vielleicht ekelt sich der Leser, wenn er von diesen Dingen auch nur liest. Ein Diener des Herrn, der unter diesem Volk lebt, ist mit solchem Leid ständig konfrontiert. Vieles davon wird durch Unwissenheit und Mangel an Hygiene verursacht. Wenn er nichts unternehmen würde, um dieses Leid zu lindern, müßte man ihrs als Unmenschen bezeichnen. Er bringt den Seelen die Erlösungsbotschaft, doch muß er auch etwas tun, um körperliche Leiden zu lindern.

In den ersten Monaten wurden die Behandlungen in der Garage durchgeführt, doch bald erwies sich dies als unzureichend. Große Menschenmengen strömten zu der neu eröffneten Krankenstation. In Windeseile verbreitete sich diese Nachricht.
«Kostenlose Medizin!»
«Die Kranken werden bald gesund!»
«Dieser neue Doktor fürchtet Gott. Er betet mit uns und für uns. Gott heilt uns.»
«Ich ging zu ihm, und dort begegnete ich Gott. Gott sprach dort zu mir.»
«Er schickt niemand weg. Geht hin und seht selbst…» Schnell verbreitete sich die Nachricht, und die Zahl der
Hilfesuchenden wuchs immer mehr, so daß die zur Verfügung stehenden Medikamente bald aufgebraucht waren. Abd alMasih hatte kein Geld, um neue zu kaufen. Es blieb ihm nur eines: seinem himmlischen Vater davon zu sagen. Er neigte sich im Gebet und brachte die Not vor Ihn, der niemals versagt. Das Klopfen des Postboten versetzte ihn in Erstaunen, denn in diesem arabischen Dorf wurden Briefe nur einmal in der Woche ausgetragen, und heute gab es normalerweise keine Post. Der Brief war in Torquay, England, abgestempelt und enthielt eine Gabe von ca. 200 DM (damaliger Wert des engl. Pfundes) für die medizinische Arbeit. Abd alMasih kannte niemand in Torquay, aber sein Vater im Himmel hatte die Not auf das Herz dieses unbekannten Spenders gelegt. «Bevor sie rufen, will ich hören.»
Die Wochen verstrichen. Wieder einmal gingen die Vorräte zu Ende. Eine Bestellung bei einer pharmazeutischen Firma wurde aufgegeben. Doch Abd alMasih zögerte, denn er hatte kein Geld, absolut nichts, womit er die Rechnung hätte begleichen können. Er ging zum Markt, und als er wiederkam fand er einen Brief vor. Er öffnete den Brief. Noch einmal enthielt er eine Spende zur Beschaffung von Medikamenten. Sie reichte gerade aus, um die Rechnung und die Speditionskosten von Algier zu bezahlen … nur fünf Pfennig blieben übrig!
Die Leute waren Abd alMasih für seine Arbeit so dankbar, daß sie ihm einen Raum zu einem sehr geringen Mietpreis zur Verfügung stellten. Zweimal wöchentlich wurde in diesem großen Raum, der über einem Kaffeehaus lag, Besuchszeit abgehalten. Er befand sich in unmittelbarer Nähe der Bäder, und doch lag er abseits. Eine separate Tür ging in den Hof, in dem die Frauen warten konnten. Wir wollen einmal einen Blick in diese Arbeit tun.
Bald nach sieben Uhr morgens erscheint Abd alMasih dort und findet schon eine große Anzahl von vierzig bis fünfzig Patienten vor. Einige sind seit den frühen Morgenstunden unterwegs und verlassen ihre Häuser bereits mitten in der Nacht, um rechtzeitig da zu sein. Der Fußboden des Raumes ist mit Matten bedeckt, die Bänke sind so hingestellt, daß sie so vielen wie möglich Platz bieten. Die Frauen huschen zuerst herein und nehmen die hinteren Sitze ein. Nur ein Auge lugt hinter ihrem Schleier hervor. Für viele ist das jährliche Bad der einzige Ausgang während des ganzen Jahres! Die Männer setzen sich auf die übrig gebliebenen Plätze, und dann kann die Versammlung beginnen. Zuerst liest er die Geschichte des Gelähmten aus Lukas 5 vor, erläutert die Botschaft durch Flanellbilder und hebt besonders den Satz: «Sohn, dir sind deine Sünden vergeben» hervor. Eindrücklich stellt er ihnen vor Augen, daß es «ohne Blutvergießen keine Vergebung der Sünden gibt». Daraufhin folgt die Geschichte des Kreuzes. Der Predigt wird aufmerksam zugehört. Völlig in Gedanken steht ein Mann auf. «Los, setz dich hin!» schreien seine Freunde. «Ich möchte kein Wort der Predigt versäumen», sagt er. Dann wird im Namen des Herrn gebetet. Es ist rührend zu sehen, wie diese Moslems während des Gebets ihre Hände mit den Handflächen nach oben ausstrecken. Diese Gebetshaltung, die auch im Alten Testament praktiziert wurde, bedeutet, daß sie den Segen empfangen möchten. Zum Schluß des Gebets bestätigen viele laut das «Amen», und einige küssen ihre Handflächen und streichen sich über Kinn und Brust. Jahre später bezeugte eine der völlig abgekapselten und eingeschlossenen Frauen: «Wenn ich je in meinem Leben Gott begegnete, dann war das in jener Krankenstation.»

Es gibt etliche, die meinen, daß sich ein Missionar ausschließlich um das Wohlergehen dieser Leute kümmern sollte. Sie betonen, daß es unfair ist, Schwäche oder Krankheit auszunutzen, um die Botschaft des Lebens anzubringen. In all den Jahren haben Abd alMasih und viele andere immer wieder versucht, den Patienten vor der Behandlung eine Predigt zu halten, um damit Gott in den Vordergrund treten zu lassen. Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen. Es wäre unlogisch, sich nur um die Linderung seiner körperlichen Gebrechen zu kümmern und die Bedürfnisse seiner Seele zu vernachlässigen. Körperliche, geistige und geistliche Krankheiten sind oft eng miteinander verknüpft. Den Leib allein heilen zu wollen und die Botschaft, die allein retten kann, vorzuenthalten, würde heißen, ein Verbrechen zu begehen. Der Herr sandte Seine Diener aus, um das Evangelium zu predigen. Gehorsam Seinem Gebot gegenüber bedeutet, daß man alles in seiner Kraft Stehende tun muß, um Außenstehende zu erreichen. Als Jünger Jesu müssen wir Rechenschaft ablegen für das ewige Wohlergehen derjenigen, mit denen wir in Kontakt kommen. Mit Paulus kann man sagen: «Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predige! Denn ich muß es tun.»

Einmal war Abd alMasih vollständig erschöpft, nachdem er ohne Mithilfe für mehr als hundert Patienten gesorgt und zweimal gepredigt hatte.
«Ich werde nur noch die untersuchen, die hier sind», sagte er zu den Anwesenden, «und nur noch Medizin geben.»
«Warum meinst du wohl, kommen wir zu dir, anstatt zum tebib zu gehen?» entgegneten sie. «Doch nur deshalb weil du Gott fürchtest und ihn bittest, uns zu heilen. Und Er tut es auch. Wenn es schon keine Predigt gibt, Scheik, dann mußt du wenigstens mit uns im Namen Jesu beten.»
Trotz seiner Abgeschlagenheit fühlte Abd alMasih, daß er dieser Bitte nachkommen mußte. Er zitierte ein kurzes Bibelwort und betete.
Nach Beendigung der kurzen Botschaft begann er dann die Behandlung. Der erste Mann meinte: «Mein ganzer Leib war mit einem sehr schlimmen Hautausschlag bedeckt. Zwölf Jahre hat das gedauert. Ich bin zu vielen Ärzten in Frankreich und in den Großstädten Algeriens gegangen. Doch alle Behandlung war umsonst, bis ich zu dir kam. Jetzt bin ich völlig geheilt. Gott ist mit dir. Ich glaube an den Herrn Jesus. Ich habe diese drei Männer aus meinem Dorf mitgebracht. Wir sind um drei Uhr morgens losgegangen.»
Der nächste Patient ist ein schwerer Malariafall. Der Missionar verabreicht ihm eine Injektion Chinin. Ein anderer leidet unter schweren Verdauungsstörungen. Jeden Tag hatten ihn seine Freunde fast stranguliert in dem wohlmeinenden Bemühen, ihn zu heilen. Ein gutes Abführmittel und eine Dosis Sodiumbicarbonat brachten ihn bald wieder in Ordnung. Darauf folgte ein Mann mit Bindehautentzündung und akuter Bronchitis. Abd alMasih untersucht ihn mit einem Stethoskop und gibt ihm Medizin aus einer der großen Flaschen. Einer nach dem anderen der Männer und Jungen wird behandelt. Die Frauen warten noch immer geduldig. Den Männern ist es nicht gestattet, neugierig herumzublicken, um festzustellen, wer da ist. Die Forderung lautet: «Augen geradeaus», und wehe, es richtet sich einer einmal nicht danach!
Nachdem der letzte Mann behandelt wurde und gegangen ist, wird die Tür verschlossen und verriegelt; die Frauen nehmen ihre Schleier ab, und die Behandlung beginnt. Die erste Frau, schneeweiß und abgemagert, hat fünf Tage lang nichts mehr gegessen. Sie war eines Nachts aufgestanden, um aus einem Krug zu trinken und hatte dabei einen Pferdeegel, der im Wasser schwamm, verschluckt. Das eklige Tier hatte sich hinten im Hals wie eine dicke, schwarze Schnecke festgesaugt. Alle Bemühungen, es zu entfernen, waren vergeblich gewesen, und die Frau wurde durch den Blutverlust ständig schwächer. Mit Hilfe einer Arterienklemme und eines Zungendepressors kann der Egel entfernt und ein blutstillendes Mittel verabreicht werden. Die arme junge Frau ist überaus dankbar. Auch ihr Mann wird es sein, denn eine neue Frau kostet viel Geld.

Die nächste Frau hält ein Baby in ihren Armen. Jetzt wickelt sie es aus seinem Schal aus. Das Kleine schreit erbärmlich, während die Mutter einen schmutzigen, blutgetränkten Lumpen von seinem Kopf wickelt. Sie erklärt dann, daß sie das Baby einen Augenblick allein in seiner Hängematte gelassen habe, um draußen mit einer Nachbarin zu reden. Der erste Schnee war schon gefallen und um das Baby warmzuhalten, hatte sie die Hängematte neben dem Feuer aufgehängt. Das kleine Mädchen war wie üblich fest in Tücher geschnürt. Es hatte soviel gezappelt, daß es schließlich kopfüber in das Feuer gefallen war. Fast das ganze Haar war versengt und ein großer Teil der Kopfhaut voller Brandwunden. Die Schädelknochen kamen unter der teerartigen Substanz, mit der das Ganze dick verschmiert war, zum Vorschein. Dieser Fall sah hoffnungslos aus. Die Mutter weigerte sich, das Kind in ein Krankenhaus zu bringen. Doch geduldige und anhaltende Behandlung führte schließlich zur Besserung. Die befürchtete Gehirnhautentzündung blieb aus, das Kind blieb am Leben und wurde ein hübsches, kleines Mädchen, obwohl es immer ein Kopftuch tragen mußte, da es fast kahl war. In der Kabylei gibt es keine Perücken!

Die nächste Frau hat ein Achselhöhlengeschwür, das schon vor Tagen hätte geöffnet werden müssen. Nachdem alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen sind, wird der Abszeß geöffnet, der Eiter in einer Schüssel aufgefangen und ein Verband angelegt. Daraufhin gibt es Zähne zu ziehen, Malariafälle zu behandeln und ein gutes Dutzend Kinder, die vereiterte Augen haben, zu versorgen. Eine Mutter bittet um Medizin für ihr kleines Mädchen, das mit Durchfall und Erbrechen fast am Rande des Todes steht. Fälle von Tb, Hautkrankheiten, Dysenterie und Husten folgen. Eine Frau möchte wegen ihrer Unterleibsschmerzen behandelt werden. Sie ist tief betrübt, daß sie noch nie ein Baby bekommen hat.
Die letzten beiden Patientinnen sind Mädchen im Alter von vierzehn Jahren; in diesem Land gelten sie schon als junge Frauen, die bald verheiratet werden. Sie dürfen ihr Haus nur verlassen, wenn sie von einem männlichen Verwandten begleitet werden. Er wartet draußen, während sie jetzt der Obhut einer alten Frau unterstehen. Die Gesichtsschleier werden abgenommen, doch welch einen Anblick bieten sie! Eine Bindehautentzündung ist vernachlässigt worden, und ein Trachom hat sich entwickelt. Wenn man dies nicht unverzüglich behandelt, stellt sich zunächst eine Trübung der Hornhaut und schließlich Blindheit ein. Die Augen sind geschwollen, schon wächst eine weiße Haut über jedes Auge. Es ist sehr schmerzhaft. Sie werden behandelt und nehmen Salbe und Augentropfen für zu Hause mit. Zweimal wöchentlich müssen sie eine geraume Zeit lang zur Behandlung kommen. Darüber freuen sie sich, denn gern entrinnen sie ihrem Abgeschlossensein. Abd alMasih hofft, daß sie durch regelmäßige Teilnahme an den Evangelisationsversammlungen auch das Licht in ihre, von der Sünde geblendeten Herzen, scheinen lassen.

Jetzt warten immer noch fünfzig Patienten draußen, bis sie an die Reihe kommen. Schon drei Stunden warten sie. Inzwischen ist auch der europäische Arzt mit seiner gut ausgerüsteten Mobilklinik dagewesen. Auch er gibt allen, die wollen, sofortige und kostenlose Behandlung. Er versorgte sechs Patienten, dann ging er wieder.
«Beeil dich, Scheik, daß wir noch drankommen», sagt ein Mann zu Abd alMasih. «Wir sind heute morgen schon sehr früh weggegangen und über vier Stunden unterwegs gewesen, um hierher zu gelangen.»
«Der Doktor war doch da. Warum bist du denn nicht zu ihm gegangen? Die Behandlung ist auch kostenlos.»
«Scheik, wir wissen, daß du uns liebst. Wir vertrauen dir, und außerdem fürchtest du Gott. Du betest für uns und mit uns. Du erzählst uns von Gott. Darum kommen wir zu dir. Doch diese beiden verschleierten Frauen, die mit mir gekommen sind, wollen jetzt nicht mehr warten. »
Und wiederum füllte sich der Raum bis auf den letzten Platz, die Männer vorn, die Frauen hinten. Eine weitere Predigt, ein Gebet, und dann beginnt die Behandlung erneut. Der erste Patient ist ein Mann mit einem ausgerenkten Kiefer. Er hat einen vierstündigen Fußmarsch hinter sich und seit drei Tagen nichts gegessen. Er kann nur murmeln und hat starke Schmerzen.
«Gib ihm einen festen Schlag auf das Kinn, Scheik!» ruft ein Mann aus der Menge. Abd alMasih setzt ihn auf einen Stuhl in der Ecke, so daß sein Kopf festliegt. Er wickelt sich ein Handtuch um die Daumen jeder Hand, denkt an die Anweisungen, die er schon vor so langer Zeit im Livingstone College erhielt, nimmt den Unterkiefer des Mannes mit festem Griff und bewegt ihn mit Druck nach unten zurück, herum und wieder herauf. Mit einem Knirschen schnappt der Kiefer wieder ein. Beifallsgemurmel erhebt sich bei den Zuschauern.
«Möge Gott deinen Vorvätern gnädig sein!»
«Möge er dir noch viele Kinder geben und deine Familie mehren!»
«Möge Gott dich segnen und dir Gutes tun!»
Der Mann befühlt zaghaft seinen Kiefer, bewegt ihn auf und nieder. Ein breites Grinsen zieht über sein Gesicht.
«Der Nächste bitte.» Und so geht die Arbeit weiter. «Gib mir die Nadel, ich habe Fieber.»
«Ich habe einen Frosch im Hals», beklagt sich ein anderer.
«Mein Bauch springt immer auf und nieder und geht so und so herum», sagt ein alter Mann und gibt mit seinen Händen beredte Beschreibungen.
«Hör, wie die Würmer in meinem Magen wühlen», sagt ein anderer und gestattet, dem Gurgeln in seinem Bauch zuzuhören!
Wiederum sind die Männer zuerst behandelt worden und gegangen. Diе Frauen bleiben. Viele von ihnen sind noch sehr jung. Viele haben Unterleibsprobleme. Eine alte Frau scheint große Schmerzen zu haben. Sie humpelt nach vorn.
«Ich fütterte gerade den Esel, da trat er zurück und mir direkt auf den Zeh», klagte sie. Der Esel hatte so stark zugetreten, daß der Zeh fast ab war. Es war sehr einfach, ihn zu amputieren, die Wunde zu versorgen und einen Verband anzulegen. In einem kabylischen Heim, wo Tiere den engen Raum mit den Menschen teilen, sind solche Unfälle häufig.
Abd alMasih gewann oft einen Einblick in das Privatleben der Menschen. Dies ermöglichte ihm auch, ihre Sitten und Gebräuche zu verstehen, die Knechtschaft der Frauen und den Aberglauben, der ihr Leben beherrscht, zu sehen. Auf diese Weise wurde es ihm möglich, das Evangelium auf ihre Lebensumstände und Bedürfnisse zu beziehen.
Ein alter Mann von über achtzig Jahren hatte sich jedes Jahr eine neue Frau genommen in dem vergeblichen Bemühen, Kinder zu zeugen, damit sein Familienname nicht ausgelöscht würde. Viele dieser Frauen waren noch junge Mädchen. Zur Zeit hatte er zwei Frauen, eine davon war erst vierzehn. Nur finanzielle Gründe hinderten ihn daran, sich vier Frauen auf einmal zu nehmen, die ja jedem Moslem zustehen. Daneben darf er so viele Konkubinen haben, wie er unterhalten kann. Dieser besagte Mann hatte mindestens sechzig verschiedene Frauen gehabt. Doch alles war vergeblich. Es kamen keine Kinder!
Je unwissender die Menschen, desto unbedingter und rascher suchen sie Heilung und Abhilfe für ihre Gebrechen. Manchmal trinken sie eine ganze Flasche Medizin mit einem Schluck. Ein Mann schickte seine kleine Tochter nach Medizin. Er litt unter Kopfschmerzen und starkem Fieber. Bei den Franzosen gibt es ein Wasser, «Eau Sedative» genannt, das bei Kopfschmerzen oft rasche Linderung schafft. Abd alMasih gab dem Mädchen einige Aspirintabletten, ein Abführmittel und eine Flasche mit «Eau Sedative», alles mit strikten Anwendungshinweisen versehen. Der Mann beschloß, in kürzester Zeit gesund zu werden. Er schluckte alle Tabletten mit einem Mal und spülte sie mit dem Wasser herunter. Am nächsten Tag war er vollständig geheilt.

Der Moslem ist ein geborener Fatalist. Eines der wohl bekanntesten und meistgebrauchten Worte in dieser Sprache ist Mektoub (es ist vorherbestimmt). Er wird sich bis zum letzten Augenblick gegen eine Behandlung wehren und entgegen aller Hoffnung mit einer Heilung rechnen.
Vielleicht leiden die Frauen mehr als die Männer aufgrund dieser fatalistischen Einstellung, dieser Unwilligkeit, Rat und Hilfe zu suchen. «Scheik, hast du irgend etwas in deiner Tasche, um meiner Frau zu helfen. Sie stillt ein Baby, doch eine Brust ist viermal so groß wie die andere. Komm und sieh sie dir an!»
Normalerweise hatte Abd alMasih keine Medikamente bei sich, doch immer trug er ein Skalpell und ein oder zwei Instrumente mit sich. Die arme Frau litt entsetzlich. Nächtelang hatte sie vor Schmerzen nicht geschlafen. Die Brust war auf das Vielfache ihrer normalen Größe angeschwollen, das ganze Organ straff gespannt und die Unterarmdrüsen ebenfalls geschwollen. Die Frau hatte Fieber, und es bestand die große Gefahr einer Blutvergiftung. Das einzig Richtige war, den Abszeß zu öffnen. Abd alMasih bereitete das Skalpell vor, trat hinter die Frau und stieß es in die kranke Brust. Mit einem Schrei sprang sie auf und vervollständigte damit die Arbeit, die er begonnen hatte.

Der Abszeß war nun wirklich auf. Der eingeschlossene Eiter spritzte heraus bis hoch an das Dach. Die Wunde zu reinigen, war äußerst schmerzhaft, denn das angrenzende Brustgewebe war stark entzündet und mußte ebenfalls eingeschnitten werden, damit der Eiter entweichen konnte. Schließlich legte er einen Verband an, gab ihr eine Beruhigungstablette und noch bevor er ging, war die Frau fest eingeschlafen. Am nächsten Tag machte sie sich auf den Weg zur Klinik zur weiteren Behandlung. Nach ihrer langen Reise stürmte sie herein, riß den Kopf des Missionars herunter und küßte ihn immer wieder und wieder. Dann küßte sie die Hand, die das Skalpell geführt hatte. Ihre Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Die Behandlung war grob, doch wirksam, und obwohl die meisten keinen Dank über die Lippen bringen, findet sich doch hier und da ein Mann oder eine Frau, die von Herzen dankbar sind.
Wieder daheim, bereitete Abd alMasih Medikamente für den nächsten Kliniktag vor; er war nicht nur Arzt und Krankenpfleger, sondern auch Chemiker, Apotheker und Zahnarzt.

Zähne ziehen gehörte schon zu seiner täglichen Arbeit – einen Mann oder eine Frau mit furchtbaren Zahnschmerzen kann man nicht lange warten lassen. Eines Tages klopfte es an der Haustür. Lalla Jouhra öffnete. Ein Mann mit geschwollenem Kiefer, der offenbar stark entzündet war und große Schmerzen verursachte, stand draußen. Sehr schüchtern fragte er: «Ist der Scheik zu Hause? Ich möchte, daß er meinen Zahn herauszieht.» «Es tut mir sehr leid, doch er ist in den Dörfern und wird nicht vor heute nacht zurück sein.» «Preist Gott dafür», sagte der Mann und ging offensichtlich erleichtert wieder fort.
Ein Kritiker der Missionarsarbeit gab zu der zahnärztlichen Praxis folgenden Kommentar: «Solch ein Kerl wie der Missionar verdient es, in der gleichen Weise behandelt zu werden, wie er die Einheimischen behandelt. Wie würde es ihm ergehen, wenn er sich ohne Narkose einen Zahn ziehen lassen mußte?» Es tut uns allen gut, einmal unsere eigene Medizin zu schmecken.

Es geschah während des Zweiten Weltkrieges, als die Deutschen das Land besetzt hatten. Es gab kein Benzin, es waren kaum noch Autos auf den Straßen, und Reisen war unmöglich. Abd alMasih bekam starke Zahnschmerzen. Vor Tagen hatte er sich bemüht, einen Abszeß an seinem eigenen Arm zu öffnen. Er betrachtete seinen großen Backenzahn. Konnte er sich selbst diesen Zahn ziehen? Mit einem Vorderzahn war es ihm gelungen, doch mit einem Backenzahn? Nein, er mußte Lalla Jouhra darum bitten. Sie hatte noch nie einen Zahn gezogen. Er gab ihr ganz genaue Instruktionen. Sie setzte ihn in einen Stuhl in der Ecke, wo sein Kopf zwischen beiden Wänden lag. Es gab kein Entrinnen.
«Jetzt nimm die Zange, drücke sie nach unten, um den Zahn an der Wurzel in den Griff zu bekommen. Bewege ihn vorsichtig hin und her und ziehe ihn heraus», sagte er zu ihr. Das klang so einfach, doch es gab keine Betäubung. Sie packte den Zahn ausgesprochen gut, aber die leichten Hin- und Her-bewegungen wurden länger als unbedingt nötig. «Zieh, zieh doch!» brüllte er. Und da war er draußen. Das einzige Außergewöhnliche dabei war, daß der Zahnarzt und nicht der Patient in einen Tränenstrom ausbrach. Zweifellos zeigte Abd alMasih jetzt weit mehr Mitgefühl mit dem nächsten Patienten, der zum Zahnziehen kam – nämlich der europäische Arzt!

Eine der wirksamsten Waffen im geistlichen Kampf in den mohammedanischen Ländern ist christliche Liebe, die sich in praktischer Weise zeigt. Es ist eigentümlich, daß der Respekt und das Vertrauen eines Menschen dadurch gewonnen werden, daß man ihm einen Zahn zieht, oder dass man die Dankbarkeit einer Frau zu spüren bekommt, wenn man ihr einen Abszeß öffnet. Doch so war es. Argwohn und Mißtrauen werden abgebaut, wenn die Liebe Christi ausgelebt erfahren wird, und die selbstherrliche, fanatische Art eines Mannes verwandelt sich in eine freundliche, offene Haltung. In Hunderten von Dörfern wurde Abd alMasih willkommen geheißen und seine Botschaft freudig aufgenommen. Die Patienten trugen das Evangelium über ein großes Gebiet weiter, bis hinein in die Wüste Sahara. Doch Abd alMasih war nie als der tebib oder Doktor bekannt. Er war für sie immer der Scheik, der Lehrer. Obwohl Fürsorge und ärztliche Behandlung gern und dankbar in Anspruch genommen wurden, verstanden sie den Grund seines wirklichen Hierseins sehr gut, nämlich Christus bekanntzumachen. Das Wichtigste daran war, daß unter den vielen selbstzufriedenen Moslems, die zur Behandlung kamen, einige schüchterne Menschen waren, die die Wahrheit kennenlernen wollten, jedoch von der Opposition und Verfolgung abgeschreckt wurden, die allen bevorstand, die diese Wahrheit öffentlich annahmen. Solche konnten still und unerkannt unter dem Schutz medizinischer Behandlung auf die Schrift hören. Einige kamen zweifellos dadurch zu Christus und nahmen Ihn an.

Kapitel 8  –  Die Kosten der Jüngerschaft

Zunehmende Opposition in allen Bereichen brachte Abd alMasih zu der Überzeugung, daß der Knecht des Herrn dazu berufen ist, die Leiden seines Herrn auf gewisse Weise zu teilen. Die Bekehrten selbst müssen Verfolgung und Opposition auf sich nehmen. Er fragte sich oft, wie es möglich war, daß hier bekehrte Christen mit den entsetzlichen Schwierigkeiten fertig wurden, die sich ihnen in den Weg stellten? Er wunderte sich über den festen Mut und die Ausdauer, mit der Männer und Frauen, Jungen und Mädchen Verbannung, Schläge und Verfolgung um Christi willen auf sich nahmen. Für ihn war dies der stärkste Beweis für die Realität des christlichen Glaubens.
Abd Allah schien die Abendveranstaltung nicht verlassen zu wollen, obwohl es bereits 10 Uhr abends war. Die Botschaft hatte ihn tief getroffen. Er war offensichtlich beeindruckt, doch konnte er es nicht über sich bringen, sich für Christus zu entscheiden. «Nein;», sagte er, «es ist einfach zu schwer für mich.»
«Sicherlich verstehst du es nicht ganz», meinte Abd alMasih. «Christ zu werden ist das Leichteste in der Welt. Der Herr Jesus starb am Kreuz, um dich zu erretten. Du mußt Ihm einfach vertrauen. Er hat alles getan. Das Werk für deine Erlösung ist schon vollbracht. Du mußt Ihn nur annehmen.»
«Ja, ich weiß. Es ist leicht. Es ist sehr leicht … für dich, doch es ist schwer, sehr schwer für uns», antwortete er.
Was wollte dieser Moslem damit sagen? Er fuhr fort: «Überschlage doch nur einmal, was ich alles durchmachen muß, wenn ich Christ werde. Ich bin fünfunddreißig Jahre und lebe noch in meines Vaters Haus. Ich arbeite für ihn. Als Haupt unserer Familie verkauft er Feigen, Ö1 und Weizen und verwaltet das Geld für uns und finanziert damit unser Essen. Wir leben zusammen auf einem Hof, nehmen unsere Mahlzeiten gemeinsam ein. Wenn ich Christ werde, wird er mich enterben und mich aus seinem Haus weisen. Meine Frau kommt aus einer sehr fanatischen Familie; sie würde mich sofort verlassen. Meine vier Kinder hätte ich alleine großzuziehen.
Ich könnte nicht wieder heiraten, weil ein Christ nur eine Frau nehmen sollte, und ich könnte mich von meiner jetzigen Frau nicht scheiden lassen. Ich würde praktisch verlassen und heimatlos sein, und selbst wenn ich ein anderes Haus oder einen Wohnraum fände, wäre ich ständig von Moslems umgeben. Das bedeutet, daß ich natürlich gezwungen wäre, zum Unterhalt des moslemischen Dorfscheiks beizutragen. Wenn meine Töchter heiratsfähig werden, wird kein Moslem sie heiraten wollen, da sie das Zeichen eines Ungläubigen tragen. Suchte ich eine andere Arbeit, würde mich in diesem Moslem-Land niemand beschäftigen. Wenn die Männer zur Moschee gehen, um zu beten, könnte ich nicht mit ihnen gehen, wenn ich Christ wäre.

In Krankheit und Not würde keiner auch nur einen kleinen Finger rühren, um mir zu helfen. Stattdessen würden sie sich freuen, daß ich unter dem Fluch Gottes stehe und von ihm bestraft werde. Yousef ist Christ, und du weißt sehr wohl, daß ihm niemand half, sein Baby zu beerdigen, als es letztes Jahr starb. Kannst du dir nicht vorstellen, daß ihm fast das Herz brach? Er mußte das Grab selbst schaufeln und sein eigenes Kind begraben, während die Moslems höhnisch spottend dabeistanden und zuschauten. Das fürchte ich am meisten: Spott und höhnisches Gelächter. Sie würden mich einen «ungläubigen Hund» nennen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit müßte ich beweisen, daß ich Christ bin; ich dürfte beispielsweise die frommen Phrasen nicht mehr benutzen, die schon Teil unseres Lebens geworden sind. Ich könnte nicht länger «bei der Wahrheit Gottes» schwören oder «bei dem großen Koran». Auch andere Schwüre, die meine Bekannten dauernd gebrauchen, wären unmöglich. Sie würden versuchen, mich mit Drogen zu verwirren oder sogar mich zu vergiften. Mein Cousin ist Ladenbesitzer; er wäre gerne Christ, doch dann würde mai seinen Laden boykottieren. Meine Kinder mühten leiden. Erst letzte Woche hörte ich es von Zouhra. Sie ist noch ein Kind, doch jedermann weiß, daß sie den Herrn Jesus liebt. Ist dir je zu Ohren gekommen, daß sie jede Woche, wenn sie in deine Kinderstunde kommt, auf der Straße mit Steinen beworfen wird? Ja, Abd alMasih, es ist leicht für dich … doch für uns ist es schwer, sehr schwer.»

Ali kam regelmäßig zu den Versammlungen. Er war Arbeiter und hatte ein Kind, das er unsagbar liebte. Wie aufmerksam hörte er die Frohe Botschaft! Sie war für ihn wie kühles Wasser für eine durstige Seele. Andere bemerkten seine Versunkenheit und Aufmerksamkeit, seine Anteilnahme und seine Ernsthaftigkeit. Sie wollten ihn um jeden Preis zurückhalten. Ein guter Moslem dürfe nicht so regelmäßig Versammlungen besuchen, ira denen der Name Mohammeds nie erwähnt werde, trichterten sie ihm ein. Sie erinnerten ihn daran, daß erst vor einer Woche ein Mann, der ebenfalls diese Versammlungen besucht hatte, aus seinem Haus herausgerufen und erschossen worden war. Obwohl sie genau wußten, daß dieser Unglücksfall nichts mit den Männerversammlungen zu tun hatte, benutzten sie ihn trotzdem, um Ali damit zu drohen. Er erwiderte: «Ihr könnt mit eurem Drohen aufhören, denn ich werde weiterhin hingehen, um etwas über den Herrn Jesus zu hören. Er liebte mich, Er liebte mich so, daß Er für mich starb. Ich liebe Ihn sehr, eher sterbe ich, als daß ich mich von Ihm abwende.» Das waren kühne Worte in einem moslemischen Land.

Wenige Tage später wurde Ali schwer krank und mußte sofort in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Alle Bemühungen, sein Leben zu retten, blieben erfolglos. Er starb, aber er ging zu Christus. Doch hinterließ er eine trauernde Witwe mit einem Kind. Erst nach seinem Tod erzählten Nachbarinnen Lalla Jouhra von den Drohungen, von Alis tapferem Zeugnis und von seiner Entschlossenheit, sich nicht abzuwenden. Sie wußten wie alle anderen, daß Ali als Christ gestorben war. Es war deprimierend, bei den Männerversammlungen seinen leeren Platz zu sehen. Von da an wurde die Gruppe immer kleiner, sein Tod hatte verheerende Auswirkungen auf die Arbeit.

Die Opposition erstarkte wieder, doch die Diener Gottes gaben nicht auf, sondern mühten sich weiter.
Eine der größten Prüfungen für einen Christen ist, wie bereits erwähnt, das Fasten zu Ramadan. Jeder Moslem steht unter dem Zwang, dieses Fasten einzuhalten, d.h., er darf einen Monat lang vom frühen Morgen bis Sonnenuntergang nichts essen. Das Gesetz des Islam besagt, daß jeder, der das Fasten zu Ramadan bricht, als Abtrünniger gilt, und daß es durchaus rechtens ist, einen solchen seiner Habe oder seines Lebens zu berauben. Eine weibliche Abtrünnige soll in einem dunklen Raum ohne Nahrung eingeschlossen und täglich geschlagen werden, bis sie zum Glauben des Islams zurückkehrt.

In einem kabylischen Dorf verrät der aus einem kleinen Haus aufsteigende Rauch, daß die Familie darin das Gesetz des Islams mißachtet, das noch in jedem Moslem-Land in Kraft ist. Mehr noch, es zeugt davon, daß der Mann und seine Frau Christen sind, denn der Mann gestattet seiner Frau, während des Tages Essen zuzubereiten. Ein Mann war erst vor kurzem aus Frankreich zurückgekommen, wo er seine Freiheit genossen hatte. Doch in einem algerischen Dorf im Monat Ramadan zu kochen, ist eine unverzeihliche Sünde. Wie durften diese Leute es wagen, so etwas zu tun! Man mußte ihnen eine Lektion erteilen… Zwei Tage später brachte man das Baby zu den Missionaren, am Rande des Todes. Jede Bemühung, das Kind zu retten, war vergeblich. Es starb. Eine Woche darauf starb die Frau, und wieder eine Woche später der Mann. Bis zum heutigen Tag fluchen die Moslems und bespucken diese Gräber, wenn sie daran vorbeikommen. Ja, es ist schwer, Christ zu sein in einem Moslem-Land.
Verschiedene Methoden werden angewandt, um solchen Leuten das Leben zu nehmen. Eine davon wurde zufälligerweise entdeckt: Ein Waisenkind, das von Missionaren adoptiert worden war, bekam einen chronischen Darmkatarrh. Keine Behandlung half. Kurz bevor das Mädchen starb, fand sich in ihrem Kot ein langes Haar, das Verdacht erweckte. Es war tatsächlich eine abgekartete Sache. Genaue Untersuchungen ergaben folgende Tatsache: Haare aus dem Schwanz eines Esels werden in ein kleines, festes Knäuel gedreht. Dieses rollt man mit etwas Teig zu einem kleinen Kügelchen. Das Kügelchen wiederum wird in den couscous oder berkoukes verrührt und wird dann ohne Kauen hinuntergeschluckt. Der Teig löst sich im Magen auf, die Haare entwirren sich und führen zu einer chronischen Entzündung, für die es keine Heilung gibt. Selbst ein qualifizierter Chirurg, der eine Obduktion vornimmt, kommt dieser Todesursache nicht so leicht auf die Spur. Manchmal wird auch gemahlenes Glas in das Essen gemischt und führt zu einem noch schmerzhafteren Tod. In solchen Fällen ist es äußerst schwer, die dafür verantwortlichen Personen aufzuspüren.

