Wurmbrand – Gottes Bote in Rumänien

RICHARD WURMBRAND

CHRISTUS WIRD SIEGEN, WAS IMMER GESCHIEHT

Aus dem Leben des deutsch-rumänischen Judenchristen Richard Wurmbrand

Inhaltsverzeichnis

I. In Rumänien
Kindheit und Armut
Christian Wölfkes
Meine erste Begegnung mit Jesus
Isaak Feinstein
Jom Kippur 1937
Mission unter Juden
Magne Solheim
Auf der Suche nach des Vaters Haus
Isaak Feinsteins Märtyrertod
Unser Dienst am jüdischen Volk
Begegnungen mit Rabbinern
In den Wirren des Krieges
Mein Dienst an den Russen
Im Gefängnis
Kurze Freiheit
Gherla
Unsagbare Folterungen
Mein Gethsemane

II. Im Westen
Es gibt keine Null in der Bibel
Christen aus dem Westen besuchen Osteuropa
Im schönen Norwegen
Die erste Mission wird gegründet
Wie ich bekannt wurde
Meine Begegnung mit Deutschland
Weitere Missionen werden gegründet
Neue Versuchungen im Westen
Unser Jubiläum

III. Die Rückkehr nach Rumänien
Rückkehr im Triumph
Eine Trauer nur – kein Heiliger zu sein
Eine Heldin des Glaubens
Kollaborateure der Kommunisten
Die Verräter
Ein zentraler Ort in meinem Leben
Zähle Deine Sekunden
Den Feind lieben
Warum so viel Leiden

– Zusammengestellt und herausgegeben von Horst Koch, Herborn; im Herbst 1998 –

I. In Rumänien

Kindheit und Armut
Am 24. März 1909 wurde ich in Bukarest, Rumänien, geboren. Mein Vater starb als ich 9 Jahre alt war. In unserer Familie war das Geld immer knapp, und oft genug auch das Brot. Ein Bekannter wollte mir einmal einen Anzug schenken, doch als wir in den Laden kamen und der Kaufmann seine Ware brachte, sagte er: „Das ist viel zu schön für einen solchen Jungen.“ Ich kann mich immer noch an seine Stimme erinnern. Meine Schulausbildung war recht mangelhaft, doch wir hatten viele Bücher zu Hause. Noch ehe ich zehn Jahre alt war, hatte ich sie alle gelesen und wurde genau so ein großer Zweifler wie Voltaire, den ich verehrte. Da es in meiner Familie keinerlei religiöse Unterweisung gab, wurde ich durch das Lesen atheistischer Bücher und die ständige Armut schon mit vierzehn Jahren zu einem verhärteten Gottesleugner. Ich haßte geradezu jede Vorstellung von Religion.
Dennoch zog mich ständig etwas unerklärliches in die Kirchen. Es fiel mir schwer, an einer vorbeizukommen und nicht hineinzugehen. Jedoch verstand ich dann nie, was in diesen Kirchen vor sich ging. Ich lauschte den Predigten, aber sie drangen nicht zu meinem Herzen. Von Gott hatte ich keinerlei Vorstellung, aber ich hätte zu gerne gewußt, ob irgendwo im Zentrum dieses Weltalls ein liebendes Herz existierte. Ich hatte nur wenig Freude in meiner Kindheit und Jugend erfahren. Deshalb sehnte ich mich danach, daß irgendwo ein liebendes Herz auch für mich schlagen möchte.
Ich war ein Atheist, aber der Atheismus gab meinem Herzen keinen Frieden.
Als ich erwachsen war, trat ich ins Geschäftsleben in Bukarest ein. Meine Sache machte ich gut. Noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, hatte ich bereits eine Menge Geld zur Verfügung. Ich gab es in prunkvollen Bars aus und für die Mädchen von Klein-Paris, wie man die Hauptstadt nannte. Nach den Folgen fragte ich nicht, solange nur mein Hunger nach immer neuen Reizen gestillt wurde. Das war ein Leben, um das mich viele beneideten. Doch mir selbst brachte es nur Herzeleid. Ich wußte, daß ich in mir etwas achtlos zerstörte, was gut war und für andere genützt werden sollte.
Auch nach meiner Heirat jagte ich weiter nach Vergnügungen, log, betrog und tat anderen Menschen weh. Da mein Körper durch die Entbehrungen der Kindheit geschwächt war, führte dieses ausschweifende Leben dazu, daß ich mit siebenundzwanzig Jahren an einer Tuberkulose erkrankte. Zu jener Zeit war die Tb noch eine fast unheilbare Krankheit, und eine Zeitlang sah es so aus, als würde ich sterben. Ich hatte Angst.
In einem Sanatorium auf dem Land kam ich zum ersten Mal in meinem Leben zur Ruhe. Ich lag da, schaute in die Baumkronen und dachte über die Vergangenheit nach. Sie tauchte in meinem Gedächtnis wie Szenen aus einem grausigen Schauspiel auf. Meine Mutter und meine Frau weinten um mich, und viele schuldlose Mädchen hatten ebenfalls geweint. Ich hatte verführt, verleumdet, gespottet und geprahlt, nur um Eindruck zu schinden. Da lag ich nun, und die Tränen kamen mir.
In diesem Sanatorium betete ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gebet eines Atheisten. Ich sagte etwa: „O Gott, ich weiß, daß es dich nicht gibt. Falls es dich doch gibt, so ist es deine Sache, dich mir zu offenbaren. Es ist nicht meine Pflicht, nach dir zu suchen.“
Nach einigen Monaten ging es mir etwas besser und ich siedelte in ein Bergdorf über, um mich weiter zu erholen.


Ein Deutscher zeigt einem Juden den Weg zu Christus

Man schrieb das Jahr 1937. Hitler war an der Macht. In einem kleinen Bergdorf in Siebenbürgen betete der betagte Zimmermann Christian Wölfkes täglich folgendes Gebet: „Oh Herr, laß mich nicht eher sterben, bis ich einen Juden zu Christus geführt habe, weil Jesus vom jüdischen Volk kam. Aber ich bin arm, alt und krank. In meinem Dorf sind keine. Bringe du einen Juden in mein Dorf, und ich will mein Bestes tun, um ihn zu Christus zu führen.“

Der erste Jude, der in jenem Frühling in das Dorf kam, war ich selbst. Nachdem Wölfkes sich mit mir angefreundet hatte, gab er mir eines Tages eine Bibel. Ich hatte schon vorher die Bibel gelesen, aber sie hatte nie Eindruck auf mich gemacht. Aber die Bibel, die ich jetzt in der Hand hielt, war von anderer Art. Erst später entdeckte ich ihr Geheimnis. Wölfkes und seine Frau verbrachten Stunden damit, für meine Bekehrung zu beten. So war diese Bibel eigentlich nicht in Buchstaben, sondern in Flammenzeichen der Liebe geschrieben. Ich konnte sie nur mit Mühe lesen. Die Tränen begannen jedesmal zu fließen, wenn ich mein schlechtes Leben mit dem Leben Jesu verglich, meine Unreinheit mit seiner Reinheit, meinen Haß mit seiner Liebe.

Wölfkes ließ die Bibel und seine Gebete in meinem Herzen wirken. Er sprach kaum mit mir. Instinktiv wußte er, was so viele ausgebildete Missionare nicht wissen, daß die wirksamste missionarische Methode in der Zurückgezogenheit, dem Schweigen und dem konzentrierten Gebet liegt, um der Seele, die man gewinnen will, Frieden zu geben. Man soll zufrieden sein, daß man ein Samenkorn ausgestreut hat. Dieses wird mit der Zeit Wurzeln schlagen und wachsen.
Eine lange Zeit verging, bis der alte Mann mich eines Abends besuchte. Er redete in einfachen Worten mit mir, Worten, die von Herzen kamen, über Dinge, die ein Jude hätte wissen müssen: über die Erfüllung der messianischen Verheißungen in Jesus; von Jesu sanfter Aufforderung, mit der er sein Volk rief; von der Liebe, die Gott immer noch zu den Juden hat um ihrer Vorväter willen, die Träger des Glaubens waren.
Gott öffnete mein Herz, so daß ich imstande war dem Evangelium zu glauben. So gab dieser bescheidene Zimmermann den ersten Anstoß zu meiner Bekehrung. Später trat auch meine Frau dem Glauben bei. Sie führte andere Seelen mit sich, die wiederum andere brachten, und so ging es weiter, bis in Bukarest eine judenchristliche Gemeinde gebildet wurde, die viele Jahre kräftig gedieh.
In diesen ersten Tagen meines Glaubens kam mir plötzlich ein Erlebnis aus meiner Kindheit ins Gedächtnis. Ich hatte es völlig vergessen, aber in meinem Unterbewußtsein war es doch fest verankert. Es war meine allererste Begegnung mit Jesus.

Meine erste Begegnung mit Jesus

Da ich von nichtpraktizierenden jüdischen Eltern aufgezogen wurde, hörte ich in meiner Kindheit weder ein schlechtes noch ein gutes Wort über Jesus. Er war mir gänzlich unbekannt.
Eines Tages, als ich mit einem anderen Burschen auf dem Weg nach Hause war, blieb er vor einer Kirche stehen und sagte: „Warte einen Moment auf mich. Mein Vater hat mich gebeten, dem Priester etwas zu sagen.“ Ich sagte: „Ich gehe mit Dir hinein.“ Und so überschritt ich zum ersten Mal die Schwelle einer Kirche.
Ich war tief beeindruckt. Zuerst sah ich das Bild eines Mannes, der gekreuzigt worden war. Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war, aber er mußte schlecht gewesen sein, sonst hätte man ihm dies nicht angetan. Als Kind wurde ich oft geprügelt, und wahrscheinlich verdiente ich es auch. Aber dieser Mann, der überall blutete und mit Nägeln an ein Kreuz befestigt war, – warum?

Ich sah auch das Bild einer wunderschönen jungen Frau, die mich mit großer Liebe ansah. Einen solchen Ausdruck war ich nicht gewöhnt. Vielmehr wurde ich ja verachtet, weil ich ein jüdischer Junge war, dazu noch ärmlich gekleidet, dünn, zart und klein. Ich war ungeliebt. Aber diese Frau liebte mich. Von diesem Augenblick an liebte ich sie auch. – Ich frage mich heute noch, warum manche Christen niemals mit Liebe an Maria denken. Die Bibel sagt: „Alle Generationen werden sie Gesegnete nennen“. Warum tun wir es nicht?

Die Vernunft sagt mir, daß ich nicht wirklich den Gekreuzigten oder die Jungfrau sah, sondern nur eine Darstellung. Zu dieser Zeit hatte ich den Eindruck, wirkliche Personen zu sehen. Es war eines von mehreren existentiellen Erlebnissen meines Lebens. Ich war damals 8 – 9 Jahre alt.

Der andere Junge sprach mit dem Priester, der dann zu mir herüberkam und mir den Kopf streichelte. Seine Berührung tat mir wohl, denn ich war ein ungestreicheltes Kind. Dann fragte er mich: „Was kann ich für dich tun, kleiner Mann?“

Ich war verlegen, weil ich dachte, daß es mir vielleicht nicht erlaubt sei, an diesem fremden Ort zu sein. Ich antwortete: „Nichts“. Er sagte: „Das kann nicht sein. Ich gehöre zu Jesus, der uns gelehrt hat, niemanden an uns vorbeigehen zu lassen, ohne ihm etwas Gutes zu tun. Es ist Sommer und draußen ist es heiß. Ich werde dir einen Becher kalten Wassers bringen.“

Jesus – was für ein merkwürdiges Wesen! Wahrscheinlich hatten alle anderen Menschen, die ich bis dahin getroffen hatte, seine Lehren nicht gekannt. Sie gaben mir kein Spielzeug, keine Schokolade. (Wenn andere Kinder Schokolade aßen, leckte ich das Papier ab, in dem sie eingepackt war.) Jetzt verwandelte Jesus das Wasser, das ich erhielt, in „Wein“. Ich war überwältigt.
Wie ich viel später heraus fand, war es eine orthodoxe Kirche, und der Name des Priesters war Cavane.

Isaak Feinstein

Ein anderer Mann, der für mich eine besondere Rolle spielte, war Isaak Feinstein. Er verkörperte einen der größten Siege, den die Gnade Jesu im jüdischen Volk errang.
Zur Zeit seiner Bekehrung war er ein kleinerer Geschäftsmann. Eines Abends hörte er in einer christlichen Versammlung die Botschaft Jesu. Er glaubte sofort. Als er heimkam, rannte er in das Schlafzimmer seiner Eltern, weckte sie und rief: „Ich habe den Messias gefunden!“

Von jenem Abend an schwankte er nie mehr in seinem Glauben, obwohl er auf großen Widerstand seitens seiner Familie stieß. Sein Vater, ein frommer Jude, versuchte ihn zu überreden, Jesus zu verleugnen. Als das erfolglos blieb, veranlaßte er, daß die Zeremonie ausgeführt würde, die von den Rabbinern in solchen Fällen vorgeschrieben ist. Er erklärte, sein Sohn sei tot, führte eine symbolische Beerdigung mit einem Sarg durch, in den man den Zweig eines Baumes gelegt hatte, zerriß seine Kleidung und weinte mit seiner Familie sieben Tage lang um den Sohn.

Isaak aber ließ sich in Polen als Missionar ausbilden, trat der Norwegischen Israelmission in Galatz bei, predigte im ganzen Land und veröffentlichte unzählige Schriften. So wurde er eine bekannte Persönlichkeit unter den Jüngern Jesu, eine Säule im Tempel Gottes. Als der Krieg ausbrach, war er gerade siebenunddreißig Jahre alt und Pastor einer von ihm in Jassy gebildeten jüdisch-christlichen Gemeinde. Von dort aus verbreiteten sich seine guten Taten über das ganze Land.

Jom-Kippur 1937

1937, am Nachmittag vor Jom-Kippur, dem großen jüdischen Tag der Reue und des Fastens, war ich in Feinsteins Büro. Meine Seele wurde zutiefst gequält. Doch Feinstein sagte mit seinem unnachahmlichen Lächeln: „Lassen Sie sich nicht von dem leiten, was Sie sehen. Die Juden, die vor zweitausend Jahren lebten, erkannten in Jesus nichts, was ihn ehrenwert erscheinen ließ, obwohl er die Verkörperung Gottes war. Wenn ein Mensch nicht wiedergeboren wird, kann er das Reich Gottes nicht erkennen.“
Schließlich überredete Feinstein mich noch, ihn zu einer Versammlung zu begleiten, die für Juden abgehalten wurde. Dort wurde ich während der Gebetszeit unwillkürlich vom Geist Gottes erleuchtet. Verwundert hörte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in einer öffentlichen Versammlung laut beten. Ich vernahm meine Worte, aber es schienen nicht die Worte zu sein, die ich formuliert hatte. Sie kamen aus der Tiefe meiner Seele, zu der mein Ich gewöhnlich keinen Zugang finden kann. Ich betete jiddisch, die jahrhundertealte Sprache meines leidenden Volkes, eine Sprache, die ich sonst nie sprach. Dies zeigte mir, daß sich tief in meinem Innern etwas gerührt hatte.
Diesen Vorabend des Jom-Kippur 1937, des großen Versöhnungstages, betrachte ich als den Tag meiner Wiedergeburt.

Mission unter Juden

In dem im Jahre 1881 gegründeten Königreich Rumänien lebten in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ungefähr sechshunderttausend Juden, hauptsächlich in den größeren Städten.
Bis 1919 durften sie kein Land besitzen, und in den Waffenstillstands-verhandlungen am Ende des 1. Weltkrieges, im Vertrag von Trianon, waren es die Deutschen, die darauf bestanden, daß in Rumänien auch der jüdischen Minderheit die Bürgerrechte und die völlige Gleichberechtigung gewährt würden. Eine Missionsarbeit unter Juden gab es schon seit 1891. Besonders die norwegische Israelmission war eine anerkannte Arbeit, mit Schwerpunkten in Galatz und Jassy, wo es viele arme Juden gab.

1893 kam der deutsche Pfarrer Otto von Harling nach Galatz, einer Stadt mit über hunderttausend Einwohnern. Von Harling gründete dort eine Schule für jüdische Mädchen, da es damals in Rumänien mit Schulen schlecht bestellt war. Es dauerte nicht lange, bis die Schule einen guten Ruf hatte. Die Schülerinnen lernten auch Deutsch, eine Sprache, die damals unter den etwas gebildeteren Juden viel gebraucht wurde.
Jeden Sonntagnachmittag hielt von Harling einen Gottesdienst in der Schule für die Schülerinnen und andere Gäste. Die Arbeit erweiterte sich ständig, und Lehrer und Krankenschwestern aus Norwegen waren die tragenden Säulen. Aus der kleinen Schule wurde in den folgenden vierzig Jahren eine im ganzen Lande bekannte Missionsstation mit dem Namen „Eben-Ezer“.

Die Arbeit erforderte nun einen vollamtlichen Seelsorger, den man bei dem Missionsvorstand in Norwegen beantragte. Doch kein norwegischer Theologe war zu finden. So wurde auf Empfehlung des englischen Pastors Adeney in Bukarest der junge Judenchrist Isaak Feinstein aus Bukarest angestellt. Er hatte zuerst eine Missionsschule in Warschau und später für ein halbes Jahr in Leipzig das bekannte „Institutum Judaicum Delitzschianum“ besucht, wo Missionar von Harling einen starken Eindruck auf ihn machte. Feinsteins Frau Lydia war geborene Schweizerin und Lehrerin an einer der englischen Missionsschulen in Bukarest gewesen. 1930 kamen beide nach Galatz und arbeiteten in „Eben-Ezer“.

Magne Solheim

Im Jahre 1937 bekam Isaak Feinstein Hilfe in dem norwegischen Missionar Pastor Magne Solheim, der wiederum von Richard Wurmbrand tatkräftig unterstützt wurde. Pastor Solheim nannte Wurmbrand oft ‘Sturmbrand’ und beide arbeiteten, obwohl sie in ihrer Art grundverschieden waren, bis zum Jahre 1948 zusammen. Pastor Solheim schildert in seinem Buch >Im Schatten von Hakenkreuz, Hammer und Sichel – Judenmissionar in Rumänien von 1937 – 1948< Richard Wurmbrand als einen in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Menschen.

„Im Februar 1939 war ich Taufpate für Wurmbrands Sohn Mihai. Als ich zur Taufe nach Bukarest kam, stand Richard Wurmbrand auf dem Bahnhof. Er ging auf dem Bahnsteig ungeduldig auf und ab. Sein ganzes Gesicht strahlte, und er schlenkerte mit den Armen. Man konnte deutlich erkennen, daß er etwas Erfreuliches auf dem Herzen hatte. Ich war kaum aus dem Zug ausgestiegen, als er anfing, von einem Mädchen aus der Schweiz zu erzählen, von dem er unendlich viel Gutes zu berichten wußte. Ein besseres Mädchen könnte ich nicht finden, – worin er, wie so oft, recht behielt . . .

Am 26. Juni 1939 wurden Cilgia Gees und ich getraut. Als ich Cilgia heiratete, bekam ich eine unschätzbare Hilfe bei der Arbeit. Sie stammte aus der Schweiz und war einige Monate nach mir als Sprachlehrerin für Englisch, Französisch und Deutsch an eine der englischen Missionsschulen in Bukarest gekommen.

Er, Richard, ist einfach der begabteste Mann, den ich je getroffen habe, in Wahrheit ein Genie. Er wuchs ja in großer Armut auf und erhielt nur wenig Ausbildung. Während vieler Jahre arbeitete er als Büroangestellter, doch es war unglaublich, wieviel er las und studierte. Nur wenige wußten über den Marxismus soviel wie er, da er ja selbst einmal ein überzeugter Kommunist gewesen war. Nachdem er dann 1937 in Siebenbürgen eine Christusbegegnung hatte, widmete er sich mit großem Eifer und Gründlichkeit dem neuen Glauben.
Seine erste seelsorgerliche Hilfe erhielten er und seine Frau von dem Missionar Feinstein und den englischen Pfarrern Ellison und Adeney, die auch die beiden im März 1938 tauften.

