David Jaffin
Schweigt Gott zum Bösen?
Bucheinbandtext: – Ein altes, aber immer wieder aufwühlendes Thema – diesmal von einem Autor bearbeitet, der aus einem Volk stammt, das aufgrund seiner Geschichte besonders von dieser Frage betroffen ist. Um so spannender, welche Auflösung der Autor anbietet. David Jaffin ist evangelischer Pfarrer. Er wurde (als Jude) 1937 in New York geboren. Jaffin studierte Kunstgeschichte und Psychologie und Theologie. Er hat mehrere Gedichtbände und zahlreiche Predigtbände sowie Kunstbildbände veröffentlicht. –
Inhalt
Warum läßt Gott das Böse zu?
Paulus und Jakobus (Die Rechtfertigungslehre)
Menschliches und göttliches Leiden
Die zeichenhafte Bedeutung von Jesu Wunderheilungen
Kinder des Lichts
Wer bin ich?
Gottes Geist – unsere bestimmende Kraft
Göttliche Führung durch den Umgang mit der Bibel
Christliche Kultur – eine Einführung
– Eingestellt von Horst Koch. Einige Textbetonungen sind von mir. Herborn, im November 2023 –
Warum läßt Gott das Böse zu?
Ich werde versuchen, eine siebenfache Antwort zu geben auf die Frage »Warum läßt Gott das Böse zu?« Und Sie werden bei dieser siebenfachen Antwort merken, daß diese sieben Punkte nicht ganz voneinander getrennt sind, sie fließen ineinander, sie führen zu einander.
Erstens:
Die Fragestellung »Warum läßt Gott das Böse zu?« ist für mich keine christliche Fragestellung, auch wenn ich selbst diese Frage so gestellt habe. Die Frage sollte umgekehrt gestellt werden: »Warum hat Gott uns nicht längst aufgegeben und uns alle umgebracht?«
Das ist die richtige, christliche Fragestellung. Das ist, was wir alle verdient haben, Juden wie Christen. Warum? Er hat uns für das Paradies geschaffen, zu seinem Bild geschaffen, daß es sehr gut war, so wie er das haben wollte. Er hat uns gezeigt, was wir tun sollen und was wir nicht tun sollen; nur zwei Grenzen hat er uns gegeben, die Grenze des Lebens und die Grenze gött licher Weisheit, denn diese beiden gehören uns nicht. Und was ist mit diesem großen Angebot passiert, wo wir alles bekamen, was unser Leib, Geist und unsere Seele brauchten? Wir haben diese Grenze überschritten.
Wir sind gefallen. Und was geschah dann? Brudermord (Kain und Abel), Massenmord (Lamech), Noah und die Sintflut, eine ganze Welt gegen Gott – und da hat er dann das Böse nicht zugelassen, er hat es zerstört, hat gereinigt.
Noah ging da hindurch mit seiner Frau, mit seinen Söhnen und ihren Frauen und mit den Tieren.
Dann der Turmbau zu Babel, eine ganze Zivilisation kämpft, um Gott vom Himmel herunterzuholen, da mit wir hinaufkommen: Wir sind die Herren der Welt! Diese Geschichte vom Turm in Babel wiederholt sich ständig, durch die ganze Geschichte, ob das die Französische Revolution ist – »Jahr eins«, das Jahr eins der menschlichen Vernunft, der Freiheit und Brüderlichkeit! Nicht mit Jesu Geburt, sondern mit dem Jahr der Menschlichkeit, da sollte es anfangen. Und das geht durch unsere ganze Geschichte. Das ganze Geschwätz über Menschlichkeit anstelle von Göttlichkeit: »Alles, was menschlich ist, ist gut.« Ja, wenn man Auschwitz, den Holocaust gesehen hat, dann zweifelt man sehr daran, ob das, was menschlich ist, gut ist. Was Gott geschaffen hat, war gut, aber wir sind im Sündenfall. Und seither ist das Geschehen der Menschheit von uns aus nicht gut geworden.
»Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« Und das hat sich bis heute nicht geändert. Wir sehen das Versagen Israels. Der Herr, der Gott Israels, hat ein Volk erwählt, zuerst durch einzelne Menschen, damit es sein Gesetz halte. Und Israel hat ganz und gar versagt, denn die Israeliten wollten das Gesetz sehen, wie sie es sehen wollten, nicht wie Gott es sieht. Gott hat Propheten geschickt, um zu zeigen, daß das Gesetz zum Lippenbekenntnis für sie geworden ist, daß sie es nur äußerlich hielten, nicht »von ganzem Herzen«. Und die Propheten wurden von ihnen verworfen. Und dann schickte er seinen eigenen Sohn, der wurde von ihnen umgebracht. Israel versagt.
Und die Jünger? Was passiert bei der Kreuzigung Jesu Christi? Waren die Jünger besser? Sie gingen alle in die Irre wie Schafe. Warum »wie Schafe«? Weil sie selbst geopfert werden sollten für ihre Schuld, nicht Jesus. Aber gerade weil sie total versagt haben, vertreten sie uns und die Kirche. Die Jünger gingen in die Irre, gerade als Jesus erhöht wurde, und er hat dreimal vorausgesagt, daß er gekreuzigt werden würde. Die Jünger versagen ganz und gar, kein einziges Glaubensbekenntnis eines Jüngers findet sich bei der Kreuzigung Jesu. Grünewald hat auf seinem berühmten Bild der Kreuzigung Johannes den Täufer dargestellt, der mit seinem überlangen Finger auf Jesus weist. Der Täufer war zum Zeitpunkt der Kreuzigung Jesu aber längst tot. Stand dem Künstler das Versagen der Jünger vor Augen? Wir versagen, und es steht deutlich im Neuen Testament, daß das Licht in die Welt gekommen ist, das Wort, welches Fleisch geworden ist, die Menschen aber haben es nicht angenommen. Das bedeutet: Es geht nicht nur um das Versagen im Paradies, es geht nicht nur um das Ver sagen Israels, es geht um das Versagen von uns Christen. Wie ist es bei uns heute? Können wir wirklich behaupten, daß wir Gott etwas vorzubringen haben mit unserer Frömmigkeit? Wie viele Kirchen sind leergepredigt! Da gab es in IDEA eine lustige Zeichnung: Zum Gottesdienst in einer riesigen Kirche sind etwa 20 Leute gekommen, und da macht der Pfarrer innerhalb der großen Kirche eine Minikirche und sagt: Die Kirche ist voll.
Das Versagen der Menschheit ist dreifach, absolut:
– das Versagen der ersten Menschen im Paradies
– das Versagen Israels und
– das Versagen der Christenheit.
Ein dreifaches Versagen. »Warum?« – ich kann das nicht begreifen, und ich muß sagen, das ist für mich immer die Grundfrage zu Karfreitag – »Herr, warum hast du das getan? Warum hast du uns nicht aufgegeben?« Längst aufgegeben, schon beim Tanz um das Goldene Kalb, als Gottes Zorn entbrennt. Warum hat er das nicht längst getan mit Israel und dann mit der ganzen Welt, schließlich auch mit uns Christen? Ich verstehe Gottes Liebe nicht. Gott sei Dank, daß ich das nicht verstehen kann. Und keiner von uns kann das verstehen, weil das alles übersteigt, was menschlich ist. Als Jesus totalem Versagen gegenübersteht, als er geschlagen und verhöhnt wird und von seinen eigenen Jüngern verlassen wird, geht er freiwillig hin in Liebe und bittet den Vater: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Er stirbt für Versager. Gerade deswegen ist er gestorben, weil wir versagt haben.
Die Grundfrage für einen Christen ist also nicht »Warum läßt Gott das Böse zu?«, sondern »Warum hat Gott uns nicht längst ausgerottet?« Warum hat er nicht gesagt: »Ich höre auf! Wie oft muß ich menschliches Versagen erleben! Ich habe meinen einzi gen Sohn geschickt, und die Welt hat auch ihn nicht angenom men.« Das ist die Grundfrage, wie tief Gottes Liebe geht. Eine Liebe, über die wir nur staunen können und die wir nicht begrei fen. Wir müssen das verstehen lernen, nicht nur in Bezug zu anderen, den Adams und Evas um uns und zu Israel und zu den Jüngern, sondern in Bezug zu uns selbst. Warum nimmt Jesus uns immer wieder an, obwohl wir versagen und unsere eigenen Wege gehen? Wie oft tun wir das! Wir können keine große Frömmigkeit vorweisen. Wir wissen doch, was in unseren Herzen ist – und das ist nicht immer in Ordnung. Wenn wir wahrhaftig sind, wird uns das bewußt. Warum nimmt er uns immer wieder an? Warum vergibt er uns immer wieder? Warum sagt er: »Ja, ich werde deine Schwachheit und deine Verfehlung, das Böse in dir, ich werde das für dich tragen«? Warum tut er das, unendlich oft? Er hört nie auf, uns zu vergeben. »Wie oft soll man vergeben?« wird Jesus ge fragt. Eine typisch jüdische Frage. »Siebzigmal siebenmal«, ist seine Antwort – das ist eine unendliche Zahl, nicht wahr, eine unendliche Zahl für die Vergebung. Wer vergibt siebzigmal sie benmal? Jesus Christus! Es ist die Zahl der Schöpfung, eine endlose, unendliche Zahl. Das ist die Grundfrage. Wenn die Frage gestellt wird: »Warum läßt Gott das Böse zu?«, dann soll die Antwort sein: »Hast du wirklich verdient, daß Jesus am Kreuz für dich gestorben ist? Hast du das verdient? Kennst du jemand, der das verdient hat?« Das ist die zentrale Antwort auf diese Frage. Jesus Christus hat getan, was wir gar nicht verdient haben, gegen das Böse, das in uns selbst ist. Und das ist nicht nur in Israel und nicht nur in den ersten Menschen, das ist in der Christenheit und das ist in jedem Menschen. Wir sind gefallene Menschen, gerecht gemacht durch Jesu Kreuzesblut, wie Luther das in der letzten Tiefe ausdrückt.
Zweitens: Ich habe in Geschichte promoviert und habe mir immer wieder diese Frage gestellt: »Warum hat Gott uns nicht vollkommen gemacht im Paradies, so daß wir nicht von ihm abfallen können?« Denn er hat sehr genau gewußt, daß wir abfallen würden. Er gibt uns die Entscheidungsfreiheit. Weil Gott alles kennt und alles sieht, hat er im voraus gewußt, daß wir der Versuchung unterlie gen werden. Warum hat er das getan? Warum hat er uns nicht als Engel geschaffen, rein? Zwar gibt es auch Engel, die gefallen sind – aber auch Engel, die nicht fallen können. Er hat Allmacht. Die Frage ist: Warum hat Gott die Geschichte geschaffen? Wenn er uns als Engel geschaffen hätte, in seinem Reich, in einem Para dies, immer bei ihm, dann gäbe es keinen Tod, denn der Tod kommt wegen der Sünde, und es gäbe keine Geschichte, denn Geschichte bedeutet Leben in der Zeit, vom Anfang bis zum Ende. Es gäbe dann kein Ende. Wir wären bei Gott, und was bei Gott ist, kann nicht sterben. Was in Gott ist, das ist ewig. Warum hat er nicht von vornherein Gottes Himmelreich geschaffen? Warum hat er Menschen geschaffen, die sehr gut waren, die aber von Gott abfallen werden? Die Antwort ist: Die Menschen im Paradies haben nicht gewußt, was böse ist. Sie haben nichts erfahren von Versuchung und Sünde. Durch den Fall, durch Schuld und Sünde, lernen sie, warum sie Jesus Christus, den Gott Israels, brauchen. Im Paradies haben sie das nicht wirklich gewußt. Denn wenn ihnen das völlig bewußt gewesen wäre, wären sie nicht gefallen. Sie mußten das lernen. Das bedeutet: Der Mensch im Paradies und der Errettete in Gottes Himmelreich sind nicht dasselbe. Der Mensch im Paradies gehorcht, ohne zu verstehen, was die Alter native ist, ohne zu verstehen, was böse ist, ohne zu verstehen, warum er Gott gehorchen soll. Er tut das einfach blind. »Du sollst gehorchen«, und er tut das. Er kennt nicht die Gefahren des Nichtgehorchens. Und Jesus ließ uns in den Ungehorsam fallen – er ließ uns. Er hätte eingreifen können, daß wir nicht vom Baum genommen hätten. Er tut das nicht. Warum? Weil wir diesen geschichtlichen Prozeß des Fallens erleben müssen, um zu erken nen, daß wir Jesus Christus brauchen, unseren Heiland. Wir hätten keinen Heiland, wenn wir nicht gefallen wären; denn dann brauchten wir nicht errettet zu werden. Wir lebten dann als eine Art von primitivem guten Menschen, der gar nicht weiß, was übel ist; und solch ein Mensch kann Gott nicht in der letzten Tiefe loben, als seinen Retter loben. Deshalb sagt Paulus: Wir sind mehr als die Engel, mehr. Warum? Weil wir in der letzten Tiefe wissen, warum wir Jesus Christus loben sollen, weil wir um die letzte Tiefe des Bösen in uns, in unserer Geschichte wissen. Es ist sehr bemerkenswert zu sehen, wie das biblisch gedeutet wird. Nennen wir ein paar zentrale Gestalten in der Bibel, die durch die Erfah rung des Bösen zu einer neuen Schicht und Tiefe des Gehorsams kommen, kein Gehorsam aus Zwang, sondern ein Gehorsam als Notwendigkeit: Ich brauche Gott, weil ich weiß, daß das Böse zu stark ist für mich.
Wie ist es mit Mose? Für einen Juden ist er die zentrale Gestalt in der jüdischen Geschichte. Mose ist das Zentrum. Mose lernt in den ersten Jahren seines Lebens über die Verheißung an Israel. Nur so ist zu erklären, was passiert, als er zu den Sklaven ging und merkte, daß er ein Hebräer ist. Und was tut er? Mit eigener Gewalt – wie die Zeloten zu Jesu Zeit – will er Israel befreien; er tötet. In der Kraft seines eigenen Temperaments ging er los: Ich will den Feind umbringen. Und wenn Haß über uns kommt, dann bringen wir uns selbst um, nicht den Feind, dann gewinnt der Satan Macht über uns. Der Weg der Befreiung geht nicht über Mord und Totschlag. Und was tut der Gott Israels mit Mose? Er schickt ihn als Schafhirte in die Wüste, 40 Jahre lang, bis er alt und unwillig zum Dienst geworden ist. Und dann ruft er ihn zurück, dann ist er für die große Aufgabe der Richtige, nachdem Gott ihn gezüchtigt hatte. Und Mose sagt: »Nein, ich komme nicht.« Sein Wille hat dazu keine Kraft mehr. Sein Wille, das selbst zu tun, ist gebrochen. Gerade jetzt aber kann Gott durch ihn wirken. »Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig«, sagt Gott später zu Paulus; und so gilt das auch für Mose. Er ist jetzt ein anderer Mose. Er ist nicht mehr der Mose des Eigenwillens, der eigenen Kraft, der gefallene Mose, in dem der Satan herrscht, Mose, der tötet, um zu befreien. Das bringt ihn nur selbst in die Knechtschaft des Bösen. Der andere Mose, der unwillige Diener, der Stotterer, der Gott einfach gehorcht, weiß, ich bin hundertpro zentig abhängig von Gott. Das ist der Unterschied zwischen dem Menschen, der sich selbst durchsetzen will, dem Menschen im Sündenfall, und dem, der in der letzten Tiefe versteht, was Gehorsam bedeutet: Ich kann nicht, aber der Herr wird – auch gegen meinen Willen – wirken. Das ist etwas, was wir als Christen alle lernen müssen. Das ist unser Weg als Christen, das ist Heiligung. Heiligung ist der Prozeß, zu lernen und zu erfahren, daß wir total abhängig sind von Christus. Heiligung kommt nicht aus unseren Werken, sondern heißt, daß wir ganz und gar, jeden Tag, abhängig sind von Christus, daß unsere Kraft von ihm kommt und nicht aus unserem Willen, nicht von unserer Gerechtigkeit, sondern von seiner Gerechtigkeit und Führung.
Wie sieht das bei David aus? Ich gebe nur ein paar Beispiele. David scheint ein sehr gerechter und guter König zu sein. Er war nicht geprüft. Er war zunächst so eine Art paradiesischer König. Alles war gerecht und gut, weil er noch nicht geprüft war – wie Adam und Eva vor dem Fall. Und was passiert, als David geprüft wird? Da ist so ein warmer Sommerabend, und er geht auf sein flaches Dach und sieht drüben diese schöne Batseba, und er begehrt sie. Er denkt: Ich bin der König, ich kann tun, was ich will, ich stehe über dem Gesetz. Vergißt aber, daß kein Jude über dem Gesetz steht. Er nimmt sie zu sich und veranlaßt, daß ihr Mann am gefährlichsten Frontabschnitt eingesetzt wird, wo er im Kampf umkommen muß. Dann heiratet David Batseba. David lebte im Ehebruch. Ehebruch und Mord – gerade die zwei Sünden, die Jesus, der »Sohn Davids«, in der Bergpredigt in den Mittel punkt stellt. Die Pharisäer bezichtigt er: Ehebruch und Mord ist in euren Herzen. Und was passiert mit David? Er spricht das Todesurteil über sich selbst, als Nathan ihm die Geschichte von dem Mann erzählt, dem sein einziges Schäfchen von dem anderen genommen wird, der so viele hat. Und gerade als David weiß, daß er dem Tod geweiht ist, als er den Psalm 51, den großen Bußpsalm, ausspricht vor Gott, gerade dann ist er etwas ganz anderes und viel Tieferes als der ungeprüfte David. Das ist der gefallene David, der David, der weiß: Ich bin ein gefallener Mensch, ich brauche Gott ganz und gar – »gegen dich allein habe ich gesündigt«! Da redet er nicht von seiner Gerechtigkeit, von seiner Art, alles richtig zu machen, sondern er weiß: Gegen Gott hat er gesündigt und deswegen gegen seine Mitmenschen und gegen sich selbst. Hier ist ein neuer David, ein zerknirschter David. Einen zerknirschten Geist will Gott haben, einen David, der ganz und gar abhängig ist von Gott und merkt: Ich habe kein Recht mehr zu leben, weil ich ein schuldiger Mensch bin, ein Mörder und ein Ehebrecher. Aber das ist ein viel tieferer David. Ein David, der weiß, was das bedeutet, abhängig zu sein vor dem Herrn. Ein David, der weiß, was Erbsünde bedeutet, dem Tod geweiht zu sein. Das ist seine Lage.
Wie ist das mit Saulus? Da passiert genau das gleiche. Der gerechte Saulus eifert für das Gesetz, saß zu Füßen des großen Gamaliel. Er lernt und weiß: Das ist unmöglich, was diese Christen da treiben; sie spalten die Juden; sie beten einen Menschen an. Und er eifert für die Gerechtigkeit, für das Gesetz. Er hat Gefallen am Tod von Stephanus; er eifert wütend; schnaubend will er nach Damaskus, um die Christen dort umzubringen. Und was passiert? Das gleiche wie bei Mose. Er sieht Gott im Licht, wie Mose, und er fragt ihn nach seinem Namen (was ein Jude nicht wissen darf); und er bekommt Antwort, denn er wird kein gesetzestreuer Jude mehr sein, sondern ein gläubiger Christ: »Ich bin Jesus, den du verfolgst.« Und in diesem Moment weiß Paulus über sich: Ich bin ein Mörder. Genau das gleiche, was auch David weiß. Über diesem Erleben wird Paulus blind, er kann weder essen noch trinken, lebt total in Buße, drei Tage lang, hineinge nommen ins Kreuz, in die Dunkelheit des Kreuzesgeschehens. Und dann wird aus dem Saulus der größte Diener Jesu Christi, als einer, der sagte: »Von allen sündigen Menschen habe ich am meisten gesündigt, ich bin der unwerteste, ich kann Gott gar nichts vorbringen.« Und das ist sinnbildlich für uns alle: Wir können gar nichts vorbringen. Wir rühmen nicht unsere Frömmigkeit, son dern wir rühmen unseren Herrn und Heiland und seine Frömmig keit. Wir können gar nichts vorbringen. Paulus ist zerknirscht und zerbrochen, und deswegen kann er ein großer Diener Gottes sein, weil er weiß, ich bringe nichts. Ich bin dem Tod geweiht, aber allein aus Gottes Gnade darf ich ihm dienen.
Es ist schrecklich, was David tat, was Saulus getan hat. Aber aus diesen bösen Menschen sind große Diener Gottes geworden. Warum? Sie fallen heraus aus einer oberflächlichen Frömmigkeit, einer selbstgeformten Frömmigkeit, und fallen in die letzte Tiefe des menschlichen Daseins, das ist Erbsünde. Und dann sind sie total abhängig von Gottes Gnade. Dann erst können sie wunder bare Werkzeuge unseres Herrn Jesus Christus sein. Indem sie lernen, daß wir keine Macht über das Böse haben, sondern das Böse Macht über uns hat, werden sie zu großen Dienern Gottes. Sie lernen, daß es dem Bösen gegenüber einen Schutz gibt: Gott selbst, in Jesus Christus. Schrecklich Böses ist da geschehen, aber vor diesem Hintergrund des Bösen sehen diese Menschen, daß sie total gefallen sind – dann konnten sie große Gottesdiener werden und viele Menschen zum Heil und zur Rettung bringen.
Hier wird der Sinn der Geschichte deutlich: Er ist nicht das Urparadies. Der Sinn der Geschichte ist Gottes endgültiges Reich, in dem die Menschen, die ihm gehören und errettet werden, merken: Ich bin total abhängig von Jesus Christus, ich kann von mir selbst aus gar nichts vorbringen.
Bis jetzt haben wir zwei Antworten: Die Frage ist falsch: »Warum läßt Gott das Böse zu?« Die Frage soll lauten: »Warum sollte er für uns sterben? Wir sind unwürdig.« Die zweite Antwort ist, daß Gott durch das Böse wirkt, indem er uns dem Bösen ausliefert (denn er weiß, daß wir fallen werden), damit wir merken, daß wir total abhängig sind von ihm. Und der paradiesische Zustand, das Urparadies, ist nicht das gleiche wie der Zustand in seinem Reich, denn dazwischen gibt es die Geschichte des Abfalls und der Verlorenheit. Durch diese Geschichte lernen seine Diener, daß sie total abhängig sind von Jesus Christus, und erst dann können sie wirken. Ohne diese Erfahrung ist alles, was wir tun, sinnlos, es bringt kein Heil und keine Früchte. Totale Abhängigkeit von ihm – das ist der Weg zu Gottes Reich, wo wir mehr sein werden als die Engel. Denn wir werden unseren Heiland anbeten. Die Engel können keinen Heiland anbeten, sie können nur den Schöpfergott anbeten, denn sie sind nicht errettet von einem Fall, weil sie nicht gefallen sind. Deswegen sagt Paulus: Wir sind mehr als die Engel. Jesus als unser Heiland wird uns vollkommen wiederherstellen.
Drittens:
Persönliches Leiden ist nicht Strafe, sondern ein großes Angebot Gottes. Schauen wir die Hiobsgeschichte an. Hiob geht durch alle möglichen Leiden. Er verliert alles, auch seine Gesundheit. In diesen Leiden geht er wie David und Saulus in die letzte Tiefe der Fragestellung über Gottes Gerechtigkeit. Hiob wird geprüft, er fällt durch. Er kündigt sein Leben (Hiob 9). Er sagt, Gott ist kein gerechter Gott, ich bin gerecht. Er fällt durch, genau wie die Pharisäer und Schriftgelehrten zu Jesu Zeit. Aber er hält fest an seinem Glauben. Hiob ist die personifizierte Geschichte Israels, die Geschichte der Erwählung, die Geschichte des Leidens und Versagens, die Geschichte vom Trotzdem des Festhaltens am Glauben. Wir sehen das heute an Elie Wiesel, dem bekannten jüdischen Dichter. Er ging durch Auschwitz, er hat das alles erlebt, und er sieht mehr und mehr, was Leiden in der letzten Tiefe bedeutet: totales Zerknirschtsein. Es kann nur mit Gott zu tun haben. Es kann nur mit Probe, mit Prüfung zu tun haben. »Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.« Jesus verspricht uns nicht einen Wunder glauben in der Nachfolge – wenn ihr krank seid, dann heile ich euch. Er sagt kein Wort davon, sondern er verspricht uns Kreuz, er verspricht uns Leiden. Und er sagt, Leiden bedeutet leiden in seiner Nachfolge. Denn was ist das Wesen Jesu?
Wo ist Jesus erhöht und verherrlicht? Am Kreuz, in der letzten Tiefe des Leidens, der letzten Tiefe der Schwachheit. Es ist ein persönliches Angebot, in der letzten Tiefe mit Jesus Christus zu leben. So hat er zu Petrus gesagt (Johannes 21): »Früher hast du dich selbst gegürtet, aber jetzt wird ein anderer dich gürten und dir Wege zeigen, die du nicht gehen willst. Das sagte er, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde.« Und Petrus hat gesagt: »Ich bin nicht würdig, gekreuzigt zu werden wie mein Herr und Heiland.« Die Tradition bezeugt, man habe ihn mit dem Kopf nach unten gekreuzigt. Das ist die letzte Tiefe des Glaubens: zu leiden mit Jesus Christus. Das ist ein Angebot der Nachfolge, ob das verborgene Nachfolge ist von Hiob und Israel oder offenbarte Nachfolge im Kreuz von uns im Neuen Bund. Und seien wir uns darüber im klaren: Wie geht Jesu Weg zur Auferstehung, zur neuen Welt, zu neuem Leib und neuem Leben? Es geht nur übers Kreuz. Die Menschen nämlich, die den auferstandenen Jesus suchen, finden ihn nur, wenn sie zuvor den Gekreuzigten suchen und finden. Das klarste Beispiel ist Thomas: »Ich glaube nicht, daß er auferstanden ist.« Und Jesus kommt trotz geschlossener Türe herein und sagt: »Thomas, lege deinen Finger in meine Wunde« – das bedeutet: ins Kreuz. Und als er den gekreuzigten Jesus wahrnimmt, sagt er: »Mein Herr und mein Gott!« Das bedeutet: Er hat den Auferstandenen gefunden – aber nur durch den gekreuzigten Jesus. So erlebt es Maria Magdalena, so erleben es die Emmaus-Jünger. Sie müssen zuerst verstehen, was das Kreuz ist. Jesus bezeugt den beiden auf dem Weg nach Emmaus, warum er gekreuzigt werden mußte. Und dann erkennen sie ihn als den Auferstandenen an dem, wie er das Brot brach. Das bedeutet, der einzige Weg zur Auferstehung, zu der neuen Welt, geht über das Leiden.
Warum? Weil das Jesu Weg war. Sind wir mehr als unser Meister? Sollen wir es besser haben? Er ruft uns in eine Kreuzesnachfolge: »Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.« Mir ist bei diesem Thema das Leiden sehr wichtig, nicht so sehr die körperlichen Leiden, sondern die geistigen Leiden; und nicht so sehr die Leiden unter anderen, sondern die Leiden an uns selbst. Es scheint mir, daß die letzte Tiefe des Leidens, das wir als Christen erleben – und das auch die Juden erleben, die sich dessen wohl bewußt sind – , daß es das Leiden an uns selbst ist, an unserer Unvollkommenheit. Einer von vielen jungen Christen hat zu mir gesagt: »Ja, Herr Pfarrer, ich habe immer gedacht, wenn ich Christ werde, dann gibt es Freude und Glück und alles wird schön sein, und ich werde eine andere Person. Und ich merke, ich bin neu geboren, aber ich leide, weil ich kein Engel bin.« Das ist ein sehr tiefer Christ, er wird Jesus dienen, er wird Theologie studieren. Es hat lange gedauert, er hat meine Predigt lange abgelehnt und gesagt: »Ach, was predigt er immer das Kreuz. Ich will Freude hören.« Ja, das wollen die jungen Leute. Und sie merken nicht: Kreuz ist Freude, Freude, daß Jesus uns annimmt, wie wir sind, als verlorene Menschen, wenn wir uns zu ihm bekennen und erkennen, daß wir verlorene Menschen sind, die der Buße bedür fen. Und das schlimmste Leiden, das schwierigste Leiden für uns alle – wenn wir ehrlich sind und nicht pharisäisch – ist das Leiden an uns selbst. Ich leide täglich an mir selbst. Und ich nehme an, daß das bei vielen der Fall ist – oder sein sollte. Ja, wir sind neugeboren in Jesus, wir haben Frieden, wir haben Führung, wir haben Sinn und Ziel, aber wir sind immer noch der alte Adam – nur: gerechtgemacht durch Jesus. Das können wir nicht verneinen. Ein Judenchrist aus Amerika kam in mein Zimmer und sagte: »Halleluja, amen, ich bin gerettet, nichts kann mir mehr passie ren.« Ich antwortete ihm sehr deutlich: »Sie sind zutiefst gefähr det mit solch einem Standpunkt.« Das war kein Verdammen, kein Verurteilen, sondern ein mahnendes Warnen. Es soll Leute geben, die sagen: »Ich brauche nicht mehr das Vaterunser zu beten – Vergib uns unsere Schuld! – , denn ich habe keine Schuld mehr.« Solch ein Standpunkt ist absolut falsch. Wir sind jetzt nicht in Gottes Reich, wir müssen ausharren bis ans Ende. Das steht deutlich geschrieben. Die dritte Antwort ist: Persönliches Leiden ist ein Angebot Gottes. Ich denke an eine der schwersten Beerdigungen, die ich halten mußte. Ein Mädchen war zwei Tage nach ihrem sechsten Geburtstag überfahren worden. An ihrem sechsten Geburtstag war sie noch in der Kinderkirche, um beim Fest der Kinderkirche ihren Geburtstag mit Jesus zu teilen. Sie war ein frommes und gläubiges Mädchen. Zwei Tage später das Entsetzliche. Die Mutter war bei der Beerdigung in fassungslosem Schmerz. Ich sprach über den Text von der Tochter des Jairus – Weine nicht!
Alle haben versucht, die Mutter mit menschlichen Worten zu beruhigen, aber sie hat ununterbrochen laut geweint. Und ich schaute sie an und sagte: »Weine nicht, Weib!« Und dann habe ich diesen Text gelesen. Und ich habe deutlich erklärt: Wer mit Jesus Christus lebt, auch wenn man sechs Jahre alt ist, und seinen Geburtstag mit Jesus aus Dankbarkeit feiert, von dem können wir wissen, daß dieses Kind Jesus gehört und zu seinem Reich gehört, und wir können dankbar sein, daß dieses Kind nicht die Gelegenheit hatte, abzufallen. Jesus nimmt aus Gnade das Kind weg. Wenn wir daran denken, was für Versuchungen, was für Irrwege es hier gibt! Solches soll man auch bedenken, wenn gläubige Menschen plötzlich sterben, jung sterben. Es kommt nicht darauf an, wie lange wir leben, wir sind nicht in der Patriarchenzeit; es kommt darauf an, ob man mit Christus lebt, auch wenn man erst sechs Jahre alt ist.
Viertens:
Es ist nicht zu bezweifeln, daß das, was wir Menschen »böse« nennen, das Richtende, die Katastrophen, mit Gottes Zorn zu tun hat. Ich mag nicht dieses ständige Geschwätz nur über den barmherzigen und lieben Gott. Selbstverständlich ist er barmherzig und liebevoll – aber er kann auch zornig sein. Das wissen Juden allzugut. Wie oft kommt das Wort Zorn im Alten Testament vor! Und was hat Jesus getan in Beziehung zu seiner Stadt, Kapernaum, der Stadt, in der er gewirkt hat? Hat er gesagt: Ach, alle die lieben Menschen in dieser Stadt, sie werden alle bei mir im Himmelreich sein? Er hat sie verflucht! Er hat geweint über Kapernaum, daß diese Stadt ihn nicht angenommen hat.