Während den Männern heftige Opposition, Vergiftung oder gar der Tod droht, ist eine Frau andauernder Ächtung und Verfolgung ausgesetzt; sie hat niemand, an den sie sich wenden kann, auch keinerlei christliche Gemeinschaft.
Fathema machte sich über ihre Erlösung viele Gedanken. Ihr Herz war tief berührt, wenn sie daran dachte. daß der Herr Jesus sie so geliebt hatte, daß Er für sie gestorben war. Sie sagte zu ihren Verwandten: «Der Hera Jesus starb für uns alle, nicht nur für die Europäer.» Sofort stellte sich jeder gegen sie. Sie nannten sie kafer, Heidin. Sie glaubte nicht mehr an Mohammed, doch hat te sie noch immer Zweifel. Sie konnte Gottes Wort einfach nicht vergessen, aber wenn Lalla Jouhra sie besuch te, blickte sie furchtsam um sich und fragte: «Belauscht uns auch niemand?» Sie trank die Gute Nachricht förmlich in sich hinein und lieferte sich dem Herrn Jesus ganz aus. Danach war sie überzeugt, nun nicht mehr als Moslem beten zu können und sagte es ihrem Mann. «Warum nicht?» wollte er wissen. «Weil ich Christ bin, und Christen beten nicht auf diese Art.» Er wollte diese Einstellung aus ihr herausschlagen und peitschte sie darum unbarmherzig. Er drohte ihr mit Scheidung. (Um sich von ihr scheiden zu lassen, brauchte er nur seine Hand zu heben und zu sagen: «Du bist von mir geschieden.» Sie mußte ihr Haus und ihre Kinder daraufhin verlassen, zu ihrem Vater zurückgehen und mit einem fremden Mann eine neue Ehe eingehen. Doch ihr Mutterherz sehnte sich nach ihren Kindern.)
Ramadan kam. Sollte sie als Christin, die durch das Blut Christi erlöst war, das Fasten mitmachen? Um Seinetwillen aß und trank sie. Ihr Mann entdeckte bald, daß sie aß. Wiederum drohte er mit einer Scheidung. Als er im Kaffeehaus war, hänselte ihn schon ein Nachbar: «Du nennst dich einen Mann? Und doch erlaubst du deiner Frau, zu Ramadan zu essen? Du hast ja kein Rückgrat.» Eines Tages konnte er es nicht mehr länger aushalten. Sein Stolz war zu sehr gekränkt. Er würde ihr und den Nachbarn schon zeigen, wer der Herr im Hause war! Er kehrte nach Hause zurück und schlug sie erbarmungslos, dann zwang er sie zu fasten. Ihre Schreie und ihr Schluchzen waren den Nachbarn Beweis genug. Jetzt wurde sie selbst von ihren Freunden gemieden. Sie verachteten sie und spuckten sie an, wenn sie sich zeigte; selbst wenn sie an ihrem Haus vorbeigingen, spuckten sie. Ihre Kinder wurden mit Steinen beworfen und geschlagen, weil ihre Mutter eine verhaßte Christin war. Sie beschloß nun, weiterhin heimlich in ihrem Herzen zu glauben. «Warum soll ich weiterleiden? Ich werde im Herzen Christ sein, und es die andern nicht wissen lassen. Gott kennt mein Herz», dachte sie. Sie betete und sie fastete. Ramadan war vorüber, doch um ihren Mann zu versöhnen, fastete sie weiter, um die Tage, die sie versäumt hatte, nachzuholen. Sie bezahlte auch die vorgesehene Strafe dafür, daß sie zu Ramadan das Fasten gebrochen hatte. Ihre Liebe zum Herrn erkaltete. Sie begann zu lügen, um sich zu schützen, und jene tiefe Freude, die sie zuerst erlebte, als sie dem Herrn begegnete, verschwand. Furcht und Scham hielten sie zurück. Nun ist sie weder Christ noch Moslem. Es ist unendlich schwer, in einem Moslem-Land Christ zu werden und zu bleiben.

Waheeba schrieb an ihren Freund, bei dem sie einige Tage gewesen war: «Du weißt ja, daß ich Christin geworden bin. Das erste, was ich tat, als ich nach Hause kam, war zu beten. Dann erzählte ich meinen Eltern davon. Ich erklärte ihnen, warum ich zu Ramadan nicht mehr fasten könnte. Und dann wurde ich … und das ist die Wahrheit … von jedem und allen den ganzen Abend über geschlagen. Sie zwangen mich zu fasten. Ich erwiderte: `Ich werde fasten, doch werde ich es nicht mit der vorgeschriebenen Absicht tun. Ich werde fasten, doch mit dem Wunsch in meinem Herzen, dem Herrn Jesus zu folgen, und nicht dem Islam zu gehorchen’. Sie sagten: `Du hast unseren Glauben verraten.’ Lieber Freund, ich bitte dich inständig, hilf mir, denn sie wollen mich mit einem Moslem verheiraten. Ich bin völlig gebrochen und kann kaum mehr essen. Sie drohten mir, mich hinauszuwerfen. Ich versicherte ihnen: `Selbst dann werde ich meinen Herrn und Heiland nicht verleugnen und Ihm nicht absagen.’ Alle sind gegen mich. Ich bitte dich sehr, suche für mich ein Obdach in einer christlichen Familie. Meine Mutter will ja nur das Geld, das sie bekommt, wenn ich einem alten Mann zur Ehe verkauft werde. Denn je jünger das Mädchen, je höher der Preis. Und ich bin erst fünfzehn.» Vor welch eine Entscheidung wird da ein fünfzehnjähriges Mädchen gestellt: Auf die Straße gesetzt oder durch Gewalt mit einem Moslem verheiratet zu werden!

Basheer war der erste Junge, den Abd alMasih zu Jesus führte, der erste, der getauft wurde und der erste, der um Christi willen den Tod erlitt. Als er zum ersten Mal in die Klinik kam, saß er unter einer Gruppe von Männern,. angezogen mit einem zerlumpten burnous, den er sicher von seinen älteren Brüdern auftragen mußte. Seine Augen waren fast zugeschwollen. Nur unter größten Schwierigkeiten konnte er seinen Kopf heben und Abd alMasih anblicken. Vorsichtig schob dieser die Lider zurück und stellte fest, daß die ganze Hornhaut getrübt war und eine dünne weiße Haut darüberlag. Er hatte den Jungen zwei Tage zuvor in einer armseligen Hütte zum ersten Mal gesehen. Viel Schnee war gefallen. Man hatte Kuhdung auf das Feuer geworfen in dem vergeblichen Versuch, das Haus zu wärmen. Basheer zitterte vor Kälte. Es gab keinen Schornstein, und der Rauch, der die Balken und Wände geschwärzt hatte, stach ihm in die Augen. Ganz offensichtlich handelte es sich hier um ein verschlepptes Trachom. Er war unfähig, zur Moschee zu gehen, zu lesen und die Schule zu besuchen.
Neun Leidensjahre waren seit seiner Geburt vergangen, und jetzt war er zur Behandlung in die Klinik gekommen. Abd alMasih gab ihm lindernde Augentropfen und eine Quecksilbersalbe. Er sagte ihm, wie er sie anwenden solle. Das Ergebnis war, daß innerhalb von fünf Monaten eine gewaltige Besserung eintrat. Er war fähig, die wöchentliche Kinderstunde für die Jungen zu besuchen.

Lalla Jouhra besuchte Basheers Mutter jede Woche. Sie hörte aufmerksam zu, wenn ihr das Neue Testament in ihrer eigenen Sprache vorgelesen wurde. Es gab keinen Zweifel – diese Botschaft war für sie. Sie musste ihrem Glauben offen Ausdruck geben, koste es, was es wolle. «Was hat Mohammed schon für uns Frauen getan? Er hat uns in den Dreck gestoßen, zermalmt wie Korn in einem Mörser. Wir werden nur getreten und geschlagen.» Sie unterstrich mit heftigen Gesten, was sie sagte. «Seitdem ich dem Herrn Jesus vertraue, bin ich in jeder Weise gesegnet worden. Ich bin jetzt frei von all diesem Aberglauben.» Sie nahm die Amulette und den Talisman von ihrem Hals und warf sie ins offene Feuer. So brach sie mit der Vergangenheit. Sie war Christin geworden.

In den Augen der Moslems war es etwas Ungeheuerliches, daß eine Marabout-Frau an Christus glaubte. Schwierigkeiten ließen auch nicht lange auf sich warten. Auf geheimnisvolle Weise verendete ihre einzige Kuh. Dann starben ihre Ziegen, eine nach der anderen. Miriam, die jüngste Tochter, schien besessen zu sein. Sie wurde wahnsinnig und starb bald darauf. Eine Katastrophe nach der anderen befiel die Familie. Jedes Mal war es ein furchtbarer Schlag für diese gläubige Frau. Wie sehr freute sie sich auf die Besuche von Lalla Jouhra! Hier gab es jedenfalls jemand, dem sie sich anvertrauen konnte. Basheer ging regelmäßig in die Jungenstunde. Obwohl er nicht lesen konnte, lernte er schnell viele Schriftstellen auswendig und vertraute sich bald dem Herrn als seinem Heiland an. Die übrigen Mitglieder der Familie wollten nichts davon wissen. Weder Basheer noch seiner Mutter war es möglich, laut und offen zu beten. Jeden Abend kroch Basheer deshalb ins Bett seiner Mutter, dann zogen sie die Decke über den Kopf und besaßen auf diese Weise eine kleine «Kapelle». Sie beteten gemeinsam im wunderbaren Namen des Herrn Jesus. Die Mutter lernte viel von ihrem Sohn, da er ihr die Lektionen aus den Kinderstunden wiederholte.

Eines Tages in der Klinik-Versammlung zitierte Abd alMasih zwei Schriftstellen, die Basheer gelernt hatte: «…daß Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift, und daß er begraben ist, und daß er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift..» und «Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde.» Hell ertönte die Stimme des Jungen, als er nach diesen beiden Versen laut sagte: «Das glaube ich in meinem Herzen! Ich weiß, daß Jesus für mich starb.» Welch haßerfüllte Blicke richteten sich auf ihn! «Wa ma qatalu hu, wa ma salabu hu», widersprach einer (sie töteten ihn nicht, sie kreuzigten ihn nicht). «Ich glaube, daß Er für mich starb», sagte Basheer. Aber er war ja noch ein Kind, dazu fast blind. Sollte doch seine Familie mit ihm fertig werden. So ließen sie ihn gehen.
Einige Monate lang hörten die Besuche von Lalla Jouhra auf. Das Missionarsehepaar war auf Heimaturlaub. Basheer und seine Mutter mussten jetzt auf eigenen Füßen stehen. «Es ist nun an der Zeit, diese furchtlose Frau, die behauptet, Christin zu sein, in Angst und Schrecken zu versetzen», dachte der Oberste des Dorfes. «Ich werde ihr eine Lektion erteilen, die sie niemals vergessen wird. Ich stelle sie öffentlich als Christin bloß.» Sie war eine entfernte Verwandte von ihm, trug den gleichen Namen, und so hatte er Zugang zu ihrem Haus. «Wenn du deinem Glauben an Christus nicht absagst und äußerliche Beweise dafür gibst, daß du eine Moslemfrau bleibst, werde ich dich vor allen bloßstellen. Beweise uns, daß du an Mohammed glaubst! Bete und zeuge im Namen Mohammeds, kaufe Amulette, die die Verse des Korans enthalten, und trage sie, oder … du wirst schon sehen, was wir mit einer abtrünnigen Frau machen!» Sie war zu Tode erschrocken. An wen sollte sie sich wenden?
Es gab keinen, außer ihrem Herrn, und so schüttete sie Ihm ihr angstvolles Herz aus.

Zwei Tage später kam eine alte Frau zu ihr. «Muwatata, hast du die Nachricht schon gehört? Der Oberste des Dorfes ist tot. » Es schien fast unglaublich, daß jener große, starke Mann so plötzlich von Gott gerichtet worden war. «Hörst du nicht das Klagen der Weiber? Heute wird er begraben. » Konnte es denn wirklich möglich sein? Der Mann, der gedroht hatte, sie bloßzustellen, sie zu mißhandeln, und der alles dransetzen wollte, damit sie Christus absagte, war tot! Sie war gerettet. Mehr noch, jeder würde erkennen, daß Gottes Hand stärker ist.

Sie war nun mehr denn je von der Macht Gottes überzeugt. Als Lalla Jouhra vom Urlaub zurückkehrte, sagte Fathema: «Ich dachte, du hättest mich für immer verlassen und mich vergessen. Doch der Herr Jesus hat mich nie verlassen. Er war und ist hier in dieser kleinen Hütte bei mir. Ich bin mehr denn je überzeugt davon, daß Er allein der wahre Weg ist.» Welch eine Ermutigung war das für Basheer! Gott hatte den Glauben seiner Mutter gerechtfertigt und verteidigt. Da beschloß auch er, den Weg ganz zu gehen.
Die Stunden für die Jungen begannen wieder, und jede Woche kamen fast dreißig. Der Moslem-Scheik schrieb sich die Namen aller Jungen auf, die diese Stunden besuchten. Das mußte um jeden Preis aufhören! Zwei starke Burschen wurden beauftragt, ihm dabei zu helfen. Einer nach dem anderen wurden die Jungen von diesen Burschen abgefangen, in die Moschee geschleppt und dort brutal zu Boden geschleudert. Es bestand ja schließlich die Gefahr, daß sie Christen würden. Ihre Füße wurden zusammengebunden und von einem der Burschen hochgehalten, während der andere den bastinado schwang. Sie heulten und schrieen und wehrten sich, doch es half alles nichts. Erst nach fünfundzwanzig Schlägen wurden sie freigelassen. Mit geschwollenen und blasenübersäten Füßen schleppten sie sich davon. Basheer teilten sie eine Sonderbehandlung zu. «Wir werden dir schon helfen, Christ zu werden. Das ist strikt verboten», sagten sie.

In der nächsten Woche kam Basheer doch heimlich und vorsichtig in die Stunde. Beobachtete ihn jemand? Er hatte große Angst. Doch er kam … allein.

Jahre vergingen. Abd alMasih lebte jetzt in Lafayette, und jeden Sonntagmorgen wurde ein Gottesdienst für Christen abgehalten. Das bedeutete für Basheer und seinen Freund einen weiten Fußmarsch. Basheer war jetzt ein Junge von fünfzehn Jahren, und in diesem Alter sind Moslems verpflichtet, das Fasten zu Ramadan einzuhalten. Sein Bruder Belhaj wußte sehr wohl, daß Basheer zum Mittagessen bei den Missionaren bleiben würde, obwohl Ramadan war. Warum gestattete er seinem jüngeren Bruder, ständig die Familie zu entehren? Er würde ihm eine Lektion beibringen, die er sein Lebtag nicht vergessen sollte.

Mit einem Stock bewaffnet, versteckte sich Belhaj hinter einem Felsen und wartete, bis die beiden Jungen die Straße herunterkamen. Vom Dorf waren sie weit genug entfernt, so daß das Schreien der beiden nicht gehört werden konnte. Er stürzte hervor und ergriff seinen Bruder. Mit entsetzlicher Gewalt traf der Stock den Rücken des schwachen Jungen. «Da hast du’s… Ich werde dir schon helfen, das Fasten zu brechen und ungehorsam zu sein.» Basheer fiel bewußtlos zu Boden, doch Belhaj ließ weiterhin Schlag auf Schlag auf den schwachen Körper seines Bruders niederregnen. Basheer erlangte mittlerweile das Bewußtsein wieder und flehte um Gnade, doch er stieß auf taube Ohren. Schließlich hatte sich der Zorn seines Bruders abgekühlt. Halb trug, halb trieb er den armen Jungen zurück zum Dorf, indem er ihn mit weiteren Schlägen traktierte. Hier angekommen, schleppte er ihn zur Moschee, wo ihn eine weitere Tracht Prügel vom Scheik erwartete.

Schließlich ließen sie Basheer frei, damit er sich nach Hause schleppen konnte. Seine Mutter breitete die Matte aus und machte sein Bett. Behutsam bedeckte sie ihn mit Decken. Bald darauf bekam er Fieber, und eine Lungenentzündung stellte sich ein. Seine Mutter ermunterte ihn: «Gott hat noch eine Aufgabe für dich, mein Sohn. Er wird dich nicht sterben lassen.» Wie sehr schmerzte doch sein armer Körper. Wo war sein Freund Abd alMasih? Warum kam er nicht? Sicherlich hatte er davon erfahren. Doch niemand hatte es ihm gesagt. Erst zehn Tage später erfuhr er davon und besuchte sogleich Basheer, der noch von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken bedeckt war.

Er genas, doch sein Gesundheitszustand blieb schlecht. Wenig später im Winter bekam er erneut eine Lungenentzündung. Seine Mutter bat Bethaj, doch zum Missionar zu gehen und ihn herzubitten. Dieser lehnte strikt ab. «Möge Gott ihn und seine Religion verfluchen! Möge er ihn mit Blindheit schlagen. Eher möchte ich meinen Bruder sterben sehen, als zu einem Christen zu gehen und um Hilfe zu bitten.»
Im folgenden Jahr wollte Basheer seinen Bruder nicht wieder herausfordern und beschloß deshalb, während Ramadan zu Hause zu leiben. Er richtete sich in einer kleinen Wächterhütte im Garten ein, wo er die Gurken bewachen sollte. Ratten waren seine einzigen Gefährten. Doch er konnte Gurken und Granatäpfel knabbern und so das Fasten brechen. Noch einmal lauerte ihm sein Bruder auf und schlug ihn zusammen. Daraufhin marschierte er dreißig Meilen (48 km) zu Fuß zu Verwandten seiner Mutter in der Kabylei. Dort blieb er, bis das Fasten zu Ende war.

«Es ist der glücklichste Tag meines Lebens», sagte Basheer, als er, ein Marabout, getauft wurde. Er war achtzehn und endlich ein Mann! Welch ein Sieg war das für den Herrn! «Jetzt ist es mir möglich, meinem Herrn zu gehorchen!» bekannte er. Jeden Sonntag nahm er am Abendmahl und am Gottesdienst teil.
Neun Monate später wurde Abd alMasih wiederum zu ihm gerufen. Er war entsetzt, seinen abgemagerten Körper und seinen angeschwollenen Leib zu sehen, von seinen furchtbaren Schmerzen zu hören und die untrüglichen Symptome der Dysenterie (Ruhr) festzustellen. Er tat sein Möglichstes, um ihn zu behandeln. Er besaß kein Auto, denn während des Krieges gab es kein Benzin. Es gab auch nur sehr wenig Medikamente. Alle Bemühungen, Basheers Leben zu retten, hieben erfolglos. Er ging zu seinem Herrn – neun Monate nach seiner Taufe. «Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich.» Es war so schwer, in einem Moslem-Land Christ zu sein.

«Nimm auf dein Kreuz und folge Christus,
und leg es nieder erst beim Tod.
Nur wer es trägt, darf hoffen fest,
die Krone zu gewinnen.»

Kapitel 9  –  Von der Geburt bis zum Tode gebunden

Wenn ein weibliches Kind geboren wird, legt man ihm die Arme an die Seite, die Füße zusammen und umwickelt dann den ganzen Körper mit schmutzigen Lumpen, so daß nur noch die Füße herausschauen. Die Wiege ist recht primitiv und baumelt von einem Balken am Dach herab. Durch das Einwickeln ist das Baby praktisch unfähig, sich zu bewegen. Auf diese. Weise verbringt das kleine Mädchen die ersten Monate seines Lebens, ohne daß es je die Decke wegstrampeln oder sich irgendwie bewegen kann… Bevor eine Moslem-Frau beerdigt wird, wäscht man ihren Körper und umwickelt ihn dann mit etwa sechzehn Metern Stoff. So ist der ganze Leib vor dem Begräbnis eingebunden.
Welch treffendes Bild für eine Moslem-Frau, die von der Geburt bis in den Tod hinein gebunden ist! Wir lesen in den Evangelien von einer Frau, die Satan achtzehn Jahre lang gebunden hatte, doch durch die Kraft Jesu wurde sie befreit. Der Feind der Seelen hält Millionen von Moslem-Frauen und Mädchen gefangen in den grausamen Sitten und Gebräuchen des Islams. Diese erniedrigen, entwürdigen und zerstören sie.

Sorgfältige Beobachtungen über viele Jahre hinweg haben den Eindruck bestätigt, daß es in Nordafrika viele Frauen gibt, die ernsthafte Christinnen sind. In ihrem Eifer und ihrer Liebe für den Herrn, ihrer Hingabe an Sein Wort und in ihrem tiefen Wunsch, andere für Ihn zu gewinnen, übertreffen sie oft die Männer. Doch Satan sorgt dafür, daß der Einfluß ihres Zeugnisses sehr begrenzt bleibt. Sie haben Befreiung in Christus gefunden, doch die Beschränkungen, die den Frauen durch Sitten und patriarchale Grausamkeiten auferlegt werden, garantieren dafür, daß ihr Zeugnis auf einen sehr kleinen Umkreis beschränkt bleibt. Dies ist eines der Mittel, mit denen Satan in moslemischen Ländern operiert.
«Komm, und sieh dir unseren kleinen Jungen an, Scheik. Er ist sehr krank; ich fürchte, daß böse Geister von ihm Besitz ergriffen und ihn blind gemacht haben!»

Der kleine Junge war vor ein oder zwei Tagen geboren worden, nachdem die mädchenhafte Mutter fünf Tage lang entsetzlich gelitten hatte. Es war ihr erstes Baby, doch sie war selbst noch ein Kind. Die Geburt hatte sich lange hingezogen, und deshalb hatten sich die kabylischen Hebammen um sie versammelt und alle möglichen Mittel angewandt, um die Geburt zu beschleunigen. Einen schweren Holzbalken rollte man über den Leib der werdenden Mutter, um damit das Kind auszutreiben. Jetzt war sie geschwächt und sehnte sich danach, schlafen zu können, doch das war ihr nicht erlaubt. Sie mußte den ganzen Tag lang ihre Blicke auf ihren kleinen Sohn gerichtet halten, damit die bösen Geister ihn nicht wegnehmen und ein Geisteskind dafür hinlegen würden. Jedes Mal, wenn sie einnickte, wurde sie unsanft wieder aufgeweckt, damit sie weiterhin auf das Kind aufpaßte. Sie lechzte nach einem Trunk Wasser, doch der wurde ihr verwehrt, damit .das Wasser nicht ihren Leib aufquoll. Dagegen gab man ihr Öl und Eier, damit ihre Milch kam. Immerwährendes schrilles Schreien und Händeklatschen der Frauen machten es ihr sowieso unmöglich, richtig zu schlafen. Wie gewöhnlich gab es ein großes Fest, weil das Baby ein Junge war. Salutschüsse wurden abgefeuert und das «you-you» und die gellenden Freudenschreie der Frauen durchdrangen die Luft. Wäre es ein Mädchen gewesen, hätte es kein Fest gegeben. Ein Baby wird nie gebadet, sondern nur mit Öl eingeschmiert, mit Salz abgerieben und dann fest eingewickelt. Wenn die Augen anschwellen und sich entzünden, wird das dem Einfluß der bösen Geister zugeschrieben, nicht aber dem Mangel an Hygiene.

Einigen Mädchen läßt man ihre Freiheit, bis sie vierzehn Jahre alt sind; im unabhängigen Teil Algeriens geht auch eine zunehmende Anzahl von Mädchen zur Schule, besonders in den Städten. Doch jederzeit können sie eingeschlossen werden, und das geschieht oft schon, wenn sie erst zwölf Jahre alt sind. Der entscheidende .Faktor dabei ist nicht ihr Alter, sondern ihre körperliche Entwicklung. Der Grund liegt darin, daß Unmoral grassiert. Die Strafe dafür ist bei einer Frau der Tod, besonders dann, wenn ein unverheiratetes Mädchen schwanger wird. Es hat seiner Familie Schande gebracht. Wenn ein Mädchen ab einer bestimmter Zeit eingeschlossen wird, ist es auf ein Zimmer im Haus angewiesen und darf nicht mehr ausgehen. Das Studium ist beendet. Es darf zwar noch in den eigenen Hof gehen, doch wehe ihm, man ertappt es, daß es auf die Straße hinauslugt! Wenn es je ausgehen darf, dann muß es tief verschleiert sein und von einem männlichen Verwandten oder einer alten Frau begleitet werden. Gelegentlich darf das Mädchen zu öffentlichen Bädern gehen oder einen Arzt aufsuchen. Bei ganz seltenen Gelegenheiten ist es ihm auch einmal erlaubt, an einer Hochzeit teilzunehmen. Eine junge Frau geht niemals spazieren oder einkaufen. Der Herr im Hause bringt alle Nahrungsmittel vom Markt und kauft die Kleider für die Frau beim örtlichen Händler. Den Mädchen in Kleinstädten ist mehr Freiheit gestattet als denen in ländlichen Gebieten. Außerdem werden einem Mädchen aus einer höheren Schicht größere Beschränkungen auferlegt, als einem aus ärmeren Familien.

Ein Mädchen wird unter Umständen schon mit zwölf Jahren verheiratet. Es sieht seinen zukünftigen Ehemann niemals vor der Hochzeit und hat selbst keine Wahl oder Stimme in dieser Angelegenheit. Es hat den Mann zu nehmen, den der Vater ausgesucht hat. Er mag selbst älter als der Vater sein und vielleicht schon drei andere Frauen haben. Für eine kurze Zeit kann sie dann der Liebling des Mannes sein, wird liebkost und verwöhnt, doch bald wird sie als jüngste Frau zum Aschenbrödel des Hauses. Wenn der Vater des Mädchens nicht zu Hause ist, kann es ebenso gut vom Onkel oder Bruder an einen Mann verkauft werden, den diese aussuchen. «Du kannst mit deines Frau tun, was du willst, nur darfst du sie nicht zur Leiche machen», heißt das Sprichwort. «Die Ehe ist wie eine Sklaverei, in der der Mann Herr ist», schrieb ein gelehrter Mann. Die Kinderehe ist noch immer weit verbreitet, obwohl sie durch das Gesetz verboten ist. Sie genießt sogar höchste Anerkennung, denn der Prophet heiratete Ayesha im Alter von sechs Jahren, und sie hatten schon Geschlechtsverkehr, als sie erst neun Jahre alt war. Neun Jahre lang blieb sie seine Frau. Welch unaussprechliches Leid im Leben all dieser vielen Frauen und Mädchen! In aller Ehrlichkeit muß man hinzufügen, daß in den kleinen Städten sich diese Verhältnisse momentan ziemlich ändern. Die Mädchen kämpfen um mehr Freiheit, auch um die Abschaffung des Schleiers. Jungen wie Mädchen fordern, ihre Partner vor der Ehe sehen zu dürfen. Das Gesetz im Lande besagt, daß ein Mädchen vor sechzehn nicht verheiratet werden darf, vor allem nicht ohne seine Zustimmung, doch solche Gesetze werden oft mißachtet. Eine immer stärker zunehmende Anzahl von Mädchen bekommt eine Ausbildung und einige beenden sogar ein Universitätsstudium. Doch wie viele zerbrochene Herzen und zerstörtes Leben sind noch in den Dörfern im Innern des Landes zu finden!

Ein junges Mädchen wird oft Frau von vier oder fünf Männern, bevor es endlich bei einem Ehemann bleibt. Eine Frau kann jederzeit und je nach Lust und Laune ihres Mannes geschieden werden. Ihr bleibt dann keine Wahl, sie muß alles hinterlassen, was sie besitzt, selbst ihre Kinder, und muß zu ihrem Vater zurückkehren. Der Mann braucht nur einfach seine Hand zu heben und zu sagen: «Du bist geschieden», und sie muß gehen. Wiederholt er die Formel dreimal, darf sie nicht zu ihm zurückkehren, wenn sie nicht mindestens eine Nacht mit einem anderen Mann verbracht hat. Wenn sie geschieden ist, bleiben ihre Kinder in der Obhut einer anderen Frau; sie darf sie jedenfalls nie Wiedersehen. Häufig ist ihre Nachfolgerin noch ein junges Mädchen, das sich absolut nichts aus den Kindern macht, die ihr von der vorherigen Frau überlassen worden sind. Eine verheiratete Frau nimmt nie den Namen ihres Ehemannes an, sondern behält ihren Mädchennamen während ihres ganzen Lebens. Abd alMasih saß mit seinem Gastgeber vor einer herrlichen Schüssel mit couscous. Darauf lag ein schöner, fetter Hühnerbraten. Er war zeitig in diesem Dorf angelangt, so daß sie ihm noch eine Mahlzeit zubereiten konnten. Die Hausfrau hatte den couscous und die Suppe schon sorgfältig vorbereitet. Das Huhn wurde noch gefangen, schnell zugerichtet und gekocht. Sein Gastgeber brach es mit den Händen in Stücke. Er gab ein Bein und die Brust seinem Gast und nahm sich selbst die gleiche Portion. Den Rest bekamen seine Söhne, die mit ihm aßen. Seihe Frau schlich im Hintergrund herum. Nach Beendigung der Mahlzeit rief er sie und befahl ihr, die Reste wegzuräumen. Sie mußte zufrieden sein mit dem, was übrig geblieben war, nämlich Hals und Klauen. Das war ihr Teil.

Und doch war dieses Huhn das einzige, was sie wirklich besessen hatte, außer ihrem billigen Schmuck. Sie hatte sich viele Bissen vom Munde abgespart, um dieses Huhn zu füttern, und die Eier, die es gelegt hatte, gehörten ihr. Sie konnte sie verkaufen und das Geld für sich verwenden. Es war das einzige Geld, das sie überhaupt besaß. Doch sie wurde gar nicht gefragt, ob sie das Huhn hergeben wollte. Es wurde ihr einfach genommen … und was für sie übrig blieb, waren Klauen und Hals. Ein ganz alltäglicher Vorfall, doch bezeichnend für die dort herrschende Situation.

Es wäre jedoch falsch, wollte man alle Moslem-Frauen und Mädchen als entsetzlich unglücklich bezeichnen. Oft scheint das Gegenteil der Fall zu sein, denn ihren Kummer verbergen sie. In ländlichen Gebieten besitzen einige Frauen mehr Freiheit als in den Städten. Sie können sich frei in den Höfen ihrer Häuser bewegen. Am Markttag, wenn alle Männer des Dorfes weg sind, können sie auf der Dorfstraße von Haus zu Haus huschen oder zu der Dorfquelle laufen.

Den ärmeren Frauen in den kabylischen Dörfern ist es manchmal gestattet, auf den Feldern zu arbeiten oder Oliven zu sammeln. Frauen mahlen das Korn, sieben Mehl und machen Brot oder couscous. Sie scheren die Schafe, waschen die Wolle und spinnen sie zu Garn. Dann stellen sie die Webstühle auf und weben daraus die buntfarbenen Decken und die nahtlosen Burnusse, die von den Männern getragen werden. Die Decken sind mit schönen Mustern gewoben.

Jeder Lebensbereich der Frau hat mit Fruchtbarkeit zu tun, und deshalb bilden sie auch auf ihren selbst gemachten Decken Felder ab, fließendes Wasser, die Schuppen auf dem Rücken einer Schlange. Dieses Bild geht auf den Garten Eden zurück. Die Fruchtbarkeit der Felder stellt für sie einen engen Zusammenhang mit der Fruchtbarkeit in der Familie dar. Die Decken bringen das oft in plastischer Form zum Ausdruck. Frauen hüten die Tiere, melken die Kühe und die Ziegen. Sie tünchen die Wände der Häuser innen und außen. Sie formen деп Ton und brennen ihn im Hof; manchmal werden kunstvolle Muster eingebrannt. Die Männer erledigen alles, was mit Nähen und Sticken zusammenhängt, obwohl jetzt auch eine zunehmende Zahl von Frauen mit Nähmaschinen arbeitet.

Die Angst ist der beherrschende Faktor im Leben der Moslem-Frauen. Sie stehen immer unter der Knute des Mannes. Ihre Brüder ermuntert man schon im frühen Kindheitsalter, sie zu schlagen und zu mißhandeln. Als Kind wird ihr beigebracht, die Macht der bösen Geister zu fürchten, die durch einen um den Hals hängenden Talisman oder Amulett symbolisiert wird. Wenn sie verheiratet ist, untersteht sie in allem ihrem Mann, der sie zwingt, jeder seiner Launen nachzukommen. Die Furcht vor einer Scheidung hängt wie ein Damoklesschwert über ihrem Haupt. Sie fürchtet die uneingeschränkte Macht ihrer Schwiegermutter, die ihren Haushalt kontrolliert. In den jungen Jahren wurde die Schwiegermutter gezwungen, Leid zu erdulden, und aus Rache und Neid ist sie darauf bedacht, ihrer Schwiegertochter mindestens genausoviel zukommen zu lassen, wenn nicht noch mehr. Sie überzeichnet Fehler und Unzulänglichkeiten der Frau vor ihrem Sohn und fordert ihn auf, sie zu züchtigen. Wenn eine zweite Frau da ist, dann fürchtet sich jede davor, von der anderen bei ihrem Ehemann zurückgesetzt und schließlich hinausgeworfen zu werden. Sie hat Angst vor den scharfen Zungen der alten Frauen, die von Haus zu Haus schleichen und Gerüchte verbreiten, um Mann und Frau auseinander zu bringen. Wenn ein Baby geboren ist, dann fürchtet sie die Nachbarinnen, die es ihr nehmen wollen. Eine Nachbarin betritt das Haus und gratuliert: «Was für ein süßes Baby!» Dabei fällt auf das Kind aber ein böser Blick. Bald verweigert das Baby die Nahrung, wird krank, fällt zusammen und stirbt. Die Dämonen sollen das richtige Kind genommen und es mit einem dämonischen Kind vertauscht haben. Über allem steht eigentlich die Furcht vor dem Tod und vor dem Leben nach dem Tod. Viele glauben, daß es für Frauen keinen Platz im Himmel gibt. Selbst in ihrer Andacht bringt die Frau diese Furcht zum Ausdruck. Die Furcht zwingt sie dazu, zu beten, zu fasten und für Mohammed zu zeugen. Sie neigt sich vor Allah und nimmt die unterwürfige Haltung eines Sklaven ein, der sich vor einem strengen Herrn niederwirft. Sie wissen nichts von der Liebe, wie sie uns durch Jesus Christus offenbart ist; diese vollkommene Liebe, die auch die Furcht austreibt.

Für Mädchen und Frauen, die dem Herrn Jesus angehören, bleibt eine fortwährende Furcht vor bösen Zungen, drohender Scheidung, Vergiftung oder Rauschmitteln, Auspeitschungen und Schlägen und vielen anderen Formen von Mißhandlung bestehen.

Es ist überraschend, wie viele von diesen Mädchen und Frauen den Herrn Jesus dennoch lieben. Meistens können sie nur in ihren eigenen vier Wänden erreicht werden, und es ist eine mühselige Arbeit, die oft stundenlanges Reisen mit sich bringt, um zu ihnen zu gelangen. Davon werden wir an anderer Stelle hören; hier nur eine Geschichte:

Sameena, ein achtzehnjähriges Mädchen, geht zur Oberschule und wohnt deshalb auch dort. In der Schule geht man vollkommen frei und unverschleiert. Doch sobald dieses Mädchen in sein Dorf zurückkehrt, muß es einen Schleier umlegen. Sie wohnt in einem Haus hinter der Schmiede ihres Vaters. Während der Ferien gibt es praktisch keinen Ausgang für sie, denn die einzige Tür aus dem Haus befindet sich in der Schmiede. Der Vater oder die Brüder sind dort immer bei der Arbeit. So ist das Mädchen praktisch eine Gefangene, denn niemand kann das Haus verlassen oder betreten, ohne von den Männern gesehen zu werden. Vor zwei Jahren nahm sie den Herrn Jesus als Heiland auf. Doch niemals ist es ihr gestattet, eine Versammlung zu besuchen oder mit denjenigen Kontakt zu haben, die ihr geistlich weiterhelfen können. Sie ist ganz allein auf ihre Bibel und ihren Herrn angewiesen. Einmal, kurz bevor sie zur Schule zurückkehrte, gelang es ihr, ihrer Missionarsfreundin einen mit Bleistift geschriebenen Zettel zu schicken. Darauf stand: «Bitte, schicke mir die Andachten der Schriftenmission. Ich weiß so wenig, doch ich kenne Ihn, und nur das zählt.» Eingesperrt in den vier Wänden ihres Hauses, gebunden durch grausame Sitten und Gebräuche, wie kann solch ein Mädchen dem Herrn dienen! Und doch hatte Sameena einen enormen Einfluß auf das Leben ihrer beiden Cousinen; sie half ihnen, an den Einen zu glauben, den sie so aufrichtig und ernsthaft liebt.

Die Moslem-Frauen sind von der Geburt bis zum Tode gebunden, durch grausame Sitten und Aberglauben, durch islamische Gesetze, durch Menschen und Satan. Nur Christus kann sie befreien und ihnen die geistliche Freiheit geben. Doch viele müssen ihr ganzes Leben in Knechtschaft verbringen. Dennoch, Gott gebraucht die Mädchen und Frauen Algeriens mehr und mehr, um Seinen Plan zu verwirklichen. Kein Ding ist für Gott unmöglich!

 

 Kapitel 10  –  Prüfungen

Für jedes Kind Gottes gibt es Zeiten der Prüfungen. Aus der Bibel wird ersichtlich, daß solche Prüfungen individuell bedingt sind (vgl. z.B. 1. Mose 22). Aus diesem Grund müssen wir den Bericht von den Prüfungen Abd alMasihs und Lalla Jouhras sehr persönlich sehen. Gott prüft niemals zwei Menschen auf genau dieselbe Weise.

Gott hatte ihnen zwei liebe Kinder geschenkt. Daisy war ein nettes Mädchen von neun Jahren. Sie konnte fließend Französisch, Kabylisch und Arabisch neben ihrer englischen Muttersprache. In der Schule lernte sie leicht, hatte auch schon bald dem Herrn Jesus ihr Herz geschenkt und war für ihre Eltern und ihren jüngeren Bruder eine ständige Quelle des Frohsinns. Doch sehnte sie sich nach Kontakt mit Mädchen ihres Alters. Der moralische Verfall in der französischen Schule am Ort machten einen Besuch dieser Schule unmöglich. Anhand von Lehrbüchern und Lektionen unterrichteten Vater und Mutter abwechselnd die Kinder, ohne dabei ihren Dienst für den Herrn einzuschränken.

Im September 1939 hingen dunkle Wolken drohend über Europa. Die ganze Familie befand sich zu dieser Zeit gerade auf einer Missionsstation am Meer in Ferien. Eines Abends spät kam ein Telegramm, das ihnen mitteilte, daß einige Freunde innerhalb der nächsten 36 Stunden nach England gehen würden. Wollte Daisy mit ihnen gehen? Um fünf Uhr früh am nächsten Morgen riefen die Eltern sie in ihr Schlafzimmer und versuchten, ihr die Sache klarzumachen. Wollte sie lieber bei ihnen in Algerien bleiben oder mit nach England gehen? Sie wählte das letztere.

Gott allein kennt die vielen Fragen, die die Eltern in ihren Herzen bewegten, den tiefen Kummer, die bitteren Tränen, die große Sehnsucht und was dieser Abschied sie alle kostete. Und dann die langen Jahre der Trennung! Wann würden sie sich wiedersehen? Bald nach ihrer Ankunft in England brach der Krieg aus. Als später Frankreich fiel, wurden alle Verbindungen zwischen Nordafrika und England unterbrochen. Als sie schließlich nach langen Jahren ihre Tochter wiedersahen, war sie ein hübscher Teenager von vierzehn Jahren. Nach viereinhalb Jahren Trennung kannten sie sich kaum wieder.