Nach einiger Zeit wurde Wurmbrand als Mitarbeiter der englischen Mission „Church Mission to the Jews“ in Bukarest angestellt. Als 1941 die Engländer das Land verließen, verblieben er und seine Frau allein mit der ganzen Arbeit.
Es war ganz unglaublich, wieviel Bibelkenntnis und Theologie Wurmbrand sich in wenigen Jahren angeeignet hatte. Er hatte eine Bibel, in der nach jedem bedruckten Blatt ein weißes, unbedrucktes folgte, und bald waren die weißen Blätter seiner Bibel alle vollgeschrieben.
Er lernte Griechisch, – Hebräisch konnte er ja schon von früher-, so daß er die Bibel in den Ursprachen lesen konnte. In der englischen Mission war eine große Bibliothek mit guten theologischen Büchern. Diese Bücher waren für ihn von großer Hilfe, und er brauchte nicht lange, um ein Buch zu lesen. Wenn er zu Bett ging, nahm er gleich mehrere Bücher mit, und am nächsten Morgen hatte man den Eindruck, daß er sie alle durchgeblättert und dabei die Quintessenz erfaßt hatte.
Seine bevorzugte Lektüre war Luther. Niemand konnte ja so wie Luther zu einem Gewissen reden, das sich von Sünden beladen fühlte.
Wurmbrand sprach Rumänisch, Deutsch, Französisch, Russisch, Ungarisch, Englisch und Jiddisch, und mit unglaublicher Geschwindigkeit konnte er das, was er wollte, in der einen oder anderen Sprache auf der Schreibmaschine tippen.
Er konnte sich schlagartig für eine Sache begeistern, und wenn er zum Beispiel mit russischen Christen in der Roten Armee in Kontakt kam, und hörte dann, was sie über ihr Land erzählten, dann schmiedete er sofort Pläne, um dort irgendwie helfen zu können. Oft waren solche Überlegungen einfach unrealistisch, aber dank seiner ruhigen und begabten Frau Sabina war er auch schnell wieder „zur Vernunft gebracht“.
Eines Tages kam Frau Wurmbrand nach Galatz mit der Bitte ihres Mannes, wir müßten unbedingt nach Bukarest übersiedeln, denn Bukarest war nach dem Krieg mit über 100 000 Juden zu einem der größten Judenzentren Europas geworden. Ich erzählte ihr offen von den Zweifeln, die ich bezüglich einer harmonischen Zusammenarbeit hatte. Einige Tage später erhielt ich einen Brief von Wurmbrand. Er schrieb, wenn wir in einer Zeit wie dieser nicht zusammenarbeiten könnten, in der wir ja sehen müßten, wo eigentlich strategisch gesehen unser Arbeitsfeld lag, dann sollten wir beide aufhören das Evangelium zu verkündigen und lieber Schuster werden. Er versprach, falls wir nach Bukarest kämen, werde er alles in seiner Macht Stehende tun, um wirklich mit mir zusammenzuarbeiten, und in allen Zweifelsfällen sollte meine Meinung gelten.
Nie hat es uns leid getan, daß Cilgia und ich uns überzeugen ließen, und noch heute gibt es Leute, die davon sprechen, was für eine harmonische Zusammenarbeit wir in Bukarest hatten.“ – Soweit Pfr. Magne Solheim –

Auf der Suche nach des Vaters Haus
Es wurde mir schnell bewußt, daß die Lehre Jesu nicht klar und deutlich auf eine Seite geschrieben werden kann, die schon mit anderen Buchstaben beschrieben ist. Ein völliger Bruch mit dem Vergangenen ist notwendig, sowie ein vollkommener Neubeginn, dessen Voraussetzung eine dauernde und kompromisslose Überwachung der eigenen Gedanken ist.
Mich selbst verwunderte diese Veränderung am meisten, war ich doch einst ein kämpferischer Atheist gewesen, der tatkräftig anarchistische Unruhen unterstützt hatte. Mein Wille war nicht frei, als diese Veränderung vor sich ging. Ich war gezwungen, mich zu bekennen. Alles geschieht mit der Gnade Gottes. So, wie es in der Natur einen biologischen Zeitplan gibt, der den Ablauf bestimmt, wann ein junger Vogel dem Ei entschlüpft, sich den Zugvögeln anschließt und zu einem festgelegten Zeitpunkt zurückkehrt, ebenso wie es eine biologische Uhr im physischen Leben des Menschen gibt, existiert, so glaube ich, auch ein geistlicher Zeitplan. Für jeden von Gott Auserwählten gibt es eine besondere, vorherbestimmte Stunde, in der er den Sohn Gottes erkennt, der schon immer in ihm weilte, der aber geduldig auf den Augenblick wartete, da Er sich offenbaren soll. In dieser besonderen Stunde vereinen sich innere und äußere Faktoren, die vor langer Zeit vorbereitet worden sind, um diese Wiedergeburt zu veranlassen.
Ich hatte mich entschlossen, Jesus in Treue zu dienen. Der Mensch aber, der diese Entscheidung getroffen hat, muß erst das wahre Gesicht Jesu unter den unzähligen Fälschungen, die sich im Laufe der Zeit angehäuft haben, finden.
Bevor ich nun meinen Weg als Christ begann, versuchte ich mich, über die unterschiedlichen Konfessionen so gut wie möglich zu informieren. Aber es war nicht leicht, irgendeine Wahl zu treffen. Die Kirchengeschichte ist voll von geistigen Auseinandersetzungen und Streben nach Ruhm und Reichtümern. Das Wort Gottes wurde benutzt, um vergängliche politische Interessen zu fördern und um die Wahrheit mit Missetaten zu ersticken. Und bis heute haben einige Glaubensrichtungen die Parole, die Hitler einst so formulierte: ‘Wo wir sind, ist für andere kein Platz’.

Nach langem Umherirren hatte ich endlich gefunden, was ich suchte:
Mein Bekenntnis ist die Liebe. Meine Brüder und Schwestern sind all jene, die einander lieben – ganz gleich welcher Konfession sie angehören.
Mein Herr ist Jesus, denn er ist die Verkörperung der Liebe. „Die Liebe ist von Gott“ und „wer liebhat, der ist von Gott geboren“ (1. Joh. 4,7).
„So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung“ (Römer 13,10).
„Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Gal. 5,14). Ebenso Matthäus 22,37-40.
So hatten wir es erst lernen müssen, das Wichtigste in der Lehre der Bibel – die Liebe – vom Unwichtigeren zu unterscheiden.
Die meisten christlichen Juden, die später unsere Bukarester Gemeinde ausmachten, nahmen dieselbe überkonfessionelle Haltung an, obwohl unsere Kirche nominell lutherisch war.

Isaak Feinsteins Ende
Dann kam die Nazizeit. Wir hatten viel zu leiden. Meine Frau und ich wurden mehrmals verhaftet, geschlagen und vor Nazirichter gezerrt. Feinstein stattete uns in Bukarest einen kurzen Besuch ab. In Jassy war die Atmosphäre vom Antisemitismus angesteckt und von einem drohenden Pogrom überschattet. Ich machte den Vorschlag, er solle nicht nach Jassy zurückkehren, wo der Tod auf ihn lauere.
Feinstein antwortete: „Es ist die Pflicht des Hirten, zusammen mit seiner Herde zu sterben. Ich weiß, daß sie mich töten werden, aber ich kann meine Brüder nicht im Stich lassen. Ich werde nach Jassy zurückfahren.“
Am 28. Juni 1941, ein paar Tage nach seiner Rückkehr, brach der Pogrom aus. Die Zahl der getöteten Juden betrug elftausend. Tausende wurden in verschlossenen Viehtransportern zusammengepfercht und unter der sengenden Sonne abtransportiert – ohne einen Tropfen Wasser -, so daß die meisten erstickten. Unter ihnen war auch Feinstein. Die wenigen Überlebenden wurden in einem Konzentrationslager interniert. Einige von ihnen berichteten, wie sich Feinstein, als er erkannte, daß der Tod unmittelbar bevorstand, an einen unweit von ihm stehenden Rabbiner wandte und zu ihm sagte: „Es ist Zeit für uns, die Psalmen zu singen!“ Er starb, während der Rabbiner laut die Psalmen sprach. Bis zuletzt erklärte Feinstein, was diese Psalmen über Jesus prophezeiten. Als er erstickte, ruhte sein Kopf auf der Schulter des Rabbiners. Der Rabbiner selbst starb nur wenige Minuten später.
Nicht ein einziges Mitglied der jüdisch-christlichen Gemeinde in Jassy überlebte. Nur ein paar Mädchen kamen mit dem Leben davon.

Unser Dienst am Jüdischen Volk
Die Juden litten während des Krieges so sehr, daß, wären wir nur unserem Gefühl gefolgt, wir nichts anderes getan hätten, als sie zu umarmen und zu trösten. Und wann immer Gelegenheit war, etlichen zur Flucht zu verhelfen, taten wir es.
Aber damit konnten wir uns nicht zufrieden geben. Der Prophet Jeremia lebte zur Zeit der heftigsten babylonischen Angriffe, die den Beginn der Zerstörung des jüdischen Staates kennzeichneten; er machte damals den Juden Vorwürfe wegen ihrer Sünden. Jesus, der von manchen als ein neuer Jeremia bezeichnet wurde, warf den Juden ebenfalls ihr sündhaftes Leben vor, als sie unter der ungerechten Herrschaft der Römer litten. Sowohl Jeremia als auch Jesus wurden von ihren Zeitgenossen für Verräter ihres Volkes gehalten.
Wir befanden uns in der gleichen Lage wie die Propheten in den alten Zeiten: Verzweiflung, grausame Unterwerfung und furchtbare Leiden hatten die Herzen der Juden zu Stein werden lassen. Unaufhörlich stieg ihr Schrei empor: „Gott soll ein anderes Volk wählen. Wir sind es müde, sein Volk zu sein!“
Andererseits aber war die kleine Gruppe christlicher Juden von der Wahrheit des Ausspruches Jesu überzeugt, daß das Heil von den Juden kommen muß, und daß die Juden eine Aufgabe zu erfüllen haben und verpflichtet sind, sie zu erfüllen . . .
Unser Gedankengang war einfach: Bereits vor viertausend Jahren erhielten die Juden die Zehn Gebote, die moralische Grundlage. Ihnen wurde offenbart, daß Gott der Eine Gott ist und daß Gott von den Menschen eine Bruderschaft freier Männer und Frauen verlangt – eine von Liebe und Wahrheit geleitete Gemeinschaft. Er versprach ihnen auch einen Messias, der schließlich ein solches Königreich errichten würde. Die Juden waren das von Gott erwählte Volk, das allen Völkern diese Offenbarung überbringen sollte. Gott rüstete sie mit den Eigenschaften aus, die sie brauchten, um ihre Mission ausführen zu können.
Doch fast zweitausend Jahre nach Mose hatte die Welt noch immer nichts von dieser Offenbarung gehört. Julius Cäsar schrieb in seinem Werk ‚De Bello Gallico‘, daß die Gallier, die Vorfahren der heutigen Franzosen, noch immer aus den Schädeln ihrer besiegten Feinde Wein trinken würden. Zu jener Zeit waren auch die Teutonen und Slawen noch wilde Völkerschaften . . .
Und doch erlebten wir immer wieder das göttliche Wunder – selbst als die antisemitische Tyrannei ihren Höhepunkt hatte – daß etliche den Glauben an Christus empfingen. Dem äußeren Anschein nach waren sie erniedrigte und in tiefes Elend gestoßene Menschen, und doch hatten sie die große Mission der Juden erkannt. Sie hatten Jesus als den König ihres Volkes akzeptiert, dessen Aufgabe es war, das Licht Gottes in die Welt zu tragen. Voller Freude bekannten diese Juden sich nun zu ihrem neuen Glauben – gemeinsam mit ihren Brüdern: Rumänen, Ungarn und Deutschen, die zusammen mit ihnen das geistliche Israel bildeten.
Die Bekehrten kamen nicht aus den gefeierten Kreisen des Judaismus. Aber auch Jesus sammelte Seine Apostel nicht unter den Höchsten des Landes. Maria Magdalena war eine Prostituierte. Auch wir hatten Frauen dieser Art. Matthäus und Zachäus hatten Geld veruntreut und Saulus von Tarsus hatte einem Mord untätig beigewohnt. Und die meisten Apostel waren ungebildete Handwerker.

Im allgemeinen führten wir mit den Menschen keine langen Gespräche, sondern verkündeten die Wahrheit, anstatt darüber lange zu diskutieren. Wir offenbarten eine Wahrheit, die jeder von uns im Grunde unwissentlich in sich trägt, weil die menschliche Seele von Natur aus christlich ist.
Deshalb appellierten wir an das Gewissen und nicht an den Verstand, denn die Geburt der tiefsten Überzeugungen eines Menschen ist nicht das Ergebnis eines Gedankenganges. Sondern jenseits der Welt der Erscheinungen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, liegt die wirkliche, unsichtbare und wesentliche Welt, das Unterbewußtsein. Dort wirkt das Göttliche, und was in unserer Natur zu sehen ist, wird davon regiert.
Ich bin davon überzeugt, daß mein persönliches Leben und das aller seiner Kinder von Gott geplant worden ist und zwar bis in das kleinste Detail. Es dient Gottes Zweck und ich darf zuversichtlich sein, selbst wenn ich nichts verstehe. Wer von Anfang an dazu ausersehen war, erlöst zu werden, der kam zu uns.

Das jüdische Volk ist nicht das einzige auserwählte Volk. Gott hat vielen Völkern besondere Berufungen zuteil werden lassen.
Das römische Volk war auserwählt, der ganzen Welt die Rechtsprechung zu schenken. Wo immer in der Welt Gerechtigkeit regiert, steht das römische Recht an erster Stelle. Wo das römische Recht nicht existiert, erhebt die Ungerechtigkeit ihr Haupt.
Den Griechen war es vorbehalten, der Welt die Philosophie zu schenken. Man sagt, seit dem Tod der großen griechischen Denker habe es in der Philosophie keine neuen Ideen mehr gegeben, sondern die Menschen hätten statt dessen nur immer wieder die Weisheit der alten Griechen wiedergekäut.
Den Deutschen und den Italienern verdankt die Welt großartige Musik; die Deutschen und die Angelsachsen haben für uns die moderne Technik geschaffen.
Die Schweizer sind von Gott dazu auserwählt worden, der Welt zu zeigen, wie verschiedene Nationen, die sich in anderen Teilen der Welt als Feinde gegenüberstehen, harmonisch zusammenleben können.
Die Briten waren ausersehen, die großen missionarischen Vorhaben in die Tat umzusetzen und alle Nationen mit der Bibel vertraut zu machen.
Jedes Volk hat die Pflicht, seine besondere Aufgabe zu erkennen. Die Juden lehnten ihren Messias ab und tun es auch heute noch, obwohl die Geschichte den Beweis erbracht hat, daß ER derjenige war, der die den Juden anvertraute Aufgabe bis zur Vollkommenheit erfüllt hat: der Welt ein Licht zu sein.

Den Prophezeiungen Jesu zufolge ist der Weinberg einem anderen Volk übergeben worden. Menschen aller Nationen, die in die Fußstapfen Abrahams, Isaaks, Jakobs, Mose, der Propheten und Jesu treten, bilden zusammen das geistliche Israel. Sie haben unser vernachlässigtes Erbe übernommen und verbreiten nun in der ganzen Welt das Licht. Aber auch aus dem jüdischen Volk gibt es in dieser auserwählten Schar, diesem königlichen Priestertum und in dieser internationalen Bruderschaft der Liebe etliche Anhänger Jesu.
Doch die Beiseitesetzung des jüdischen Volkes ist zeitlich begrenzt. Paulus sagt es so: „Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren, bis daß die Fülle der Heiden eingegangen ist, und dann wird das ganze Israel gerettet werden. Und wenn schon ihr Fall der Welt Reichtum geworden ist, wieviel mehr wird es Reichtum sein, wenn Israel in seiner ganzen Fülle gewonnen wird.“ Römer 11
Und da Jesus selbst von einem Abschluß des Irrweges seines Volkes spricht, – ‚Jerusalem wird zertreten von den Heiden, bis der Heiden Zeit erfüllt ist‘ Lukas 21,24 – , wußten wir, daß es unsere vorrangige Aufgabe war, unseren jüdischen Volksgenossen den Nachhauseweg zum Vaterherzen Gottes zu zeigen. Den Weg in den Neuen Bund, von Jesus selbst für sein Volk gestiftet, zu den Verheißungen der Väter und der Zukunft des messianischen Friedensreiches für Israel und anschließend alle Völker. Und so jung ich noch im Glauben war, so stand dies doch klar vor meinem Herzensauge: Unsere Missionsarbeit unter den Juden hatte zum Ziel, Israel für Gott zu erobern. Davor dürfen wir nicht erschrecken, denn ER ist doch auf unserer Seite.
Und Jesus selbst sagte: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben“ Lukas 12,32.
Und so sehe ich jetzt schon Jerusalem als die Hauptstadt der christlichen Welt.
Ich sehe den Triumph des Friedens, der Liebe, der Gerechtigkeit und des gegenseitigen Verständnisses.
Ich sehe ein Königreich, in das Jesus zurückgekehrt ist, um die Herrschaft anzutreten.
Und ich sehe ein irdisches Dasein, das bewußt als Vorbereitungsstufe zum ewigen Leben benutzt wird.
Ich sehe Juden auf christlichen Kanzeln, wie sie den Völkern der Erde den vollkommenen Weg zur Erlösung zeigen. Der Glaube sieht all diese Dinge, und so wird es auch sein.

In den Wirren des Krieges
Als die deutsche Armee Rumänien besetzte, hielten wir es für unsere Pflicht, aus Liebe zu unseren Feinden eine Sonderausgabe des Johannes-Evangeliums drucken zu lassen und sie kostenlos an deutsche Soldaten zu verteilen. Bei dieser Aktion auf den Straßen gestanden die Soldaten unseren Brüdern, daß sie auf alles mögliche in Rumänien vorbereitet worden seien, nur nicht darauf, von Juden das Wort Gottes geschenkt zu bekommen.
Als Bukarest bombardiert wurde, fing ich an, systematisch in Luftschutzkellern zu predigen: dadurch erreichte ich Juden und Rumänen gleichzeitig mit dem Wort Gottes.
Während der ersten russischen Luftangriffe befand ich mich mit sechs anderen Brüdern in Haft. Wir wurden gerade vernommen, als die Sirene ertönte. Bewaffnete Wächter brachten uns in den Luftschutzraum, wo sich auch Richter, Rechtsanwälte und andere Leute einfanden. Als die ersten Bomben fielen, machte ich den Vorschlag, „Wir wollen alle niederknien und ich werde ein Gebet sprechen“ Sie knieten alle nieder, auch die Offiziere und Wächter. Sie bekreuzigten sich und ich betete laut. Dann predigte ich über die Notwendigkeit, auf die Begegnung mit Gott vorbereitet zu sein. Ehrfürchtig hörten alle zu. Als jedoch die Entwarnung ertönte, packten uns die Wachen beim Kragen und führten uns zurück in den Gerichtsaal. Und wieder stand ich vor dem Richter, der noch vor einer Viertelstunde auf mein Geheiß niedergekniet war.
Nach unserer Freilassung rannten wir jedesmal, wenn wir Fliegeralarm hörten, so schnell wir konnten in einen großen Luftschutzkeller und predigten dort.
Einmal lief ich mit Schwester Olga in den Schutzraum eines großen Wohnblocks. Obwohl es verboten war, sich nach dem Alarm noch auf der Straße aufzuhalten, verspürte ich plötzlich einen Drang, das Gebäude zu verlassen und einen anderen Schutzkeller aufzusuchen. Das Haus, das wir verlassen hatten, wurde von Bomben zerstört, und begrub unter seinen Trümmern sehr viele Menschen . . .
Außerdem waren wir ständig mit Dingen beschäftigt, auf denen nach dem Gesetz die Todesstrafe stand. So halfen wir beispielsweise zahlreichen Juden aus Ungarn, die Grenze illegal zu überschreiten oder retteten Kinder aus Ghettos.

Mein Dienst an den Russen
Weil ich es tief bereute, daß ich ein Atheist gewesen war, wünschte ich nichts sehnlicher vom ersten Tag meiner Hinkehr zu Gott, als den Russen ein Zeuge Jesu zu sein. Die Russen sind heute ein Volk, dessen Menschen von Kindheit an im Atheismus erzogen werden. Mein Wunsch, gerade Russen für das Evangelium zu gewinnen, ist erfüllt worden. Schon zur Zeit der nationalsozialistischen Besatzung, als Tausende russischer Kriegsgefangener im Lande waren, hatten wir eine geheime missionarische Arbeit unter ihnen. Es war eine bewegende, erschütternde Arbeit.
Ich brauchte selber nicht nach Rußland zu gehen, denn seit dem 23. August 1944 waren über eine Million russischer Truppen in Rumänien eingerückt . . .