Das wollen »moderne« Christen nicht hören, daß wir es mit einem ernsten Gott zu tun haben, einem Gott, der Auschwitz anschauen konnte, Tag um Tag, wie Kinder ins Feuer oder an die Wand geworfen wurden – und er tat nichts. Wir haben es zu tun mit einem Gott, der zornig sein kann und der Richter sein kann und endgültig richten wird. Er gibt uns viele Zeichen dafür, zum Beispiel Aids. Ich nenne Aids eine deutliche Zeichenhandlung Gottes gegen die primitive Sexualität unserer Zeit, ob das Homosexualität ist oder Heroinsüchtigkeit, oder Prostitution.
Das ist ein Zeichen des zornigen Gottes: Höre auf, halte die Treue! Sogar Ärzte treten in Amerika im Fernsehen auf und predigen: Seid eurer Frau treu, das ist die beste Medizin gegen Aids! Das ist äußerst wichtig, auch so zu predigen. Gott gibt hier ein Zorneszeichen: »Ich werde Baal ausrotten, wenn ich wiederkomme« – und Baal ist der Götze der Lust.
Aids kommt nicht vom Satan, sondern kommt von Gott. Er weiß genau, was für ein Gericht er vorhat, wegen einer der Lust dienenden Welt, ohne Grenzen zu beachten, was sexuell richtig und nicht richtig ist. Obwohl das Alte wie das Neue Testament sehr deutliche Worte dazu hat.
Ich denke an ein bestimmtes Geschehen, das im Neuen Testament erwähnt wird (Lukas 13): Der Einsturz des Turms zu Siloah, durch den 18 Leute umkamen. Waren sie besonders böse? Sind die Eltern böse? Was ist passiert? Jesus sagt: »Jeder muß Buße tun, jeder ist schuldig.« Das bedeutet, Gottes Gericht wird jeden von uns treffen. Wir werden alle sterben. Ist das nicht Gottes Gericht? Daß wir sterben müssen, das ist die Antwort auf den Sündenfall.
Tut Buße! Das bedeutet: Wer Buße tut, der wird leben. David tut Buße und darf leben; Saulus auch. Wer Buße tut, wird leben. Der eine, der Schächer am Kreuz, tut im Sterben Buße, und er wird leben in Gottes Himmelreich. Tut Buße! Wir haben alle den Tod verdient.
Das ist ganz entgegengesetzt zu diesem mitmenschlichen Geschwätz unserer Zeit: »Der Mensch ist gut, der Mensch ist in Ordnung.« Wenn ich lese, was in Auschwitz passiert ist durch Menschen aus einem zivilisierten Volk – drei Leiter der Vernichtungslager waren promovierte Akademiker; Mengele hatte zwei Doktortitel erworben, einen der Medizin und einen der Philosophie. Und was hat er getan? Er hat gehandelt, als ob er selbst Gott sei (als ob er Satan sei). Er machte eine Art von göttlichem Gericht, zum Leben oder zum Tod, er hat entschieden. Er hat sich an Gottes Stelle gesetzt, unter der Regie Satans.
Gottes Zorn wird kommen, wie er kam mit der Sintflut, zu Sodom und Gomorra, dem Turm in Babel, zu Jerusalem, und er kommt heute.
Wehe dem Pfarrer, der nicht das Gericht Gottes predigt, zusammen mit seiner Gnade. Und wehe dem Pfarrer, der nur Gericht predigt und nicht auch Gottes Gnade. Gericht und Gnade sind eine unzertrennliche Einheit in der Bibel.
Gottes Gericht kommt über uns, und es kommt alles auf einmal. Israel ist ständig gerichtet worden, und es steht in Sacharja 12,10, daß am Schluß ganz Israel getauft wird.
Was passiert mit dem verflachten, christlichen Abendland hier? Wo die Leute nicht mehr zum Gottesdienst gehen, weil wir einen so lieben Gott haben. Was bedeutet ihnen der »liebe Gott«? Die Genügsamkeit in der »Liebe Gottes« hat nichts mit Gottes Liebe zu tun. Da macht man sich einen Gott, wie man ihn haben will, der mir dient – und das ist kein Gott mehr. Gottes Zorn wird über uns kommen. Er hat uns im voraus bezeugt, was kommt, damit wir vorbereitet sind. »Wer Augen hat zu sehen, der sehe; und wer Ohren hat zu hören, der höre.« Das aber ist unser Evangelium, daß Gott der richtende und rettende Gott ist. Gottes Zorn und Gottes Gericht sind ein Grund für Katastrophen in dieser Welt, sind Zeichen und Warnungen zugleich.
Fünftens:
Alte und neue Schöpfung. Die alte Schöpfung ist dahin, die Endzeit fängt an mit Jesu Kreuz. Die alte Schöpfung ist nicht zu retten – zwar wird sie wiederhergestellt für tausend Jahre, bevor sie total dahin ist. Aber es gibt nur einen Weg, und das ist ein Weg vorwärts und nicht zurück.
Lot muß mit seiner Frau weg von Sodom und Gomorra, sie dürfen nicht zurückschauen, sie dürfen nicht festhalten an dem Alten. Warum? Sie sind reich, angesehen, Lot hatte das beste Land gewählt. Lots Frau aber schaut zurück und erstarrt zur Salzsäule, wird versteinert im Tod.
Ich kenne die Geschichte von einer reichen jüdischen Familie in Prag, wo im Dritten Reich genau das gleiche passiert ist. Sie haben gesehen, was kommt, haben ihre Kinder weggeschickt, haben sich aber nicht von ihrem vielen Geld trennen können. Die Nazis haben natürlich alles genommen, und dann haben sie ihnen auch ihr Leben genommen. Sie schauten nicht vorwärts, nach Israel, nach Gottes Verheißung. Zur Sicherheit hatten sie zwar die Kinder weggeschickt, aber sie selbst sind vergast worden. Wie Lots Frau kamen sie nicht weg vom Alten.
Ich habe in meiner Seelsorgearbeit einen Fall gehabt, der für mich ungeheuerlich war. Es war ein gläubiger Mann, der überzeugt war, daß er noch in der letzten Phase seiner Krebserkrankung geheilt würde. Warum war er davon überzeugt? Er sagte mir: »Ich glaube, Gott weiß, daß ich glaube, daß ich sein Kind bin. Gott ist allmächtig, deswegen heilt er mich.« Das ist fast eine Logik, nicht wahr?
Und dazu knüpfte er noch an einen Vorgang an: Gott hatte tatsächlich jemanden in unserer Gemeinde durch ein Wunder geheilt, einen ungläubigen Mann, der als todkrank fast aufgegeben war. Viele hatten für ihn gebetet: »Wenn es dein Wille ist, heile ihn.« Und der Mann wurde geheilt und ist zum Glauben gekommen und geht jetzt jeden Sonntag zum Gottesdienst. Der Krebskranke folgerte: »Wenn Gott den heilt, warum soll er mich nicht auch heilen, ich bin doch schon fromm.« Ich werde das Gespräch mit diesem Mann nie vergessen. Jedesmal kam ich hin und las übers Kreuz, über Leidensnachfolge. Und er hat zu seiner Frau immer gesagt: »Wir lassen den Pfarrer reden; Jesus wird mich heilen. Er mag über sein Kreuz sprechen, das hat er alles richtig gelernt, das ist nicht falsch – aber Jesus wird mich heilen.« Drei Wochen vor seinem Tod habe ich deutlich gesehen, was los war mit ihm. Und ich habe hart mit ihm geredet. Als Seelsorger der Liebe Gottes muß man manchmal hart reden. Und ich habe ihm gesagt: »Wenn du weitermachst, machst du, was Frau Lot tat. Du schaust zurück auf diese Welt, wegen deiner Kinder, wegen deiner Frau« (er hatte eine gute Ehe und Kinder, die lieb waren, und ein schönes Haus und einen schönen Garten), und ich fuhr fort: »Wenn du zurückschaust, wirst du im ewigen Tod erstarren, das verspreche ich dir, weil du festhältst an der alten Welt, die dir aber nichts mehr zu bieten hat. Ich sage dir im Namen Jesu, daß du jetzt mit mir vorwärts schauen mußt auf Gottes Reich und auf die Zukunft.« Und das hat er dann getan.
So hart ist Seelsorge nicht immer, aber manchmal muß man ein sehr deutliches Wort sagen, ein sehr hartes Wort. Er wollte das Alte, er hing so sehr an dem Alten, daß er in das Gericht über die alte Welt hineingezogen worden wäre, wenn er nicht gewarnt worden wäre. Es ist sehr unmenschlich, so zu reden, nicht wahr, aber heilsam.
Als Jesus gekreuzigt war, kam drei Stunden Dunkelheit über das Land. Das bedeutet, daß die alte Schöpfung im Sterben liegt mit ihrem Gott. Die Endzeit fängt an. Das ist auch die Dunkelheit der Gottesferne, der Sünde Sold, den Jesus für uns trägt, ohne daß er selbst ein Sünder ist, indem Gott sich von ihm entfernt.
Aber das ist auch die alte Schöpfung, die im Sterben liegt mit Gott. Jetzt sehen wir die toten Bäume. Die fingen damals an zu sterben, aber das war nicht sichtbar für uns. Die alte Schöpfung liegt im Sterben. Wenn Dunkelheit herrscht, gibt es kein Leben mehr. Die alte Schöpfung ist dahin. Warum?
Weil wir Gottesmörder sind. Wir haben Jesus Christus im Namen der zwei größten Gesetzgebungen, die die Welt je gesehen hat, im Namen menschlicher Gerechtigkeit umgebracht – das jüdische Gesetz, ausgelegt von den Schriftgelehrten und Pharisäern, und das römische Gesetz, welches die Grundlage unserer eigenen Gesetzgebung hier in Deutschland ist, wie in vielen anderen Staaten.
Drei Stunden Dunkelheit, die alte Schöpfung ist zeichenhaft im Sterben mit Gott. Und Jesus ging nicht zurück, es war nicht wie bei Lazarus, bei der Tochter des Jairus, bei dem Jüngling zu Nain, daß er zurückging zum alten Körper, zur alten Welt, sondern er geht vorwärts zur neuen Welt. Die alte Welt ist gerichtet am Kreuz. Es gibt nur das Vorwärtsgehen zur neuen Welt in seinem auferstandenen Leib. Das ist der einzige Weg für uns. Deswegen auch dieses Leiden, diese Not, die Katastrophen, daß wir merken, daß diese Welt nicht der Standort für uns ist. Wir sind das Wandervolk Gottes, wir haben keine bleibende Stadt hier. Und das ist für uns sehr hart. Deswegen kommen diese Gerichte und Kata strophen, daß wir merken, daß wir keine bleibende Stadt hier haben. Gott erleichtert es uns, das zu merken.
Sechstens:
Dieses Übel, diese Gerichte, all das, was wir »das Böse« nennen, hat fast immer in zentraler biblischer Handlung mit Gottes Heilsplan zu tun.
Nehmen wir die Josefsgeschichte als ein typisches Beispiel. Josef ist der von seinem Vater bevorzugte Sohn. Die Brüder wollen ihn umbringen. Im letzten Moment verkaufen sie ihn jedoch lieber als Sklaven. Und Josef geht durch alle möglichen Gerichte und Nöte – und dann bringt er den Weg des Heils, des fleischlichen und geistlichen Überlebens des jüdischen Volkes.
Wenn das nicht mit Josef geschehen wäre, wenn Josef im Elternhaus und bei den Brüdern geblieben wäre, was wäre mit Israel passiert? Sie hätten nichts gehabt in diesen sieben dürren Jahren, sie wären verloren gewesen. »Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.« Katastrophen dieser Art haben oft mit Gottes Heilsplan zu tun. Ich nenne eine typische Katastrophe in der jüngeren Geschichte Israels, die mit Gottes Heilsplan zu tun hat. Warum ist es so, daß gerade in dem Gebiet, in dem die Nazis fast jeden Juden umgebracht haben, in der Ukraine und Südrußland und auch in Polen, daß gerade in diesem Gebiet 50 Jahre zuvor Pogrome gegen das jüdische Volk ausgebrochen waren, Pogrome, gemeinsam inszeniert von der Kirche, vom Staat und von der Geheimpolizei, in denen Hunderte von Juden umgebracht wurden unter dem Kreuz, als Sündenbock für soziale Unruhen in Rußland und die Ermordung von Zar Alexander II.?
Warum dieses schreckliche, haarsträubende Übel? Weil wir Juden es nicht mehr ertragen konnten zu bleiben und auswanderten. Da fing die erste Auswanderung nach Israel an, die erste Aliyah, und die große Auswanderung nach Amerika.
Was wäre passiert, wenn Israel dieses schreckliche Leiden nicht gehabt hätte? Die Leute wären alle dageblieben – und kaum einer hätte Hitler überlebt. Durch diese schrecklichen Gerichte und die Not wurde es den Juden unmöglich gemacht, dort zu bleiben, und sie fingen an, massenweise über die Grenze zu gehen (auch ungesetzlich, geschmuggelt – wie soll man ein Gesetz ernst nehmen, wenn man so behandelt wird?).
In dieser Zeit sind auch meine Großeltern nach Amerika gekommen, wegen dieser schrecklichen Leidensgeschichten. Das bedeutet, Leidensgeschichte hat sehr viel mit Gottes Heilsplan zu tun. Das haben wir auch besprochen in bezug auf Mose, in bezug auf Saulus, vor allem in bezug auf Jesu Kreuz. Wie ist es in bezug auf uns Christen?
Keiner von uns betet: »Herr, laß mich leiden.« Es gab ein paar Leute in der Geschichte, die das getan haben, aber sehr wenige. Aber ist es nicht ein wunderbares Geheimnis, daß der Glaube wächst, wenn wir als Christen leiden?
Ein Missionar hat über den Iran gesagt: »Unter dem Schah haben wir totale Freiheit gehabt zu missionieren, aber niemand hatte Interesse an einer Bibel. Jetzt wird man mit der Todesstrafe bedroht, wenn man mit einer Bibel angetroffen wird – und viele wollen eine haben.«
Wie war das in Äthiopien, unter der extrem kommunistischen Regierung? Der Glaube ist von innen, unter Not und Leiden gewachsen. Das bedeutet, dieses Leiden hat mit dem Kreuzesgeheimnis zu tun. Gerade in der tiefsten Verfolgung werden die tiefste göttliche Führung und sein Angebot erkennbar. Das gilt für beide Bünde. Der Bund des Volkes Israel ist ein Leidensbund. Und ich kann es nicht hören, wenn Christen zu mir kommen und sagen: »Nicht wahr, Herr Pfarrer, wir werden entrückt werden vor der großen Leidenszeit.« Ja, das bedeutet, wir haben hier unsere Grillfeste, und dann sind wir weg, im Himmelreich, und wir haben keine Leiden. Meine Antwort ist: »Am Ende der Leidenszeit werden wir entrückt werden, dann wird er alle Tränen abwischen.«
Wehe uns, wenn wir sagen: Ich bin zu gut, um zu leiden; das passiert nur den Juden, wir Christen sind viel zu gut für das Leiden. Das ist die Art zu denken, wenn es nur mir gut geht. Ich war sehr beeindruckt von einem Zitat von Bonhoeffer: »Ich glaube, daß uns Gott in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müßten alle Ängste vor der Zukunft überwunden sein.«
Um das geht es. Wir müssen diesen Verlust erleben. Wir leben in Erbsünde. Wir müssen uns selbst verlieren, was uns nahe ist und diese alte Welt, damit wir eine neue Welt ererben. Und in dieser schrecklichen Leidenszeit gibt Jesus uns die Kraft, wenn wir wirklich an ihn glauben und wirklich an ihm festhalten. Aber er zeigt uns das nicht vorher. Jeder von uns hat Angst: Oh weh, wenn eine Verfolgung über uns kommt! Jesus will nicht, daß wir glauben, daß wir über ihn verfügen. Er verfügt über uns mit seinem Heiligen Geist, und er gibt uns die Kraft, wenn wir das nötig haben. So habe ich es erfahren von einer Frau, die schreckliche Leiden erlebt hat. Sie hat gesagt: »Auch als ich geschrieen habe vor Schmerzen, als ich überhaupt nicht an Jesus denken konnte, habe ich gewußt: Er ist trotzdem da.«
Siebtens:
Diese Gerichte, diese Leiden, all das, was wir gerne »das Böse« nennen, haben mit einem Angebot der Gnade zu tun. Gott will uns zeigen, daß wir ihn ganz und gar brauchen. Und er gibt uns drei Angebote der Gnade: Das erste ist Paradies ohne Leiden – und wir fallen ab; das zweite ist nach schrecklichem Leiden in der Urgeschichte, als er uns das Gesetz gibt – und wir fallen ab; dann geht er selbst in dieses Leiden am Kreuz – und trotzdem fallen wir ab. Und dann kommt diese ungeheure Aussage im Missionsbefehl: »Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.«
Das bedeutet: Bei allen Christen, unser ganzes Leben lang, bis an unserer Welt Ende, bis an das Ende aller Tage. Das steht im Zusammenhang mit dem Missionsbefehl. Wenn wir uns in Dialogen verlieren und nicht Mission treiben, dann ist Jesus nicht mehr »bei uns alle Tage bis an der Welt Ende«. Sobald wir den Missionsbefehl nicht wahrnehmen, ist Jesus nicht mehr »bei uns alle Tage bis an der Welt Ende«. Das steht direkt in diesem Missionsbefehl: »Gehet zu allen Völkern . . . « und dann: »Ich bin bei euch alle Tage.«
Das ist ein ungeheures Angebot der Gnade für uns versagende Christen, für uns schwache Christen, daß Jesus zu uns steht. Er ist da, jeden Tag neu. Das bedeutet nicht, daß wir das immer spüren. Man kann nicht erwarten, daß man jedesmal beim heiligen Abendmahl zutiefst ergriffen ist – aber das Abendmahl hat die gleiche Auswirkung, ob wir das tief erleben oder ob wir gar nichts erleben; denn nicht, was wir fühlen, steht im Mittelpunkt, sondern Jesu Wort, seine Verheißung, seine Vergebung. Das steht da, ob wir das in der letzten Tiefe spüren oder nicht spüren. Unser Glaube ist nicht gegründet auf Erlebnisse; unser Glaube ist gegründet auf das, was ER für uns erlebt hat. Und das ist gültig, ob wir das spüren oder nicht.
Das ist die erste, sehr große Verheißung für uns verlorene Menschen. Jesus wird alle Tage bei uns sein, was nicht bedeutet, daß wir das unbedingt spüren werden, aber er ist da, und wir werden ihn immer wieder finden, weil er uns immer wieder sucht. Wir haben ihn nicht im Griff, er hat uns im Griff, und er wartet immer auf uns. Das bedeutet: auch durch jedes Leiden. Und gerade das Leiden ist es, das uns zurückbringt zu Jesus. Wenn es uns in allem gut geht, dann sind wir sehr weit weg.
Und dann noch die zweite große Verheißung: Der Tod wird keine Macht mehr über uns haben. Wir gehen vom Leben zum Leben. Der Tod ist kein Scheidepunkt mehr für uns. Wir als Christen werden, wenn wir im Leben sind (das ist »in Christus«), immer im Leben bleiben. Das ist eine außerordentliche Aussage.
Und die dritte Verheißung: Einmal wurde ich gebeten, einen Text auszulegen, den ich sicher mehrmals gelesen, aber nie richtig wahrgenommen hatte: 1. Johannes 3,2, in dem wir lesen, daß wir »gleich wie Jesus sein« werden in seinem Reich. Ich war richtig erschrocken über diesen Text. Obwohl ich ihn schon mehrfach gelesen hatte, habe ich nie wirklich wahrgenommen, was dahintersteckt: Wir sind zu Gottes Bild geschaffen. Diese Ebenbildlichkeit mit Gott ist verlorengegangen durch den Sündenfall. Jesus aber hat das in jedem Sinn wiederhergestellt. Er allein ist jetzt in Gottes Bild – aber als Vertreter für uns. Und wenn wir durch das Gericht gehen – und er übernimmt das für uns, wenn wir ihm gehören im Glauben – , dann werden wir in Christus diese Gottesebenbildlichkeit übernehmen, denn er hat sie zurückgewonnen für uns durch sein Kreuz. Mir ist wichtiger als diese Auslegung das Erschrecken über diesen Text. Gottes Wort soll uns manchmal erschrecken, im Sinne von Betroffenmachen. Die Antwort ist: Herr, wir sind nicht würdig. Ich soll wie Christus sein? Solch eine Aussage sprengt jegliches Vorstellungsvermögen. Ein sündiger, gefallener Mensch wie ich wird gleich wie Christus sein -? So wird es aber sein. Das ist die letzte dieser drei großen Verheißun gen der Gnade:
1. »Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.«
2. Wer in Christus lebt, wird immer in ihm leben.
3. Wir werden gleich sein wie Christus.
Was bedeutet das nun aber? Was wir »Böses« nennen, gilt es zunächst einmal anzunehmen. Denn wir haben es mit einem Gott zu tun, der uns züchtigt. Das ist die ganze Geschichte, die der Prophet Hosea bezeugen muß. Hoseas Thema ist der liebende Gott als der züchtigende Gott. Gott züchtigt uns, damit wir reif werden durch seine Gerichte, damit wir reif werden für seine Gnade. Ich glaube, das ist die letzte Tiefe dieses Themas. Er züchtigt uns durch seine Gerichte, daß wir reif werden für seine überschwengliche Gnade, eine Gnade, die überhaupt keine Grenze kennt. Und diese Gnade reicht bis zur Gottähnlichkeit, die wir in seinem Reich ererben werden, wenn wir mit Christus leben, mit ihm leiden, mit ihm gezüchtigt werden durch Gerichte und trotzdem im Gehorsam auf seinem liebenden Kreuzesweg bleiben.
Paulus und Jakobus (Die Rechtfertigungslehre)
Wir hören öfter, daß ein Widerspruch sei zwischen der Verkündigung des Jakobus und der des Paulus. Selbst Luther hat das behauptet. Es wird gesagt, daß Paulus die Rechtfertigung der Sünden allein aus dem Glauben verkündigt, während Jakobus es im Kapitel 2 seines Briefes so bezeugt, daß die Sünder erst gerechtfertigt werden durch ihr Tun. In Römer 10,9-17 wird aber deutlich, daß Paulus (nicht anders als Jakobus) dieses zentrale Anliegen vielschichtig sieht.
Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.« Paulus meint damit, daß ein wahrer, lebendiger Glaube, welcher uns sündige Menschen rechtfertigt, ein zweifacher Schritt ist – ein Schritt, den Christus allein bewirkt hat durch sein Tun, und ein Schritt, der in uns vollzogen wird nur durch das Wort: »So kommt der Glaube aus der Predigt.«
Der erste Schritt ist: »Wenn man von Herzen glaubt . . . « »Herz« bedeutet in der Bibel – anders als in der Romantik – der Ort der Wahrnehmung, sowohl der Gefühle als auch des Verstan des. Zuerst muß das Wort, das Wort von Jesu erlösendem Kreuz, Platz in unserem Wesen, in unseren Gedanken und Gefühlen finden, zutiefst und bestimmend.
Und dann kommt der zweite Schritt: » . . . und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.« Paulus meint damit: Wenn wir wirklich die heilbringende Botschaft von Jesu Kreuz in unserem ganzen Wesen aufgenommen haben, dann bleibt diese Botschaft, diese rettende Wahrheit, nicht passiv in uns, sondern sie keimt mit neuen Früchten. Wenn wir wirklich gläubig geworden sind, dann müssen wir, was uns wichtig geworden ist, weitergeben. Wir können nicht selbstzufrieden sein mit unserem eigenen Glauben, sondern wir müssen mit anderen darüber sprechen. Und nur dann, wenn unser Glaube aktiv, nicht passiv ist, wenn unser Glaube missionarisch, nicht selbstsüchtig ist, nur dann werden wir errettet.
Jakobus meint im Grunde genommen das gleiche. Er legt den Akzent auf das Tun, auf den lebendigen Glauben als wesentlichen Teil der Rechtfertigung von uns sündigen Menschen durch Christi Kreuz. Beide, Paulus und Jakobus, predigen das gleiche: die Rechtfertigung von uns sündigen Menschen durch den lebendigen Glauben an unseren Heiland und Erretter Jesus Christus; und dieser lebendige Glaube erweist sich in unserem Tun, vor allem, wie hier bei Paulus, durch das Tun im Weitergeben des Wortes.
Jesus selbst hat dieses Thema in der letzten Tiefe entwickelt in seinem Gleichnis von den Talenten. Was Jesus uns durch Gaben und seine Vergebung gibt, sollen wir weitergeben, so tief wir nur können.
Auch wenn Paulus vorher von Israel geschrieben hatte – jetzt, in Jesus Christus, gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden (der Begriff »Griechen« steht im Neuen Testament stell vertretend für alle Heiden). Eigentlich können wir diese Aussage, welche auch im Epheserbrief nochmals angesprochen wird, zweifach vertiefen, denn Paulus sagt am Anfang des Römerbriefs: »Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst (auch mit »vornehmlich« zu übersetzen) und ebenso die Griechen.« Aber in Römer 11 zeigt uns Paulus, daß die Juden eine Binde vor den Augen haben, daß sie in ihrer Mehrzahl, als Volk, Jesus nicht annehmen werden bis zu seiner Wiederkunft. Aber trotz dieser beiden eigentlich sich gegenseitig ausschließenden Aussagen sind Christen jüdischer Herkunft, wie ich, und Christen aus den Völkern gleich und gleichberechtigt in Jesus Christus, wie es hier und im Epheserbrief steht.
»Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?«
In diesem Vers führt Paulus uns Israels tragische Lage vor Augen in einer fast niederschmetternden Reihe von Aussagen. Aber wenn wir diese drei Aussagen in Beziehung zu den damaligen Juden betrachten, müssen wir uns selbst fragen, ob diese Aussagen nicht auch auf Teile der sogenannten Christenheit am Ende der Tage zutreffen.
Zuerst: »Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben?« »Wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.« Israel aber will nicht an Christus, an sein Sühneopfer für uns glauben und ihn in ihren Herzen aufnehmen; und deswegen können sie ihn auch nicht anrufen und sich damit auch nicht mit ihrem Munde zu ihm bekennen.
Wir wollen uns fragen, wie viele sogenannte Namenschristen hier im »Christlichen Abendland« in der gleichen Lage sind. Wir können nicht wahres Gebet (ein »den Herrn anrufen«) von Menschen erwarten, die an diesen Herrn und Heiland nicht wirklich glauben, ihn nicht als ihren Retter und Erlöser ansehen. Wenn sie beten, dann ist ihr Gebet nur ein Lippenbekenntnis oder nur ein selbstsüchtiges Vorbringen eigener Anliegen. Sie wollen etwas bekommen, was ihnen nach ihrem Sinne wichtig erscheint, nicht aber unter der Prämisse »Herr, dein Wille geschehe«. Beides, nur Lippenbekenntnisse oder selbstsüchtige Versuche, unseren Willen dem Herrn aufzuzwingen, verneint seine Herrschaft über uns in seinem Sinne, im Sinne seines Kreuzes. Aber wie viele Menschen haben heute überhaupt aufgehört zu beten!
Paulus fährt fort: »Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben?« und »Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?« Ich kann nicht an etwas, an jemanden glauben, von dem ich nicht richtig gehört habe oder gar nichts gehört habe. Israels Geistliche haben zu Jesu Zeit schon Christus abgelehnt. Die wenigen Judenchristen haben es deswegen immer schwer gehabt, die befreiende Botschaft von Jesus, dem Messias, ihrem Volk zu bringen. Aber wir wollen uns heute selbst fragen, ob diese Lage nicht oft auch auf unser »Christliches Abendland« jetzt am Ende der Tage zutrifft. Denn Paulus sagt weiter: »Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden?« Von wem gesandt?
Von Christus, durch sein Wort, welches sie ins Herz auf genommen haben und dann weitergeben müssen. Viele von uns haben sicherlich Fragen, inwiefern die befreiende Botschaft von Jesu Kreuz wirklich immer klar und deutlich unter uns im biblischen Sinne verkündigt wird. Hier ist sicherlich nicht eine politische, soziologische und psychologisierende Botschaft gemeint, welche den Zeitgeist und auch unseren eigenen Standort spiegelt. Sondern hier ist, wie immer bei Paulus, die befreiende Botschaft von Jesu Kreuz gemeint, befreiend von unserer Schuld und Sünde, denn ohne Glauben im Sinne des Paulus und Jakobus bleiben wir verstrickt in Schuld und Sünde, trotz unseres politischen Standorts, unseres psychologischen Empfindens oder unserer soziologischen Lage. Jeder andere Ruf zur Befreiung stellt uns immer in ein neues Abhängigkeitsverhältnis, ob politisch, sozio logisch oder psychologisch. Wahre Befreiung ist Befreiung von uns selbst. Denn die Sünde, die Selbstbestimmung unseres Lebens und nicht Christi Herrschaft, ist der Weg des Verderbens. Diese Selbstbestimmung ohne wahren Glauben bis ins Herz hinein und bis hin zum Zeugnis bleibt in Politik, Soziologie und Psychologie stecken, denn diese alle sind Menschenwerk. Aber Gottes befreiendes Werk für uns ist und bleibt Christi Kreuz, die Befreiung von Sünde, Teufel und Tod.
»So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.« Wir können im biblischen Sinne nur predigen, wenn Gottes Wort uns bis ins Herz getroffen hat, so daß wir nicht mehr schweigen können. Wir können nicht mehr schweigen, weil wahrer Glaube diese Dynamik in sich trägt: vom Herzen bis zum Mund. Wir sind gerechtgemacht, gerettet durch Christi Blut, nicht nur für uns selbst, sondern als Christi Botschafter, durch das Wort von der Erlösung durch sein Kreuz an unseren Nächsten. So redet Jesus in seinem grundlegenden Gleichnis vom Säemann. Wenn das Wort, sein befreiendes Wort, auf guten Boden fällt, dann bringt es große Frucht, dreißig-, sechzig-, hundertfältig.
Und dieser Prozeß ist eine sich immer wiederholende Entwicklung. Wir kommen zum Glauben durch das Wort von Christi befreiendem Kreuz; und wenn dieser Glaube tief ist und echt, bis ins Herz geht, dann müssen wir dasselbe Wort weitergeben, daß auch andere errettet werden. Heute redet man von Multiplikatoren. Eine Strategie der Mission und des Gemeindeaufbaus, welche sich als Menschenwerk, als menschliche Überlegung erweist, wird uns letzten Endes nicht weiterbringen, denn das ist Menschenwerk. Und wir verfügen nicht über den Heiligen Geist, sondern es geht um »Christus allein«, und er bedient sich des gepredigten Wortes.
Machtdemonstrationen, Gefühlsbetonung, Geistesgaben als gruppendynamische Prozesse werden, wie Jesus im Gleichnis vom Säemann zeigt, nicht zu tiefem, im Wort ver wurzelten Glauben führen, sondern, was da aufbricht, wird schnell, hoch und rasch aufgehen und dann so schnell in sich zerstritten zusammenfallen, wie in den schwärmerischen Bewegungen am Anfang dieses Jahrhunderts.
»Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet… So kommt der Glaube aus der Predigt (nur aus der Predigt), das Predigen aber durch das Wort Christi.«
Menschliches und göttliches Leiden
Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muß viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohen priestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s ver lieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.