Diese Prüfung stellt sich allen Missionaren, die Kinder haben. Für Abd alMasih und Lalla Jouhra gab es zwei Möglichkeiten. Sie konnten den Ruf Gottes ignorieren und das Werk des Herrn verlassen zu einer Zeit, da sie erfahrene Missionare geworden waren und die Arbeit sich gut entwickelt hatte, um wegen ihrer Kinder nach England zurückzukehren. Sie konnten den Kindern dort ein schönes Heim bereiten, sich an ihnen freuen und die Vorteile eines zivilisierten Landes und das Vorrecht christlicher Gemeinschaft genießen. Oder aber sie konnten ihre Arbeit fortsetzen, zu der Gott sie berufen hatte, die Arbeit, die nach der Vorbereitungszeit der ersten Jahre auf sie wartete, was aber bedeuten würde, daß sie ihre Kinder in den wichtigen Entwicklungsjahren der Obhut anderer überlassen mußten. Dies bedeutete auch, daß man das Kind gewissen Gefahren und Versuchungen aussetzte, und das ohne Mutter, deren Stelle niemand in solchen Situationen einnehmen kann. Die Lage war um so schmerzlicher, weil die Mutter selbst Missionarstochter gewesen war und durch die langen Trennungsjahre alles Herzeleid, die schreckliche Einsamkeit, die Sehnsucht, wie andere Kinder auch ihre Eltern da zu haben, sehr genau kannte. Sie wußte auch um die vielen kleinen Opfer, die Missionarskinder bringen müssen. Kann das Wort Gottes uns unter allen Umständen Führung sein? Ganz sicher!

1. Der Herr möchte den allerersten Platz in unserem Herzen. Er sagt: «Wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert» (Matth. 10, 37).
2. Der Herr ruft Jünger, die bei Ihm bleiben, bis das Bauen Seiner Gemeinde beendet und der endgültige Sieg über die Mächte des Bösen errungen ist. Seine Bedingungen in Lukas 14, 26 – 35 machen das ganz deutlich.
3. Der Vater sandte Seinen Sohn aus freien Stücken, das Liebste, das er besaß, in eine Welt, die Ihn verachtete, und Er durchlitt Zeiten allergrößter Einsamkeit. Der Sohn Gottes nahm die Isolierung, das Leid und den Schmerz willig hin, um die Menschen zu erlösen.
4. Der Ruf Gottes in den Dienst gilt für die ganze Lebenszeit. Obwohl sich die Sphäre des Dienstes ändern mag, je nachdem, wieviel Erfahrung wir gesammelt haben, oder das Wesen unseres Dienstes sich vertieft, wird derjenige, der zu den Moslems gerufen wurde, auch weiterhin seine Aufgabe dort haben, derjenige, der nach Afrika berufen wurde, treu in Afrika seinen Dienst tun, bis eindeutige Umstände außerhalb seiner Macht es anders anzeigen.

Doch jeder Knecht Gottes muß diese Entscheidung selbst fällen. Wir sollten kein hartes Urteil aussprechen oder lieblose Kritik an anderen üben, die dazu geführt worden sind, anders zu entscheiden.

Eine Tragödie moderner Missionsarbeit besteht darin, daß viele Ehepaare das Missionsgebiet nach ungefähr vier Jahren wieder verlassen, um niemals wiederzukehren. Nur in den seltensten Fällen werden solche Missionarskinder selber Missionare, und – obwohl das Kind von Missionaren nicht automatisch auch einer werden muß – gerade sie hätten eine denkbar gute Startposition zu dieser Arbeit. Viele haben den großen Vorteil, die Sprache ohne Akzent zu sprechen und darüber hinaus die Fähigkeit, sich selbst, ihr ganzes Leben und ihre Botschaft der Mentalität der Menschen leicht anzupassen.

Die Tochter, die sie um Christi willen ziehen ließen, ist nun seit Jahren im Dienst in Algerien und hat die Herausforderung der Moslem-Welt angenommen.

Als Frankreich im Jahre 1940 ausfiel, waren die Missionare in Algerien von aller finanziellen Hilfe, die aus England kam, abgeschnitten. Die Preise stiegen sofort, die Läden leerten sich, und es war praktisch unmöglich, Kleidung oder Medikamente zu kaufen. Die monatlichen Rationen beschränkten sich auf ein halbes Pfund Zucker, 85 Gramm Ersatzkaffee, ein halbes Pfund Seife, 100 Gramm Paraffin und täglich ein halbes Pfund Schwarzbrot. Die Kleiderzuteilung pro Jahr war ein Meter Stoff für eine Person. Alles andere mußte zu Schwarzmarktpreisen erhandelt werden. Kartoffeln, Zucker, Datteln, Orangen und Holzkohle waren nahezu unerschwinglich. Milch, Butter, Käse, Margarine und Marmelade waren überhaupt nicht erhältlich. Man sollte denken, daß Datteln, Orangen und Holzkohle heimische Erzeugnisse waren, doch selbst diese Dinge waren nur zu fast unerschwinglichen Preisen erhältlich.

Zu all dem wurde ihnen noch zehn Jahre nach ihren ersten beiden Kindern ein kleines Mädchen geschenkt. In Friedenszeiten war es relativ einfach, dem Herrn in allen Bedürfnissen zu vertrauen, denn ein Brief von England brauchte normalerweise nur einige Tage. Kann Gott aber auch einen Tisch in der Wüste decken? Wer versorgt den Missionar unter solchen Umständen? Ist für Gott etwas unmöglich?

Vor Jahren hatte eine katholische Familie die Gottesdienste für Franzosen besucht. Vater, Mutter, Tochter und Enkelin waren vors der Botschaft tief berührt, doch hatten sie keine offene Entscheidung für Christus getroffen. Sie verließen die Gegend und zogen in einen anderen Teil des Landes. Abd alMasih und Lalla Jouhra hatten sie fast vergessen. Nichts ahnend erreichte sie ein Brief von diesen Leuten.

«Liebe Freunde! Frankreich ist gefallen. Wir haben erfahren, daß Sie von allen finanziellen Hilfsmitteln aus England abgeschnitten sind. Bitte haben Sie doch die Freiheit, von unserem Konto abzuheben, soviel Sie brauchen, solange Sie in Not sind. Wir können es nicht ertragen, daß eine Arbeit wie die Ihre, aus Mangel an Finanzen zugrunde geht. Wir möchten, daß die Verkündigung des Wortes Gottes auch weiterhin geschieht, und wir möchten helfen…»

Abd alMasih erwiderte darauf, daß sie unmöglich dieses edelmütige Angebot annehmen könnten, da es eines ihrer Prinzipien sei, niemals Schulden zu machen, und sie wüßten nicht, wann sie dieses Geld zurückzahlen könnten. Postwendend kam eine recht umfangreiche Geldanweisung, auf die jeden Monat eine weitere folgte. Gottes Werk, in Seiner Art getan, wird Seiner Unterstützung nicht ermangeln. Nichts ist für Gott unmöglich!

Auf verschiedene Art und Weise wurde für sie gesorgt. Ein Vertreter besuchte sie, sah die Notwendigkeit neuer Medikamente und schickte ihnen eine große Sendung der Arzneimittel, die seine Firma vertrieb. Das war der letzte Vorrat, den sie für Jahre erhalten sollten. Als der jüdische Arzt dort gezwungen wurde, seine Praxis aufzugeben, überließ er alle Medikamente den Missionaren. Manchmal kamen Kabylen vorbei mit einem Geschenk, etwas Öl, Feigen und dergleichen. Europäische Bauern versorgten sie mit Weizen. Jemand warf ein Vlies geschorener Wolle in den Garten, das man waschen und zu Strickwolle spinnen konnte. Diese gebrauchte man wiederum zum Stricken warmer Kleidung, die während der kalten Jahreszeit so dringend benötigt wurde. Aprikosenbäume und Weinstöcke, die nie zuvor Frucht getragen hatten, trugen überreichlich, und sie konnten Früchte für den Winter trocknen. Der Walnußbaum hatte zehnmal mehr Nüsse als je zuvor.

Ebereschenblätter zusammen mit getrockneten Brombeerblättern ließen sich zu einem hervorragenden Tee brauen. Und so sorgte Gott auf vielerlei Weise für sie.
Als das Baby kam, war die Situation sehr ernst. Alle ihre Vorräte waren wirklich restlos aufgebraucht. Am nächsten Morgen klopfte es heftig an die Haustür, was höchst ungewöhnlich war. Kein Mensch war zu sehen, doch stand auf der Türschwelle ein großer Korb. Darin befanden sich ein großes Huhn, fünf Pfund Butter, vier oder fünf Stück Käse, zehn Pfund Zucker, zwölf Pfund herrliches Mehl und etwas Kaffee! Monatelang hatten sie nichts dergleichen gesehen. Zu guter Letzt waren noch einige alte Laken in dem Korb, aus denen man Windeln für das Baby machen konnte. Die Missionare weinten vor Freude. Wie gut ist Gott, dem sie dienen! Ob in der Versorgung mit zeitlichen Gütern oder mit Kraft, um weiterzumachen. Nichts ist für Gott unmöglich!

Nach der Niederlage Frankreichs fielen die Truppen der «Achse» auch in Tunesien ein, und Hunderte flohen aus Ostalgerien. Später wurde das ganze Land unter deutsche und italienische Verwaltung gestellt. Die Feinde des Evangeliums ergriffen diese Gelegenheit und beschlossen, die geistliche Seite dieser Arbeit endgültig zu stoppen. Abd alMasih wurde gewarnt, daß er von der Sureté, der französischen Sicherheitspolizei, überwacht würde. Viele Franzosen waren tief berührt vom Fall Frankreichs, und eine Anzahl wöchentlicher Versammlungen wurden eingerichtet, um die Evangeliumsbotschaft zu verkündigen. Diese Versammlungen wurden vom Richter und vom Arzt, von Verwaltungsangestellten, den Frauen aller Polizisten, von Juden, Protestanten und Katholiken besucht.

Die Feinde des Evangeliums schickten einen überzeugend formulierten Brief an die Vichy-Regierung, in welchem die Missionare beschuldigt wurden, politische Propaganda zugunsten General de Gaulles zu machen, der damals in England war. Eine Liste von über zwanzig Personen, die die Versammlungen besuchten, war beigelegt. Ganz plötzlich erschien eine größere Polizeiabordnung in der kleinen Stadt. Jedes Haus wurde genau durchsucht. Die Freunde der Missionare waren sehr besorgt. Die Frau eines Beamten besuchte sie und sagte: «Es ist eine sehr ernste Lage, und wir haben Angst, daß wir alle unsere Wohnungen verlieren. Es besteht kein Zweifel, daß man Sie verhaften will oder noch Schlimmeres tun. Was wird dann wohl mit Ihrem Sohn geschehen? Wir raten Ihnen, jede christliche Arbeit einzustellen.»

Was sollten sie tun? Die geistliche Arbeit einstellen? In Zukunft eine soziale Arbeit tun und das Lehren der Schrift einstellen? Ihre Botschaft ein wenig dämpfen? Abd alMasih beschloß, den Verwaltungsbeamten aufzusuchen.

«Herr … ich möchte, daß Sie sehr offen mit mir sind und mir sagen, welche Anschuldigungen gegen uns vorgebracht worden sind.»

«Ich werde ganz offen mit Ihnen reden», erwiderte der Beamte. «Aber sagen kann ich Ihnen gar nichts. Wenn Sie jedoch in die Dörfer gehen, um das Evangelium zu predigen, dann predigen Sie ruhig das Evangelium. Wenn Sie die Kranken behandeln und eine Abmachung mit dem jeweiligen Arzt getroffen haben, dann behandeln Sie auch weiterhin die Kranken. Wenn Sie Stunden und Versammlungen abhalten, dann tun Sie das auch weiterhin. Der Besuch bei den Familien kann auch weitergehen, aber es darf keine politischen Aktivitäten geben.»

Unglaublich! In einer Zeit, in der die Gemüter so erregt waren, wo sie ohne jeden Nachschub aus dem Heimatland auskommen mußten, wo sie mit Inhaftierung bedroht wurden und von mächtigen politischen und religiösen Gegnern umgeben waren und ohne rechtliche Hilfe dastanden, da wurde diesen Missionaren von diesem Beamten, einem aufrichtigen und mutigen Mann, geraten, die Arbeit in allen Bereichen weiterzuführen. Auch das Folgende scheint fast unmöglich – all die führenden Männer der Stadt wurden versetzt, der Arzt verlor das Recht, seine Praxis zu betreiben, der Verwalter verlor seinen Posten, seine Stellvertreter wurden ebenfalls versetzt. Einzig und allein die Diener Gottes blieben, um ohne jede menschliche Hilfe ihre Arbeit weiterzuführen. Im Laufe der Zeit waren alle Privatautos von der Straße verschwunden, doch das Auto der Missionare lief weiterhin mit einem S.P. (service publique)-Zeichen und erhielt eine knappe Ration Benzin monatlich. Es war eine Zeit der Prüfungen. Doch ist bei Gott etwas unmöglich?

Mit der Besetzung Nordafrikas schien alle Missionsarbeit ein Ende zu haben. Einige Missionare wurden inhaftiert, einige in Städte beordert, wo sie in überwachten Räumlichkeiten leben mußten und unfähig waren, mit den Leuten Kontakt aufzunehmen. Die Vorräte lebensnotwendiger Nahrungsmittel und Kleidung waren bald aufgebraucht, und die Lebensumstände wurden äußerst schwierig. Es gab keinen Strom, und die dürftige Zuteilung von Paraffin war unzureichend, um die Lampen lange brennen zu lassen. Selbst Europäer mußten bald nach Sonnenuntergang zu Bett gehen. Das vorhandene Benzin war restlos aufgebraucht, und Busse liefen mit einem Holz- und Kohlebrenner. Selbst für kurze Reisestrecken mußte eine Erlaubnis eingeholt werden. Es schien unmöglich, eine wirksame Arbeit für Gott zu tun. Nichtsdestoweniger tat sich in diesen schweren Jahren eine kleine Gruppe von Christen zusammen, und Abd alMasih und Lalla Jouhra waren fähig, ihre Arbeit weiterzuführen, bis sie 1943 nach England zurückkehrten; sie hatten nie weniger als vierzehn Versammlungen und Stunden pro Woche abgehalten.

Nur zu Fuß oder mit dem Rad konnte man Hamman erreichen. Abd alMasih kaufte deshalb ein sehr altes, recht mitgenommenes Fahrrad. Der Weg bergab, fast 10 km weit, war angenehm, selbst wenn er einen Rucksack voller Medikamente auf dem Rücken trug. Doch der lange Weg bergauf in der Mittagshitze war sehr ermüdend. Es war schwierig, irgendwelche Medikamente zu bekommen, und so bediente man sich der Kräuter und Pflanzen. Doch auch die medizinische Arbeit ging weiter, und Tausende hörten immer noch die Botschaft des Lebens. Die Zahl der Kinder, die wöchentlich die fünf Kinderstunden besuchten, wuchs auf einhundertundzwanzig an. Die älteren Mädchen lernten stricken. Wolle in den Läden gab es nicht; so wurden Vliese gekauft und die natürliche Wolle zu Garn gesponnen, damit die Mädchen stricken lernen konnten. Dann gingen sie wieder nach Hause, um für ihre Familien etwas zum Anziehen zu stricken. Eine große Klasse bestand aus kleinen Arabermädchen, die mit Begeisterung Chorusse sangen und am Ende beim Gebet fest ihre Augen schlossen. Auf der Straße liefen sie vertrauensvoll auf Lalla Jouhra zu, ergriffen sie bei der Hand und führten sie in ihre Häuser, wo sie den Müttern die Bibel vorlesen konnte. Europäer wagten es nicht, den Missionaren gegenüber freundschaftlich zu sein. So war ihnen das Vertrauen und die Liebe der Kinder Freude und Trost zugleich, damals, als sie wegen ihrer Nationalität geächtet und gemieden wurden. Vierzig Häuser standen Lalla Jouhra offen, und sie verbrachte einen Großteil ihrer freien Zeit damit, aus alten Sachen Kleidungsstücke für die Babies und kleinen Kinder zu machen. Es war unmöglich, irgendwelchen Stoff zu bekommen, und auch Wolle war sehr teuer. Viele starben an den Folgen der Kälte, der sie ausgesetzt waren. Einige Familien hatten nur ein einziges, zerlumptes Kleidungsstück für die ganze Familie. Sie blieben im Bett unter der alten Decke, und um sich ein wenig zu bewegen, zogen sie das Kleidungsstück abwechselnd an. Andere machten aus Sackleinwand ein grobes Hemd.

Welch eine Freude war es in dieser Zeit, eine kleine, treue Schar zu haben! Basheer war jetzt achtzehn Jahre alt und wurde getauft. Er half bei der Ausschachtung des Taufbeckens in dem Versammlungsraum und meinte, daß er sich vorkomme, als schaufelte er ein Grab. Neun Monate später war er tot und wurde begraben. Doch bei seiner Taufe hatte er erklärt: «Das ist der glücklichste Tag meines Lebens.» Eine kabylische Frau, namens Kakoo, wurde auch getauft. Ein alter Mann mit Namen Zeetoonee war noch zu schwach, so daß er nicht getauft werden konnte; doch auf wunderbare Weise befreite Gott auch ihn von der Knechtschaft des Islams, und er kam in die Gemeinschaft der Kinder Gottes. Tayeb und andere kamen auch zu den christlichen Versammlungen jeden Sonntagmorgen. Welch eine Freude, Lob und Anbetung von diesen ehemaligen Moslems zu Gott emporsteigen zu hören! Es war alle Opfer wert, weiterhin ein Zeugnis für Gott zu sein und zu sehen, wie Er bei solchen Gelegenheiten wirkte. Bei Beginn der Arbeit war es das Ziel der beiden Missionare gewesen, nicht nur Seelen zu gewinnen, sondern auch auf die Bildung unabhängiger und selbständiger Gemeinden hinzuwirken. Doch die kleine Gemeinde hatte nur ein kurzes Leben. Basheer wurde vergiftet, Zeetoonee starb und auch Ali wurde vergiftet. Kakoo war die Einzige, die noch übrigblieb, doch nach vielen Jahren fiel sie im Glauben zurück. Ein weiterer Schlag! Doch sie gaben nicht auf.

Voller Überraschung hörten Lalla Jouhra und Abd alMasih im September 1942 die Nachricht im Radio, daß britische Truppen an der nordafrikanischen Küste gelandet waren. In all den dunklen Kriegsjahren, als aller Kontakt mit England unterbrochen war, verriegelten sie jeden Abend sorgfältig das Tor, hängten Decken vor die Fenster und schalteten das Radio ein, um im Flüsterton englische Nachrichten zu hören. Es erinnerte sie ständig daran, daß Christen aufhorchen müssen! Sie leben auch in Feindesland und sind von Lügen umgeben. Sie könne nur dann weiterhin wirksam dienen, wenn sie durch das Wort auf die lebendige Stimme des Einen hören, der ganz sicher den Sieg davontragen wird.

Lange Truppenkonvois fuhren jetzt auf den Hauptstraßen, doch Lafayette lag weitab vom Schuß. Abd alMasih wollte sich selbst überzeugen. Er stieg auf das alte, klapprige Fahrrad und fuhr die fast dreißig Kilometer zur Hauptstraße hin. Die Soldaten müssen angenommen haben, dieser einsame Mann, der da an der Straße stand und jubelte, sei verrückt! Sie ahnten sicherlich nicht, daß er Engländer war.

Ihr kleiner Sohn hatte in den vergangenen Jahren viel erlitten. Jedesmal, wenn er hinausging, bewarf man ihn mit Steinen und beschimpfte ihn. Jetzt dagegen war er ein kleiner Held, fuhr mit den Soldaten herum und fungierte als ihr Übersetzer. Die einzigen Schuhe, die es gab, waren aus alten Autoreifen gemacht. Er trug Hosen aus alten Röcken seiner Mutter. Seine Jacke war aus einer gefärbten Decke entstanden und Pullover und Socken waren aus Schafswolle gestrickt. Als er sich an einen Mechaniker heranmachte, der an einem Flugzeug arbeitete, herrschte ihn dieser an, er solle sofort abhauen. Er reckte sich in die Höhe und sagte: «Ich bin Engländer, mein Herr!» Der Mann schob seinen Hut in den Nacken und rief überrascht: «Potztausend, bist du vom Himmel gefallen?» Daraufhin mußte John erst einmal seine Mutter fragen, was das Wort bedeutet. Die Soldaten verwöhnten ihn sehr, doch eines Tages kam er todkrank nach Hause.
«Was hast du bloß gegessen, Junge?»
«Zum Abendessen aß ich eine Büchse Sardinen, zwei Tafeln Schokolade, etwas Büchsenfleisch, Salzkekse und noch etliches mehr. »
«Du hast doch nicht etwa die ganze Büchse Sardinen gegessen?»
«Aber sie sagten doch immer zu mir: `Komm John, hab keine Angst’, da aß ich eben.»

Er war inzwischen sehn Jahre alt, und es war äußerst wichtig, daß er in eine Schule kam. Das Baby litt an Unterernährung und Vitaminmangel, so daß sich die kleinen Fingernägel hochbogen und abbrachen. Sie mußten so schnell wie möglich weg.

Ende Juni schifften sich Lalla Jouhra und Abd alMasih mit ihrer kleinen Familie in Algier auf einem ehemaligen holländischen Schiff nach England ein. Die sonst vier Tage dauernde Reise währte diesmal über einen Monat. Und was für eine Reise das war!

Sie konnten nur danken für die bewahrende Hand Gottes während der Reise mit den kleinen Kindern. Wohlbehalten erreichten sie die Britischen Inseln. Überall beklagten sich die Leute dort über ihre kleinen Rationen, doch sie freuten sich über die glückliche Lage, endlich wieder einmal Butter und Käse, Margarine und Marmelade essen zu können. Es war einfach herrlich! Und Kleiderbezugsscheine zu bekommen, die man auch wirklich gebrauchen konnte, war fast unglaublich.

Kapitel 11  –  Wieder an der Front

Wieder einmal stand Abd alMasih vor einer schweren Entscheidung. Am Waffenstillstandstag im Mai 1945 brachen in Setif schwere Aufstände aus, die sich bis nach Lafayette und in die Kleine Kabylei ausweiteten. Über hundert Europäer wurden von den Moslems grausam ermordet, die Armee ihrerseits schlug zurück und brachte Tausende von .Einheimischen um. So entstand eine Atmosphäre von Bitterkeit und Haß, die für die Missionsarbeit keineswegs von Vorteil war. Nur das rechtzeitige Eingreifen eines französischen Offiziers hatte die europäische Bevölkerung davor bewahrt, allesamt ermordet zu werden.
Die Behörden verweigerten Lalla Jouhra und ihrem Mann die Einreise nach Algerien. Abd alMasih bei seiner Frau und den drei Kindern in England zu bleiben, oder allein zu der Arbeit zurückzukehren, zu der Gott ihn berufen hatte, und der er umständehalber über ein Jahr ferngeblieben war. Er kehrte allein in ein Land zurück, in dem Hungersnot herrschte, in dem es einen ganzen Monat lang Tag für Tag schneite. Sämtliche Straßen waren gesperrt. Innerhalb von zwei Tagen schmolz dann der Schnee, und die erbarmungslose Sonne begann, monatelang auf das Land herabzubrennen. Kein Tropfen Regen fiel. Die Erdoberfläche war hart und verkrustet. Nur ein kleiner Teil des gesäten Weizens und der Gerste ging auf. Dann kamen Horden von Heuschrecken und verschlangen jegliches Grün, ebenso den Mais. Demonstrationen und Aufstände waren die Folge, und wochenlang wagten die Leute nicht, ihre Häuser zu verlassen. Das Ergebnis war eine Hungersnot. Überall lagen die Kadaver von Tieren, die vor Hunger verendet waren. Die Amerikaner hatten Weizen geschickt, doch dieser reichte nur für eine kleine Mahlzeit pro Tag. Bald waren auch diese Vorräte erschöpft, und so kam es, daß manche Familie in jenem Winter drei Monate lang oder noch länger von den Wurzeln der Zehrwurz und anderer Bergpflanzen existierte.
Einigen Männern gelang es, einen oder auch zwei Zentner Weizen zurückzuhalten. Diese Männer standen vor einer schwierigen Entscheidung. Entweder sie säten das Korn aus, oder ernährten ihre Familien damit. Es reichte nicht für beides. So mußte der Vater seinen Kindern buchstäblich das Brot wegnehmen und es aussäen, unterpflügen und auf eine Ernte hoffen. Sicherlich erforderte es großen Mut und Glauben, den Kindern die Nahrung vom Mund wegzunehmen, sie hungrig zu Bett zu schicken und das Korn auszusäen. Einigen erschien das unvernünftig, ja sogar grausam; doch nach einiger Überlegung kam man zu dem Schluß, daß nur diese Entscheidung zählte, wenn es eine Ernte geben sollte.
Als Abd alMasih darüber nachdachte, welch ein Opfer von diesen Männern gefordert wurde, um eine Ernte zu gewährleisten, erkannte er, daß dies auch für ihn – auf einer anderen Ebene – galt. Er war gekommen, um das Wort Gottes in die Herzen dieser Menschen zu säen. Manche Christen kritisierten an ihm, daß er Frau und Kinder verlassen hatte, um das Wort zu säen. Sie stellten betont fest, daß es keine geistliche Ernte in Nordafrika gegeben hatte und daß es wahrscheinlich nie eine geben würde. Doch Gott brachte ihm eine Lektion bei – er selbst mußte sich säen lassen. Jetzt, da er sich allein unter den Zehntausenden von Männern und Frauen in einer Atmosphäre von Bitterkeit, Haß und Argwohn befand, erkannte er in vollem Umfang seine Nichtigkeit, seine Ohnmacht und seine Einsamkeit. Durch seine Rückkehr nach Algerien warf er sicherlich sein Leben weg. Was hatte doch sein Herr gesagt: «Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt’s allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte. Wer sein Leben lieb hat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt haßt, der wird’s erhalten zum ewigen Leben» (Joh. 12, 24-26). Er wußte, daß Jesus dies praktiziert hatte: Er starb, damit wir leben konnten. Durch Seinen Tod haben wir Leben, ewiges Leben.
Gab es noch einen tieferen Sinn? Der Herr forderte Seine Jünger auf, Ihm zu folgen, Weizenkörner zu werden, sich selbst zu sterben, damit ihr Leben Frucht bringe. Abd alMasih erkannte, daß Gott ihn dazu berufen hatte, eben dieses zu tun. Vor vielen Jahren hatte er zwischen dem Eigenleben und einem Leben des Dienstes wählen müssen. Wiederum stand er vor der gleichen Entscheidung. Auf Schritt und Tritt verfolgte sie ihn. Er konnte immer noch zu seinen Lieben zurückkehren, zu der Bequemlichkeit des Heimatlandes. Oder er konnte die Mühsal und Not, den Nahrungsmangel und die Einsamkeit auf sich nehmen und sein Leben in diesen Dörfern wegwerfen. Ihm graute vor dem schrecklichen Alleinsein. Doch immer wieder hörte er die Worte in seinem Sinn und Herzen: «Wer mir dienen will, der folge mir nach.» Er wollte doch dem Herrn dienen und die Ernte einbringen. Dann mußte er seinem Herrn folgen.
Wo befand sich der Herr, als er diese Worte sprach? Er ging zum Kreuz. Seine reine und heilige Seele erschauerte vor dem Leid, das Ihn erwartete. «Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde!» Jesus hatte durchgehalten, wie das Weizenkorn in der Erde wächst, aufbricht, leidet, stirbt und dadurch neues Leben hervorbringt. Er war gestorben, Er war begraben worden und wieder auferstanden, und zu Pfingsten hatte es eine reiche Ernte gegeben. Jetzt berief er Seinen Diener, Ihm zu folgen.
Samenkörner können als Nahrung oder Aussaat gebraucht werden. Wenn sie als Nahrung gebraucht werden, bringen sie keine Frucht. Das war die erste Lektion, die der Herr Seinem Diener beibrachte. Wir müssen unsere Augen auf Ihn gerichtet halten. Er ist den aufopferungsvollen Dienst, unsere Hingabe und unsere äußerste Liebe wert. Nimm doch einmal ein Weizenkorn in deine Hand! Betrachte es genau und vergleiche es mit deinem Leben. Wie klein und unbedeutend ist es. Doch kannst du nie die Größe eines Weizenkornes verstehen, wenn du es nur in deiner Hand hältst. Um seine ganze Kraft zu erkennen, muß es weggeworfen werden. Es muß eingesät werden. So ist es mit deinem Leben. Und vor diese Entscheidung wird jeder von uns wiederholt gestellt. Vielleicht ist der Grund dafür, daß es heute verhältnismäßig wenig und kleine Ersten gibt, der, daß Christen zuviel für sich selbst leben. Ich kann mein Leben entweder für mich selbst leben oder es im aufopferungsvollen Dienst dahingehen. Welches ist unsere Entscheidung?

In der heutigen Zeit ist es jedem durchschnittlich begabten jungen Menschen möglich, sich nach seiner Wahl und Eignung ausbilden zu lassen. Es sollte das Ziel eines jeden angehenden Missionars sein, zu studieren, ein Diplom oder einen akademischen Grad zu erreichen, bevor er sich in den Dienst des Herrn stellen lässt. In früheren Jahren hielten finanzielle Gründe oft von einem Universitätsstudium ab, doch das hat sich heute geändert. Ein junger Mann mit einem allgemeinbildenden oder wissenschaftlichen Studium, sowie eine Krankenschwester mit einer abgeschlossenen Ausbildung haben noch ihr ganzes Leben vor sich. Wie werden sie dieses Leben verbringen? Dem normalen Verständnis zufolge sollten diese Jahre der Ausbildung nicht absichtlich weggeworfen und geopfert werden. Doch gerade das Opfer verlangt der Herr. Der junge Mediziner, der hinausgeht, um in Afrika Krankheit, Armut, Gefahren, Leiden und Isolierung auf sich zu nehmen, scheint sein Leben wegzuwerfen. Er vergräbt sich in einem fremden Land wie ein Weizenkorn. Doch der Herr sagt, daß ein Mensch, der sein Leben in dieser Welt haßt, der einzige ist, der es gewinnt. Der Mann und die Frau, die an ihrem Leben hängen, weltlichen Ambitionen nachstreben und finanziellen Gewinn suchen, scheinen vordergründig ihr Leben gefunden zu haben. Doch in Wirklichkeit haben sie es verloren. Wir müssen dazu bereit sein, unser Leben in aufopferungsvollem Dienst Ihm zu überlassen, und zwar an dem Platz, wo Er will, sei es daheim oder auf fremden Missionsfeldern. Dies ist also der erste Schritt zu einem hingebungsvollen Dienst.
Abd alMasih ging zum Markt. Tausende von Männern hatten sich versammelt, die Männer, zu denen er zurückgekommen war und die er erreichen wollte. Doch wie sollte er das bewerkstelligen? Wiederum empfand er seine Nichtigkeit, seine äußerste Hilflosigkeit, dieses tiefe Bewußtsein seines Alleinseins. Wenn er doch ein Team von Mitarbeitern gehabt hätte!

Und wiederum wandte er sich dem Worte Gottes zu. Unter diesen wimmelnden Massen waren einige, die der Herr Jesus berufen hatte. «Seine Schafe» hatte Er sie genannt. Abd alMasih wußte nicht, wer sie waren, doch der Herr sagte: «Ich kenne sie, und sie folgen mir nach.» Wie konnte er diese erreichen? Wie sie erkennen? «Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein.» Dieser Vers kam ihm in den Sinn. Der Herr Jesus würde ihn zu jenen Männern führen. Sie waren Seine Schafe. Er kannte sie. Er war überrascht zu erfahren, daß eine Bedeutung für das .Wort folgen» auch «sich mühsam durch den Staub schleppen» sein konnte. Es beschwor das Bild eines fernöstlichen Dieners herauf, der sich hinter dem Kamel seines Herrn durch den Staub schleppte, seinem Herrn hinterher. Seine Gedanken wanderten zu Philippus. Er hatte einen segensreichen Dienst in Samarien gehabt. Dann sprach der Engel des Herrn zu ihm: «Stehe auf und gehe gegen Mittag auf die Straße, die von Jerusalem hinabgeht gen Gaza, die da wüst ist.» Philippus hatte gehorcht, und dort in der Wüste sah er plötzlich aufwirbelnden Staub. Es hätte für einen Evangelisten keinen unwahrscheinlicheren Ort geben können als diese große, weite Wüste. In dem herannahenden Wagen saß eine suchende Seele. Der Äthiopier besaß das Wort Gottes. Der Herr hatte schon sein Herz vorbereitet und ihm ein tiefes Sehnen, ein Verlangen gegeben, ihn zu erkennen. Er war eines jener Schafe. Der menschliche Diener wurde nun gebraucht.

Der Herr führt seinen Diener, wenn er in enger Gemeinschaft mit seinem Herrn steht, und so kann der lebensspendende Kontakt zwischen Sündern und dem Retter geknüpft werden. So wirkt der Herr in Erfüllung des Prinzips: «Wo ich bin, da soll mein Knecht auch sein.» Wo Er wirkt und jemandem seine Not und sein Bedürfnis klarmacht, da soll auch sein Diener sein, um zu ermutigen, um den Weg zu Ihm zu zeigen und von Ihm zu zeugen.

Das ist das A und O des erfolgreichen Dienstes. Und doch, wie oft versagen wir! Wir leben nicht nahe genug beim Herrn, um Seine Stimme zu hören, und die Gelegenheit ist verpaßt und es kommt nie eine zweite. Der Herr wird uns nicht nur in unseren Wirkungsbereich führen, sondern selbst zu den Menschen, mit denen wir Kontakt aufnehmen sollen. Dieses Prinzip wird klar ersichtlich in dem großen Missionsbuch der Apostelgeschichte. Der Herr führte Ananias zu Saulus von Tarsus. Der Herr stellte den Kontakt zwischen Petrus und Kornelius her. Er führte Paulus zu Lydia, zum Kerkermeister und zu Aquila und Priscilla. Auf jeder der drei Missionsreisen führte Er ihn zu neuen Städten und zu den Personen Seiner Wahl. Welch herrliche Erfahrung, diese Führung zu erleben! Dieses Prinzip gilt in Afrika genauso wie in Deutschland.

Wie einsam muß Philippus in der Wüste gewesen sein! Wie unsinnig muß ihm die lange Reise erschienen sein! Auch Abd alMasih fühlte sich jetzt allein gelassen; die offensichtliche Sinnlosigkeit seiner langen Rückreise nach Afrika bedrückte ihn. Er war wiedergekommen, um diejenigen zu suchen, die so recht sorglos über ihr Seelenheil waren. Er suchte die «anderen Schafe». Wie sollte er sie finden? Sein Gebet war: «Herr, führe mich zu irgendeiner suchenden Seele; zu einem von jenen Schafen.» Er brauchte nicht lange zu warten, um festzustellen, daß dieses Gebet richtig war.

Eine Anzahl von Männern und Jungen hatten sich um Abd alMasih geschart und hörte aufmerksam der Geschichte vom verlorenen Sohn zu. Plötzlich erschien der Dorfscheik. Er war sehr aufgebracht und jähzornig. Rechts und links mit seinem Stock Schläge austeilend, verscheuchte er die Jungen und befahl den Männern, sich zu entfernen. Nachdem er die ganze Zuhörerschaft verjagt hatte, zog er sich in die Moschee zurück, um zu beten. Als die Männer und Jungen sich daraufhin erneut versammelten, erschien der Moslemführer kampflustig wieder. Sein schwerer Stock prasselte mit wüsten Schlägen auf die Rücken der Jungen hernieder. Sie zerstoben in alle Winde und flohen vor seiner Wut. Er zerriß die Bildertafel und zerstreute alles Material. Das gleiche Schicksal ereilte das Neue Testament, das Abd alMasih in der Hand hielt. Er erhob seinen dicken Stock über den Kopf des Missionars, verfluchte ihn und nannte ihn einen «christlichen Hund». Er verlangte nach Auskunft, wieso er es gewagt hätte, in dieses Dorf zurückzukehren, obwohl man es ihm verboten hätte. Es schien sinnlos, unter solchen Umständen weiterzumachen. So blieb Abd alMasih nichts weiter übrig, als mit schwerem Herzen davonzugehen, die Flüche und Drohungen des Scheiks in den Ohren. Der Dorfälteste folgte ihm bis an den Rand des Dorfes und sagte: «Er hat einen furchtbaren Jähzorn, doch in drei Monaten ist seine Dienstzeit hier abgelaufen. Wir werden ihn entlassen und zurück in sein Dorf schicken. Danach kannst du zu uns. zurückkommen, wann du willst.»

Im folgenden Jahr erinnerte sich Abd alMasih an die Einladung, in jenes Dorf zurückzukehren, und er verbrachte eine höchst ermutigende Zeit in diesem Stamm. Als er sich abends nach einem langen, ermüdenden Tag wieder auf den Rückweg über die Berge zu seinem Auto machte, hörte er eine Stimme hinter sich rufen: «Scheik, halt ein! Warte auf mich!» Abd alMasih hatte den Tag um vier Uhr früh begonnen und war zwölf Stunden lang über Berg und Tal gewandert. Er hatte in fünf Dörfern zu den dortigen Männern gesprochen und war völlig erschöpft. Mit einem Blick über die Schulter erkannte er einen religiösen Lehrer, der sich bemühte, ihn einzuholen. Er erkannte ihn alsbald als den Bruder des rotbärtigen Scheiks mit dem furchtbaren Jähzorn, der sich im vergangenen Jahr so stark gegen die Botschaft des Herrn gewehrt hatte. Abd alMasih beschleunigte seinen Schritt. Er war zu müde, um noch ein Streitgespräch anzufangen. Er war darauf bedacht, nach Hause zu kommen. Der Moslem war entschlossen, Abd alMasih einzuholen und ließ sich tatsächlich dazu herab, zu laufen. «Halt! Halt!» schrie er. Bald hatte er ihn eingeholt. «Wie kommt es, daß du jedes andere Dorf in der Kabylei besuchst, außer unserem?» waren seine ersten Worte. «Du kommst nie zu uns, und dabei gibt es Menschen in unserem Dorf, die deine Botschaft brauchen. Sie wollen sie hören.»

