Albrecht Martin
»Getreu seinem Herrn, loyal seinem Land«
Gedanken zum 70. Todestag von Pfarrer Paul Schneider
Die Familie verbrachte wie alljährlich die Sommerferien 1939 bei Verwandten im Taunus. Während wir Kinder uns der freien Tage freuten, waren Eltern, Onkel und Tante ernst, ja gedrückt; der drohende Krieg warf seine Schatten voraus. Eines Tages fuhr Vater plötzlich weg und war sehr „ernst, und Mutter weinte beim Abschied, obwohl er doch am nächsten Tag wiederkommen wollte. Erst viel später erfuhr ich, dass er zur Beerdigung von Paul Schneider (29.8.1897 bis 18. 7. 1939) nach Dickenschied gefahren war. Dessen Name war mir bekannt von der Liste derer, für die Vater im Gottesdienst Fürbitte tat. Aber was konnte der Zwölfjährige damit verbinden?
Die beiden Buchstaben B und K, die für Bekennende Kirche standen, wurden dann in den folgenden Jahren, während derer ich von der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten das eine oder andere erfuhr und jedenfalls die Unterdrückung unserer Kirche sehr unmittelbar miterlebte, wichtig. Die Buchstaben B und K wurden für mich zum Hoffnungszeichen einer besseren Zeit und eines anderen Deutschland; denn die einzigen Menschen, die ich als entschiedene Gegner des Nationalsozialismus kannte und die auch das Vaterland liebten, sammelten sich in der Bruderschaft der Bekennenden Kirche. Und wie ernst das werden konnte, dafür standen für mich die Namen Paul Schneiders und Martin Niemöllers.
Im Frühjahr 1952 meldete ich mich zum Dienst im Internat des Paul-Schneider-Gymnasiums in Meisenheim. Dieses Referatsjahr wurde für mein ganzes Leben wichtig. Denn nun wurde ich zu intensiver Auseinandersetzung mitwirken und Sterben Paul Schneiders veranlasst. Unter den Schülern des Internats waren manche, deren Eltern dem Nationalsozialismus nicht fern gestanden hatten. Diese fragten nun nach der Berechtigung des Widerstandes von Paul Schneider und danach, wie weit man der Obrigkeit Gehorsam schuldig sei, wenn es um wirklich entscheidende Fragen geht. Und die andern fragten, ob es nicht richtiger gewesen wäre, sich für die Zukunft gleichsam aufzusparen. Denn wie wichtig wäre es, jetzt (1952)- also in den Jahren des Aufbruchs – Männer wie ihn in den Gemeinden, in unserer Kirche zu haben, deren Glaubwürdigkeit keinem Zweifel unterliegen konnte.
Im Sommer 1952 wurde in Meisenheim der Neubau des Internats in Dienst gestellt. Superintendent Ernst Gillmann überbrachte für den Dachreiter des Gebäudes eine Glocke, die, wenn ich mich richtig erinnere, folgende Inschrift trug:
»Gottes Ehre Paul Schneider vor alles ging.
Drum achtete er Leben und Tod gering.
Was in seinem Namen geschieht und geschah,
Mahnt und soli Deo gloria!«
Es ist hier nicht der Ort, über die sprachliche oder gar dichterische Qualität dieser Zeilen zu urteilen. Wichtig aber erscheint mir die Frage, dass es Paul Schneider immer und allein um Gottes Ehre gegangen ist, also nicht zunächst um Widerstand gegen das NS-Regime, nicht das Einstehen für Verfolgte, nicht um den Trost der Gefolterten, nicht um Zucht und Ordnung in der Gemeinde, sondern allein um Gottes Ehre. Dieser unmittelbare Bezug auf Gottes Wort wird in den Äußerungen Paul Schneiders immer deutlich. Da geht es nicht um das Durchsetzen der eigenen Meinung oder gar Überzeugung, da schreit nicht einer in verzweifeltem Zorn aus dem Arrestbunker seine Anklage über den Appellplatz des Lagers Buchenwald, sondern immer spricht der Prediger, tröstet unter Folterschlägen die Häftlinge der Zeuge Jesu Christ.