(Markus 8,31-38)
Kaum ein Text in unserer Bibel ist für mich so erschütternd, bewegt mich bis in Mark und Bein, wie dieser. Jesus fragt seine Jünger, was die Leute von ihm halten. Er bekommt verschiedene Antworten. Aber dann schaut Jesus Petrus direkt an und fragt: »Ihr aber, wer sagt ihr, daß ich sei?« Da antwortete Petrus und sprach zu ihm: »Du bist der Christus, der Sohn Gottes!«
Warum ist diese Aussage so umwälzend? Weil Petrus und auch andere Jünger (das bedeutet hier das »ihr«) als Vertreter Israels jetzt wissen: Jesus Christus ist der, auf den Israel immer gewartet hat, auf den die ganze jüdische Bibel, das Alte Testament, hinzielt. Wir möchten denken, daß Jesus seinen Jünger Petrus jetzt umarmt und sagt: Jawohl, du und ein paar andere wissen jetzt, so ist es! Aber nein, gerade jetzt, in dieser Situation, zeigt Jesus, was es wirklich bedeutet, König der Juden zu sein: Er ist der wahre, endgültige Leidensknecht Gottes.
Und Jesus erzählt Petrus und den anderen, was seine Zielsetzung ist: »Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muß viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.«
Diese Aussage ist für Petrus und die anderen bestürzend. Zwar kann man von ihnen als Galiläern keine große Schriftkenntnis erwarten, denn die Galiläer waren sprichwörtlich etwas weniger geschult in Gottes Wort als die Judäer zum Beispiel, aber als Jünger Jesu können wir von ihnen doch gewisse tiefe Erkenntnisse erwarten. Jeder Jude, der etwas von der Bibel versteht – und besonders damals, als die messianische Erwartung so aktuell war wie heute – , weiß, daß der Messias kommen wird, Frieden in der Welt aufzurichten, die Erlösung Israels unter den Volkern. »Dann werden alle Völker hinpilgern nach Jerusalem (vgl. Jesaja 2 und andere sehr wichtige Schriftstellen), um den Gott Israels anzubeten. Und dieser Messias wird ein großer Held sein, mit Macht und Herrlichkeit wird er herrschen.« Zwar gibt es die verschiedenen Stellen in Jesaja über den Gottesknecht, besonders Jesaja 53, welche den Messias als Leidensgestalt darstellen, auch verschiedene Psalmen, wie Psalm 22, der Kreuzespsalm, aber Israel hat viel mehr einen Machtherrscher erwartet, der sein Volk mit Gewalt von den Römern befreit und sein Friedensreich in dieser Welt aufrichtet. Kreuz und Leiden bedeutete damals, wie heute, unter den Juden etwas Alltägliches, das, wovon sie befreit sein wollen. Jesu Art und Weise messianische Schriften zu erfüllen, wurde gerade damals in Israel nicht erwartet. Auch nicht seine Art von Befreiung und seine Art, den Frieden zu bringen.
Deswegen wehrt sich Petrus gegen Jesu eigene Zielsetzung: »Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren« in dem Sinne: »Herr Jesus, das soll nicht mit dir geschehen! Was? Du mußt leiden und verworfen werden? Nein! Das soll nicht sein!«
Darauf gab Jesus ihm eine Antwort, die auch für alle modernistischen Theologen gilt, die Jesus heute so menschlich sehen wollen: »Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.«
Gerade in dem Moment, als Petrus sich zur wahren Erkenntnis durchgerungen hatte, daß Jesus der Heiland ist, verleugnet er das Wesen dieses Heilands, nämlich sein Leiden und Kreuz. Petrus denkt hier menschlich, allzumenschlich. Seine Denkart kennen wir nur allzugut: Menschliche Not ist das Schlimmste; wir müssen uns mit Händen und Füßen dagegen wehren. Leiden – ja, das ist schlimm! Aber Jesu Weg, und wie er sagte, der Weg aller seiner Nachfolger, verspricht gerade Leiden. So ist es.
Warum bezeichnet Jesus Petrus hier als Satan? Das geht doch etwas zu weit, denken wir. Oder auch an anderer Stelle: Warum sagt er zu seinem eigenen Volk, welches ihn nicht annahm, daß sie Kinder Satans seien und nicht Kinder Abrahams? Bei beiden Texten geht es um das gleiche. Er meint, daß in diesem Moment durch seinen Widersacher, den Satan, hier Petrus und da sein Volk sich von Gott, von Jesus entfernt haben. Und diese Gottesferne ist nichts anderes als Sünde, Satans Bereich. Armer Petrus! Gerade in der tiefsten aller Erkenntnisse, daß Jesus der langersehnte Messias ist, verkennt er den wahren Sinn und die Zielsetzung seines Messias. Tun wir das nicht auch, Tag um Tag?
Wie viele von uns beten und meinen es wirklich so: »Herr, dein Wille geschehe«? Und wie viele von uns glauben wie Petrus: Weil ich dich als meinen Herrn anerkenne, wirst du letzten Endes meinen Willen geschehen lassen, denn ich meine es doch (wie Petrus) nur gut. »Dein Wille geschehe« bedeutet auch die Erkenntnis bis in Mark und Bein, daß der Herr allein über Tag und Stunde verfügt, nicht nur über seine Wiederkunft.
»Dein Wille geschehe« bedeutet, daß Jesus ans Ziel kommen wird, wann und wie er will; und nicht wann und wie wir das haben wollen. Satan forderte Jesus mit biblischen Worten und anscheinend in biblischem Sinne heraus. Die Zeichen, die er von ihm verlangt, sind göttliche Zeichen. Das sollten wir nicht übersehen! Satan ist klug. So sind auch die Zeichenforderungen der Pharisäer! Sie verlangen Zeichen von Jesus, wann und wie sie das haben wollen; nicht wann und wie er solche zur Ehre des Vaters einsetzen will.
Wir verfügen niemals über den Heiligen Geist, sondern dieser Geist kommt wann und wie er will und erreicht dann seine Ziele, nicht unsere Ziele. Richtiger Mitarbeiter Jesu sein, bedeutet die Erkenntnis, daß nur einer unser Meister ist: der wirkende, der bestimmende, der wahre Gott Israels, Jesus Christus. Und was verlangt Jesus von uns? Er verlangt unser Mitgehen, »in seinen Fußtapfen« dem Kreuztragenden nach. Das bedeutet: Er verspricht uns in der Nachfolge nichts anderes als Leiden. Allein durch Leiden ist der Weg zu seinem Reich bestimmt. »Mitgekreuzigt werden« bedeutet, daß wir auch mit ihm auferstehen werden, sein Reich ererben.
»Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?«
Gar nichts! Jesus zeigt uns klipp und klar, daß alle unsere Werke, unser gutes und menschliches Denken und unser Einsatz, daß uns das alles nicht helfen kann. Heute hören wir immer wieder – und das bestimmt unsere nachchristliche Gesellschaft – , daß Menschlichsein, Mitmenschlichkeit, von höchstem Wert sei. Wer kann nach Auschwitz, nach den Straflagern in Sibirien, nach den Diktaturen und der Dekadenz unserer Zeit wirklich glauben, daß der Mensch, das Menschliche, gut ist?
Wer kann das glauben? Jesus sagt ein sehr deutliches Nein dazu. Noch tiefer, er nennt solches Denken satanisch. Warum? Weil Satan Adam und Eva gerade durch solches Argument verführt hat, wie er auch versuchte, Jesus zu verführen. Satan behauptet, den Menschen gleich wie Gott stellen zu wollen und zu können. Er will in den Bereich des Gott eigenen, des ewigen Lebens und der Wahrheit hineindringen. Und gerade das ist der Sündenfall. Eine Gesellschaft, in der Menschlichsein, Mitmenschlichkeit, der höchste Wert ist, verherrlicht Satan und nicht Jesus Christus. Das müssen wir deutlich sagen:
»Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr Herr, der Gott Israels.«
Jesus ist bereit, sich selbst ganz und gar für uns zu geben, sogar verlassen am Kreuz in der Erniedrigung dieser »Erhöhung« zu sterben – verlassen sogar vom Vater. Und wenn wir seiner wert sein wollen, verlangt er zuerst die Nachfolge. »Komm, und folge mir nach!« Klipp und klar sagt er das. Er verlangt in diesem und durch dieses Nachfolgen, daß seine Liebe, sein Wort und sein Weg uns bestimmen und nicht unser allzumenschliches Gedankengut. »Oh«, werden nun viele abwehren, »dieser Jesus ist unmenschlich, er verlangt zuviel von uns. Wir beten doch ab und zu, auch gehen wir ein paarmal im Jahr in den Gottesdienst, wir sind getauft und konfirmiert, sogar christlich getraut. Das ist doch wohl genug – ? « Jesus sagt aber: »Komm, und folge mir nach.« Das bedeutet Tag um Tag, Stunde um Stunde, Jahr um Jahr.
»Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.«
Sind wir uns im klaren darüber, daß wir alle unser Leben verlieren müssen? Wir leben meist doch so, als ob wir gar nicht wüßten, daß wir alle sterben müssen. Diese Welt ist nicht das Letzte und Entscheidende. Wer aber weiß und Jesus bekennt, daß er schuldig ist an Jesu Kreuz, weil er Tag um Tag allzumenschlich denkt (wie Petrus), und darüber immer wieder Buße tut und jedesmal durch unseren Heiland wieder neu aufgehoben und weitergeführt wird, der allein wird Zukunft haben, nur der. So sagte es uns unser Herr, Jesus Christus, in seiner Vollmacht. Wer aber auf seiner Menschlichkeit beharrt und damit auf seiner eigenen Herrschaft über sein Leben, dem gilt das Wort Jesu: »Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?«
Gar nichts!
Herr Jesu, du allein kannst uns die Kraft geben, in deiner wahren Nachfolge zu gehen und zu bleiben. Wenn wir schwach werden und wieder einmal mit der Herrschaftsmacht unseres eigenen Willens konfrontiert werden, sind wir gewiß, daß du zu uns kommen wirst, uns aufzuheben und weiterzuführen wie und wann du willst, auf deinem guten und geraden Weg. Herr Jesus, du bist unsere Stärke, und auf dich allein vertrauen wir.
Die zeichenhafte Bedeutung von Jesu Wunderheilungen
Der alttestamentliche Hintergrund
Wie bei allem in der Bibel, gibt es auch hier eine Entwicklung der offenbarten Wahrheit, wie Gott seinen Weg Schritt um Schritt zeigt, bis er ans Ziel kommt.
Die ersten Heilungen in der Geschichte Israels werden uns wie in einem Block berichtet. Sie sind ganz anders als man das erwarten würde: Es sind die zehn Plagen, die Israel »heilen« sollten von ihrer Knechtschaft in Ägypten. In diesen zehn Plagen, die das Heil für Israel, den Auszug aus der Sklaverei in Ägypten, bedeuten, zeigt der Herr, der Gott Israels, seine Herrschaft über die ganze Schöpfung. Sie erweist sich im Entgegengesetzten, in negativer Art:
Gott zerstört, um Israel das Heil zu bringen, seine Heilung von dieser Knechtschaft. Richtig verstanden umfassen die zehn Plagen die gesamte Schöpfung Gottes:
In der ersten Plage wird Wasser in Blut verwandelt – das erinnert an Jesu Vollmacht auf der Hochzeit zu Kana, und es hat auch mit Jesu Abendmahl zu tun.
Es folgen verschiedene Tierplagen; Plagen über die Gesundheit allen Lebens; Plagen durch die Witterung; die Pflanzen werden durch eine Heuschreckenplage vernichtet; die Finsternisplage bezieht sogar die Elemente des Kosmos mit ein – wie später bei Jesu Kreuzigung; und schließlich die letzte Plage, die den Menschen unmittelbar betraf, durch die der jeweils älteste Sohn in allen ägyptischen Familien stellvertretend für das ganze Volk umgebracht wird. Hier wird deutlich: Der Herr zeigt seine Kraft des Heils zuerst negativ, indem er zerstört, und kollektiv, indem es jeweils das ganze Volk angeht und nicht einzelne Menschen.
Ein zweiter großer Bereich von Gottes Heilungshandeln findet sich auf der Wüstenwanderung. Da geschieht Heil und Heilung für das ganze Volk Israel, am deutlichsten in der Errichtung der ehernen Schlange: Das Volk hatte gegen Gott rebelliert, sogar das Manna als ekelerregend bezeichnet; da schickte Gott Giftschlangen unter sie; erst das Anschauen der ehernen Schlange, die Mose im Auftrag Gottes aufrichtete, brachte Heilung von dem tiefen Schaden des Murrens. (Der Evangelist Johannes bringt das Geschehen in unmittelbaren Bezug zum Kreuz Jesu.) Die kollektive Heilung für das Volk, das die eherne Schlange anschaut, ist eine Vordeutung auf Jesu Erlösungstat.
Das erste große Heilsgeschehen geht vom Negativen aus, in dem Gott zerstört, um Israel zu retten. In der Wüste geht es nun um eine Heilung von dem Gift, das die Giftschlangen bringen, mögliches Heil für ein ganzes Volk, nicht nur für einzelne.
Der nächste große Komplex von Heilungsgeschichten im Alten Testament hat mit zwei Propheten zu tun, mit Elia und Elisa. Damit gehen wir einen deutlichen Schritt vorwärts in Richtung auf das Neue Testament.
Elia geht im Auftrag Gottes direkt zu einer einzelnen Person. Die Witwe hatte ihm gesagt, daß sie und ihr Sohn nun sterben müßten, weil sie nichts mehr zu essen hätten. Elia verspricht, daß sie genügend Mehl bekommen und daß das Öl nicht ausgehen würde. Ein persönliches Heil wird hier versprochen, Heil gegen die Not des Hungerns. Und dann erfolgt noch eine persönliche, bemerkenswerte Heilung, eine Heilung aus dem Tod – durch ein Verfahren, das auch heute noch in Notfällen eingesetzt wird, die Mund-zu-Mund-Beatmung: Elia legt sich auf den Knaben und atmet wieder Leben in ihn. Hier wird eines der zentralen Wunder Jesu vorgedeutet: die Auferstehung. Auch wenn hier noch eine natürliche Vorgehensweise zum Hilfsmittel wird und die neutestamentliche Todesüberwindung noch nicht zum vollen Tragen kommt, geschieht Wirkung persönlichen Heils.
Warum ist das persönliche Heil ein Schritt vorwärts? Weil der Alte Bund ein kollektiver Bund ist und der Neue Bund ein persönlicher Bund. Der Alte Bund ist ein Bund mit einem ganzen Volk, dem Volk Israel. Im Glaubensbekenntnis der Juden geht es nicht um eine, um meine Person. »Höre, o Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist eins«, so heißt es. Das ist eine kollektive, das ganze Volk betreffende Aussage. Der Glaubensbund auf dem Berg Sinai wurde nicht mit einzelnen Menschen, sondern mit Mose und den 70 Ältesten als Stellvertretern für alle geschlossen. Am Ende der Tage, wenn Israel Jesus annimmt (Sacharja 12, 10), wird das ganze Volk ihn annehmen. Dann wird es wieder ein kollektives Heil sein: »Und sie werden ihn annehmen, den sie durchbohrt (gekreuzigt) haben, und werden um ihn weinen, wie man weint um einen einzigen Sohn.«
Israel wird das erste Volk sein, das Jesus als ganzes Volk annimmt. Israels Selbstverständnis ist nicht ein persönliches Selbstverständnis, sondern ein kollektives – wir, als Volk Gottes. Deswegen sind die ersten Heilungen kollektiv, an dem Volk als Ganzem. Merkwürdig ist, daß die Heilungen bei diesen prophetischen Geschichten jetzt auf einzelne Menschen übergehen. Warum? Das hat einen tiefen Grund, der bei den Beobachtungen zu Elisas Taten deutlicher wird.
Der Neue Bund ist ein persönlicher Bund: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn . . . « Unser Glaubensbekenntnis lautet nicht, »Wir Christen glauben . . . « , sondern der Neue Bund ist ein persönlicher Bund. Jesus hat nicht einzelne Völker zu sich berufen, er ruft einzelne Menschen: »Komm, und folge mir nach.« Deshalb beobachten wir schon innerhalb des Alten Testaments – und das ist nicht nur bei den Heilungen der Fall, das ist allgemein so – eine Entwicklung vom Kollektiven, dem Völkischen als Ganzem, hin zum Persönlichen, in Richtung des Neuen Bundes. In diesem werden immer einzelne Menschen berufen.
Interessant ist, daß die Wunder Elisas in der modernen Theologie wenig beachtet und noch weniger verstanden werden. Aber im Blick auf Heilungen sind im Alten Testament die Kapitel, die uns von Elisa berichten, von zentraler Bedeutung. Sie weisen direkt auf den Neuen Bund hin.
Was geschah bei Elisa, dem Nachfolger Elias? Immer wieder tut er Wunder. Aber es geht nicht um einen Wunderglauben, sondern es geht um die zeichenhafte Bedeutung, die hinter diesen Heilungen steht. Ich muß von vorn herein klarstellen: Jede Heilung hat stattgefunden. Ich bin kein moderner Theologe, der alles umdeutet. Alles, was da steht, ist physisch passiert. Diese Menschen wurden geheilt. Aber wie bei allen Heilungen durch Jesus, wurden sie nicht nur von Krankheiten geheilt, sondern es gab immer konkrete Gründe, warum sie geheilt wurden, warum sie in dieser Art geheilt wurden, warum sie zuvor solch bestimmte Krankheit gehabt haben.
Betrachten wir die Berichte über Elisa genau. Elisa geht inzweifacher Hinsicht weiter als Elia. Zum einen steht im Mittelpunkt der Heilungen Elisas das Thema, das auch im Mittelpunkt der Heilungen Jesu steht: die Reinheit. Elisa vollzieht zwei Wunderheilungen, die etwas mit Reinheit zu tun haben: Die eine betrifft einen Fluß und die andere die Heilung von Aussatz. Elisa verwandelt einen unsauberen Fluß in einen reinen Fluß. Warum?
Das Mittel in Israel, Reinheit herzustellen, ist fließendes, sich bewegendes Wasser – beispielsweise das Sich-Bewegen des Wassers im Teich Bethesda. Geheilte Aussätzige waschen sich in fließendem Wasser, um zeichenhaft das abzuwaschen, was unrein war. Elisa verwandelt einen unreinen Fluß – das bedeutet: Die Reinheit war hier nicht mehr möglich, weil der Fluß, die Reinigungsquelle selbst, unrein geworden war. Er verwandelt sie in einen reinen Fluß, um das Mittel für die Reinheit wiederherzustellen.
Elisas Heilung eines Aussätzigen weist auf etwas Wichtiges hin: Die Heilung der Aussätzigen ist eins der zentralen Heilungswunder Jesu. Er hat immer wieder Aussätzige geheilt. Einmal waren es insgesamt zehn – nur einer kommt zurück, ihm zu danken, die anderen neun nicht. Bei Besuchen im Krankenhaus werde ich häufig an dies Geschehen erinnert. Sollten nicht Krankenschwestern, die sich von wiederhergestellten Patienten verabschieden, mit ihnen ein Dankgebet sprechen und ihnen diese Geschichte von den zehn Aussätzigen erzählen und fragen: Brauchen sie Jesus nur, wenn sie krank sind, oder wollen sie ihn wirklich als ihren Herrn annehmen, auch wenn sie gesund sind?
Das andere Thema von Elisas Heilungen ist die Grenzüberschreitung. Elisa heilt zwei Fremde, den Sohn der Schunemiterin und einen Aramäer, diesen vom Aussatz. Warum kommen gerade in der Elisa-Geschichte Heilungen von Gojim vor, von Menschen, die zu einem anderen Volk gehören, nicht zu Israel? Weil der Herr, der Gott Israels, keine Grenze kennt in seinem Heil. Das ist eine Vordeutung auf das, was ein Thema im Neuen Bund sein wird: Das Heil in Jesus Christus wird zu allen Völkern gebracht.
Die Entwicklung des Heils wird immer deutlicher: Bei den zehn Plagen zeigt Gott seine Herrschaft kollektiv im negativen Sinn, indem er zerstört; während der Wüstenwanderung kollektiv im positiven Sinn, indem er kollektiv heilt, das ganze Volk. Bei Elia geht es um das Persönliche, um die Frage nach Tod und Leben, nach Auferstehung (was wiederum zentral auf Jesus hinweist). Und bei Elisa wird zunächst auf das Thema Reinheit im zweifachen Sinne erweitert. Elisa stellt das Mittel, das zeichenhafte Mittel der Reinheit, wieder her; er reinigt den Fluß und heilt den Aussatz, die schlimmste Art von Unreinheit. (Auch bei Jesus ist das zentrale Thema seiner Heilungen die Wiederherstellung der Reinheit.) Und dann geht Elisa sogar zu zwei Ausländern, Fremden – die Doppelung bedeutet Unterstreichung – , als eine Vordeutung der Heilung: Das Heil des Gottes Israels ist nicht nur für die Juden gemeint, sondern für alle Völker.
Zentrale alttestamentliche Aussagen über Heilung sind folgende Texte:
Jesaja 53
»Er trug unsere Krankheit und unsere Leiden.« Diese zentrale Aussage über Jesus in Jesaja 53 ist zusammen mit Psalm 22 der einzige Text in der gesamten Bibel, in dem Jesu Kreuz und seine Deutung unmittelbar nebeneinanderstehen. So etwas findet sich noch nicht einmal im Neuen Testament. Dort gibt es in der Passionsgeschichte zwar eine Beschreibung des Kreuzestodes Jesu und in den Apostelbriefen seine Deutung. Es gibt aber keinen einzigen Text im Neuen Testament, in dem beides in der Tiefe nebeneinandersteht, wie bei Jesaja, 700 Jahre vor Jesus Christus.
»Er trug unsere Krankheit und unser Leiden.«
Was bedeutet »unsere Krankheit und unser Leiden«? Jesus Christus ist unser endgültiger Arzt. Wir dürfen wissen, wenn wir krank sind, daß Jesus Christus auch schreckliche Krankheit und Not erlebt hat und daß er uns deshalb besonders nahe ist. »Er trug unsere Krankheit« – im geistigen und seelischen Sinn – so ist er uns geistig und seelisch nahe.
Er hat diese Krankheit überwunden. Denn das Ziel einer schweren Krankheit ist der Tod. Und »fürwahr, er trug auch unseren Tod«. Das bedeutet: Er gibt uns geistige und seelische Nähe und Kraft, wenn wir krank sind. Und dem »Ziel« der Krankheit, dem Tod, hat er die Macht genommen. »Fürwahr, er trug unsere Krankheit und unser Leiden« – dies ist eine deutliche Voraussage in Bezug auf Jesus Christus.
Im Alten Testament steht auch geschrieben: »Der Herr ist dein Arzt.« Was soll das bedeuten? Im Wartezimmer eines angesehe nen alten Mediziners fand ich folgendes Goethezitat: »Wir leben, solange es Gott bestimmt hat; aber wie wir dieses Leben zubringen, ob jämmerlich, wie die Hunde, oder frisch und gesund, dazu vermag ein kluger Arzt viel.«
Ein Arzt vermag manches im Kampf gegen den Tod. Aber der Herr ist unser endgültiger Arzt. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit unserer pensionierten Kinderärztin; es war das letzte Gespräch mit ihr, bevor sie selbst starb. Sie sagte: »Niemand ist während meiner Therapien gestorben.« Sie lebte, wie wohl jeder Arzt, mit der großen Angst: Vielleicht stirbt jemand, und ich bin mitschuldig, weil ich nicht das Richtige getan habe. Bei der Arbeit eines Arztes geht es letztlich immer um Leben und Tod. Sicher, die medizinische Fähigkeit eines Arztes ist eine Gabe Gottes, die Fähigkeit, richtig zu diagnostizieren und die helfende Therapie zu verordnen. Aber »der Herr ist dein Arzt« in dem Sinne, daß jeder Arzt gegen den Tod kämpfen will – aber gewonnen hat Jesus diesen Kampf. Das hängt mit Jesaja 53 zusammen: »Er trug unsere Krankheit und unser Leiden.« Jesus hat die Auswirkung, die letzte Tiefe der Krankheit, das Sterben, den Tod selbstgetragen und überwunden. Deswegen ist er unser wahrer Arzt. Der Tod hat keine Macht mehr über ihn, und deswegen hat die Krankheit im letzten keine Macht mehr über uns.
Was sind die Voraussetzungen für Heilungen durch Jesus?
Jesus heilt nur, wenn Glaube vorhanden ist. Er heilt niemals, um eine Show zu inszenieren. Es gibt Sekten, die machen aus Heilungen eine Show: »Das ist der Satan in dir! Wenn du wirklich glaubst, dann wird der Satan weggehen, und dann bist du heil.«
Diese Aussage ist der Bibel entgegen, denn Krankheit kommt nicht von Satan, sondern von Gott. Wesentlich ist, daß man glaubt, daß Jesus heilen kann. Jesus erwartet das totale Vertrauen auf ihn. Psychologen können über Jesus sagen, daß er im Grunde genommen ein guter Psychologe war; er habe über Ängste und andere notvolle Grundbefindlichkeiten Bescheid gewußt; er wußte um psychosomatische Krankheiten und hat sie deshalb heilen können. Ich habe jedoch nie gehört, daß Aussatz oder Gicht eine psychosomatische Krankheit ist; auch nicht, daß der Tod ein psychosomatischer Zustand ist. Prof. Sauerbruch hat einmal gesagt, daß Psychologie das Ende der Medizin bedeutet. Die Gefahr besteht dann, daß man immer sagen kann, das ist irgend etwas Psychologisches.
Und Karl Barth soll einmal gesagt haben: »Wenn die Psychologen eine Rolle in der Theologie spielen, dann wird Gott austreten aus der Theologie.« Tatsache ist, daß man psychologische Erklärungen der Heilungen durch Jesus mehrfach widerlegen kann, weil Jesus Krankheiten geheilt hat, die überhaupt keine psychologische Ursache haben können.
Jesus hat aber auch Menschen geheilt, die nicht gläubig waren. Vielmehr kamen Angehörige oder Freunde, die gläubig waren, zu ihm und baten: »Heile meinen Knecht!« – wie der Hauptmann von Kapernaum; oder Petrus: »Heile meine Schwiegermutter.« Da kann man nicht von einer psychologischen Auswirkung auf diesen Knecht sprechen. Jesus war zunächst gar nicht bei diesem Knecht, und es steht an keiner Stelle, daß dieser Knecht an ihn glaubte; auch nicht, daß die Schwiegermutter von Petrus an ihn glaubte. Jesus hat das getan, wegen des Glaubens anderer. Jesus heilte nicht nur Menschen, die selbst an ihn glaubten, sondern für Menschen, die ihm nahe waren, hat er auch andere geheilt, die nicht gläubig waren.
»Der Herr ist dein Arzt.« Jesus erfüllt diesen Spruch sehr bewußt. Er ist die Erfüllung, wie Luther sagt. Er kommt bewußt als unser Arzt, um Menschen, die in Not sind, zu heilen. Nicht aus Mitmenschlichkeit, das ist moderne, theologische Redeweise. Er hilft nur, wenn Glaube vorhanden ist, wenn ein Mensch in Not sich ihm anvertraut. Nicht eine indifferente, Undefinierte allgemeine Brüderlichkeit, wovon in der modernen Theologie gesprochen wird, ist Voraussetzung für Jesu Heilungshandeln – das wäre Schiller und Beethovens 9. Sinfonie, aber nicht Jesus. Das Wort »Bruder« bedeutet in der Bibel: entweder mein leiblicher Bruder oder mein Bruder in Jesus Christus oder mein geringster Bruder oder der ältere Bruder, Israel. Nicht alle Menschen sind einfach »Brüder in Christus«. »Brüder« sind Leute, die eine persönliche Heilandsbeziehung zu Jesus Christus haben, oder Juden, die diese Beziehung noch in einer verborgenen Art haben. Die Voraussetzung der Heilung durch Jesus ist der Glaube an ihn.
Was für eine Erklärung hat die Bibel für Krankheit? Sie verallgemeinen nicht in sektiererischer Vereinfachung: »Der Satan ist in dir; wenn aber Jesus in dich kommt, bist du gesund.«
Nein, Jesus heilt einen Gichtbrüchigen, indem er sagt: »Geh hin, deine Sünden sind dir vergeben.« Die Krankheit des Betreffenden hatte also mit Schuld zu tun. Das Interessante an diesem Text ist, daß Jesus sich an Gottes Stelle setzt. Er sagt nicht: Gott, der Vater, der Gott Israels, vergibt dir deine Sünde; sondern er sagt: Ich vergebe dir. Deswegen kommt es dann zu dem großen Streit mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Krankheit kann also offensichtlich eine Auswirkung von Schuld sein. Sünde und Krankheit, Satan und Krankheit – da bestehen also offensichtlich schon Wechselbeziehungen. Nicht nur hier scheint das sektiererische Verständnis richtig zu sein, sondern zum Beispiel auch in dem paulinischen Satz »Tod ist der Sünde Sold«. Krankheiten sind ja Schritte in Richtung auf den Tod. Die Lebenskräfte werden geschwächt.
Nun heißt es: Jesus trug unsere Krankheit am Kreuz und damit auch unsere Schuld. So stehen Krankheit und Schuld in einem engen Zusammenhang. Aber – und das ist wichtig – indem er diese Aussage, daß Krankheit und Tod mit Schuld zu tun haben, so absolut hinstellt, überwindet er diese Aussage, wir selbst aber können und dürfen das persönlich nicht so sagen. Jesus nimmt in einem Gespräch mit Juden auf den Einsturz des Turms von Siloah Bezug, bei dem 18 Leute umgekommen sind, und fragt: »Sind sie gestorben, weil sie besonders schuldig waren?« Solch eine Analogie ist eine typisch jüdische Logik: Krankheit und Tod kommt von Schuld. Jesus aber sagt: »Alle Menschen sind absolut schuldig, deshalb tut Buße, sonst werdet ihr den gleichen Tod sterben.«
Indem Jesus sagt, daß der Tod (und damit auch die Krankheit, weil sie uns dem Tod einen Schritt näher bringt) eine Folge der Schuld ist, trifft das jeden von uns in Bezug auf die Erbsünde. Und so können wir nicht mehr sagen: Krankheit hängt mit einer besonderen Schuld zusammen. Denn jeder Mensch ist grundsätzlich schuldig. Unser Grundzustand ist Sünde. Es kommt nicht darauf an, was wir im besonderen getan haben oder tun, sondern wir werden alle leiden und sterben, weil wir in Gottes Augen alle absolut schuldig sind.
Deswegen können wir nicht angesichts einer bestimmten Krankheit sagen: Der Kranke ist krank wegen seiner Schuld. Denn wegen der Schuld aus Gottes Sicht hätten wir es eigentlich verdient, daß wir alle gleich sterben. Das wäre logisch gedacht. Indem Jesus verabsolutiert, daß alle Menschen total schuldig sind, nimmt er dem Argument besonderer Schuld bei persönlicher, individueller Erkrankung die Spitze. Daß ich irgendwann sterbe, ja, sterben muß, ist »der Sünde Sold«, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Grundzustand aller Menschen, mit der Erbsünde. Die zwei Schächer, die mit Jesus gekreuzigt wurden, sind beide Mörder – einer aber von ihnen tut Buße. Auch wir sind nach der Bergpredigt in Gottes Augen alle Mörder, sofern wir jemals Zorn oder Haß auslebten – auch dies hängt mit dem Grundzustand unseres gefallenen Wesens zusammen. In Gottes Augen sind wir alle Mörder, auch Ehebrecher.