Abd alMasih erwiderte: «Zweimal habe ich euer Dorf besucht. Doch nicht eine einzige Seele hat sich herabgelassen, zur Moschee zum Zuhören zu kommen. Auch mußt du bedenken, daß sie aus deiner eigenen Familie nicht wollen, daß ich das Evangelium predige. Sie haben Angst, daß die Kabylen keine Moslemlehrer mehr brachen, wenn sie dem Herrn Jesus nachfolgen. Ich habe es ja am eigenen Leib erfahren, wie sehr deine Familie dagegen ist.»

«Komm zu unserem Dorf, sobald du kannst», war die ernsthafte Bitte.
«Einige Leute dort brauchen dich wirklich.»
Bei der nächsten Gelegenheit machte sich Abd alMasih mit gemischten Gefühlen auf den Weg über die Berge zu dem Dorf und kletterte zu dem Viertel hinauf, in dem die Marabouts oder die religiösen Führer leben. Von seinem Marabout-Freund war nichts zu sehen. Erst letzte Woche war er in eine entfernte Stadt gezogen. Deshalb ging Abd alMasih zum anderen Teil des Dorfes, wo die Kabylen leben. Einige hatten sich versammelt, saßen auf einem großen Felsen und warteten auf ihn.
Sie hießen ihn höflich willkommen und forderten ihn auf, zu erzählen. Er war noch nicht weit gekommen, als er von einem Mann namens Ali unterbrochen wurde.
«Sage mir, Lehrer, was muß ich tun, um Vergebung meiner Sünden zu erhalten?»
Der Heilige Geist war am Wirken. So einfach wie möglich erklärte Abd alMasih das Werk des Herrn Jesus Christus. «Ohne Blutvergießen geschieht keine Sündenvergebung. Dies ist mein Blut, das für die Sünden vieler vergossen wird. Wer an Ihn glaubt, der wird Vergebung der Sünden empfangen.» Ali wiederholte die Worte der Bibel, die ihm zitiert wurden.
«Kann ich jetzt Vergebung erhalten?»
«Ja, wenn du an den Herrn Jesus glaubst.»
Nach der Versammlung machte sich der Diener Gottes wieder auf den Weg, doch der angesprochene Mann folgte ihm bis zum Rande des Dorfes. Er sagte: «Sage mir noch einmal, was ich tun muß. Willst Du damit sagen, daß ich nur Buße tun muß, von allen meinen Bemühungen ablassen und einfach dem Herrn Jesus vertrauen soll? »
An jenem Tag vertraute Ali sich dem Herrn Jesus an.

Es gab keinen Zweifel an der Aufrichtigkeit seines Glaubens und seiner Liebe zu dem Herrn. Alle vierzehn Tage besuchte Abd alMasih ihn in seinem Dorf. Er kam Schritt für Schritt voran und brachte sich selbst das Lesen der Bibel bei. Durch sein Zeugnis kamen noch fünf oder sechs andere zum Heiland. Es war das erste Mal, daß sich in einem kabylischen Dorf eine Gruppe von Christen versammelte. Es war fast eine kleine örtliche Gemeinde. Der Herr hatte seinen Knecht offensichtlich in jenes entlegene Dorf geführt, das er so sorgfältig gemieden hatte. Er gebrauchte die ungewöhnlichsten Umstände, selbst den Zorn eines Menschen. Damit bewies er deutlich, daß Er der Herrscher über alle Menschen ist.

Kapitel 12  –  Seine Schafe

Diе Tatsache, daß wir Seine Schafe sind, erinnert uns nicht nur an Seine Hirtenliebe, sondern auch daran, wie schwach und abhängig wir von Ihm sind. Er sendet uns aus wie Schafe unter Wölfe. Er spricht von den Feinden als von Dieben und Räubern, Fremdlingen und Mietlingen. Es ist offensichtlich, daß. die Suche nach Seinen Schafen Kampf kostet.

Nachdem Lalla Jouhra nach Algerien zurückgekehrt war, nahm sie ihre Besuche bei den Frauen wieder auf. Sie hatte gerade das Haus verlassen, um einige der eingeschlossenen Frauen zu besuchen, als ein Junge auf sie zulief und sagte: «Meine Mutter und meine Schwestern schicken mich, damit Sie kommen und ihnen das Wort Gottes sagen.» Er nannte Namen und Adresse eines Ladenbesitzers in der Hauptstraße des Dorfes. Sie suchte das Haus auf und wurde von der Mutter und den zwei Mädchen herzlich in ihrem Hof willkommen geheißen. Sogleich wurden sie von der Evangeliumsbotschaft berührt. Es war immer eine Freude, sie zu besuchen. Keine von ihnen durfte jemals aus dem Hause gehen, da sie aus einer Marabout-Familie stammten. Der Name der ältesten Tochter war Joy (Freude). Sie hatte eine Zeitlang bei einer französischen Tante gelebt, die Lehrerin war. Diese Frau war mit einem Kabylen verheiratet. Joy sorgte für die beiden Zwillingskinder, während ihre Tante in der Schule unterrichtete. Die verhältnismäßig große Freiheit in einem französischen Haushalt erlaubte Joy, sich mit einigen jungen Burschen im Dorf anzufreunden. Ihr Vater hörte, daß man über sie klatschte und verkaufte sie alsbald zur Ehe. Es war eine recht unglückliche Ehe, und bald war Joy wieder geschieden und zog zurück zu ihrer Mutter. Während sie bei ihrer Tante wohnte, hatte sie Lesen und Schreiben gelernt. Außerdem war sie eine recht gute Schneiderin. Sie war auch künstlerisch veranlagt und machte ihre eigenen Stickereimuster. Das Leben war äußerst eintönig in jenem dunklen, feuchten Hof mit den hohen Mauern. Die zwei kleinen Räume, in denen sie lebten, waren dunkel und heiß. Nur am Spätnachmittag schien die Sonne ein wenig auf den Boden. Joy kletterte oft die schmale Leiter zum Dach hoch, um ein wenig Sonnenschein und Luft zu bekommen.

Dann heiratete Joy wieder, dieses Mal in eine fanatische Familie hinein, die dem Evangelium absolut feindselig gegenüberstand. Wie würde es nur möglich sein, sie dort zu erreichen? Sie hatte sich beigebracht, ihre eigene Sprache zu lesen, und wie gern las sie in den vier Evangelien und meditierte darüber. Lalla Jouhra besuchte die junge Frau in ihrem neuen Heim, einem winzigen gemieteten Raum im Hof eines Verwandten. Die Jungen in diesem Hause betrachteten sie als Feind. Bei jedem Besuch standen sie draußen vor der Tür, spotteten und verlachten den Namen des Herrn. Joy stellte ihr Licht deshalb aber nicht unter den Scheffel, sondern hatte das Wort Gottes bei sich, und wenn die Nachbarinnen kamen, konnte sie ihnen vorlesen. Bald danach zogen ihr Mann und sie wieder in das Haus ihres Vaters. Dort lebten sie zusammen auf dem kleinen Dachboden, den man über die Leiter erreichen konnte. Eine Ecke war mit einem Vorhang als Schlafzimmer abgeteilt. Eine Matratze auf dem Fußboden war das Bett. Der andere Teil war mit einem kleinen Stück Linoleum ausgelegt, um die Zugluft von unten abzuhalten. Ein kleiner runder Tisch und zwei Hocker bildeten das Mobiliar, gekocht wurde in einigen Töpfen auf einem kleinen Brenner. Doch welch Heiligtum wurde dieser Bodenraum, wenn Lalla Jouhra und Joy die Apostelgeschichte zusammen studierten, während Mutter und Schwester unten zuhörten. Joy hatte einige Lieder gelernt, die sie zusammen sangen, und jeder Besuch endete mit einem Gebet. Bald erkannte Joy, daß sie den Herrn als ihren persönlichen Heiland annehmen mußte. Eines Tages sagte sie: «Ich muß jetzt, da ich dem Herrn Jesus gehöre und an Ihn glaube, auch getauft werden.»

Eines Tages zankte sich ihr Mann mit seiner Schwiegermutter. Daraufhin mußten sie in einen feuchten, dunklen Raum ziehen, der eigentlich nur ein Durchgang zu einem Hof mit lauter Frauen war. Früher hatte man darin Holz gestapelt. Eine Tür ging auf die Straße, die andere führte auf den gemeinsamen Hof. Das Wasser tropfte von den eisernen Trägern des Daches herab und durchnäßte ihr Bett. Es war so dunkel, daß es unmöglich war, selbst bei Tag ohne Licht zu lesen. Dort fristete die arme Joy ihr Leben. Sie war zu wohlerzogen, um sich viel mit den recht gewöhnlichen Frauen einzulassen und über ihre unflätigen Witze zu lachen.

In der Tür befand sich ein kleines Schlüsselloch, und da hindurch pflegte sie an den Nachmittagen, an denen Lalla Jouhra sie besuchte, nach ihr Ausschau zu halten. Sie las gemeinsam mit ihrem Mann in der Schrift, wenn dieser von der Arbeit zurückkehrte. Oftmals gab es böse Blicke von den Nachbarn, wenn die Missionarin an ihnen vorüberging und sie grüßte. Wenn sie das Haus wieder verließ, pflegten die Jungen oft Steine nach ihr zu werfen. Die Moslems nahmen ihr diese Besuche sehr übel.

Eines Nachmittags kam Joys Onkel. Er war der fanatische Scheik mit dem roten Bart, der in den Dörfern so stark gegen Abd alMasih Position bezogen hatte. Er fand Joy bei einem Korrespondenzkursus, der ihr half, die Bibel besser zu verstehen. Das Buch lag offen neben ihrer Bibel auf dem Tisch. Während sie ihm eine Tasse Kaffee bereitete, bat er um eine Streichholzschachtel. Sie meinte, er wolle rauchen und gab sie ihm deshalb ohne zu zögern. Doch als sie etwas Verbranntes roch, wandte sie sich mit einem Schrei der Verzweiflung um. Er hatte ihre Bücher auf dem Zementfußboden aufgeschichtet und verbrannte sie. Dann stellte er sich vor sie hin, um sie zu verfluchen, weil sie es wagte, solche Bücher zu lesen. Als sie diesen Vorfall Lalla Jouhra bei ihrem nächsten Besuch erzählte, saß ihr der Schrecken noch in den Gliedern. Ein oder zwei Tage später besuchte ihr Ehemann die Missionarin. Sein Kopf war voller Beulen und stark geschwollen, sein Gesicht übersät mit blauen Flecken. In der vergangenen Nacht hatte man ihre Tür eingetreten und eine Bande von Rohlingen hatte ihn zusammengeschlagen. Er bat Lalla Jouhra, Joy nicht wieder zu besuchen, bis sie in eine andere Gegend umziehen konnten. Wie sehr vermißte Lalla Jouhra diese wöchentlichen Besuche bei Joy, doch wieviel schlimmer war es für das arme, einsame Mädchen in dem dunklen, feuchten Raum! Sie hatte keine Freunde, die ihr in ihrem Kummer beistanden. Ihre kostbare Bibel war zerstört worden und die Aussicht auf einen wöchentlichen Besuch genommen. Sie war von allem abgeschnitten und hatte nur die Gemeinschaft mit ihrem Herrn.

Nach einigen Jahren Abwesenheit kehrte Lalla Jouhra nach Algerien zu Besuch zurück und wohnte in Algier in einer Wohnung. Sie hatte Joys Adresse bekommen, und so schrieb sie ihr und bat sie und ihren Mann, sie sollten sie besuchen. Es war wesentlich besser, daß sie zu ihr kamen, anstatt umgekehrt. Am folgenden Abend klingelte es, und da standen Joy und ihr Mann vor der Tür. Ihre Freude kannte keine Grenzen und spiegelte sich auf ihren Gesichtern wieder. Der Mann meinte: «Endlich haben wir Lalla Jouhra gefunden. Seitdem wir hier in dieser großen Stadt wohnen, habe ich so oft in die Gesichter von Frauen geschaut, immer in der Hoffnung, Sie zu finden. Ich wußte, daß Sie irgendwo in dieser riesigen Stadt waren.» Sie hatten eine schöne Zeit der Gemeinschaft miteinander.

Einige Tage später wurde ihnen die kabylische Bibel geschickt, doch wieder einmal hatten sie ihre Wohnung gewechselt und das Paket erreichte sie nie. Moslems beobachten gläubige Christen sehr genau, und es kann durchaus sein, daß dieser flüchtige Kontakt mit den Missionaren entdeckt worden war. Selbst Briefe wurden abgefangen. So wird alles Mögliche unternommen, um die gläubigen, christlichen Frauen zu isolieren, damit sie entmutigt werden und sich vom Wort abwenden. Welch eine Freude war dieses kurze Zusammentreffen für Lalla Jouhra und jenen einsamen Christen gewesen! Ihre strahlenden Gesichter zu sehen, zu erfahren, daß sich in ihren Herzen nichts geändert hatte und ihren tiefen Wunsch zu spüren, mehr über den Herrn wissen zu wollen, war wahrhaft ein großes Fest gewesen. Doch jetzt waren sie in den Menschenmassen jener großen Moslemstadt untergetaucht. Lalla Jouhra konnte sie nur täglich dem Herrn im Gebet bringen und Ihn bitten, Sein Werk zu vollbringen, das Er in ihren Herzen begonnen hatte. Die Missionare sind gegangen, doch der geistliche Kampf geht weiter. Die Schafe befinden sich mitten unter den Wölfen, doch nichts ist für Gott unmöglich.

«Lalla Jouhra! Schau doch nur, meine wunderschönen, neuen Stiefel! Ich trage sie, wenn ich zur Moschee gehe, um den Koran auswendig zu lernen.» Rashid war so stolz auf seine Stiefel, doch die Missionarin war traurig, wenn sie daran dachte, daß er den Koran lesen würde, denn sein Vater hatte die Missionsstunden regelmäßig besucht. Rashid war ein kabylischer Junge und lernte in der Moschee Kapitel für Kapitel den Koran auswendig, indem er aus dem Gedächtnis die Worte nachsprach, die der Scheik auf die hölzerne Tafel geschrieben hatte. Was machte das schon, wenn er auch nur wenig von dem verstand, was er da auswendig vor sich hersagte. Das Gedächtnis eines Jungen muß bis zum Äußersten geschult werden, doch lernt er dabei niemals, logisch oder vernünftig zu denken. Am Donnerstag in der Stunde für Jungen zeigte Rashid stolz seine neuen. Stiefel. Sonntags und donnerstags ist schulfrei, und so hatte man an diesen Tagen für jüngere und ältere Jungen und Mädchen Kinderstunden eingerichtet. Am Donnerstag hatte der Moslem-Scheik frei, und so konnte Rashid ebenfalls die christliche Kinderstunde besuchen. Er humpelte sehr und Abd alMasih untersuchte seine Hüfte. Es bestand kein Zweifel darüber, daß er an Tuberkulose litt. Bekannte rieten ihm, den örtlichen Arzt aufzusuchen, der aber meinte, daß er nur sehr wenig für ihn tun könne. Es dauerte nicht lange, bis der Junge sein Herz öffnete, um den Herrn anzunehmen. Er fragte, ob er am Sonntag zu den Versammlungen der Christen kommen könne. Dort lernte er kabylische geistliche Lieder singen, die er bald unendlich liebte.

Er konnte auch die Schule besuchen, und da er intelligent und begabt war, lernte er auch Französisch. Seine Schulzeit war jedoch von kurzer Dauer, da sein Rücken schon bald so schmerzte, daß er nur noch im Garten herumhumpeln konnte. Wie sehnte er sich danach, am Sonntag mit anderen Christen zusammen zu sein! So holte Abd alMasih jeden Sonntag sein Auto aus der Garage und nahm den armen, hilflosen Krüppel zum Gottesdienst mit. Wie ansteckend war es, ihn beten zu hören! Es war offensichtlich, daß er den Herrn sehr liebte.

Die Schmerzen in seinem Rücken wurden immer heftiger und es dauerte nicht lange, da brach ein Abszeß auf, so daß er die meiste Zeit im Bett bleiben mußte. Zu jener Zeit bat er um ein Neues Testament in Kabylisch, das er bald lesen lernte. Wenn der Missionar ihn bei einer Gelegenheit besuchte, sagte Rashid: «Ich versuche jenen Frauen etwas vom Herrn Jesus zu sagen und ihnen zu zeigen, wie sie erlöst werden können, aber sie scheinen blind zu sein und nichts zu sehen. «Jene Frauen», das waren seine Großmutter und Mutter, einige seiner Nichten und Tanten. Jeden Morgen rief er sie herbei, um ihnen aus der Heiligen Schrift zu erzählen, ihnen vorzusingen und einen Abschnitt vorzulesen. Lalla Jouhra besuchte sie ebenfalls und Rashid hörte jedes Mal der Botschaft aufmerksam zu.

Die. Monate dehnten sich aus und Rashid litt entsetzlich. Die einzige Heilung wäre gewesen, die ganze Wirbelsäule einzugipsen und unbeweglich zu machen, doch seine Eltern erlaubten ihm nicht, ins Krankenhaus zu gehen. Er wurde von schrecklichen Schmerzen geplagt, hervorgerufen durch einen Abszeß nach dem anderen, der sich am Rücken oder an der Hüfte bildete. Dann besserte sich sein Zustand einige Wochen lang soweit, daß er wieder im Garten herumhumpeln konnte. Auch die christlichen Versammlungen konnte er besuchen. Wie leuchtete sein Gesicht vor Freude!

Ein in England wohnender Junge seines Alters hörte von ihm. Er schrieb ihm und schickte ihm eine französische Bibel. Wie stolz war er auf seine Bibeltasche, die jetzt eine französische Bibel, ein neues Testament in Kabylisch, ein Gesangbuch und ein mechanisches Spielauto enthielt! Die Tasche hing an einem Nagel, außerhalb der Reichweite anderer Kinder. Doch konnte er mit dem vielgeliebten Auto nicht einmal selbst spielen, so krank war er.

Es war ersichtlich, daß das Ende nicht lange auf sich warten lassen würde. Eines Abends besuchten Lalla Jouhra und Abd alMasih gemeinsam Rashid. Sein ganzer Leib war geschwollen und aufgebläht gewesen, doch auf einen Schlag war die Schwellung zurückgegangen und es schien, als bestünde er nur noch aus Haut und Knochen. Jede Rippe, jeder Knochen waren zu sehen. Er lächelte sie freundlich an, als sie hereinkamen und mit ihm beteten. Als sie am nächsten Tag aus der Kabylei zurückkamen, baten die Eltern sie, wiederzukommen. Es war spät abends und sie lasen Rashid aus der Bibel vor. «… des Heilands Jesu Christi… welcher unsern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe.» «Denn wir werden ihn sehen, wie er ist.» Der Tod hatte für Rashid keinen Schrecken, denn er würde dem Herrn begegnen. Sie ~ fickten an der Tür noch einmal zurück und sahen sein freundliches, wehmütiges Lächeln. Es bedeutete «Auf Wiedersehen.» Bevor der Morgen graute, war Rashid in die unmittelbare Gegenwart des Herrn getreten, den er so innig liebte. Sein Leid und seine Schmerzen hatten aufgehört.

Seine Familie wagte nicht, ihn als Moslem zu beerdigen. Sie wußten genau, daß er keiner war. Die politische Situation machte eine öffentliche, christliche Beerdigung unmöglich. Vier «ältere Jungen», Männer, die die christlichen Versammlungen besucht hatten, trugen ihn zum Friedhof. Kein Moslem-Scheik war zugegen. Es gab keine Klagelieder und kein Wehgeheul. Nur seine Verwandten und Freunde folgten ihm zum Grab. Lalla Jouhra und Abd alMasih standen schweigend da, als man seine sterblichen Überreste am Hause vorbei zu seiner letzten Ruhestätte trug. «Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben.»
Ali setzte sich im Bett auf und hustete. Nur mit größter Mühe konnte er seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen.

Er sagte: «Gott sei Dank, daß ihr gekommen seid und mir von Ihm gesagt habt, bevor ich sterbe. Wir wußten ja nicht, daß die Herrlichkeit des Herrn Jesus Christus weit größer ist als die Mohammeds. Niemand hat uns jemals gesagt, daß Jesus Christus für uns starb. Wir wußten nicht, daß Gott unsere Sünden vergibt, wenn wir dem Herrn Jesus vertrauen. Wir meinten, daß man nur auf Vergebung hoffen kann nach fahren des Fastens und Betens. Gott sei Dank, daß ihr gekommen seid, um mir von Ihm zu sagen.»

Es hatte Abd alMasih Mühe gekostet, Ali zu besuchen. Dei schmelzende Schnee in den Bergen hatte den Fluß in den tiefen Schlucht zu einem reißenden, wirbelnden Strom anschwellen lassen. Der Diener Gottes hatte die schwarzen Wolken des drohenden Gewitters wohl gesehen, bevor er das Obdach seines Autos verließ. Er war sehr versucht gewesen, einfach weiter nach Hause zu fahren, ohne dieses einsame Gotteskind zu besuchen. Vergeblich suchte er nach einer Möglichkeit, den reißenden Strom an der sonst üblichen Stelle zu überqueren. Im strömenden Regen ging er fast zwei Kilometer stromaufwärts. Dann watete er knietief in das eisige Wasser hinein und stieg ca. 1000 Meter bergan. Der Regen wurde zu Schnee, mühevoll kämpfte er sich durch einen entsetzlichen Schneesturm hindurch, um schließlich durchnäßt am Hause seines Freundes und Bruders in Christus anzugelangen. Jetzt saß er in dem rauchigen Haus, schlürfte eine Tasse Kaffee, aß einige Feigen und etwas hartes, kabylisches Brot. Alis Frau war keine gute Köchin, doch mußte er so tun, als freute er sich über den Kaffee, der eher nach Paraffin als nach Kaffee schmeckte, und über das harte Brot. Er zitterte vor Kälte am ganzen Körper, doch wie herzerquickend und erwärmend war es, diese Worte von dem todkranken Mann zu hören: «Gott sei Dank, daß du gekommen bist, um es mir zu sagen, bevor ich sterbe.»

Ali litt an offener Lungen-Tb. Während des Zweiten Weltkrieges war er in Belgien in Gefangenschaft geraten, von Dünkirchen evakuiert und nach Frankreich zurückgeschickt worden, um schließlich wieder repatriiert zu werden. Er war von einer katholischen Schwester gepflegt worden, die ihm von Jesus Christus und Seinem stellvertretenden Tod erzählt hatte. Doch gab es manches, das er nicht verstehen konnte, bis Abd alMasih sein Dorf besucht hatte, und er an den Herrn Jesus gläubig geworden war. Er bekam eine Pension (Rente) von der französischen Armee und eine gute Unterstützung für seine Frau und seine beiden Kinder, so daß er unabhängig war. Die meisten Moslem-Männer seines Alters sind von ihren Vätern abhängig. Sie teilen alles mit ihren erwachsenen Brüdern und sind deshalb aus familiären Gründen unfähig, mit dem Islam zu brechen. Ali konnte dem Herrn folgen. Nachdem er das Evangelium gehört und geglaubt hatte, war er entschlossen, durch die Gnade Gottes ein wahrer Jünger zu werden. Er brachte sich selbst das Lesen auf Kabylisch bei. «Jeder lehre einen anderen» war das Motto, und so war er darauf bedacht, seine Schuld zu bezahlen und jemand anderem das Lesen beizubringen. Er fand einige recht willige Schüler. Alles ging gut, bis er eines Tages gefragt wurde:
«Ali, wenn wir Kabylisch lesen lernen, was können wir dann lesen?»
«Das Neue Testament natürlich», erwiderte er. «Sicherlich gibt es auch noch andere Bücher?»
«Ich werde den Scheik Abd alMasih fragen», sagte er. «Kann ich die Zeitung auf Kabylisch lesen?»
«Nein, doch gibt es Gottes Wort, und das sollte vor allen Zeitungen den Vorrang haben.»
«Dann müssen wir das so verstehen, daß du willst, daß wir das Neue Testament lesen und Christen werden. Vielleicht bist du auch Christ?»
«Ja, ich glaube, daß der Herr Jesus für mich gestorben ist»
Die Lesestunde hatte mit einem Tumult geendet. Sie waren mit Schimpfen und Schelten über Ali hergefallen, hatten ihn verflucht, ihn angespuckt und ihm gesagt, daß er überhaupt nichts wüßte. Sie brachten den Dorfscheik mit, der alles in seiner Macht Stehende tat, um den entschlossenen Mann von seinem Glauben abzubringen. Es war nutzlos. Ali wußte, daß seine Sünden vergeben waren. Diese Nachricht verbreitete sich. Von nah und fern kamen Männer herbei, um mit ihm zu sprechen, und um den Grund für seine große Gewißheit zu finden. Ein gelehrter Mann brachte seinen Koran mit. Nachdem er mit Ali gesprochen hatte, zeigte er auf den Koran und sagte:
«In diesem Buch steht von keiner Vergebung. Ich habe es von Anfang bis zum Ende gelesen, und es hat mir nichts zu sagen.» Wie aufmerksam hörte er zu, als der Christ ihm von Christus erzählte, der allein die Macht auf Erden habe, Sünden zu vergeben.
Die Moslem-ulama (Ärzte) waren sehr besorgt. Dieser entschlossene Christ mußte mundtot gemacht werden. Entweder mußte er wieder in die Herde des Islams zurückgebracht oder getötet werden. Doch wie? Ali mußte sich alle drei Jahre im Krankenhaus zu einer Untersuchung melden. Beim Versäumnis, sich zur festgesetzten Zeit zu melden, würde er seine Pension verlieren. Hier gab es also eine Möglichkeit, diesen verhaßten Christen zum Islam zurückzubekehren, ihn in die Knie zu zwingen, ihn einzuschüchtern oder ihn zu töten. Der Dorfpostbote zerriß einfach den ersten Brief, der das Datum für die Krankenhausuntersuchung enthielt, dann auch den zweiten, schließlich den dritten. In der Zwischenzeit wartete Ali auf den Brief, der nie ankam. Schließlich beschloß er, die lange Reise nach Constantine zu machen und zwar zuerst auf Eselsrücken, dann mit dem Bus und mit dem Zug.

Im Krankenhaus wurde ihm folgender Rat gegeben: «Fahr nach Hause zurück und warte. Wir werden dich benachrichtigen, wenn ein Bett frei ist. Dann kommst du sofort wieder.»
Ali ging in sein Bergdorf zurück, doch kein Brief vom Krankenhaus erreichte ihn mehr. Die Moslems waren darauf bedacht, daß er keine Post erhielt. Er verlor seine Pension. Er stand völlig mittellos da und brauchte Medizin und Holz, um sein Haus zu heizen und Nahrungsmittel für seine Familie. Abd alMasih überredete ihn, ein Geschenk von fünf englischen Pfunden anzunehmen, doch mehr lehnte er strikt ab. Sein Mut war ungebrochen. Jeden Abend versammelte er seine Familie zum Gebet. Er las ihnen aus dem Neuen Testament vor. Peacock, seine Frau, behauptete, ebenfalls gläubig zu sein, seine hübsche Tochter vertraute dem Heiland und sein älterer Bruder ebenfalls. Es war offensichtlich, daß Gott in diesem Dorf am Wirken war.

Ali war unwahrscheinlich eifrig. Zu Abd alMasih sagte er: «Scheik, kannst du es nicht so einrichten, daß du dem ganzen Dorf die Botschaft bringst? Bring doch einen Film mit. Das wird den Männern helfen, alles besser zu verstehen.» So wurde die Autobatterie ausgebaut, auf einen Eselsrücken verladen und mit dem Projektor in das Dorf transportiert. Eine Leinwand wurde auf dem großen Stein aufgestellt, vor dem die Männer sich versammelten. Die Dunkelheit brach herein, und selbst die jungen, hübschen, eingeschlossenen Frauen konnten heraus schleichen und über die Mauer hinweg den Film sehen. «Zu suchen und zu erlösen» war der Titel, und alle konnten das dreifache Gleichnis aus Lukas 15 verstehen. Wie glücklich war Ali, für seinen Herrn Zeugnis abzulegen! Die bucklige Frau seines Bruders und sein Neffe kamen zum Glauben. Jetzt gab es wirklich eine Gruppe von Christen in diesem kabylischen Dorf. Sie waren aufrichtig, doch voller Angst. «Sie werden uns das Haus über dem Kopf anstecken, wenn wir jemals ganz den Herrn bekennen», sagte sein Bruder.
Zwischenzeitlich hatte sich Abd alMasih an die französischen Behörden gewendet, und nach vielen Monaten wurden die Pensionsansprüche wieder anerkannt. Ali zahlte die fünf Pfund zurück, die der Missionar geliehen hatte. Er bestand darauf, kein Geschenk von dem Diener Gottes anzunehmen. Stattdessen wollte er lieber geben. Die Herzen Abd alMasihs und Lalla Jouhras waren tief berührt. Das war es, wofür sie gebetet und gearbeitet hatten. Eine einheimische Gemeinde. Dem Herrn sei Dank!

Die Anspannungen der letzten Monate machten sich bei Ali sehr bemerkbar. Er durchlebte, was es bedeutet, die Kosten der Jüngerschaft zu tragen. «Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich.» Die hartnäckige Opposition seiner Landsleute war für den kranken Mann schwer zu verkraften. Die Beleidigungen seiner Nachbarn, das Bespucken und Fluchen, die Weigerung, bei der Reparatur des Daches zu helfen, wenn es leck war, all diese Dinge stießen dem friedliebenden Mann wie bittere Galle auf. Er freute sich, daß Gott seine Gebete erhört und ihm seine Pension wiedergegeben hatte. So hatte er seine Schulden bezahlen können. Er selbst fühlte sich zu schwach, um die über 30 Kilometer weite Reise zu machen und bei dem Postamt seine vierteljährliche Pension abzuholen. Hier meinte Abd alMasih, helfen zu können. Er würde eine beglaubigte Vollmacht besorgen und das Geld abholen. Doch die Moslems waren entschlossen, bis zum bitteren Ende zu opponieren.

«Einem Ausländer ist es nicht gestattet, dieses Postamt aufzusuchen», sagten ihm die Behörden auf dem Postamt. Sie waren Moslems und man hätte sie bestechen müssen, bevor sie eine Postanweisung auszahlen würden. Sie wußten, daß Abd alMasih das nicht tun würde. Um jeden Preis mußten die Unterhaltspapiere in ihren Händen bleiben. Nur auf diese Weise konnten sie diesen kabylischen Christen kleinkriegen.

Und dann kam der letzte Schlag. Ali hatte seine Rentenpapiere seinem Neffen anvertraut und ihn gebeten, das Geld vom Postamt zu holen. Der Neffe kam nicht wieder. Tage vergingen. Schließlich schickte er eine Nachricht. Es täte ihm leid, doch auf dem Rückwege von dem Postamt sei der Esel vom Weg abgekommen und in den Wald gelaufen. Irgendwie seien die Papiere und das Geld der vierteljährlichen Rente verloren gegangen. Geld, Papiere, alles war weg! Und wieder war Ali ein völlig mittelloser Mann. Als er so Tag für Tag in seiner kabylischen Hütte lag und über sein Schicksal nachdachte, verlor er seine Glaubensfreude. Er war jenen unnachgiebigen, grausamen Moslems ausgeliefert. Einige aus seiner Familie wandten sich gegen ihn, als kein Geld mehr kam. Drogen wurden seiner Nahrung beigemischt und dadurch verwirrte sich sein Geist. Tiefe Depressionen waren die Folge davon. Unfähig zu arbeiten, umgeben von Feinden, heimgesucht von Krankheit, doch immer noch mit einer Liebe zum Herrn, sank er in die Tiefen der Verzweiflung. Abd alMasih versuchte ihn zu überreden, in die Stadt zu kommen, wo er für ihn Pflege besorgen und ihn behandeln konnte. Doch nein, er zog es vor, in seinem eigenen Hause zu sterben.

Abd alMasih konnte nur eines tun, er konnte ihn in seinem Dorf besuchen, ihm vorlesen, ihn trösten und mit ihm beten. Doch als der Diener Gottes schließlich sein Haus erreichte, fand er die Tür verriegelt und verschlossen, und das während des Tages. Das war für ein kabylisches Haus etwas ganz Ungewöhnliches. «Ali, öffne die Tür!», rief er. Wiederum rief er, doch es kam keine Antwort. Ein Nachbar brüllte: «Ali, es ist dein Freund, der Christ. Er will dich besuchen.» Da kam die herzzerreißende Antwort von dem kranken Mann: «Sag ihm, er soll weggehen. Ich habe keinen Freund auf der Welt.» Niemals wird Abd alMasih die Verzweiflung in jenen Worten vergessen, niemals den Kummer, den er selbst darüber empfand, das Schluchzen und die Tränen, die ihm kamen, als er sich abwandte. Sein einziger Trost war, daß der Mann der Schmerzen an jedem Schmerz, der unsere Herzen zerreißen will, Anteil hat.

Ali starb einige Tage später und wurde in einem Moslem-Grab begraben, obwohl er sich bis zuletzt geweigert hatte, Mohammed anzuerkennen und als Christ gestorben war. Selbst seine Feinde mußten das gezwungenermaßen zugeben. Sein armer Leib lag auf dem Moslemfriedhof außerhalb seines Dorfes, einer von vielen, der bei der Wiederkunft des Herrn aus einem Moslemfriedhof auferstehen wird, um dem Herrn zu begegnen. Er wird den Herzenskummer seiner Seele verstehen. Sicherlich war diese eine Seele all die Mühe wert, all die Arbeit, den Kummer und Schmerz. Und doch war es Schmerz, der mit Freude gemischt war über das Wirken des Heiligen Geistes.
«Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.»

Nordafrika nannte man das «Land der verschwundenen Kirche», denn früher gab es viele Hunderte von Kirchen, verstreut an der Nordküste jenes großen. Kontinents. Überall finden sich Ruinen, und große Taufbecken deuten an, daß in der nordafrikanischen Frühkirche die Großtaufe praktiziert wurde. Es ist eine äußerst interessante Beobachtung, daß es in jedem Gebiet, in dem Abd alMasih und seine Frau von Gott gebraucht wurden, um Moslems zu Christus zu führen, früher schon christliche Kirchen gab. Waren diese Bekehrungen die Erhörungen der Gebete von Christen vor vielen Hunderten von Jahren? Wenn dem so ist, wie ungeheuer mächtig ist dann die Kraft des Gebetes! Wie weitreichend die Erhörung!

In den frühen Anfängen der Kirche wurden die Gläubigen durch Verfolgung zerstreut, und das Evangelium verbreitete sich. In vielen Orten, sei es in Algerien oder Frankreich, gibt es heute solche, die das Wort zuerst hörten, als sie in der Kleinen Kabylei waren. Sie tragen das lebendige Wort Gottes mit sich, das sie dazu befähigt, Lichter in der Dunkelheit zu sein. «Meine Schafe hören meine Stimme, ich kenne sie… niemand kann sie aus meiner Hand reißen.» So gibt uns der Herr die Zusicherung, daß er Seine Schafe behüten kann und behüten wird. Sie sind isoliert und oft von aller christlichen Gemeinschaft abgeschnitten, doch gibt es ausreichend Beweise dafür, daß diese isolierten Gläubigen immer noch ihren und unsern Herrn lieben. Der Kampf geht weiter, doch der Sieg ist gewiß, denn nichts ist für Gott unmöglich.

Kapitel 13  –  Ein strategisches Zentrum

Es wurde immer deutlicher, daß – obwohl ein großer Teil der Bevölkerung durch die Kliniken und die Dorfbesuche evangelisiert wurde, – eine andere Möglichkeit gefunden werden mußte, auch mit denjenigen in Kontakt zu kommen, die wirklich nach Gott fragten. Lafayette und Hamman waren von arabischen Dörfern umgeben, doch das erste kabylische Dorf lag ungefähr 32 Kilometer weiter weg. Die Leute kamen gelegentlich nach Lafayette, jedoch nicht regelmäßig. Eine Station in der Kabylei schien wünschenswert. Es lag auf der Hand, daß der wichtigste Knotenpunkt, das strategische Zentrum, der Freitagsmarkt in Beni Ourtilane war. Dieser Markt wurde jede Woche abgehalten, und je nach Jahreszeit wurde er von fünf- bis zehntausend Männern aufgesucht. Die größte Schwierigkeit bestand darin, ein kleines Stück Land zu bekommen, auf dem man ein Gebäude errichten könnte. Einen Raum zu mieten, hätte Unglück heraufbeschworen, denn sobald sich dort eine Anzahl von Menschen zusammenfanden, hätte sie der Eigentümer an die Luft gesetzt.

In der Kabylei gilt das alttestamentliche Gesetz der Loslösung noch. Man scheut keine Mühe, um Grund und Boden im Familienbesitz zu halten. Wenn ein Fremder Land kauft, kann jedes Mitglied der Familie dazwischentreten und das Land zurückverlangen, indem es den Kaufpreis wieder zurückzahlt. Aus diesem Grund war es viele Jahre lang keinem Missionar möglich gewesen, in den Bergen Grundbesitz zu kaufen, doch bei Gott ist nichts unmöglich. Abd alMasih gelang es schließlich, einen Mann zu finden, der keine nächsten Anverwandten hatte. Von diesem Mann kaufte er ein großes Stück Land am Rande des Marktes, das nahe an einem Brunnen lag und von zwei Straßen gesäumt war. Es gab dreißig Dörfer in diesem Stamm und unzählige andere in den umliegenden Stämmen.
Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges wurden so bald als möglich Steine gehauen und mit dem Bau des Gebäudes begonnen: Ein Versammlungsraum, der fünfundvierzig Menschen Platz bot, ein kleiner Schlafraum mit übereinander gestellten Feldbetten, sowie eine Garage. Dann wurde der Versammlungsraum möbliert.