Der Krieg war zu Ende, aber ein neues Drama bahnte sich an. Unser Land wurde ausgeraubt. Über die Hälfte der Handelsflotte, der Güterwagen und Kraftfahrzeuge, der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, des Viehbestandes und unserer Ölvorkommen wurden nach Rußland abtransportiert. Die einstige Kornkammer Europas wurde so zum Hungergebiet.
Gleichzeitig kehrte eine Reihe von Kommunisten aus dem Moskauer Exil zurück und nahm Einfluß auf die politische Entwicklung. Armee und Polizei wurden entwaffnet, und König Michael entmachtet. So kamen die Kommunisten an die Macht, entsprechend der Abmachung der „Großen Drei“ auf der Moskauer Konferenz vom Oktober 1944.
Nachdem die Kommunisten einmal an die Macht gekommen waren, gebrauchten sie meisterhaft das Mittel der Täuschung gegenüber den Kirchen. Denn die Sprache der Liebe und die Sprache der Verführung klingen gleich. Derjenige, der ein Mädchen zur Frau nehmen will, und derjenige der es nur für eine Nacht begehrt, beteuern beide: „Ich liebe dich“. Jesus mahnt uns in seinem Wort, die Sprache der Verführung von der Sprache der Liebe zu unterscheiden und einen Unterschied zu machen, zwischen Wölfen in Schafskleidern und echten Schafen. Als die Kommunisten die Macht innehatten, wußten Tausende von Priestern, Pfarrern und Predigern die beiden Sprachen nicht zu unterscheiden.

Während dieser gewaltigen Umwälzungen vom Faschismus zum Kommunismus ging unsere Arbeit der Seelengewinnung ungebrochen weiter. Nach außen hin hatte ich ja eine angesehene soziale Stellung. Ich war Pastor der Norwegischen Lutherischen Mission, und arbeitete gleichzeitig im rumänischen Ausschuß des Weltkirchenrates.
Diese beiden Ämter gaben mir einen sehr guten Stand gegenüber den Behörden, die von unserer Untergrundarbeit nichts wußten. Diese umfaßte zwei Arbeitsgebiete. Das erste war die getarnte Arbeit unter den russischen Soldaten. Das zweite Gebiet bildete unser verborgener Dienst an den unterdrückten Völkern Rumäniens.
Da ich gut russisch spreche, war es für mich ein leichtes, mit den Soldaten ins Gespräch zu kommen. Viele junge Christen, die ebenfalls russisch sprachen, halfen mir. Heimlich druckten wir das Evangelium und so wurden innerhalb von drei Jahren mehr als hunderttausend Bücher in Cafés, Bars, Bahnhöfen und überall, wo Russen zu finden waren, verteilt. Etliche unserer Helfer wurden verhaftet, doch keiner hat mich verraten.
Die Zahl der Bekehrten war erstaunlich. Auch ihre Natürlichkeit versetzte uns in Staunen. Was die Religion anbetrifft, sind die Russen völlig unwissend. Doch es war, als hätten sie tief in ihrem Herzen schon lange nach Wahrheit gesucht, und nun nahmen sie diese mit Begeisterung auf. Meistens waren es junge Bauern, die auf dem Land gesät, geerntet und gearbeitet hatten. Das Wissen darum, daß irgend jemand den Lauf der Natur lenkt, lag ihnen im Blut. Doch man hatte sie atheistisch erzogen, und sie glaubten Atheisten zu sein, genauso wie viele Menschen meinen sie seien Christen und sind es nicht.
Auch unter den rumänischen Kommunisten arbeiteten wir. Jedes Buch mußte durch die kommunistische Zensur. Wir brachten Bücher heraus, welche ein Bild von Karl Marx auf der Titelseite hatten. Dadurch dachte der Prüfer, es handele sich um kommunistische Literatur und drückte seinen Stempel darauf. Gelegentlich ließ ein Zensor auch einmal einen Titel für eine Flasche Brandy durchgehen.
Da der Parteiausweis den Unterschied zwischen Sattsein und Hungern ausmachen konnte, wuchs die Zahl der rumänischen Kommunisten rapide von einigen Tausenden auf Millionen.

Sehr bald schon ließen auch bei uns die Kommunisten die Maske fallen. Am Anfang hatten sie noch Methoden angewandt, um die Kirchenführer auf ihre Seite zu ziehen. Dann aber begann der offene Terror. Tausende wurden verhaftet und enteignet.
Unter den neuen Bedingungen Christus zu predigen, war nicht leicht. Wir versammelten uns im geheimen und bereiteten dort die Arbeit in der Öffentlichkeit vor. So verteilten wir unsere als Parteilektüre getarnten Broschüren auch bei kommunistischen Großveranstaltungen. Bis der Leser ab Seite zehn merkte, daß die Schrift statt von Karl Marx von Jesus Christus spricht, waren wir wieder im Untergrund . . .

Bald nahm die Bekämpfung der Religion brutale Formen an. Das gesamte kirchliche Vermögen wurde verstaatlicht und ein kommunistisches Religionsministerium kontrollierte die gesamte Pfarrerschaft. Wer sich widersetzte wurde verhaftet. Die Gefängnisse waren mit Priestern gefüllt, und Greuelgeschichten von ihrer Behandlung verbreiteten sich im ganzen Lande. So unterwarfen sich die kleineren Konfessionen der Regierung und harrten auf ihr Schicksal.
Sie brauchten nicht lange zu warten, denn schon bald wurde im Parlamentsgebäude in Bukarest ein „Religionskongress“ einberufen. Dort waren viertausend Priester, Pastoren und Prediger aller Religionsgemeinschaften versammelt. Diese wählten Josef Stalin, einen Massenmörder, zum Ehrenpräsidenten. Und einer nach dem anderen, ob Bischof oder Pfarrer, erhob sich in unserem Parlament und erklärte öffentlich, daß der Kommunismus und das Christentum in ihren Grundlagen gleich seien und friedlich nebeneinander bestehen könnten. Ein Geistlicher nach dem anderen fand preisende Worte für den Kommunismus und versicherte der neuen Regierung die treue Mitarbeit der Kirche.
Meine Frau und ich waren auf diesem Kongress anwesend. Sie saß neben mir und sagte zu mir: „Richard, steh‘ auf und wasche diese Schande vom Antlitz Christi.“ Ich sagte zu meiner Frau: „Wenn ich das tue, verlierst du deinen Mann.“ Sie erwiderte: „Ich möchte keinen Feigling zum Mann haben.“ Da stand ich auf und sprach zu diesem Kongress, und ich pries nicht die Mörder der Christen, sondern Christus und Gott und sagte, daß wir zuallererst Ihm unsere Treue schulden. Alle Reden wurden auf diesem Kongress durch Rundfunk übertragen, und das ganze Land konnte die Botschaft von Jesus Christus hören. Später mußte ich dafür bezahlen, aber das war es wert gewesen.

Im Gefängnis
Bis zum 29. Februar 1948 war ich in zwei Funktionen tätig: in einer der Öffentlichkeit sichtbaren und einer im Untergrund verborgenen. An jenem Sonntag wurde ich auf meinem Weg zur Kirche von der Straße weg gewaltsam von der Geheimpolizei entführt. Ein geschlossener Wagen der Geheimpolizei hielt unmittelbar vor mir an, vier Männer sprangen heraus und stießen mich in den Wagen hinein. Ich blieb jahrelang verschwunden. Über acht Jahre wußte niemand, ob ich noch am Leben oder schon tot war. Meine Frau wurde von Geheimpolizisten, die sich als entlassene Mitgefangene ausgaben, teilnehmend aufgesucht. Sie erzählten ihr, sie wären bei meiner Beerdigung dabei gewesen. Ihr brach das Herz. Tausende kamen zu jener Zeit ins Gefängnis. Nicht nur Geistliche wurden in den Kerker geworfen, auch ganz einfache Bauern, junge Burschen und Mädchen, die für ihren Glauben eintraten.

Unsagbare Folterungen
Die Folterungen waren oft sehr hart. Ich möchte lieber nicht zuviel darüber sprechen. Immer, wenn ich es tue, kann ich nachts nicht schlafen. Es setzt mir zu sehr zu.
Ein Pfarrer mit Namen Florescu wurde mit glühenden Schürhaken und mit Messern gefoltert. Er wurde arg zusammengehauen. Dann wurden ausgehungerte Ratten durch ein Rohr in seine Zelle hineingetrieben. Er konnte nicht schlafen, sondern hatte nur damit zu tun, sich die ganze Zeit über zu verteidigen. Wenn er nur einen Augenblick ausruhte, griffen ihn die Ratten sofort wieder an. Die Kommunisten wollten ihn zwingen, seine Glaubensbrüder zu verraten. Aber er blieb standhaft. Schließlich brachten sie seinen vierzehn Jahre alten Sohn herbei und begannen, den Sohn vor den Augen des Vaters zu peitschen, und drohten, ihn so lange zu schlagen, bis der Pfarrer aussagen würde, was sie von ihm hören wollten. Der arme Mann war halb von Sinnen. Er hielt aus, solange seine Kraft reichte. Als er es nicht mehr ertragen konnte, rief er seinem Sohn zu: „Alexander, ich muß jetzt aussagen. Ich kann nicht länger ertragen, wie sie dich schlagen.“ Der Junge antwortete: „Vater, tu mir das nicht an, daß ich einen Verräter zum Vater habe. Bleibe standhaft gegen sie! Wenn sie mich töten, werde ich sterben mit den Worten ‚Jesus und mein Vaterland ‚.“ Voller Wut fielen die Kommunisten über das Kind her und schlugen es zu Tode, – die Zellenwände waren übersät mit Blutspritzern. Noch im Sterben pries er seinen Gott. Unser Bruder Florescu aber war nach diesem Erleben nicht mehr derselbe wie vorher.
Andere wurden in Kühlfächer von Eisschränken gesteckt. Ich selber wurde in eine solche Eiszelle gesteckt, mit kaum Bekleidung auf dem Leibe. Gefängnisärzte überwachten uns durch eine Öffnung bis sie die ersten Symptome tödlicher Starre bemerkten, gaben dann ein Warnzeichen, worauf Wachen herbeieilten, um uns in Empfang zu nehmen und wieder aufzuwärmen.
Auftauen, dann abkühlen bis ein, zwei Minuten vor Eintreten des Erfrierungstodes, und wiederum auftauen. Manchmal kann ich es selbst heute nicht ertragen, einen Kühlschrank zu öffnen.
Wir Christen wurden auch in Holzverschläge gesteckt, die kaum größer waren als wir selber. Dutzende spitzer Nägel waren in die Seitenwände getrieben und ragten mit ihren scharfkantigen Enden in den Verschlag hinein. Wir mußten in diesen Verschlägen Stunden um Stunden stehen. Schwankten wir vor Ermüdung, bohrten sich die Nägel in unsere Körper.
Ich habe vor dem Unterausschuss für Innere Sicherheit des amerikanischen Senats meine Aussagen gemacht. Dort habe ich über solche furchtbaren Dinge berichtet, wie Christen vier Tage und Nächte lang an Kreuze gefesselt waren. Die Kreuze wurden auf den Boden gelegt, und Hunderte von Häftlingen mußten nun ihre leibliche Notdurft über den Gesichtern und Leibern der Gekreuzigten verrichten.
Das hat sich in dem rumänischen Gefängnis von Pitesti ereignet.
Das hier Geschilderte ist nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was sich an manchen Sonntagen dort zugetragen hat. Es geschahen auch Dinge, für die sich einfach keine Worte finden. Sie sind zu grauenhaft und zu obszön um niedergeschrieben zu werden. Aber eure Brüder in Christus haben sie durchlebt und müssen sie noch heute durchstehen.

Die Folterungen hielten in ihrer Brutalität ohne Unterbrechung an. Wenn ich zuweilen das Bewußtsein verlor, um den Peinigern noch irgendwelche Hoffnung auf Geständnisse zu machen, wurde ich gewöhnlich wieder in meine Zelle zurückverfrachtet. Dort lag ich dann halb tot und sammelte wieder etwas Kräfte, damit sie mich von neuem bearbeiten konnten. In diesem Stadium der Folter starben viele. Aber irgendwie kehrten meine Kräfte immer wieder zurück. Im Laufe der Jahre brachen sie mir in verschiedenen Gefängnissen vier Rückenwirbel und mehrere Knochen im Körper. An zwölf Stellen brannten und kerbten sie mir tiefe Wundmale ein. Ärzte in Oslo, die all das gesehen haben und dazu die Vernarbungen von einer Lungentuberkulose, die ich in jener Zeit durchgemacht habe, erklärten, es sei ein reines Wunder, daß ich überhaupt noch am Leben sei. Nach dem Stand der Wissenschaft hätte ich schon einige Jahre tot sein müssen. Ich selber weiß nur zu gut, daß es ein Wunder ist. Gott ist ein Gott der Wunder.
Ich glaube, Gott hat dieses Wunder getan, damit ihr meine Stimme hinausschreien hört für die unterdrückte Kirche hinter dem Eisernen Vorhang und hinter dem Bambusvorhang und in vielen islamischen Ländern.

Kurze Freiheit
Das Jahr 1956 kam heran. Achteinhalb Jahre hatte ich im Gefängnis zugebracht. Ich war brutal niedergeschlagen und verspottet worden, vor Hunger fast umgekommen und bis zum Erbrechen verhört worden. Keines von denen hatte das Ergebnis gezeitigt, auf das meine Zwingherren aus waren. So ließen sie mich schließlich frei ,zumal bei ihnen ständig Proteste wegen meiner Inhaftierung eingingen.
Unauffällig kehrte ich in meine Arbeit zurück. Meine Familie stand hinter mir. Nun bezeugte ich wiederum das Evangelium vor verborgenen Kreisen von Gläubigen, wobei ich wie ein Geist unter dem Geleit von Freunden zu ihnen kam und wieder verschwand.
Die drei Jahre verhältnismäßiger Freiheit nutzte ich, um ein ganzes Netz von Evangelisten für die Untergrundarbeit auszubilden. Schließlich entdeckte die Geheimpolizei dann doch meine Aktivitäten und am 15. Januar 1959 wurde ich erneut verhaftet.
Meine zweite Inhaftierung war in mehrfacher Hinsicht schlimmer. Ich wußte zu genau, was meiner wartete. Mein körperlicher Zustand verschlechterte sich daher mit einem Schlage. Es war mir streng verboten, den anderen Häftlingen Gottes Wort zu sagen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß derjenige, der dabei ertappt wurde, eine schwere Prügelstrafe erhielt. Der folgende Fall ereignete sich öfter: Ein Glaubensbruder war gerade dabei den anderen Gefangenen zu predigen, als die Wächter plötzlich hereinstürzten und ihn mitten im Satz überraschten. Sie zerrten ihn den langen Gang entlang zum „Prügelzimmer“. Nach schier endlosen Schlägen schleiften sie ihn zurück – blutüberströmt und zerschunden – und warfen ihn auf den Gefängnisboden. Langsam richtete er seine zerschlagenen Glieder auf, ordnete seine Kleider und sagte: „Nun, Brüder, wo war ich stehengeblieben, als ich unterbrochen wurde?“ Das waren wunderbare Erlebnisse.
Manchmal waren die Prediger einfache Laien. Schlichte Leute, aber erfüllt vom Heiligen Geist, die das Wort mit Vollmacht verkündigten. Ihr ganzes Herz lag in ihren Worten, denn unter solchen Strafandrohungen zu predigen war keine Kleinigkeit.

Gherla
Während meines dritten Jahres in Gherla wurde unser Leben etwas erträglicher. Wir konnten freier reden und bekamen einige Bissen mehr zu essen. Daraus entnahmen wir, daß die Verhältnisse in der Außenwelt wieder eine Wandlung durchmachten. Jedoch wußten wir weder, in welcher Richtung diese Wandlung verlief, noch war es uns bewußt, daß die schwersten Prüfungen uns immer noch bevorstanden.
Wir hatten jetzt einen neuen Kommandanten, einen Schinder mit Namen Alexandrescu. Bis vor kurzem noch ließ man uns hungern, wir wurden geschlagen und beschimpft, aber kein Mensch fragte nach dem, was wir dachten. „Erfindet in euren Zellen nur so viele Regierungen, wie ihr wollt, ihr Banditen, unsere ist in Bukarest,“ pflegte der Kommandant zu sagen. Doch seit einiger Zeit waren im Gefängnis Elektriker am Werk. In vielen Zellen wurden an den Wänden Lautsprecher angebracht. Wir sollten also Rundfunk bekommen. Ein Häftling meinte: „Es wird sich kaum um leichte Musik handeln.“ Gleichzeitig begann man mit einer Reihe von Schulungsvorträgen. Uns kamen sie geradezu albern vor. Einmal erklärte ein junger Politoffizier, daß eine Sonnenfinsternis bevorstünde. Aber es gäbe keinen Grund zur Unruhe, da die sozialistische Wissenschaft uns ja vom Aberglauben befreit hätte. Das Ereignis sollte am 15. Februar stattfinden, und da es die Pflicht der Volksrepublik sei, unseren Horizont zu erweitern, dürften wir den Vorgang vom Hof aus beobachten. Häftling Weingärtner hob die Hand: „Bitte, und wenn es draußen regnet, können wir dann die Sonnenfinsternis in der Halle haben?“ „Nein“, sagte der Redner ernsthaft, und begann mit seinen Erläuterungen von vorne. Diese Schulungen dauerten stundenlang. Die gleichen Gedanken wurden immer wieder eingebläut. Wenn der Tag zu Ende war, überließ man uns erschöpft und mißgelaunt unseren eigenen Streitgesprächen.
Im Laufe der weiteren Vorträge machte ich folgende Feststellung: Wenn sie auch dem Inhalt nach kindisch waren, so steckte doch ein raffinierter Plan dahinter. Die Redner verließen allmählich das Thema der Politik und appellierten direkt an die vergnügungssüchtige, verantwortungslose Seite in uns allen. Sie hielten uns vor Augen, wieviel wir im Leben versäumen. Sie redeten über Essen, Trinken, Sex, – alles Themen, mit denen die Redner besser vertraut waren als mit der marxistischen Dialektik.
Am Ende jeder Schulung wurde zur Diskussion ermuntert. Einmal sagte der Redner, nach dem Tode bliebe vom Körper nur noch eine Handvoll chemischer Stoffe übrig. Ich fragte ihn: „Wenn es sich so verhält, warum haben dann einige Kommunisten für ihre Idee ihr Leben gelassen? Wenn ein Christ sich selbst opfert, mag dies weise erscheinen. Wenn man die vergänglichen Dinge aufgibt, um eine Ewigkeit zu gewinnen, so ist es, als wenn man 50 Dollar investiert, um 50 Millionen Gewinn zu machen. Aber weshalb sollte ein Kommunist sein Leben opfern, – es sei denn, auch er kann etwas für sich persönlich gewinnen?“
Der Politoffizier konnte darauf keine Antwort finden. Deshalb wies ich ihn darauf hin, die Antwort sei schon von Augustinus gegeben worden, als er sagte: Die Seele ist von Natur aus christlich. „Der Atheismus ist nur eine Maske für Ihre wahren Empfindungen. In der Tiefe Ihres Herzens, welche nur erreicht wird, wenn man meditiert oder betet, glauben auch Sie, daß es einen Lohn gibt, wenn man für eine Idee lebt. Tief in Ihrem Herzen glauben auch Sie an Gott.“
„Wir wollen sehen, was Lenin dazu sagt“, meinte der Redner, und las aus einem kleinen, abgegriffenen Büchlein vor, aus dem er schon oft seine Inspirationen geschöpft hatte: „Selbst das Liebäugeln mit der Idee eines Gottes ist eine Verseuchung der abscheulichsten Art. Alle Unflätigkeiten, Gewaltakte und Seuchen sind bei weitem weniger gefährlich . . .“ Er grinste. „Noch eine Frage?“
„Haben Sie ein Kind,“ fragte ich. „Ich habe eine Tochter, die bei den jungen Pionieren ist.“
„Würden Sie es denn vorziehen, daß sie von einer schrecklichen Krankheit befallen wird, als daß sie an ihren Schöpfer gläubig wird? Das ist doch, was Lenin sagt, daß Krebs besser ist als der christliche Glaube.“
Der Politoffizier ließ mich aufstehen und schlug mir ins Gesicht.