Was bedeutet aber eine bestimmte, persönliche Krankheit, die wir erleiden? Hiob sagt uns das – wie auch Jesus – deutlich: Hiobs ganzes Leiden ist eine Probe Gottes. Er wird auf den Prüfstein gestellt mit seinem Glauben. Jesus Christus sagt: »Wer mir nach folgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich« (sein Leiden, seine Krankheit, alles, was mit »Kreuz« zu tun hat) »und folge mir nach.«
Das Thema »Leiden« deutet in der Bibel immer auf die besondere Nähe zu Jesus Christus hin. Das ist unter anderem auch daran zu erkennen, wie der Auferstandene seinen wieder angenommenen Jünger Petrus auf dessen künftiges Sterben hinweist. Es ist Probe Gottes, daß wir im tiefsten Sinn in der Nachfolge Jesu mit ihm zu leben und zu leiden lernen. Wer nach dem Bedenken von Hiobs Leiden, nach Jesu Ruf in die Nachfolge und nach Jesu Feststellung zum Unglück mit dem Turm von Siloah behauptet, der Satan sei in mir, wenn ich krank bin, und ich müsse nur glauben, und dann gehe der Satan hinaus, der hat Jesus überhaupt nicht verstanden. Denn jede Krankheit kommt von Gott, der mich auf die Probe stellen will: Bist du bereit, mit mir zu leiden? Und wenn ich behaupte, daß Leiden gegen Gott ist, dann kämpfe ich gegen das Kreuz und nicht für das Kreuz. Der Gott, den ich dann haben will, ist ein selbstgemachter Gott, der sagt: Gesundheit ist ein Zeichen deines Glaubens; sei frisch, jung, gesund und sportlich! Das aber ist nicht der Weg Jesu.
Jesu Weg ist der Weg, der unsere Krankheit mitträgt, unsere Leiden und unsere Not. Und wahre Christen sind bereit, mit Jesus zu gehen. Ich habe in meiner Familie zwei Leute, die mir nahestehen, aber sehr krank sind. Ich bete nie: »Heile sie!« Ich bete: »Herr Jesus, gib mir und ihnen die Kraft, diese Leiden mit dir zu tragen. Und wenn es dein Wille ist – du weißt, daß ich es gern hätte – , dann laß sie gesund werden. Aber dein Wille geschehe.«
Alles andere wäre gegen Gottes Willen gebetet. Wie war es mit Paulus am Ende seines Lebens? Paulus will geheilt werden und sagt: »Herr, wenn es dein Wille ist, heile mich.« Jesus aber antwortet: »Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.« Das sind zentrale biblische Aussagen zum Leid und zur Prüfung. Krankheit ist eine Probe Gottes und ein Ruf Jesu in seine Nähe. Deswegen haben die Juden so gelitten, weil sie Gottes auserwähltes Volk sind, weil Jesus sein Ja zu diesem Volk sagt. Er kann seine Erwählung nicht bereuen (Römer 11). Er bringt sie in sein Kreuzesleiden, ohne daß sie das wissen oder gar wollten. Jeder Jude weiß, daß Leiden mit Erwählung zu tun hat. Auch wir sollten wissen, daß Leiden mit Erwählung zu tun hat. Christsein bedeutet nicht: Jetzt werde ich frisch, gesund und äußerlich, weltlich glücklich sein! sondern: »Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.«
Die Mittel der Heilung
Auch die »Mittel«, die Jesus zur Heilung benutzt, sind zeichenhaft. Jesus heilt zum Beispiel, indem er jemanden mit seiner Hand berührt. Oft ist es ein Auflegen seiner Hand bei einem, der in demütigem Glauben vor ihm kniet. Mit eigenen leeren Händen kniet er vor dem Herrn, in dessen Händen Schöpfungsreichtum liegt. Und Jesus heilt ihn wegen seiner Demut, seiner Erkenntnis: Nur du kannst mir helfen; ich komme mit leeren Händen zu dir. Wahrscheinlich beten wir deshalb mit gefalteten oder nach oben geöffneten Händen, die Augen geschlossen und mit gesenktem Kopf, als ein Zeichen unserer tief inneren Beziehung und Demut vor ihm.
Vor allem aber hat Jesus durch das Wort geheilt. Er sagt: »Steh auf, deine Schuld ist dir vergeben.« Das Wort ist das Schöpfermittel Gottes. Und das Leben des Schöpfergottes ist in Jesus Christus. Wenn Jesus spricht, ist Leben, auch Leben aus dem Tod. Das Wort Jesu ist das Schöpfermittel Gottes. Und wenn Jesus spricht: »Geh hin, du bist gesund«, dann spricht er ein Schöpferwort als der Herr der Schöpfung, als der Mittler der Schöpfung. Sein Wort erschuf Leben.
Deswegen geschehen die meisten Heilungen Jesu durch das Wort. Da gibt es eine wichtige Parallele: Unsere Heilungen kommen auch durch das Wort – ich meine nicht Heilung von Krankheit, sondern von Sünde und Schuld. Das geschieht unter dem Wort, zu dem der Heilige Geist bevollmächtigt; es geschieht durch das Fleisch gewordene Wort, das Jesus Christus ist. Und das ist gegenwärtig, wo Wort Gottes und Geist Gottes sind, der Geist, der »Odem« Gottes, in dessen Kraft einmal Tote auferstehen, zu neuem Leben erweckt werden, wie es in Hesekiel 37 steht.
Jesus hat aber ausnahmsweise auch einmal mit Speichel geheilt. Da war ein Blinder. Jesus strich ihm seinen Speichel auf die Augen und fragte ihn: »Kannst du sehen?« Fragend wie ein Augenarzt, der eine Brille anpaßt. »Menschen wie Bäume«, antwortete der – alles ist noch verschwommen. Und Jesus legte nochmals seine mit Speichel benetzten Finger auf seine Augen. Das zweifache Tun mag von doppelter Bedeutung sein: Jesus tut nicht nur Wunder über das Naturgesetz hinaus, sondern benutzt dieses auch – im Speichel Jesu eine Heilkraft seiner Schöpfermacht? Das ist nicht einfach auch in unserem Speichel so. Jesus wirkte hier mit schöpfungsbedingten Gegebenheiten, die er geschaffen hatte, doch er muß nicht alles mit ihrer Hilfe tun. Doch wie das schöpferische Wort kam auch der Speichel aus seinem Mund, dem Urquell des Lebens.
Es gibt noch ein merkwürdiges Heilungsmittel: das Gewand. Jesus ist zum Krankenlager der Tochter des Jairus gerufen worden. Unterwegs drängt sich eine Frau an ihn heran. Sie berührt sein Gewand und wird geheilt von jahrelanger Krankheit. Nicht als Reliquien verehrte Gewänder haben Heilkraft – sondern was die Heilung ausgelöst hat, war der Glaube der Frau und nicht irgendeine magische Auswirkung. Aber diese Handlung hat auch eine zeichenhafte Bedeutung. Das ist das Kleid der Erwählung, das Josef trug. Auch das Gewand ist zu erwähnen, das die Propheten im Scheol tragen, wie Samuel zum Beispiel. Da ist auch das Kleid, das die Erlösten in Gottes Reich tragen werden, wenn wir nur »ausharren bis ans Ende«. Kleider der Erwählung. Auch das Gewand Jesu, um das schließlich vier Soldaten unter dem Kreuz losten, war ein solches. Die Frau wurde gerettet durch ihren Glauben, aber sie berührt das Zeichen der Erwählung.
Das Gewand Jesu ist Zeichen seiner Erwählung, und sie kommt und berührt diese Erwählung und wird geheilt. Aber sie wird durch ihren Glauben geheilt, nicht durch das Gewand, das hier eine zeichenhafte Bedeutung hat, wie in der Josefsgeschichte, wie in der Offenbarung. Sie ist zu dem Erwählten gekommen. Der Erwählte heilt, und sie wird aus Glauben geheilt.
Die Heilung selbst
Jesus hat bei seinen Heilungen bestimmte Krankheiten besonders beachtet. Das ist kein Zufall.
Aussätzige
Aussatz ist im Judentum der Inbegriff von Unreinheit, weil er den Zerfall unseres Körpers zeigt, des Leibes, der doch vom Schöpfergott kommt, dem lebendigen Gott Israels. Wenn einen ein Aussatz befällt, bekommt man zuerst weiße Flecken, so steht es in der Bibel. Dann geht man zum Priester, um feststellen zu lassen, ob es wirklich Aussatz ist oder nicht. Dann treten stinkende Geschwüre auf. Ganze Körperteile faulen ab. Man muß von der Gemeinde abgesondert werden, nicht nur wegen der Ansteckungsgefahr – das auch, das ist die humane Seite – , sondern weil man von Gott getrennt ist, von dem lebendigen Gott Israels. Hier kommen wir zurück zu dem Thema Schuld. Der Verfall der Person zeigt, daß bei ihr die Schöpferkräfte Gottes gelähmt, erstarrt sind. Der Betroffene trägt nach israelitischem Verständnis Zeichen des Abfalls vom lebendigen Gott Israels.
Warum hat Jesus immer wieder Aussätzige geheilt? Warum? Er will bezeugen: Ich bin die Reinheit. Was unrein ist, werde ich wiederherstellen. Israel muß die Reinheitsgesetze halten wegen der messianischen Verheißung. Das Volk muß rein sein, damit der Messias empfangen werden kann, der alle Völker segnen wird. Jesus hat die Reinheitsgesetze erfüllt und vollendet und damit zu ihrem Ziel gebracht. Er sagt: »Ihr seid nicht unrein durch das, was ihr eßt« (er meint auch berührt), »sondern durch das Böse in euren Herzen.« Sein Heilen von Aussatz ist eine Zeichenhandlung, die besagt, ich bin die Reinheit selbst. Ich stelle wieder her, was unrein ist. So wird sein Heilen vom Aussatz zu einer Vordeutung auf das Kreuz.
Lahme
Lahme mit Gicht und anderen Lähmungserscheinungen sind auch vom Tempelgottesdienst ausgeschlossen. Sie wurden bis vor den Tempel getragen, aber nicht in den Tempel hineingelassen. Sie dürfen keine Gemeinschaft mehr haben mit dem lebendigen Gott Israels, weil ihre Lebenskräfte erstarrt sind. Die Leben schaffende Wirkung des Gottes Israels ist bei ihnen nicht mehr vorhanden. Deshalb warten sie am Teich Bethesda darauf, daß sich das Wasser bewegt, dem dann Reinigungs- und Heilungskraft zugesprochen wurde. Bewegtes Wasser ist Zeichen der Reinheit. Jesus heilt diese lahmen Menschen, um zu zeigen: Die Kraft des Lebens selbst, das bin ich. Ich bin der lebendige Gott Israels. Ständig handelt Jesus, um zu zeigen: Ich bin die Thora, das Wort, das Gesetz Gottes. Ich bin der lebendige Gott Israels, ich bin Gottes Sohn, ich bin der Allmächtige.
Auch wenn moderne Theologen, ob sie Juden oder Christen sind, meinen, das alles wegstreichen und umdeuten zu müssen. Das ist das deutlichste Zeichen, daß Jesus der lebendige Gott Israels ist, der Gott der Schöpfung: Er heilt Lahme, weil das Leben in ihnen erstarrt ist. So zeigt er, daß das Leben in ihm ist.
Blinde
Sehen bedeutet in der Bibel Erkenntnis. Der Seher, das ist ein Urwort für den Propheten. Er sieht Wahrheiten, die andere Menschen nicht sehen, Gottes Wahrheit. Jesus sagt über sein eigenes Volk: »Sie haben Augen und sie sehen nicht, und sie haben Ohren und sie hören nicht« – weshalb sie Gottes Wahrheit nicht erkennen. Jesus heilt blinde Menschen, um zu zeigen: Ich bin der endgültige Prophet, ich erfülle die ganze prophetische Tradition. Wahres Sehen, wahre Erkenntnis kommt durch mich. Und was sehen die Blinden als allererstes? Sie sehen Gott, sie sehen Jesus, ihren Heiland. Dann sind sie ganz sehend, denn sie sehen Gott selbst. Ich kenne einen Blinden, der wanderte immer 6 km zu mir in den Gottesdienst. Einmal sagte er im Bibelkreis: »Herr Pfarrer, als ich jung war, konnte ich sehen; ich hatte Augen zu sehen, aber meinen Heiland habe ich nicht gesehen. Und als ich blind gewor den bin, bin ich sehend geworden, denn ich habe meinen Heiland gefunden.« Jesu Blindenheilungen machen deutlich, daß er zeigen will: Ich bin die wahre Kraft des Sehens. Und das Volk Gottes? Sie haben alle Augen, aber sie haben eine Binde vor den Augen und können ihn nicht sehen (Römer 11).
Taube und Stumme
Es ist nicht wahr, daß Jesus jeden Menschen in Not heilt. Er hat nur geheilt, wenn Glaube vorhanden war, und er hat nur geheilt, wo ein tieferer Sinn dahinter erkennbar wird, Taube und Stumme hat er nicht in erster Linie deshalb geheilt, weil er ein Gefühl für die Mitmenschen hatte. Selbstverständlich liebt Jesus uns, aber er will, daß wir ihn lieben. Der natürliche Mensch hat keinen Zugang zu Gott. Sehr selten habe ich Menschen erlebt, die durch menschliche Liebe oder durch das Erleben von Schöpfung oder durch Freude zu Jesus Christus fanden. Die meisten bekehrten Menschen, die ich kenne, sind durch den Tod bekehrt, indem sie mit Jesus Christus sterben, ihre alte Person, der »alte Adam«, das alte Ich. Wenn Jesus uns richtet, uns dann aber auch aufrichtet durch sein Wort – das bedeutet neugeboren werden. Das ist der einzige Weg, um zum Glauben an Jesus Christus zu kommen. Jesus starb, um zu zeigen, daß er der lebendige Gott Israels ist. Dazu nahm er die ganze Unreinheit des Todes auf sich, die ganze Gottesferne. Aber gerade im Tod zeigt er seine lebendige Macht und Kraft. Er ist auferstanden aus der Kraft des Herrn.
Warum heilt er Taube und Stumme? Weil es um das Wort Gottes geht, welches Fleisch geworden ist in ihm. Es geht um den Weg zum Leben, allein durch das Wort. Ein Stummer kann das Wort Gottes nicht weitergeben, kann Gott nicht preisen und loben. Wer taub ist, kann das Wort nicht empfangen. Es geht nicht in erster Linie um eine menschliche Krankheit und Grenze, nicht um Mitmenschlichkeit. Sicher, Jesus liebt alle Menschen, aber sein Handeln geht viel tiefer. Taubstumme sind Menschen, die abgetrennt sind von der Gemeinde Jesu, weil sie das Wort nicht hören, das sie frei macht, und sie können das lebendige Wort nicht weitergeben. Deswegen heilt Jesus sie.
Besessene
Es ist schon eine bemerkenswerte Tatsache, wenn man im Neuen Testament liest, daß besessene Menschen wußten, daß Jesus Gott ist, sogar bevor seine eigenen Jünger dies wußten. Ein Besessener ruft: »Du Menschensohn, du Gottessohn, weg von mir!«, bevor Petrus das bezeugte. Junge Leute, die jetzt auf dunklen Wegen gehen und Rauschgift nehmen (das gibt es unter ehemaligen Konfirmanden!), verstehen oft viel schneller etwas über die Bibel als andere, weil sie viel mehr wissen über die Macht des Bösen und über das Leben ohne Gott. Sie wissen sehr genau, daß sie es letztlich mit Gott zu tun haben. Aber sie sagen: »Weg! Das ist gerade das, was gegen mich steht, was ich nicht hören und nicht haben will.« Aber die Erkenntnis über Jesus ist da.
So ist es bei den Besessenen auch. Sie wollen Abstand halten von Jesus, weil sie einem anderen Reich angehören, dem dämonischen Reich. Die Dämonen und Satan kennen sehr genau Gottes Macht. Er ist ein gefallener Engel. Menschen, die in seinem Zugriff stehen, sind keine Atheisten. Sie wissen um Gottes Kraft, aber sie stehen unter anderen Mächten und Kräften. Das ist heute ein sehr wichtiges Thema. Denn satanische Einflüsse sind sehr stark geworden – auffallend in der Rockmusik. Es gibt Gruppen, die Satan anbeten. Der Satan ist auch eine lebendige Kraft, eine Kraft, die jedoch töten und zerstören will.
Besessene Menschen heilt Jesus, um zu zeigen: Ich habe Macht über das Böse. Das Böse kann mir nicht widerstehen. Der Satan wird sich einmal auch beugen müssen und wird vernichtet. Auch sein Helfershelfer, der Antichrist. Der Satan wird tausend Jahre von Jesus gefangengenommen sein und dann in einem letzten Kampf endgültig vernichtet werden. Jesus hat Macht über das Böse, er allein. Aber sein Hauptziel ist nicht, den Bösen zu richten, sondern Menschen zu retten. Neues und Altes Testament sprechen deutlich davon, daß Gott zwar der Richter ist, aber er will retten, er will Gnade ausüben. Deshalb heilt Jesus auch Besessene, um zu zeigen: Es gibt keine Macht oder Kraft, die stärker ist als der lebendige Gott Israels. Er kann Menschen aus Satans Herrschaft reißen. David Wilkerson berichtet in sei nem berühmten Buch »Das Kreuz und die Messerhelden«, wie Rauschgiftsüchtige, die unheilbar sind, medizinisch und auch psychologisch, durch den Glauben an Jesus Christus befreit werden von dieser Besessenheit. Denn diese Not ist eine moderne Besessenheit.
Der Tod
Das zentrale Wunder Jesu in seiner Bedeutung ist seine Auferweckung aus dem Tod.
Elia hat einen Menschen auferweckt, auch Elisa. Jesus hat mehrere Menschen aus dem Tod erweckt, den Jüngling zu Nain, die Tochter des Jairus – aber das Erstaunlichste geschieht bei Lazarus. Er ist schon vier Tage tot. In Israel herrscht warmes Klima. Normalerweise beerdigt man dort innerhalb 24, höchstens 48 Stunden. Des Lazarus Verwesung hat in seiner Gruft schon eingesetzt. Er ist bereits länger tot, als Jesus es später war. Jesus heilt Lazarus vom Tod, indem er ihn mit dem lebendigen, dem Leben schaffenden Wort Gottes ruft: »Lazarus, komm heraus!«
Komm aus dem Tod, denn ich herrsche über den Tod, nicht nur über Satan und Besessenheit, sondern auch über den Tod, die Auswirkung der Erbsünde. Auch hier deutet er sein Kreuz voraus, an dem er den Tod endgültig entmächtigt in seiner Auferstehung. Die letzte Steigerung in der Todesüberwindung durch die Auferstehung ist, daß er sich als der lebendige Herr, der Gott Israels, in einem neuen, unzerstörbaren Lichtleib zeigt. Lazarus mußte nochmals sterben, Jesus Christus aber nicht. Er herrscht über Zeit und Raum als der Auferstandene.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Das hat mit der Schöpfung zu tun. Da handelt der lebendige Schöpfergott. Anfang bedeutet Zeit – Himmel und Erde ist Raum. Zuerst hat er die Zeit geschaffen und dann Himmel und Erde, den Raum. Jesus Christus steht über beidem, Zeit und Raum. Deshalb kann der auferstandene Jesus plötzlich hier und plötzlich da sein; er ist weder an den Zeit- noch an den Raumbegriff gebunden. Das können wir nicht ohne weiteres begreifen, denn wir leben in Zeit und Raum.
Wir werden das erst begreifen können in Gottes ewigem Reich. Dann werden wir nicht mehr in Zeit und Raum leben. Einstein hat gezeigt, daß die Zeit ein relativer Begriff ist. In seiner Relativitätstheorie hat er aufgezeigt, daß bei sehr hohen Geschwindigkeiten die Zeit langsamer abläuft. Die Bibel spricht davon, daß »Tausend Jahre vor Gott sind wie ein Tag, der gestern vergangen ist«. Für den lebendigen Gott Israels gibt es keine Zeit und keinen Raum, denn sein Reich kennt keinen Tod mehr – keine Endlichkeit und damit keine Zeit mehr. Wo es Zeit gibt, muß es Tod geben. Wir leben, um zu sterben. Es gibt bei Gott keine Zeit und auch keinen Raum in unserem Sinn des Wortes. Das ist für uns eigentlich nicht möglich zu denken. Und so kommt die kritische Rückfrage: »Wie können wir alle auferstehen zum Gericht?« Menschliche Torheit fragt so.
Aber leben wir, um Gott zu prüfen, indem wir sagen: »Nicht möglich, das glaube ich nicht.«? Die Antwort Gottes an Hiob lautet: »Dann schaffe mir die Welt, Hiob.« Der Mensch bleibt stumm und sprachlos vor Jesus Christus als dem lebendigen Gott, weil wir auf das Zentrum des Lebens durch unsere Vernunft nicht antworten können. Das Leben selbst, die Liebe, die Quelle, die Nahrung des Lebens, die Liebe, kann man nicht mit Wissen und Willen schaffen und mit der Vernunft auch nicht erklären. Und ohne Jesus Christus gibt es keine Antwort auf das Leiden und keine Antwort auf den Tod. Kann ich mich selbst erklären?
Was da versucht wird, sind nur psychologische Theorien. Niemand kann mir sagen, wer ich bin. Jeder sieht mich anders. Jeder malt das Porträt eines anderen anders. Auch wenn er ihn beschreibt. Jeder sieht den anderen durch seine eigenen Augen. Nur Jesus Christus weiß, wie und wer wir wirklich sind.
In der Auferstehung Jesu liegt der Beweis begründet, daß Jesus Christus der lebendige Gott ist, der Leben aus dem Tod, aus dem Nichts geschaffen hat.
Wir haben über Jesu Heilungshandeln nachgedacht und begreifen nun zusammenfassend, daß das Wesentliche für uns das Heil ist und nicht eine Heilung. Wenn Menschen in Krankheitsnot sind – auch ich selbst – , stelle ich nicht die Bitte in den Mittelpunkt: »Herr, heile du!«, sondern: »Herr, gib mir und den Menschen, die mir nahe sind, die Kraft, diese Not zu tragen und deinen Willen zu bejahen.« Heil ist viel wichtiger als Heilung. Unser Heil ist der Arzt Jesus Christus. Viel wichtiger ist, daß wir mit ihm sterben, als daß wir gesund werden. Die Berichte über die Heilungen sollen uns nicht dazu verleiten zu sagen: »Ich erwarte geheilt zu werden, weil ich glaube.« Nicht Gesundheit ist das höchste Gut. Das höchste Gut ist Jesus Christus, und Jesu Weg ist ein Leidensweg. »Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich, verleugne sich selbst und folge mir nach.« Das ist, was unser wahrer Arzt, unser Heil, Jesus Christus, zu uns gesagt hat.
Kinder des Lichts
»Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie viel mehr auf. Denn was von ihnen heimlich getan wird, davon auch nur zu reden ist schändlich. Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht aufgedeckt wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.«
(Epheser 5, 8 -14)
So strahlend klar, in Wellen des Klangs, intonierte Joseph Haydn diese zentrale Bibelstelle in seiner berühmten »Schöpfung«. Licht ist die Grundlage für das Leben. Licht bringt Leben. Der Herr selbst ist die Quelle des Lichtes, des Lebens. Und derselbe Herr erscheint Mose und Saulus als brennendes Licht; Mose als Licht in einem Dornstrauch, welcher aber nicht verbrennt, und Saulus als ein Licht vom Himmel, viel stärker als die Sonne, als Urlicht. Hier zeigt der Herr seinen brennenden Eifer, denn Mose soll zurück nach Ägypten gehen, um sein Volk zu befreien von seiner Sklaverei; und Saulus soll jetzt seinen Eifer verwenden aus dem Licht der Erleuchtung, aus Gottes Eifer, nicht gegen die Christen, sondern für das Volk des Neuen Bundes, in der Mission. Hier sehen wir den Herrn als brennendes, eiferndes Licht. Und brennende Kohlen werden auf die Lippen des großen Propheten Jesaja gelegt, um ihn zeichenhaft rein zu machen für seine Verkündigung der Botschaft des Herrn. Hier das Licht als Gottes Reinheit, welches uns reinigt. Und im längsten Psalm der Bibel, Psalm 119, steht geschrieben: »Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.«
Hier wird Gottes Licht, durch sein Wort, uns seinen Weg erleuchten, seinen Weg in seiner Nachfolge, wie es so deutlich in unserem Text steht: »Nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt wie die Kinder des Lichtes.« Und schließlich: Der Herr wird alles »ans Licht bringen« durch sein Gericht, das bedeutet, nach den Maßstäben seiner Gerechtigkeit. Und so steht es in unserem Text: »Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht bestraft wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht.«
Es läßt sich zusammengefaßt sagen: Wenn Jesus sagt »Ich bin das Licht der Welt«, meint er das in fünffachem, gesamtbiblischem Sinne:
1. Ich bin die Grundlage des Lebens, des Lichts.
2. Mein Licht bedeutet mein brennendes, eiferndes Wesen.
3. Mein Licht schafft nicht nur Klarheit, sondern auch Reinheit.
4. Sein Wort ist das Licht auf unserem Wege in der Nachfolge zu ihm.
5. Er wird alles ans Licht seines Gerichtes bringen.
Und wir sind »Kinder des Lichts«: »Denn ihr wäret vormals Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt wie die Kinder des Lichtes – die Frucht des Lichtes ist lauter Gütigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit.« In uns selbst sind wir nicht Licht, sondern wir sind nur Licht, wenn wir aus Gottes Wesen, aus seiner Leben spendenden, eifernden, reinigenden, wegweisenden, richtenden Kraft leben. Wir können diese Aussage durch ein Bild vielleicht besser verdeutlichen. Der Herr ist wie die Sonne, und wir sind wie der Mond. In uns selbst sind wir nur Finsternis (verloren in uns selbst), aber wir bekommen Licht, Leben, eifernde Kraft in der Nachfolge, Reinheit und Wegweisung aus seinem Licht. Wir verfügen dann nicht über dieses Licht, sondern das Licht verfügt über uns.
Das bedeutet auch, daß die Gaben des Geistes nicht uns gehören, sondern ihm; er gibt sie uns, wann und wie er will. Und diese »Frucht des Lichtes« kann dann genauso als »Gaben des Geistes« betrachtet werden. Sie heißen »Gütigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit«.
Als Christen sind wir in einer besonderen Lage im Hinblick auf die Wahrheit. Jesus Christus sagte von sich selbst: »Ich bin die Wahrheit«, und wir reden die Wahrheit, wenn wir im Sinne Jesu reden. Als Christen haben wir keine Angst vor der Wahrheit – jedenfalls haben wir das nicht nötig – , weil wir wissen, daß unser Herr ein gekreuzigter Herr ist, der für unsere Sünde gestorben ist und nicht für gerechte Menschen. Damit sind wir aber auch verpflichtet, unsere Sünde, unsere Entfernung von Gott, aufdecken zu lassen und auch für unsere noch unbekannten Sünden um Vergebung zu bitten. Denn »Ihr wäret vormals Finsternis, nun aber seid ihr Licht in dem Herrn«. In der Wahrheit reden, bedeutet dann in erster Linie, Jesus gemäß, wahrheitsgemäß zu reden und zu leben, auch unserem Nächsten das zu sagen, was er im Sinne Jesu nötig hat zu hören, soweit wir das erkennen. Christen sollen nie untereinander die Wahrheit verschweigen. Je offener wir sind, desto besser kann die Atmosphäre zwischen uns sein.
Das heißt nicht, daß die Wahrheit um jeden Preis gesagt werden muß. Das gilt vor allem, wenn erkennbar wird, daß eine verletzende Wahrheit dem Gebot der Liebe entgegensteht. So heißt es im vorangehenden Kapitel des Epheserbrief es: »Lasset uns wahrhaftig sein in der Liebe.« Und so steht in unserem Text, daß wir als Kinder des Lichts nicht nur aus der Wahrheit leben und die Wahrheit (Christus) bezeugen, sondern auch aus seiner Güte. Nur wenn wir beides tun, leben wir aus der Gerechtigkeit Gottes, welche zugleich seine Liebe und seine Wahrheit umfaßt. Ich kenne eine Frau, die ständig sagt, was sie denkt, und damit ihre Nächsten regelmäßig verletzt. Diese Frau behauptet aber, daß es ihr um Wahrheit gehe. Aber sie kann einfach nicht schweigen. Bei einem solchen angeblichen Wahrheitsbedürfnis hält man eine Sache für wichtiger als die Menschen, die es betrifft. Da glaubt man, alles sagen zu dürfen, solange es nur wahr ist, einerlei, ob Menschen dabei verletzt werden oder nicht. Unser Ephesertext zeigt aber, daß die Güte (Liebe) ein Maßstab für die Wahrheit ist. Und Gottes Gerechtigkeit, sein Kreuz, offenbart zugleich seine totale Hingabe, seine Liebe zu uns, und die Wahrheit unseres Verlorenseins als Gottesmörder, denn wir haben ihn gekreuzigt und tun das täglich, indem wir an ihm vorbeileben. Wer dann um der Wahrheit willen bedenkenlos verletzt, zeigt wenig Güte für andere und damit wenig Liebe. Darum sollen wir zwar mit unserem Nächsten offen umgehen, aber wir sollen uns dabei von der Liebe leiten lassen, damit wir die Wahrheit zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Weise sagen können, so daß sie zum Ausdruck unserer Güte und Liebe wird. Damit ist nicht gemeint, daß wir diplomatisch vorgehen sollen. Diplomatie ist oft versteckter Egoismus. Hier geht es darum, daß selbst unser Wahrheitsempfinden von der Liebe Christi, seiner Gütigkeit geleitet werden muß: »Ich sage etwas für dich Wichtiges, nicht weil ich dich verletzen will oder weil ich ehrlich sein will, sondern weil ich weiß, daß es für dich von Bedeutung ist, die Wahrheit zu wissen.«
Wer die Wahrheit sucht aus der Güte des Herrn, wird auch einen Weg finden, daß diese Wahrheit klar zum Ausdruck gebracht werden kann, ohne daß sie verletzt. In der Wahrheit bleiben, bedeutet, nahe bei Jesus sein, aus seiner Gerechtigkeit (Kreuz) leben; auch Güte auszuüben, bedeutet, nahe bei Jesus sein, aus der Kraft seiner Gerechtigkeit und Liebe (das Kreuz) zu leben. Wahrheit und Gütigkeit gehören eng zusammen, beide als Ausdruck des wahren Lichtes der Welt: Christus, der Gekreuzigte, der selbst die Gerechtigkeit ist.
Aber unser Text enthält auch eine Warnung: » . . . denn ihr waret vormals Finsternis.« Das bedeutet doch, wir können nochmals Finsternis werden: » . . . und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, sondern strafet sie vielmehr. Denn was heimlich von ihnen geschieht, das ist schändlich nur zu sagen. Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht gestraft wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.«
Dies ist ein Bündel von Wahrheiten, die letzten Endes alle das gleiche betreffen: Auch wenn wir jetzt Kinder des Lichts in Christus sind und dies bezeugen aus seiner Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit, gibt es trotzdem immer noch Gefahren für uns.
Wir können dem Schlafgeist verfallen wie Petrus, Johannes und Jakobus im Garten Gethsemane. Auch Menschen, welche zu Christus gerufen worden waren, haben diesen Schlafgeist erlebt und sind wieder im Geist des Todes, sind wieder in Gottes-, in Christusferne geraten. Das gilt als Warnung für alle, die glauben, daß ihnen nichts geschehen könne und die deshalb nicht mehr eifernd in ihrem Glauben leben. Und diese Gefahr besteht nicht nur für uns, sondern selbstverständlich auch für unseren Nächsten. Hier redet Paulus sehr deutlich vom Gericht, von Gottes »Ans-Licht-bringen«, aber auch von unserer Haltung der Gottlosigkeit gegenüber: »Und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, strafet sie vielmehr . . . Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht gestraft wird.«
Wir sollen, wir müssen deutlich persönlichen Abstand vom Bösen nehmen (und heutzutage, in der Endzeit, ist das nicht so einfach), aber wir müssen auch diese bösen Werke und Wege strafen, und zwar aus Güte, in der Gerechtigkeit (im vergebenden Kreuz Christi), um der Wahrheit willen. Der Herr will viel lieber Barmherzigkeit erzeigen als Gericht, und er ruft uns, klare Worte zu sprechen, wo Sünde entsteht, damit die Sünder jetzt durch das Wort Christi gerichtet werden und damit nicht in das Endgericht kommen.