Zuerst war der Markt nur von ungefähr vierzig Gebäuden umgeben: Kaffeehäusern, einer Bäckerei, Verwaltungsgebäuden u.s.w. Doch später gab es auch eine große Polizeistation, Schulen und eine Apotheke.
Ein Markt im Mittleren Osten ist immer ein Anziehungspunkt. In der Obst- und Gemüseecke sind Berge von Orangen, Kohlköpfen, Wassermelonen, Kartoffeln, Tomaten und Pfefferschoten aufgestapelt, um die Marktbesucher zum Kauf zu verlocken. Im Sommer gibt es Unmengen von Weintrauben, Pfirsichen und Granatäpfeln, Melonen und Feigendisteln. Dem Käufer ist es erlaubt, das Obst umzuwenden, anzufassen und sich das Beste auszusuchen. Er darf das ablehnen, was fehlerhaft und schlecht ist. In einer anderen Ecke bieten Verkäufer kleine Ledersäckchen aus Ziegenhaut mit Linsen, Bohnen oder Pferdebohnen feil. Große Haufen von Weizen und Gerste liegen da. Beim Abmessen wird der Scheffel gefüllt und trichterförmig nach oben geschichtet. Kann der Käufer noch ein weiteres Korn hineinpacken, dann darf er das tun. Feigen werden leicht in dem Maß heruntergedrückt. Öl wird abgemessen, bis es überläuft. Der ganze Markt ist voll von Männern. Nicht eine einzige Frau oder ein Mädchen sind zu sehen. Am Rande des Marktes sitzen einige sehr alte Frauen und bieten Eier feil. Der arabische Arzt hat seine Waren auf einer Löwenhaut ausgebreitet. Er hat alles von bitterer Aloe bis zu Antimon, um die Augen zu verschönern. (Lidschatten gebrauchte man in Algerien, lange bevor diese Mode nach Europa kam!)
Auch der Zahnarzt ist da und rühmt seine Fähigkeit, jeden Zahn mit seinem Zeigefinger und Daumen herausziehen zu können, und zwar ohne Schmerzen und ohne Blutvergießen. Ein Berg von Zähnen, der fast dreißig Zentimeter hoch ist, zeugt von seinen Erfolgen. Auf dem Tiermarkt drängen sich Herden von Schafen, Widdern und Ziegen zusammen.

Jeden Freitagmorgen pflegte Abd alMasih mit dem Auto nach Beni Ourtilane zu fahren. Bald nach fünf Uhr morgens fuhr er von zu Hause weg. Dort angekommen, fegte er den Versammlungsraum aus, bereitete sein Essen, machte im Winter ein Feuer und wartete auf die Jungen. Auf dem Wege zum Markt drängten diese sich herein, und so hatte er eine Erzählstunde mit den Jungen. Diese Stunden pflegte er in der Reihenfolge nacheinander abzuhalten, bis zirka sechzig oder siebzig Jungen da gewesen waren.

Dann kamen Männer, um sich Rat zu holen oder sich über geistliche Dinge zu unterhalten. Gegen 10 oder halb 11 Uhr ging er zum Markt. Er ging hierhin oder dorthin, unterhielt sich mit Bekannten und kaufte dabei Obst und Gemüse ein. War er dann wieder in dem Versammlungsraum, so kamen Interessierte herein, um das Wort Gottes zu lesen. Lakdar, Yousef, Tehar, Ali und andere vertrauten sich dem Heiland in diesem kleinen Versammlungsraum an.

Nachmittags warf sich Abd alMasih seinen Rucksack über die Schulter und besuchte die umliegenden Dörfer. Zur Nacht kehrte er wieder in sein kleines Asyl zurück. Am frühen Samstagmorgen kamen dann die Kranken. Er arbeitete gewöhnlich bis mittags oder kurz danach. Er predigte, behandelte Kranke, nahm kleinere Operationen vor, wie er es in der Praxis in Hamman schon praktiziert hatte. Wenn es möglich war, begleitete ihn Lalla Jouhra.

Sie besuchte die Frauen und er die Männer, und dann verbrachten sie die Nacht in Beni Ourtilane, indem sie in den übereinander stehenden Feldbetten schliefen. So wurde der Dienst immer weitreichender, und zwischen fünfzig und sechzig Prozent der Bevölkerung hörten in jener Gegend tatsächlich die Botschaft von der Erlösung.
Beni Ourtilane diente schließlich auch als Ausgangspunkt für eine weitere Ausbreitung der Arbeit. Eine schlechte Autostraße führte zu einer Gruppe von fünf weiteren Stammesdörfern. Abd alMasih besuchte diese Dörfer oft, und einige Männer dort baten ihn, sich unter ihnen niederzulassen, damit sie mehr von seinem Dienst profitieren könnten. So beschloß er, während des Monats Mai fünfzehn Tage lang einen besonderen Einsatz zu starten. Die Männer machten ihm die Benutzung eines ausgedienten Kaffeehauses möglich, und zwar mietfrei. Er stellte sein Feldbett in einer Ecke des Gebäudes auf und legte in der anderen Ecke einige Matten auf den Fußboden. Morgens kümmerte er sich um die Kranken, nachmittags saß er mit den Männern in der Moschee. Wenn die Jungen aus der Schule kamen, wurde eine Stunde für sie abgehalten. Nach dem Abendessen versammelten sich die Männer aus den fünf Dörfern, um einer Predigt zu lauschen.
Es war eine ganz neue Erfahrung für ihn, vierzehn Tage lang allein unter den Leuten zu leben. Es wurde dunkel. Der Scheik hatte von der Moschee zum Gebet gerufen. Der Versammlungsraum im Kaffeehaus war bereit. Abd alMasih hatte sich sehr gründlich auf die Predigt an diesem Abend vorbereitet. Er wollte über die Gottheit
Christi sprechen. Dieses Thema ist meist schwierig, aber der springende Punkt. Er mußte nicht nur die ganze Wahrheit sagen, sondern er mußte diese Männer überzeugen, daß Jesus Christus Gott ist. Er begann damit, daß er ihnen von Seiner Präexistenz sagte, der Jungfrauengeburt, Seinem sündlosen Leben, Seiner großen Macht, Seinen Titeln, Seinem sühnenden Tod, Seiner herrlichen Auferstehung, Seiner wunderbaren Himmelfahrt, Seiner augenblicklichen Anwesenheit und dennoch sitzend zur Rechten Gottes, und schließlich Seiner Wiederkunft in Herrlichkeit. Wie würde solch ein Thema von seinen Moslem-Zuhörern aufgenommen werden? Sie lebten alle in der Sicherheit ihrer Umgebung, vertrauten in ihren Herzen auf einen schnellen Sieg in dem Unabhängigkeitskrieg, der nach der Meinung aller bald beginnen würde, und dann würde die Herrschaft des Islams sich uneingeschränkt auf das ganze Land ausdehnen. Der Diener Gottes hatte Grund genug, das Ergebnis einer solchen Predigt zu diesem Zeitpunkt zu fürchten. Er war völlig in ihren Händen; er schlief in ihrem Dorf in einem ausgedienten Kaffeehaus, das weder Schloß noch Riegel hatte. Er war sich seiner großen Schwachheit bewußt, doch war er auch der festen Überzeugung, daß Gott ihm diese Botschaft aufgetragen hatte. Die Versammlung endete, und die Männer verließen den Raum.
Einige Männer lungerten noch in der Dunkelheit herum, wie er an den dunklen Schatten gerade noch ausmachen konnte. Sie kamen wieder zurück. Das war es also! «Herr, hilf mir, treu zu sein», war sein Stoßgebet. Der erste Mann kam auf ihn zu. «Scheik, das war wirklich wunderbar. Das war genau das, was wir wissen und hören wollten.»
«Ein anderer Mann trat auf ihn zu. «Sage uns noch mehr davon. Danke, für die wunderbare Botschaft.»
Und noch ein anderer kam. «Möge Gott dich segnen. Unsere Lehrer sagen uns so etwas nie. Das hat meinem Herzen gut getan.»
Dann wurde ihm ein Angebot gemacht, das er nicht ausschlagen konnte. «Ich werde dir die große Olivenpresse und den angrenzenden Raum zur Verfügung stellen. Du kannst beides mietfrei haben, wann immer du zu uns kommst. Versuche doch, jede Woche bei uns zu sein.»
Abd alMasihs Herz machte einen Sprung. Ist irgend etwas für Gott unmöglich? Das waren also die Männer, die der Arbeit am Anfang so heftig entgegengetreten waren. Jetzt stellten sie ihm Mittel und Wege für eine wöchentliche Versammlung zur Verfügung. So ging er jeweils an den Samstagnachmittagen zu dieser Gruppe von Dörfern. Sein wöchentliches Programm dort enthielt die Krankenversorgung am Nachmittag mit einer anschließenden Predigt, eine Männerversammlung am Abend, und dann eine weite Reise in der Dunkelheit auf der engen, gefährlichen, von tiefen Schluchten gesäumten Straße, zurück nach Lafayette.
Der Hirte führt Seine Diener auf der Suche nach den verlorenen Schafen auf den Weg, den Er selbst gegangen ist. «Wo ich bin, da wird auch mein Knecht sein», bedeutet eine enge Gemeinschaft mit Ihm. Als Er auf dem Wege zum Kreuz war, fragte Er: «Was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen.» Menschenherzen lassen sich nur suchen und finden auf dem Wege des Leidens, des Erduldens und des Opfers. Der Knecht folgt den Fußtapfen seines Herrn. Er ist der Herr über alle, und der Missionar ist Sein williger Diener. Ständig blickt er auf Ihn, um Führung für seine Aufgabe zu erhalten und Seine Größe und Allmacht anzuerkennen. Er ist sich auch völlig bewußt, daß er in Gemeinschaft mit Seinem Herrn geächtet, unerwünscht und verachtet wird. So wird sich eine enge Bindung zwischen dem Herrn und Seinem Diener entwickeln. Die langen Jahre mühseligen Dienstes und der Hoffnung, die oft lange auf sich warten läßt, mögen ihn gemeinsam mit seinem Herrn sagen lassen: «Ich aber dachte, ich arbeite vergeblich und brächte meine Kraft umsonst und unnütz zu.»
Aith Moussa ist ein großes Dorf in den Bergen der Kabylei. Alle zwei Monate besuchte Abd alMasih diese Dörfergruppe. Nach dem Markt verließ er sein Asyl in Beni Ourtilane, verbrachte die Nacht in einem kabylischen Haus und kehrte früh am nächsten Morgen zurück. Als er in das erste Dorf kam, hörte er eine Stimme: «Oh Scheik, komm doch hierher, wir brauchen dich so sehr!»
Zwei Ochsen hatten miteinander gekämpft und das Auge des einen war dabei durchbohrt worden. Man bat ihn, die eiternde Wunde zu behandeln. Dann brachte man ihn zu einem Mädchen, das vom Fieber geschüttelt wurde, zu einer alten Frau mit furchtbarem Husten und schließlich zu einer Frau mit kranken Augen. Abd alMasih notierte sich die Namen in sein Notizbuch, beauftragte den Mann, am nächsten Tag einige Flaschen zur Apotheke zu bringen, um dort die nötige Arznei zu holen und ging weiter zum Kaffeehaus. Dort war es gedrängt voll mit Männern, die Domino und Karten spielten. Sie saßen auf Rohrmatten um runde, niedrige Tische, rauchten und redeten laut durcheinander. Die Atmosphäre glich der in einer Kneipe. Er zog seine Schuhe aus, ließ sie bei denen der anderen Männer vor der Tür stehen, bahnte sich einen Weg an eine Stelle, wo er von allen Männern gesehen werden konnte.
«Was möchtest du, Scheik, Kaffee oder Tee?» «Kaffee, bitte.»
«Wie möchtest du ihn? Süß, süß-bitter, stark, oder gerade richtig?»
«Gib mir ein gedged, bitte.» Ein gedged ist gerade richtig, nicht zu süß, nicht zu bitter, doch beinahe dick genug, um den Löffel darin stehen zu lassen! Er schlürfte seinen Kaffee und wartete. Die Männer am nächsten Tisch hatten ihre Spiele beendet. Dann hatte auch eine weitere Gruppe mit dem Spielen aufgehört. Er spürte, wie sich langsam alle Blicke auf ihn richteten.
«Nun, Scheik, wir warten alle auf dich. Nimm das Buch heraus und lies uns wieder vor.» Niemand brauchte ihm zu sagen, welches Buch. Er trug ja nur eines bei sich. Unter Beifallsgemurmel lauschten sie dem Wort Gottes. Eine halbe Stunde verging. Die anschließende Predigt war direkt, gezielt und darauf ausgerichtet, ihr Verlangen nach dem lebendigen Heiland, der für sie starb, zu stärken. Nach Beendigung der Predigt schickte er sich an, zu gehen.
«Wieviel kostet der Kaffee?» fragte er.
«Das ist schon in Ordnung, Scheik. Wir Kabylen erlauben unseren Lehrern nicht, auch noch den Kaffee zu bezahlen. Bleib nicht solange aus.»
Als er sich auf dem Weg zum nächsten Dorf befand, dachte er darüber nach, daß er im zivilisierten England wohl kaum so in einer Kneipe empfangen worden wäre. Doch hier legten die Männer alle zwei Monate, wenn er wiederkam, ihre Spiele nieder und baten ihn, zu ihnen zu sprechen. Und das war kein Einzelfall, denn fast in der Hälfte aller Kaffeehäuser fand er die gleiche Resonanz. Wie anders war das im Vergleich zu vorher! Er dachte darüber nach, daß in England seine Freunde darum beten, daß der Herr doch nur einen außenstehenden Menschen in den Versammlungsraum bringen möge. Und doch glauben diese Freunde, daß es fast unmöglich ist, die Moslems mit dem Evangelium zu erreichen! Diese Lüge Satans hält sich beharrlich: «Die Moslems wollen einfach das Evangelium nicht.» Er mußte an Jesus denken: «Er tat daselbst nicht viel Zeichen, um ihres Unglaubens willen», und zwar des Unglaubens der Gläubigen! In Gedanken versunken erreichte er das nächste Dorf.
Die Sonne versank wie ein Feuerball hinter dem Horizont. Die Stimme des Muezzin rief die Gläubigen zum Gebet. Es war Zeit für Abd alMasih, seine Botschaft zu beenden. Er verteilte einige Bücher an diejenigen, die lesen konnten und wartete, bis die Gebete beendet sein würden. Er war sicher, daß ihm jemand in wenigen Augenblicken ein Obdach für die Nacht und eine Abendmahlzeit anbieten würde. Nach Beendigung der Gebete verließen die Männer die Moschee. Doch ohne ein Wort zu sagen, gingen sie an ihm vorüber in ihre Häuser. Ein frischer, kalter Wind blies von dem hohen Berg herab, der hoch über dem Dorf aufragte. Die Hirtenjungen kamen mit ihren Schafen und Ziegen pfeifend, schimpfend und sie antreibend vorbei. Ein Mann trottete mit einigen Ochsen vorüber. Auf seinen Schultern lag der schwere Holzpflug. Er ging durch das massive Holztor, vor dem Abd alMasih saß, in den Hof und warf es kurze Zeit später mit einem Knall zu. Die schweren hölzernen Riegel wurden vorgeschoben. Dann wurde alles still und dunkel. Er hörte, wie einer der Familienoberhäupter nach dem anderen ihre Türen schlossen und sie verriegelten. Niemand würde bis zum Morgen wieder herauskommen. Erst dann würde der Familienchef die Tür wieder für den ganzen Tag öffnen. Innerhalb der Häuser waren sicher jetzt die Matten ausgelegt worden. Bald würden die Familien auch ihr Bettzeug ausbreiten und sich für die Nacht zurückziehen. Das Bild stand ihm plastisch vor Augen. So oft hatte er an ihren Feuern gesessen, an ihrer Mahlzeit teilgenommen und ihre Gemeinschaft genossen. Doch heute Abend war er ausgeschlossen. Er wartete. Wiederum ertönte das Schreien des Scheiks durch die Nacht. Es war Laacha, das letzte Gebet des Tages, eine Stunde nach Sonnenuntergang. Aus einigen Häusern drang Stimmengewirr. Dort scharte sich die Familie um das wärmende Feuer und besprach die Ereignisse des Tages. Es war kalt in dieser Berggegend, nachdem die Sonne untergegangen war. Abd alMasih saß da und zitterte in der kalten Bergluft.
Es gab keinen Zweifel mehr: Dies war eine abgekartete Sache, eine offensichtliche Beleidigung. Das Gesetz kabylischen Gastfreundschaft war ignoriert, und der Gast draußen vor der Tür gelassen worden. Abd alMasih erkannte, daß er den Weg allein über jene kalten, kahlen Berge zurückfinden mußte. Er wanderte durch das schlafende Dorf. Selbst die Hunde waren verstummt. Es war stockdunkel. Er ging an dem Friedhof und an den Gräbern vorbei, erklomm den holprigen Bergpfad, der mit Steinen und Felsbrocken übersät war. Dann und wann stolperte er und fiel fast hin. Was war das? Er erstarrte. Es war nur der Schrei einer Eule, die über seinen Kopf huschte. In der Nähe heulte eine Hyäne. Er hatte großen Hunger, war todmüde und von dem eisigen Wind bis auf die Knochen durchgefroren. Immer weiter erklomm er die Höhe, bis sich der Weg zu einem schmalen Fußpfad verengte. Dicht daneben fiel der Berg einige hundert Meter schroff ab. Seine Nagelschuhe rutschten auf dem glatten Felsboden oft aus. Er riß sich zusammen. Und wiederum durchdrang der unheimliche Schrei eines Nachtvogels die Luft. Kein Kabyle würde es wagen, solch eine Reise nachts allein über jene Berge zu machen. Doch er war ja gar nicht allein! «Ich werde euch nicht verlassen, noch versäumen.» Immer wieder kam ihm dieser Vers in den Sinn. Dies war ihm eine herrliche Gewißheit von seinem immer anwesenden Herrn. Und doch fühlte er sich äußerlich so schrecklich einsam. Er dachte daran, daß es auch im Leben Jesu eine Begebenheit gegeben hatte, als «jedermann in sein Haus ging, doch Jesus ging hinaus an den Ölberg». Völlig erschöpft setzte er sich auf einem Felsen nieder und blickte auf das Dorf unter sich hinab. Hier und da flackerte immer noch ein Licht. Die Geräusche waren noch nicht ganz verstummt, einige Menschen waren noch auf, dort unten. Nur ihn hatte man ausgestoßen, er war abgewiesen worden, verhaßt, weil er in Verbindung stand mit seinem abgewiesenen Herrn. Er betete für diese Menschen … und dann weinte er bitterlich.
Er erreichte in den frühen Morgenstunden seine kleine Oase und warf sich völlig erschöpft und todtraurig auf das Bett. Er war total entmutigt von der Schwere der Nachfolge. Warum läßt Gott in Seiner unendlichen Weisheit solchen Kummer zu? Sicherlich um Seinen Knecht in eine engere Gemeinschaft mit sich selbst zu ziehen, und damit er die Gemeinschaft Seiner Leiden tiefer empfinden lernt.
Zu dieser Geschichte gibt es noch eine Fortsetzung. Am folgenden Morgen wurde Abd alMasih schon sehr früh wieder geweckt. «Sebah alkheyr, ya scheikh» (Guten Morgen, Scheik). «Schnell, öffne die Tür! Ich habe die Flaschen mitgebracht. Gib mir sofort meine Medizin, damit ich wieder zurück zur Arbeit kann.» Es war einer der Männer aus dem Dorf, in dem er am vorhergehenden Tag gewesen war. Der Versammlungsraum füllte sich mit weiteren Männern, und Abd alMasih begann seine Predigt. Die Kabylen sind recht aufgeweckt und begreifen den Sinn eines Gleichnisses schnell. So beschloß Abd alMasih, dieses schmerzliche Erlebnis als passende Illustration anzuwenden.
«Heute Morgen habe ich euch allen eine Geschichte zu erzählen. Gestern traf ich in einem Dorf einen Mann, der meine Medizin braucht. Heute Morgen ist er hier. Gestern Abend saß ich vor seiner Tür. Er sah mich und wußte genau, daß ich ein Obdach und Wärme brauchte. Doch ließ er mich auf der Straße sitzen, vor seinem Hause, vor seiner Tür. Er wollte aber eigentlich meine Medizin. Er wollte unbedingt das, was ich ihm geben konnte. Doch mich wollte ei nicht. Heute Morgen steht er vor der Tür meines Hauses und erwartet von mir, daß ich ihn empfange und ihm das gebe, was er haben will.
Darf ich jetzt vom Wort Gottes vorlesen? Der Herr Jesus sagt: `Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an; so jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.’ Heute steht der Herr Jesus vor eurer Herzenstür. Ihr wißt, daß Er einkehren möchte. Ihr wollt Seine Gaben. Ihr wollt Sein Wort hören, doch Ihn wollt ihr draußen lassen. Ihr lehnt Ihn ab. Hört noch einmal her. Der gleiche Herr Jesus sagt: `Wenn der Hausherr aufgestanden ist und die Tür verschlossen hat, da werdet ihr dann draußen stehen, an die Tür klopfen und sagen: Herr, Herr, tu uns auf! Und er wird antworten und zu euch sagen: Ich kenne euch nicht, woher seid ihr? So werdet ihr dann anfangen zu sagen: Wir haben vor dir gegessen und getrunken, und auf den Gassen hast du uns gelehrt. Und er wird sagen: Ich sage euch: Ich kenne euch nicht, wo seid ihr her? Weichet alle von mir, ihr Übeltäter!’ (Lukas 13, 25-27) Dies sind Seine Worte für euch heute. Morgen steht ihr vor Seiner Tür. Was wird Er zu euch sagen, wenn ihr euch heute geweigert habt, Ihn in eure Herzen einzulassen? Geht jetzt zurück in euer Dorf und nehmt diese Botschaft mit und sagt sie den anderen.»
Am folgenden Markttag kamen einige führende Männer aus jenem Dorf, um ihr Bedauern über diesen Vorfall zum Ausdruck zu bringen. Sie baten Abd alMasih, zurückzukehren und die Nacht in ihrem Hause zu verbringen. Das tat er dann auch in der folgenden Woche, denn Liebe ist nicht nachtragend. Sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles und sie duldet alles. Doch hatte es sehr wehgetan, draußen in der Kälte bleiben zu müssen, um so mehr, weil er sie so liebte.

