Seelische Verletzungen und ihre Heilung
Prof. Dr. Dr. Eberhard Grossmann
Unter seelischen Verletzungen verstehen wir Verwundungen, die einem Menschen von nahen Verwandten, guten Freunden oder gar Glaubensgeschwistern zugefügt worden sind, und die gerade deshalb so nachhaltig schmerzen. Der Betreffende leidet auch in der Erinnerung sehr an der Untreue und Hartherzigkeit von Personen, von denen er eigentlich etwas Anderes, etwas Besseres erwartet hätte. Diese Verletzungen zerstören die Lebensfreude und vermindern die Energie, die ein Mensch zur Bewältigung seines Alltags braucht. Und weil sie tief im Innern der menschlichen Seele wirksam sind, kommt es bei diesen Verletzungen nur sehr schwer zu einer Heilung. Von der Welt her gibt es bei diesen Nöten kaum eine Hilfe. Dagegen stellt die göttliche Offenbarung der Bibel im 1. Buch Mose in der Geschichte des Joseph dem Leser einen Weg vor Augen, wie auch tiefgehende seelische Verletzungen geheilt werden können.
Ohne unnötiges Klagen den Weg in die Zukunft gehen
Im biblischen Bericht über Joseph treten folgende Einzelheiten besonders hervor: Joseph hält sich nicht mit unnötigen Klagen auf. Er bleibt trotz schwerer Erlebnisse im Glauben an Gott fest und bewährt sich im Hause des Potiphar ebenso wie im Gefängnis durch Treue, Umsicht und Weisheit. Schliesslich zeigt er vor dem Thron des Pharao Mut und Glaubenstreue, wobei er durch kluge Traumdeutung den Weg zu einer notwendigen Vorratswirtschaft in Ägypten weist. Er wird zum Minister ernannt und kann in dieser Aufgabe dem Land einen ausserordentlich guten Dienst tun.
In gleicher Weise sollte jeder an seelischen Verletzungen Leidende unnötiges Klagen vermeiden. Das Jammern wird nichts dazu beitragen, seine Not zu wenden. Vielmehr sollte ein Betroffener vertrauensvoll in die Zukunft weitergehen, gerade eben nicht zurückschauen, sondern nach vorne sehen und nach seinen Kräften den Mitmenschen nützen und helfen. Natürlich ist das schwere Leid dann noch immer im Innern der Seele vorhanden. Es wird aber durch die Ausrichtung nach vorne und durch ein wertvolles neues, weil sinngefülltes Leben gelindert und weniger schmerzhaft. Wer sich dabei wie Joseph im Vertrauen an Gott hält, wird diese Erleichterung erfahren; es wird schon jetzt heller werden in seinem Leben. Der Schmerz seelischer Verletzungen lässt nach, wenn ein Mensch sein Leben ganz bewusst nach vorne, auf Gott und auf den Nächsten hin ausrichtet.
Wartenkönnen auf die endgültige Heilung
Selbstverständlich aber bleibt die endgültige Heilung von seelischen Verletzungen das Ziel, Diese setzt jedoch voraus, dass diejenigen, die verletzt haben, ihre Schuld einsehen und den Willen zu einer echten Versöhnung aufbringen. Das kann manchmal ganz schnell geschehen. Wenn es aber länger dauert, und das ist wohl oft der Fall, dann ist es geboten, mit grosser Geduld darauf zu warten, dass diese Änderung bei den anderen eintritt. Es macht keinen Sinn, wenn man Menschen, die unbussfertig, selbstsicher und manchmal sogar arrogant sind, die Versöhnung anbietet. Man wird dann nicht verstanden, sondern zurückgewiesen und manchmal sogar verspottet. Die Folge: Verletzungen verschlimmern sich. Da ist es besser, warten zu können, bis die Menschen auf der anderen Seite ihr Unrecht einsehen.
Joseph wartet geduldig, bis er die Brüder eines Tages wiedersieht und sich überzeugen kann, dass sie anders geworden sind. Juda, einer der schuldig gewordenen Brüder, tritt für diese ein und ist zu einem Opfer bereit. (Der Stamm Juda wird danach der Stamm, der den anderen Stämmen vorangeht und aus dem David und menschlich gesprochen auch Jesus hervorgehen.) Erst daraufhin löst sich bei Joseph das Gefühl der Verletzung, und in seinem Innern wird alles heil.
Auch der Mensch unserer Zeit braucht bei seelischen Verletzungen oft eine längere Zeit des Wartenkönnens, selbst wenn ihm dies sehr schwer wird. Um so mehr braucht er aber auch einen geduldigen Seelsorger, der ihn in dieser Phase des Wartens begleitet. Wie schön ist es dann aber, wenn es später doch endlich zur Versöhnung kommt.
Der Weg zur endgültigen Heilung
Indes geht es bei dem Weg zur endgültigen Heilung nicht nur um die anderen, also um die, die verletzt haben, sondern auch um die, die verletzt wurden. Für sie ist der Weg zur Heilung ein besonderer Weg in der Nachfolge Christi. Täglich soll in uns ja etwas Altes sterben und etwas Neues von Christus her Gestalt gewinnen. «Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir», schreibt Paulus in Gal 2, 20. So werden die Tage der Geduld auch bald Zeiten des Segens, Zeiten des göttlichen Wirkens an den unter Verletzungen leidenden Menschen selbst. Wenn sie durch andere Menschen leiden, ergeht es ihnen, wie es Christus auch ergangen ist. Wenn sie sich dies immer wieder vergegenwärtigen, dann wächst auch bei ihnen die Bereitschaft zur Vergebung und zum Frieden mit den Menschen, die ihnen einmal weh getan haben. Denn von selbst werden auch sie nicht zur Versöhnung bereit sein. Auch sie werden die Vergebungsbereitschaft von Jesus lernen müssen.
Wir erfahren in unserem Leben aber nicht nur Verletzungen. Vielmehr gibt es immer auch Menschen, die unser Leben mit Liebe, Verständnis und Treue begleiten. Somit ergibt sich für jeden ebenso Anlass wie Grund genug zur Dankbarkeit.
Joseph denkt nicht nur an den Schmerz, den ihm seine Brüder bereitet haben, sondern auch an die Freundschaft und Freude, an die Liebe, die ihm sein Vater Jakob und sein Bruder Benjamin erwiesen haben. So bezeugen es seine Worte im biblischen Text.
So sollten auch wir nie einseitig werden und nur den Verletzungen anhangen, sondern erkennen, dass es daneben in unserem Leben sehr wohl Erweise von Liebe, Treue und Freundschaft gegeben hat und gibt. So viele Menschen taten und tun uns nichts zuleide, sondern wohl! Das Wissen darum ist für uns ein Motiv zum Dank und sollte unsere Bereitschaft zur Vergebung erhöhen, sodass auch unser Beitrag zur endgültigen Heilung einer Verletzung verwirklicht werden kann, wo immer Menschen an uns schuldig wurden
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