»Wandelt wie die Kinder des Lichtes – die Frucht des Lichtes ist lauter Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit – , und prüfet, was da sei wohlgefällig dem Herrn.«
Wer bin ich?
Ich habe in meinem Leben eine erschreckende Erfahrung gemacht, die wohl jeder Mensch irgendwann einmal macht. David Jaffin war in dem Ort, wo er als Schüler heranwuchs, bekannt als Dummkopf. Meine Lehrer haben lange von mir gesagt, daß ich weder im Lesen noch im Schreiben etwas tauge, nur ein sehr guter Sportler sei; vielleicht wird er da einmal Profi sein. Im Alter von acht Jahren habe ich Baseball gespielt, wie immer. Ich habe nie meine Hausaufgaben gemacht, nur den ganzen Nachmittag Baseball gespielt oder Fußball. Einmal kam ich in mein Zimmer und trat vor den Spiegel. Plötzlich stellte ich zum ersten Mal in meinem Leben die zentralste aller Fragen: Was siehst du in diesem Spiegel?
Am Abend vorher hatte ich in einem Gespräch mitbekommen, daß jemand aus meiner Familie gestorben war. Er stand mir nicht besonders nahe, aber es hatte mich doch ein wenig bewegt. Während ich nun meine Hände wusch, war mein Kopf noch ganz und gar beim Sport. Da überraschte mich mein Spiegelbild, und ich fragte mich: »David, wie schaust du aus, wenn du tot bist?« Innerlich wehrte ich ab: Dann gibt es weder ein Spiegelbild noch meine eigene Person. Dann aber bohrte der »Dummkopf« mit acht Jahren tiefer und fragte weiter: »Zeigt dein Spiegelbild DICH?« Und meine Antwort war richtig: Nein, das bist du nicht; das ist die Art, wie du zurückschaust auf dich, verstellt, physisch verstellt; das ist ein Kuckucksspiel, was du da machst; das bist du nicht.
Die Frage »Wer bin ich?« ist für mich eine zentrale Frage gewesen auf meinem Weg zu Gott. Auch in meinen lyrischen Büchern, wie in meinen Predigten spielt die Frage eine zentrale Rolle: »Wer bist du eigentlich?«
Ich fange jedes Jahr den Konfirmandenunterricht mit dieser Frage an: »Wenn ich euch nach Hause schicke mit einer Hausaufgabe, herauszufinden, wer ihr seid, wie werdet ihr mit diesem Problem umgehen?« Lachend kommen gleich Antworten: »Ich heiße Sabine« oder »Ich heiße Heinrich« . . . Aber das lasse ich nicht gelten, sondern ich fordere sie auf: »Denkt einmal an Briefe, die ihr vor drei Jahren geschrieben habt. Bist du die gleiche Person wie damals? Würdest du heute sagen: So bin ich – oder: So war ich?« Im Alter von 14 Jahren wagt keiner zu behaupten: So bin ich. »So war ich«, sagen sie alle. Und dann werden sie plötzlich ernst. Das ist die zentralste aller Fragen, zentraler als die Frage, ob es Gott gibt. Denn, wenn ich nicht weiß, wer ich bin, hat keine Aussage über Gott einen Sinn. Jede Aussage, die wir machen – Ich glaube…, Ich denke… – setzt eine Kenntnis meiner eigenen Person voraus. Und gerade das ist das Problem heute. Das ist die Frage hinter jeder Glaubensaussage und ebenso hinter jeder Aussage, die Gott verneint – Wer bin ich? Ganz bewußt frage ich meine Konfirmanden: Wie geht ihr mit diesem Problem um?
Wir wollen jetzt verschiedene Möglichkeiten überdenken. Ich bin überzeugt, daß jeder Mensch, der sagt, daß es keinen Gott gibt, sich von vorneherein selbst täuscht, weil niemand das sagen kann, ohne zu wissen, wer er ist. Ohne an Gott zu glauben, kann er nicht wissen, wer er ist. Darum täuscht sich jeder, der behauptet: »Es gibt keinen Gott«, weil niemand weiß, wer er selbst ist, ohne Gott. Darum ist der Atheismus logischerweise total unmöglich. Ohne Gott können wir nicht wissen, wer wir sind. Wer bin ich? Bin ich die gleiche Person, die ich vor fünf oder zehn Jahren war? Ändere ich mich durch die Jahre? Wie kann ich feststellen, wer ich wirklich bin? Ich frage das meine Konfirmanden, und die sagen: »Ja, probieren wir es bei unseren Eltern.« Wie viele Aussagen können sie über ihre Kinder machen, und wo ist die Grenze ihrer Kenntnis? Eltern kennen ihre Kinder ein paar Jahre ihres Lebens besser als jede andere Person. Sie kennen den Anfang der Kindheit, bis wir uns bewußtwerden über uns selbst, bis wir das Wort »Ich« aussprechen, meistens mit etwa drei Jahren. Über die ersten drei, vier Jahre unseres Lebens können unsere Eltern viele tiefe Aussagen machen über uns. Je älter wir werden, desto weniger gültig sind die Aussagen der Eltern über uns . Ich würde nie behaupten, daß meine Eltern jetzt noch eine gültige Aussage über mich machen können. Ich sehe meine Eltern höchstens zweimal im Jahr. Sie kennen meine Entwicklung viel zu wenig, und je älter ich werde, desto weniger kennen sie mich. Das ist die erste Grenze meiner Eltern.
Wo liegt noch eine Grenze für Aussagen meiner Eltern über mich, ob ich ein kleines Kind bin oder ein Erwachsener? Sehen meine Eltern mich mit besonderen oder mit objektiven Augen? Ja, mit besonderen: Das ist mein Sohn. Unser vierjähriger Sohn war damals sehr beeindruckt von einem jungen Mann, der mit 20 Jahren jeden Monat ein anderes Auto hatte. Ihm war noch nicht bewußt, daß dieser junge Mann eine sehr schwache Mutter hatte, die ihm ständig Geld auslieh, und so hat er sehr mit seinen Autos angegeben. Schließlich ist seine Mutter in totaler Armut gestorben, und er landete im Gefängnis. Diese Mutter hatte immer gesagt: »Aber mein Peter, der hat ein so goldenes Herz.« Wir haben diesen Peter ganz anders gesehen – vielleicht hatte unser Sohn ihn auch positiv gesehen, wohl nicht gerade mit »goldenem Herz«, aber er mag gedacht haben: Der hat aber ein goldenes Bankkonto!
Eltern haben einen »besonderen« Blick für ihre Kinder, und das bedeutet: Sie sehen sie nicht wie »Außenstehende«. Emotionen spielen da stark mit hinein und verwischen die Wirklichkeit. Da liegen von vornherein Grenzen der Kenntnis unserer Eltern. Spätestens in der Pubertät fangen die Kinder an, ihren Eltern nicht mehr alles zu sagen. Und wenn sie nicht alles sagen, kann man nicht alles wissen. Da entstehen gewisse Geheimnisse zwischen Kindern und Eltern. Je älter das Kind wird, desto weniger werden die Eltern ihr Kind kennen und verstehen. Darum hat eine elter liche Aussage über ihr Kind letzten Endes keine Gültigkeit. Und wenn sie etwas aussagen, ist das mehr privater, persönlicher Natur, sicher von Liebe geformt, aber mit rosiger Brille gesehen: »Wenn ihr nur wüßtet, was für ein goldenes Herz mein Peter hat!«
Wir probieren es weiter bei den Freunden. Was können Freunde, jüngere oder ältere, über uns aussagen? Freunde verbinden gleiche Interessen, Vertrauen, vielleicht ähnliches Temperament oder ähnliches Verständnis. Einen zum Freund zu nehmen, da wird eine besondere Wahl getroffen. Ich fühle mich von seiner Wesensart angezogen; ich mache so vorab schon eine positive Aussage – ein anderer könnte dieselbe Person negativ sehen. Gewiß, ein Freund kann manchmal auch kritische Äußerungen machen. Aber normalerweise vergibt er recht schnell, er toleriert meine paar Schwächen hier oder da, während schon gemeinsame Interessen unserer Persönlichkeit zur Freundschaft führen.
Freundschaft lebt von vornherein von und mit positiven Vorurteilen. In ihr fehlt der objektive Blick füreinander. Kann ein Freund uns so gut kennen wie unsere Eltern? In mancher Hinsicht ja und in mancher Hinsicht nein. Es kommt auch darauf an, in welcher Lebensphase wir uns befinden. Dauerhafte Freundschaften sind selten. In der Regel fängt man erst später an, echte Freunde zu gewinnen. Deshalb kann ein noch so guter Freund uns nicht in unserer ganzen Entwicklung kennen. Ein Freund hat immer nur einen begrenzten Überblick über unsere ganze Geschichte. Ich habe erst seit anderthalb Jahren einen neuen Freund gefunden, einen sehr guten Freund. Ich kann ihm über meine Kindheit erzählen, von meinen Interessen usw., aber er hat das von mir und nicht von sich. Seine Kenntnisse sind begrenzt. Wenn ich einmal nach Amerika in Ferien gehe zu meinen alten Freunden, kennen die mich zwar aus meiner Kindheit, aber sie wissen nicht, wie es jetzt um mich steht. Freunde haben immer geschichtliche Lücken, einen begrenzten Einblick, weil sie Freunde sind. Darum können sie keine gültigen Aussagen darüber machen, wer ich bin.
Vielleicht wäre es klug, unsere Feinde zu fragen. Da würden wir interessante Sachen hören. Wir gehen zu jemand, der uns nicht mag und fragen: »Warum magst du mich nicht?« Trotz all des Negativen, was er über uns sagt – vielleicht sogar berechtigt – , wird er uns auf die Dauer tief kennen? Wenn ich eine Abneigung gegen jemand habe, ist es dann gerade diese Person, zu der ich immer wieder hingehe, mit der ich viel Zeit verbringe? Nein, man meidet dann doch einander. Ein Feind kann sicher eine sehr kluge Aussage über uns machen, viel leicht ist es auch ein verzerrtes Bild unserer Schwäche oder ein überbetontes Bild von dem, was er an uns nicht ertragen kann. Aber es ist immer eine sehr begrenzte Aussage, letzten Endes noch begrenzter als die unserer Freunde.
Wer aber kennt uns denn am besten?
Wir möchten sagen: Gott. Sicher – aber ich möchte mich in der allerzentralsten Frage »Mensch, wer bist du?« wiederholen: Wer sagt, daß es keinen Gott gibt, täuscht sich selbst, denn er kann nicht wissen, wer er ist, wenn es keinen Gott gibt. Wer sagt: »Ich glaube nicht an Gott«, täuscht sich, denn er setzt voraus, daß er weiß, wer er selbst ist. Wenn es aber keinen Gott gibt, kann er nicht wissen, wer er selbst ist. Darum hat diese Aussage überhaupt keine Gültigkeit. Ich muß wissen, wer ich bin, wenn überhaupt eine Aussage über mich einen Sinn haben soll, auch die Aussage von mir, wenn ich sage: »Es gibt Gott, ich glaube an Gott« oder »Ich glaube nicht an Gott.«
Kommen wir zurück zu meinem Spiegelbild. Ich behaupte, das ist das erschreckendste Bild, das einen Menschen treffen kann. Ich habe mindestens 40 Gedichte über das Thema »Spiegelbild« geschrieben und was es bedeutet. Es ist ein zentrales Bild in der Literatur und geht auch zurück zur Bibel. Wenn wir versuchen, uns ein Bild von uns selbst zu machen, wenn wir sehen wollen, wie wir körperlich ausschauen – können wir das mit eigenen Augen direkt sehen? Ich kann machen, was ich will – ich sehe mein eigenes Gesicht mit meinen Augen nie direkt. Merkwürdig, wie Gott uns erschaffen hat! Wir blicken alle hinaus, weg von uns, aber nicht in uns. Ich komme zu einem Spiegel und versuche, mich zu sehen. Nur in einem Spiegelbild kann man versuchen, sich zu finden. Es gibt eine lustige Geschichte in Aesops Fabeln über einen Hund, der mit einem großen Knochen in seiner Schnauze über eine Brücke läuft. Da sieht er im Spiegelbild im Wasser einen Hund mit einem Knochen, von dem er wähnt, dieser sei noch größer als sein Knochen. Gierig schaut er diesen Knochen an und will ihn haben; er macht seine Schnauze auf, sein Knochen fällt ins Wasser, und er hat nun keinen Knochen mehr. So geht es mit verzerrten Spiegelbildern – auch bei uns Menschen.
In unserem Spiegelbild wollen wir herausfinden, wer und wie wir physisch sind. Was für ein Bild sehen wir im Spiegel? Zeigt er, wie wir sind? Nein, wir sehen, wie wir sein wollen. Es ist ein Trugbild von uns selbst. Beobachten wir einmal, wie Mädchen, auch Jungs, in den Spiegel schauen, mit welcher Erwartung. Es gibt ein berühmtes Bild von Titian von einer sehr schönen Frau, die sich im Spiegel anschaut und sich als Königin der ganzen Welt fühlt; Eitelkeit beherrscht sie. Niemand tritt vor den Spiegel ohne eine vorgefaßte Vorstellung von dem, was er sehen will. Ein Kranker möchte gerne wieder frischrote Wangen sehen. Vielleicht reibt und klopft er sie vorher ein bißchen, um feststellen zu können: Die Gesundheit kommt. Niemand würde sich an einem mißmutigen Spiegelbild erfreuen. Jeder kommt zum Spiegel, um etwas Erfreuliches zu finden. Darum: Können wir im Spiegelbild die Wirklichkeit erwarten? Hinzu kommt, daß wir unser eigenes Gesicht spiegelverkehrt, seitenverkehrt sehen. Ich kann mich nicht mit meinen Augen richtig sehen. Es gibt Momente im Leben, in denen kann man sich selbst sehen durch die Augen von anderen. Wenn ich beispielsweise etwas wissen will über eine andere Per son, die ich selbst jedoch nicht kenne, und zu jemand komme, der sie sehr gut kennt, und dieser versucht mir zu erklären, wie diese Person ist, dann fängt er beim Beschreiben an, unbewußt, die Gesichtszüge dieser Person anzunehmen. Ich habe das seit langem beobachtet. Wir Menschen sind geborene Schauspieler. Wenn ich etwas wissen will über jemand, den ich nicht kenne, und ich rede mit einem guten Freund von ihm, dann erzählt dieser nicht nur mit seinem Mund, sondern mit seinem ganzen Gesicht. Ich kann mich selbst auch sehen in den Augen anderer: Ich sehe einen Blick, aber das ist ein Spiegelbild von mir. Manchmal erfahren wir durch den Blick von anderen etwas über uns.
Einmal ging ich zum Beispiel zum Friseur, ich war 17 Jahre alt; wie immer hatte ich ein Buch in der Hand. Der Friseur hat an mir gearbeitet, und ich habe in meinem Buch gelesen. Der Friseur hat mir so einen kurzen amerikanischen Schnitt gemacht, sehr kurz. Er guckte mich an, er war nicht glücklich, daß ich immer in mein Buch schaute, er sah nicht gerne Leute, die immer lesen. Und er hat gefragt, mit seinem Spiegel: »Wie schaut das jetzt aus?« Ich habe gesagt: »Noch ein bißchen kürzer« – ich war mitten in einem Kapitel und wollte das zu Ende lesen. So habe ich gar nicht bemerkt, daß er einen Rasierapparat nahm – ein ganz böser Mann war das, ich werde ihn nie vergessen – , er nahm einen Rasierapparat und fing an, meinen ganzen Kopf zu rasieren. Als er den ersten Teil gemacht hatte, mußte dann alles gemacht werden. Ich ging zu meinem besten Freund, ich läutete bei ihm, die Mutter machte auf und schaute – und in ihrem Gesicht habe ich mich selbst sehr deutlich gesehen. Sie hatte einen entsetzten Blick, dann fing sie an zu lachen. Ich habe in ihrem Gesicht gesehen, was mit mir los war, daß ich lächerlich ausschaute.
Kommen wir aber zurück zu unserem eigenen Spiegelbild: Von vornherein ist es verzerrt, physisch umgedreht, seitenverkehrt – aber es ist auch geistig verdreht. Denn wir treten vor den Spiegel, um ein vorgefaßtes Bild von uns zu sehen: Ich schaue stark aus, ich schaue hübsch aus, ich schaue klug aus, ich schaue interessiert aus . . . Das ist alles vorbereitet. Es gibt nur wenige Menschen, die zum Spiegel treten, um Wahrheit zu finden. Der große englische Dichter, T.S. Eliot, der sich vom Atheismus zu Christus bekehrte, ein sehr tiefsinniger Christ, sagte: »Der Mensch kann wenig Wahrheit ertragen.« Sicherlich ein wahres Wort. Eliot beschäftigte sich auch mit dem Problem, wie wir wirklich sind. Ein Vorbild ist auch der Mann, der sein Leben lang mit dieser Frage beschäftigt war; er war der größte aller christlichen Maler, der noch im Alter in ein Judenviertel umsiedelte, um Charakterköpfe für seine Evangeliumsbilder zu finden – Rembrandt. Er war ein tiefsinniger, ehrlicher Mann und wollte wirklich herausfinden: »Wer bin ich?«
Rembrandt hat sein Leben lang auch immer wieder sich selbst gemalt – zuerst als ein Genie, der sich mit einem Turban kleidet; auch seinen Vater hat er so angezogen, um exotisch auszusehen. Aber je älter er wurde, desto tiefer dringen seine Bilder in die Wahrheit ein. In seinen dreißiger Jahren stellte er sich als berühmter Mann dar. Man sieht es an seinem Gesichtsausdruck, an der Art, wie er angezogen ist: Dieser Mann ist reich, angesehen, brillant und anerkannt. In seinen vierziger Jahren verstand niemand mehr sein Genie, und er lebte in Armut und malt sich als einen Mann, der versucht, die inneren Gesichtszüge herauszuarbeiten, und das dauerte bis zu seinem Tod im Jahr 1669. In seinen späten Werken entdeckt man manchmal die tiefste Traurigkeit in seinem Gesicht geschrieben, die tiefste Fragestellung: »Mensch, wer bist du eigentlich?«
Warum malt Rembrandt immer wieder sich selbst, obwohl er doch der gleiche Rembrandt blieb? Warum malt ein Mann, wahrscheinlich der größte aller Maler, sich ständig selbst? Weil er weiß: Ich bin anders geworden.
Dieses Beispiel Rembrandts zeigt, wie tief diese Frage geht: Wer bin ich eigentlich?
Es gibt Menschen, die im Krieg Verbrechen begangen haben, die nicht fähig gewesen wären, das an ihrem Heimatort zu tun. Plötzlich befinden sie sich in einer anderen Lage und erschießen Frauen und Kinder. Und dann sagen sie nachher: »Das war ich nicht; so bin ich nicht; ich bin ein anständiger Bäcker- oder Metzgermeister in meinem Ort; ich habe nie in meinem Leben so etwas getan; das war jemand anderes; ich tue so etwas nicht.«
Sie erschrecken, daß sie plötzlich zu einem Mörder geworden sind. Wohl jeder von uns kann, wenn er ehrlich ist, von sich Dinge erleben, wozu er dann sagt: Bin ich wirklich so? Warum habe ich so reagiert? Plötzlich gibt es riesige Bemühungen, sich selbst zu bedecken, sich vor sich selbst zu verstecken. Die Novelle »Kleider machen Leute« erzählt das humorvoll auf ihre Art. Oder die Bemühung am Samstag, möglichst vor den Nachbarn alles sauber zu machen – auch ein Versuch, sich vor Menschen zu bedecken. Aber vor wem haben wir die größte Angst, erkannt zu werden? Nicht vor unseren Nachbarn, aber vor unserem eigenen Blick. Das ist das interessante an unserem Menschsein, daß unsere größte Angst die Angst vor uns selbst ist. Und die tiefste Angst vor uns selbst ist die Todesangst: Mensch, merke, daß du sterblich bist. Das wollen wir gar nicht sehen. Das war mein Spiegelbild, in das ich mit acht Jahren schaute: »Wie ist das, wenn du tot bist?« Wir haben Angst, vor unserem eigenen Blick entblößt zu werden. Der Psychoanalytiker Freud behauptete, alle Angstträume seien mit sexuellem Hintergrund. Das ist aber eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise. Im letzten ist jeder Angsttraum ein Todestraum. Das hat Tolstoi gewußt; und diese Erkenntnis geht viel tiefer. Jeder Traum, in dem wir entblößt werden und nicht weitermachen können, ist eine Angst vor der wahren Impotenz, der Impotenz gegenüber dem Tod, dem wir rettungslos ausgeliefert sind.
Was ist der Angsttraum eines Pfarrers? In meinem größten Angsttraum ziehe ich mich an, gehe zur Kirche und sehe die vielen erwartungsvollen Leute, die schon draußen warten, Hunderte, Tausende; ich verstehe nicht, warum so viele Leute gekommen sind und mich grüßen. Ich gehe hinein und komme auf die Kanzel, und was habe ich nicht dabei – meine Predigt! Ich bin wie entblößt. Die Leute kommen doch nicht, um mich zu sehen, sondern um Gottes Wort zu hören. Und da komme ich auf die Kanzel, ich schlage die Bibel auf – und meine Predigt ist nicht da! Ähnlich hat das auch einmal ein berühmter Opernsänger beschrieben: Er geht im Traum auf die Bühne in New York oder in der »Scala« in Mailand, Tausende von Leuten sind da; er fängt an zu singen und merkt, daß die anderen Darsteller etwas ganz anderes singen; er hat sich auf die falsche Oper eingestellt. Da ist man wie total entblößt.
Solche uns lustig anmutenden Träume sind letzten Endes Überlagerungen für Todesangst. Denn wo sind wir total entblößt? Wo haben wir kein Wort mehr parat? Genau im Tod sind wir sprachlos und hilflos.
Der wahre und tiefste Sinn des Spiegelbildes bei der Suche danach, wer wir sind, ist, daß der Spiegel letzten Endes nur ein kaltes, totes Bild von uns widerspiegelt. Das Erschreckende an dem Spiegelbild ist für uns, daß wir uns da als ein toter Mensch sehen, wir sind vor uns wie entblößt, ohne Ausweg. Das Spiegelbild täuscht.
Aber kommen wir zu unseren geistigen Aussagen über uns.
Was kann ich wissen über mich, was kein anderer Mensch weiß, was weder meine Eltern wissen noch meine besten Freunde noch meine schlimmsten Feinde? Kann ich wissen, was in meinem Herzen ist? Nur Gott weiß das besser als ich. Aber ich kann auch wissen, was in meinem Kopf ist. Wie viele Leute gehen auf die Straße und treffen einen Feind, grüßen ihn mit einem freundlichen Blick, denken im Herzen aber Böses über ihn. Man überdeckt diese Ungereimtheit gerne vor sich selbst. Es ist nicht leicht, mit sich selbst ehrlich umzugehen. Wenige Menschen tun das. Die meisten sind damit beschäftigt, den anderen zu täuschen, und damit täuschen sie sich selbst und verlieren das Bewußtsein dafür, wer sie selbst tatsächlich sind. Das ist auch typisch für die großen Diktatoren, daß sie ihre eigene Propaganda glauben, mit der sie eigentlich nur andere Leute überzeugen wollen. So haben Napoleon, Hitler, Stalin und alle anderen sich so viel Mühe gemacht, die Menschen zu täuschen, daß sie sich auch selbst durch ihre Propaganda getäuscht haben. Die meisten Menschen können nur wenig Wahrheit ertragen. Aber ihr Täuschungsbild anderen gegenüber führt letzten Endes zu einer grundsätzlichen Selbsttäuschung.
Aber ein Mann wie Rembrandt, der wirklich scharfsinnig erleben will, wie er ist, weiß, was in seinem Herzen ist, er weiß, was in seinem Verstand ist. Er hat eine historische Kenntnis von sich wie kein anderer. Es gibt diese berühmte Geschichte von Chamisso von einem Mann, der seinen Schatten verkaufen will. Können wir unseren Schatten verkaufen? Wir können nicht weg von uns selbst. Unser Schatten ist ein Bestandteil von uns selbst. Wir können keine Ferien von uns machen. Wir können zwar Ferien von unserer Arbeit machen oder gar einmal ohne Familie in Erholung fahren – aber wir können keine Ferien von uns selbst machen. Wir leben mit uns selbst, so gut und so schlecht es geht. Irgendwie müssen wir mit uns selbst auskommen. Aber was sind die Grenzen unserer Selbstkenntnis?
Suchen wir mit Rembrandt wirklich ernst und ehrlich die Grenzen unserer eigenen Aussagen über uns selbst? Mit welchen Augen sehen wir uns selbst? Mit unseren eigenen Augen. Und wer ist der allererste, der uns vergeben wird? Wir selbst – noch viel schneller als unsere Eltern. Mein Sohn vergibt sich, wenn er eine schlechte Note aus der Schule nach Hause bringt, noch bevor ich ihm vergebe. Das ist der erste Schritt: sich selbst vergeben. Und das tun wir auch am allerschnellsten. So sind wir Menschen. Wir sagen uns: »Ich habe doch ein gutes Herz; natürlich, ich mache auch manchmal Fehler, aber die anderen machen noch schlimmere Fehler.« Und damit hat man sich rasch vergeben. Wir sehen uns mit unseren Augen. Unsere Augen wollen sagen: Mensch, du bist die wichtigste Person der Welt. Aber so zu denken, ist Erbsünde, und wir leben alle in Erbsünde. U m diese Realität sich bewußt zu machen, sollte man einmal ehrlich Antwort auf die Frage geben: »Wenn du jemand anderes sein könntest – nicht nur nach Eigenschaften, Aussehen, sportlichen Fähigkeiten oder Intelligenz, sondern die ganze Person eines anderen übernehmen – , würdest du das tun?« Beim Überlegen gilt nur absolute Ehrlichkeit! Denn unser Glaube ist ein Aufruf zur Ehrlichkeit. Wir kommen nämlich zur schwierigsten Frage überhaupt: Sind wir bereit, den Balken aus unserem eigenen Auge entfernen zu lassen? Wer wollen wir am allerliebsten sein? Diese Frage ist sehr gefährlich! Denn wer wirklich lieber ein anderer Mensch sein würde, ist in seinem Selbst gefährdet.
Warum wollen sehr wenige Leute ganz und gar ein anderer Mensch sein? Jeder liebt sich selbst. Ich gebe zu: Es gibt Leute, die klüger sind oder feiner oder hübscher oder sportlicher – aber ich bin ich. Wir leben in uns, und wir leben für uns. Und darum vergeben wir uns auch am allerschnellsten, und wir lieben uns mehr als jeden anderen. Nur manchmal, in der Liebe, welche Christus ist, überwinden wir unsere Eigenliebe und lieben wirklich unseren Ehegatten oder jemand anderes mehr als uns selbst. Das sind seltene Momente, seltene Durchbrüche tiefsten Glaubens. Aber im allgemeinen lieben wir uns am allermeisten. Können wir aber darum ein Urteil geben über uns, ein objektives Urteil? Das ist total unmöglich.
Stellen wir die Frage:
Kann ein Psychologe eine gültige Aussage machen über einen von uns? Schwierig ist das schon deshalb, weil es viele verschie dene Schulen der Psychologie gibt, die sich oft widersprechen, weil jeder den anderen aus anderem Blickwinkel sieht. Jede Psychologie ist zeitgebunden, personengebunden, erziehungsgebunden. Aber gehen wir noch tiefer: Warum kann kein Psychologe, auch der klügste, letzten Endes keine Ahnung haben, wer wir sind? Was braucht man, um im tiefsten einen Menschen zu verstehen? Objektivität oder Liebe? Was braucht man am allermeisten, um einen anderen Menschen zu verstehen? Nehmen wir uns selbst als diesen anderen Menschen. Hätten wir gerne, daß jemand kalt und mit Abstand uns gegenübersteht und über uns urteilen will, wie wir sind? Oder würden wir lieber beurteilt werden von jemand, der uns total liebt? Jemand, der uns wirklich liebt, versteht uns doch viel besser. Hier kommen wir zum Grundrätsel des Problems Selbstverständnis.
Um richtig verstanden zu werden, wer ich bin, muß ich eine Objektivität haben, damit ich mein Bild nicht verzerre durch rasches Vergeben. Ich muß totale Objektivität haben, indem ich aus Abstand heraus urteilen kann, ohne von jemand anders beeinflußt zu werden. Gleichzeitig muß ich totale Liebe haben, totale Liebe zu dem anderen, daß ich von Herzen und (bis) ins Herz diese Person ganz und gar bejahen kann. Wenn man als Historiker eine Biographie schreibt, und man versucht, allein mit Abstand zu schreiben, wird man ein drittrangiger Historiker. Die großen Historiker schreiben aus Liebe, ob sie das wissen oder nicht. Sie identifizieren sich mit Bismarck oder Friedrich dem Großen so völlig, daß sie versuchen, in seiner Haut zu stecken. Nur dann können sie ihn richtig verstehen. Aber in dem Moment, wenn sie das tun, verlieren sie die Objektivität. Darum, um richtig verstanden zu werden, muß jemand da sein von unserer Geburt an, mindestens mit der Kenntnis, die unsere Eltern von uns haben, der Kenntnis unserer ersten vier Lebensjahre, die wir selbst nicht haben. Wir müßten jemanden finden, der uns sogar von unserer Zeugung an kennt und versteht. Diese Person muß einen totalen historischen Überblick haben bis zu unserem Sterben. Sie muß eine Objektivität uns gegenüber haben, die sich nicht blenden läßt durch unsere Täuschungsmanöver, durch unsere schöne saubere Weste, sondern die direkt in unser Herz sehen kann und sagt: »Ich weiß, was in deinem Herzen ist, und ich sehe die Dunkelheit deines Herzens.«
Gleichzeitig muß diese Person totale Liebe zu uns haben, totales Mitgefühl, so daß wir sagen können: Diese Person liebt mich noch mehr, als ich mich je selbst lieben könnte. Der einzige Weg, sich ein Bild von sich selbst machen zu können, zu wissen, wer ich bin, ist durch Gott.
Ohne Gott kann man kein Bild von sich selbst haben, und ohne Gott kann niemand existieren. (Ich meine nicht: physisch existieren; ich meine: als Person existieren.) Wenn es keinen Gott gibt, dann existiert kein Mensch in diesem Sinne. Das ist die radikalste, aber direkteste Aussage. Keiner von uns existiert als Person, wenn es Gott nicht gibt. Und ich meine das nicht in der Art, daß wir Gottes Geschöpf sind. Ich meine das viel tiefer. Kein Mensch kann wissen, wer er ist, ohne Gott, ohne Jesus Christus, der Gottes totale Liebe ist; ohne Gott, ohne Jesus Christus, der total Richter ist, zu dem wir am Ende der Tage kommen werden. Wer zu mir sagt: »Ich glaube nicht, daß es einen Gott gibt«, dem antworte ich dann: »Du existierst nicht; denn wenn es keinen Gott gibt, dann kannst du nicht existieren, weil du keine Aussage über dich selbst machen kannst. Jede Aussage, die du machst, ist nur ein verblendetes Bild deines Egoismus und deiner eigenen Wunschträume, so verblendet wie das Bild des Teenager-Mädchens, das in den Spiegel schaut und sieht, was es sehen will.« Die zentrale Frage für uns ist nicht die Frage nach Gott. Das ist sicher die wichtigste Frage, aber die zentrale Frage ist: Wer bin ich? Denn das muß ich wissen, bevor ich eine Aussage über Gott machen kann.