Wenn das Wort, dass das Blut der Märtyrer der Same der Kirche sei, auch heute noch Gültigkeit haben soll, dann werden wir Paul Schneider nicht gerecht, wenn wir uns damit begnügen, das Leben Paul Schneiders hier nachzuerzählen. Wer darüber Genaueres erfahren will, der greife nach der Biographie von Albrecht Ai-chelin oder der von Claude Foster (Paul Schneider. Seine Lebensgeschichte). Wichtige Entscheidungen im Leben eines Menschen und insbesondere seine Bereitschaft, sein Leben einzusetzen, sind ja nicht Augenblickseinfälle, sondern sind eingebettet in oft langsam gewachsene Überzeugungen. Wie unwürdig ist es, wenn man heute den Opfergang von Frauen und Männern bezweifelt, weil der Tod am Ende einer oft langen Entwicklung gestanden hat, die vielleicht sogar in die Nähe der Gewaltherrschaft geführt hatte. Und unwürdig ist es auch, wenn Menschen unserer Zeit ihre Ablehnung bestimmter politischer Entscheidungen mit dem Widerstand der Frauen und Männer der Bekennenden Kirche vergleichen. Der inflationäre Gebrauch von Worten, die letzte Entscheidungen umschreiben, entwertet nicht nur Sprache, sondern tastet auch die Ehre derer an, die nun wirklich Widerstand geleistet haben und für ihre Überzeugung das Leben einzusetzen bereit waren.
Wir werden Paul Schneider aber auch nicht gerecht, wenn wir ihn gleichsam auf einen Sockel stellen und ihn durch die Verehrung von uns entfernen. Nun halte ich nichts davon, mit dem Protest gegen die Verehrung eines Mannes, der sein Leben für seine Überzeugung gegeben hat, anzufangen und nach Grenzen oder gar Schwächen zu suchen. Eine Zeit, die nicht mehr menschliche Vorbilder anerkennen will, ist ärmer geworden. Es geht auch nicht darum, das Verhalten des Glaubenszeugen nachzuahmen oder in jeder Hinsicht für heute vorbildlich zu halten. Nur wenn wir uns von dem Blutzeugen nach unserer eigenen Haltung fragen lassen, werden aus vielleicht verehrten Denkmälern Glieder der Gemeinde Christi, die auch heute noch unter uns wirken. Es geht also nicht um Nachahmung, sondern um verantwortliches Fragen, das um gleichen Ernst bemüht ist, wie wir ihm bei Paul Schneider immer wieder begegnen.
Wir wollen einsetzen — nicht bei dem Zusammenstoß mit dem NS-Regime, sondern bei einem innergemeindlichen Konflikt, wie ihn in ähnlicher Weise ein Pfarrer auch heut erleben kann.
Da war es in der ersten Gemeinde, in der Paul Schneider als Pfarrer wirkte in Hochelheim, Brauch, dass jede Altersgruppe gesondert zweimal im Jahr an bestimmten Sonntagen zum Abendmahl geladen wurde. Besonders mit dem Jugendabendmahl hatte Paul Schneider Schwierigkeiten, weil dieser Brauch, wie er dem zuständigen Superintendenten schrieb, »allzu sehr die Wahrhaftigkeit und die Ehrlichkeit« erstickte. Die Diskrepanz zwischen spärlichem Gottesdienstbesuch, anstößigem Lebenswandel einerseits und der großen Beteiligung an diesen Abendmahlsfeiern andererseits, war ihm unerträglich. Ohne Zustimmung des Presbyteriums setzte er das für Weihnachten 1933 vorgesehene Jugendabendmahl ab und lud stattdessen zu einem allgemeinen Abendmahlsgottesdienst unter der Woche ein. Das Presbyterium folgte ihm auf diesem Weg nicht; der Konflikt war da.