Kapitel 14  –  Das finstere Tal

Die Berberbevölkerung Algeriens ist ungemein intelligent und durchaus fähig, es mit Europäern in jedem Lebensbereich aufzunehmen. Doch infolge der Anwesenheit von über einer Million europäischer Einwohner, wurde Algerien erst nach sieben langen Jahren blutiger Kämpfe seine Unabhängigkeit gewährt. Am besten ist es für die Missionare, sich vor einer Einmischung in die Politik zu hüten und während eines Bürgerkrieges neutral zu bleiben. Trotzdem ist es fast unmöglich, in solch einem Fall in der Arbeit für den Herrn nicht deutlich die Folgen zu spüren. Immer wieder waren die Missionare tief betrübt, das Ausmaß an Brutalitäten zu sehen, die auf beiden Seiten an der Tagesordnung waren. Dennoch setzte sich Sein Werk fort, und Seine Treue und Seine Allmacht wurden ständig sichtbar.
Der Kampf um die Unabhängigkeit begann am 1. November 1954, als Europäer, die in den Aures-Bergen unterwegs waren, überfallen wurden. In der Kabylei wurden gleichzeitig haufenweise Korken abgefeuert und Polizeistationen angegriffen. Einige Monate lang hielt sich der Krieg in Grenzen. Autos wurden angehalten und mit Maschinenpistolen beschossen; einzelne bekamen Drohbriefe, daß sie getötet würden, wenn sie den Befehlen nicht nachkämen. Manche wurden verstümmelt, indem man ihnen Ohren und Nase abschnitt oder sie anderweitig verkrüppelte. Zu Beginn war die Bewegung politischer Natur, doch dann wurde sie zusätzlich von religiösen Führern geschürt, die sie «zum heiligen Krieg» proklamierten. Während des Jahres 1955 streiften etliche Gruppen von Aufständischen, mit Gewehren, Messern und Maschinenpistolen bewaffnet, durch das ganze Land, doch besonders fand man sie in der bergigen Gegend der Kabylei und der Aures-Berge. Die Arbeit in Lafayette und auf den drei Außenstationen wurde auch in dieser Zeit weiter fortgeführt. Abd alMasih gelang es mit viel Mühe, innerhalb dieses einen Jahres auch zweihundertfünfzig Dörfer zu erreichen.
Man hatte Abd alMasih gewarnt. Das fragliche Dorf lag in einer einsamen Gegend, zwischen Aleppokiefern und steil abfallenden Hängen aus Geröll und Schutt. «Es wäre weiser, nicht dorthin zu gehen», sagte man ihm. «Letztes Jahr wurden dort zwölf Menschen von bezahlten Totschlägern kaltblütig ermordet. Für nur fünf englische Pfund töten sie einen Menschen, indem sie ihn vergiften oder erschießen. Doch meistens nehmen sie fünfzig Pfund. Sie sind äußerst gefährlich, und man kann ihnen nicht über den Weg trauen. So paß gut auf.» Abd alMasih hatte es wohl vernommen. Sollte er trotz der Warnung dorthin gehen? Und doch gab es dort Menschen, für die Christus gestorben war. Doch wie sollte er sie erreichen? Mit. Zittern und Zagen näherte er sich dem Dorf, betrat es und begann mit den Männern eine Unterhaltung. Dann öffnete er seine Bibel und las aus Galater: «Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit. Wider solche ist das Gesetz nicht. Die Werke des Fleisches sind aber Ehebruch, Haß … Zwietracht … Mord … Feindschaft …» Er hielt inne.
«Ist es möglich, daß es in diesem Dorf auch Mörder gibt?» fragte er.
«Es gibt vierzig oder noch mehr. Fast jeder Mann in diesem Dorf hat irgendein Leben auf dem Gewissen», war die feierliche Antwort. Schweigend hörten sie auf das Wort Gottes, doch das Schweigen war fast unheimlich. Er verließ ihr Dorf und ging zu seinem Auto zurück, das er am Wegesrand stehengelassen hatte.
Unterhalb der Straße lag noch ein weiteres, recht großes Dorf. Sollte er zu den Männern auch dort noch hinuntergehen? Vor zehn Jahren hatte er es mit einem Mitarbeiter besucht, und sie waren mit unflätigen Worten aus dem Dorf hinausgetrieben worden. Jetzt war er allein. Er ging abseits in einen Busch, um zu beten. Er konnte beobachten, wie die Männer dort unten in die Moschee hinein- und wieder hinausgingen. Sie sahen aus wie kleine Ameisen. Sein Herz war voller Angst. Wie konnte er allein den Weg machen? Er nahm sein Neues Testament aus der Tasche, und ein Wort sprang ihm förmlich in die Augen. «Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.» Immer noch ängstlich und voller Furcht, doch gestärkt durch die Verheißung, ging er hinunter, um sich der bitteren Opposition zu stellen. Doch sie blieb aus. Stattdessen versammelten sich achtzig Männer und hörten aufmerksam der Predigt zu. Es gab auch unsichtbare Zuhörer, von denen er nichts wußte. Fast ein Jahr später erzählte eine Frau in einem Dorf, das fast achtzig Kilometer weiter weg lag, Lalla Jouhra, wie sie an diesem Tage zugehört und dann geglaubt habe.
«Kennst du diesen Mann, der in unserem Dorf sprach?» fragte sie Lalla Jouhra. «Du sagst nämlich genau dasselbe wie er.»
«Er ist mein Mann», war die Antwort.
«Unsere Männer können die Botschaft, die dein Mann ihnen an jenem Tage erzählte, nicht vergessen. Wochenlang sprachen sie in ihren Häusern darüber.»
«Wie gut ist der Gott, dem wir dienen! Wie gnädig gebraucht Er Seine zögernden, furchtsamen Diener!»
Die Sonne ging unter, als Abd alMasih sich zu seinem Zelt aufmachte, das er am Straßenrand aufgeschlagen hatte. Er wurde von seinem kabylischen Begleiter begrüßt.
«Laselama, ya sheikh» (Kehre wieder in Frieden, Lehrer). «Ich brauche den Kocher heute Abend nicht anzumachen. Sie haben couscous und Fleisch vom Dorf herübergeschickt» (vom Dorf der Totschläger).
«Preist Gott dafür», sagte Abd alMasih: «Nimm zwei Teller heraus, wir wollen zusammen essen.»
Er erwiderte jedoch: «Nein, Scheik, das ist alles für dich. Ich habe meine Portion gegessen.» Doch Abd al Masih bestand darauf, daß sie zusammen essen sollten, wie sie das immer gemacht hatten. Der Kabyle blieb aber fest. «Dann kannst du das Zeug in die Schlucht hinunterwerfen.» Es lag offen zu Tage, daß das Essen vergiftet war!
Am nächsten Tag besuchte er einige weitere Dörfer, und der Kabyle ging über die Berge in seine Heimat zurück. Abd alMasih sollte die letzte Nacht allein verbringen, nur wenige Meilen von dem Dorf der Totschläger entfernt. Er suchte sich einen Platz, wo er für die Nacht sein Zelt aufschlagen wollte. (1000 Meter über dem Meeresspiegel, herrlich gelegen inmitten eines duftenden Fichtenwaldes.) Die Hänge des Berges fielen steil ab in tiefe Schluchten, wo noch Bären herumstreiften. Es war einer der wildesten und zerklüftetsten Teile des Landes. Nur ein Haus stand in der Nähe und das Postamt. Dort konnte er Wasser bekommen. Außerdem würde er in der Nähe eines Regierungsbeamten sein. Die Lage im Lande war gespannt und wurde von Emotionen beherrscht. Viele hatten ihr Leben in den ersten Monaten dieses traurigen Krieges verloren. Doch kommt die Nacht, «da niemand wirken kann». Er mußte weiter. Er ließ den Wagen an der Straße stehen und stolperte wiederum den steilen, steinigen Pfad hinunter zur Moschee, wo die Männer sich versammelt hatten.
Die Sonne war fast am Horizont untergegangen, als er den Flecken verließ und sich auf den Weg zurück zu seinem Auto machte. Ein bösartiger arabischer Hund verfolgte ihn eine ganze Weile. Dieses zottige Tier kam so nahe, daß ihm mulmig zumute wurde. Schon oft war er von diesen halbwilden Hunden angegriffen worden, die einem gleich an die Kehle springen. Fremden gegenüber waren sie immer böse. Mit dem Rücken zur Wand hielt er sich dann den Köter mit seiner Tasche vom Leibe, bis jemand kam und den Hund zurückrief. Doch hier in den Bergen gab es ja niemand, der ihm half. Er bewarf den Hund immer wieder mit Steinen, doch hartnäckig verfolgte dieser ihn weiter. Keuchend und nach Atem ringend, kletterte er den steilen Berghang hinauf. Endlich erreichte er sein Auto. Der Köter verfolgte ihn noch immer. Er fuhr zum Haus des Försters, doch dort war niemand. Dann ging er zum Postamt; zu seinem Entsetzen mußte er feststellen, daß auch dieses leer war. Er erfuhr später, daß es für den Postbeamten viel zu gefährlich war, an diesem einsamen Ort zu übernachten. Der Mann und seine Familie verbrachten die Nacht unten im Dorf.
Ein unheimliches Gefühl der Ruhe überkam Abd alMasih, als er sein Auto aufschloß, sein Zelt herausnahm, es aufstellte, dazu sein Feldbett und den Kocher. Der Köter war immer noch da. Er schlich in einiger Entfernung herum und sah im Dämmerlicht aus wie ein riesiger, grauer Wolf. Er unternahm noch einen Versuch, ihn mit Steinen zu vertreiben. Der Hund wich zurück. Abd alMasih kochte sich ein wenig Makkaroni zum Abendessen und blickte sich dann noch einmal um, bevor er sich zur Nacht niederlegte. Dieser elende Köter war immer noch da, und sah so bedrohlich und bissig aus, daß er ihn noch einmal zu vertreiben versuchte, indem er ihn mit einem Hagel von Steinen bombardierte. Die Sonne war untergegangen. Die Dunkelheit griff um sich. Nicht eine Menschenseele war zu erblicken. Die Straße lag verlassen. Es war unheimlich.
Abd alMasih war todmüde. Er streckte sich auf seinem Feldbett aus und war bald fest eingeschlafen. Um Mitternacht wurde er von einem seltsamen Geräusch aufgeschreckt. Er setzte sich im Bett auf und machte seine Taschenlampe an. Zu seinem Entsetzen sah er, daß der wilde Köter in sein Zelt gekrochen und neben seinem Bett eingeschlafen war. Was war das? Ein Zweig knackte. Da war doch jemand. Der Hund knurrte. Wieder knipste er seine Taschenlampe an und schaute sich um. Zu seiner großen Überraschung fand er das Brot und die Makkaroni, die von seinem Abendessen übrig geblieben waren, auf dem Teller unter dem Bett unberührt. Er war zu müde gewesen, so daß er gleich eingeschlafen war und das Essen unter seinem Bett stehengelassen hatte. Er rieb sich die Augen. Es schien unfaßbar! Das Essen stand noch da, unangetastet von dem wilden, halbverhungerten Hund. Bei Tagesanbruch war er auf den Beinen, rief den Hund nach draußen und gab ihm das übriggebliebene Essen, das dieser sogleich verschlang. Eine Katzenwäsche, danach eine Tasse Kaffee, und dann legte er das Zelt zusammen und packte es in das Auto. Bevor er den Motor anließ, sah er seinen neuen Freund, den Hund, den er so grausam gesteinigt hatte, sich den Berg hinuntertrollen mit vor Freude wedelndem Schwanz. Warum war der Köter, den er so schlecht behandelt hatte, ihm so hartnäckig auf den Fersen geblieben? Wer hatte ihn geschickt? Man kann darüber anderer Meinung sein, doch Abd alMasih war sicher, daß der Gott, der für Daniel sorgte, in jener Nacht auch für ihn gesorgt hatte. Eine Gefahr stand bevor. Der Herr wußte das und hatte für Seinen Knecht gesorgt und ihn behütet. Abd alMasih hatte Ihn ja in so vielen Situationen auf die Probe gestellt und treu erfunden, daß die Verheißung «Siehe, ich bin bei euch alle Tage» für ihn kein leeres Wort war. Warum der Herr ihm in dieser Situation einen Hund schickte, würde er niemals erfahren, doch er kannte Ihn gut genug, um Seiner Weisheit, Liebe und Macht zu vertrauen.
Das war die letzte Reise, die er zu entlegenen Dörfern unternahm. Die wöchentlichen Besuche nach Beni Ourtilane wurden jedoch fortgesetzt, und an jedem Freitagnachmittag ging er in die umliegenden Dörfer. Eine ganze Reihe von Männern hatte sich in Houria versammelt, und Abd alMasih blieb bis zum Sonnenuntergang, bevor er sich auf den Nachhauseweg machte. Eine Wegstunde lag zwischen ihm und seinem kleinen Obdach neben dem Markt. Ein steiler Anstieg begann. Es dunkelte langsam, und bald konnte man den Weg nur noch einige Meter vor sich erkennen. Plötzlich hörte er gedämpfte Schritte hinter sich, und bevor er sich versah, umstellte ihn eine Bande kräftiger Jugendlicher.
Jemand hielt ihm ein Licht ins Gesicht und rief: «Na, so etwas, es ist der Scheik.»
«Scheik, hast du nicht Angst, nachts allein zu gehen, nach allem, was hier herum so passiert?» fragten sie.
«Ich bin nicht allein», sagte er. Sofort waren sie auf der Hut und spähten in die Dunkelheit. Doch plötzlich wurde ihnen klar, was er damit meinte. Er hatte einen unsichtbaren Gefährten.
«Nein, Scheik, natürlich bist du nicht allein. Du hast ganz recht. Gehe in Frieden, und möge Gott deinen Weg leichtmachen!» So ging er zurück zu seinem einsamen Vorposten.
Die Nachtwanderung zurück von den fünf Dörfern an jedem Samstagabend bedeutete eine ungeheure Herausforderung. Sollte er auch weiterhin jeden Samstagabend zurückkommen? Das würde ja gewissermaßen heißen, dem Unglück Tür und Tor zu öffnen! Doch steht da: «Siehe ich habe vor dir eine offene Tür gegeben», und «Die Nacht kommt.» In dieser Zeit wurden häufig Straßensperren errichtet. Große Baumstämme lagen über den Straßen und zwangen den Fahrer des Wagens oder Busses anzuhalten. Am nächsten Morgen sah man dann nur noch das ausgebrannte Wrack des Autos oder Busses und die verstümmelten Leiber der Mitfahrer! Außerhalb der Städte ließ sich nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr blicken. Die Nationalisten rühmten sich: «Das Land gehört nach dem Sonnenuntergang uns. Wir kontrollieren alles. »
Es war neun Uhr abends. Die Männerversammlung war vorüber und Abd alMasih steuerte sein Auto auf der gewundenen Straße zurück nach Lafayette. Bei einer Kurve beleuchteten die Scheinwerfer plötzlich riesige Felsblöcke, die über die Straße gewälzt waren und sie versperrten. Sie nahmen die ganze Straße ein, der Wagen konnte nicht ausweichen. Eine unheimliche Stille herrschte. Er schickte ein Stoßgebet nach oben: «Herr, ich bin dein. Die Arbeit ist dein. Bringe mich hier irgendwie heraus.» Ruhiger geworden bemerkte er, daß er sich doch vorbeiquetschen könnte, wenn er durch den Graben fahren würde. «Preist den Herrn!» Noch weitere zehn Meilen, und er war zu Hause. «Halt, Hände hoch!» Ein helles Licht schien ihm in die Augen und blendete ihn. Der Lauf eines Gewehres wurde auf seine Brust gerichtet.
«Qui est-ce?» (Wer ist da?). Es waren die Ortsgendarmen, die die Straße unterhalb ihres Hauptquartiers bewachten.
«Es ist sehr unsicher, nachts unterwegs zu sein, Monsieur le Pasteur. Warten Sie lieber, bis die Unruhen vorüber sind. Sie werden nicht länger als eine Woche dauern. Sie wissen ja, daß Sie in der Kabylei nach Einbruch der Dunkelheit gefährdet sind.» So meinten sie, doch er wußte, daß er in stärkeren, weiseren und besseren Händen war.
Und so ging die Arbeit auch weiter. Zum Jahresende befanden sich über hunderttausend Sicherheitsbeamte in Algerien, und trotzdem nahmen die Ausschreitungen zu. Beide Seiten waren schuldig. Rivalisierende Banden durchstreiften das Land. Plünderungen, Vergewaltigungen, Brandstiftung und Mord waren an der Tagesordnung. Persönliche Feindschaften aus der Vergangenheit, Stammesfehden, religiöser Haß und falsche Anschuldigungen dienten als Vorwand für ein weiter um sich greifendes Morden. Und auch die Arbeit Gottes ging weiter.
Abd alMasih wird niemals seinen letzten Besuch auf der kleinen Missionsstation in den Bergen vergessen. Den Freitagmorgen hatte er mit Besuchern vom Markt verbracht und den Nachmittag in den Dörfern. Am Samstag war ein öffentlicher Feiertag, und er wußte, daß nur wenige zu der Klinik kommen würden. Er verließ sein kleines Asyl morgens um vier Uhr, gerade als der Tag über den herrlichen Bergen anbrach, in denen der Tod von jedem Abhang und aus jedem Tal lauerte. Er fuhr ungefähr fünfzehn Kilometer durch verkohlten Wald, den man absichtlich abgebrannt hatte, um bei einem Überfall keinen Schutz zu gewähren. Dann parkte er seinen Wagen an der Straße an einer verlassenen Stelle, meilenweit von jedem Dorf entfernt und überließ ihn der Obhut Gottes, der ihn niemals verlassen hatte. Er warf sich seinen Rucksack mit Traktaten und einigen Neuen Testamenten über die Schulter und machte sich auf den unebenen, steinigen Weg. Er war völlig allein. Nach einer Stunde erreichte er das erste Dorf. Ein alter Mann fragte: «Was war denn gestern Abend? Es roch nach Schießpulver!» Abd alMasih versicherte ihm, daß er nichts wußte. Später kam heraus, daß eine Bande den Bus angehalten hatte, der vom Markt kam. Sie waren weiter gezogen, hatten den Bulldozer angesteckt, der eine neue Straße planierte, die vier Wachmänner gefangen genommen und die Nacht dann in den Dörfern verbracht, in der sich Abd alMasih jetzt befand. Von all dem wußte Abd alMasih nichts.
Die Männer waren in guter Laune. Dreißig versammelten sich jeweils in den ersten zwei Dörfern. Nicht ein Wort fiel über die Unruhen, und sie hörten der Verkündigung aufmerksam zu. Dann dankten sie ihm herzlich dafür, daß er in dieser Zeit überhaupt noch zu ihnen kam. Er durchquerte das Tal zu einem anderen Dorf auf der gegenüberliegenden Seite, und während er dort noch mit den Männern redete, hörte er, wie jemand aus der Entfernung rief. Erst jetzt bemerkte er, daß der ganze Berg von Truppen nur so wimmelte. Dann wurde ihm mitgeteilt, was sich letzte Nacht ereignet hatte. Die Truppen und der ausgebrannte Bulldozer standen zwischen ihm und seinem Wagen. Andere Fahrzeuge waren zerstört worden, doch sein kleines Auto war intakt, bewacht von unsichtbaren Augen und in sicherem Gewahrsam.
Abd alMasih aß sein Butterbrot und machte sich auf zum letzten Dorf. Genau sechzehn Männer versammelten sich draußen im Freien auf den großen Steinen beim öffentlichen Versammlungsplatz. Jede Einzelheit ist ihm bis zum heutigen Tag noch gut in Erinnerung: der Hügel, der sich steil hinter ihnen erhob, mit dem ausgebrannten Bulldozer, Hunderte von Soldaten, die ihn mit schußbereiten Maschinengewehren umgaben. Es war offensichtlich, daß nach Verkündigung der Botschaft es in den Rachen des Löwen ging. Eine wirklich feierliche Atmosphäre für eine Evangeliumsversammlung! Er erinnerte seine Zuhörer daran, daß der Tod der Lohn der Sünde ist. Er sagte ihnen, daß sie Vergebung brauchten und erzählte ihnen von dem Einen, der Vergebung und Erlösung gebracht hatte.
Inzwischen warfen die Truppen große Felsbrocken in die Schlucht hinunter, die man vom Dorf aus sah. Plötzlich durchbrach eine Maschinengewehrsalve die Stille. Feuerten sie auf die kleine Gruppe? Nein, sie sollten nur gewarnt werden. Die Salve war auf die Schlucht, nur wenige Meter von ihnen entfernt, gerichtet gewesen. Die natürliche Reaktion in solch einer Situation ist, sich hinzuwerfen und Schutz zu suchen. Doch einer der Dorfbewohner rief: «Bleibt, wo ihr seid! Sie beobachten uns nur.» Dann wandte er sich an Abd alMasih und sagte: «Scheik, mach weiter. Predige deine Botschaft zu Ende.»
Das war eines der schwierigsten Dinge, die er je getan hatte. Doch die Predigt wurde zu Ende gebracht, die letzte, die er in diesem Dorf halten sollte. Er schüttelte allen die Hände und sagte: «Auf Wiedersehen». Dann mußte er den Behörden gegenübertreten. Er fand das Militär um den ausgebrannten Bulldozer versammelt. Die Ortsgendarmen erblickten ihn und riefen aus: «Es ist Monsieur le Pasteur! Wir hatten gemeint, es sei ein Rebellenführer.» Abd alMasih drückte sein aufrichtiges Bedauern über diese mutwillige Zerstörung aus. Es war offensichtlich, daß die Soldaten über ihn ungehalten waren. Äußerlich sprach alles gegen ihn. Es schien, als ob er Hand in Hand mit den Rebellen arbeitete.
In der folgenden Woche wurde das gesamte Gebiet um Beni Ourtilane und jene Dörfer von der französischen Armee aufgegeben. Unterhalb Lafayette wurde ein Kontrollposten zusammengezogen. Betrübt erkannte Abd alMasih, daß die Menschen in jenen fünfhundert Dörfern, die er so regelmäßig über viele Jahre hinweg besucht hatte, die Gute Nachricht zum letzten Mal gehört hatten. Die Nacht war gekommen, in der niemand wirken kann.
Von ihrem Hause aus beobachteten Abd alMasih und Lalla Jouhra den langen Konvoi, der sich nach Lafayette bewegte. Er bestand aus Armeelastern, die mit Geräten und Möbeln europäischer Siedler beladen waren und von Tanks und Panzerwagen begleitet wurden. Sie wußten, daß die französische Armee aus der Kleinen Kabylei evakuiert wurde. Die Straße nach Beni Ourtilane war von der Befreiungsarmee an über vierzig Stellen unterbrochen worden, die Brücken waren gesprengt, und jedes europäische Gebäude in dem ganzen Gebiet war zerstört. Jede Schule, jedes Postamt, das Försterhaus und jede Farm wurden dem Erdboden gleichgemacht. Systematische Bombardements wurden von der anderen Seite auf die Dörfer ausgeführt. Das ganze Gebiet, in dem Abd alMasih dreißig Jahre lang gearbeitet hatte, um das Evangelium zu predigen und für die Kranken zu sorgen, war jetzt ein Schlachtfeld. Die Außenstationen in den Bergen waren hinfort in den Händen der Nationalisten. Sie konnten nicht mehr besucht werden.
Einige Dörfer entschieden sich für die Franzosen, andere sympathisierten mit den Nationalisten. Ganze Ortschaften wurden völlig zerstört, und in einigen Orten kam die gesamte Bevölkerung um. Ein Überlebender aus einem Dorf berichtete: «Plötzlich waren sie da und forderten Nahrung und Obdach. Sie nahmen das Beste von allem. Alle unsere jungen Männer wurden als Soldaten genommen. Unser Vieh wurde weggetrieben. Wir wurden gezwungen, alle unsere Vorräte an Feigen, Korn und Öl herauszugeben.»
Die Banden wurden von Flugzeugen aufgespürt und mit Raketen, Bomben und Maschinengewehrfeuer angegriffen. Viele Dörfer waren nur noch rauchende Trümmerhaufen.
Nach fünf Monaten kämpfte sich die französische Armee zurück nach Beni Ourtilane. Der kleine Versammlungsraum war immer noch intakt. Gott hatte ihn bei all den Kämpfen und im Bombenhagel bewahrt. Die Moslems hatten ihn als Haus Gottes respektiert. Dort hatten sie das Wort Gottes gehört. Dort hatten sie gebetet, und etwas von der Liebe Christi spüren können. Er stand noch zwischen den Ruinen, ein stummer Zeuge für die Macht der Liebe. Ein gläubiger Mann war zugegen gewesen, als die Armee das Gebäude dann doch vorsätzlich zerstörte, mit allem was darin war.
Monatelang bekam er keine Erlaubnis, dorthin zurückzukehren. Doch schließlich wurde es Abd alMasih gestattet, mit einem französischen Armeekonvoi nach Beni Ourtilane mitzufahren. Welch trauriger Anblick bot sich seinen Augen! Alle Tür- und Fensterrahmen waren herausgerissen und verbrannt worden. Die Zwischenwand zwischen Versammlungs- und Wohnraum war niedergerissen. Auf dem Fußboden war ein heilloses Durcheinander von Teilen der Heiligen Schrift, Dachziegeln, Kochtöpfen, zerbrochenem Geschirr, verbogenen Bettgestellen, zersplitterten Stühlen, Medizinflaschen, Salben und Bibeln. Soviel harte Arbeit war in die Errichtung dieser Außenstation gesteckt worden. Jahrelang war es das Zuhause des Missionars in den Bergen gewesen, ein Leuchtturm, aus dem die Strahlen göttlicher Wahrheit leuchteten. Jetzt war das Licht ausgelöscht. Das Gebäude war eine Ruine. War das ein erneuter Schlag vom Teufel? Paulus sagt: «Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um … wir … werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen … darum ist nun der Tod mächtig in uns, aber das Leben ist stärker.» Er stand auf und kämpfte weiter.
Die Tür zur Kabylei war geschlossen. Der Bibellesebund wußte, daß Abd alMasih die vier Evangelien in den Dialekt der Kleinen Kabylei übersetzt hatte. Kurz bevor die Unruhen begannen, hatten sie ihn deshalb gebeten, die Verantwortung für die Revision des kabylischen Neuen Testamentes zu übernehmen. Es gab viele recht unglückliche Fehler in der ersten Übersetzung. Diese mußten korrigiert und dabei das gesamte Neue Testament gründlich revidiert werden. Gott hatte ihn von seinem sehr beschäftigten Leben als Evangelist freigestellt, damit er seine Zeit dieser noch wichtigeren Aufgabe der Übersetzung widmen konnte, für die Er ihn in den letzten dreißig Jahren seines Dienstes ausgerüstet hatte. Ein Komitee von Missionaren und Algeriern wurde dazu gebildet. Jetzt war er fähig, sich ganz und gar dieser Arbeit zu widmen. Doch verschiedene Komiteesitzungen machten es unumgänglich, daß er auf den Straßen unterwegs sein mußte, die durch feindliche Einwirkungen in dem Bürgerkrieg äußerst gefährlich waren. Wieder war er auf die treue Bewahrung Gottes angewiesen. Manche Missionare meinten, es sei tollkühn, unter diesen Umständen zu reisen, doch Abd alMasih hatte keine andere Wahl, wenn er mit den fachlichen Beratern in dem großen Gebiet Kontakt haben wollte, und diese sich weigerten zu reisen. Dann mußte er eben zu ihnen gehen. Doch wie? Sollte der Diener Gottes unter dem Schutz einer Militäreskorte reisen?
Oder sollte er diese gefährlichen Reisen auch weiterhin unternehmen, indem er dem lebendigen Gott vertraute? Sicherlich sollte die Einstellung eines Esra auch die Seine sein! «Denn ich schämte mich, vom König Geleit und Reiter zu fordern, uns wider die Feinde zu helfen auf dem Wege. Denn wir hatten … gesagt: `Die Hand unseres Gottes ist zum Besten über alle, die ihn suchen …’»
Die Kabylen und Araber kannten seine Einstellung und respektierten ihn dafür. In all den Jahren hatte jeder Moslem, der Christ wurde, immer mit der Möglichkeit des Todes zu rechnen. Der christliche Missionar hingegen war kein Abtrünniger und war deshalb gegen Gefahr und Tod gefeit. Jetzt war die wunderbare Gelegenheit gekommen, eine Haltung strikter Neutralität zu vertreten, absoluter Abhängigkeit von Gott, und einen praktischen Beweis dafür zu liefern, daß der Gott, dem er diente, erretten kann… Er kann wohl … doch wo nicht …? Auch diese Möglichkeit mußte erwogen werden. Wenn Er ihn nicht bewahrte, dann würde er hingehen, um beim Herrn zu sein. «…fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.»
Für die Reise nach Les Quadhias brauchte er einen besonderen Passierschein. Die zwei Straßen, die in dieses Gebiet führten, waren so gefährlich, daß es allen, außer Militärfahrzeugen, verboten war, sie zu benutzen. Eine Straße blieb noch offen. Überall waren die Auswirkungen des Krieges ersichtlich. In jedem Dorf standen Blockhütten, aus denen Gewehr- und Geschützläufe herausragten. Dazu gab es Aussichtstürme, Militärpatrouillen, das Knattern von Maschinengewehren, das Dröhnen schwerer Artillerie, das Aufheulen tieffliegender Kampfflugzeuge und Hubschrauber. Nach sechsstündiger Fahrt über gefährliche und völlig verlassene Straßen erreichte Abd alMasih die Missionsstation im Herzen der Kabylei, wo zwei einsame Missionsschwestern tapfer die Stellung hielten und weiterarbeiteten. Das Haus lag außerhalb der schützenden Umgebung des Dorfes. Jedes Fenster und jede Tür war mit Sandsäcken verbarrikadiert, um vor den herumfliegenden Kugeln Schutz zu bieten. Ein neues Haus befand sich im Bau. Doch gab es dort keine Türschlösser. Hier konnte er die Nacht verbringen. Die Arbeit während des Tages sollte im neuen Gebäude getan werden.
«Sie können sich nachts aber nicht einschließen», sagte die Missionarin, als sie ihm seinen Raum zeigte. «Die kabylischen Männer, die das Haus bauen, schlafen unten in einem anderen Raum. Während der ganzen Nacht wird gekämpft.» «Was sind denn das für kleine Löcher in den Wänden?» fragte Abd alMasih.
«Ach, das sind nur Einschüsse. Gestern Abend schlug eine Kugel dort ein und ging hier wieder hinaus. Dann blieb sie in jener Säule stecken.»
Die Missionarin ging, und Abd alMasih bückte sich, um die beiden Einschußlöcher zu prüfen. Sie wären genau über sein Kopfkissen gegangen, zwei oder drei Zentimeter über seinen Kopf. Er drehte das Bett anders herum. Es war zehn Uhr abends. Das Grollen schwerer Artillerie, die ein entferntes Dorf beschoß, das Knattern von Maschinengewehren in der Nähe und das Bellen von Gewehren der Nationalisten ließen sich wohl vernehmen. Plötzlich und unvermittelt begann ein Rudel Hyänen zu heulen. Das Geschrei hallte in der Stille der Nacht gräßlich wider. Hyänen, so viele, und so nahe? Abd alMasih kroch von seinem Bett an die Fensterläden und spähte in die Dunkelheit hinaus. Er konnte in dem blassen Mondlicht deutlich die Gestalten von Männern ausmachen, die sich zum Angriff auf den Militärposten vorbereiteten. Das waren also die Hyänen! Ihm wurde bewußt, was es mit den nächtlichen Schreien auf sich hatte, dem Heulen eines Hundes oder dem Ruf einer Eule. Die lange Nacht verging und schließlich wurde es Morgen.
Während des Tages ging die Arbeit gut voran. «Des Menschen Sohn…» Sollen wir das Wort für Mensch ändern? Ist Jesus der Sohn eines Menschen? Wenn ja, welches Menschen? Sollte es nicht lieber heißen: «Emmis m bounadem?», und ihn so mit der menschlichen Rasse in Verbindung bringen? Der blinde Sprachhelfer und der Missionar arbeiteten gemeinsam vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang fast ohne jede Unterbrechung. Und während sie arbeiteten, tobte draußen der Krieg.
Die letzte Komiteesitzung für das kabylische Neue Testament wurde in Azazga im Herzen der Kabylei und somit in einer Kampfzone abgehalten. Kein Missionar oder Sprachhelfer würde sein Haus verlassen, um mit einem öffentlichen oder auch privaten Transportmittel zu reisen. Es war zu riskant. Jeden Tag wurden Busse angesteckt und Züge zum Entgleisen gebracht. Dennoch mußte diese Sitzung stattfinden, bevor das Manuskript vervollständigt und fortgeschickt werden konnte. Der blinde Jules wurde angesprochen und meinte: «Ich werde kommen, wenn du kommst und mich abholst, sonst nicht.» So wurde die lange Reise von fünfzig Kilometern gemacht. Nicht eine einzige Menschenseele war zu sehen. Selbst Militärpatrouillen waren abwesend und die Brücken unbewacht. Doch überall lauerte die Gefahr. Dann ging es weiter nach Azazga mit einem anderen kabylischen Informanten und hinauf in ein anderes kabylisches Dorf, um noch einen Informanten abzuholen. Die sechs Mitglieder des Komitees waren endlich beisammen. Zwei weitere Missionare wollten ihr Haus nicht verlassen. Warum sollten sie ihr Leben in Gefahr bringen? Die letzten Entscheidungen wurden getroffen, das Manuskript fertiggestellt und fortgeschickt, und man erwartete nun die Korrektur.
Ein kurzer Urlaub folgte. Ach, wie herrlich war es, dem Krieg für eine Weile entronnen zu sein, weit weg von den Scheinwerfern, die jede Nacht das ganze Dorf durchsuchten, von dem Heulen eines verwundeten Hundes, dem Gekläff der Hyänen, dem einsamen Ruf der Eule (alles Laute, die eine Bedeutung hatten), dem Rattern von Maschinengewehren, wenn jemand die Ausgangssperre mißachtete und dafür den Preis bezahlte, dem Explodieren von Bomben und den Geräuschen und Schreien von Folterungen ….
Bald war der Urlaub beendet, und Afrika rief wieder. Sollten sie zurückgehen?

«Wenn du in einem Moslem-Land gewesen bist,
wo leidende Menschen ihre Hände ausstrecken
und ständig flehen, doch niemand hört sie …,
würdest du zurückgehen oder nicht?

Wenn du durch Afrikas Sand gegangen bist,
deine Hand in der Hand des Herrn,
und du wüßtest, daß Er dich in jenes Land ruft…,
würdest du zurückgehen oder nicht?

Wenn du die Frauen gesehen hast,
wie sie ihre schwere Last tragen ohne jemand, der da hilft,
wie sie weinen, ohne daß sich jemand darum kümmert…,
würdest du zurückgehen oder nicht?

Wenn du den Christen gesehen hast,
wie er stirbt und für Christus sein Leben gibt,
mit einem Lächeln «Bis bald» sagt …,
würdest du zurückgehen oder nicht?

Doch sie warten weiter, eine stumme Masse,
sich sehnend nach einem,
der sie von ihrem falschen Weg wegführt,
wann wird Verzweiflung zu einem Siegeslied?
Wir gehen zurück. Und du?»
(Unbekannter Dichter).

So gingen sie zurück – und welch einen Willkommensgruß erhielten sie! Am Abend ihrer Rückkehr nach Lafayette gab es einen fürchterlichen Sturm mit einem Wolkenbruch. Das kleine Flüßchen, das durch Hamman fließt, wurde zu einem reißenden Strom. Das Wasser stieg fast sechs Meter hoch, riß die Brücke weg und strömte in das Zentrum des Ortes. Ein ganzer Teil des Dorfes wurde überschwemmt, und viele kamen um. Abd alMasih kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die letzte Mauer des kleinen Versammlungsraums zusammenbrach und in der Flut verschwand. Alles wurde von dem tosenden Strom mitgerissen.
Gott hatte erlaubt, daß die Arbeit in Hamman bis in dieses vierte Kriegsjahr weiterging. Zweieinhalb Jahre lag diese Station im Niemandsland, und um dort hinzugelangen, mußte Abd alMasih ein Stück hinter den letzten französischen Vorposten hinausgehen. Hamman selbst wurde fast jeden Abend von aufständischen Rebellen heimgesucht. Die Anzahl derjenigen, die die Klinik besuchten, blieb nur etwas unter der in normalen Jahren zurück. Doch das Wort Gottes war für viele ein Trost. Jetzt war der Versammlungsraum, in dem fast zweiunddreißig Jahre lang das Evangelium verkündigt worden war, zerstört, hinweg genommen von der Hand Gottes. Das schien ein weiterer schwerer Schlag zu sein. Es gab keine Möglichkeit, die Arbeit in Hamman oder Beni Ourtilane wieder aufzunehmen. Die militärischen Behörden verweigerten die Erlaubnis, die Gebäude wieder aufzubauen. Wenige Tage nach der Überschwemmung brachen in Hamman Kampfhandlungen aus und alle Männer wurden gefangen genommen. Es wäre unmöglich gewesen, die Arbeit unter diesen Umständen fortzusetzen.
Bis zu diesem Zeitpunkt war Abd alMasihs Leben recht ausgefüllt gewesen. Oft hatte er zwischen zwanzig und fünfundzwanzig verschiedene Dienste in einer Woche gehabt. Jetzt hatte Gott ihn für das Werk freigesetzt, für das Er ihn so viele Jahre hindurch vorbereitet hatte. Er macht keine Fehler. Sein Zeitplan ist immer perfekt. Wiederum übernahm Abd alMasih auf Ersuchen des Bibellesebundes die Aufgabe, ein Komitee zur Überarbeitung der marokkanischen Bibel, die in ganz Nordafrika gebraucht werden sollte, zu leiten. Diese Übersetzungsarbeit brachte jedoch lange, weite Reisen auf den Landstraßen mit sich, und damit auch ein noch intensiveres Bewußtsein der Gegenwart und der bewahrenden Macht Gottes. Während der oft langen Abwesenheit ihres Mannes führte Lalla Jouhra die Arbeit in Lafayette allein weiter. Welche Erlebnisse hatte sie?
Einmal wurden plötzlich tausend Männer in dem Ort untergebracht. Der Offizier bestand darauf, daß einige auch im Haus der Missionare oder in dem Versammlungsraum Quartier beziehen sollten. Lalla Jouhra war allein. Abd alMasih war in Algerien. Zwanzig Soldaten wurden also in dem Versammlungsraum einquartiert. Nachts stapfte der Wachtposten auf und ab. In dem Saal schliefen oder rauchten die Männer. Wie konnte Lalla Jouhra unter solchen Umständen Kinder- und Evangelisationsstunden abhalten? Jede Woche kamen Hunderte von Kindern, um Gottes Wort zu lernen. Die Jungen meinten, daß sie nun Männer seien, und daß man sie nicht aus ihrer jema (Moschee) hinauswerfen könnte. Sie versicherten Lalla Jouhra, daß sie sich nicht von den Soldaten einschüchtern lassen würden. So sangen sie alle französischen Evangeliumslieder, die sie kannten, während nebenan Soldaten der französischen Armee kampierten. Lalla Jouhra hielt ihnen eine Predigt in der gleichen Sprache, und wenigstens einige Herzen wurden angerührt. Ein Soldat wurde beobachtet, wie er draußen mit Tränen in den Augen lauschte.
Einige Tage später wurde die ganze männliche Bevölkerung Lafayettes hinter Stacheldraht getrieben und von bewaffneten Soldaten mit bissigen Hunden bewacht.
Dort wurden sie länger als eine Woche gefangen gehalten, hungrig, schmutzig, halb erfroren wurden sie herumkommandiert und verbittert. Sie dachten an ihre ungeschützten Häuser, an die unbarmherzigen Soldaten, die von Haus zu Haus gingen und manchmal alle Nahrungsmittel auf dem Fußboden aufhäuften: Weizen, Gerste, Feigen und Öl. Dann gossen sie Paraffin über diese Nahrungsmittel und steckten sie an. Der Grund für diese Maßnahme war, daß man meinte, sie verpflegten nachts die Rebellen. Die Männer dachten an ihre Frauen, die dem Militär auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren, und niemand war da, der sie beschützte. Plötzlich erstarrten sie. Die Straße entlang kam eine Gruppe von Soldaten, die vor sich eine Anгahl verängstigter Frauen hertrieb. Verzweifelt preßten diese ihre Schleier und flatternden Kleidchen an sich in dem vergeblichen Versuch, sich zu bedecken und ihre Babys zu schützen. Sie waren an die absolute Abgeschiedenheit ihrer Häuser und Höfe gewöhnt und jetzt… Soldatentrupps gingen von Haus zu Haus und trieben die Frauen hinaus, die nur widerwillig folgten.
Ein kleines Mädchen kam zu Lalla Jouhra gerannt, keuchend und entsetzt über das, was geschah. Es schüttete sein Herz aus: «Sie haben alle Frauen weggetrieben und uns Mädchen allein gelassen. Was sollen wir denn nur tun? Wo sollen wir hin? Bete, bete, ach bete für uns! Wir wissen, Jesus wird uns retten. Er wird uns beschützen. Bete für uns!» Dann schoß sie wie ein Pfeil davon, um ihrer jüngeren Schwester zu helfen. An wen sollte sie sich in dieser Stunde der Not und Verzweiflung wenden, wenn nicht an Lalla Jouhra, die so oft für sie und mit ihnen gebetet hatte!
Gottes bewahrende Hand über Seine Diener beeindruckte viele Moslems in dieser Zeit. Manche kamen wirklich zum Nachdenken, doch Furcht, Angst vor Vergeltung und der ungewissen Zukunft und die Scheu, mit dem Islam zu brechen, hielten sie vom Glauben an den Herrn Jesus zurück.
Als die Lage kritischer wurde, umgab man den ganzen Ort mit einem Stacheldrahtverhau, um den Feind abzuwehren. Nachts kamen die Nationalisten und schnitten den Stacheldrahtzaun durch. Sie drangen in das nächste kabylische Haus gleich neben der Missionsstation ein. Die Bewohner waren gewarnt worden und geflohen. Alles, was sie besaßen, wurde auf dem Fußboden in der Mitte des Hauses zusammengetragen und in Brand gesteckt. Dann eröffneten sie das Feuer auf die Franzosen, quer durch den Garten der Missionsstation. Selbst unter solchen Umständen ging die Arbeit des Herrn noch weiter. Jede Woche kamen fünfzig verschleierte Moslem-Frauen in die Klinik. Es waren die Mütter der Kinder, die die Kinderstunden besuchten. Jungen und Mädchen kamen immer noch in die Stunden, selbst wenn die Bomben nur wenige hundert Meter weiter detonierten. Sie kamen an den Wachtposten vorbei. Ihr fröhliches Singen bildete einen nicht überhörbaren Kontrast zu dem Getöse der großen Hubschrauber, die über ihren Köpfen dahinbrausten.
Doch das schrecklichste Erlebnis für Lalla Jouhra war, als sie fast eine Woche lang in dem Haus allein hieb. Nur ungefähr fünfzig Meter entfernt lag ein vorgeschobener Stützpunkt, der mit einem französischen Unteroffizier und einem Dutzend Arabern besetzt war. Den Männern war es gestattet, nachts ihre Waffen zu behalten. «Herr Unteroffizier, sehen Sie doch. Hören sie! Der Feind naht. Geben Sie uns unsere Gewehre!» Der Unteroffizier trat aus dem Gewahrsam seines Dienstzimmers heraus, wurde von hinten angegriffen und von den Männern buchstäblich in Stücke gehauen. Seine Schreie durchschnitten die Nacht. Die Araber verließen ihren Posten, liefen zu den Rebellen über und nahmen ihre Waffen mit sich. Niemand kümmerte sich um den sterbenden Mann. Wie entsetzlich für Lalla Jouhra, die allein in ihrem Haus saß! Und dennoch war sie nicht allein. Und so konnte sie selbst in solch einer Zeit freimütig sagen: «Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; was können Menschen mir tun?» Das war echte Geborgenheit. Abd alMasih war während seiner Übersetzungsarbeit den Gefahren auf der Landstraße ausgesetzt, und Lalla Jouhra übernahm willig die Verantwortung, die der Herr ihr gab, während seiner Abwesenheit und war ähnlichen Gefahren daheim ausgesetzt.
Wiederum gab es eine Übersetzungsarbeit für Abd alMasih. Dieses Mal sollte er das Neue Testament in algerischem Arabisch vervollständigen helfen. Fast über Nacht änderte sich die Lage. Die europäischen Einwohner hatten sich erhoben. Im Zentrum Algiers hatten sie die Barrikaden gestürmt, das ganze Universitätsgelände besetzt, und nun standen Franzosen mit modernen Waffen Franzosen gegenüber. Jeder verfügbare Mann wurde nach Algier abkommandiert. Über das Radio wurde der Ausnahmezustand verkündet. In diesen Tagen sollten die letzten Komiteesitzungen für das algerisch-arabische Neue Testament beginnen. Und wieder einmal befand sich Abd alMasih im Zwiespalt. Sollte er es wagen, die Reise zu unternehmen? Es war wieder eine echte Glaubensprobe. Würden diese Übersetzungen jemals gebraucht werden? Die Türen würden sich vermutlich bald schließen. «Madame, votre mari est fou» (Madame, Ihr Mann ist verrückt), so schüttelten die Franzosen bedenklich ihren Kopf, wenn sie hörten, daß er es gewagt hatte, auf diesen Straßen zu reisen. Dummheit in den Augen der Welt, doch wenn Gott sendet, ruft und bewahrt, dann gibt es eigentlich keine Gefahr.
Jede Straßenkreuzung wurde stark bewacht. Panzerwagen säumten die Straßen, von denen man die Bahnlinien überblicken konnte. Überall waren Truppen.
«Halt! Aussteigen! Hände hoch! Ganz hoch über den Kopf!» befahl der Wachtposten.
Eine genaue Durchsuchung des Wagens folgte.
«Wo fahren Sie hin?»
«Nach Algier.»
«Algier ist doch von Truppen umzingelt. Sie werden nicht hineinkommen. Keinem einzigen wird die Einreise gestattet.»
«Ich kann es nur versuchen.»
«Naja, wenn Sie kopflos genug sind, dieses Risiko einzugehen, dann fahren Sie weiter. Bon voyage! Doch Sie werden Algier heute nicht erreichen.»
«Herr, irgendwie mußt du mich dorthin bringen. Du hast mich nie verlassen. Herr, es ist Dein Werk und nicht meins.»
So befahl er sich seinem nieversagenden Herrn an. Zwanzigmal wurde er auf dieser Reise angehalten; der Wagen und er selbst immer wieder durchsucht. Doch dann kam die eigentliche Prüfung – Menerville. Er durchfuhr die Stadt und sah bald darauf die aufeinanderfolgenden Kontrollposten, Armee – Gendarmen – und wieder Armee. Es bestand kein Zweifel. Hier nahmen sie es wirklich ernst. Er verlangsamte seine Fahrt und erreichte den ersten Posten. Abd alMasih nahm seine Papiere aus der Tasche. Er traute seinen Augen nicht. Der Wachtposten winkte ihm, weiterzufahren. Er befand sich Hunderte von Kilometern weg von zu Hause in einem fremden Land. Niemand kannte ihn. Sicherlich würden ihn die Gendarmen anhalten. So unglaublich es auch scheinen mag, auch sie winkten ihn einfach durch. Das gleiche geschah beim dritten Kontrollposten. Er hatte diesen heiklen Punkt überwunden, ohne auch nur aufgefordert zu werden, seine Papiere zu zeigen. Er näherte sich der Hauptstadt, und wiederum wurde sein Wagen durchsucht. Die Schreibmaschine kam ihnen verdächtig vor, doch sie fanden weder Granaten, noch Waffen noch Bomben. Er war durch! Algier glich einer Stadt der Toten. Die Straßen waren mit Glassplittern übersät. Niemand war zu sehen. Viele Gebäude lagen in Ruinen.
Aber die Komiteesitzung begann nur eine halbe Stunde nach der festgesetzten Zeit.
Das Komitee arbeitete eine Woche lang. Jeden Tag kamen Menschen draußen auf den Straßen zu Tode. An einem Tag floß buchstäblich in den Rinnsteinen das Blut von Menschen. An einem andern Tag gingen fünfzehn Schulen in Flammen auf. Jeden Augenblick wurden schöne Villen in die Luft gesprengt. Es war eine Stadt des Todes, der Sterbenden, der verzweifelten Männer und Frauen. Die Reichsgottesarbeiter arbeiteten intensiv an der Übersetzung des Lebendigen Wortes, des Wortes, das einem befreiten Algerien Freude und Trost, Leben und Erlösung bringen sollte.
«Wo bist du die ganze Woche über gewesen?» fragten ihn seine Missionsfreunde eine Woche später in Bordj bou Arreridj.
«Ich habe am Neuen Testament in Algier gearbeitet.»
«Das ist doch unmöglich, denn niemand durfte letzte Woche nach Algier. An dem Tage, an dem Sie unterwegs waren, ist niemand durchgekommen.»
«Wo wurden sie denn zurückgeschickt?»
«In Menerville.» Das war der einzige Ort, wo man meine Papiere überhaupt nicht geprüft, ja noch nicht einmal verlangt hatte! Kann man da noch die Macht, Weisheit und Liebe unseres Gottes in Zweifel ziehen? Nichts ist für Gott unmöglich!
Die Lage in Lafayette verschlechterte sich. Der ganze Ort war von Stacheldraht umgeben. Immer neue Einschränkungen wurden ihnen auferlegt. Die Männer hatten Angst, das Missionshaus zu besuchen. Die Übersetzungen waren fast beendet. Es hatte eine Reihe von Rückschlägen gegeben. In diesem Augenblick erhielt Abd alMasih eine Einladung, die Republik Tschad zu besuchen, um bei der Evangelisation der Moslems in diesem Lande zu helfen. Eine neue Möglichkeit des Dienstes war somit gegeben. Ihre Habseligkeiten einzupacken und das Haus zu verlassen, in dem ihre Kinder geboren worden waren, bedeutete für sie ein wahres Opfer. Doch die Tür in Algerien hatte sich für jegliche wirksame Arbeit geschlossen. Der Herr konnte sie wieder weit öffnen, doch die Wartezeit durfte nutzbringend für das Werk des Herrn ausgenützt werden. Abd alMasih und Lalla Jouhra gingen also in die Republik Tschad.
Nach zweijährigem Dienst dort kehrten sie nach Lafayette zurück, um zu sehen, ob die Tür sich wieder öffnen würde. Sie hatten einem Mann und seiner Familie das Haus zur Obhut anvertraut. Ein Offizier der algerischen Befreiungsarmee hatte das Haus gewaltsam besetzen lassen, nachdem er einen Missionar zur Herausgabe des Schlüssels gezwungen hatte. Bald nachdem er eingezogen war, drohte er, den Hausverwalter zu töten. Um sein Leben zu retten, floh dieser und überließ dem algerischen Offizier das Haus. Er hatte sich in dem ganzen Haus breitgemacht und den Versammlungsraum an andere vermietet. Vieles war gestohlen worden und überall lag Dreck und Schmutz. Abd alMasih und Lalla Jouhra setzten die örtlichen Behörden davon in Kenntnis, daß sie zurückkehren und ihre Arbeit für den Herrn wieder aufnehmen wollten. Als der jetzige Bewohner davon hörte, ließ er ausrichten, er würde nicht zögern, sein Gewehr zu nehmen und es auch zu benutzen, sollte es jemand wagen, das Grundstück zu betreten, um die Stunden und Versammlungen zu besuchen. Er war für den Tod unzähliger unschuldiger Menschen in jenem Ort verantwortlich, und es bestand wenig Zweifel daran, daß er seine Drohung wahr gemacht hätte, wären sie zurückgekehrt. Diesmal stand das Leben anderer Menschen in Gefahr und nicht ihr eigenes. Der Unterpräfekt bat sie, keine einzige Nacht in ihrem Hause zu verbringen, da er keine Haftung dafür übernehmen konnte, wenn ihnen etwas zustieße.
Um diesem grausamen gottlosen Mann zu beweisen, daß er sich nicht fürchtete, kehrte Abd alMasih zu einem späteren Zeitpunkt zu seinem Haus zurück und verbrachte dort zwei Nächte mit ihm allein. Er selbst hatte keine Angst vor ihm, doch sollten andere nicht in Lebensgefahr geraten. Schließlich kaufte der Mann das Grundstück für eine geringe Summe. Sie wurden genötigt, es zu verkaufen. Es war wieder ein harter Schlag, und es kostete die Missionare ihr Heim. Der Herr nahm sich später dieses Mannes an, wie Er es oft mit denen tut, die sich gegen Ihn auflehnen. Jahrelang war er der Gegenstand von Mitleid und Verachtung. «Dort geht der Mann, der versuchte, das Werk des Herrn aufzuhalten!» sagten sie.
Für den Augendick war die Arbeit für Abd alMasih und Lalla Jouhra in Algerien beendet, und so gingen sie nach Zentralafrika, um dort noch ein weiteres Neues Testament zu übersetzen und anderes Material vorzubereiten, wie Traktate, ein Gesangbuch und einen Korrespondenzkursus für afrikanische Evangelisten. Wieder einmal hatte Gott ihnen ein neues Betätigungsfeld gegeben.
Zurückblickend sahen sie Gottes Hand ganz klar in all diesen Stationen. Die fortgesetzten Nöte waren schwer zu ertragen. Der letzte Schlag war der allerschwerste, besonders für Lalla Jouhra. Doch war es für sie eher niederdrückend, als daß es einen Vernichtungsschlag bedeutete. Und jede solcher Prüfungen diente ihnen zur Erweiterung ihres Dienstes. So wirkt Gott. Wenn du, lieber Leser, gerade einen harten Schlag hinnehmen mußt, laß dich nicht entmutigen, wie der Feind es beabsichtigt, sondern steh auf und kämpfe weiter. Der Sieg ist des Herrn. Er wird dich in Schutz nehmen und Seine Macht beweisen, wie die Fortsetzung der Geschichte zeigt.