Jesus sagt in Jesaja 43 durch den Propheten: »Fürchte dich nicht, ich kenne dich, ich habe dich erschaffen, du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich kenne deine Persönlichkeit, wie du bist, und du gehörst mir.« Das ist eine total allumfassende Aussage über mich. Nur er sieht in unsere Herzen. Nur er weiß, wie es wirklich um uns steht. Nur er sieht uns mit totaler Objektivität und mit totaler Liebe.
Und 1. Korinther 13 ist ein sehr, sehr tiefer biblischer Text, in dem gerade dieses Spiegelbild eine so zentrale Aussage hat. Dieser Text ist zentral für alle möglichen Bereiche – was Liebe ist, was Erkenntnis ist, was ich bin:
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht (Jesus Christus nicht), so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig, freundlich …
Und dann:
Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene (das ist das Reich Gottes und das Gericht vor Gott), so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild (das ist das Schöpferwort Gottes, das Fleisch hier, unser verzerrtes Bild von uns und von Gott), dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.
Das ist der Moment, in dem wir wissen, wer wir sind, wenn wir vor unserem Herrn stehen, der alle unsere Gedanken und Wege erkennt und erforscht, der uns persönlich erschaffen hat, der unser Richter ist und der unser tiefster Liebhaber ist. Genau dann werden wir wissen, wer wir sind. Wenn es aber keinen Gott gibt, dann werden wir nie wissen, wer wir sind, und existieren dann nicht. Wir wissen aber als Christen, in der Liebe Christi, daß er uns kennt und daß unsere Person ihm allein gehört. Und darum können wir über unser Ich eine Aussage machen, auch wenn dieses Ich noch nicht ganz und gar erkannt ist in der vollen Tiefe, weil wir wissen, daß es erst in dem Herrn ganz und gar erkannt ist. Das ist das Zentrale. Das ist der Grund, warum ein glaubender Mensch die Wahrheit leben und erkennen kann, weil die Wahrheit allein Jesus Christus ist, der Richter und der Liebende, unser Schöpfer und auch unser Erlöser, der uns so gemacht hat, wie wir sind. Er, und er allein.
Gottes Geist – unsere bestimmende Kraft
So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, daß wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! (Römer 8,12-15)
Wie sollen wir »durch den Geist des Fleisches Geschäfte töten, damit wir leben können«? Das scheint für mich das Zentrum unseres Textes. Jeder einzelne von uns dient nicht nur dem Geist, sondern auch dem Fleisch. Wenn unser Körper müde ist, wollen wir schlafen. Wenn wir Hunger haben, wollen wir essen. Auch unsere sexuellen Begierden wollen befriedigt werden; dies sollte jedoch innerhalb des Rahmens geschehen, welchen der Herr uns gegeben hat, nämlich nur innerhalb des Rahmens der Ehe. Sind wir nicht alle abhängig von unserem Fleisch, was unser fleischliches Wohlbefinden betrifft? Können wir den Ruf des Fleisches töten? Selbstverständlich nicht. Das wäre auch unbiblisch und ganz und gar nicht im Sinne von Paulus. Die Bibel betont immer wieder neu, daß der Herr uns Leib, Geist und Seele gegeben hat, und daß diese voneinander nicht zu trennen sind. Alles, was er schuf, war gut, und er schuf uns mit unserem Leib, auch mit dem Verlangen des Leibes. Das zu verneinen, würde bedeuten, uns selbst zu verneinen und damit letzten Endes unseren Schöpfer.
Paulus aber sagt: »Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet.«
»Knecht« kann hier eine zweifache Bedeutung haben: daß wir »Knechte des Fleisches« sind oder/und daß wir in unserem Versuch, das Fleischliche in uns zu überwinden, in den knechtischen Geschäften der Werkgerechtigkeit, unseres Tuns gegen den Geist, steckenbleiben.
Wie gehen wir vor gegen diese doppelte Gefahr des Geknechtetseins vom Fleisch und des Geknechtetseins von unserer Werkgerechtigkeit, gegen unseren Versuch, die Fleischestriebe selbst zu töten? Die Antwort auf dieses doppelte Problem ist die gleiche: »Ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind.«
Das bedeutet erstens: Das Geknechtetsein im Fleisch kann nur überwunden werden, indem wir einen anderen Herrn und Meister bekommen, nämlich den Geist;
und zweitens: Wenn dieser Geist unser Meister ist, dann bleiben wir nicht mehr geknechtet in Gesetzeswerken, im eigenen Versuch, unseren Fleischestrieb durch unseren Willen und unsere Anstrengung zu überwinden.
Aber zuerst wollen wir auf unsere erste Frage Antwort geben. Wir alle leben im Fleisch, und das Fleisch und was es braucht bestimmt einen Teil unseres Tuns und unseres Lebens. Das ist selbstverständlich. Aber dieses fleischliche Streben soll nicht unser Leben als solches bestimmen. Hier geht es letzten Endes um die Grundfrage der Herrschaft, der bestimmenden Kraft über uns – entweder wird das Fleisch uns leiten oder der Geist. Herrscht das Fleisch über uns, dann wird unser Leben von Lust, Begierde, Mammonsgeist und fleischlichem Trieb bestimmt; herrscht aber der Geist Gottes, dann wird uns gegeben, was unser Fleisch braucht, aber innerhalb des geistlichen Rahmens und nicht mehr als selbständige, bestimmende Kraft.
Und so ist es mit dem Geknechtetsein im Fleisch im Sinne der Werkgerechtigkeit, indem wir durch unseren Willen gegen das Fleisch kämpfen.
Wenn der Kampf unser Kampf ist, dann wird eher das Fleischliche immer stärker werden, oder in unserer Absage an das Fleischliche werden wir selbst herrschen über unser Leben, in pharisäischer Eigenmacht und Selbstsicherheit.
Der einzige Weg, frei von diesen beiden Gefahren zu werden, bleibt das Bauen auf Christus, auf sein Wort, wo sein Heiliger Geist weht unter Brüdern und Schwestern in Liebe und Selbsthingabe. Praktisch kann das bedeuten: Jede Sucht zeigt, daß das Fleisch, die Begierde, Macht über uns besitzt, ob das die Sucht nach Alkohol, Drogen, Sex, Rauchen, Essen oder etwas ander Fleischlichen ist. Manches Obengenannte braucht nicht zur Sucht führen, wie gutes und ehegebundenes sexuelles Miteinander aus der Liebe, welche unsere ganze Person bestimmen soll, Leib wie Geist und Seele. So kann man gerne essen und ein Viertele trinken, ohne daß das zur Sucht, zum beherrschenden Trieb über uns zu werden braucht. Aber wenn wir in Gefahr stehen, daß z.B. Sex, Essen oder Alkohol über unser Leben bestimmend wird, zum Zentrum unseres Lebens wird, was sollen wir dann tun? Aus eigenem Willen und eigener Kraft zu kämpfen, führt in sich zu einem neuen Geknechtetsein unter unseren Willen, unter unsere Regie zur Werk- und Selbstgerechtigkeit – das wird so sein, wenn wir auch meinen, diesen Kampf zu gewinnen. Oder wir können sagen: Ich kann sowieso nichts dagegen tun, deswegen lasse ich diese Kräfte über mich bestimmen und sage innerlich zu mir selbst: Ich bin immer noch der Herr; wenn ich will, kann ich davon freikommen. – Ein Leben aus Selbsttäuschung, das von vielen gelebt wird!
Aber es gibt eine dritte Möglichkeit, und gerade diese ist der christliche Weg: »Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.« Statt aus eigener Kraft dagegen anzukämpfen, oder statt in Selbsttäuschung diese fleischliche Herrschaft anzunehmen, können und sollten wir auf Christus bauen. Das bedeutet: ER soll für uns kämpfen, nicht wir selbst. Je mehr und je tiefer wir mit Christus leben, jemehr ER über uns bestimmt, auch über unser Fleisch – denn er ist schließlich auch der Schöpfer unseres Fleisches und der Erlöser unserer fleischlichen Verfallenheit – , desto mehr und desto tiefer bestimmt seine Herrschaft unser Leben.
Und dann wird die Zeit des entscheidenden Machtwechsels kommen. Dann wird er wirklich unser Herr sein und nicht wir selbst. »Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind.«
Laßt uns aber im klaren darüber sein: Christsein bedeutet Kampf, nicht einen frontalen Kampf von uns gegen Satan, sondern unsere tägliche Übergabe unserer eigenen Person, unserer fleischlichen Wege, unseres Triebes zu Selbstbestimmung und eigenem Ruhm und Tun an Jesus Christus, der das alles für uns ans Kreuz getragen hat und der allein über den Satan in uns, um uns und über uns herrschen kann.
Wer aber diesen Bezug zu Christus lockert, im Namen von Freiheit und Mündigkeit, bei dem hat der Satan einen Zug gegen ihn gewonnen. Unsere Freiheit, unsere Mündigkeit als Selbstzweck, als Ziel des Lebens, weist letzten Endes hin auf die Erbsünde in uns. Denn was wollten Adam und Eva eigentlich? Sie wollten selbst der Herr ihres Lebens werden, sogar selbst über Leben und über (göttliche) Wahrheit und Weisheit verfügen.
Gerade dieser krampfhafte Versuch des modernen Menschen, sich von allem zu befreien, von allen Ordnungen und Wegen des Herrn, ob von der Ehe, von der Familie, vom Staat, von der Erziehung – gerade diese Befreiungsversuche führen zu einer totalen Abhängigkeit von sich selbst, führen zum Alleinsein; wir werden im Stich gelassen, weil niemand und nichts mehr für uns gilt und zu uns steht. Und das Endziel dieser Emanzipation ist, »befreit« zu sein von Gott, von Jesus Christus. Wer so lebt, erbt nicht Freiheit, sondern, wie die Geschichte von Adam und Eva und die weitere Urgeschichte der Menschheit uns zeigt, Haß, Lügengeist, Mord und unbegrenzte Begierde, und zwar nicht nur persönlich, sondern auch in der Gesellschaft, der sogenannten »befreiten« Gesellschaft.
Aber gerade Gott mit dem ihm kindlich vertrauenden »Abba« anzurufen, zeugt von unserer christlichen Abhängigkeit von ihm, einer Abhängigkeit, die wir (wie Hermann Bezzel es ausdrückte) als Glück bezeichnen. Warum? Weil der Vater durch Jesus Christus allein die Macht hat gegen den Satan, die satanische Knecht schaft in uns, um uns und über uns. Und gerade unsere bewußte Abhängigkeit von dem Herrn gibt allein uns die Kraft, uns selbst anzunehmen, wie wir sind, auch unser Fleisch und unsere kleinen Schwächen. Denn wir wissen: »Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn anders wir mit leiden, auf daß wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.«
Wir haben nur Zukunft, wenn wir mit Jesu Kreuzesblut überdeckt sind, nicht durch das Feigenblatt, das wir uns selbst anfertigen, um Unschuld vorzutäuschen. Mündig sein als Christ bedeutet, einen kindlichen Geist zu empfangen. Und gerade dieser »kindliche Geist« wird uns die Kraft geben, Leiden als Mitleiden mit Christus zu empfangen, sogar zu bejahen. Denn sein Geist zerbricht den natürlichen Menschen, für den Leiden und Sterben ein Greuel ist. Aber nur wenn wir mit leiden mit unserem Christus, werden wir Miterben seines Reiches werden. Jeder knechtische Weg aber, ob von fleischlicher Begierde oder von unserem Willen und unserer Werkgerechtigkeit geprägt, bezeugt die Herrschaft des Todes, des Fleisches und des Eigenwillens – beide sind dem ewigen Tod geweiht.
Herr, du sollst unser Herr und Vater sein und bleiben. Gib uns die tägliche, kindlich vertrauende Kraft durch Jesus Christus, deinen Sohn, im Vertrauen und Gehorsam zu dir zu bleiben bis ans Ende.
Göttliche Führung durch den Umgang mit der Bibel
Vor einigen Jahren bemerkte ich an einer empfindlichen Stelle meines Körpers eine Geschwulst. Ich ging zum Arzt, der mich alsbald zu beruhigen suchte: »Das wird nicht ernst sein.« Er verschrieb mir Medikamente und ermutigte mich: »In einer Woche ist bestimmt alles wieder in Ordnung; wenn nicht, kommen Sie nochmals.« Es war dann nicht in Ordnung. Er schickte mich weiter zu einem Facharzt. Auch er bestätigte zunächst, daß es wohl nichts Ernsthaftes sei. Doch nahm er dann noch eine weitere Spezialuntersuchung vor, die ergab, daß die Konsistenz der Geschwulst eine sofortige Operation angezeigt sein ließ. Meine Rückfrage nach Krebs beantwortete er: »Von Krebs habe ich nicht gesprochen; es sollte nur operiert werden, um sicher zu sein.« Ich wollte und konnte dem so schnell nicht zustimmen. Da bot er mir als Alternative zunächst eine Cortison-Behandlung an, die innerhalb einer Woche Erfolg zeigen müsse, wenn nicht operiert zu werden brauchte. Mich überfiel Angst trotz tiefen Glaubens. Ich war damals 43 Jahre alt und kam mir zum Sterben ein bißchen jung vor. Trotzdem ich weiß, daß alles in Gottes Händen liegt, habe ich als Mensch reagiert, habe ich in Angst gelebt.
Die Cortison-Dosis, die mir verschrieben wurde, wirkte sich in mancher Hinsicht beeinträchtigend auf mein psychisches Gleichgewicht aus. Tag um Tag schaute ich mehrmals die Stelle an: Ist es zurückgegangen? Aber die Geschwulst wurde nicht kleiner. Ich erschrak, als mir schließlich bewußt wurde, daß ich sofort operiert werden müsse, wenn sich in zwei Tagen nichts ändern würde. Die Wahrscheinlichkeit, daß es Krebs war, drängte sich mir auf. Ich werde bald sterben. In meiner Verzweiflung – ich kam nicht zur Ruhe, auch nicht mit Gebet – habe ich mir gesagt: Es gibt nur eine Antwort, die Bibel.
Ich nahm sie zur Hand, als ob sie ein Schwert wäre. Sie wird mir Antwort geben! Ich schloß meine Augen, schlug die Bibel einfach an irgendeiner Stelle auf, von der ich im Glauben erwartete, daß Gott will, daß ich sie lese. Als ich meine Augen öffnete, lasen sie als erstes: »Du wirst meine Herrlichkeit schauen.«
Augenblicklich war meine ganze Angst wie verflogen. Ich war mit Freude erfüllt. Die Gewißheit war da, daß Gott mir in diesem Moment sagen wollte: »Du gehörst zu meinem Reich.« Das ist wichtiger als alles andere. Plötzlich war ich uneingeschränkt bereit, operiert zu werden und – wenn Gott es will – zu sterben. Wenn’s seine Zeit für mich ist, würde ich ja zum Herrn gehen. Hatte er das nicht auch zu Paulus gesagt, als dieser krank war: »Meine Gnade ist genug.« Am nächsten Tag erinnerte ich mich zudem an etwas, was mir einmal mein Vater gesagt hatte: »David, laß dich nie operieren, wenn nicht drei Ärzte unabhängig voneinander das gleiche feststellen.«
Er hatte in seinem Leben einschlägige Erfahrungen gemacht. So ließ ich mich zu einem anderen Facharzt überweisen, damit dieser ein weiteres Gutachten erstellt. Nach eingehenden und gründlichen Untersuchungen kam dieser zu dem Schluß: »Sie haben keinen Krebs. Sie brauchen keine Angst zu haben. Das kann ich hundertprozentig sicher sagen.« Diese Aussage hat mich erstaunlicherweise wenig bewegt. Gottes Wort hatte es mir doch gesagt, daß ich zu seinem Reich gehöre. Und so wurde mir auch die Aussage, daß ich keinen Krebs hätte, völlig unwichtig, weil ich im tiefsten lernen mußte und gewußt habe, daß ich diese Schwelle der Todesangst erleben und überschreiten mußte, bis ich zu Jesus ja sagen konnte.
Gewiß, dies ist ein ungewöhnliches Beispiel für den Umgang mit der Bibel, ungewöhnlich in dem Sinne, daß es ein Mittel ist, das wir wenig benutzen sollen, nur in sehr großer Not, wenn es darum geht, ganz und gar von einem ganz bestimmten Gotteswort abhängig zu werden. Ungewöhnlich ist solche Erfahrung jedoch nicht, wenn wir in die Geschichte der christlichen Kirche hinein schauen. Immer wieder einmal hat eine bestimmte Bibelstelle – und die war öfters im Römerbrief – ein ganzes Menschenleben oder die ganze Kirche total verändert. Da leuchtete ein Wort oder Satz in einer Krise oder Not hell auf. Denken wir an Luther!
Das Erleben eines anderen Mannes wurde für die Kirche nicht weniger wichtig. Er war ein berühmter Gelehrter seiner Zeit und in seiner Rhetorik allen überlegen. Er hieß Augustin und lebte weit entfernt von Gott, obwohl er eine einfache und fromme Mutter hatte. Seine Mutter war verzweifelt: Wie könnte mein Sohn mit seinen Gaben unserer Kirche in Not so viel helfen – aber er steht gegen uns. Sie ging zu dem berühmten Kirchenvater Ambrosius, dem Erzbischof von Mailand, und fragte ihn um Rat. Er ermutigte sie: »Beten, jeden Tag inbrünstig beten. Nur der Herr kann ihn ändern.« In seiner Wahrheitssuche ging Augustin noch manche Irrwege, bis er zu den Manichäern kam, einer ganz bösen Sekte, die das Böse als Urkraft betrachtete und es Gottes Urkraft gleichstellte. Eines Tages – so schreibt Augustin später in seinen »Bekenntnissen«, wurde ihm erzählt, daß Leute den römischen Kulturraum verlassen hätten, um als Einsiedler zu leben. Dieser Gedanke interessierte ihn sehr. Er hörte immer mehr Berichte von Menschen, die plötzlich den Weg zu Jesus Christus gefunden haben und sich bekehrten. Augustin aber wurde innerlich immer verzweifelter und unsicherer und voll größter Unruhe, wie er das in einem späteren Gebet einmal ausdrückte. In diesem Zustand hörte er bei einem Gang durch seinen Garten eine Kinderstimme ein schlichtes Lied singen: »Lies im Buch, lies im Buch, lies im Buch . . . « Immer wieder diese helle Stimme. Plötzlich merkte er – wie später auch Luther – , daß er Dinge neu zu sehen begann. Es wurde ihm bewußt: Diese Bibel war gemeint. Er eilte in sein Arbeitszimmer, schlug die Bibel an einer Stelle auf. In der Rückschau merkte er später, daß diese Stelle für sein ganzes Leben entscheidend wurde:
»So laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Laßt uns ehrbar leben wie am Tage . . . (Röm. 13,12 b-14). Von dieser Stunde an erfuhr die christliche Kirche eine Vertiefung ihrer Schrifterkenntnis – Gott hatte Augustin überwunden. Seine Mutter starb, kurz nachdem er getauft wurde.
Solch ein Weg ist jedoch gar nicht so ungewöhnlich. Das kann zu einem zentralen Erleben werden für jeden Menschen, der sich in einer Krise befindet, wenn er dem inneren Verlangen nachgibt, die Bibel aufzuschlagen und darin den Weg wirklich suchend zu lesen. Gott redet und verändert durch sein Wort. Solch ein Erleben läßt sich nicht »machen«, sondern es ist wichtig, auf Zeit und Stunde zu achten, wenn es uns innerlich klar wird, daß Gott durch sein Wort zu uns reden will.
Man könnte einwenden, daß das doch etwas ungewöhnliche Beispiele im Umgang mit der Bibel seien. Wie ist das aber im Alltäglichen? Viele Künstler – besonders im Mittelalter – versuchten, Maria, die Mutter Jesu, zu malen, als der Verkündigungsengel zu ihr trat. Meist steht oder sitzt sie da in Stille in einem Raum, und sie liest in einem Buch, in der Bibel. Das ist so bestimmt nicht historisch. Was aber wollten die Maler damit zum Ausdruck bringen? Der Engel hatte zu ihr doch vom Empfangen des Heilands gesprochen. So können wir erkennen, daß die Maler in dem Bewußtsein malten, daß Bibel lesen Empfang ist, Vorbereitung. Und so soll auch jeder von uns vorbereitet sein, zum Beispiel auch einen neuen Tag zu empfangen. Viele tun das bewußt mit ihrer »Stillen Zeit« mit Wort und Gebet am Morgen – vor allem. Ich kenne zwei Möglichkeiten, einen Tag anzufangen – und Anfang bedeutet, diesen Tag zu bestimmen: Die eine ist, zu beten, bevor man auf steht: »Herr Jesus, du sollst diesen Tag bestimmen.«
Und wenn man schon mit Angst und Sorgen auf das schaut, was an diesem Tag auf einen zukommt, dann denkt man an Jesu Kreuz und vertraut sich seiner Führung an und betet: »Ich gebe dir diesen Tag ganz, du leitest mich, und du führst mich.« Eine andere Möglichkeit, den Tag anzufangen, ist beispielsweise die mit Hilfe des Losungsworts oder einer Bibellese. Bevor man sich Gedanken macht, was im Tagesablauf dazu gehört oder vor einem steht, schlägt man die Losung auf und die Bibel, liest und denkt über das Gelesene nach und betet dann vielleicht so: »Herr Jesus, du bist mein Herr, und du sollst mich heute so führen, daß dieses Wort, welches Fleisch geworden ist in dir, diesen Tag für mich bestimmt.«
Das ist eine Vorbereitung auf das Kommende durch das Schöpferwort Gottes. Andererseits soll das biblische Wort nicht nur am Anfang des Tages stehen. Gottes Wort stellt mich in Frage und richtet meinen ganzen Weg durch den Tag. Es steht nicht nur am Anfang, ist nicht nur eine Vorbereitung auf den Anfang des Tages, sondern, wenn wir das Wort richtig im Sinne Luthers verstehen, richtet mich jedes Wort – und damit rettet es mich. Und wenn ich das Bibelwort im tiefsten Sinn verstehe, dann verstehe ich es als richtendes und rettendes Wort, ein Wort, welches mich in Frage stellt und mir zugleich den Weg zur Erlösung in Christus zeigt.
Ich gebe hierzu ein Beispiel:
Es kam einmal ein Namenschrist katholischer Tradition zu mir und wollte mit mir über sein Suchen nach Gott sprechen. Im Gespräch machte ich ihm Vorschläge, wie er den Weg zum wahren Jesus Christus finden könnte. Ich machte ihn auf bestimmte Bibelstellen aufmerksam, empfahl ihm, bestimmte Psalmen zu beten, auch bestimmte Bücher in der Bibel zu lesen, in denen er seinen Problemen begegnen würde . . . Er las dann eifrig in der Bibel und suchte wirklich nach Gott. Beim nächsten Treffen erzählte er, daß er auf eine Stelle gestoßen sei, die ihn aufgefordert habe: »Ich soll in Gottes Gerechtigkeit wandeln.« Wie einst Luther fragte auch er eifrig und fromm: »Wie soll ich das tun?« Ich schaute ihn an und sagte: »Du sollst überhaupt nichts tun.« In seinen Augen stand das Erstaunen: Was für ein Pfarrer ist das? Ich suche den Weg zu Gott; ich frage ihn, wie ich in Gottes Gerechtigkeit wandeln soll, und er sagt zu mir: Du sollst überhaupt nichts tun. Ich erklärte ihm weiter: »Alles ist für dich getan. Du mußt nur noch das annehmen, was für dich getan ist.« Er fragte zurück: »Ja, was?« Und ich antwortete ihm: »Das Kreuz Jesu. Er ist unsere Gerechtigkeit, mit der David schon, in Psalm 31, gerechnet hatte, der dann auch so zentral für den jungen Luther wurde. Er, Jesus an seinem Kreuz, ist unsere Gerechtigkeit. Wir können nicht gerecht werden durch unsere Werke, durch unser tägliches Leben. Wir können nur gerecht sein durch ihn, denn wir sind ohne Jesus verlorene Sünder.« Das war ein hartes Wort für ihn. Denn er war eifrig, er wollte selbst gut und gerecht sein. Und dann mußte er hören, daß jemand das alles für ihn schon getan hat und er das nur noch anzunehmen braucht.
Wie aber nimmt man diese Gerechtigkeit an? Wer innerlich zerknirscht ist über die Vergeblichkeit seiner eigenen Leistung, wer nicht mehr versucht, seine eigene Gerechtigkeit durchzusetzen, wer gerichtet ist über dieser großen Mühe, wie Luther zutiefst gerichtet war, der wird zu Gottes Gerechtigkeit gelangen. Wie viel lieber würden wir der Aufforderung Folge leisten: »Du mußt das und das tun.« Es ist viel schwieriger, anzunehmen, daß ich das nicht tun kann, sondern daß er, Jesus, das alles für mich getan hat. Es geht ganz und gar nur um Jesus, was er zu uns sagt, was er für uns getan hat. Es geht nicht um unsere Wege und unsere Gerechtigkeit. Es geht um seinen Weg und seine Gerechtigkeit. Das zu lernen ist heutzutage sehr, sehr schwer.
Wir haben zuerst über eine ungewöhnliche Lage gesprochen, wie in einer zentralen Krise unseres Lebens Gottes Wort uns Richtung geben kann. Wir haben davon gesprochen, daß Gottes Wort eine Art Vorbereitung gibt auf den Empfang des Tages, auch von Entscheidungen, und wie es uns leitet. Wir haben davon gesprochen, daß Gottes Wort uns in Frage stellen, uns richten soll, damit wir durch dieses Wort leben können. Aber, wenn wir versuchen, die Vielfalt von Gottes Wort in seiner Tiefe zu verstehen, dann gewinnt jeder Text neue Bedeutung und neuen Sinn für uns. Zuerst habe ich mich innerlich dagegen gesträubt, daß wir als Pfarrer alle sieben/acht Jahre über den gleichen Text predigen sollen, innerhalb der Perikopenreihen. Gibt es doch viele wichtige Texte, vor allem im Alten Testament, die wir so nie hören und bedenken können, um sie für die Zuhörer zu öffnen. Doch das andere stimmt auch: Zentrale Texte schauen ganz anders aus in verschiedenen Phasen unseres Lebens. In sieben/acht Jahren erkenne ich manche Texte ganz anders als jetzt. Als Beispiel möge eine zentrale Geschichte in unserer Bibel dienen, was ihre verschiedenen Schichten und Aussagen in unserem Leben bedeuten können: die Josefsgeschichte. Mir ist diese Geschichte seit langem tief vertraut. Wenn wir diese geheimnisvolle Josefsgeschichte bedenken, entdecken wir manche zentrale Aussage über das Leben, über unser Leben und über das Leben Jesu. Wir erkennen, daß Gottes Gerechtigkeit nicht immer sichtbar ist und sich nicht immer nach unseren Wünschen vollzieht, sondern uns wird hier ein Weg der Irrungen und Verwirrungen deutlich. Josef muß alles Mögliche leiden, ungerechterweise, nach unserer Vorstellung, bis die wahre Gerechtigkeit, Gottes Weg, offenbar wird. Wie viele Rückschläge muß Josef erleben. Er wird fast umgebracht, in den Brunnen geworfen von den eigenen Brüdern, als Sklave verkauft, ungerechterweise ins Gefängnis geworfen… – wie schnell haben solche Erlebnisse auch mit jedem von uns zu tun!
Jede Woche besuchte ich im Krankenhaus einen noch nicht sehr alten Mann, der an Lungeninsuffizienz litt. Wegen seiner Atemnot konnte er nicht mit mir sprechen. Er mußte schon künstlich beatmet werden. Er hat noch nie in seinem Leben mit Gott, mit Kirche, überhaupt mit dem Glauben zu tun haben wollen. Da befand ich mich in der schwierigen Lage zu versuchen, diesem Mann Gottes Wort lebendig zu machen, ohne daß er reden konnte. Ein seelsorgerliches Gespräch findet doch mit einem Ich und einem Du statt. Hier hatte ich eigentlich kein Gegenüber. Vor mir lag ein Mensch in ständiger Atemnot.
Was konnte ich tun? Ich las ihm aus der Bibel den Leidensweg Jesu vor und sprach dann ein Gebet mit ihm. Vom dritten oder vierten Mal an kam seine Frau mit. Sie beobachtete, daß das, was ihr Mann hörte, wichtig wurde für ihn. Auch ich stellte fest, wenn ich zu ihm hineinkam, daß das Atmen schneller wurde und seine Augen auf mich fixiert waren, wie man es in Gottesdiensten beobachten kann, wenn Menschen da sind, die wirklich hineinhören wollen in Gottes Wort. Bevor ich zu Kranken gehe, bete ich immer, daß Jesus sprechen soll und nicht ich, denn meine Weisheit ist Torheit und hilft nicht. Eines Tages kam ich in das Zimmer hinein, schaute den Mann an, und plötzlich kommen über meine Lippen die Worte: »Wissen Sie, Sie sind ein von Gott begnadeter Mensch.« Sehr ernst sieht er mich an, als wolle er sagen: Das ist aber eine merkwürdige Aussage für jemanden, der schon lange Zeit um Atemluft ringen muß. »Durch ihre Leiden haben sie den Weg zu Jesus Christus gefunden«, sagte ich ihm weiter, sie sind von Gott begnadet, diesen Weg zu gehen.« Ein paar Wochen später starb er. Ich habe keinen Zweifel, daß er mit seinem Heiland starb – nur durch das biblische Wort. Das war der Weg für ihn, ein Weg, zu dem jeder menschlich gesehen sagen würde: Nein, das soll mir nicht passieren. – Auch der Weg Josefs erscheint menschlich gesehen alles andere als richtig und gerecht. Aber das war Gottes Weg für ihn zu seiner Erlösung, zur wahren Erlösung.
Noch ein Beispiel aus der Josefsgeschichte: Sie zeigt, daß man nicht Böses mit Bösem vergelten soll. Josef hatte die Möglichkeit, das zu tun, als seine Brüder zu ihm nach Ägypten kamen. Gerecht wäre das gewesen in den Augen der damaligen Zeit, nach dem, was er alles von seinen Brüdern erlebt hatte. Aber er sagte: »Ihr habt es böse mit mir gemeint, aber der Herr hat das Gute vollbracht.« Ist das nicht ein zentrales Problem auch für uns?
Ich habe viele Konfirmanden gehabt, auch Lausbuben, denen man gerne sagen würde: Raus mit euch, ich will euch hier nicht mehr sehen! Ich will hier mit jungen Leuten zusammen sein, mit denen man etwas erarbeiten kann, aber dazu gehört ihr offensichtlich nicht! Ich weiß aber, wenn ich den Lausbub, der mir gegenüber nur böse ist und alles lächerlich findet, der mit seinem grinsenden Blick, den ich nicht ertragen kann, scharf angreife und die Grenze zu mir zu stark mache, dann gibt es für ihn vielleicht nie mehr ein Zurück. Denn ich bin »Kirche« für ihn, einer, der immer von diesem Jesus reden muß.
Ich denke auch an Luther und Staupitz, seinen Beichtvater. Staupitz hatte Luther als Irrlehrer aufgegeben und ganz böse auf ihn reagiert. Luther aber hat trotzdem einen großartigen Brief an Staupitz geschrieben und ihm mitgeteilt, daß Staupitz ihm durch seine Art in der Beichte den Weg zu Jesus Christus geöffnet hat, indem er immer wieder betonte, daß Luther sich auf den Frieden Gottes, auf Gottes Gnade und nicht auf seine verzweifelten Wege der Buße konzentrieren solle. Es wäre für Luther leicht gewesen, die Fehler und die Grenzen von Staupitz‘ Lehre anzugreifen und zurückzukämpfen. Er hat es nicht getan. Er hat im tiefsten Sinne dankbar geantwortet.