In diesem Ansturm der Umschulung erschien eine Ohrfeige nur ein geringer Preis dafür, daß man seine Glaubensüberzeugung offen bekennen durfte. Es war jedoch offensichtlich, daß uns noch mehr bevorstand Wir hatten das Gefühl, ständig bespitzelt zu werden und wunderten uns über die stummen Lautsprecher.
Die Vorträge zeigten uns auch, daß in der politischen Haltung der Regierung unter Gheorghiu-Dej eine Veränderung im Gange war. Eine Annäherung an den Westen, aus wirtschaftlichen Interessen, erforderte eine neue, „demokratische“ Fassade, in die das Heer der politischen Gefangenen nicht passte. Vor einer Massenentlassung mußte jedoch unsere „konterrevolutionäre“ Denkweise mittels einer Gehirnwäsche geändert werden.
Unter den Häftlingen in Gherla herrschte jedoch Ungewissheit darüber, was bei einer Gehirnwäsche eigentlich vor sich ginge. Radu Ghinda, ein bekannter Autor und christlicher Schriftsteller, der seit kurzem in unserer Zelle war, faßte unsere Empfindungen in Worte zusammen. „Wenn sie mich in 15 Jahren nicht geändert haben, wie wollen sie es jetzt noch fertig bringen.“
In diesen Tagen kamen viele neue Gefangene. Unter ihnen war der Dichter und Professor für Theologie, Nichifor Daianu. Er kam vom Gefängnis Aiud, um bei uns seine 25 Jahre weiter abzusitzen. Daianu hatte in Aiud schwer gelitten. Doch seine Gabe, religiöse Gedichte zu schreiben, war ihm geblieben. So ermunterten Freunde aus der nazistischen Ära ihn, einige von den Versen, die er in Aiud gedichtet hatte, vorzutragen. Es waren Gesänge des Schmerzes und der Reue, schöner als alles, was er je gedichtet hatte. Seinen Antisemitismus jedoch hatte er, wie auch sein Freund Ghinda, aus jener Zeit noch beibehalten. Der Antisemitismus hat ein sehr zähes Leben, und die beiden waren ihm zum Opfer gefallen.
Als wir an einem Abend die Theorien über die Gehirnwäsche besprachen, spottete Ghinda darüber: „Unsinn! Pawlow hatte den Unfug mit den bedingten Reflexen der Hunde in die Welt gesetzt, und die Kommunisten in Korea griffen einige seiner Ideen auf, um amerikanischen Kriegsgefangenen zu suggerieren, auf ihre Seite überzuwechseln. Aber solche Methoden funktionieren nicht bei Menschen mit Bildung und Intelligenz. Wir sind keine Amis.“
Pastor Weingärtner allerdings war anderer Meinung. „Es handelt sich um einen Stufenplan. Als nächstes kommen die öffentlichen Schuldbekenntnisse. So haben es unsere Herren von Peking gelernt. Unter Mao müssen die Chinesen in ihren Fabriken, Büros und auf den Straßen Schulungen beiwohnen. Danach zwingt man sie zu einer öffentlichen Selbstanklage, ein Komplott gegen das Proletariat geschmiedet zu haben. Wer nichts bekennt, wird als hartnäckiger Konterrevolutionär eingekerkert. Wer etwas bekennt, bekommt dafür eine Gefängnisstrafe. Und so versuchen die Menschen gleichzeitig zu gestehen und doch nicht zu gestehen. Einer zeigt den anderen an, alles Vertrauen zwischen Freunden und innerhalb von Familien ist zerstört. Sie fangen jetzt an, mit uns auf die gleiche Weise zu verfahren.“
Inzwischen hatten auch die Lautsprecher ihr Schweigen gebrochen. Doch anstatt Musik kamen Parolen: Kommunismus ist gut, Kommunismus ist gut, Kommunismus ist gut. Dies ging so die ganze Nacht. Tagsüber gab es dann die „Kampfversammlungen“, wie wir die Vorträge nun nannten. Unser nächster politischer Redner erzählte uns von dem neuen, wunderbaren Rumänien, das unter dem Sechzehnjahresplan von Gheorghiu-Dej erblühte und von dem Paradies, das diejenigen bereits genossen, welche die Partei für würdig befunden hatte. Er beschrieb uns die Vorrechte, die getreuen Arbeitern gewährt wurden: Gutes Essen, Ströme von Wein, herrlichen Urlaub am Schwarzen Meer, wo es von Mädchen in Bikinis nur so wimmelt . . .
In seine Augen kam ein Glanz, seine Stimme wurde belegt, als er mit hämischem Grinsen anfing, uns Brust, Leib und Oberschenkel zu beschreiben. In seine anstößige Rede mischte er die Freuden bei, die Wein und Reisen gewährten.
Nie habe ich auf Gesichtern von Menschen derartige gierige Wollust gesehen wie damals bei der Mehrzahl von denen, die in der großen Halle um mich herum saßen. Ihre Menschenwürde war durch das zügellose Gerede eines Mannes wie weggeblasen. Die nackte Begierde, die ein Teil unseres Lebenswillens ist, war auf raffinierte Weise wiedererweckt worden.
Die nächsten Vorträge waren geprägt von Appellen an unseren Selbstbehauptungstrieb. „Sie haben nur ein Leben, es geht schnell vorüber, wieviel bleibt Ihnen noch übrig? Machen Sie mit uns gemeinsame Sache.“
Nach diesem Appell an das ‚Ego‘ kam der Aufruf an das ‚Super-Ego‘, unser Gewissen, unsere sozialen Werte und ethischen Maßstäbe Die Redner sagten, unser Patriotismus sei falsch gewesen und unsere Ideale ein Betrug. An deren Stelle versuchten sie nun, die kommunistische Ideologie zu setzen.
Während der Stunden, in denen wir keine Schulung hatten, bläute uns das Tonband ein, daß der Kommunismus ‚gut‘ sei. Die Häftlinge stritten sich und wir alle waren mit den Nerven völlig am Ende.
Daianu, der Dichter, war der Erste, der zusammenbrach. Am Ende eines Vortrages sprang er auf und begann über seine Verbrechen gegen den Staat zu faseln. „Jetzt verstehe ich, jetzt verstehe ich alles, ich habe mein Leben für einen Irrtum weggeworfen!“ Er gab seinen Eltern, die Großgrundbesitzer waren, die Schuld dafür, daß sie ihn auf die falsche Bahn gebracht hatten. Keiner hatte ihn aufgefordert die Religion anzugreifen, aber er verleugnete seinen Glauben, die Religion und die Sakramente. Er tobte gegen den „Aberglauben“ und lästerte Gott. Es nahm kein Ende.
Dann stand Radu Ghinda auf und fuhr in der gleichen Tonart fort: „Ich bin ein Dummkopf gewesen“, sagte er. „Ich habe mich von den kapitalistischen und christlichen Lügen irreführen lassen. Nie wieder will ich meinen Fuß in eine Kirche setzen, es sei denn, um hineinzuspucken!“
Als Ghinda sich hinsetzte, rief ein zittriger, alter Mann: „Ihr alle kennt mich, – ich bin General Silveanu von der Königlichen Armee. Ich sage mich los von meinem Dienstgrad und meiner Regierungstreue . . . Ich habe den Ausbeutern gedient, ich habe mein Vaterland entehrt . . .“
Dem General folgte ein ehemaliger Polizeichef.
Einer nach dem anderen standen die Männer auf und plapperten ihre „Geständnisse“ wie Papageien nach. Dies waren die ersten Früchte von Monaten des planmäßigen Aushungerns, Erniedrigungen, Mißhandlungen und des Ausgesetztseins der Massensuggestion.
Die ersten, die nachgaben, waren Menschen, deren Leben durch persönliche Schuld bereits zerstört war.
Bald wurden die „bekehrten“ Häftlinge eingesetzt, selbst Umschulungsvorträge zu halten. Sie taten es mit Leidenschaft in dem Glauben, daß ihre Freilassung von ihren Anstrengungen abhängig war.
Archimandrit Miron meinte: „Seltsam, daß Menschen, die früher über den christlichen Glauben schrieben, so schnell zu Verrätern wurden.“
Vielleicht lag die Antwort darin, daß Daianu und Ghinda in ihrer Dichtung Christus nur für seine Gaben – Friede, Liebe, Erlösung – priesen. Ein wahrer Jünger jedoch trachtet nicht nach Gaben, sondern nach Jesus selbst. Sie waren keine Jünger Jesu, sondern seine Kunden.

1963 wurde ich wieder sehr krank und ins Gefängniskrankenhaus verlegt. Kaum eine Woche war ich dort, als alle Patienten den Befehl bekamen aufzustehen. Wir halfen uns gegenseitig, in den großen Hof hinauszukommen, wo man das ganze Gefängnis versammelt hatte. Stehend wohnten wir einem Schauspiel bei, das von dazu bestimmten Häftlingen vorgeführt wurde. Es war eine einzige Verspottung des christlichen Glaubens. Am Ende des Spieles erhob Kommandant Alexandrescu seine rauhe Stimme, und fragte nach unserer Stellungnahme. Daianu machte den Anfang. Ghinda folgte ihm. Ein Mann nach dem anderen stand auf und wiederholte die Schlagworte gegen die Religion.
Als der Kommandant mich aufrief, kamen mir die Worte meiner Frau ins Gedächtnis, die sie mir vor vielen Jahren auf dem Religionskongress sagte: „Geh und wasche diese Schande vom Antlitz Christi !“ Dadurch, daß ich schon in sehr vielen Zellen gewesen war, war ich in Gherla gut bekannt.
Hunderte von Augen waren auf mich gerichtet. Sie alle schienen nur eine Frage zu stellen: „Wird auch er ein Loblied auf den Kommunismus anstimmen ?“
Major Alexandrescu rief: „Los ! Reden Sie schon !“ Er wußte, wenn ein Hartnäckiger zusammenbrach, – und das war nach seiner Meinung nur eine Frage der Zeit, – dann war dies der Beweis für seine erfolgreiche Umschulung.
Ich begann vorsichtig: „Es ist Sonntagmorgen, und unsere Frauen, Mütter und Kinder beten für uns, in der Kirche oder zu Hause. Wir hätten auch gerne für sie gebetet, aber stattdessen mußten wir uns dieses Schauspiel ansehen.“
Tränen kamen den Häftlingen in die Augen, als ich von ihren Familien sprach. Ich fuhr fort:
„Viele haben hier gegen Jesus gesprochen. Aber was habt ihr eigentlich gegen ihn ? Ihr sprecht vom Proletariat, aber war Jesus nicht ein Zimmermann? Ihr sagt, wer nicht arbeitet soll auch nicht essen. Aber das hat der Apostel Paulus schon vor langer Zeit in seinem Brief an die Thessalonischer gesagt. Ihr seid gegen die Reichen, aber Jesus hat die Wechsler mit der Peitsche aus dem Tempel herausgejagt. Ihr wollt den Kommunismus, aber vergeßt nicht, daß die ersten Christen in einer Gemeinschaft lebten und alles, was sie besaßen, miteinander teilten. Ihr möchtet die Armen erheben, aber das Magnifikat – der Lobgesang der Jungfrau Maria – sagt bereits, daß Gott die Armen über die Reichen erheben wird. Alles, was an dem Kommunismus gut ist, kommt von den Christen.“
Major Alexandrescu rutschte auf seinem Stuhl hin und her, aber er unterbrach mich nicht. Als ich sah, daß die Häftlinge innerlich bewegt waren, vergaß ich, wo ich mich befand, und begann frei über Jesus, und das was er für uns getan hat, zu predigen. Ich sagte: „Habt ihr schon jemals von einer Ausbildung ohne Prüfungen gehört? Oder von einer Fabrik, wo die Erzeugnisse nicht genau auf ihre Qualität hin geprüft werden? Genauso werden wir alle geprüft, gerichtet von uns selbst, von unseren Mitmenschen und von Gott.“ Ich sah den Kommandanten an und sagte: „Auch Sie werden gerichtet, Major Alexandrescu.“
Er ließ es wieder durchgehen, und ich sprach weiter davon, daß Jesus Liebe lehrt und das ewige Leben gibt. Als ich mit meiner Rede zu Ende war, brachen die Häftlinge in Beifallsrufe aus.
Auf meinen Platz zurückgekehrt, flüsterte mein Nachbar: „Haben Sie den Beifall gehört?“ Ich antwortete: „Das galt nicht mir, sondern dem, was sie in ihrem eigenen Herzen entdeckt haben.“
Wir waren wenige, die sich offen gegen die Gehirnwäsche stellten, aber wir hatten doch viele Gleichgesinnte, wenn ihnen auch der Mut oder die Fähigkeit fehlten, sich selbst zur Wehr zu setzen. Es war auch nicht so einfach. Als Ergebnis meiner Ansprache verlor ich meinen Platz im Krankenhaus und wurde in die Priesterzelle zurückgeschickt.
Nach einigen Wochen wurden Daianu und Radu Ghinda vorzeitig entlassen. Das war ein mächtiger Schlag gegen unsere Widerstandskraft. Sie waren die ersten, die unter dem neuen System befreit wurden, aber auch, was wir nicht ahnen konnten, die letzten.
Leutnant Konya, einer der Politoffiziere, war verantwortlich für die Erfolge bei den Gesinnungsänderungen. Über mich schien er keine guten Spitzelinformationen bekommen zu haben. Eines Tages kam er zu mir, um mir zwei Neuigkeiten mitzuteilen. Erstens sagte er mir, daß meine Frau im Gefängnis sei, und zwar schon seit längerer Zeit. Zweitens sollte ich um zehn Uhr abends ausgepeitscht werden für meine wiederholte Widerspenstigkeit, die in meiner Rede nach dem ‚Schauspiel‘ ihren Höhepunkt erreicht hätte.
Die Nachricht über Sabine war für mich ein schwerer Schlag. Mein Schmerz darüber kam noch zu der Angst vor der bevorstehenden Auspeitschung. Uns allen graute es immer vor der Wartezeit. Niemand kam an diesem Abend, um mich zu holen. Sechs Tage lang wurde die Spannung aufrecht erhalten. Dann führte man mich zu dem Raum am Ende des Korridors. Jeder Schlag brannte wie Feuer. Als es vorbei war, schrie Leutnant Konya, der das ganze beaufsichtigte: „Gib ihm noch ein paar Hiebe!“ Dann brauchte ich zu lange, um auf die Beine zu kommen. „Noch zehn!“ sagte Konya. Ich wurde zurück in die Zelle geschleppt, wo die Lautsprecher plärrten: Christentum ist dumm, Christentum ist dumm, Christentum ist dumm. Gib auf, gib auf, gib auf . . . Christentum ist dumm . . .
Manchmal wurden die Schläge in der Zelle vorgenommen. „Hosen herunter, es gibt Schläge!“ Wir ließen die Hosen herunter. „Auf den Rücken legen und die Beine hoch!“ Wir drehten uns auf den Rücken. Manchmal sagte ein Priester: „Ich rufe doch ‚unseren Vater‘ an, aber welcher Vater, welcher Gott ist es, der mich in dieser Weise meinen Feinden ausliefert?“ Aber wir baten ihn eindringlich: „Gib nicht nach. Bete weiter. Sei hartnäckig, durch Widerstand wirst du deinen Glauben erneuern.“ Und er konnte unseren Worten Gehör schenken, weil wir seine Leiden teilten.
Eines Abends befahl mir Leutnant Konya, meine Sachen zu packen. Da die Behandlung bei mir nicht angeschlagen hatte, dachte man, daß ein kleiner Aufenthalt in der „Sonderabteilung“ mir vielleicht ‚guttun’ würde. Es gab viele Gerüchte über diese Abteilung des Gefängnisses. Nur wenige kehrten von dort zurück. Entweder starben sie, oder sie erlagen der Gehirnwäsche und kamen woanders hin.
Ich befand mich nun allein in der Zelle mit weißgekachelten Wänden. Die Decke reflektierte grelles weißes Licht. Es war Hochsommer, aber die Zentralheizung, die sonst nirgends in Gherla funktionierte, lief auf Hochtouren. Konya hatte mich mit Handschellen zurückgelassen, so daß ich nur entweder auf dem Rücken oder auf der Seite liegen konnte. Ich tropfte vor Schweiß und hatte starke Magenschmerzen. Die Lautsprecher in diesem Raum hatten eine neue Botschaft zu verkünden: Niemand glaubt jetzt mehr an Christus, niemand glaubt jetzt mehr an Christus, niemand glaubt jetzt mehr an Christus. Keiner geht mehr in die Kirche, keiner geht mehr in die Kirche, keiner geht mehr in die Kirche. Gib auf, gib auf, gib auf. Keiner glaubt jetzt mehr an Christus . . .
Am nächsten Morgen erschien Konya und hieß mich ihm den Korridor entlang zu folgen.
Eine neue Zelle und frische Kleidung warteten auf mich. Es gab ein überzogenes Bett und einen Tisch mit einer Vase mit Blumen. Das war zuviel für mich. Ich setzte mich hin und fing an zu weinen. Als Konya gegangen war faßte ich mich wieder. Ich sah mir die Zeitung an, die auf dem Tisch lag. Darin suchte ich nach der Nachricht, daß die 6. Kriegsflotte der US-Streitkräfte ins Schwarze Meer eingelaufen war, um freie Wahlen in besetzten Ländern zu fordern. Dieses Gerücht ging gerade in Gherla um. Doch stattdessen fand ich einen kurzen Artikel über Fidel Castro, der in Kuba die Macht an sich gerissen hatte und Amerika direkt vor seiner eigenen Tür Schwierigkeiten machte.
Der erste, der mich aufsuchte, war Kommandant Alexandrescu. Er sagte, meine neue Umgebung sei eine Kostprobe von dem angenehmen Leben, das mir offen stünde. Er begann, den christlichen Glauben anzugreifen. Christus sei nur eine Erfindung der Apostel gewesen, um die Sklaven mit der Hoffnung auf die Freiheit im Paradies irrezuführen.
Ich griff nach der Zeitung und reichte sie ihm. „Sie trägt das Datum vom Juli 1963, das bedeutet 1963 Jahre seit der Geburt von jemand, der – wie Sie eben gesagt haben – nie gelebt hat. Sie glauben nicht an Christus, akzeptieren ihn aber als den Gründer unserer Zivilisation.“
Alexandrescu zuckte mit den Schultern. „Diese Zeitrechnung ist einfach eine Sitte, ohne Bedeutung.“ „Aber wenn Jesus niemals auf die Welt gekommen ist, wie ist diese Sitte entstanden?“ fragte ich. „Einige Lügner haben es in die Welt gesetzt.“ Ich sagte: „Wir müssen die Existenz Christi als eine historische Tatsache anerkennen, wenn sogar im Talmud von den Pharisäern, seinen schlimmsten Feinden, über ihn berichtet wird. Dort werden die Namen seiner Mutter und einiger seiner Apostel erwähnt, und dort wird berichtet, daß Christus Wunder gewirkt hat, die sie allerdings der Kraft der Schwarzen Magie zurechnen. Und viele heidnische Schreiber bestätigen ihn ebenfalls. Nur die Kommunisten leugnen diese klare, geschichtliche Tatsache, und zwar deshalb, weil sie ihnen nicht in ihre Theorie paßt.“
Alexandrescu führte die Auseinandersetzung nicht weiter. Stattdessen schickte er mir ein Buch „Das Handbuch des Atheisten“, ein aus dem Russischen übersetztes Nachschlagwerk. Es fing an mit dem Entstehen der Religion, behandelte die großen Weltreligionen und besonders das Christentum. Alles wurde als Schwindel hingestellt. Die Wissenschaft hatte das bewiesen, und deswegen habe die Kirche immer die Wissenschaft verfolgt. Ein ganzes Kapitel schilderte die Kirche als ein Werkzeug des Kapitalismus durch alle Jahrhunderte. Die Ermahnung Christi, unsere Feinde zu lieben, bedeute nichts anderes als sich unter den Ausbeuter zu beugen. Darüber schlief ich ein.
Während der nächsten Wochen lebte ich in ständigem Wechsel zwischen Versprechungen und Drohungen, zwischen meinem blumengeschmückten Privatzimmer und der Zelle mit blendend grellem Licht und Lautsprechern, zwischen guten Mahlzeiten und dem Hunger, zwischen dem Argumentieren und der brutalen Bestrafung.