 Kapitel 15    Dämmerung – Eine neue Ära

1962 ging der lange siebenjährige Bürgerkrieg in Algerien unter wildem Freudentaumel endlich zu Ende, und Algerien wurde unabhängig. Um ihr Leben zu retten, verließen über eine Million Europäer ihre Häuser und Wohnungen, Möbel und alles, was sie besaßen. Die europäischen Kirchen und Gemeinden verloren ihre Existenz. Viele Menschen waren der Ansicht, daß mit dem Inkrafttreten der Unabhängigkeit alle christliche Arbeit automatisch aufhören würde. Doch gemäß ihren Versprechungen erlaubten die algerischen Behörden einer sehr kleinen christlichen Minderheit religiöse Freiheit, und so ging die Evangelisationsarbeit weiter. Zwar währte diese Freizügigkeit nur einige Jahre hindurch. Aber alle können sich freuen, daß während dieser Zeit der Heilige Geist im Leben vieler junger Menschen wirkte. Gott hat gesagt: «Ich wirke, wer will’s abwenden?» Nichts ist für Gott unmöglich!
Die Übersetzungsarbeit im Tschad war beendet, und Abd alMasih und Lalla Jouhra kehrten 1967 nach Algerien zurück. Einige Monate lang lebten sie wiederum in einem kabylischen Dorf. Es war offensichtlich, daß an Orten im Inneren des Landes, wo das Evangelium jahrelang verkündigt worden war, und wo die Menschen sich durch ihre Weigerung zu gehorchen, verhärtet hatten, Gott nicht mehr wirkte, außer unter den Kindern und jungen Menschen. Die Leute hießen die soziale Arbeit des Missionars durchaus gut und waren sehr freundlich, doch jeder Versuch eines jungen Menschen, mit dem Islam zu brechen, wurde rundheraus vereitelt. Obwohl viele ältere Kabylen behaupteten, daß sie an den Herrn Jesus glaubten, hielten sie auch weiterhin das Fasten zu Ramadan ein und beteten sogar in den Moscheen. Andere wiederum behaupteten, daß sie wohl Christen seien, doch daß Jesus nicht wirklich gestorben war. Es wurde immer deutlicher, daß diese Leute das Evangelium wohl vernommen, aber innerlich abgelehnt hatten. Die Missionare setzten treu und mutig ihren Dienst für den Herrn fort, doch mußte eine Missionsstation nach der anderen im Innern geschlossen werden. In den Städten herrschte im krassen Gegensatz dazu ein offener Geist. Die Freitagsgebete in den Moscheen waren gut besucht, doch allmählich verlor der Islam seine Macht über die jüngere Generation. In dem Bemühen, sie wieder zurückzubringen, lehrte man den Koran auch in den Schulen. In vielen Schulen gab es arabische Lektionen. Gott begann in den Städten ein neues Werk. In geistlicher Hinsicht war ein neuer Tag angebrochen.
Abd alMasìh stand wieder vor einer schwerwiegenden Entscheidung in seinem Leben. Er war jetzt achtundsechzig Jahre und war gebeten worden, bei einer Teenager-Freizeit in einem unabhängigen Algerien als Prediger zu dienen. Alle jungen Leute der Gruppe entstammten einer Moslem-Familie. Er blickte in die offenen Gesichter dieser feinen jungen Leute, die sich unter den Kiefern in der Nähe des Mittelmeeres versammelten. Fünfzig Meter weiter war ein Ferienlager für Kinder, das die Algerier für ihre Kinder eingerichtet hatten. Sie sangen dort die weltlichen Moslemlieder, und der Abendwind trug ihre Stimmen herüber. Hier vor ihm saßen heranwachsende junge Männer, größer als er selbst, einige von ihnen überzeugte Moslems, andere nur anwesend, um Spaß und Freude zu haben. Leichtfertige, schnippische Mädchen mischten sich unter ihre ernsthafteren Schwestern. Er war dafür verantwortlich, in drei Wochen ungefähr vierzig Predigten zu halten, und er war Gott für ihre Seelen verantwortlich. Eine schwere Aufgabe stand ihm bevor. Das Gebet war die einzige Antwort.
«Ich bitte darum, daß jeder eifrige, algerische Christ, der mit mir beten möchte, heute Abend in meine Hütte kommt.» Er hatte erwartet, daß vielleicht zwei oder drei kommen würden. Zweiunddreißig kamen! Sie saßen auf dem Bett, dem Tisch und den Stühlen und standen in Zweierreihen an der Wand. «Was ihr bittet … das will ich tun», war die Verheißung. Sie baten, und Gott wirkte so, daß in dieser einen Freizeit einundzwanzig Moslems Jesus ihr Leben anvertrauten. Das ist in jedem Land wunderbar, und in einem unabhängigen Algerien besonders.
Doch warum gibt es eine gemischte Freizeit in einem Land, wo sonst die Mädchen eingeschlossen leben? Missionare spielen eine wichtige Rolle bei der Emanzipation der Mädchen und Frauen. Nur durch das Evangelium können diese Mädchen wirklich Freiheit finden. Unmoral ist heute in jedem Land ein Problem. In einem Land, wo die Mädchen mit Beginn der Pubertät in ihre Häuser verbannt sind, ist eine moralische Umerziehung von äußerster Wichtigkeit. Die jungen Menschen müssen sich begegnen, doch in einer christlichen Atmosphäre, wo die Interessen der Mädchen unter Kontrolle stehen. Diese Mädchen sind die zukünftigen Mütter, und wenn sich christliche Familien entwickeln, wo die Kinder in der Furcht und Vermahnung zum Herrn erzogen werden, gibt es ungeahnte Möglichkeiten. So erlauben algerische Eltern ihren Töchtern, Freizeitlager zu besuchen, wo Gottes Wort gelehrt wird, weil dort eine saubere moralische Atmosphäre herrscht.
Zeena war ein aufgewecktes und temperamentvolles Mädchen von dreizehn Jahren. Ihre tiefe Stimme stand im krassen Gegensatz zu ihrer weißen Haut und den rosigen Wangen. Sie war fest entschlossen, aller geistlichen Unterweisung zu widerstehen. Sie kam in die Freizeit lediglich, um sich zu amüsieren. Das Schwimmen, Spielen, Singen, das gute Essen, viele Jungen, all das übte eine große Anziehungskraft auf sie aus. Sie würde es genießen und ihr Bestes tun, um andere davon abzuhalten, das Wort Gottes zu hören. Sie saß bei den Andachten ganz hinten, lachte mit ihren Freundinnen, kicherte und machte sich über die Predigt lustig oder zog das Mädchen vor ihr an den Haaren. Der Heilige Geist war in jener Freizeit am Wirken. Die Predigt des vergangenen Abends war nicht in Vergessenheit geraten. Es hatte keine Aufforderung zur Entscheidung gegeben, auch war nicht auf die Tränendrüsen gedrückt worden. Doch diese Predigt lag ihr am nächsten Tag auf dem Herzen. Als der Nachmittag herankam, konnte sie es nicht mehr aushalten. Jemand mußte ihr in diesem inneren Kampf, in dieser Unruhe ihres Herzens, helfen. Sie vertraute sich ihrer Betreuerin an: «Ich bin solch ein ungezogenes Mädchen gewesen. Ich habe Böses getan.» Sie weinte. Die Helferin bekam es mit der Angst zu tun. «Du hast dich doch nicht mit einem der Jungen eingelassen?» «Nein, noch viel schlimmer. Ich habe gegen den Herrn Jesus gesündigt. Ich habe Nein zu Ihm gesagt.» Als sie unter Schluchzen zum Beten niederkniete, sagte sie: «Herr Jesus, ich bin in diese Freizeit gekommen mit dem festen Entschluß, nicht hinzuhören. Ich wollte nicht hören. Ich wollte Dich nicht und versuchte, auch die anderen zurückzuhalten. Doch Du bist für mich gestorben. Bitte vergib mir, Herr! Bitte vergib mir!» Er tat es.
Khalidja war ein vierzehnjähriges schüchternes Mädchen. Sie hatte zwei Freundinnen, die fröhliche Christen waren und versuchten sie für Christus zu gewinnen. Ihnen vertraute sie an, daß sie eigentlich glauben wolle, doch daß sie Angst vor ihrem Vater habe. «Er wird mich ohrfeigen und schlagen, wenn ich Christ werde.» Der Tag kam, an dem sie es nicht mehr länger aushalten konnte. Nach dem Abendessen ging sie mit ihren zwei Freundinnen mit und übergab einfach und aufrichtig ihr Leben dem, der allein erretten kann. Während der heißen Tageszeit gab es eine Siesta. Um drei Uhr stand sie in der Hütte des Geistlichen. «Onkel!» sagte sie. «Ich schlief ein und hatte einen entsetzlichen Traum. Ein schrecklicher Mann kam auf mich zu.» Sie beschrieb einen Mann mit diabolischen Zügen. «Er sagte zu mir: `Khalidja, was hast du getan? Du hast deine Religion verlassen, um Jesus Christus zu folgen. Ich werde dich nie, niemals loslassen, bis ich dich getötet habe, oder bis du zum Islam zurückgekehrt bist, und wenn du es nicht tust, wirst du unbeschreiblich leiden müssen. Du wirst geschlagen und ausgehungert werden.’ Wer war das, Onkel?» fragte sie. «Was bedeutet das?» Sie war starr vor Schrecken. Abd alMasih konnte ihr nur sagen, daß es der Teufel selbst gewesen sei, der versuchte, sie von ihrem Glauben an Christus abzubringen.
Ein wenig später am Nachmittag kamen ihre beiden Freundinnen mit Tränen in den Augen zu ihm und sagten: «Khalidja hat den Herrn verleugnet. Sie erzählte den anderen Mädchen, daß sie es eigentlich nicht ernst gemeint habe. Sie sei nicht aufrichtig gewesen.» Es gab nur einen Ausweg. Das Gebet! Nach der Andacht an jenem Abend blieben die beiden Mädchen noch zusammen, um für Khalidja zu beten. Jede von ihnen betete, und dann befahl Abd alMasih sie dem Herrn an. Er dachte, daß die beiden Mädchen sich nun den anderen bei ihren Spielen zugesellen würden, doch jede betete abermals und noch einmal. Selten hatte er solche Gebete gehört, noch dazu aus Herzen, die bis vor einem Jahr unter der Knechtschaft des Islams gestanden hatten. Sein Herz erfüllte sich mit Freude. «Herr Jesus, zeige Dich selbst Khalidja in all Deiner Herrlichkeit, in all Deiner Macht und Größe, Deiner Schönheit und Kraft. Herr, Satan hat gedroht. Doch wenn sie nur Dich sieht, Herr Jesus, wird sie niemals zurückgehen. Herr, Du hast gesagt: `Niemand wird sie aus meiner Hand reißen.’ Halte sie fest, Herr! »
Die beiden Mädchen beteten für ihre Freundin. Drei Tage später übergab Khalidja ihr Leben erneut dem Herrn Jesus. Sie wußte, daß ihr Vater sie schlagen würde, wenn er davon erfuhr, doch mit ungeheurem Mut ging sie zurück und wollte alles auf sich nehmen.
Jeden Morgen versammelte sich die ganze Gruppe, um das 2. Buch Mose und die Geschichte der Errettung Israels zu studieren. Dann gingen sie zum Spielen und Baden hinunter an den Strand. Abends wurde eine einfache evangelistische Botschaft auf Arabisch oder Französisch gehalten. Danach gab es einen Augenblick der Stille, und alle wurden aufgefordert, den Anspruch des Erlösers zu überdenken, bevor sie zu Bett gingen. Am folgenden Tag kamen diejenigen, die ihr Leben dem Heiland übergeben hatten oder geistliche Hilfe wollten, zu einem seelsorgerlichen Gespräch.
Es war Sonntagabend. Auf einer Lichtung im Wald brannte ein helles Lagerfeuer. Ein junger Bursche gab Zeugnis. «Gott hat mich sehr gesegnet, als ich letztes Jahr zur Freizeit kam und mich dem Herrn anvertraute. Ich ging nach Hause zurück und war entsetzlicher Opposition ausgesetzt. Sie rissen meine Bibel in Stücke, sie schlugen und verfluchten mich. Ich verfiel in die Tiefen der Verzweiflung. Alles schien so schwarz und dunkel. Ich verlor meinen Glauben. Doch Gott sprach wieder in diesem Jahr zu mir in seiner Gnade. Mir ist sehr geholfen worden und ich wurde reich gesegnet. Ich gehe jetzt nach Hause zurück, um Ihm ganz zu folgen. Das mag bedeuten, daß sie mich von zu Hause wegjagen. Ich weiß, daß sich alle gegen mich stellen werden. Vielleicht werden sie versuchen, mich zu vergiften. Betet für mich, daß ich Gott treu bleibe! » Gott half ihm gnädig, fest zu bleiben, und im folgenden Jahr kehrte er als Helfer zum Freizeitlager zurück. Durch seine stete Treue, seine Selbstdisziplin und seinen ernsten Glauben in sechs Wochen angestrengter Arbeit erwies er sich als wirklich standhafter Diener Gottes.
Es ist ganz klar, daß die größte Prüfung für diese Neubekehrten kommt, wenn sie in ihre Familien zurückkehren.
Miriam war sechzehn. Sie hatte dem Herrn gedankt, daß Er Sein Herz voller Liebe geöffnet und sie aufgenommen hatte. Jetzt kam die Feuerprobe. Sie fuhren durch die Stadt und näherten sich ihrem Haus. Sie kehrte als Christin zurück. Der Wagen fuhr vor. Sie ergriff ihre Tasche und huschte ängstlich davon. Nicht ein Wort des Dankes. Nicht einmal «Auf Wiedersehen». War es echt bei ihr? Würde sie standhalten? Noch am gleichen Abend ging sie in den kleinen Gemeindesaal mit ihrer jüngeren Schwester, die zur nächsten Freizeit aufbrechen sollte. Ihre Mutter, ihre Geschwister und ihre Tante kamen auch. Die Tante war noch nie zuvor in einem Versammlungsraum gewesen, und als sie die Orgel sah, sagte sie: «Oh, ein Tanzsaal. Laßt uns tanzen.» Sie setzte sich an die Orgel, um zu spielen. Abd alMasih fing jedoch einfach an, einen der Freizeitchorusse zu spielen: «Er starb am Kreuz für mich». Danach spielte er noch einen. Miriam trat hinter ihn und begann zu singen. Sie wollte das ganze Lied singen. Hell erklang ihre Mädchenstimme. «Ich hab einen herrlichen Heiland… er opferte sich für mich. Er gab sein unschuldiges Leben, um an jenem rauhen Kreuz zu sterben. Er wurde ans Kreuz genagelt für mich.» So bezeugte sie fest vor ihrer Mutter und ihrer lästernden Tante, was sie glaubte. Der schwerste Schritt für einen vom Islam Bekehrten ist, es seiner Familie zu erklären. Mit diesem Bekenntnis trat eine große Veränderung bei Miriam ein. Das schüchterne Mädchen wurde von heute auf morgen wurde zu einer fröhlichen Zeugin für den Herrn. Miriam ist mit dem Herrn weitergegangen. Standhaft wehrte sie sich gegen verschiedene Versuche, sie mit einem Moslem zu verheiraten. Doch schließlich wurde sie gegen ihren Willen dazu gezwungen. Nichts ist bei Gott unmöglich, und es ist doch möglich, daß sie ihren Ehemann auch für Christus gewinnt.
Wo immer es das Werk Gottes gibt, da wird Satan versuchen, es in Frage zu stellen und zu behindern. Wurde das Vertrauen der jungen Moslems gewonnen, waren sie fähig, über ihre Zweifel und Probleme zu sprechen. Fragestunden offenbarten, was in ihnen vorging.
Ein aufgeweckter, gläubiger Junge von siebzehn Jahren sagte zu Abd alMasih: «Onkel, ich möchte zwei jener gestellten Fragen beantworten. Sie nehmen es mir vielleicht eher ab als dir, denn ich war Moslem und bin jetzt. Christ.» Er gab seinen Freunden ausgezeichnete Antworten aus der Heiligen Schrift.
Der Junge, der die meisten Fragen stellte, war der Sohn eines glühenden Nationalisten, der im Krieg gefallen war. Dieser Junge schrieb später: «Ich verließ diese Freizeit und fühlte mich physisch krank. Ich konnte die Predigten aus dem Worte Gottes nicht vergessen, ebensowenig die täglichen Bibelstunden. Ich erinnere mich noch, mit welch liebevoller Art uns von Sünde gesagt wurde, was wir gar nicht als Sünde ansahen, mit welcher Warmherzigkeit unsere Erlösung von der Hölle gesucht wurde, und vor allem denke ich an die Gebete der algerischen Christen. Gott wirkte an meinem Herzen, und JETZT BIN ICH ERLÖST. Ich will, daß es jedermann weiß.» Welch ein Triumph der Gnade Gottes im Herzen dieses Gegners, der vier Monate nach der Freizeit den Heiland fand.
Die Opposition war in der Jugend-Freizeit im darauffolgenden Jahr noch ausgeprägter. Wiederum hatten sich sechzig Teenager im Alter von fünfzehn bis sechzehn Jahren versammelt. Diesmal waren alle Leiter und Helfer Christen aus Moslem-Familien. Sie waren selbst oft nur ein bis zwei Jahre älter als die meisten der Teilnehmer. Wie wunderbar, daß algerische Christen willig waren, ihre Ferien zu opfern, um andere für den Herrn zu gewinnen.
Alles war ungefähr so wie im letzten Jahr.
Jeden Morgen Bibelstunden über das 1. Buch Mose, Gruppenarbeiten an den Nachmittagen über verschiedene Schriftstellen, und abends eine evangelistische Ansprache. Einige der Ansprachen wurden von den jungen Algeriern gehalten. Sie leiteten auch die Wiederholung der Lektionen vom Tag vorher. Auch für die gemeinsamen Gebete waren sie verantwortlich, und während der Freizeit wurde jeder der jungen Mitarbeiter aufgerufen, Zeugnis von der rettenden Gnade Gottes in Jesus Christus zu geben.
Wen mag der Herr gemeint haben, als er sagte: «Hütet euch vor den falschen Propheten?»
Diese ziemlich provozierende Frage wurde einzelnen und Gruppen zum Erarbeiten gestellt. Der Leiter jeder Arbeitsgruppe, ein Freizeitteilnehmer, sollte darauf die erarbeitete Antwort geben. Die Mädchengruppe begann. «Die Adventisten», sagte die erste Gruppe. «Jehovas Zeugen», sagte die zweite. «Mohammed», sagte schließlich die dritte. Abd alMasih beeilte sich, die Antworten von den Jungengruppen entgegenzunehmen, indem er absichtlich für das Missfallen bezeugende Gemurmel von einigen Freizeitteilnehmern taube Ohren zeigte. Es ist am besten, solche Frontalangriffe zu ignorieren, selbst wenn sie von einer christlichen Gruppe früherer Moslems kommen. Dann ließ sich ein aufgeweckter, algerischer Junge vernehmen. «Onkel, hast du die Reaktion auf diese letzte Antwort nicht bemerkt? Es scheint so, daß es hier einige gibt, die nicht damit einverstanden sind, daß Mohammed ein falscher Prophet ist. Ich würde gern aus der Schrift zeigen, das dem so ist.» Das tat er dann auch.
Sofort spaltete sich das Lager in zwei Gruppen. Es war jetzt deutlich, daß niemand vorgeben konnte, an den Herrn Jesus zu glauben und heimlich Mohammed die Treue zu halten. Das Mädchen, welches das Ergebnis ihrer Gruppe vorgelesen hatte, mußte sich sagen lassen, daß es sich schämen solle und eigentlich den Tod verdient habe. Ein anderer Junge fing aus Trotz an, einen christlichen Chorus zu parodieren: «Ich bin so froh, daß Mohammed mich erlöst hat.» Der Junge wußte dabei genau, daß Mohammed das nicht getan hatte und ihn auch nicht erlösen konnte, doch wollte er sich damit wichtig machen. Als man vom Sonntagsspaziergang zurückkehrte, stand auf dem Eßtisch folgendes: «Ihr seid alle zusammen engstirnig und wißt nicht, was ihr redet. Ihr glaubt weder an Jesus noch an Mohammed.» Es war deutlich, daß eine kritische Situation erreicht war. Man konnte ihr nur durch Gebet begegnen. Abd alMasihs kleine Hütte war bis zum äußersten voll, als die jungen Christen sich an jenem Abend zum Gebet versammelten. An einer anderen Stelle hatten sich die algerischen Freizeitleiter ebenfalls zum Gebet versammelt.
Zwei Tage später, nachdem alle Anzeichen des aufrührerischen Geistes verschwunden waren, hatte Abd alMasih ein Gespräch unter vier Augen mit jedem der Anführer, besonders mit dem Jungen, der die anklagenden und beleidigenden Worte geschrieben hatte. Es war nicht einfach, in solch einer Atmosphäre zu evangelisieren, doch die Wirkung war noch durchgreifender. Kein weiteres Wort über den Propheten des Islams folgte, doch der Fragekasten war diesbezüglich in ständigem Gebrauch. Von einem gläubigen Mädchen kam folgende Herausforderung: «Welcher Moslem kann nach vorne kommen und uns in fünf Minuten sagen, was Mohammed für ihn getan hat, das Jesus Christus nicht schon für uns getan hat?» Niemand meldete sich freiwillig. Von den Moslems kamen Fragen: «Warum redet der Koran von Jesus Christus, doch die Bibel erwähnt Mohammed nicht?» und «Wie können wir wissen, daß die Bibel die Wahrheit redet?»
Es war deutlich sichtbar, daß Gott im Leben einiger wirkte. Die Jungen, die so stark kontra gegeben hatten, folgten den evangelistischen Predigten aufmerksamer als zuvor. Zeetonia war in allerletzter Minute zur Freizeit gekommen und hatte scheinbar solch einen begeisterten Eindruck gemacht, daß ihre Mutter noch spät an jenem Abend anrief, um zu erfahren, ob ihre Tochter die letzte Freizeit noch mitmachen könne. Der Zug ging am nächsten Morgen um 6,30 Uhr. Zeetonia war mit dabei. Nie zuvor hatte sie unter christlichem Einfluß gestanden. Sie öffnete sich wie eine Blume der Sonne, als sie die wunderbare Botschaft des Evangeliums hörte. Kein Wort ließ sie sich entgehen. Am fünften Tag der Freizeit betete sie mit einem Mitarbeiter, und am nächsten Tag erzählte sie jedermann, daß sie den Herrn Jesus als ihren Heiland angenommen habe. Es war wunderbar, das geistliche Wachstum in diesem fünfzehnjährigen Mädchen zu beobachten. Sie lernte ein anderes aufgewecktes, gläubiges Mädchen in ihrem Alter kennen und Tag für Tag machten sie beide Spaziergänge, völlig vertieft in ernsthafte Gespräche über ihre Probleme und deren Lösung von dem Worte Gottes her. Viele hielten sie für eine erfahrene Christin. Ihre geistlichen Erkenntnisse waren bald allen offenbar. Ja, Gott wirkte, und Tag für Tag kamen junge Leute zum Glauben, bis sich zehn Mädchen und sechs Jungen für Jesus entschieden hatten.
In einigen Fällen nahmen drei oder vier aus einer Familie den Herrn Jesus an. Es war ein Zeichen dafür, daß Gott ihre Gebete um gläubige Familien erhörte. In der zweiten Woche stand eindeutig fest, daß es mehr Christen als Moslems gab, und so waren die Predigten in den letzten vierzehn Tagen besonders darauf ausgerichtet, den Kindern Gottes eine Hilfe zu geben. Es wurden die großen Wahrheiten über die Herrschaft Christi, Jüngerschaft und praktische Heiligung gelehrt.
Der letzte Abend war gekommen, und alle saßen um das Lagerfeuer, um die Abschlußpredigt zu hören. Einige der Zeugnisse waren besonders eindrucksvoll. Einer nach dem anderen erzählte von seinem neu gefundenen Leben in Christus. Beim hellen Schein des Feuers stand Abd alMasih auf, um seine letzte Predigt zu halten. «Ich recke meine Hände aus den ganzen Tag zu einem ungehorsamen Volk, das seinen Gedanken nachwandelt auf einem Wege, der nicht gut ist.» Kein Aufruf folgte, doch alle waren sich darüber klar, daß dies für einige die letzte Gelegenheit war. Alle mußten um 4,30 Uhr am nächsten Morgen aufstehen und die lange Reise zurück nach Hause antreten. Abd alMasih betete abschließend, doch als er sich aus dem Kreis löste, trat eine hohe Gestalt auf ihn zu. Es war der Anführer der Moslems, der Junge, der die beleidigenden Worte geschrieben hatte. Er war gekommen, um «Auf Wiedersehen» zu sagen. Als er Abd alMasih auf beide Wangen küßte, sagte dieser zu ihm: «Du gehst davon, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben?» «Ich habe meine Entscheidung getroffen», war die schlichte Antwort. «Ich bin zu Christus gekommen.» Nachdem sie die Heilige Schrift g elesen hatten, knieten sie im Gebet nieder, und der kleinen Hütte bot sich die Szene einer tiefen Buße, als der einstmals fanatische Moslem Jesus Christus sagte, daß er sich Ihm rückhaltlos ausliefere und Ihn als Herrn und Heiland annahm.

Kapitel 16  –  Der Sieg ist gewiß

«Herr, einige Menschen sagen, daß es für einen Moslem unmöglich sei, sich zu bekehren und Christ zu werden. Es würde niemals wieder christliche Gemeinden in diesem Moslem-Land geben. Doch Herr, Du siehst, daß wir alle hier heute Abend aus Moslem-Familien kommen. Wir lieben Dich, wir glauben an Dich. Wir sind der sichtbar gewordene Beweis dafür, daß Du Moslems erretten kannst. Du hast uns herausgelöst aus der sündigen Umgebung. Wir sind hier als Glieder Deiner Gemeinde, die ersten der vielen, die in diesem Lande an Dich glauben werden. Wir sind die Vorkämpfer der neuen Gemeinden in Algerien. Herr, wirke in uns und durch uns überall in diesem Lande.»
Viele inbrünstige «Amen» wurden laut, als diese jungen Christen ihr Gebet beendeten. Fünfundvierzig junge Algerier hatten sich unter den Bäumen im Gebet verneigt. Die Jungen und Mädchen saßen auf einem Teppich aus Kiefernnadeln im Kreis herum, als die Dunkelheit einbrach und einer nach dem anderen sein Herz vor Gott ausschüttete in ernsthaftem Gebet. Nach dem Abendessen hatten sie während dieser Freizeit immer die Möglichkeit, lustig zu sein und zu spielen, doch sie zogen es vor, sich lieber jeden Abend im Gebet zu versammeln. Sie beteten weiter.
«Herr, errette unsere Eltern! Wir wissen, daß Du ganze Familien erretten willst. Es steht geschrieben: `Glaube an den Herrn Jesus Christus, so wirst du und dein Haus selig’. Herr, wir sind die ersten in unseren Familien, die glauben. Wie herrlich wäre es, ein christliches Heim zu haben! Ein Heim, in dem wir still und friedlich dasitzen und Dein Wort miteinander lesen könnten, ohne daß man es uns aus der Hand nimmt oder zerreißt. Ein Heim, in dem wir ruhig und ohne Unterbrechung beten könnten, wo wir offen diese herrlichen Lieder und Chorusse singen dürften, wann es uns beliebt, ohne verflucht, angeschrieen und geschlagen zu werden. Ein Heim, in dem wir Mitgefühl und Liebe empfangen und nicht Opposition und Schläge. Herr, errette unsere Familien und gib uns ein christliches Heim!»
Es waren keine langen Gebete. Fast jeder Anwesende betete, und das Anliegen eines jeden war, daß Gott sie treu erhalten möge angesichts der schweren Verfolgung, wenn sie nach Hause zurückkehrten. Daß Er die Mädchen stärken möchte, die aus einer früheren Freizeit zurückgekehrt und geschlagen worden waren, als sie ihren Eltern mitteilten, daß sie jetzt Christen seien.
«Herr hilf mir, freudig nach Deinem Willen zu fragen und gib mir die Kraft, ihn auszuführen.»
Abd alMasih neigte sich in stummer Anbetung und Dankbarkeit, als er diese aufrichtigen Gebete hörte. Hier waren tatsächlich konkrete Beweise dafür, daß bei Gott kein Ding unmöglich ist. Dafür hatte er gebetet. Das war das Ziel seiner Arbeit all die Jahre hindurch gewesen. Eine Gruppe von über fünfzig jungen Christen in diesem Moslem-Land!
Diese Freizeit, das wußte Abd alMasih, war eine Herausforderung. Die fünfzig jungen Algerier waren beiderlei Geschlechts und zwischen vierzehn und dreiundzwanzig Jahren. In den nächsten vierzehn Tagen sollten sie sich frei untereinander bewegen, in einem Land, in dem Mädchen und Frauen sonst immer abgesondert leben. Er wurde gebeten, dieser Gruppe ein offenes Wort über Moral und Geschlechtsethik zu sagen. Doch darüber in einer öffentlichen Versammlung zu sprechen, ist in Algerien absolut tabu. Wenn man das Wort «Ehebruch» in einer Dorfversammlung in der Kabylei nur gebraucht, geht man sicher, seine gesamte Zuhörerschaft zu verlieren.
Nur in völliger Abhängigkeit von Gott konnte diese Eröffnungsrede gehalten werden. Doch mit Gottes Hilfe wurde dieser Weg für das noch Kommende gebahnt. In dieser Zeit des Umschwungs, in der mit der Tradition gebrochen wurde, standen sowohl die Mädchen als auch die Jungen vor vielen Problemen. In überraschender Weise vertrauten diese jungen Menschen dem nun schon älteren Diener Gottes.
«Ist es falsch für ein Mädchen, an die Ehe zu denken?» «Welches Mädchen soll ein junger Mann sich aussuchen in einem Land, in dem er freie Wahl hat?»
«Darf ein christliches Mädchen einen Moslem heiraten? »    –
«Was geschieht, wenn man sie dazu zwingt?»
«Sollte ein gläubiges Mädchen zu einer Moslem-Hochzeit gehen und sich nach dem Brauch die Haare mit Henna färben?»
Fatima ist eine Kabylin; sie ist Missionarin und hat drei Kinder. Sie sagt ihm: «Es ist wunderbar, wie schnell Sie das Vertrauen dieser jungen Leute gewonnen haben. Sie sprechen mit ihnen, als wären Sie ihr Vater, ja sogar noch mehr, denn sie würden es niemals wagen, mit ihren Eltern darüber zu reden. Wie machen Sie das nur?»
Er fand die Antwort auf ihre Frage in der Bitte des Paulus an die Galater: «Seid doch wie ich, denn ich bin wie ihr.» Seinen Mitarbeitern gab er daraufhin weiter: «Wenn wir wollen, daß diese jungen Leute im christlichen Glauben und in der Lehre wachsen, dann müssen wir einer von ihnen werden und in christlicher Liebe und Mitgefühl versuchen, uns in ihre Lage zu versetzen. Wir müssen ihre Probleme und ihr Leid mit ihnen teilen und sie an unserer Kenntnis der Schrift und unseren Erlebnissen mit der Treue Gottes teilnehmen lassen.» Solche Arbeit kostet etwas, und Abi alMasihs Kissen war oft durchnäßt von Tränen, wenn er sich nachts mit den Problemen dieser jungen Christen auseinandersetzte, die einer beständigen Ächtung und Opposition in ihren Familien ausgesetzt sind. Er hatte Steinigungen, Gefahren und Widerstand um Christi willen erduldet, und in all den Jahren bewahrte ihn Gott. Er hatte immer wieder zur Liebe und zum Mitgefühl seiner Gefährten, zum Obdach seines christlichen Heims zurückkehren dürfen. Aber diese jungen Leute hatten nichts dergleichen. Ständig, ohne Unterbrechung mußten sie diese Opposition ertragen. Und doch zögerte er nicht, ihnen die ganze geistliche Wahrheit zu sagen. Es konnte nicht zwei Möglichkeiten geben. Christus mußte der Herr sein. Die Kosten der Jüngerschaft waren hoch. Der Welt mußte abgesagt, das Ich gekreuzigt werden. Der Galaterbrief, den sie studierten, ließ keinen Zweifel daran. Ein Besucher aus Frankreich meinte dazu: «Niemals zuvor haben wir die Wahrheit über Jüngerschaft, christliche Disziplin und Treue zu Christus um jeden Preis so deutlich nahegebracht bekommen. Sie nehmen es ihm dennoch ab, denn alles, was er sagt, tut er mit solch einer Liebe, daß sie gut zuhören, die Kosten überschlagen, Jesus annehmen und bereit sind, ihrem Herrn zu folgen … und zwar ganz und gar.»
Anderthalb Stunden studierten sie jeden Morgen den Galaterbrief und fanden, daß er ganz auf ihre persönlichen, geistlichen Bedürfnisse zugeschnitten war. Am Abend teilten sie sich in sechs Gruppen auf, um die morgens durchgenommene Lektion noch einmal zu wiederholen. Jeder hatte eine Antwort auf fünf Fragen, die mit dem Schrifttext zusammenhingen, vorbereitet. Der Gruppenleiter sammelte und schrieb die Antworten nieder, damit alle Freizeitteilnehmer sie erfuhren. Aus diesen Fragen ging hervor, wie sehr ihre Herzen angerührt waren.
«Ist es für einen Christen Sünde, das Fasten im Ramadan zu halten?»
«Wenn unsere Eltern uns zwingen, zu fasten, was sollen wir dann tun? Unseren Eltern gehorchen und gegen unser Gewissen handeln?»
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«Sollen wir das Opferfleisch essen, das am Fest der Schafe geopfert wird?»
«Was soll man tun, wenn man unabsichtlich und ohne es zu wissen gesündigt hat?»
Ein unabhängiges Zeugnis über das veränderte Leben von einigen dieser jungen Leute wurde später in einem Brief eines Heilsarmeeoffiziers an einen Freund gegeben.
«Dalmabiya ist völlig verändert. Es ist eine wahre Freude zu sehen, wie sie sich öffnet. Rahma muß die Ehe mit einem Moslem eingehen oder sie wird von zu Hause fortgejagt. Sie weigert sich.,Sie wollten eine Ehe für Zeineb arrangieren, aber sie weigert sich. Sie erklärt: `Ich bin eine Christin. Ich werde niemals einen Moslem heiraten!’ Halima hat mir ihre Bibel gebracht. Ihr Bruder will sie verbrennen. Satan erhebt sich vor Wut; das ist einerseits ein gutes Zeichen, doch schlimm für diese armen jungen Leute!»
«Rahma wurde von ihrem Lehrer aufgefordert, Moslem-Gebete zu sprechen. Sie weigerte sich und wurde vor der ganzen Klasse mit dem Stock geschlagen.»
Der Herr führte Abd al Kader aus der Freizeit in eine Wüstenoase, wo er der einzige Christ war. Er hatte sich vor einem Jahr bekehrt und enorme Fortschritte in seinem geistlichen Leben gemacht. Klare Botschaften aus dem Worte Gottes konnte er ohne Schwierigkeiten halten. Hat der Herr ihn in die Wüste geführt, um aus ihm einen Paulus von Algerien zu machen?
Sadik kam vor einem Jahr in der Freizeit zum Glauben. Er war siebzehn Jahre, und man sah ihn oft mit geöffneter Bibel mit ein oder zwei Moslem-Männern sprechen, um sie für den Herrn zu gewinnen.
Yamina nahm den Herrn ebenfalls in der Freizeit als Heiland auf. Sie kehrte nach Hause zurück und fand, daß ihre Eltern nichts dagegen hatten. Dennoch hatte sie viele Probleme. Sollte sie sich ganz von ihrer Familie und ihren weltlichen Freunden trennen? Die Probe kam, als sie eingeladen wurde, mit einer Freundin, die verheiratet werden sollte, zum Frauenbadehaus zu gehen. Sie wußte, daß dort viele zweifelhafte Dinge stattfinden würden. Sie betete darüber und meinte, daß der Herr sie gehen hieß. Sie wurde sich ihrer Stellung als Christin sehr bewußt, zog sich von ihren Freundinnen zurück, die sich sehr verwunderten, warum sie nicht länger mit ihnen mitmachte. Ihr Bekenntnis, daß sie Jesus Christus als Herrn nachfolge, brachte ihr Gelächter und Spott ein. Als sie sah, wie sehr es ihre Freundinnen trieben, wurde ihr Herz von Dankbarkeit zu dem Einen bewegt, der sie von solchen Dingen befreit hatte, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Eine Freundin stichelte:
«Es ist doch klar, daß du unglücklich bist, weil du nicht mehr zu ups gehörst. Mach doch mit, komm!» Darauf erwiderte sie: «Ich weine nicht, weil ich unglücklich bin, sondern weil ich eine tiefe innere Freude habe, von der du nichts weißt. Ich habe die Freude und den Frieden, den nur Gott geben kann. Ich weine, weil ihr euch zu solchen Dingen hergebt.» Die Freundin ließ sie stehen, um sich mit ihren Moslem-Schwestern weiter zu amüsieren, doch zehn Minuten später kam sie wieder und bat Yamina, ihr zu folgen. Als sie alleine waren, sagte sie: «Ich möchte, daß du mir sagst, wie man den Frieden und die Freude finden kann, die du hast.» Yamina nahm ihre Bibel heraus und erzählte ihr von Jesus.
«Kann ich dieses wunderbare- Buch leihen?» sagte die Freundin. An jenem Abend ging sie zu Yaminas Haus und nahm den Herrn Jesus als ihren Heiland an. Sie erzählte es ihren Freundinnen, und vier weitere studieren jetzt jeden Abend das Wort Gottes.
Fereeda lehnte sich gegen Gott auf. Sie hatte Gott immer wieder darum gebeten, daß ihre Eltern ihr erlaubten, Christ zu werden. Doch diese lehnten konsequent ab. Sie hatte viel und intensiv gebetet, doch scheinbar keine Antwort darauf bekommen. Sie hatte ihr Möglichstes versucht, Christin zu werden, doch in ihrer Umgebung war es praktisch unmöglich, Christin zu sein. Ihr Verdruß und ihre Auflehnung waren auf ihrem Gesicht zu lesen. Es war sinnlos, mit ihr zu reden. Doch der Herr wirkte in ihrem Leben. Sie nahm Christus schließlich doch an, und “drei Tage nach ihrer Rückkehr nach Hause schrieb sie ihrer Freundin: «Ich wollte es meiner Mutter sagen, und schließlich gab Gott mir den Mut dazu. Ich sagte ihr, daß der Herr Jesus mich errettet habe. Sie machte mir bittere und heftige Vorwürfe. Sie schreit mich an, wenn sie mich beim Bibellesen sieht. Als ich ihr von Jesus erzählte, war sie außer sich vor Wut und behandelte mich wie eine kafra (eine Heidin). Sie befahl mir, auszuziehen, denn ich dürfe nicht länger bei ihnen sein. `Ich möchte nicht länger mit dir in einem Hause wohnen, wenn du deine Religion geändert hast.’ Ich versicherte ihr, daß der Herr Jesus der einzige Weg zu Gott ist, und daß er allein sich für unsere Sünden geopfert hat. Sie schlug mich immer wieder. Sie verlangte von mir, Buße zu tun und zum Islam zurückzukehren. Doch sie hörte wenigstens, daß jeder Moslem unter dem Gesetz steht und deswegen verdammt ist. Wenn er nicht деп Herrn Jesus als seinen Heiland annimmt, wird er unter dem Urteil Gottes bleiben. Ich erzählte Mutter auch, daß ich das Fasten im Ramadan nicht mehr mit gutem Gewissen mitmachen könne, da es Teil der abgesagten Religion ist. Nur wenn sie mich zwingen, würde ich fasten. Aber sie versteht das nicht. `Du bist als Moslem geboren und du wirst Moslem b einen’, behauptet sie. Ich flehe dich an, für mich zu beten. Bete, daß meine Mutter es versteht, und daß ich sie vom Wort Gottes her überzeugen kann. Bete, daß Gott mir die Kraft gibt, im Glauben zu wachsen, trotz all dem Bösen, das mir zugefügt wird.»
Ein Brief, der zwei Wochen später an Abd alMasih gerichtet war, offenbarte, daß sie die tragende Kraft Gottes verspürte. Sie schrieb: «Meine Mutter ist unverändert.
Sie versucht jetzt, mich zu überzeugen, nur im stillen Christin zu sein, ohne jemand von meinem Glauben zu sagen. Das ist jedoch ganz unmöglich. Sie ging zur Moschee zum Freitagsgebet. Der Imam (religiöse Führer) sprach von Jesus und den Wundern, die Er getan hatte. Daraufhin berichtete sie mir: `Wir glauben an den Herrn Jesus, doch unsere Religion ist reiner als deine.’ Mutter versucht jetzt, mich abzubringen, indem sie freundlich zu mir ist. Doch ich weiß, daß ein gläubiges Mädchen, das entschlossen dem Herrn Jesus nachfolgt, niemals zurückgehen darf. In den ersten Tagen war es sehr schwer, all die Mühsal und Anfechtungen zu ertragen. Ich bat den Herrn darum, mir zu helfen, und ich kann sagen, daß Er bis jetzt immer mein Gebet erhört hat. Obwohl ich auch weiterhin verfolgt werde, hat Er mir den Mut gegeben, auszuhalten.»
Areski erzählte seinen gläubigen Freunden folgendes von der Opposition, die er um Christi willen z~ erdulden hatte:
«An jenem Tag ging ich heim, und erzählte meinen Eltern, daß ich an Jesus Christus als meinen Heiland glaube, von meinem Herzensfrieden und der Gewißheit meiner Erlösung. Sie erwiderten: `Dann bist ~u kein Algerier mehr. Du hast nicht nur deinen Glauben verleugnet, sondern bist obendrein auch ein Verräter an unserem Vaterland geworden.’ Vier Tage lang bekam ich absolut nichts zu essen, was für einen heranwachsenden Jungen schwer auszuhalten ist. Dann weigerte sich meine Mutter wochenlang, irgend etwas für mich zu waschen. `Wenn du Christ bist, dann kannst du schmutzig herumlaufen, denn du bist nicht mehr mein Sohn.’ Lange Zeit sprach niemand in meiner Familie mit mir. Sie sagten mir, daß sie mich vergiften würden, wenn ich immer noch Jesus nachfolgen würde. Dann warfen sie mich auf die Straße hinaus. Ja, ich wurde auf die Straße gesetzt und von meinen Lieben getrennt. Dann nahmen sie mich wieder auf
223und zwangen mich, vor den religiösen Lehrern zu erscheinen. All die großen Imams bemühten sich, mich vom Herrn abzubringen.
Sie schlugen mich und drohten mir den Tod an. Sie versuchten, mich dazu zu zwingen, Moslem-Gebete zu sagen. Dann änderten sie ihre Taktik und versuchten, mich durch Schmeicheln zum Islam zurückzugewinnen, indem sie mir alle Vorteile ihrer Religion anboten mit allen möglichen Reizmitteln. Ich konnte alles, was sie sagten, aus ihrem Koran und dem Worte Gottes widerlegen. Sie konnten mir keinerlei Beweise dafür liefern, daß Mohammed meinem Herrn überlegen ist. Ihr alle wißt, daß die Feuerprobe jedes Jahr das Fasten im Ramadan ist. Sie versuchten ihr Möglichstes, um mich zum Fasten zu verleiten. Meine Freunde lachten mich aus und verspotteten mich, doch mit Gottes Kraft bin ich standhaft geblieben. Das Schwerste von allem ist, wenn meine Mutter mir heftige Vorwürfe macht, daß ich Christ bin. Ich muß das ständig ertragen. Sie sagt: `Du hast mich verraten. Neun Monate lang habe ich deinetwegen gelitten, als ich dich unter dem Herzen trug… Ich litt, als ich dir das Leben gab. Ich sorgte für dich, als du ein Baby warst. Viele, sehr viele Male habe ich mir etwas versagt, um es dir zu geben, und jetzt wendest du dich gegen mich und verrätst meine Liebe. Du hast dein Vaterland, deine Familie und mich, deine Mutter, verraten.’ Meine Freunde, ich kann euch sagen, daß die ständigen Tränen und Bitten meiner Mutter mir fast das Herz brechen. Das ist schlimmer als alle Schläge, als Hunger und Drohungen. Und doch kann ich nicht zurück und meinen Herrn verleugnen, nicht einmal um meiner Mutter willen.»
Oft wird die Frage gestellt: «Bleiben diese Bekehrten standhaft? Kommen sie im Glaubensleben voran?» Einige bleiben treu für eine Weile und werden dann doch durch die ständige Oppostition und Verfolgung zermürbt und auf Abwege gebracht. Tatsächlich gibt es nur sehr wenige, die nicht irgendwann einmal angesichts der starken Opposition einen Rückzieher machen. Doch ein echtes Gotteskind findet wieder zu Ihm zurück.
Merzouga war eine eifrige Christin. Sie kehrte von der Freizeit zurück und sah sich der üblichen Ächtung ausgesetzt. Ihr Bruder schlug sie Tag für Tag und drohte, sie zu töten, wenn sie ihrem Glauben an Christus nicht absagen würde. Sie begann, in einem Moslem-Krankenhaus zu arbeiten und verlor ihre Freude am Herrn. Sie wandte sich sogar gegen andere Christen und denunzierte sie. Inbrünstig wurde für sie gebetet, und obwohl sie nicht mehr in die Freizeit kómmen konnte, kam sie tatsächlich zum Herrn zurück. Abd alMasih war besonders beeindruckt von diesem Satz in ihrem Gebet: «Herr, gib mir jenen Eifer, jene Kühnheit und Unerschrockenheit wieder, die ich einstmals hatte, wenn ich von Dir und für Dich sprach, selbst unter Opposition und Verfolgung.» Das traf ihn sehr. Wie wenig haben wir von jenem Eifer, jener glühenden Reiterliebe, die für Christus auch angesichts ständiger Verfolgung zeugt! Doch diese jungen Christen tun eben das. Sie ergreifen jede Gelegenheit, um für ihren Herrn zu zeugen.
Viele Christen sind von den neuesten Nachrichten aus Algerien beunruhigt. Der Feind ist entschlossen, das Werk Gottes in jenem Land zu unterlaufen und zu zerstören. Missionare werden ausgewiesen, Christen werden aufgespürt, bedroht, eingeschüchtert und verfolgt. Einzelheiten über die Leiden und Trübsale der Kinder Gottes können nicht erzählt werden, auch wenn sie bekannt sind. Doch Algerien ist ein Land, das sich zu schließen beginnt. Trotzdem gibt es ausreichende Beweise dafür, daß Gott Seine Gemeinde baut, und der Macht der Finsternis ist es unmöglich, dagegen anzugehen. Gott hat es gefallen, die Türen zu vielen Missionsfeldern zu schließen. Er schließt zu, und niemand kann wieder öffnen. Aber er öffnet auch und niemand kann zuschließen.
 