Noch einmal: Wenn wir die Entschiedenheit Paul Schneiders in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bewundern, dann dürfen wir seine mit gleicher Entschiedenheit vertretene Position zur Abendmahlsfrage nicht mit einem Achselzucken übergehen, auch wenn wir heute aus mancherlei Gründen diese Position nicht teilen mögen. Aber fragen lassen müssen wir uns, wie wir es heute mit den Sakramenten halten. Es ist gewiss und richtig, dass wir das Abendmahl heute stärker als Zeichen der Gemeinschaft mit Christus und untereinander feiern. Aber ist es bei unserem Feiern noch hinreichend bewusst, gewiss freudig bewusst, dass uns im Sakrament Christi Erlösungstat im Zeichen gegenwärtig wird? Andererseits: Liegt nicht auch in der volkskirchlich geprägten Sitte ein erhaltenswerter Schatz? Auf Dauer werden Sitte und Brauchtum gewiss nicht Inhalte am Leben erhalten können. Aber sie mögen helfen, verschwindende Inhalte neu zu beleben. Deshalb ist die heute verbreitete Missachtung von Traditionen kurzsichtig, so richtig es ist, die Warnung Paul Schneiders vor einer Entwürdigung des Abendmahls durch eine oberflächliche Üblichkeit zu hören.
Aber da war ja auch noch dieses Übergehen des Presbyteriums durch den Pfarrer, angesichts der presbyterial-synodalen Ordnung unserer rheinischen Kirche fast ein Sakrileg. Die Ordnung ist ein hohes Gut und wir werden sehen, dass Paul Schneider sie keineswegs gering geschätzt hat. Aber hier trieb ihn sein Gewissen, das, was in seinen Augen Missbrauch des Abendmahls war, abzustellen. Und wer sagt uns, dass die ablehnenden Presbyter nicht auch ernsthaft ihr Gewissen befragt hatten? Gerade weil Paul Schneider von seinen Presbytern auch viel Unterstützung erfahren hat, dürfen wir so fragen. Es liegt im Wesen der ja auch nicht vollkommenen Kirche, dass Gewissen gegen Gewissen stehen kann und dass dieser Konflikt durch keine Mehrheitsentscheidung zu lösen ist, ebenso wenig wie durch das Wort eines Bischofs. Darum hat es einen guten Sinn, dass die Ordnung unserer Kirche in Fragen des Glaubens und des Gewissens bei den Entscheidungen nicht Einstimmigkeit, wohl aber Einmütigkeit fordert. Ob wir dem in den letzten Jahrzehnten immer gerecht geworden sind? Das Leben Paul Schneiders lässt uns das fragen!
Es war eine rein innerkirchliche Problematik, die im Sommer 1937 die Verhängung der so genannten Schutzhaft über Paul Schneider auslöste. Denn ob eine Gemeinde auf Beschluss des Presbyteriums gegen ein Gemeindeglied wegen sittlicher Verstöße oder wegen der Verbreitung von Irrlehren Maßnahmen der Kirchenzucht ergreift, ist ja eigentlich eine Angelegenheit der Gemeinde und nicht des Staates oder gar einer politischen Partei. Aber sehen wir zunächst einmal von diesem Problem ab und fragen nach Recht und Bedeutung der Kirchenzucht. Wir wissen, dass sie in der frühen Christenheit und auch in den Kirchen der Reformation geübt wurde, dass sie aber, insbesondere mit der einsetzenden Säkularisierung, zunehmend zum Problem wurde. Aus seinem eigenen Zeugnis wissen wir, dass Paul Schneider schon in seiner ersten Gemeinde Hochelheim mit Fällen der Kirchenzucht konfrontiert wurde, damals etwa bei der Frage der Form der Trauung von Paaren, die sich »vor der Hochzeit vergangen« hatten, wie es damals hieß. Wir wissen auch, dass er es sich nicht leicht gemacht hat in dem Konflikt zwischen dem Ernstnehmen einer sich in Sitte und Moral äußernden ethisch begründeten Ordnung einerseits und dem Bemühen, das seelsorgerliche Gespräch nicht abreißen zu lassen andererseits. Gelingt es uns heute immer, das Letztere glaubwürdig zu tun, ohne die Notwendigkeit und auch den Segen einer das ganze Leben prägenden Ordnung zu relativieren? Diese Frage würde Paul Schneider seiner Kirche heute wohl stellen!