Es gab einen berühmten Rabbiner, Leo Baeck. Der wurde vor mehr als 50 Jahren nach Theresienstadt verschleppt. Seine ganze Familie wurde vor seinen Augen von der SS brutalst umgebracht. Das traf diesen feinfühligen Mann äußerst hart. Als das Lager befreit wurde, war Baeck noch am Leben. Da wollten die Befreiten gegen diese fürchterlichen Mörder losgehen. Baeck aber hat gesagt: »Lieber bringt mich um!« Wir denken an Mose, als Israel um das Goldene Kalb tanzte, und vor allem denken wir in noch viel tieferem Sinn an Jesus Christus.
Durch solche Beispiele – wie durch die Josefsgeschichte – , daß man nicht Böses mit Bösem vergelten soll, haben wir ein zentrales Leitmotiv für unser eigenes Leben, eine Grenze für uns selbst. Denn Böses mit Bösem zu vergelten – das ist der natürliche Mensch, der Mensch, der durch das Gesetz gerichtet ist.
Wir haben bis jetzt über einzelne Beispiele nachgedacht. Jetzt will ich in bezug auf die Josefsgeschichte den Bogen weiter spannen. Ich kann die Josefsgeschichte nicht lesen, ohne ständig an Jesus Christus zu denken. Josef ist ein Leidender. Was er erlebt hat wegen der besonderen Liebe seines Vaters zu ihm, wegen seines Gerechtigkeitssinns und seiner prophetischen Gabe – da ist nichts anderes als Leiden zu erkennen, in den Brunnen geworfen, fast umgebracht, mutterseelenallein als Sklave, dann im Gefängnis . . . Immer wieder erinnert diese Geschichte an Jesus.
Denn was ist sein Weg? Nur ein Leidensweg, ein Weg vielen Erleidens bis zur Vollendung, zum Heil. So war auch der Weg zum Heil für Josef, für seine Brüder, für den Vater und für Israel vom Leiden gezeichnet.
Josef ist der Gerechte im Alten Bund. Auch andere, die gerecht handelten, wären da noch zu nennen: Noah, Henoch, auch im Leben Davids findet sich Gerechtigkeit. Aber Josef wird ausführlich als gerecht beschrieben, als jemand, der innerlich aufbegehrt, wenn seine Brüder etwas Böses machen. Fast gesetzlich kann er sein, aber gerecht. Er hält an dem fest, was er für richtig hält. Aber er vergilt nicht Böses mit Bösem und verschont seine Brüder. Er weiß, was Versöhnung ist. Da verläuft die Linie zu Jesus Christus, dem Gerechten, dem wahrhaft endgültigen Gerechten, dessen Kreuz unsere Gerechtigkeit ist. Denn der Unschuldige starb für uns Schuldige. Josef war zwar nicht in dem allumfassenden Sinn wie Jesus ohne Schuld, aber er ist der Gehorsame, der Gott gehorcht, der auf Gott wartet. Jesus war absolut gehorsam, sein ganzes Leben lang. Josef ist der Helfende, der anderen im Gefängnis hilft, der angesichts der zu erwartenden Dürrejahre hilft, sowohl den Ägyptern als auch seinen Brüdern. Und Jesus ist der endgültige Helfer in der menschlichen Not der Gottlosigkeit, der Heiland. An diesen Beispielen merken wir, daß unsere Bibel eine Einheit ist – und diese Einheit heißt Jesus Christus. Luthers Theologie griff tiefer als die heutige Theologie. Als Luther die Psalmen auslegte, sein allererstes Werk, sprach er ständig über Jesus, weil die Psalmen Jesus zum Inhalt haben.
Letzten Endes hat die ganze Bibel in der Tiefe ihrer Aussagen immer wieder mit Jesus zu tun. Alle zentralen Gestalten der Bibel sind Vorschattungen Christi, ob Josef oder Mose, Elia oder David . . . So sollen diese Gestalten gesehen werden.
Wenn ich – welche Texte auch immer – in der Bibel lese, entdecke ich: Hier wird Jesus vorausgesagt, tausend Jahre bevor er kam; hier und da ist eindeutig Jesus gemeint.
Wenn Spötter fragen: »Wo ist denn dein Gott?«, dann gründet meine Antwort in der Entdeckung, daß das ganze Alte Testament von dem kommenden Christus zeugt. Unser Glaube braucht die tiefgreifende Bestätigung aus einer umfassenden biblischen Kenntnis. Luther verdeutlichte es: Die Bibel Alten und Neuen Testaments legt sich selbst aus, und der Mittelpunkt der Bibel ist Jesus Christus, von dem der Schreiber des Hebräerbriefs bezeugt: »Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.«
Das Zeugnis von ihm zieht sich durch die ganze Bibel als ihr Mittelpunkt hindurch. Diese Entdeckung bestätigt meinen Glauben und gibt mir die feste Zuversicht in Gesprächen mit Atheisten, mit Leuten, die Gottes Wort nicht hören wollen – denn ich weiß: Dies ist die Wahrheit.
Solche Gewißheit ist wichtig in unserem Umgang mit der Bibel. Sie ist nicht nur in seelsorgerlichem Sinn wichtig für unser Leben, sondern es geht um die Wahrheit. Und hier ist die Wahrheit. Nachdem ich 18 Semester lang in allen möglichen Fächern studiert und nach Wahrheit gesucht und keine gefunden hatte, habe ich angefangen, die Bibel zu lesen. Ich fand zuvor keine Antwort auf die zentralen Fragen. Nun aber fand ich Antwort um Antwort, wo auch in der Philosophie keine Antwort zu finden war. Beim Bibellesen entdeckte ich: Hier ist Christus bezeugt, als mein Heiland, mein Leben, mein Erretter, meine Zukunft und die Zukunft der ganzen Welt.
Die Josefsgeschichte zeigt uns, wie der Herr ans Ziel kommt. Sein Ziel ist die Errettung Israels. Wenn Josef nicht Sklave geworden wäre, wenn Josef das alles nicht erlebt hätte, wären die Israeliten damals alle verhungert. All die Ungerechtigkeiten, die Josef erleben mußte, waren das Heil Israels. Denn Gott war mit Israel. Darin erkenne ich auch die endzeitliche Bedeutung der Bibel.
Es geht in ihr nicht nur um das erste Kommen Jesu, sondern auch um sein Wiederkommen. Die Josefsgeschichte ist eine Darstellung der Juden und der schrecklichen Ungerechtigkeiten, die sie erlebt haben. Immer wieder haben sie die andere Wange hingehalten – nicht weil sie es wollten, sondern weil sie es mußten. Aber durch die Leiden dieses Volkes kommt unser Heil. »Das Heil kommt von den Juden« (Johannes 4), durch Jesus Christus, so sagt er es selbst.
Die schrecklichen Ungerechtigkeiten, die Israel durch uns Christen während Jahrhunderten erlebte – im letzten von Brüdern! – sind Gottes Weg zum Ziel. Und das Ziel ist die Wiederkunft Jesu, welche die Versöhnung beider Bünde in seinem Reich bringt.
So geht Gott auch mit jedem von uns persönliche Wege, mitunter Wege, die uns gar nicht gefallen. Oder es sind Wege, die wir so nie erwartet hätten – und bringt uns zum Ziel, zu seinem Ziel mit uns. Meine »Josefsgeschichte« war von vielen Veränderungen meines Wesens und Willens geprägt. Niemand hätte vor 50 Jahren damit rechnen können, daß ich einmal in Deutschland als evangelischer Pfarrer Jesus Christus als meinen Heiland bezeugen würde. Ich lebte mit meinen Eltern in den USA und war als Jude mit dem Geist von Dichtung, Kunst und Wissenschaft erfüllt.
Gott stellte mich in ein neues Land, schenkte mir einen neuen Glauben und ein neues Leben, und er vertraute mir eine Frau an, die überhaupt nicht zu mir als Juden »passen« würde. Alles hat er geändert. Das letzte Wort meiner Mutter, bevor ich 1961 nach Europa ging, lautete: »Geh nicht nach Deutschland!«
16 Jahre nach Auschwitz nur zu verständlich. »Und wenn du schon nach Deutschland gehst, bring mir keine deutsche Frau.«
Das vierte Gebot, »Ehre Vater und Mutter«, gilt (nach dem ersten) als das für Juden am schwersten zu erfüllende Gebot. Ich habe es gebrochen. Es war Jesu Weg mit mir, nicht mein Weg. Er trat in mein Leben. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß uns beim Lesen der Bibel Gottes Heilsplan mit Israel und mit der Welt bis zur Wiederkunft Jesu vor Augen gestellt wird. Der Glaube erkennt, daß Gott einen Weg und ein Ziel mit der Welt hat. Und sooft wir die Bibel zur Hand nehmen, erschließen sich uns neue Zusammen hänge in einer erstaunlichen geistlichen Vielfalt. Durch die Schrift sehen wir den wahren Geist Jesu Christi, sehen wir Gottes Heilsplan mit der Welt und sehen wir, was Gott auch mit uns persönlich vorhat.
Darum ist die Bibel zentral für uns, weil ihr Wort und Jesus Christus eins sind.
Die klagende Witwe (Lukas 18, 1-8)
Um uns die Tiefe von Gottes Gerechtigkeit und die wahre Kraft des Gebetes vor Augen zu führen, zeigt uns Jesus ein Beispiel von weltlicher Klage und weltlicher Gerechtigkeit, um zu der Schlußfolgerung zu gelangen: »Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen?« Dazu betont er, daß »der Herr in Kürze Recht schaffen« werde.
Eine solche Aussage führt uns leicht zu dem Schluß: Wenn ich wirklich Tag und Nacht um etwas bete, dann werden also meine Gebete erhört und erfüllt, und zwar in kurzer Zeit. Aber, was bedeutet hier »Recht schaffen«?
Wer sagt zum Beispiel, daß die Anliegen der Witwe in unserer Geschichte »recht« sind, richtig sind? Ihre weltlichen Anliegen werden durch weltliche Mittel vorgebracht, indem sie das Leben des Richters so belasten, daß er konfrontiert wird mit seinem eigenen Mittel, denn er fürchtet Gott nicht und scheut sich vor keinem Menschen. Unter solchem Druck gibt dieser Richter nach. Darüber müssen wir uns im klaren sein: Dieser ungerechte Richter gibt nur nach, sobald seine eigenen Mittel gegen ihn eingesetzt werden. Und wenn dann die Witwe bekommt, was sie will, bedeutet das nicht von vornherein, daß ihre Methoden richtig waren, so wenig wie ihre Ziele. Darüber wird im biblischen Text nichts gesagt.
Darum müssen wir ganz andere Mittel und ganz andere Ziele im Auge haben, wenn es darum geht, im göttlichen Sinne Recht zu schaffen, als wenn es in unserem Sinne darum geht, recht zu bekommen.
Jesus nennt uns die wahre Methode des Gläubigen, daß er im Alltäglichen recht bekommen wird, sogar in Kürze: Gebet! Aber er sagt uns nicht, was es bedeutet, im göttlichen Sinne recht zu bekommen; denn im Mittelpunkt jeden Bittgebets soll stehen »Dein Wille geschehe«. Wir müssen inbrünstig beten im Blick auf das, was wirklich für uns wichtig ist, aber dabei ganz und gar unsere Person und unser Anliegen dem Herrn übergeben, dann wird er in kurzem für uns »Recht« schaffen. Mit dieser Überlegung sind wir ans Ziel gekommen, zu einer Antwort auf das, was »unser Recht bekommen« im göttlichen Sinne bedeutet. Jesus Christus ist unsere Gerechtigkeit. Er steht für uns an der Stelle des jüdischen Gesetzes, des Gesetzes Mose. Er schafft Recht für uns, indem er Gottes ganze Anforderungen an uns Menschen erfüllt hat in seinem Lebenswandel und vor allem am Kreuz, wo alles »erfüllt« wurde. Recht zu bekommen für unsere Sache, bedeutet dann für uns Gläubige, daß wir unser Anliegen und unsere ganze Person dem Herrn völlig übergeben, daß wir seinen Willen bejahen und annehmen, denn er schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden. Wir wissen, der Herr steht zu mir, er sieht und kennt meine Anliegen, meine Not. Weil er mein Herr ist und ich nicht über ihn herrsche mit meinen Anliegen, weiß ich, daß ich in Freude und in Leiden annehmen soll, was er mir schenken wird. Und öfters – anders als bei der weltlichen Klage der Witwe in unserer Geschichte – wird der Wille des Herrn geheimnisvoll für mich sein, öfters ganz anders, als ich es gedacht und gewünscht habe. Christen, anders als weltliche Menschen, glauben nicht, daß ihre Wege und Ziele die wahren Wege und Ziele sind, sondern wir leben bescheiden in der Nachfolge Christi, um anzunehmen, was er uns bereitet, sei es ein Gutes oder ein Leid . . .
Eigentlich zeigt uns der letzte Satz unseres Textes, wenn wir ihn richtig verstehen, den wahren Sinn unserer Worte: »Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, er werde den Glauben finden auf Erden?« Wie die klagende Witwe drängen wir auf die Erfüllung unserer Wünsche, sehen auf unsere Gerechtigkeit, auf die Ziele, die wir uns gesteckt haben. Darüber haben wir das wahre Ziel, nämlich den Glauben an Gottes Gerechtigkeit, an seine Weisheit, an seine Führung nicht mehr vor Augen. Wenn unsere Ziele für uns so wichtig geworden sind, daß alle Methoden, auch die der weltlichen, gottlosen Richter, annehmbar sind, dann richten wir uns selbst durch solches Vorgehen, und zwar im ewigen Gericht.
Wie viele von uns stehen näher bei der klagenden Witwe, und wie viele von uns leben in Demut im Gebet und nehmen das an, was der Herr uns gibt, nach seiner Weisheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, auch wenn es entgegengesetzt ist zu dem, was wir gerade wollen?
Ist es nicht so, daß wir öfters so überzeugt sind von der Richtigkeit unserer Ziele, daß wir sogar Methoden anwenden, welche nicht ganz und gar rein sind – wir haben das Recht »gepachtet«, wir sehen die Gefahren, wir wissen um die Ziele – , und darum ist fast jede Methode erlaubt. Vielleicht erreichen wir sogar unsere Ziele, aber der ganze Vorgang setzt voraus: Ich schaffe es, wie und wann ich will. Darum warnt Jesus uns in diesem Gleichnis, die Gerechtigkeit nicht in unsere Hände zu nehmen durch die Methode der klagenden Witwe oder die des ungerechten, gottlosen Richters.
Aber, wie steht es dann mit dem Gebet? Ich kam einmal spät und sehr müde nach Hause. Ich hatte viele Sorgen und schlief nicht gut. Mitten in der Nacht wachte ich auf mit einem hilflosen Gefühl: Wie soll das alles gutgehen? Wer weiß, was die Zukunft bringen wird? In dieser Zeit habe ich an dem, was ich für richtig hielt, ganz und gar festgehalten, und ich konnte nicht verstehen, wie vielleicht etwas ganz anderes passieren könnte. Aber – und dieses Aber umfaßte wirklich nur eine sehr kurze Zeit – plötzlich dachte ich an Jesus, nicht mehr an mein Ziel, an das, was ich für gerecht und richtig hielt, sondern allein an ihn. Ich spürte – wie ich es noch selten erlebte – , wie nahe er wirklich bei mir war, und ich sagte innerlich: »Herr Jesus, du bist bei mir, du bist der Gerechte, dein Wille geschehe, auch gegen meinen Willen. Deine Ziele sollen erreicht werden und nicht meine.« Und dann kam diese wahre, tiefe Stille über mich, seine schützende Hand, und ich war ganz und gar getrost, daß er alles gut und gerecht machen wird, daß sein Wille geschieht, – und dann hat er mir in kurzer Zeit Recht geschaffen, indem ich ihn als die Gerechtigkeit selbst annahm, nicht mehr meinen Willen und meine Wege durchsetzen wollte.
Vielleicht teilen manche mit mir meine Sorgen um die Zukunft. Manchmal sehe ich solche Bilder vor meinen Augen: Ich werde älter und schwächer; niemand wohnt im Hause außer meiner Frau und mir; vielleicht wird sie krank und sterben, und dann bin ich allein; oder vielleicht werde ich meine Kraft verlieren und keinen wahren Auftrag mehr im Leben haben; oder vielleicht dieses oder jenes. Und das Wissen ist ein Stück Lebenserfahrung, daß alles, was ich fürchte, irgendwann in irgendeiner Art und Weise eintreffen wird, und dann fühle ich mich innerlich total verunsichert. Gerade wenn solche Gedanken und Gefühle mich überwältigen – und das ist nicht selten – , dann fühle ich, wie schwach ich wirklich bin, und ich spüre meine Vergänglichkeit und die Eitelkeit meines Lebens und meiner Wünsche. Dann, gerade dann hilft nur eines – Gebet. Gebet im wahrsten und tiefsten Sinne, die Übergabe des eigenen Anliegens, des eigenen Lebens, der eigenen Person an den Herrn. Dann wird mir bewußt, daß das wirklich so ist, daß alles, was ich habe, und alles, was ich bin, vom Herrn kommt, aber auch von ihm genommen wird.
Und wenn ich mir im tiefsten darüber bewußt werde und mich meinem Retter als meinem Heiland ganz und gar überlasse, dann schafft er mir Recht im wahrsten und tiefsten Sinne, indem er, der gekreuzigte Jesus, für mich einsteht, für meine Person mit allen meinen Schwächen, meiner Vergänglichkeit, meiner Eitelkeit, und ich höre seinen Ruf: »Kommet her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken.«
Dann spüre ich nicht nur, daß er mich annimmt mit allen meinen Unzulänglichkeiten, sondern ich weiß auch: Er wird alles recht machen, er ist der Herr meines Lebens und nicht ich. Dann schafft er mir Zukunft aus meiner Vergänglichkeit, denn die Zukunft gehört ihm allein, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, und er eröffnet diese wahre, rechte Zukunft für mich in meiner Schwachheit und Verlorenheit.
So meint es Jesus: »Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er es bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen – in Kürze.« Jesus mahnt jeden von uns: »Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, er werde den Glauben finden auf Erden?«
Christliche Kultur – eine Einführung
Graf von Zinzendorf war in seinen jungen Jahren ein Liebling der aristokratischen Gesellschaft, passionierter Tänzer und Idol der Frauen seiner Zeit – Zinzendorf wurde später einer der großen pietistischen Väter. Sein Weg dazu begann während einer Reise, auf der er in Düsseldorf Halt machte. Dort fiel sein Auge auf ein Bild der Kreuzigung Jesu. Bei diesem Bild stand: »Das tat ich für dich. Was tust du für mich?«
Das Anschauen dieses Bildes hat die Türe zum Herzen des Grafen von Zinzendorf geöffnet – er wurde ein frommer Christ. Sein Leben wurde total verändert. Das Bild war von Feti gemalt worden, einem Künstler, der in der Tradition der katholischen Gegenreformation stand. Gottes Wege können merkwürdig sein – ein junger Adliger, der ein verdorbenes Leben geführt hatte, kommt zum Glauben an Jesus Christus durch das Bild eines bewußt katholischen Malers und wird zu einer zentralen Gestalt des Pietismus. Katholische und evangelische Theologie sind nicht dasselbe. Aber hier geht es um die Frage der Glaubensdarstellung in der Kunst. Viele der größten Künstler lebten in katholischer Tradition, malten oder komponierten aber oft evangelisch, im Sinne biblischer Theologie. Am Beispiel des Erlebens Zinzendorfs in Düsseldorf läßt sich zeigen, wie zentral ein Kunstwerk sein konnte für Entwicklungen im christlichen Abendland.
Ich werde immer wieder einmal danach gefragt, wie ich zum Glauben kam. Grundsätzlich will ich zwar nur über Jesus reden, aber ich möchte im Zusammenhang dieses Themas doch einmal etwas von mir erzählen. Ich bin nicht jemand, der vom Glauben den Weg zur Kultur ging, sondern der von der Kultur zum Glauben kam. Ich wurde als aufgeklärter, liberaler, moderner Jude erzogen und komme aus einer wohlhabenden Familie, die in dritter Generation in den USA lebte. Die Großeltern waren teils sehr fromm, meine Eltern hingegen nicht. Meine frühen Jahre, als Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts, waren vorwiegend dem Sport gewidmet. Ich war bester Sportler, überall aktiv mit dabei, flink wie eine Maus. Ich wußte alles über Baseball und den amerikanischen Football bis ich 13 Jahre alt wurde und meine Bar-Mizwa feierte, eine Art Konfirmation in der jüdischen Tradition. Ich wurde als Mann in die Synagogen-Gemeinde aufgenom men. Das brachte innerhalb von zwei Wochen eine riesige Verän derung mit sich. Während dieser Zeit sagte meine Schwester zu mir, die eine ausgesprochene dichterische Begabung hatte: »David, hast du Dostojewski gelesen?« Ich gestand ihr: »Du weißt, ich habe gar nichts außer Sportbüchern gelesen.« Niederschmetternd war ihre Reaktion: »Wenn man Dostojewski nicht gelesen hat, hat man nicht gelebt.« Das traf mich hart. Entschlossen nahm ich mir vor, etwas von Dostojewski zu lesen. In der Bibliothek lieh ich mir sein Buch mit dem Titel »Arme Leute« aus. Meine Eltern waren nicht gerade arm. So sah meine Mutter mich an und fragte: »Was willst du mit >Armen Leuten< zu tun haben, David? Du wirst nur traurig sein, wenn du etwas über sie liest.«
Aber ich las Dostojewski – nicht nur dies Buch. Mit der Zeit lernte ich, selbst zu schreiben – im Alter von 13 Jahren war das ein ziemlich später Anfang. Aber innerhalb eines Jahres gab es einen Durchbruch, ich fing an zu dichten. Mit 14 Jahren beschäftigte ich mich mit Beethovens späten Quartetten und mit Bachs h-Moll-Messe. Innerhalb eines Jahres drang ich vor vom Analphabeten in Tiefen der Kunst. Mit 16 Jahren entdeckte ich meine beiden Lieblingskomponisten, Heinrich Schütz und Joseph Haydn. Heute denke ich: Schütz ist der Inbegriff eines evangelischen Komponisten, nicht Bach. Schütz‘ musikalisches Schaffen ist eigentlich Worttheologie, seine Musik ist auf das Wort der Bibel ausgerichtet – das fesselte mich, besonders als ich mit 16 Aufnahmen hörte, die Grischkat in Stuttgart dirigiert hatte, der große Schütz-Interpret. Dann begann ich russische Romane zu lesen, Werke, die für uns Ostjuden immer zentral gewesen sind (meine Vorväter stammen aus dem russisch verwalteten Teil Polens). Neben Dostojewski beschäftigte mich Tolstoi. Wenn ich beide theologisch auch nicht empfehlen kann, haben mir diese Werke doch den Weg gezeigt.
Als ich immer mehr religiöse, christliche Musik hörte, stutzten meine Eltern: »David hört die h-Moll-Messe – tut ein Jude so etwas?«
Ja, ich hörte die Passionen von Schütz – , und wer sie kennt, weiß, daß sie klare Wortverkündigung sind. Damals wußte ich noch nicht, daß die Werke des achtzigjährigen Komponisten die innere Vorbereitung für meinen Weg zu Jesus waren. Und als ich zum Glauben kam, konnte ich zurückblicken und sehen, wie der Herr mich durch diese Erlebnisse mit Bach und Schütz und Mendelssohn-Bartholdy zu sich geführt hat.
Als ich dann später in New York bei manchen der besten Kunsthistoriker unserer Zeit (das waren meistens deutsche Juden, die ausgewandert waren) Kunstgeschichte studierte, u.a. bei Horst Janson, da habe ich gelernt zu sehen. Das hilft mir heute außer ordentlich, Gottes Wort zu verstehen, denn Bild und Worttheolo gie sind kein Widerspruch. Es wäre unsinnig, das zu behaupten, denn die Bibel redet durch Bilder in Worten. In der ganzen Bibel finden wir eine Fülle von Bildern. So gehen auch alle meine Veröffentlichungen letzten Endes zurück auf die Bildsprache der Bibel. Gerade die Beschäftigung mit der Malerei, in der ich lernte, die Einheit zwischen Wort und Bild in der Kunst mit eigenen Augen zu sehen, hat mir besonders geholfen, die Bibel in der Tiefe ihrer Sprache zu verstehen.
Ich schreibe immer noch Gedichte, ich kenne mich in der Musikgeschichte aus und bin in der Geschichte der Malerei be wandert. Ich habe viel Freude an der Beschäftigung mit unseren Kulturgütern. Aber Kultur kann auch zu einer Gefahr für die Christen werden. Ich nehme das nicht auf die leichte Schulter. Die Gefahren im Mittelpunkt zu sehen und nicht die Möglichkeiten, ist jedoch zu leicht unsere Tendenz. Ich weiß um die Gefahr, sich in der Beschäftigung mit der Kultur zu verlieren.
Es gibt Chöre, die sich weigern, im Rahmen von Gottesdiensten zu singen. Andererseits gibt es Menschen, die in der Passionszeit in eine Aufführung der Matthäus-Passion gehen, aber sie würden nie in einen Gottesdienst gehen; die Musik selbst ist für sie zu einem Glaubensersatz geworden – obwohl solch eine Haltung ganz gegen die von J.S. Bach steht, der diese Werke in tiefer Gläubigkeit geschrieben hat, nicht anders als Händel seinen »Messias«, Schütz seine Passionen und Haydn seine großen Messen. Die Aussagen dieser Werke sind alle aufs Kreuz Jesu bezogen. Eine Germanistikstudentin aus meiner Gemeinde brachte mir einmal ein Gedicht von Gerald Manley Hopkins, einem bekannten englischen Dichter, der bekennender Christ war. Dieses Gedicht ist eine Umschreibung des 90. Psalms, des Todespsalms. Ihr Professor war über diese Interpretation sehr überrascht – er hatte keine Ahnung vom biblischen Hintergrund. Warum lassen wir Kulturgut mißbraucht werden von säkularen Menschen, als ob diese große Kunst nicht christliche Kunst wäre?
Unser Sohn hatte einen Lehrer, der redete über die Bibel als vom größten aller Bücher. Die Bibel ist für ihn ein Buch wie die Werke Shakespeares oder Tolstois, – aber nicht Gottes Wort. Das sind Kultur-Christen, und das ist kein Weg. Da liegt eine große Gefahr. Das verschweige ich nicht. Im Umgang mit Kulturgeschichte soll man von vornherein die Grenze zu dieser Problematik sehen. Der Glaube an Kultur kann uns von Christus wegbringen, wie es bei vielen Menschen geschehen ist. So war auch Bultmann ein Kultur-Christ, und das hat vielleicht zu seiner diesseitigen Theologie geführt.
Solche Gefahren sind aber kein Grund, sich nicht mit großer Kunst zu beschäftigen, die wahre Verkündigung sein kann. Wir müssen lernen, die Geister zu unterscheiden. Das war immer ein Problem in gläubigen Kreisen.
Die Möglichkeiten, die christliche Kultur uns für die Verkündigung bietet, sind groß und vielfältig. Zinzendorf ist nicht der einzige, dem durch die Kunst der Weg zum Wort Gottes gewiesen wurde. Unter gläubigen Christen herrscht jedoch eine weitverbreitete Kultur-Ignoranz. Man kann über einen Schriftsteller wie Dostojewski sagen hören, daß man seine Bücher nicht lesen darf. Oder Mozart darf man nicht hören, weil er Freimaurer war. Solche Aussagen sind unqualifiziert. Mozart war zwar Freimaurer – und ich muß Freimaurerei ablehnen – , aber seine großartige Musik hat nicht im geringsten etwas mit seinem Freimaurertum zu tun. Das größte geistliche Werk Mozarts ist seine c-Moll-Messe, für deren Komposition er sich die h-Moll-Messe von J.S. Bach zum Vorbild genommen hat. Mozart hat Bachs Werke gekannt. Alfred Einstein, der Bruder des Physikers, ein großer Musikwissenschaftler, hat das dokumentiert. Gerade in der Entstehungszeit der Werke, die im Köchelverzeichnis unter den Nummern 390 – 430 erfaßt sind, war Mozart ganz und gar von Bach geprägt. Besonders in dieser Phase hat die Freimaurerei in Bezug zu seiner geistlichen Entwicklung in der Musik nicht die geringste Bedeutung. Pauschalablehnung wäre hier nicht angebracht.
Oder denken wir an Dostojewski. Er war als Epileptiker sehr krank, aber auch der Spielleidenschaft verfallen; das ist unzweifelhaft so, denn er hat es selbst beschrieben. Sein großer Roman »Die Brüder Karamasoff« ist eine Studie über drei Menschentypen – den Sinnlichen, den Intellektuellen und den Christen. Der Sinnliche, Fjodor, endet in Selbstzerstörung durch seine Sinnlichkeit. Der Intellektuelle, Iwan, ist ständig im Streit mit dem echten Christen, und er bricht geistig zusammen. Und der wahre Christ, Aljoscha, wächst und wächst in seiner Persönlichkeit durch Christus.
Dieses Thema hat Hemingway aufgegriffen in seinem Buch »A Farewell to Arms« (»In einem andern Land«). Er beschreibt zwei zentrale Typen: einen einfachen Priester, der aus dem Gebirge kommt, und einen gerissenen, intellektuellen Arzt, der mit diesem Priester zynisch umgeht. Beide kommen im Ersten Weltkrieg an die Front. Der Arzt bricht zusammen, und der Priester wächst in seiner Persönlichkeit durch seinen Glauben. Man könnte eine Doktorarbeit über das Thema schreiben: Der Intellektuelle im Gegenüber zum wahren, geistlichen, gläubigen Christen in der abendländischen Literatur.
Dostojewskis Gottesverständnis ist bemerkenswert, denn es enthält eine gewisse biblische Wahrheit: Auch große, heilige Menschen sind große Sünder. Denken wir an Mose, den Totschläger, an David, den Ehebrecher und Mörder, an Maria Magdalena, aus der Jesus sieben böse Geister vertrieb, darunter vielleicht auch den Hurengeist, oder an Saulus, den Mörder, der auf dem Weg zum Massenmörder war . . .
Auch Luther steht in dieser Reihe großer Gläubiger, die auch große Sünde auf sich luden; es ist erschütternd, was er in seiner Schrift »Die Juden und ihre Lügen« über die Juden gesagt hat. Aber wir brauchen das nicht zur Theologie zu machen. Denn schon beim aufmerksamen Lesen der Bergpredigt merken wir, was für schuldige und sündige Menschen wir alle sind in Gottes Augen. Denn nach der Bergpredigt Jesu ist jeder, der je gehaßt hat, in Gottes Augen ein Mörder im Geist; und wer je begehrt hat außer der Ehe, ist in Gottes Augen ein Ehebrecher. Dostojewski listet in seinem Werk solches auf und steht damit nicht weit außerhalb biblischer Aussagen über uns Menschen.
Tolstoi hat eine absolut falsche Theologie entwickelt. Er ist der Vater der Friedensbewegung. Denn in seinen späten Werken kam er zu dem Standpunkt, daß die Bergpredigt menschlich erfüllt werden müsse. Das ist aber unhaltbar, denn die Bergpredigt verlangt Vollkommenheit, wenn Jesus in ihr zentral fordert: »Ihr müßt vollkommen sein wie Gott.«
Tolstoi entwickelt in seinen späten Werken eine merkwürdige Theologie: »Das Reich Gottes ist in uns«, und in noch späteren Kleinschriften argumentiert er: »Wir müssen selbst Frieden auf Erden schaffen, wir sind die Friedensstifter, wir müssen die Bergpredigt selbst erfüllen.« Er versteigt sich zu der Behauptung, sexuelles Verlangen nach seiner eigenen Frau sei Sünde. Auch in seinen frühen Schriften läßt sich eine erstaunliche Tiefe christlich geprägten Denkens aufzeigen. In »Krieg und Frieden« zum Beispiel gibt es eine Stelle, die mich gefesselt hat, bevor ich gläubig wurde. Sie ist eine Selbstdarstellung Tolstois: Pierre kommt aus der Gefangenschaft unter Napoleon nach Hause zurück und findet zum Glauben an Jesus Christus. Tolstoi läßt Pierre sagen: »Es gibt drei Dinge im Leben, die zentral sind: Ich will wissen, was das ist, zu beten, wenn man wirklich glaubt. Ich will wissen, was das ist, zu lieben und geliebt zu werden. Und ich will wissen, was große Kunst eigentlich beinhaltet im Sinn unseres Schöpfers.« Diese zentrale Aussage hat mich außerordentlich betroffen gemacht, als ich noch nicht gläubig war.