Mein Gethsemane
Dort befand ich mich, als Wächter kamen, um mich abzuholen. Mit angelegten Handschellen und verbundenen Augen führten sie mich ab. Es war wie ein Gang zur Hinrichtung. In einem abseits gelegenen Teil des Gefängnisses, der die Zentralverwaltung sein mußte, wurde ich vor einen Mann in einer Generalsuniform geführt. Es war Negrea, der stellvertretende Innenminister. Der Politoffizier und einige Funktionäre aus Bukarest saßen neben ihm.
Negrea sagte höflich: „Ich habe gerade Ihren Fall studiert, Herr Wurmbrand. Ich halte nichts von Ihren Ansichten, aber ein Mann, der so fest bleibt, der gefällt mir. Wir Kommunisten sind auch hartnäckig. Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, daß wir uns auf halbem Wege entgegenkommen. Wenn Sie bereit sind, das was Sie erlitten haben zu vergessen, werden wir das was Sie gegen uns unternommen haben aus dem Gedächtnis streichen. Wir wenden einfach das Blatt um und werden Freunde anstatt Feinde.“
Er hatte eine offene Akte vor sich liegen. „Ich habe sogar Ihre Predigten gelesen. Sie erklären die Bibel auf eine sehr schöne Art. Aber Sie müssen bedenken, daß wir in einem Zeitalter der Wissenschaft leben.“
„Was wird jetzt kommen?“ fragte ich mich, als Negrea anfing, mir einen parteiwissenschaftlichen Vortrag zu halten. Hätte ein bedeutender Staatsmann lediglich zu diesem Zweck eine 320 km weite Reise unternommen? Wie die Donau nach vielen Schlingen und Kurven schließlich doch das Meer erreicht, so kam auch seine Rede zum entscheidenden Punkt.
„Wir brauchen solche Männer wie Sie! Wenn Sie bereit sind, uns in unserem Kampf gegen den Aberglauben zu unterstützen, können Sie sofort ein neues Leben beginnen. Sie werden eine hochbezahlte Stellung bekommen, und Ihre Familie wird mit Ihnen in Wohlstand und Sicherheit vereint sein. Ich sagte nichts. Negrea war wohl überzeugt, daß ich sein Angebot annehmen würde. Er lehnte sich über den Schreibtisch: „Herr Wurmbrand, womit Sie uns helfen können ist dies: Sie haben doch für den Weltkirchenrat gearbeitet. Sie sind im Ausland weithin bekannt – wir bekommen immer noch viele Anfragen über Sie. Wenn Sie Bischof werden, können Sie unseren anderen Verbündeten aus dem Weltkirchenrat helfen, ein Bollwerk für uns zu bauen, nicht für den Atheismus, sondern für den Sozialismus und für den Frieden. Sie erkennen doch sicher den weltumfassenden, menschlichen Idealismus an, der hinter unseren Friedenskampagnen und unseren Bemühungen um den Atomwaffensperrvertrag steht. Sie werden natürlich dabei in der Lage sein, Gott nach Herzenslust anzubeten. In diesen Bereich werden wir uns nicht einmischen. Der gegenwärtige lutherische Bischof von Rumänien ist alt. Sie würden also der zukünftige Bischof und von Anfang an das eigentliche Oberhaupt Ihrer Kirche in Rumänien sein. Und denken Sie daran, der Kommunismus hat ein Drittel der Welt erobert. Da muß die Kirche sehen, daß sie mit uns handelseinig wird. Wenn nun ein Mann wie Sie Bischof werden würde, so könnten Sie ohne weiteres Ihren Glauben beibehalten und dennoch unserer Regierung treu sein. Denn Sie wissen ja, daß Sie der Obrigkeit untertan sein sollen, weil sie von Gott eingesetzt ist. Und warum sollten Sie es mit unserer Regierung nicht auch so halten?“
Ich bat mir Bedenkzeit. Negrea war einverstanden. „Wir werden uns noch einmal treffen, bevor ich wieder nach Bukarest fahre, um Ihre Entlassungspapiere in Ordnung zu bringen“, sagte er.
Man führte mich wieder in eine Isolierzelle. Dort lag ich viele Stunden und dachte nach. Ich wußte natürlich, daß meine Antwort „Nein“ heißt. Andererseits wußte ich, daß die offizielle Kirche in einem kommunistischen Land nur bestehen kann, wenn sie in einem gewissen Maß zu Zugeständnissen bereit ist. Außerdem ist es so, daß eine Untergrundkirche für ihre Arbeit eine Deckorganisation braucht. Wenn diese fehlt, haben Millionen von Menschen keinen Raum, wo sie ihre Gottesdienste halten können, keinen Pfarrer, der ihnen die Predigt hält, niemand, der sie tauft, traut und ihre Toten beerdigt. Und ich brauchte doch nur gelegentlich einige Worte zu Gunsten der Kollektivierung und des sogenannten ‚Kampfes für den Frieden‘ zu sagen.
Außerdem hatte ich meine Frau und meinen Sohn schon jahrelang nicht gesehen. Ich wußte nicht, ob sie überhaupt noch am Leben waren.
Ich brauchte Kraft von oben, um Nein zu sagen. Denn das bedeutete 11 weitere Jahre im Gefängnis, verbunden mit der Aufopferung meiner Familie und dem fast sicheren Tod unter entsetzlichen Umständen. Aber in diesem Augenblick war mir das Antlitz Gottes verhüllt, und mein Glaube verließ mich. Mit meinem geistigen Auge sah ich die riesenhafte Gestalt des Kommunismus, die schon einen so großen Teil der Welt im Griff hatte und auch den Rest zu schlucken drohte. Ich wurde innerlich erdrückt von der Todesgefahr, von der Aussicht, immer und immer wieder geschlagen zu werden. Meine Seele glich einem Schiff, das von einer Seite auf die andere geschleudert wurde, ein Spielball eines gewaltigen Sturmes. Während dieser Stunden habe ich den Kelch Christi getrunken. Es war mein Gethsemane. Und wie Jesus warf ich mich mit dem Gesicht auf die Erde, betete in gebrochenen Schreien und bat Gott, mit zu helfen, diese entsetzliche Versuchung zu überwinden.
Nach dem Gebet wurde ich etwas ruhiger. Ich fing an, mir die einfachsten Fragen des Glaubens zu wiederholen: Ist der Weg der Liebe besser als der Weg des Hasses? Hat Christus mich von den Bürden der Sünde und des Zweifels befreit? Ist er der Erlöser? Schließlich fiel es mir nicht mehr schwer, diese Fragen mit einem Ja zu beantworten. Nachdem ich das getan hatte, war mir, als ob eine zentnerschwere Last von meiner Seele genommen wurde. Dann betete ich wieder und fühlte danach, wie der Friede in meine Seele zurückkehrte.
Am nächsten Tag wurde ich wieder gerufen. Ich sagte ihnen: „Ich halte mich nicht für würdig, Bischof zu werden. Sogar der Stand eines einfachen Christen war eine Überforderung für mich. Die ersten Christen gingen in den Tod mit den Worten: ‚Christianus sum!‘ – Ich bin ein Christ – und ich habe dies nicht getan. Stattdessen habe ich Ihr schmachvolles Angebot in Erwägung gezogen. Aber ich kann es nicht annehmen“
„Wir werden einen anderen finden, der es tun wird,“ drohte Negrea.
Bis zuletzt höflich, schloß er seine Aktentasche, stand auf und ging zum Fenster hinüber. Dort stand er und schaute hinaus, während die Wächter mir Handschellen anlegten und mich hinausführten.

Lange Zeit blieb ich in der ‚Sonderabteilung‘, wie lange kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Im Laufe der Zeit schmolzen gewisse Abschnitte meines Gefängnisdaseins zu einem einzigen ungeheuren Tag zusammen. Die Gehirnwäsche nahm an Intensität zu, änderte aber nur wenig an den Methoden. Aus den Lautsprechern tönte es wieder und wieder: Christentum ist tot, Christentum ist tot, Christentum ist tot.
Auf einen Tag kann ich mich deutlich besinnen. Man hatte uns Postkarten gegeben, mit denen wir unsere Familien einladen und sie bitten sollten, uns Pakete zu bringen. Als der genannte Tag kam, wurde ich rasiert, gewaschen und bekam ein sauberes Oberhemd. Stunden vergingen. Ich saß in der Zelle und starrte die weißglitzernden Kacheln an, aber niemand kam. Ich konnte damals nicht wissen, daß meine Postkarte niemals abgeschickt worden war. Den gleichen Trick spielten sie auch mit anderen hartnäckigen Häftlingen.
Der Lautsprecher sagte: Jetzt hat dich niemand mehr lieb, jetzt hat dich niemand mehr lieb, jetzt hat dich niemand mehr lieb.
Ich fing an zu weinen.
Weiter tönte es: Man will nichts mehr von dir wissen, man will nichts mehr von dir wissen . . .
Ich konnte diese Worte nicht mehr ertragen und konnte ihnen doch nicht entfliehen.
Der nächste Tag brachte wieder eine der brutalen ‚Kampfversammlungen‘ mit sich. Viele andere Frauen seien gekommen, sagte der Redner, nur wir seien die Dummen, man hätte uns abgeschrieben. Unsere Frauen lägen jetzt mit anderen Männern im Bett – jetzt in diesem Augenblick. Mit aller Unanständigkeit, die ihm zu Gebote stand, schilderte er uns, was zwischen ihnen vorging. Und wo seien unsere Kinder? Auf der Straße, jedes einzelne von ihnen ein Atheist. Sie hätten keinen Wunsch, ihre Väter wiederzusehen. Wie dumm wir doch seien!
In der Sonderabteilung hörte ich tagaus, tagein den Lautsprecher: Christentum ist tot, Christentum ist tot, Christentum ist tot.
Und mit der Zeit fing ich an zu glauben, was man uns in all den Monaten eingeredet hatte. Das Christentum war tot. Die Bibel sagt einen großen Abfall vom Glauben voraus. Ich glaubte, diese Zeit sei gekommen.
Da dachte ich an Maria Magdalena, und vielleicht gerade dieser Gedanke rettete mich vor dem seelentötenden Gift des letzten und schwersten Stadiums der Gehirnwäsche.
Ich erinnerte mich, wie sie Jesus treu war, selbst als er am Kreuz ausrief: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und als sein Leichnam im Grabe lag, stand sie weinend in der Nähe und wartete, bis er auferstanden war. Wenn ich auch schließlich glaubte, daß das Christentum tot sei, dachte ich, will ich trotzdem daran festhalten und an seinem Grabe weinen und warten bis er aufersteht . . .

Im Juni 1964 versammelte man alle Häftlinge in der Haupthalle. Der Kommandant, von seinen Offizieren begleitet, trat ein, und wir stellten uns auf ein neues Stadium der ‚Kampfversammlungen‘ ein.
Stattdessen gab Major Alexandrescu bekannt, daß unter der von der Regierung erlassenen, allgemeinen Amnestie sämtliche politischen Häftlinge freigelassen werden sollten.
Ich konnte es nicht glauben. Doch diesmal handelte es sich nicht um einen neuen Trick, wie wir zuerst vermuteten. Im Sommer dieses Jahres wurden viele Tausende von Häftlingen freigelassen. Das hatten wir einem sogenannten Tauwetter zwischen Ost und West zu verdanken und ebenfalls – wie ich später erfuhr – einer Sinnesänderung unseres Ministerpräsidenten Gheorghiu-Dej. Dieser kehrte zu dem Glauben zurück, in dem seine Mutter ihn erzogen hatte, und dem sie selbst ihr ganzes Leben lang treu geblieben war. Dej kam zum Glauben durch ein Dienstmädchen in seinem Haus und durch deren Onkel, einem gutherzigen alten Mann, der oft mit ihm über die Bibel sprach. Der Glaube an Christus, obwohl er ihn nicht öffentlich bekannte, gab ihm die Kraft, seinen sowjetischen Gebietern Widerstand zu leisten. Er knüpfte neue Beziehungen mit dem Westen an, und gab damit anderen unterdrückten Ländern ein Beispiel. Unglücklicherweise starb er einige Monate später. Man sagt, daß sein Tod von sowjetischen Agenten beschleunigt worden war.

Ich gehörte zu einer der letzten Gruppen von etwa 100 Männern, die in einer großen Halle versammelt wurden. Wir waren fast die letzten Häftlinge, die noch in Gherla waren. Eine ungewohnte Stille herrschte in den Korridoren. Uns wurden die Haare geschnitten, und wir bekamen getragene, aber saubere Kleidung.

Ich verließ das Gefängnis in den Kleidern eines anderen Mannes. Auf den Straßen von Gherla kam ich mir wie geblendet vor. Wagen rasten vorbei, und etwas ängstlich machte ich mich auf den Weg.
Mit dem Bus fuhr ich in die nahegelegene Stadt Cluj, wo ich Freunde hatte. Von dort rief ich einen unserer Nachbarn in Bukarest an. Die Stimme, die antwortete, gehörte Sabine.
„Hier ist Richard“, sagte ich, „ich dachte, du wärest im Gefängnis“.
Ich hörte ein Gewirr von Geräuschen. Mihai nahm den Hörer auf. „Mutter ist ohnmächtig geworden, bleibe am Apparat!“ Es gab noch mehr eigenartige Laute. Dann sagte Mihai: „Sie kommt wieder zu sich, wir dachten, daß du tot seiest!“
Ich nahm einen Zug nach Bukarest. Als ich aus dem Zug ausstieg, sah es so aus, als ob alle Leute aus unserer Kirche mir entgegenliefen um mich zu begrüßen. Und dann umarmte ich meine Frau und meinen Sohn.
An diesem Abend erzählte mir Sabine, daß man ihr schon vor Jahren eine Mitteilung von meinem Tod gemacht hatte. Sie weigerte sich, es zu glauben, selbst wenn Fremde, die sich für ehemalige Häftlinge ausgaben, sie besuchten und behaupteten, bei meiner Beerdigung dabei gewesen zu sein.
„Ich will auf ihn warten“, hatte sie gesagt. Jahre vergingen, ohne ein einziges Lebenszeichen von mir, bis mein Telefonanruf kam. Für sie war es, als sei ich von den Toten auferstanden.

An einem Sonntag, Monate nach meiner Entlassung, machte ich mit einer Gruppe Schulkinder eine kleine Wanderung. Anfangs folgte uns die Geheimpolizei auf den Fersen. Aber als sie sahen, daß wir in den Zoo gingen, ließen sie uns zufrieden. Ich führte die Kinder zu einem Löwenkäfig und versammelte sie alle um mich herum, so daß ich leise zu ihnen sprechen konnte: „Eure Vorväter im Glauben an Christus wurden solchen wilden Tieren vorgeworfen. Sie gingen mit Freuden in den Tod, weil sie an Jesus glaubten. Die Zeit kann kommen, wo auch ihr ins Gefängnis gehen und leiden müßt, weil ihr Christen seid. Ihr müßt euch jetzt entscheiden, ob ihr bereit seid, diesem Tag zu begegnen.“
Mit Tränen in den Augen sagte einer nach dem anderen: „Ja“. Ich stellte ihnen keine weiteren Fragen. Dies war der letzte Konfirmandenunterricht, den ich hielt, bevor ich meine Heimat verließ.

In Washington befindet sich eine große, kupferne Gedenktafel, in der die Verfassung der Vereinigten Staaten kunstvoll eingraviert ist. Tritt man jedoch einige Meter zurück, so daß der Blickwinkel sich ändert, wird das Gesicht von George Washington aus dem Text sichtbar.
So soll es auch mit all den berichteten Erfahrungen, die meine Glaubensbrüder und ich in den Gefängnissen gemacht haben, sein: Alleine Jesus Christus soll sichtbar werden, der uns im Glauben erhielt und die Kraft zum Überwinden verlieh.

II. IM WESTEN

Christen aus dem Westen besuchen Osteuropa
Im Juni 1964 wurde ich aufgrund einer Generalamnestie aus der Haft entlassen, nachdem ich vierzehn Jahre von meinem Urteil, das auf 25 Jahre lautete, abgesessen hatte. Ich war somit innerhalb der weiter gefaßten Grenzen eines Gefängnisses, welches die kommunistische Welt genannt wird, frei . . .

An einem Nachmittag ging ich zur deutschsprachigen Baptistenkirche Bukarests. Der englische Pfarrer Stuart Harris, der Leiter der Europäischen Christlichen Mission und späterer Leiter der Internationalen Christlichen Mission für die kommunistische Welt, war dort. Er hatte Bruder John Moseley bei sich, der damals für die US-Mission für Europas Millionen tätig war. Sie hatten beide schon von mir gehört. Sie hatten mich zwar gesucht, aber nicht gewagt, sich bei jemandem nach mir zu erkundigen,
Nach dem Gottesdienst stellte ich mich ihnen auf Englisch vor. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß wir von Spitzeln umgeben waren, aber zum Glück konnte keiner von ihnen Englisch. Ich lud Stuart Harris und John Moseley zu mir nach Hause ein. Ich konnte ihnen meine Adresse nicht direkt sagen, da die Spitzel dies verstanden hätten. Daher zählte ich die Buchstaben, die den Straßennamen bildeten, in gewissen Abständen nacheinander auf.
Am Abend kamen sie zu der Dachkammer, in der wir damals wohnten. Am nächsten Tag trafen wir uns wieder. Ich berichtete ihnen, was mit Christen in kommunistischen Ländern geschah. Der Traum, etwas zu tun, um verfolgten Heiligen zu helfen, war nun nicht mehr der Traum eines Menschen, es war jetzt ein geteilter Traum . . .
Am 6. Dezember 1965 konnten meine Frau Sabina, mein Sohn Mihai und ich Rumänien verlassen. Ein Lösegeld in Höhe von 10 000 Dollar war von der norwegischen Israelmission, der judenchristlichen Allianz und meiner Familie für uns gezahlt worden. Kommunistische Länder betreiben Sklavenhandel. Sie verkaufen ihre Bürger wie Vieh. Eine langjährige Freundin von uns, Frau Anutza Moise, hatte das Geschäft mit den rumänischen Behörden für uns abgewickelt.

Im schönen Norwegen
Wir fuhren zunächst nach Italien, von wo aus ich mit dem Lutherischen Weltbund, dessen Hauptquartier in Genf war, Kontakt aufnehmen konnte. Anschließend reisten wir für einige Tage nach Paris.
Von dort aus fuhr das Wurmbrand-Trio nach Norwegen. Ich wußte noch nicht, daß vor unserer Ankunft bereits Telegramme eingegangen waren, in denen jedermann gewarnt wurde, mich predigen zu lassen. Die Absicht war gut: Der Lutherische Weltbund fürchtete, daß meine Reden gegen den Kommunismus die Lage für die Zurückgebliebenen erschweren und jegliche Möglichkeit vereiteln würden, zukünftig andere freizukaufen.
Diese Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unerheblich. Alle bestätigten, daß in Rumänien niemand aufgrund meiner Predigten und der Veröffentlichung meiner Bücher leiden mußte, sondern daß im Gegenteil die rumänischen Kommunisten zum ersten Mal das Drucken von Bibeln erlaubten.
Noch heute, allerdings weniger als damals, träume ich fast jede Nacht, daß ich im Gefängnis sei. Die Welt der Gefängnisse mit ihren Helden – denen, die gebrochen worden sind, denen, die singend in den Tod gehen, und denen, die Spitzel geworden sind – erscheint mir in der Nacht. Sie alle erwarten von mir, daß ich ihnen helfe.
Gegen fünf Uhr früh, wenn alle anderen noch schlafen, wache ich mit meinen Brüdern und Schwestern auf, die vom Gong aus dem Schlaf gerissen werden – dem Signal, daß die Sklaven an die Arbeit gehen müssen, die Tausenden von Gefangenen vom Chinesischen Ozean bis zur Ostsee und der Donau.
Gefangenenträume sind schön. Die ganze Nacht ist man bei seinen Lieben; man ißt reichlich; man freut sich, daß man in der Bibel lesen und in die Kirche gehen kann. Da aber schlägt der Hammer auf die Querstange. Die Sklaven erwachen: blasse, schmutzige „Skelette“ mit dunklen Augenschatten und hohlen Wangen. Sie haben Angst, sich wegen ihrer Häßlichkeit anzusehen, sie werden arbeiten müssen, hungrig und gepeinigt, manchmal bis zu den Knien im Schnee, ein anderes Mal in sengender Hitze.
Ich bin bei ihnen.
Ich bin auch bei den Christen, die in psychiatrische Kliniken eingeliefert wurden. Die Tatsache, daß gesunde Menschen beten, wird als ein Symptom für Geistesgestörtheit angesehen; sie werden gebunden, geknebelt, mit Füßen getreten und mit Elektroschocks traktiert, was sie zum Wahnsinn treiben wird.
Die Schönheit der Untergrundheiligen erstrahlt vor diesem düsteren Hintergrund.