Kapitel 17  –  Kein Ding ist vor Dir unmöglich…

«Sehr geehrter Herr, wir sind sehr erfreut zu erfahren, daß algerischen Christen die gleiche Freiheit eingeräumt wird wie Moslems in dem neuen Algerien. Bedeutet das auch, daß ein Moslem seinen Glauben ändern und Christ werden kann?» fragte der Missionar.
«Das ist ganz undenkbar», war die eindeutige Antwort des hohen Moslem-Beamten. Für den Ungläubigen ist es nicht nur ganz unmöglich, daß ein Moslem Christ wird, es übersteigt selbst die größte Phantasie. Doch Gott ist allmächtig. Es ist kein Ding unmöglich für den lebendigen Gott.
Es war der letzte Abend der Bibelfreizeit. Das Lagerfeuer brannte, und einige algerische Christen hatten ein ergreifendes Zeugnis davon gegeben, wie Christus ihr Leben verändert hatte. Dann versuchte ein junger Mann von achtzehn Jahren, tief bewegt über seine Eltern, aus vollstem Herzen seine Landsleute auf die Feuerprobe vorzubereiten, die sie erwartete, wenn sie nach Hause zurückkehrten. Man kann die mitreißenden Worte nur unzulänglich in Deutsch wiedergeben: «Gott ist mächtig. Ich möchte das allen Jungen und Mädchen sagen, die Jesus Christus in dieser Freizeit angenommen haben, und die jetzt nach Hause zurückkehren. Ich nahm Jesus Christus in meinem Herzen auf, doch dauerte es eine geraume Zeit, bis ich meinen Eltern davon sagte. Sicherlich habe ich nicht richtig gehandelt, daß ich es ihnen nicht eher erzählte. Denn die Menschen, die wir vor allen andern in dieser Welt lieben und ehren sollten, sind unsere Eltern. Wenn wir unseren Freunden von Christus sagen, dann müssen wir zuallererst mit unseren Eltern sprechen. Ich selbst zögerte dabei, weil ich unheimliche Angst hatte. «Der Herr ist König. Wer wird es wagen, gegen Seinen Willen anzugehen, Seiner Fürsorge zu mißtrauen, gegen Semen weisen Ratschluß zu murren, oder Seinen königlichen Verheißungen Zweifel entgegenzusetzen?»

Die Missionare verlassen das Land, doch das Werk Gottes geht weiter. Die Verheißungen stehen fest.

Der Kontakt mit leidenden Christen mag aufhören, weil Briefe abgefangen werden. Die einzige Möglichkeit, diesen tapferen Männern und Frauen zu helfen, ist das Gebet. Die Verfolgung mag sie in den Untergrund treiben, doch Gott wird triumphieren. Ihnen ist es gegeben, nicht nur an Jesu Namen zu glauben, sondern auch für Ihn zu leiden. Welche Freude erwartet sie, wenn der Herr wiederkommt! In der ganzen Welt wirkt der Herr heutzutage unter den Moslems. Wenn sich eine Tür schließt, müssen wir bereit sein, durch andere, die offen sind, einzutreten, wenn nicht als vollzeitliche Missionare, dann auf andere Weise.

Doch Gott wollte, daß ich zu meinen Eltern redete. Ich war einfach gezwungen, es zu tun. Eines Tages stand ich vor der Wahl.

Ich konnte nicht anders. Entweder ich verleugnete meinen Glauben an Jesus Christus oder ich bekannte ihn. Nur diese Alternative bot sich. Ich kann hier nicht aufhören, sondern muß berichten, was danach geschah. Ich erzähle das nicht, um mich in irgendeiner Weise hervorzutun und zu sagen: `Seht her, das habe ich geleistet!’ Nein, nur um euch die Macht Gottes in einem algerischen Christen zu beweisen. Man neigt im allgemeinen dazu – und selbst führende Christen tun das – anzunehmen, daß ein Moslem nicht Christ werden kann. Doch ich sage: `Ich war Moslem, und jetzt bin ich Christ.’ Was Gott mit einem Moslem tun kann, wenn er Christ wird, ist phantastisch. Wenn du Christus bezeugst, spricht deine Familie nicht mehr mit dir. Sie geben dir kein Essen und waschen deine Wäsche nicht mehr. Doch nicht genug. Die nächste Station ist die Moschee, wo man dich vor die Imams ruft. Eirüge setzen dir mit Fragen zu, um dich in die Ecke zu treiben, andere sind brutaler… Doch was am schwersten zu ertragen ist, ist der Eindruck, den man erweckt, die Liebe seiner Mutter und seines Vaters verraten zu haben. Einige Male habe ich angefangen, vor meiner Mutter zu weinen, als sie mir sagte, was sie alles um meinetwillen erlitten habe… Und dann diese Vorwürfe, alles zu verraten. Das machte mich fix und fertig. Es ist das Schrecklichste, etwas, was du einfach nicht ertragen kannst. Man kommt sich so schäbig vor. Du empfindest solch eine tiefe Traurigkeit, daß du einfach verschwinden möchtest. Doch Gott offenbart Seine Liebe. Er beweist Seine Macht. Immer wieder bin ich versucht gewesen, mein Christsein zu leugnen, nur um meine Mutter zu versöhnen. Doch Gott war immer gegenwärtig. Er führte alles zum Besten. Er gab mir die Kraft, mit Christus weiterz~gehen. Eirüge Male befand ich mich in den Händen der Imams in der Moschee. Sie versuchten es mit Logik und wollten beweisen, daß es i~ einem Moslem-Land viel ~infacher ist, den Koran zu befolgen, da er das Wort Gottes sei. Ich wurde bis zum Äußersten getrieben, ja wirklich, die äußerste Grenze war erreicht. Ich stand dicht davor, zu bezweifeln, was ich erkannt hatte. Doch Gott gab mir die Antworten und befreite mich.

`Ihr dürft niemals das bezweifeln, was ihr von Jesus gesehen habt.’ In dieser Freizeit habt ihr erlebt, daß die Bibel Gottes Wort ist. Ihr geht nach Hause, und ich glaube, daß ihr bis zur äußersten Grenze versucht sein w~rdet, Gottes Wort in Zweifel zu ziehen. Satan ist mächtig, er ist der Fürst dieser Welt, aber er ist nicht allmächtig. Ihr wißt in euren Herzen, daß Jesus Christus der Herr ist. Ihr werdet nun nach Hause zurückgehen, und dort werden sie versuchen, euch durch jedes ihnen zur Verfügung stehende Mittel vom Glauben abzubringen. Doch ich bitte euch inständig, versucht, euch auf das zu berufen, was ihr während dieser Freizeit gelernt habt, daß Jesus Christus der einzige Retter und nur die Bibel Gottes Wort ist. Bezweifelt niemals in der Dunkelheit, was ihr im Licht gelernt habt, und Jesus Christus wird euch segnen und euch Kraft geben. Er wird es euch möglich machen, über jede Anfechtung und Versuchung zu triumphieren. Ich sage dies, weil es mir so ergangen ist; Gott hat Seine Kraft durch mich erwiesen. Ich hätte nie gedacht, daß ich gegen die Imams bestehen könnte, sie, die all ihre Bücher und Studien haben, doch in der Kraft Gottes, und Ihm sei all die Ehre, konnte ich es.»
Viele sagten aus vollem Herzen `Preist den Herrn`, als er sich niedersetzte. Nichts ist für Gott unmöglich. Er errettet nicht nur, sondern ist auch fähig, Seine Kinder zu bewahren. Die Menschen mögen selbst den Leib töten, doch können sie das Leben, das mit Christus in Gott verborgen ist, nicht antasten.

«Vater, weißt du eigentlich, daß Nuwaras Gruppe in der Freizeit gesagt hat, Mohammed sei ein falscher Prophet?»
Nuwara saß mit ihrem Bruder und ihrer Schwester, sowie ihren Eltern zu Tisch. Als er das hörte, war ihr Vater außer sich. Wutentbrannt wandte er sich seiner siebzehnjährigen Tochter zu und sagte: «Ich hoffe, daß du damit nichts zu tun hattest.» Ruhig erwiderte sie: «Vater, ich war die einzige in der Gruppe, die diese Behauptung aufstellte.» Sein Zorn kannte keine Grenzen. Er nahm Nuwara in das nächste Zimmer und schlug sie mindestens zehn Minuten lang. Am nächsten Tag sagte er zu ihr: «Du solltest lieber zu deiner Großmutter gehen, ich will dich hier nicht mehr sehen. Meine ganze Liebe zu dir ist erloschen.» Wie leicht wäre es für Nuwara gewesen, stumm zu bleiben, ihren Glauben zu verbergen, jenen Worten zu widersprechen, um den fürchterlichen Schlägen, der Schande und den Leiden zu entgehen! Später schrieb sie an Abd alMasih:

«Lieber Onkel! Verzeih, daß ich erst jetzt schreibe. Ich habe aber absichtlich nicht vorher geschrieben, denn ich wollte sehen, was weiter geschehen würde. Ich erzählte meinem Vater, daß ich Christin geworden bin, doch nahm er das nicht ernst. Er lachte darüber. Dann erzählte mein Bruder, was ich über Mohammed gesagt hatte… Du kannst dir nicht vorstellen, wie unglücklich ich war, nachdem Vater mich geschlagen und jene grausamen Worte gesagt hatte. Ich war drauf und dran, mich abzuwenden und aufzugeben. Dann erinnerte ich mich daran, daß du gesagt hattest, Gott wolle sicherlich, daß ich mit meinem starken Charakter eine Leiterin für andere sei, Seine Dienerin … Ich bete täglich für die Christen in Algerien. Lieber Onkel, du weißt, wie tief es mich betrübt, Menschen um mich herum sterben zu sehen, ohne Vergebung, und ohne für den Tod bereit zu sein. Ich sehne mich danach, die Gemeinde Jesu Christi hier in Algerien entstehen zu sehen. Dann könnten vielleicht alle Algerier das Evangelium hören und den Weg zur Erlösung finden. Das ist mein tägliches Gebeť. Ich trage mein Neues Testament immer mit mir in meiner Schultasche herum, und ich konnte schon zwei anderen Mädchen damit den Weg zum Heiland zeigen. Sie heißen… und… Sie werden dir bald schreiben, um es dir selbst zu sagen.»
Später konnte Nuwara an eine Freundin schreiben:
«Ich bin so froh, dir sagen zu können, daß meine Eltern mich nicht mehr wie früher verfolgen. Ich glaube, daß dies ein Wunder ist, das der Herr gewirkt hat. In der letzten Zeit habe ich meine Bibel viel gelesen, und ich bin überwältigt und fasziniert von der Kraft und Reichhaltigkeit der Verheißungen. Jeden Morgen fühle ich, daß ich dem großen Geber aller guten Gaben, den ich anbete, einfach danken muß. Je mehr ich meine Bibel lese, um so mehr finde ich, daß Christus zu gut für uns ist, denn wir verdienen all dies gar nicht… Er litt für uns. Tat Mohammed dies? Nein. Das sage ich all meinen Freundinnen, die mich für lächerlich halten. Ich möchte dir etwas sagen, worüber du vielleicht lachen wirst. Ich würde so gerne für Jesus Christus sterben, um Ihm `Danke’ zu sagen. Natürlich fällt es mir schwer, daran zu denken, doch wenn ich überlege, was Er für mich getan hat…!»
Wenige Wochen danach, erhielt Abd alMasih einen anderen Brief von ihr, aus dem nur Auszüge wiedergege
ben werden können.
«Lieber Onkel, ich habe eine phantastische Neuigkeit für dich, die dich sicher sehr glücklich machen wird. Ein Teil meiner Gebete ist erhört worden. Ich wußte, daß ein Wunder geschehen würde… Jeden Alachmittag kommen wir zusammen… Wir beten zusammen, lesen und singen. Ich tue mein Bestes, um einen Bibelabschnitt zu erklären. Es ist wunderbar! Jetzt kommt die Überraschung! Eines Tages kam meine Mutter vorbei und hörte uns singen. Sie kam herein, nahm sich einen Stuhl, setzte sich und hörte bis zum Ende zu. Dann erklärte ich einen Bibelabschnitt auf Arabisch. Sie war wirklich berührt, und seitdem hat sie keine dieser Zusammenkünfte verpaßt. Ich bin sicher, daß Jesus Christus stark an ihrem Herzen wirkt. Sie sagte mir, daß die Verheißungen, die Christen gegeben werden, so wunderbar und schön sind, daß sie sich am liebsten auch daran festhalten möchte. Ich habe vieles verstanden… Seitdem höre ich nicht auf, dem Herrn für Seine Hilfe zu danken, denn ich spürte, daß Er mit mir ist. Ich möchte, daß du mir einige Ratschläge und Ideen gibst, damit ich weiß, was ich bei diesen kleinen Zusammenkünften sagen soll. Ich finde, daß das ziemlich schwierig ist.»
So hat Gott Seine Zeugen in weit voneinander entfernt liegenden Städten, und trotz Opposition werden andere zum Glauben an Jesus Christus gewonnen. Sie wissen, daß sie eine Wahl treffen müssen. Entweder stellen sie ihr Licht unter den Scheffel und bleiben heimliche Jünger oder bekennen tapfer ihren Herrn, stehen fest und leiden, um andere zu Christus zu führen.
«Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.» Diesen tröstenden Vers hatte Gott Abd alMasih in all den Jahren oft in деп Sinn gebracht. Es hatte Zeiten gegeben, wo er sich fragte, ob eine solche Verheißung auch auf MoslemLänder zuträfe. Es ist eine dreifache Verheißung mit einer dreifachen Bedingung. Der Sämann im Nahen Osten geht hinaus und läßt hinter sich die Bequemlichkeit eines gemütlichen Heimes und Herdes. Die Zeit zum Säen ist begrenzt. Doch kann er auch nicht eher säen, als bis der Regen den Boden durchnäßt und vorbereitet hat. Er sät bei widrigem Wind und Graupelregen. Angesichts der Winterstürme denkt er daran, daß es ihn ein ganzes Jahr seines Lebens gekostet hat. Es ist kostbarer Samen. Im letzten Jahr hatte er auch Samen gesät, darüber gewacht, gejätet, geerntet und gedroschen, ausgelesen und wahrt. Es ist tatsächlich kostspieliger Samen. Vieles davon wird verlorengehen, doch weil Gott treu ist, wird es eine Ernte geben.
Der christliche Sämann sät das Wort Gottes. Diese dreifache Bindung muß beachtet und in seinem Dienst angewendet werden. Er muß hinausgehen. Es muß ein ständiges Hinausreichen geben, eine Vergrößerung des Feldes, trotz widriger Umstände. Jede Botschaft, die er gibt, kostet ihn etwas. Sie muß in seinem Leben ausgelebt, ja ein Teil seines Lebens geworden sein. Es ist eine Botschaft von Gott, die er in der Stille seines Zimmers erhielt, indem er auf Gott harrte und in enger Gemeinschaft zu seinem Herrn stand. Aus einem Herzen voller Mitgefühl für die Menschen verkündigt er die Botschaft treu, selbst denjenigen, die dagegen sind und ihn verfol
gen.
Abd alMasih dachte an das Gedicht, das er vor vielen Jahren vorn in seine Bibel geklebt hatte, ein Gedicht, das ihm so oft eine Ermutigung gewesen war in den fünfundvierzig Jahren des Säens.

«Ich wollte säen auf einem fruchtbaren Feld,
das an ein schönes Land grenzt,
wo enge Gemeinschaft mich erfreut
und mancher Trost mir zur Seite steht.

Er gab mir hingegen ein dürres Feld
in einem wilden, unfruchtbaren Land,
wo Gefahren und Mühsale mein Los sind,
weit weg von allen, die mir teuer waren.

Doch ich lernte, das Feld Seiner Wahl war gut,
weit besser als irgendein anderes.
Denn der Meister selbst arbeitete auch dort –
Meine Stärke, mein Gefährte und Führer.»

Abd al Masih dachte an die langen Jahre des Säens, manchmal mit bitterem Herzenskummer. Er dachte an das Martyrium der ersten Gläubigen, die intensive Opposition, die bittere Verfolgung, die zerstörten Hoffnunen, die soviel Schmerzen verursachten, die Leiden der
eingeschlossenen Frauen, die wiederholten Enttäuschungen, die Jahre der Vorbereitung des kostbaren Samens, den mehrfachen Verlust der Außenstationen und schließlich den Verlust seines Heims. War das alles vergeh ich gewesen?

Als er darüber nachdachte, hörte er das Singen der jungen Christen. «Die Welt liegt hinter mir, das Kreuz steht vor mir…» Uber hundert junge Leute, die alle aus dem Islam kamen, hatten in jenem Jahr die Freizeiten besucht. Es hatte mehr als zwanzig Bekehrungen allein in dieser Freizeit gegeben. Welch ein Segen war es, ihre Aufrichtigkeit zu sehen, ihre inbrünstigen Gebete zu hören, ihren großen Mut zu erkennen, mit dem sie nach Hause zurückkehrten, fest entschlossen, die Schläge auf sich zu nehmen und ihrem Herrn treu zu bleiben. Wahrlich, der Herr hatte Seine Verheißung erfüllt! Es war fast zu schön, um wahr zu sein, fast unglau~ ich, doch es traf zu. Er fiel auf seine Knie und weinte Freudentränen, als er dem Herrn für Seine Treue dankte. Für Gott ist einfach alles möglich!

Er hatte diesen jungen Leuten geholfen, als sie den Galaterbrief studierten und dabei entdeckten, daß er so wunderbar auf ihre Profi eme anwendbar war. Sie fanden folgende Verheißung und nahmen sie für sich in Anspruch: «Seid ihr aber Christi, so seid ihr ja Abrahams Same und nach der Verheißung Erben.» Angesichts einer unmöglichen Situation hatte Abraham aus eigener Kraft Ismael gezeugt. Er wurde nach dem Fleisch geboren. Diese jungen Leute stammten alle aus Moslem-Familien. Von Natur aus waren sie Nachkommen Ismaels. Seit frühester Kindheit war ihnen beigebracht worden, einer Religion der Werke zu folgen. Gott verwarf Ismael: «Stoß die Magd hinaus mit ihrem Sohn.» Das hatte in den Herzen der jungen Moslems gewirkt. Doch als Abraham hundert Jahre alt war, wurde die Verheißung erneut gegeben: «Sarah, dein Weib, soll einen Sohn gebären.» Sarah hatte voller Unglauben gelacht, doch der Herr hatte Abraham versprochen: «Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Sarah soll einen Sohn haben.» Abraham vertraute Gottes Wort. Der Herr suchte Sarah heim, wie Er gesagt hatte. Das Wunder war geschehen, und der verheißene Sohn wurde geboren. Diese jungen Leute, die Nachkommen Ismaels, hatten das Wort Gottes studiert, der kosfbare Same war in ihr Herz eingedrungen, sie hatten geglaubt, und das Wunder der Wiedergeburt war geschehen. Jetzt waren sie Kinder Abrahams. Niemand konnte dieses Werk Gottes aufhalten. Ismael mochte Isaak wohl verfolgen, wie die Nachkommen Ismaels sie verfolgten, doch Isaak war das wahre Kind Abrahams, und sie waren wahre Gotteskinder. Nichts ist für Gott unmöglich!

Viele Jahre später gebot Gott Jeremia, ein Feld in einem Land zu kaufen, das bald von dem König Babylons eingenommen und beherrscht werden würde. Das Volk würde in die Gefangenschaft gehen, ihr Land würde wüst liegen, doch die Verheißung Gottes war: «Noch soll man Häuser, Äcker und Weinberge kaufen in diesem Lande.» Es schien unglauЫich, doch im Glauben gehorchte Jeremia, und im Gebet niederkniend, sagte er: «Ach, Herr, siehe, du hast Himmel und Erde gemacht durch deine große Kraft und durch deinen ausgestreckten Arm, und ist kein Ding vor dir unmöglich.» Als Jeremia diese ungeheuerliche Wahrheit erkannte, und als er im Glauben handelte, gab Gott seinem treuen Diener folgende Zusicherung: «Siehe, ich, der Herr, bin ein Gott allen Fleisches; sollte mir etwas unmöglich sein?» Hat dieser Abschnitt nicht eine sehr passende geistliche Bedeutung für das heute geschlossene Algerien? Der Feind scheint den Sieg davongetragen zu haben, doch ein geistlicher Sieg wird auch noch in diesem harten Land gewonnen werden. Was für ein Narr schien Jeremia in den Augen seiner Mitmenschen zu sein! Dennoch wagte er es, Gott zu glauben. Die Männer und Frauen, die auf den Befehl Gottes hin und mit Seiner Treue rechnend hinausgehen in Moslem-Länder, sind menschlich betrachtet Narren. Dennoch, auch heute ist unser Gott der Gott Abrahams und der Gott Jeremias. Nichts ist bei Gott unmöglich!

Steinhart müssen die Herzen von Christen sein, die vom Glauben und Mut junger algerischer Christen lesen, ohne tief berührt zu werden. Eine noch größere Herausforderung erging von einem algerischen Moslem. Begierig hatte er zum ersten Mal die Evangeliumsbotschaft gehört.
«Welche wunderbaren Worte sind das!» sagte er zu Abd alMasih. «Gibt es noch viele andere außer dir, die dies wissen?»
«Ganz sicherlich, denn es gibt Millionen in der Welt, die an den Herrn Jesus geglaubt haben und in Ihm Frieden, Freude und Vergebung empfangen haben.» «Aber sicher weiß keiner in diesem Land darüber?» «O ja, doch.»
«Wieviele sind es?»
«Es muß viele in Algier allein geben und viele, sehr viele in Europa.»

«Wenn sie das wirklich glauben, warum ist dann niemand gekommen, um es uns zu sagen? Nein, ihr Christen glaubt eurer Lehre nicht wirklich. Wenn ihr das wirklich glauben würdet, dann wäret ihr schon eher zu uns gekommen!»

So traf dieser junge, unwissende Moslem mit Scharfsinn und Einsicht haargenau den Grund für die Unterlassung der Evangelisation der Moslems. Unglaube! «Ihr glaubt nicht wirklich, sonst wäret ihr schon lange zu uns gekommen.» Diese Worte drangen Abd alMasih wie ein Schwert ins Herz. Er blickte über die Berge der Kabylei zum Meer hinunter. Eine halbe Million unevangelisierte oslems! Er und Lalla Jouhra hatten fest beschlossen, daß sie in der Gnade Gottes alles in ihren Kräften Stehende tun würden, um diesen Menschen zu zeigen, daß sie wirklich glaubten und besorgt um sie waren. Aber was konnten zwei Missionare unter einer halben Million Moslems schon ausrichten?

Der Mangel an geistlichen Erfolgen in der Arbeit an Moslems muß zum großen Teil ungläubigen Christen zugeschrieben werden. «Er tat nicht viele Zeichen, um ihres Unglaubens willen.» Unglaube begrenzt die Macht Gottes.

Der Hintergrund für dieses Buch ist Algerien gewesen, doch die Provokation gilt für alle Moslem-Länder. Viele waren überzeugt, daß jede christliche Arbeit in einem unabhängigen Algerien aufhören würde, doch Gott wirkt auf Seine Weise. Er ist der Gott der Unmöglichkeiten. Während die Türen nach Nordafrika sich schließen, hat Gott in Seiner Souveränität Algerier dazu ausersehen, das Werk fortzuführen. Doch andere Moslem-Länder stehen noch weit offen für das Evangelium, und das Bedürfnis für Mitarbeiter ist riesengroß.

Ein Besucher aus Europa, der zum ersten Mal eine Gruppe von Moslems sieht, die dem Wort Gottes zuhören, ist gewöhnlich stark beeindruckt. «Wie sie zuhören! Sie hören zu, als ob ihr Leben davon abhinge», war die Bemerkung eines Europäers, der die gespannte Aufmerksamkeit moslemischer Jugendlicher beobachtete, die der christlichen Botschaft zuhörten.. Sie werden davon erfaßt. Und in sehr konkreter Form hängt ihr Leben von dieser Botschaft ab. Doch wie sollen sie hören ohne einen Prediger? Satans Lüge, daß Moslems nicht evangelisiert werden können, wird noch immer von Millionen von leichtgläubigen Christen verbreitet und geglaubt.

Es ist natürlich wahr, daß die religiösen Führer die Boten Gottes ablnen und sich gegen sie stellen. Doch das gleiche taten die Juden zur Zeit des Paulus auch. Es timmt auch, daß die Bekehrten verfolgt werden, und daß durch die intensive Opposition viele dazu getrieben werden, heimliche Gläubige zu sein. In Zentralafrika, wo Abd alMasih einige Jahre seines Lebens verbrachte, hat der zum Christentum Bekehrte alles zu gewinnen. Prestige, eine Arbeitsstelle, Ausbildung und Vorankommen in der gesellschaftlichen Laufbahn begleiten die Christen. In Moslem-Ländern hat der Bekehrte alles zu verlieren, vielleicht sogar sein Leben. Dies hat beigetragen zur scheinbaren Geringfügigkeit sichtbarer Erfolge in solchen Ländern, doch der Befehl ist noch der gleiche: «Predigt das Evangelium aller Kreatur!» Der Herr schloß darin die Moslems mit ein. Der Glaube gehorcht Seinem Befehl und übergibt die Probleme Gott. Nichts ist für Ihn unmöglich!

«Bittet den Herrn der Ernte, daß Er Arbeiter sende in Seinen Weinberg!» Glauben wir wirklich, daß Gott ernstes Gebet hört und erhört? Den inbrünstigen Gebeten junger vom Islam bekehrter Menschen nach ist das keine Frage. Sie bitten, sie glauben, sie zeugen, sie leiden; und Gott wirkt. Sie glauben, daß nichts für Gott unmöglich ist. Wir auch?

Gebet ihr ihnen zu essen! Der Unglaube setzt unserem Geben Grenzers. Wir werden Moslems nicht das Brot des Lebens geben, wenn wir nicht glauben, daß sie hungern. Der kleine Junge übergab dem Herrn vertrauensvoll seine fünf Laibe Brot, und der Herr gebrauchte sie. Glauben wir wirklich? Der Glaube blickt auf Gott und gibt. Unglaube dagegen beschränkt Gott.

Gehet hin in alle Welt! Ein Blick auf Landkarten wird den immensen Unterschied zwischen der Anzahl der Missionare, die zu den Moslems gehen und derjenigen für andere Länder, aufzeigen. Junge algerische Christen glauben, daß für Gott nichts unmöglich ist. Sie zeugen, sie gehen hin und sagen es anderen, und Gott wirkt durch sie. Der Mann oder die Frau, die nicht wirklich glauben, werden nie zu den Moslems gehen. Glauben wir ernsthaft? Glaube gehorcht, Glaube geht hin, Glaube zeugt! Dann wirkt der Gott des Unmöglichen.

Moslems sind hart, sie sind zu hart für Menschen, doch für Gott sind sie erreichbar. Wir sollten wie Jeremia beten (32,17): «Ach Herr, siehe, du hast Himmel und Erde gemacht durch deine große Kraft und durch deinen ausgestreckten Arm, UND IST KEIN DING VOR DIR UNMÖGLICH!»

 
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