In Tolstois »Tod des Iwan Iljitsch« erleben wir einen Mann, einen Erfolgsmenschen, im Sterben; er ist ein bedeutender Jurist, und alle denken nur daran, seine Stelle zu bekommen. Aber er hat eine problematische Ehe – seine Frau ist ein Püppchen und redet entsprechend mit ihm; darüber ist er verärgert. Familiär hat er nur eine Beziehung, die ihm etwas bedeutet, und das ist die zu seinem Sohn, der zu der Zeit ein Gymnasiast ist. In dieser Situation erlebt er plötzlich Umkehr, Buße, als ihm bewußt wird, daß sein ganzes Leben sinnlos ist. Er erlebt den Weg einer »Auferstehung« zu einem Neuanfang. Diese Aussage hat mich tiefbewegt, als ich auf dem Weg war, Christ zu werden. Als dritten seiner großen Romane hat Tolstoi noch ein Buch geschrieben mit dem Titel »Auferstehung«. Darin wird ein reicher, angesehener Richter mit einer Dirne konfrontiert, die alles Mögliche hinter sich hat. Und er merkt plötzlich: Dieses Mädchen habe ich verführt, als sie 17 Jahre alt war. Ich habe sie auf diese Wege gebracht. Das Leben dieses Mannes wird zutiefst erschüttert. Er soll sie richten, hat sie aber selbst auf diesen Weg gebracht. Er geht dann mit ihr in die Verbannung, zu der er sie dem bestehenden Recht nach verurteilen muß, obwohl er weiß und merkt, daß sie nichts für ihn übrig hat; trotzdem geht er mit ihr. In dieser Handlung steckt tief verborgen eine christliche Aussage.
Solche Literatur birgt wichtige Dokumente; sie öffnen Wege, auf denen Menschen wie David Jaffin zum Glauben geführt werden können. Und wenn diesen, warum dann nicht auch viele andere, die sich mit Kultur beschäftigen? Wenn wir aber kulturfeindlich, desinteressiert sind, verbauen wir uns den Zugang zu diesen Menschen.
Es gibt Menschen, die sich mit Kultur beschäftigen und denen dadurch der Weg zu Jesus geöffnet wurde. Ich denke da an einen jungen, einflußreichen französischen Schriftsteller, der einige meiner Gedichte hörte, die in Paris über Radio France vorgelesen wurden. Daraufhin schrieb er mir einen Brief, in dem ich las: »Sie sind Geistlicher. Ich bin kein gläubiger Mensch. Aber ich muß ehrlich gestehen: Wenn ich meine Lyrik erkläre, kann ich nur den Wortschatz der Metaphysik und vor allem den des Glaubens benutzen.« Solch eine Erkenntnis kann zu einem guten Anfang eines persönlichen Glaubens werden. Viele Möglichkeiten werden verschlossen bleiben, wenn wir mit Menschen ins Gespräch kommen und sie sofort merken, daß wir von ihrem Denkhintergrund keine Ahnung haben. Da fallen Türen ins Schloß. Mit solchen Menschen will man dann nichts zu tun haben. Aber so sollte es nicht sein, denn Jesus ist für jeden da, auch für Gebildete und Kulturkenner – nicht nur für Fischer.
Wie ist unser Verhältnis zum Theater?
Augustin war sicherlich einer der größten Kirchenväter und mit Luther und Calvin einer der größten Theologen. Augustin sagte: »Theater ist übel.« Damit hat er eine durchgreifende pietistische Tradition begründet. Die Theater wurden durch die Puritaner 1642 in England geschlossen, als Reaktion auf ein damals frivoles Theater. Augustins Verständnis von Theater basierte nicht auf dem großen griechischen Theater, von dem wir viel lernen können, sondern auf dem frivolen und gewalttätigen römischen Theater seiner Zeit, das durch und durch heidnisch war und von Übel für jeden Christen. So war es auch, als die Theater in England geschlossen wurden. Nicht Shakespeare war die Ursache – von dem wir viel lernen können – , sondern die frivolen Dramen jener Zeit. Damit brauchen wir allerdings nichts zu tun haben als Christen. Aber das bedeutet doch nicht, daß Theater geschlossen werden sollten, in denen Shakespeare aufgeführt wird oder auch Strindberg, ein wenn auch merkwürdiger Christ, aber seine Verkündigung über Paulus in dem Werk »Auf dem Weg nach Damaskus« ist sehr interessant. Auch er hat mich beeinflußt, als ich siebzehn, achtzehn Jahre alt war. Gewiß, er hatte ein sehr schwieriges Leben geführt, ging merkwürdige Wege, aber er bekennt sich zu Jesus als seinen Heiland und seinen Erlöser. Es gibt bewußte Christen unter den Dramatikern, z.B. Paul Claudel und Thornton Wilder und andere.
Der Grundgedanke wahren Theaters ist es, den Menschen zu entblößen. Im griechischen Theater trägt jeder eine Maske, denn der Mensch ist ein Heuchler. Das griechische Wort für Schauspieler ist verwandt mit dem Wort für »Heuchler«. So ist die Zielsetzung der großen Dramatiker, die Menschen zu entblößen und zu zeigen, wie sie wirklich sind. Die größten Dramatiker, Sophokles und Shakespeare, entblößen wie kein anderer. Aber, ist das nicht auch ein zentraler Teil der Predigt? Ist der Prediger nicht da, um die Menschen zu entblößen in ihrer Heuchelei, in ihrer Selbsttäuschung in Bezug zu Schuld und Sünde und zum Tod? Gewiß, das ist nur der erste Schritt. Nachdem der Mensch entblößt ist, muß er überdeckt werden mit Jesu Kreuzesblut. Aber die Reihenfolge ist sehr wichtig. Shakespeare und Sophokles fordern heraus, ehrlich mit uns selbst zu sein. Jesus sagt, wir müssen den Balken aus unserem eigenen Auge entfernen.
Goethe verkehrte als junger Mann in pietistischen Kreisen und schrieb unter diesem Einfluß seinen »Urfaust«, in dem man Verkündigung entdecken kann. Manche sagen, Goethes Auffassung von Glauben ist anders als unsere. Das ist richtig. Aber der Glaube hat den jungen Goethe bewegt.
Es gibt ein noch radikaleres Beispiel: Friedrich Nietzsche, der Gottesspötter sondergleichen des 19. Jahrhunderts. Mit 18 Jahren schrieb Nietzsche mit »Der unbekannte Gott« eines der großartigsten religiösen Gedichte in der deutschen Literatur. Aber Nietzsche nicht zu zitieren, weil er ein Gottesspötter ohnegleichen war, ist sicher zu weit gegriffen, besonders wenn er nach dem Schreiben dieses Gedichtes vom Glauben weggekommen ist. Wir wollen von dem Werk ausgehen und nicht von dem Menschen. Das ist eine sehr zentrale Aussage. Es gibt großartige Werke von Mozart, die überhaupt nichts mit Freimaurertum zu tun haben.
Es gibt großartige Verkündigung von Tolstoi und Dostojewski, die überhaupt nichts mit ihrer Theologie zu tun haben. Und es gibt sogar Glaubensaussagen von Goethe und Nietzsche, so daß wir sie nicht mit ihrem ganzen Denken verwerfen müssen.
Es gibt katholisch und evangelisch geprägte Kultur. Das beobachte ich, auch ohne kirchlicher Ökumeniker zu sein. Ich bin in meiner theologischen Auffassung durch und durch evangelisch: allein Jesus Christus, allein die Heilige Schrift, allein durch Gottes Gnade aus Glauben. Das gilt in meiner Theologie, aber nicht immer in meinem Kulturverständnis.
Viele der größten christlichen Maler waren katholisch, aber sie waren zum guten Teil biblisch in ihren Bildern. Denken wir an Leonardo da Vincis »Das letzte Abendmahl«. Auf diesem Bild ist alles biblisch, genauso wie in der Darstellung des Abendmahls von Tilman Riemenschneider. Im Louvre in Paris wird das berühmte Bild von da Vinci gezeigt, auf dem der Künstler Jesus als Säugling darstellt; was um das Kind vor sich geht, interessiert es nicht, nur das Lämmchen neben sich. Das ist ganz und gar evangeliumsgemäß: Von Anfang an denkt Jesus an das »Lamm, das der Welt Sünde hinweg trägt«, an sein Kreuz. Das ist keine untypische katholische Darstellung. Es ist eine wunderbare Verkündigung.
Ein ganz anderes Gebiet biblisch orientierter Kunst bringt die russische Ikonen-Malerei, vor allem die Nowgorod-Schule und die Moskau-Schule des 15. Jahrhunderts. Die Voraussetzung für diese Maler war: Sie mußten sich in die Schrift vertiefen, bevor sie malten.
In der Reihe der größten religiösen Maler würde ich Giovanni Bellini im gleichen Atemzug mit Rembrandt nennen. Dürer gilt als evangelisch – aber Giovanni Bellini hat ihm geholfen, zu einem großen Maler zu werden. In Wien begegnete Dürer neben Mantegna besonders Bellini, der einen starken Einfluß auf ihn ausübte. Ich stieß auf diesen Zusammenhang während einer Reise nach Venedig, die unter dem Leitwort stand »Kunst als Verkündigung«. Wir waren dort die ganze Zeit mit Bellini beschäftigt, und es wurde uns deutlich, wie häufig Bellini Jesus als Kleinkind mit seiner Mutter darstellt, wie auch Cranach. Das ist ein Thema für beide großen christlichen Konfessionen. Auf fast allen Bildern sieht man Jesus mit dem Gesicht eines Erwachsenen. Das bedeutet: Jesus ist geboren, um zu sterben. Öfters erkennt man auch das Zeichen seines Kreuzes.
Grünewald hatte dafür wohl das tiefste Verständnis und malte bei der Darstellung der Geburt Jesu am Isenheimer Altar die Windeln genauso zerrissen wie das zerrissene Leintuch am Kreuz – er ist geboren, um zu sterben.
Dies ist Verkündigung in tiefer Erkenntnis. Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Das Bild Bellinis, in dem die Verkündigung am tiefsten zum Ausdruck kommt und in dem auch die Innigkeit des klaren, klassischen Ausdrucks spürbar wird, ist ein Bild, bei dem unten auf dem Holzrahmen der Name Giovanni Bellini geschrieben steht, und der dargestellte Jesus ist gerade im Begriff, mit seinem Fuß auf diesen Namen auf dem Holzrahmen zu treten. Was bedeutet das? »Einer wird kommen, dem Satan den Kopf zu zertreten« (1. Mose 3,15b). Bellini will zum Ausdruck bringen: Er zertritt meinen Namen, denn der Satan lebt in mir. Das ist außerordentlich tiefe Erkenntnis in dieser Art Verkündigung! Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Und Bellini war Katholik, sein Anliegen aber ist durchaus biblisch. Freilich gibt es von ihm auch Bilder, die man nur in ihrem künstlerischen Wert betrachten kann, deren Theologie das Biblische vermissen läßt, z.B. »Die Himmelfahrt Maria«. Hier sind trotz eines großartigen Kunstwerks Grenzen der Verkündigung überschritten.
Auch in der Musik gibt es Themen, die wir als schöne Musik bezeichnen können, deren theologische Aussage wir aber verneinen müssen, z.B. das »Ave Maria«. Da sind Grenzüberschreitungen. Doch weil jemand Katholik ist, bedeutet das nicht, daß seine Verkündigung unbiblisch ist. Denken wir nur an die Messen Haydns, eines der größten aller religiösen Komponisten – welch ein Tiefgang! Zum Beispiel die Mariazeller Messe: Das ist absolut biblisch, denn im Zentrum liegt die Betonung auf dem Kreuz.
Ich gehe noch einen Schritt weiter. Es gibt große Kunstwerke, die ohne christliche Thematik trotzdem christliche Kunstwerke sind. Ich denke da aus der bildenden Kunst an Jakob van Ruisdael, einen der größten Landschaftsmaler aller Zeiten. Vielleicht kann man im gleichen Atemzug mit ihm nur die Donauschule, Altdorfer und Cranach, nennen oder Caspar David Friedrich. Jakob van Ruisdael ist Zeitgenosse Rembrandts, und er arbeitete in einer großen Glaubensepoche. Fast alle seine Bilder unterschreibt er nicht mit seinem Namen, sondern mit einem abgesägten Baum. Er will damit zum Ausdruck bringen: Ich bin ein verlorener Mensch, dem Tod geweiht.
Ich habe einen Freund, ein wirklicher Bruder im Glauben, der meine Lyrik gut kennt. Er meinte einmal: »David, deine besten religiösen Gedichte sind die, die kein religiöses Thema haben. Wenn du die innere Stille in der Schöpfung beschreibst, gehst du in eine metaphysische Welt, die direkt mit deiner Religiosität zu tun hat.« Das ist etwas ganz anderes als die katholische Mystik, die den Versuch unternimmt, sich mit Gott zu vereinigen. Solches Bemühen ist evangelischer Verkündigung entgegengesetzt. Der junge Luther – das zu wissen, ist sehr wichtig – stellt sich immer wieder bewußt unter das Kreuz zu Jesu Füßen und bezeugt damit: Ich bin ein verlorener Mensch, der Sünde und dem Tod verfallen, aber du, Herr, bist mein Heiland und Erlöser. Die Kreuzesmystik Luthers ist, sich total zu erniedrigen in der Erkenntnis, daß ich ein gefallener, verlorener Mensch bin – ich bin nicht würdig, die Riemen deiner Schuhe zu lösen, im Staub vor dir zu stehen.
Wenn ich mich ausruhen möchte, um neue Kraft zu schöpfen, tue ich das häufig, indem ich mich hinlege, an gar nichts denke, aber einem langsamen Satz aus einem Streichquartett von Haydn zuhöre. Eine innere Stille geht von solch einem Stück aus – »sei nur stille zu Gott, meine Seele«. Haydn hat immer gebetet, bevor er seine Werke schrieb. Jedes seiner großen Werke unterzeichnete er mit »in nomine domini«, im Namen des Herrn. Darunter sind auch Werke ohne christlichen Inhalt.
Es gibt eine ganze Entwicklung in der Musik, die man in den gebetsartig langsamen Sätzen beobachten kann – auch bei Bruckner und in den Beethoven-Quartetten, innige Sätze, bei denen sich der Künstler offensichtlich bewußt ist, daß er in musikalischer Sprache ohne Worte betet. Es gibt auch sonst wortlose Gebete, Gebete unter dem Zeichen von Gottes Heil, in der Erniedrigung des Bewußtseins: Ich bin im Staub vor Christus, er soll mich füllen mit seiner Kraft – das ist Beten ohne Worte. So bekomme ich große geistliche Kraft auch im Hören von Haydns langsamen Sätzen.
Der Höhepunkt in der Kammermusik-Literatur ist für mich der langsame Satz von Opus 76, Nr. 5, von Haydn. Das läßt sich einfach nicht überbieten in seiner tiefen Innerlichkeit. Es ist Verkündigung ohne christliches Thema – aber von einem bewußt als Christ lebenden Künstler. Luther sagt: »Unser ganzes Leben soll ein Gottesdienst sein.«
Ein Beispiel aus der bildenden Kunst veranschaulicht das, was ich hier meine: Vergleichen wir Rembrandt und Rubens. Rubens kann religiöse Themen malen, aber er malt sie fast immer im weltlichen Geist. Es gibt ein berühmtes Kreuzigungsbild von Rubens. Die Körperlichkeit der Gliedmaßen steht im Vordergrund, Muskeln, Knochen – er malt Körper. Wenn er ein Kreuzigungsbild malt, interessiert ihn überhaupt nicht die religiöse Thematik, nur der geschundene Körper. Er ist ein »fleischlicher« Maler. Aber Rembrandt kann ein Rind malen, und es wird ein geistliches Bild. Im Louvre ist sein Bild ausgestellt »Der geschlachtete Ochse«. Das ist Darstellung einer Opferung.
Luther war es wichtig: Bei einem wahren Christen – das war Rembrandt – ist sein ganzes Werk Gottesdienst. Rembrandt ist sich dessen bewußt, während man bei anderer innerer Haltung christliche Themen malen kann – wie Rubens – , wo die Kunst im »Fleischlichen« steckenbleibt.
Auch Rembrandts Selbstbildnisse sind christliche Zeugnisse. Wie kann man sich selbst – nicht Jesus – malen als christliches Zeugnis? Rembrandt hat sein ganzes Leben lang, vom jungen Mann bis ins hohe Alter, Selbstbildnisse gemalt. Auf den ersten Bildern malt er sich mit besonderem orientalischem Schmuck, etwas apart, das junge Genie, das zeigen kann, daß er etwas Besonderes ist. Auf den späteren Bildern malt er sich entblößt von alldem Beiwerk, keine Schönheit, aber erkennbar in körperlichem Verfall. Warum malt er sich? Weil Rembrandt weiß, daß er nicht wissen kann, wer er ist, denn der Mensch ändert sich von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Jede Sicht von mir selbst ist verzerrt (das ist auch ein zentrales Thema meiner Lyrik). Rembrandt versucht, sich so ehrlich wie möglich festzuhalten, und er malte sich zwei Wochen später wieder, weil er anders geworden war. Paulus hat dieses Thema in 1. Korinther 13 zentral behandelt: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort, aber dann von Angesicht zu Angesicht.«
Ich werde mich nur erkennen, indem ich von Christus erkannt bin. Nur Gott kann mir zeigen, wer ich bin. Das Wissen durchdringt und bestimmt auch Rembrandts Malerei, die Unfähigkeit des Menschen, sich selbst zu bestimmen. Und wo führt das hin? In dieser Entblößung gibt es immer einen Lichtschimmer. Das Licht/Dunkel in Rembrandts Gemälden ist keine Methode, es ist Inhalt. Dieser Lichtschimmer ist sein Glaube, er weiß: Jesus ist das Licht der Welt. In seinen religiösen Bildern hat er immer wieder dieses Licht gemalt, deshalb kann man aus dem gesamten Schaffen Rembrandts deutlich erkennen, worum es sich bei diesem Licht handelt. Wenn man erkennt, daß dieselbe Art von Licht von ihm in bezug zu Jesus benutzt wird wie auch in seinen Selbstbildnissen, dieses durch schimmernde Licht, dann meint er damit: Jesus ist der, der mich bestimmen kann; er ist der, der mich durchleuchten kann; er ist der, der mich aus der Dunkelheit der Sünde herausholen kann. Überall finden wir bei Rembrandt diese Symbolik, auch wo das Bild kein christliches Thema hat. Das Wesen geistlicher Malerei wird also nicht von ihrer Thematik bestimmt. Die Thematik ist nicht der einzige Maßstab dafür, was christlich ist. Es ist ein Maßstab, aber es ist nicht ein unbeirrbarer Maßstab. Das zu erkennen ist wichtig.
Ich möchte noch etwas über den großen englischen Dramatiker William Shakespeare sagen und zeigen, wie er biblische Themen benutzt, die einen Menschen zum Nachdenken bringen können. Shakespeare kannte die Bibel und ließ ihre Aussagen in seinen Werken immer wieder aufleuchten. Da berichtet die Bibel die Begegnung des Auferstandenen mit Maria Magdalena. Maria hält Jesus für den Gärtner, denn sie sucht ihn in seinem gekreuzigten Leib. In ihrer Trauer steht ihr der Leichnam Jesu vor Augen. Deshalb spricht sie den Unbekannten, der da plötzlich hinter ihr steht, als Gärtner an. Aber sie findet den Auferstandenen. Das ist die Aussage aller Erscheinungen des Auferstandenen: Wer den Gekreuzigten sucht, auch wie ein Thomas, der ihn als Beweis betasten will, der wird dem Auferstandenen begegnen. Wir leben in Kreuzesnachfolge, nicht in Auferstandenen-Nachfolge. Aber als Maria Magdalena ihm begegnet, verkennt sie ihn und wähnt, er sei ein Gärtner. Sie meint freilich einen normalen Gärtner, der da kommt, um zu arbeiten. Aber Jesus ist der Gärtner, und gerade das ist die Thematik. Er herrscht über zwei Gärten, den Garten der Tränen, den Garten Gethsemane. Sie selbst befindet sich noch in diesem Garten, sie ist wie aufgelöst in Tränen. Grünewald und Cranach malen Maria Magdalena so, daß ihr ganzes Haar mittränt, mitweint, ihre Kleider, ihr ganzer Körper weinen mit ihr, sie ist in Tränen verwandelt – sie ist im Garten Gethsemane.
Aber Jesus ist auch der Gärtner des Paradieses. Es gibt eine ganze Tradition in der Malerei, Claude Lorrain zum Beispiel, im 17. Jahrhundert, der auch Caspar David Friedrich beeinflußt hat, in der Jesus als Gärtner gemalt wird.
Shakespeare nun hat dieses Thema in sein tiefstes poetisches Werk übernommen, »Richard II.« Dieses Drama ist als Theaterstück schwer aufzuführen. Aber wenn man es liest, empfindet man es als sein größtes Werk – großartige Lyrik! Shakespeares Thema ist darin der von Gott eingesetzte, gerechte König, der Gärtner ist seines Reiches. Das ist kein Zufall, sondern Shakespeare hat die Begegnung der Maria Magdalena mit Jesus vor Augen – auch wenn das von der weltlichen Literaturwissenschaft völlig verkannt wird.
Auch in Shakespeares »Macbeth« leuchtet sein Glaubenswissen durch. Neben Kleists »Michael Kohlhaas« und Melvilles »Moby Dick« ist »Macbeth« wohl das tiefste Werk über das Metaphyisch-Böse. Lady Macbeth und ihr Mann haben den gerechten, eingesetzten König umgebracht. Und jeden Abend wandelt sie im Schlaf und ruft: »Ich will meine Hände waschen vom Blut – ich will meine Hände waschen vom Blut.« Das erinnert sofort an Pontius Pilatus: »Ich wasche meine Hände in Unschuld« – vom Blut dieses Gerechten. Er will es, aber er kann es nicht; er hätte Jesus ja freilassen können, wenn er gewollt hätte. So knüpft Shakespeare mit seiner Lady Macbeth an diesem biblischen Gechehen an – das ist kein Zufall.
Noch ein Beispiel aus Shakespeares »Henry IV.«. Wohin geht der wahre, gute König als Vorbereitung, um König zu werden? Ins Armenviertel, und er lebt dort unter Verbrechern, zwischen Leuten, die zuviel trinken, und bei Huren. Aber er lebt nicht wie sie, sondern er lebt unter ihnen. Das ist ein gesamtbiblisches Thema von David bis zu Jesus hin. Als David von Saul verfolgt wird, kommen alle möglichen Menschen, zu ihm, nicht alle sind redliche Leute. Und Jesus hält später Tischgemeinschaft mit den Ausgestoßenen, mit Zöllnern und Verbrechern, und mit seinen Jüngern – der wahre König ist mit seinem Angebot für alle da.
Shakespeare übernimmt dieses Thema. Ein Christ, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der erkennt das. Shakespeares »King Lear« wurde fast immer christologisch verstanden; ein Franzose erklärt »Hamlet«, daß dieser unfähig ist zu töten, weil er Christ ist und weiß, daß er sich nicht rächen darf an seinen Feinden. Das führt zu seinem Untergang als Mensch. Der grundlegende Konflikt in ihm ist der Begriff der Ehre – als Heide – gegenüber dem »Du sollst deine Feinde lieben« – als Christ. Das ist eine tiefe Auslegung von Shakespeares Hamlet.
Kultur hat aber auch ihre gefährlichen Seiten. Viel modernes Theater ist blasphemisch. Ich empfehle nie, ins Theater zu gehen, ohne sich vorher ausreichend darüber informiert zu haben, was gespielt wird und wie es gespielt wird. Man kann üble Erfahrungen machen, wie ein an sich gutes Stück von modernen Theatergruppen und ihrer Regie zur Hurerei gemacht werden kann. Auch in der Musik gibt es Entgleisungen. So ist die 9. Symphonie von Beethoven, auch nach der Kritik vieler Musikwissenschaftler, in ihrem letzten Satz viel zu lang und absolut überschwenglich. Den vorausgehenden großartigen Instrumentalsätzen folgt eine Verkündigung im Schlußchor, die rein humanistisches Gedankengut ist: Alle Menschen sind Brüder; wir werden alle einander umarmen. Auch der Geist dieser Musik ist humanistisch.
Auch gibt es verblendete Komponisten wie Wagner. Er war ein massiver Antisemit. Deshalb muß seine Musik nicht antisemitisch sein. Aber in seinem Musikstil war er ein teutonischer Komponist. Deshalb wurde Wagner im Dritten Reich von Hitler benutzt. »Die Meistersinger«, das vielleicht auch noch neben »Tristan« und »Parsival« beste Stück Wagners, habe ich in Nürnberg erlebt, in der Stadt von Hitlers großen Parteitagen. Zunächst war ich eingenommen von der Musik, bis mich im Schlußsatz das Gefühl überfiel, ich sei im Dritten Reich. Plötzlich überkam mich Angst, ich war in Schweiß gebadet, denn ich spürte den Geist dieser Musik. Wagner zeigt in seinen Werken immer wieder den Typus des Juden und den des Deutschen. Darin ist er sehr gefährlich. Eine Aufführung von Wagners Werken wird in Israel nicht erlaubt. Das ist mir verständlich, aber daß in Israel auch Richard Strauß verboten ist, verstehe ich nicht, wenn ich persönlich auch seinen Musikstil nicht mag. Seine Musik hat keinen nazistischen Geist. Hier muß man einen Unterschied machen. Übel war jedoch, daß er sich propagandistisch von Hitler benutzen ließ.
Musik kann arg mißbraucht werden: Bruckners Sinfonien haben einen außerordentlich tiefen Geist, besonders seine Siebte. Der langsame Satz seiner Siebten Sinfonie ist einer der hohen Gipfel der sinfonischen Musik überhaupt. Er steht damit in einer Tradition, die zurückgeht zu Haydns langsamen Sätzen und zu den langsamen Sätzen in Beethovens Streichquartetten. Doch diese Musik wurde über alle deutschen Radiosender gespielt, als Hitlers Tod bekannt wurde: Heldenmusik für unseren Führer… Ich habe einen Juden getroffen, der nach Deutschland kam und sagte, er könne Bruckner deshalb nicht hören. Aber das ist kein Argument. Bruckner hat Hitler noch nicht kennen können. Er war ein frommer katholischer Christ. Es ist bedauerlich, daß seine Musik mißbraucht wurde. So etwas dürfen wir nicht zulassen, denn seine Musik ist im Grunde tief religiös.
Auch muß dringend gewarnt werden vor der Pornographie in der Kunst. Und Vorsicht vor Heavy metal und Satanischem! In meiner Kirche erlaubte ich alles, was christlich ist. Das bedeutet nicht unbedingt, daß ich alles Dargebotene als große Musik betrachtete. Aber wenn die Jugend modern-rhythmische Musik mag und echte christliche Verkündigung damit verbunden ist – gut. Aber noch besser ist, wenn die Musik tiefe christliche Verkündi gung bietet und wir die Jugend dafür gewinnen können, denn ihr Glaube kann dadurch vertieft werden, so wie es mir zum Beispiel bei den wunderbaren Vertonungen der Psalmen durch Mendelssohn-Bartholdy geht.
Doch ich möchte nicht mit Apologetik schließen, mit Warnungen und Grenzziehungen, sondern von einer Entdeckung berichten. Ich kaufe gerne Musik auf Platten oder CDs, um zu lernen. So entdeckte ich einen interessanten Komponisten mit Namen Homilius. Er war ein Schüler Johann Sebastian Bachs. Er stammt aus einem frommen Pfarrhaus und war auch selbst fromm. Homilius ist 1714 im gleichen Jahr geboren wie Gluck und Carl Philipp Emanuel Bach und ging den Weg der großen Komponisten seiner Zeit. Er hat mehr Kantaten geschrieben als Bach und wunderbare geistliche Motetten – aber er ist weitgehend unbekannt. Es gibt nur eine einzige Platte mit einer Auswahl seiner Werke – Motetten von Homilius. Das ist großartige Verkündigung, zum Beispiel seine Vertonung des 23. Psalms: »Mir wird nichts mangeln« – dreimal wiederholt! Dieser Psalm gewann existenzielle Bedeutung für ihn. Er hat ein Passionsoratorium zu einem faszinierenden Thema geschrieben: »Sie gingen alle in die Irre.« Niemand kam auf solch einen Gedanken, auch Bach nicht. Ich kenne nur 12 Motetten von ihm, aber sie zeigen, daß er ein zentraler religiöser Komponist seiner Zeit war. Er steht in der besten A-capella-Tradition, die zurückgeht auf Schütz und auf Scheins »Israels Brünnlein«, eines der großen alten Meisterwerke.
Aber noch viel wichtiger als die Wiederentdeckung von Homilius ist Bachs früher Zeitgenosse und großartiger böhmischer Barock-Komponist, Jan Dismas Zelenka. Heinz Holliger, der weltberühmte Oboist stellt fest: »Seine Musik steht wie die Bachs über der Zeit.« Es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser eigenwillige Zelenka mit Bach, Händel und Corelli zu den wirklich großen Meistern des Hochbarock gehört, und bis vor zwanzig Jahren war gerade dieser Zelenka völlig unbekannt. Dazu sind unter anderem seine Triosonaten, seine »Missa Votiva« und »Missa dei patris« und sein Te Deum in D-Dur große musikalische und religiöse Erlebnisse.
Allein schon die Andeutungen in dieser Einführung in christliche Kultur lassen den Schluß zu: Wenn wir uns nicht mit der großen Kultur und ihren christlichen Wurzeln beschäftigen, schneiden wir uns von vornherein von einem Teil größter Verkündigungsmöglichkeiten ab. Wir schneiden uns ab von Künstlern wie Rembrandt, Grünewald, Bellini, Haydn, Tolstoi, Shakespeare und anderen, die in ihren Werken einen außerordentlich geistlichen Tiefgang haben. Diese Künstler haben manchmal Zusammenhänge erkannt, die Theologen nicht gesehen haben.
Zum anderen gibt es ganz gewiß auch eine Gefahr in der großen Kunst: Man kann von ihr so fasziniert sein, daß man sich immer weniger mit der Bibel beschäftigt. Und das ist nicht gut.
Das Zentrum meiner Verkündigung ist und bleibt Gottes Wort, die Bibel. Wir wollen nicht zu einer beflissenen Kulturchristenheit werden. Aber für mich ist die große christliche Kultur nicht nur eine Bereicherung, sondern auch eine Vertiefung meines Glaubens. Und wenn wir die Beschäftigung mit diesen Kunstwerken ausklammern, schließen wir damit die Möglichkeit aus, eine ganze Reihe von Menschen für ein Leben mit Jesus zu gewinnen, die in unsere Gemeinden vielleicht manche Bereicherung einbringen könnten. Jesus ist nicht nur für die Fischer gekommen, sondern auch für Paulus, der ein ungewöhnlich intelligenter und gebildeter Mensch war. Und Christus ist auch gekommen für Menschen mit einem starken Empfinden für Kunst und Kultur.
Eingestellt von Horst Koch, Herborn, im November 2023
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