Aufgrund eines „Versehens“ war die amerikanische Kirche in Oslo vom Lutherischen Weltbund nicht vor mir gewarnt worden. Dies war die erste Kirche, in die ich ging. Am Weihnachtstag 1965 berichtete man ihrem Pfarrer, Myrus Knutson, daß eine merkwürdige Gestalt die Sonntagsschule der Kinder besucht habe. Es sei ein armselig gekleideter Mann mit verstörtem Blick gewesen, wahrscheinlich ein aus dem Gefängnis oder einer psychiatrischen Klinik Entflohener. Außerdem habe er geweint, als er die Geschichte von Jesus hörte, die den Kindern erzählt wurde. Wer hat je von einem Menschen gehört, der in einer achtbaren Kirche über die Kreuzigung Christi weinte?
Pfarrer Knutson ließ mich in sein Büro rufen und bat mich, ihm meine Geschichte zu erzählen. Er zeigte sogleich Interesse und ging am darauffolgenden Tag zum Hauptsitz der norwegischen Israelmission, um sich zu erkundigen, ob die Geschichte, die von diesem Wurmbrand erzählt wurde, auch wahr sei. Sie wurde bestätigt.
Er stellte mir die erste Kanzel einer Kirche in der freien Welt zur Verfügung, und ich predigte dort jeden Sonntag. Ich predigte auch in der amerikanischen Militärkapelle, in der Oberst Cassius Sturdy als Pfarrer tätig war.
Diejenigen, die meine ersten Predigten gehört hatten, wurden sich bewußt, daß sich etwas Neues ereignete, oder vielmehr etwas Kostbares aus der Vergangenheit wieder auflebte.
Der heilige Paulus war nach Thessaloniki gereist um zu predigen. Das Wesentliche seiner Predigten war, daß „Christus leiden mußte“ (Apg. 17,3). Seine Zuhörer erklärten zu Recht, dies bedeute, „die Welt umzukehren“.
Die Juden erwarteten, daß der Messias das beste Geschöpf, ein Bote vom Himmel sein würde, der der Gerechtigkeit auf Erden zum Sieg verhelfen würde, indem Er so etwas wie die UNO, den Weltkirchenrat oder Vatikan in Idealformat gründe, bestehend aus all denen, die an das soziale Evangelium glauben, im langsamen Vormarsch des Humanismus!
Lange vor Bonhoeffer glaubten die Juden, daß die Menschheit jene geistliche Reife erlangt habe, daß sie ein so herrliches Geschöpf mit Sicherheit in die Arme schließen würde.
„Nein“, sagte Paulus, „die leibhaftige Liebe und Wahrheit mußte sterben. Und wie Er werden auch alle, die Ihm nachfolgen, Verfolgung leiden müssen.“ Ich legte dar, daß die Verfolgung bereits in einem Drittel der Erde auftrete, und daß die übrige Welt ebenfalls bedroht sei.
Die Aussicht sei düster. Die Kirche müsse auch leiden. „Und ihm ward gegeben, zu streiten wider die Heiligen und sie zu überwinden“ (Offb. 13,7). Die einzige Hoffnung ist, an Christi Erfahrung teilzuhaben, der nach dem Tod „von den Toten auferstanden ist“.
Die Gemeinde, in der ich predigte, war Predigten gewohnt, bei denen sie am Ende des Gottesdienstes sagen konnte: „Sie gefiel mir sehr gut.“ Während meiner Predigt litt die Gemeinde und war zu Tränen gerührt.
Da ich von Christi neuen Leiden in Seinem mystischen Leib, der Kirche, sprach, mußte ich auch diejenigen mit Namen nennen, die ihn leiden ließen. Ich nannte eine politische Macht. Damit wurde das erste Gerücht in die Welt gesetzt, das sich unaufhaltsam verbreiten sollte: „Wurmbrand predigt Politik.“
Über diese Frage ist seit damals in Zusammenhang mit meinem Namen oft diskutiert worden. Die Bibel enthält Bücher, die rein politisch sind, beispielsweise Obadja und Esther. Im Buch Esther wird Gott nicht einmal erwähnt. Wahres Predigen umfaßt alle Lebensbereiche. Politik in Predigten auszuklammern, ist falsch.
Alles in allem wurde ich außerordentlich gut aufgenommen.

Die erste Mission wird gegründet
Jill Holby, eine Engländerin, war Mitglied der amerikanischen Kirche in Oslo. Sie machte mich mit der Familie eines Lektors, Vermund Skard, bekannt und arrangierte eine Einladung bei ihm und anderen Leuten; einer von ihnen war Overbye, ein Journalist im Ruhestand. Sie legten gemeinsam Hand an, setzten sich mit dem Bischof von Tromsø, Monrad Norderval, einem berühmten Autor, telefonisch in Verbindung und erklärten ihm: „Richard Wurmbrand aus Rumänien ist hier bei uns. Die norwegischen Kirchen stehen ihm nicht offen. Den Pfarrern hat man gesagt, er könne möglicherweise die Welt auf den Kopf stellen.“ Nordervals Antwort lautete: „Schicken Sie ihn her!“ Daraufhin fuhren wir zum Polarkreis hinauf.
Die Kathedrale von Tromsø war die erste lutherische Kirche in Norwegen, in der ich predigte, gefolgt von „Philadelphia“, der großen Kathedrale der norwegischen Pfingstler.
Der Bann war gebrochen, und die meisten anderen lutherischen Kirchen öffneten ihre Portale. Die norwegische Mission hinter dem Eisernen Vorhang wurde ins Leben gerufen.
Die Presse wurde in unsere Sache eingeschaltet. Die Interviews waren sensationell. Im Laufe der Zeit gab es kaum eine Zeitung, die nicht Bilder und Artikel über die Grausamkeiten veröffentlichte, die im kommunistischen Lager an Christen begangen werden.
Man lud mich ein, vor dem NATO-Personal zu sprechen. Die NATO besteht nicht zum Zwecke der Evangeliumsverkündigung. Tatsächlich hat sie keine Ideologie, wohingegen die kommunistischen Offiziellen, die den Warschauer Pakt unterzeichneten, eine bis ins Detail festgelegte Doktrin besitzen, die sie der ganzen Welt aufzwingen wollen. Ich berichtete dem NATO-Personal vom Kommunismus in Rumänien, über die Verfolgung und die Untergrundkirche . . .
NATO-Offiziere führten eine Spendenaktion durch, um meiner Frau und mir eine Reise in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen.

Wie ich bekannt wurde
Bei meinen Vorträgen in den Vereinigten Staaten bestand ich immer wieder darauf, daß die Kirche einen Sonderetat schaffen sollte, um den Familien christlicher Märtyrer zu helfen, und daß sie das Evangelium hinter dem Eisernen Vorhang verkündigen sollte. In diesem Sinne schrieb ich viele Briefe an Persönlichkeiten des christlichen Lebens. Ich hörte damit auf, als das Oberhaupt einer Konfession mir seine Schlußfolgerung mitteilte, zu der es gekommen sei. Meine Vernunft sei getrübt und mein Verstand verwirrt. Zweifellos hatte dieser Mann mit seiner Diagnose recht. Niemand, der viele Jahre in nationalsozialistischen und kommunistischen Gefängnissen verbracht hat und gefoltert wurde, kann geistig völlig gesund sein. Das zeigte sich bei einer wissenschaftlichen Untersuchung der Opfer von Auschwitz. Aber die Tatsache, daß mein Verstand getrübt sein mag, kann diejenigen, deren Verstand noch intakt ist, nicht von der Verpflichtung entbinden, ihren verfolgten Glaubensbrüdern zu helfen. Diese Leute benutzten jedoch meine „Geisteskrankheit“ als Entschuldigung dafür, daß sie selbst nichts taten. Dennoch hat Gott geheimnisvolle Wege, Sein Ziel zu erreichen. Wenn es Sein Wille war, daß es unsere Mission geben sollte, wurde Er auch die Möglichkeit dazu geben.
Zu dieser Zeit war ich in Philadelphia. In der ganzen Stadt kündigten Plakate eine Antivietnam-Demonstration an. Ich war neugierig. Da ich nur schlecht Englisch konnte, stand ich in der Nähe der Rednertribüne, um jedes Wort mitzubekommen. Ein Pfarrer hielt eine hitzige Rede. Er sprach für den Frieden. Ich stimmte ihm zu. Als er aber anfing, den Kommunismus zu loben, konnte ich nicht länger tatenlos zuhören.
Ich sprang auf die Tribüne, ergriff das Mikrophon und fragte: „Was wissen Sie über den Kommunismus? Ich habe ein Doktorat im Kommunismus. Ich kann Ihnen das Diplom zeigen.“ Ich zog mich bis zur Taille aus und zeigte die Narben an meinem Körper. „Das sind die Male kommunistischer Folterungen.“ Der Pfarrer fragte, warum ich gefoltert worden sei. „Angenommen, ich war ein Mörder“, sagte ich, „wurde Oswald, der das Attentat auf Präsident Kennedy verübt hat, gefoltert? Soll man Mörder foltern?“ Leute aus dem Publikum riefen: „Nein, natürlich nicht.“ Ich wandte mich weiter an sie. „Mir wurde nie ein Mord zur Last gelegt. Ich wurde gefoltert, weil ich Christ bin. Ich bin Geistlicher wie er, aber er ist ein Judas. Anstatt Christus und die Märtyrer zu preisen, preist er die Mörder.“ Viele pfiffen den Pfarrer daraufhin aus und manche riefen „Judas“. Sodann schnitt jemand das Mikrophonkabel durch und die Kundgebung wurde abgebrochen.
Polizisten umringten mich und führten mich ab. Ich hatte zwei illegale Handlungen begangen: ich hatte mich an einem öffentlichen Ort entkleidet und eine ordentliche Versammlung gestört. Sobald wir jedoch um die Ecke gebogen und außer Sichtweite waren, gaben mir die Polizisten die Hand und gratulierten mir.
Am darauffolgenden Tag erschien mein Bild auf der Titelseite sämtlichen Zeitungen. Ein Foto zeigte mich von Polizisten umringt mit der Bildunterschrift: „Wenn Kennedy so bewacht worden wäre, war er nicht ermordet worden.“
Als die Nachricht dessen, was sich in Philadelphia zugetragen hatte, in Washington eintraf, wurde ich aufgefordert, vor einem Unterausschuß des US-Senats auszusagen. Ich dachte, der Ausschuß würde sich aus ein paar Senatoren zusammensetzen. Zu meiner Überraschung war der Saal jedoch voll von zahllosen Fernsehkameras und Vertretern von Nachrichtenagenturen der ganzen Welt: UPI, Associated Press, Reuter usw. Über Nacht wurde ich in der ganzen Welt bekannt. Ich bekam viele Einladungen zu predigen und Vorlesungen zu halten. Das Protokoll meiner Aussagen wurde ein Bestseller der regierungseigenen Druckerei und wurde in viele Sprachen übersetzt. Die mir infolge dieser Ereignisse zuteil gewordene Publizität führte mich weiter auf dem Weg zur Gründung einer internationalen Mission für die kommunistische Welt, von der ich im Gefängnis geträumt hatte.

Meine Begegnung mit Deutschland
Ich kenne nur Deutschland. BRD und DDR habe ich nicht gekannt. Mein Vater stammte aus dem deutschsprachigen Gebiet Bukowina im Norden Rumäniens. Deutsch war meine Muttersprache. In unserem Hause sprach man Deutsch und ich besuchte eine deutsche Schule. Mein Vater hatte sich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger für die österreichische Armee gemeldet.
Eines Tages bestimmten die Nazis, daß wir nicht mehr Deutsche seien. Ich nahm dies nicht ernst. Damals bestimmten die „deutschen Christen“ auch, daß Jesus kein Jude gewesen sei. Kann ein Diktator oder eine Gruppe von irregeführten Menschen jemandes Nationalität ändern?
Ich bin Jude. Ich liebe das jüdische Volk und Israel. Ich bin deutsch erzogen worden und liebe das deutsche Volk.
Ein Deutscher, der Zimmermann Christian Wölfkes, brachte mich während der Hitlerzeit zu Christus. Deutsche Gläubige waren uns auch in den Zeiten der größten Judenverfolgung treu.
Als meine Frau und ich während der Hitlerzeit in Bukarest vor einem Kriegsgericht standen, war der deutsche Baptistenpastor Johannes Fleischer als Zeuge geladen. Er grüßte mit dem deutschen Gruß, verteidigte aber die verhafteten Juden mit Wärme. Er erreichte unsere Freilassung.
Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Rumänien kam es anders: Die Deutschen waren vogelfrei. Damals versteckten wir gefährdete Deutsche in unserem Haus. Darunter die Halbjüdin Martha Scheel und ihre Geschwister. Sie leitet heute ein christliches Kinderheim in Pascani in Rumänien und übersetzt christliche Bücher aus der deutschen in die rumänische Sprache.
Weder unsere deutschen Brüder noch wir kannten Haß. Gott ist Liebe. Wir sind Seine Kinder. Gott hat alle Menschen geschaffen. Wo bleibt da noch Platz für Judenhaß und Deutschenhaß?
Es gab den schrecklichen „Holocaust“. Auch viele Mitglieder meiner Familie wurden getötet. Aber auch bei grausamen Verbrechen ist es nicht christlich, den anderen zu beschuldigen, sondern sich zu fragen: Wie kam es dazu? Was ist meine Schuld?
Bevor es das deutsche Volk gab, hatten die Juden bereits die Zehn Gebote und die Propheten. Der Messias kam zu ihnen. Sie waren berufen, das Licht der Welt zu sein.
Sie kamen in viele Länder, auch nach Deutschland. Sie trieben hier Handel und wirkten mit in Literatur, Kunst und Politik. Nur eines taten sie nicht: sie erfüllten nicht die Rolle eines auserwählten Volkes. Sie waren selbst ohne den Heiland und betrachteten es nicht als ihre Aufgabe, die Völker zur ewigen Wahrheit zu führen. Sie haben ihre Rolle als Lehrer der Nationen nicht erfüllt.
Viele Völker, auch Deutsche, waren ihnen gegenüber sehr grausam. Ungezogene Schüler sind manchmal sehr grausam zu ihren Lehrern. Dies ist zu verurteilen. Trifft aber den Lehrer, der seine Pflicht nicht erfüllte, keine Schuld?
Die Welt mag denken, wie sie will. Meine Rolle als Kind Gottes besteht nicht darin, Menschen zu verurteilen, sondern ihnen zu helfen.
Sollen die Nachkommen der niedergemetzelten Indianer und versklavten Schwarzen die Weißen für immer als ihre Feinde betrachten? Sollen die Armenier die Türken ewig hassen, weil vor 70 Jahren 1,5 Millionen Armenier getötet wurden? Sollen Russen, Rumänen und Ungarn alle Juden hassen, weil Juden eine große Rolle bei der Errichtung roter Diktaturen und deren Geheimpolizei spielten?
Mir waren solche Gefühle fremd. Gott soll richten. Ich liebe die Deutschen wie alle anderen Menschen.
Es tut mir leid, daß ich nicht nach Deutschland kommen konnte, sondern nur zu einem Überbleibsel dessen, was einmal Deutschland war und wieder Deutschland sein sollte. Ich wußte, daß hier viel Judenblut vergossen worden war. Ich erinnerte mich auch an das viele unschuldige deutsche Blut, vergossen von Russen und Polen, sowie an die geschändeten deutschen Mädchen.

Mein Buch Gefoltert für Christus erschien. Niemand kannte mich oder dieses Buch. Gott sei Dank, daß das Außenamt der evangelischen Kirche jedoch ein Rundschreiben an alle Pfarrer sandte, man solle vor Wurmbrand und seinem Buch warnen. In diesem Brief und in anderen Äußerungen dieser Kirche wurde gesagt, daß alle meine Greuelgeschichten über die Leiden der Christen im Osten übertrieben seien. Eine Untergrundkirche gäbe es gar nicht; alles sei bloß erfunden.
Daraufhin wetterten eifrige Pfarrer von der Kanzel gegen mein Buch. Dies machte aus meinem Buch einen Bestseller. Andere Bücher folgten.

Mit der Zeit kamen die Aussiedler aus dem Osten nach Deutschland und bestätigten meine Berichte. Es folgte Solschenizyn. Was man meine „Erfindungen“ genannt hatte, wurde jetzt als unbestreitbare Wahrheit anerkannt.
Aber auch die sicherste Wahrheit leuchtet nicht allen ein.
In Marburg versuchten linksgerichtete Jugendliche einen unserer Vorträge gewaltsam zu verhindern. Es gab ein Handgemenge. Die Jugendlichen schrien zwei Stunden lang. Ich sprach trotzdem unter dem Schutz der Polizei.
Es gab viel Kampf in Deutschland, aber auch viel Freude.

Neue Versuchungen im Westen
Ich hatte während meiner 14 Jahre im Gefängnis kein Geld gehabt. Jetzt kam mir das minimale Gehalt, das ich bezog und das geringer war als das eines amerikanischen Straßenkehrers, enorm vor. Mit einem Auto fahren zu können – obwohl ich bis dahin nicht einmal ein Fahrrad besessen hatte -, war eine ungeheure Belastung. Geldliebe schien sich in mir zu entwickeln.
In jenen vierzehn Jahren hatte ich kaum einmal eine Frau gesehen. Jetzt umgaben mich Frauen und Mädchen, viele voller Zuneigung und Bewunderung. Ich war ein Gefangener gewesen, den jeder, wenn er wollte, schlagen und anspucken konnte. Jetzt las ich Artikel, in denen es hieß, ich sei „der dramatischste Prediger“ oder „seit Jesus hat niemand mit soviel Liebe gepredigt“. Ich wußte, daß solches Lob ebenso falsch war wie der unberechtigte Hohn während meiner Haft. Es gefiel mir jedoch, und ich geriet in Versuchungen, die ich im Gefängnis ganz vergessen hatte.
In Kolosser 2,13 lesen wir: „Er hat uns vergeben alle Sünden.“ Obwohl ich in vielerlei Hinsicht in diesen vergangenen Jahren gesündigt habe, vertraue ich auf Christi Vergebung und auf die Vergebung derer, gegen die ich gesündigt habe.
Ich war in einen Kampf mit einem gerissenen und verabscheuungswürdigen Feind verstrickt, und ich bin ständig der Versuchung ausgesetzt, wie der Feind zu werden, den ich bekämpfe. Feinde werden uns nach ihrem Bild umformen, wenn wir zurückschlagen und ihre eigenen Methoden anwenden.
Ich hatte Schwierigkeiten mich wieder ans Familienleben zu gewöhnen. Meine Frau hatte sich an die Unabhängigkeit gewöhnt, während ich, der ich mich im Gefängnis Befehlen beugen mußte, ohne den geringsten Einwand zu erheben, ein starkes Verlangen nach Selbstbehauptung entwickelt hatte.
Mein Sohn Mihai war mir fremd geworden. Er war der Sohn seiner Mutter, und ich war nur noch eine vage Erinnerung. Er hatte seinen Glauben von mir bekommen, aber er hatte auch darunter gelitten, meinen Namen zu tragen. Seine Gefühle waren daher zwiespältig, und er begann sich zu fragen: Wäre es von meinem Vater nicht klüger gewesen, die Kirche zu verlassen und zu fliehen, als seinen Sohn soviel Mühsal auszusetzen?
Nun wurde er, je bekannter mein Name in der Welt wurde, mehr und mehr als „Wurmbrands Sohn“ bekannt. Er war jedoch zweifellos eine unabhängige Persönlichkeit. Er erwarb schnell drei akademische Diplome, während er gleichzeitig für unsere Mission tätig war. Er schrieb ein Buch und entwickelte erstaunliche Fähigkeiten auf dem Gebiet der Verwaltung, die er für unsere Organisation einsetzte. Es lag ihm fern, ein zweiter Richard Wurmbrand zu sein.
Es war verwirrend, sich an den ungeheuren Unterschied zwischen Menschen im Gefängnis und einer einfachen brüderlichen Beziehung zu Menschen zu gewöhnen, die in einer mir völlig fremden Welt aufgewachsen waren. Es kam zu unnötigen persönlichen Konflikten. Meine Familie und einige Freunde litten am meisten darunter, aber sie waren auch diejenigen, die mir in dieser schweren Zeit am meisten halfen. Ich entschuldige mich an dieser Stelle demütig für all die Leiden, die sie meinetwegen erdulden mußten.
Berühmt zu werden stellte sich als eine schmerzliche Last heraus. Ich kam mir ständig wie ein Dieb vor. Ich predigte und schrieb über die edelsten Geschöpfe der Menschheit, Glaubenshelden und Heilige, die gestorben sind oder noch in kommunistischen Gefängnissen schmachten. Meine Zuhörer projizierten diese Schönheit, von der ich sprach, auf mich und umgaben mich mit dem Heiligenschein, der die Märtyrer umgibt.
„Du sollst nicht stehlen“ (3. Mose, 19,11) bedeutet auch, nicht durch irgendeine Art von Repräsentation, Publizität oder Schmeichelei, oder indem man andere dazu verleitet, eine bessere Meinung von sich selbst oder seiner Handlungsweise zu haben, als man es verdient. Wir müssen die Anerkennung unserer Mitmenschen verdienen – nicht stehlen. Sie zu stehlen, war Absaloms Sünde gewesen.
Es war jedoch im Interesse der Mission, meinen Namen publik zu machen; vor allem in den Vereinigten Staaten, wo im allgemeinen hochentwickelte Werbetechniken angewandt werden, um die Leiter religiöser Organisationen in den Brennpunkt des öffentlichen Lebens zu rücken.
Keine Werbung zu machen, würde bedeuten, daß kein Geld einginge und kein Geld bedeutete keine Unterstützung für christliche Märtyrer und ihre Familien. Ich verabscheute diese Werbung, aber wir mußten von ihr Gebrauch machen. Es war schmerzlich für mich, mein Foto in Zeitschriften, auf Plakaten oder im Fernsehen zu sehen mit jeder anderen Schlagzeile als „ein elender Sünder, allein durch Gottes Gnade gerettet“.

Unser Jubiläum
Das Siegel, das die Welt ihren Auserwählten auf die Stirn drückt, sind Erfolg und Beliebtheit. Dieses Siegel ist für die Kinder Gottes nicht von großem Wert.
Während der langen Nacht, durch die die Menschheit geht, waren auch Hitler und Stalin beliebt. Desgleichen viele falsche religiöse Führer, die die von Christus eingesetzte Kirche verachten und Anhänger durch Lüge gewinnen. Was wirklich zählt, ist Sieg in der Wahrheit.
Fünfzehn Jahre sind seit der Gründung unserer internationalen Mission vergangen. Wir haben damit begonnen, eine äußerst unbeliebte Sache zur Sprache zu bringen. Es aber zu wagen, für die Wahrheit einzutreten, wenn sie unbeliebt ist, ist das Siegel Gottes. Wir wußten, daß sich die Leute wenig um Märtyrer kümmern die in fernen Ländern um Christi willen sterben. Was kümmert sie eine Milliarde Seelen unter kommunistischer Herrschaft, die gewaltsam von Christus, der einzigen Quelle des Heils, ferngehalten werden. Wer weint bei dem Gedanken, daß diese Seelen der ewigen Verdammnis anheimfallen können? Die Menschen sind selten von Tragödien ergriffen, die am anderen Ende der Welt geschehen.
Jede Woche sterben rund eine Million Menschen, ohne von Christus zu wissen. Die Weltbevölkerung nimmt jährlich um 47 Millionen Menschen zu. Angesichts dieser Situation lassen die Anstrengungen der Weltkirche nach, obwohl wir das Gebot des Herrn „Gehet und lehret alle Völker“ (Matth. 28,19) kennen.
Liebe muß, wie das Licht, immer in Bewegung sein; der Mensch muß sie üben, weggeben. Wenn sich Licht nicht mit Höchstgeschwindigkeit bewegt, ist es nicht Licht. Ein Christentum, das nicht sein Äußerstes tut, um die Welt für Christus zu gewinnen, ist kein Christentum. Was ist ein selbstsüchtiger GIaube wert, der mir versichert, daß ich in den Himmel komme, mich aber nicht antreibt, das Heil anderer zu suchen?
Wir sagten der Welt, daß das Evangelium in kommunistischen Ländern verkündet werden müsse, und begannen sogleich damit. Wir erzählten auch die Geschichte der Heiligen, die von den Kommunisten verfolgt werden, und begannen den Familien von Gefangenen zu helfen. Wir staunten selbst über unseren Erfolg. Wir hatten das nicht erwartet.
Vor der Gründung unserer Mission sagten Antikommunisten: „Der einzige gute Kommunist ist ein toter Kommunist.“ Wir sagen: „Jeder bekehrte Kommunist ist ein Heiliger.“
Unsere Mission widersprach Kommunisten und Antikommunisten in gleicher Weise. Logischerweise hätte sie keinen Erfolg haben dürfen. Sie hatte jedoch Erfolg. Ihre Existenz und ihre rasche Ausbreitung sind ein Wunder Gottes.
Das Wunder ist um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, wie viele ernsthafte christliche Kreise uns entgegentraten. Sie meinten, daß man in kommunistischen Ländern nicht ohne Tricks arbeiten könne und daß es besser sei, ein Drittel der Welt nicht zu evangelisieren, als zu lügen.
Wir werden mit denen, die eine solche Ansicht vertreten, nicht streiten. Unsere Antwort ist: Wir haben einen anderen Engel gesehen als sie. Dieser andere Engel hat uns das Siegel Gottes aufgedeckt, auf dem geschrieben steht: „Rettet etliche auf alle Weise“ (l. Kor. 9,22), mit gewöhnlichen oder außergewöhnlichen Mitteln.

III. Die Rückkehr nach Rumänien

Rückkehr im Triumph
Die Kameradschaft von Brüdern und Schwestern aller Nationen und Glaubensbekenntnisse schätze ich sehr, aber dennoch habe ich mich im Herzen stets nach meinem rumänischen Vaterland, dem Land, in dem ich zweimal geboren wurde, gesehnt.
Patriotismus ist heute nicht besonders in Mode. Jesus lehrte uns, selbst unsere Feinde zu lieben. Wie könnte einer dies tun wenn er nicht sein eigenes Heimatland zuerst liebt? Und so war, wo immer ich auch hinreiste, das Herz das in meiner Brust schlug, das blutende Herz meines Landes und der unterdrückten rumänischen Kirche.
Es schien, als gäbe es keine Hoffnung, sie jemals wiederzusehen, außer im Himmel, wo die große Wiedervereinigung stattfinden wird. Ohne Hoffnungen auf dieser Erde, hofften meine Frau und ich der Hoffnungslosigkeit zum Trotz und sahen unsere Hoffnungen erfüllt. Innerhalb weniger Tage stürzte Gott die blutige Diktatur Ceausescus. Endlich konnte ich in meine geliebte Heimat zurückkehren.
Meine Frau Sabina und ich bestiegen das Flugzeug in Zürich. Wir waren nicht sicher, ob uns die Einreise erlaubt würde. Wenige Tage vor unserer Abreise hatten der rumänische König Michael I. und Königin Anna versucht zurückzukehren. Obwohl sie von den Rumänen sehr geliebt sind, verweigerten ihnen die Roten die Einreise.
Die neue Staatsmacht Rumäniens, der Iliescu als Präsident voransteht, besteht nach wie vor nahezu vollständig aus Kommunisten – „Reform-Kommunisten“ gewiß, aber immer noch Kommunisten. Ein gezähmter Wolf ist immer noch ein Wolf.
Etwa zwei Stunden später hörten wir die beinahe unglaublichen Worte: „Bitte schließen Sie Ihre Sicherheitsgurte und bereiten Sie sich auf die Landung in Bukarest, der Hauptstadt Rumäniens, vor“. – Endlich waren wir in Rumänien. Meine Gefühle übermannten mich. Ich küßte die Erde.

Eine Trauer nur – kein Heiliger zu sein
Ganze 25 Jahre waren vergangen, seit wir Rumänien verlassen hatten. Eine Stimme lästerte in unsere Ohren: „Warum nicht die Hoffnung aufgeben? Vielleicht wird sich niemand mehr an Euch erinnern“.
Wir hätten kaum jemals die Menschenmenge vorausahnen können, die sich aus vielen Städten nah und fern versammelt hatten, um uns willkommen zu heißen! Unsere Freude und unser Erstaunen kannten keine Grenzen.
Die erste Person, die ich sah, war mein ehemaliger Zellengenosse Nicolaie Moldowanu von der „Armee des Herrn“, einer rumänischen Version der Heilsarmee, aber ohne Uniformen und Musikkapellen. Wir waren in derselben Zelle, in dem jahrhundertealten Gefängnis von Gherla gewesen.
Die Zustände dort waren sehr hart. Von Zeit zu Zeit schrien die Wärter: „Jeder legt sich auf den Bauch!“ Es war Winter. Wir hatten keine Pullover, geschweige denn Mäntel. Der Boden war aus kaltem Beton ohne auch nur ein bißchen Stroh zum Wärmen. Wir durften keinen Laut von uns geben.
Gefangene verfluchten die Brutalität der Wärter. Nicht aber Moldowanu. Er glaubte, daß es besser war, Gott zu loben, als die Kommunisten zu verfluchen. Als es uns endlich erlaubt wurde, aufzustehen, sagte er mit einem wunderschönen Lächeln auf seinen Lippen: „Laßt uns die Umgebung vergessen. Ich singe Euch ein Lied vor, das ich eben komponiert habe, als ich auf meinem Bauch lag.“ Es war eine Hymne voller Freude, Hoffnung und Lobpreisung. Sie wird nun in vielen Ländern gesungen.
Ich erinnere mich dabei an den orthodoxen Priester Ghiusch, mit dem ich zusammen im Jilava-Gefängnis in der Nähe von Bukarest war. Das gesamte Gefängnis ist unterirdisch, ohne ein Gebäude, durch welches es von außen identifiziert werden könnte. Kühe grasen über den unterirdischen Zellen.
Ich war damals im achten Jahr meiner Gefangenschaft und hatte mich an alles gewöhnt. Aber eines Tages wurde eine ganze Gruppe von Neuen, alle orthodoxe Priester, hereingebracht. Von Zeit zu Zeit riefen die Wärter: „Alle Priester auf den Korridor!“ und verprügelten diese.
Ich setzte mich in die Nähe des Priesters Ghiusch, den ich in der Freiheit gekannt hatte. Meine Absicht war, ihm Trost zu spenden. Ich fragte: „Bist Du traurig?“ Er hob den Blick wunderschöner Augen zu mir und antwortete: „Ich kenne nur eine Trauer, die, kein Heiliger zu sein.“
Moldowanu war dieselbe Art Mann. Was für eine Ehre war es für mich, seinen Bruderkuß zu empfangen. Ich fühlte mich nicht einmal würdig, seine Schuhbänder zu lösen.

Eine Heldin des Glaubens
Nachdem ich in Bukarest gewesen war, reiste ich von Stadt zu Stadt. Überall konnten wir das Elend des Sozialismus sehen. Dort wo es einst Autos und Lastwagen gegeben hatte, wird mit Fuhrwerken gefahren. Es gibt keine Waren in den Schaufenstern. Die Menschen stehen stundenlang Schlange für Tomaten, Kohl und Milch. Viele Artikel sind rationiert. Einer Person wird für je zwei Monate ein Kilogramm Fleisch zugeteilt. Die Straßen und Häuser sind schlecht beleuchtet.
In jeder Stadt habe ich die kleinen und großen Helden des Glaubens getroffen. Daneben Feiglinge und unverhohlene Verräter.
Eine Heldin, die mit uns an einige Orte reiste, war Dr. Margareta Pescaru.
Im Jahr 1950 lag ich todkrank im Gefängnisspital von Tirgul Ocna. Die Kommunisten hatten von dem von ihnen gehaßten Kapitalismus die Vorstellung geerbt, daß jedes Gefängnis eine Krankenstation und einen Arzt haben müsse. Jedoch sagte man den Ärzten: „Sie müssen an diesen Gefangenen Veterinärmedizin praktizieren. Lassen Sie ihnen jene Medikamente und jene Fürsorge zukommen, die Sie Ochsen oder Pferden geben würden, damit sie ihre Sklavenarbeit erfüllen können. Wenn sie nicht mehr arbeiten können, lassen Sie sie sterben.“
In solchen Gefängnissen erlebten wir zwei Arten von Ärzten. Einige von ihnen, darunter auch junge weibliche Ärzte, waren bei den Folterungen anwesend und machten Witze mit den Rohlingen. Von Zeit zu Zeit fühlte der Arzt einem dann den Puls und sagte: „Laßt ihn jetzt für eine Weile in Ruhe“. Nachdem er oder sie sich eine zeitlang mit dem Polizeioffizier amüsiert hatten, erklärten sie: „Jetzt könnt Ihr wieder anfangen, aber paßt auf, ihn nicht in der Herzregion zu prügeln. Er könnte sonst zu früh sterben und Ihr würdet aus ihm keine Informationen mehr herausbekommen“. Dies war die eine Art Ärzte, wenn man sie überhaupt so bezeichnen kann.
Dann gab es die anderen, die ihre erste Pflicht, Leben zu retten, ernst nahmen. Die hervorragendste unter ihnen war Margareta Pescaru. Als Christin schmuggelte sie Medikamente in das Gefängnis ein. Ärzte, ebenso wie andere Personen, wurden bei Betreten des Gefängnisses „gefilzt“. Dennoch gelang es ihr immer und immer wieder. Auf diese Weise wurden viele Leben, einschließlich meines eigenen, gerettet.
Wenn ein Arzt beim Schmuggeln erwischt wurde, wurde er schwer verprügelt und anschließend selbst zu einer Gefängnisstrafe von mehreren Jahren verurteilt. Das Risiko war beträchtlich. Dr. Pescaru stellte den Kontakt zu meiner Familie und meinen Freunden her. Sie versorgten mich, und durch mich auch andere, mit Streptomycin, der Wundermedizin gegen die Tuberkulose, die im Gefängnis verbreitet war.

Kollaborateure der Kommunisten
Ich traf die Anführer verschiedenster Bekenntnisse. Einige von ihnen waren Kollaborateure der Kommunisten gewesen. Von schrecklichen Schuldgefühlen erfüllt, wagten sie nicht ihre Augen zu heben. Sie zitterten aus Furcht davor, daß die Archive der Geheimpolizei und des Kultusministeriums geöffnet werden würden, und daß so die Öffentlichkeit alle Einzelheiten ihrer Taten erfahren würde.
Einige von ihnen waren ältere Männer. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Kommunismus in Rumänien seit 45 Jahren regiert hatte, fragten sie sich vermutlich, was sie in einem solchen Alter noch tun sollten, wenn sie ihrer Stellung und wahrscheinlich auch ihrer Pension beraubt wären.
Ich versuchte ihr Gewissen zu erleichtern, indem ich ihnen als erstes erzählte, daß es eine legitime Maßnahme der Kollaboration gegeben habe.
Nicht daß es richtig wäre, sich atheistischen Diktatoren zu unterwerfen, weil Paulus in Römer 13 sagte: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott.“ Ein Regime, das Gott haßt, ist nicht von Gott. Römer 13 erläutert in Vers 3 und 4, was ein Christ unter dieser „Obrigkeit“ versteht, der er Gehorsam schuldig ist. Nur der verdient diese Bezeichnung, der als Diener Gottes diejenigen lobt, die Gutes tun, über diejenigen ihren Zorn ausgießen, die Böses tun. Tut ein Herrscher das Gegenteil, bestraft er das Gute und belohnt das Böse, dann können wir ihn nicht länger als von Gott betrachten.
Wenn es dies wäre, wäre Gott wie der jüdische König Saul, der einen Feind, einen Amalekiter bat, ihn zu töten (2.Samuel 1). Gott würde damit einer Art Selbstmord das Wort reden.
Ich glaube mit Augustinus, daß „ohne Gerechtigkeit Staaten nichts anderes sind als Räuberbanden“. Unsere Pflicht ist es, sie wie alle andere Banden zu bekämpfen und dabei zu versuchen, die Seelen der einzelnen Dazugehörigen zu retten.
Warum schrieb dann Paulus nicht wie Augustinus? Ich glaube, daß es weise ist, an Tyrannen, unter deren Joch man zu leben gezwungen ist, solange man sie nicht stürzen kann, einige freundliche Worte zu richten. Der Prophet Daniel sagt dem König Nebukadnezar, der der Hitler seiner Tage war, einige sehr schöne Dinge. Das diplomatische Gespräch gehört zum Arsenal der Christen. Als er den Traum des Königs kommentierte, der nur wenig vorher drei Freunde Daniels ins Feuer hatte werfen lassen: „Herr König, möge der Traum jene treffen, die Euch hassen und seine Auslegung Eure Feinde!“ (Daniel 4,16).
Im Herzen mag Daniel gedacht haben: „Alle Strafen von Gott, oh König, sind nur gerecht und ich hoffe, daß Gott seine Meinung nicht ändern wird.“

Die Verräter
Es gab nicht nur Kollaborateure. Andere waren schlicht und einfach Verräter, die das Leben von Unschuldigen für Geld verkauften, obwohl sie selber, genauso wie Judas, nie mehr als einen Hungerlohn bekamen. Doch dann erinnerte ich mich, daß Jesus mit Judas an einem Tisch saß, selbst nachdem er ihn verraten hatte. All die vielen Worte der Liebe, die Jesus zu den Jüngern beim letzten Abendmahl sprach, schlossen auch ihn ein.
Jesus sagte: „Euer Herz erschrecke nicht! Glaubet an Gott, und glaubet an mich!“ Dies war für Judas gedacht, dem auch versichert wurde, daß es im Hause Gottes viele Wohnungen gebe, auch Platz für einen Jünger, der bereits den Preis des Verrates in seiner Tasche trug, wenn er nur bereut.
Als Judas die Soldaten führte, um Jesus zu verhaften und ihm einen verräterischen Kuß gab, rief ihn Jesus selbst dann einen „Freund“, denn Seine Freundschaft ist für immer.
Bedauernswerterweise hat aber nicht einer der Verräter seine Schuld zugegeben, außer vielleicht im privaten Gespräch mit Gott. Ich habe auch niemals von jemand anderem gehört, daß ein Verräter bekehrt worden sei. Herzen werden hart.
Die große Tragödie ist, daß Verräter nicht nur aus den Reihen der schlechtesten Christen, sondern manchmal auch aus denen der besten rekrutiert wurden, sogar aus jenen, die geradezu Helden des Glaubens gewesen waren, und die jahrelang Folter und Gefängnis erlitten hatten.
Im lateinischen gibt es ein Sprichwort: De hic historia silet – Hierzu schweigt die Geschichte. Nicht alles muß erzählt werden. Einige Dinge sind zu traurig.

Ein zentraler Ort in meinem Leben
Ich fand mich wieder in der Oltenistraße, wo meine Kirche gewesen war. In derselben Straße waren auch eine orthodoxe Kirche und eine Synagoge gewesen. Ceausescu benötigte solche Gebäude nicht. Alle wurden niedergerissen. Was für Erinnerungen hatte ich an diesen Ort! Hier hatte ich unter vielen Tränen mein erstes öffentliches Reuegebet gesprochen. Der Gottesdienst war von dem anglikanischen Pastor Adeney, von der „Mission für die Juden“, gefeiert worden. Er hatte sein Leben den Juden gewidmet und hatte etwa 40 Jahre gepredigt, ohne erkennbare Früchte gewinnen zu können. Aber er gab seine Mission nicht auf.
Bald wurde es klar, daß er nicht umsonst gearbeitet hatte. Er hatte Isaac Feinstein zu Christus geführt, der später ein bekannter judenchristlicher Prediger wurde und den Märtyrertod starb. Ein anderer war Ascher Pitaru, der später mit mir zusammen in kommunistischen Gefängnissen war. Alle nannten ihn in gleicher Weise „Herr 1. Korinther 13“, weil dieses Kapitel, ein Hohelied der göttlichen Liebe, sein Hauptthema war, egal mit wem er sprach, selbst mit den Wärtern, die ihn respektvoll behandelten.
Als Pitaru vor Gericht stand, war ein christlicher Freund und Mithäftling von ihm Hauptzeuge der Anklage gegen ihn. Er sprach niemals anders, als mit Liebe von diesem Mann. Niemals erwähnte er seine Sünde.
Diese und viele andere waren die Früchte von Adeneys Diensten.
Der Hauptprediger war Pastor Ellison, der auch jüdischer Abstammung war.
Olteni war der Ort meiner Bekehrung und später meines Pastorates. Die Kirche wurde von allen „Die Kirche der Liebe“ genannt, weil, obwohl nominell lutherisch, sie der einzige interkonfessionelle Ort in Rumänien war. Gläubige aller Richtungen, Orthodoxe, Katholiken, Baptisten, Mitglieder der Pfingstbewegung, Nazarener, Adventisten – wen man auch nennt – alle fühlten sich in diesem Nest zuhause.
Wenn jemand, der an die Kindertaufe glaubte, sein Kind brachte, freuten wir uns alle mit ihm. Wenn ein anderer die Taufe als Erwachsener empfangen wollte, waren jene, die Kinder tauften, anwesend, um mitzufeiern. Mein Kollege, Pastor Solheim, predigte seinen Glauben, daß wir in der heiligen Kommunion mit dem Brot und dem Wein das wirkliche Fleisch und Blut Christi empfangen. Ich sagte, daß ich an eine symbolische Gegenwart glaube. Niemand stritt darüber. Jesus hatte gesagt „Nehmet, eßt, trinkt!“, er hatte nicht gesagt „Zankt Euch darüber, welche Interpretation die richtige ist!“ Die Kommunion ist was sie ist, und nicht was wir darüber denken.
In dieser Kirche sorgten wir gut für die Armen und halfen ebenso vielen anderen Kirchen.
Es war von hier aus, daß wir die erste geheime Mission zu der sowjetischen Armee begannen, die in unser Land eingefallen war. Neue Testamente und Evangelienbücher wurden für sie gedruckt.
Noch aus einem anderen Grund hat die Olteni-Kirche einen besonderen Platz in meinem Herzen: hier trafen wir heimlich auf dem Dachboden, der meine Pfarrerwohnung war, Rev. Stuart Harris und seinen Freund, Pastor Moseley aus den USA. Sie waren die ersten ausländischen Besucher, die sich nicht durch die offiziellen Führer der Kirche zum Narren halten ließen.

Zähle Deine Sekunden
Einer der rührendsten Ereignisse während dieses Besuches in Rumänien war die Begegnung mit Brüdern und Schwestern die sagten, daß sie mich schon vor dreißig, vierzig oder sogar fünfzig Jahren hatten predigen hören.
Ich glaube, daß das Hören einer Predigt ein existenzielles Ereignis sein soll, etwas, welches das Leben verändert. In einer Predigt soll der Prediger nicht nur über Christus sprechen, sondern ihn verkörpern. Ein Schauspieler spricht nicht über Faust oder Romeo; er ist die Person, wenn er auf der Bühne ist. Während des Schauspiels im Theater wird sein persönliches Leben vollständig beiseite gelegt. Er spricht genau so, wie Romeo sprechen würde wenn er Julia begegnet.
Ebenso der Pastor. Nicht nur durch seine Worte, sondern auch durch seine Gesten, durch den Ausdruck in seinem Gesicht, durch seinen Blick, den Klang seiner Stimme und durch das Licht seines Geistes, das durch ihn hindurch scheint, muß er den Eindruck vermitteln: „Ich bin heute Jesus begegnet. Er spricht zu mir.“

Jemand erinnerte mich an eine dreißig Jahre alte Predigt über Psalm 90,12. Wiederum hatte ich mit einer Geschichte begonnen, denn an Predigten ohne Illustrationen erinnert man sich nicht:
Ein Mann mußte spät in der Nacht zu einem weit entfernten Dorf gehen. Die Reise war eintönig, besonders da es dunkel war und er die Straße kaum sehen konnte. Auf einmal stolperte er über etwas auf seinem Weg. Er griff nach unten und hob einen kleinen Sack voller Steinchen auf. Um sich abzulenken, warf er von Zeit zu Zeit eines in den Fluß, der neben der Straße, auf der er wanderte, floß. Plitsch… Plitsch… Das Geräusch des Platschens war sein harmloses Vergnügen.
Als er sein Ziel erreichte, waren nur noch zwei Steinchen übrig. Im beleuchteten Haus sah er, daß es Diamanten waren. Er hatte ein Vermögen verschleudert.
Unsere Tage bestehen aus Sekunden. Es sind zweiunddreißig Millionen Sekunden in einem Jahr. Ein Mensch, der dreißig Jahre gelebt hat, ist für eine Milliarde Sekunden verantwortlich.
Jede Sekunde ist uns von Gott gegeben, um sie in seinem Dienst zu verwenden. Wenn wir dies nicht tun, kehrt die Sekunde traurig zu Gott zurück und berichtet, daß wir sein kostbares Geschenk mißachtet haben.
Dann erzählte ich von einem General der ehemaligen königlichen Armee, mit dem ich zusammen im Gefängnis gewesen war. Er war todkrank. Wenn ich zu ihm von Gott sprach, zeigte er kein Interesse. Aber dann kam seine letzte Stunde, und er bat um einen Priester.
Es waren genügend Priester in diesem Gefängnis, aber es brauchte Zeit, um einen von einer anderen Zelle herzuholen. Als er kam, konnte der General nicht mehr sprechen und die Beichte ablegen. Der Priester gab ihm die Kommunion, aber er konnte die Hostie nicht schlucken. Er starb, ohne Beichte und Kommunion. Er erkannte den Wert des Schatzes erst, als die letzten Diamanten im Sack verblieben waren.
Ich sprach davon, wie gut Jesus seine Sekunden genutzt hatte, selbst als er gekreuzigt wurde: Verzeihung für seine Kreuziger, Erlösung für einen Räuber, gute Worte an seine heilige Mutter und einen geliebten Schüler, die Versicherung, daß alle Dinge, die für unser Heil benötigt werden, erfüllt sind, und ein vertrauensvolles Gebet an Gott. Selbst unter diesen schrecklichen Umständen waren die Augenblicke nicht verloren.
„Nütze Deine Zeit gut. Zeit ist das kostbarste Gut. Verlorenes Geld kannst Du wiedererlangen, nicht aber verlorene Zeit. Nütze Deine Zeit im Dienste des Herrn.“

Du empfingst einen Engel
Ich war im christlichen Heim eines Paares, das ich etwa vierzig Jahre vorher getraut hatte. Sie erinnerten mich an das, was ich bei ihrer Hochzeit gepredigt hatte.
Ich hatte ihnen erzählt, daß ich am Abend zuvor, mich fragend, was ich ihnen bei der Feier sagen sollte, nicht schlafen konnte. Meine Frau schlief bereits. Ich hatte erhebliche Schwierigkeiten, einen passenden Text für die Gelegenheit zu finden. Nur ein Bibelvers kam mir immer wieder in den Sinn: „Gastfreundlich zu sein vergesset nicht, denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt“ (Hebräer 13,2). Wie konnte man daraus eine Hochzeitspredigt machen?
Ich versuchte herauszufinden, wer von den vielen, die in unserem Heim beherbergt wurden, ein Engel war. Einige erwiesen sich später als nette Menschen, andere als Teufel, aber Engel? Niemand fiel in diese Kategorie.
Während ich darüber nachdachte, blickte ich zu meinere schlafenden Frau hinüber und sagte mir: „Das ist ein Engel, der von mir ohne es zu wissen unterhalten wird.“
Dies wurde zum Text meiner Hochzeitspredigt. „Du, der Bräutigam, empfänst jetzt einen Engel. Meistens werden Engel nicht berücksichtigt. In Sodom wurden Engel schlecht behandelt. Gib Du Deiner Braut die Ehre, die einem Engel gebührt.“
Vierzig Jahre sind vergangen. Er nennt sie heute noch immer nicht bei ihrem Namen, sondern „Engel“.

Den Feind lieben
Jeder Ort, den ich in Rumänien betrat, beschwor in mir neue Erinnerungen herauf.
In Bukarest predigte ich in der Dragosvoda-Brüdergemeinde. Dieses Gebäude war zuvor von meiner Kirche bei ihrem Wandern von einem Ort zum anderen unter den verschiedenen Diktaturen verwendet worden.
Es war unmittelbar nach der Invasion Rumäniens durch sowjetische Truppen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Ganze Einheiten der Deutschen Armee, die unser Land besetzt hatte, wurden gefangen genommen. Sie hatten keine Illusionen. Ihr Los würde Sklaverei in Sibirien sein. Für viele würde es den Tod bedeuten. Während eine große Gruppe deutscher Kriegsgefangener in ihre Baracken geführt wurden, gelang es zwei Offizieren, der Bewachung zu entfliehen. Noch in ihren Nazi-Uniformen durchwanderten sie zitternd die Straßen von Bukarest. Ihr einziges Schutzschild war die Nacht. Wir waren immer noch im Krieg und die Straßen waren nur spärlich beleuchtet.
Plötzlich erblickten sie einen Strahl der Hoffnung: ein Schild mit der Aufschrift „Lutherische Kapelle“. Sie wußten, daß die Lutherischen Rumäniens deutscher Abstammung waren. Hier würde jemand helfen.
Was für eine Enttäuschung erwartete sie, als sie hörten, daß wir jüdisch waren! Juden hatten sogar mehr Grund die deutschen Soldaten zu hassen als die sowjetischen.
Ich beruhigte ihre Befürchtungen. „Wir sind Juden, aber auch Christen und haben unter der deutschen Besatzung gelitten. Aber Ihr persönlich mögt vielleicht nicht schuldig sein. Auf jeden Fall sind wir nicht Eure Richter und geben niemand in die Hand seiner Feinde. Sie sind bei uns willkommen. Wir werden Ihnen Zivilkleider geben, damit Sie versuchen können, Ihren Weg zurück nach Deutschland zu finden.“
Damals war ein Dekret erlassen worden, das unter Andohung des Todes verbot, einen deutschen Soldaten zu verstecken.
Mit der Zeit entwickelte sich dies zu einer systematischen Arbeit, für Hilfe an verfolgten Deutschen, genauso wie wir während des Krieges unseren Einfluß verwendet hatten, um verfolgten Juden zu helfen.
Die Gläubigen in der Brüderbewegung, wo ich nun gebeten wurde zu predigen, wußten all dies. Sie wußten, was ich meinte, wenn ich davon sprach, jenen zu vergeben, die einen mißhandelt haben, selbst den Gott hassenden Kommunisten.
So reiste ich von einem Ort zum anderen. In Bukarest und dann in verschiedenen Städten und Dörfern erlebte ich die Vergangenheit wieder.

Orte wiederbesuchend, wo ich gesündigt habe
Ich sah nicht nur Orte angenehmer oder heiliger Erinnerung, sondern auch Orte, wo ich gesündigt hatte.
Ich sah nochmals die Häuser, in denen meine Familie gelebt hatte, als ich sehr jung war. Ich war gegenüber einer Mutter, die sich selbst für ihre Waisenkinder aufgeopfert hatte, schlecht gewesen.
Es gab in Bukarest einen Stadtteil, der – ich weiß nicht warum – den Namen „Das Steinkreuz“ trug. Es war das Zentrum der Prostitution. „Freunde“ führten mich dahin, als ich zwölf Jahre alt war. Kein Christ stand vor dem verrufenen Hause, um Jugendliche davor zu warnen, nicht einzutreten.
Ich sah Spielhöllen, die ich besucht, Orte, wo ich mit anderen Gott geschmäht hatte, und auch Orte, wo ich selbst als Christ versagt hatte.
Ich beichtete Gott diese Sünden und glaube, daß Christus alles vergeben hat. Paulus schrieb, daß er vorwärts drängte und die Dinge vergaß, die hinter ihm waren. Aber er konnte nicht seine gesamte Vergangenheit vergessen. Er erzählt uns davon.
Hier dachte ich auch an alle Verfehlungen und alle schweren Sünden, die ich während des Vierteljahrhunderts im Ausland begangen hatte.
Ich war glücklich, daß „es einen Brunnen gibt, der gefüllt ist mit dem Blut aus den Adern Emanuels“, und daß ein großes Wunder stattfindet, wenn man sich in diesem Brunnen reinigt. Nicht nur werden Sünden, sondern sogar Verbrechen vergeben. Sie werden weiß wie Schnee. Sie werden verwandelt zu sichtbaren Zeichen von Reinheit.
Was mit ihnen geschieht, ist jenseits des Beschreibbaren. Jesus wurde für uns zur Sünde. Wie ein Töpfer eine luxuriöse Vase aus dem machen kann, was Ton gewesen war, so tut es Jesus mit sündigem Leben.
Dennoch müssen wir, wie der Ton oder Metalle, die verfeinert werden sollen, erst durch das Feuer des Leidens hindurch. Dieser Reinigungsvorgang dauert, bis alle Unreinheit verschwunden ist, was in unserem Fall bedeutet, bis alles Klagen, alle Rebellion, alle Belästigung Gottes mit der Frage „Warum?“, alle Selbstsucht, jeder Stolz und alles nicht bereit sein zu vergeben, verschwunden sind.
Ein kleines Mädchen beobachtete einen Goldschmied, der das kostbare Metall zur Reinigung in einem Gefäß hielt. Immer wieder nahm er den Kohlengrus heraus, und das Metall glänzte immer und immer schöner. Das Mädchen fragte: „Wie lange geht das noch weiter?“ Er antwortete: „Hab Geduld.“ Der Goldschmied mußte die Worte noch oft wiederholen, während er auf den Moment wartete, der „der Silberblick“ genannt wird. Der Moment, da er sein Ebenbild im Metall erblickte.
Und so arbeitet der himmlische Goldschmied. Ein Sünder, der seine Reinigung erlebt hat, hat eine Schönheit wie nie zuvor, eine Schönheit von Christus selbst.

Warum so viel Leiden?
Es gibt einen Schmerz, der alle anderen Schmerzen, die Rumänen und Bewohner anderer Länder erdulden müssen, übersteigt, und das ist, nicht zu wissen, warum es diesen Schmerz gibt? Dieser Gedanke lähmt den Geist.
Es wird angenommen, daß in der UdSSR ca. fünfzig Millionen Unschuldige getötet wurden und noch einmal fünfzig Millionen in China. Niemand weiß genau, wie viele es in Rumänien und in anderen Ländern waren.
Eine Person war dafür im Gefängnis, daß er ein Jude war, der andere, weil er ein Antisemit war. Pastoren wurden für die Verbreitung religiöser Propaganda inhaftiert, atheistische Vortragende dafür, daß sie in ihrer antireligiösen Propaganda nicht wirkungsvoll genug waren. Antikommunisten litten neben überzeugten Kommunisten, die mit ihrer Partei wegen der Interpretation irgendeines Grundsatzes der marxistischen Lehre angeeckt waren.
Kommunisten haben früher ganze Familien verurteilt, wenn ein Familienmitglied eine Verfehlung begangen hatte. Ich erinnere mich an einen Vater, der zusammen mit seinen vier Söhnen in meiner Zelle war. Seine Frau und seine Töchter waren in anderen Gefängnissen.
Hungrige, verprügelte Gefangene verzichteten auf die wenigen Stunden Schlaf die ihnen zugestanden wurden, um endlos Fragen wie „Warum ist dies alles über uns und die Welt gekommen?“, „Gibt es einen Gott?“, „Wo ist Gott bei all diesem Geschehen? Er soll allmächtig und alliebend sein. Er hätte verhindern können, daß diese Dinge geschehen, oder ihnen zumindest ein Ende setzen. Warum tut er es nicht?“ zu diskutieren.

Ich habe niemals auch nur einen Leidenden getroffen, der mit der Erklärung zufrieden war, daß alles Böse – Auschwitz, der Gulag, Pitesti und so weiter – letzten Endes der Tatsache zuzuschreiben ist, daß Adam und Eva die verbotene Frucht aßen: Ihre Sünde wurde von ihren Nachfahren in allen Generationen geerbt. Sie ist sogar in die Natur übergegangen. Lämmer werden von Wölfen gefressen, kleine Fische von großen Fischen, und Kinder werden vor ihren EItern von kommunistischen Folterern bis aufs Blut geprügelt, damit diese gestehen. Dies alles, weil vor vielen tausend Jahren dies eine Paar etwas Obst gegessen hat. Die Erbsünde ist an allem schuld.
Es mag an der sündigen Natur liegen, die wir als die Nachfahren Adams geerbt haben, daß wir diese Erklärung nicht verstehen können. Tatsache ist aber, daß auch die Bibelfestesten nur vorgeben, sie anzunehmen.
Andere Erklärungen, die ich in diesen Marathon-Diskussionen hörte, und die über Jahre hinweg endlos wiederholt wurden, waren etwa: „Es gibt keinen Gott und daher keinen Sinn.“ „Es ist die Strafe für unsere eigenen persönlichen Sünden.“ „Das Leiden ist nicht wirklich, es ist maya. Es gehört zu einer Welt der Täuschung.“ Keine der Antworten war befriedigend.

Gläubige, die Gott persönlich kennen, sollten ihm vertrauen, ohne zu fragen. Wir sind immer noch klein und haben keinen Verstand, der die allerletzten Antworten verstehen kann.
Das jüdische Volk, das allgemein als sehr intelligent angesehen wird, hatte den fleischgewordenen Jesus in seiner Mitte. Er sprach zu ihnen in einfacher Sprache, aber sie konnten ihn selbst dann nicht verstehen, wenn er in sehr einfachen Gleichnissen sprach. Auch die Jünger verstanden ihn nur teilweise.

Aber sie glaubten an den unbegreiflichen Jesus. Das ist Glaube. Er ersetzt die Vernunft, die nur einen unendlich kleinen Bereich der Dinge in diesem riesigen Universum erfassen kann. Wir wissen noch immer nicht, was ein Atom ist. Alle paar Jahre wechselt das Bild des Atoms, das uns die Wissenschaft zur Verfügung stellt. Wie können wir dann Gott verstehen?
Eines Tages „werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin“ (l. Korinther 13,12).
Von allen Erklärungen, die als Antwort zur Frage „Warum so viel Leiden?“ gegeben werden, ist die zwingendste einfach:
„Wir wissen es nicht.“

Eines Tages wird Gott alles in allem sein, was bedeutet, daß er alles in Richard Wurmbrand sein wird. Es wird keinen geben, der fragt, keinen der gefragt wird, und keine Frage. Wir werden ein Geist sein.
Jesus sagte: „Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie ich überwunden habe und mich gesetzt mit meinem Vater auf seinen Thron“, (Offenbarung 3:2 1).
Irgendwo gibt es einen Thron, von welchem aus die Welten geschaffen und regiert werden. Heute muß ich all das geduldig lernen, was ich im Moment der Inthronisierung benötigen werde. Die Kenntnis des Leidens ist ein Teil des Lehrplanes. Jesus selbst wurde durch Leiden vollkommen.

Wenn wir am Ende Jesus begegnen, werden wir erkennen, daß unsere Leiden im Vergleich zu dem, was wir erlangt haben, unbedeutend waren. Narben werden eine Zierde sein. Die Verwundeten werden um das, was sie verloren haben, bereichert werden. Die, die getötet wurden, werden überschäumendes Leben haben.
Christen stehen nicht dem Problem des Bösen gegenüber, sondern seiner Herausforderung. Probleme bedrücken einen, Herausforderungen hingegen spornen zu richtigen Taten an.
David war unser Vorbild. Er schrieb in Psalm 9 über den tragischen Tod eines seiner Söhne. Aber er beklagt sich nicht über Gott und sein eigenes Schicksal. Er sagt das, was er bei der Geburt eines Sohnes gesagt hätte:

„Ich werde Dich loben, o Herr, mit meinem ganzen Herzen.“

Zusammengestellt von Horst Koch

 

Das Ehepaar Wurmbrand, mit dem meine Familie seit 1973 eng befreundet war, lebte bis an ihr Lebensende am südlichen Ende des Grossraumes Los Angeles.
Bei einem Aufenthalt in Los Angeles im Dezember 1995 traf meine Familie das Ehepaar Wurmbrand ein letztes mal in ihrem Heim in Palos Verdes.
Am 11. August 2000 verstarb Sabine Wurmbrand. Ehemann Richard folgte ihr am 17. Februar 2001 in die himmlische Heimat.

Einige Vorträge von Pfr. Wurmbrand finden Sie in meiner Webpage www.horst-koch.de unter AUDIO
Kontakt: info@horst-koch.de

Artikel von Pfr. Wurmbrand auf meiner Internetseite www.horst-koch.de

1. Karl Marx und Satan
2. Marx and Satan (englisch)
3. Prophezeiungen über das jüdische Volk
4. Das Grab Lenins
5. Was Christen glauben
6. What Christians believe (englisch)
7. Lo que creen los Cristianos (spanisch)
8. Atheismus – Ein Weg?

9. Blut und Tränen

10. Gefoltert für Christus

11. Wo Christus heute noch leidet