Keinen Zweifel, kein Schwanken gab es für ihn in der Frage, ob man Gemeindeglieder, die für die falschen Lehren der Deutschen Christen warben, die im Schulunterricht rassistische und deutschgläubige Lehren verbreiteten, kurz gesagt, die nicht auf dem Boden der Theologischen Erklärung von Barmen standen, auch mit Mitteln der Kirchenzucht begegnen müsse. Vertreter solcher, die Kirche verwüstenden und die Einheit der Kirche sprengenden Irrtümer konnten nicht am Abendmahl teilnehmen und kein Recht außer dem des Gottesdienstbesuches und des seelsorgerlichen Gespräches mehr wahrnehmen. Gerade dieses Gespräch zu suchen, hat Schneider nicht nachgelassen. Aber das Presbyterium ermahnte alle Gemeindeglieder, allen freundschaftlichen und gesellschaftlichen Verkehr mit den unter der Bußzucht stehenden Personen abzubrechen. Es rief darüber hinaus die Eltern auf, ihre Kinder von dem Religionsunterricht des aus der Gemeinde ausgeschlossenen Lehrers abzumelden und in eine vom Pfarrer zu verantwortende »biblische Unterweisung« zu schicken. Diese Ermahnung wurde dann auch zu einem der wichtigsten Anklagepunkte der Geheimen Staatspolizei. Denn die ja zunächst rein örtliche Angelegenheit einer Gemeinde auf dem Hunsrück brachte den Stein ins Rollen und führte zur Schutzhaft, dann zur Ausweisung und Einlieferung ins Konzentrationslager und schließlich zur Ermordung.
Für die Nationalsozialisten, ihre Amtsträger und die in ihrem Dienst stehenden staatlichen Stellen, auch für die von den Deutschen Christen bestimmten kirchlichen Instanzen war Paul Schneider längst kein unbeschriebenes Blatt mehr, sondern Gegenstand einer immer konsequenter betriebenen Verfolgung.
Wie hatte es dahin kommen können, dass der aus einem national denkenden Pfarrhaus stammende Kriegsfreiwillige von 1915, mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnete Leutnant der Reserve »auf Anordnung des Führers« in Schutzhaft genommen wurde? Und dabei hatte er nach anfänglicher Skepsis die Machtergreifung Hitlers begrüßt, hatte sich hinein nehmen lassen von dem mächtig aufflammenden Gemeinschaftsgefühl und gemeint, dass christliche Werte unter dem neuen Reichskanzler wieder etwas gelten würden. Wie hatte es dahin kommen können?
Die Antwort ist einfach und doch für jeden, der sie ausspricht, unendlich schwer, weil sie jeden vor die Frage stellt, ob er denn in gleicher Situation ohne Wenn und Aber bereit sei, offen gegen den Unglauben und gegen das aus Unglauben erwachsene Unrecht die Stimme zu erheben. Denn das hat Paul Schneider getan. Er hat von Anbeginn an deutlich gesagt, wenn er die Klarheit des Evangeliums verletzt und wenn er Menschen Unrecht leiden sah. Von Anbeginn an nahm er gegen den Arierparagraphen öffentlich Stellung. Und der Antisemitismus der Deutschen Christen war für ihn ein wesentlicher Grund, diese nach kurzem Zögern mit aller Entschiedenheit abzulehnen. Auch gegen die zunehmende Entheiligung des Sonntags durch die Jugendorganisation der NSDAP trat er mit einem Antrag an die Kreissynode hervor, weil er es als eine Pflicht der Volkskirche ansah, für eine dem Evangelium gemäße Lebensordnung des Volkes und also auch für die Heiligung des Sonntags einzutreten. Da erschien im September 1933 ein Artikel des
arbeit angegriffen wurde, reagierte er nicht weniger scharf: »Eine klare charaktervolle evangelische, christliche Erziehung vermag die Hitlerjugend als solche allein nicht zu geben.« Die Anzeige über beide Vorkommnisse ging sofort an die Kreisleitung der NSDAP und an das Konsistorium. Zum ersten Mal taucht in einem parteiamtlichen Schreiben der Satz auf: »Dieser Mensch gehört in ein Konzentrationslager und nicht auf die Kanzel!« Der zuständige Superintendent aber erteilte ihm einen strengen Tadel, und das Konsistorium unter dem gerade ernannten Bischof des Bistums Köln-Aachen – so etwas gab es vorübergehend unter der Herrschaft der Deutschen
damaligen Stabchefs der SA Ernst Röhm, dessen Kernsatz lautete: »Die deutsche Revolution ist nicht von Spießern, Muckern und Sittlichkeits-aposteln gewonnen worden, sondern von revolutionären Kämpfern.« Als ein öffentlicher Protest der Kirchenleitung ausblieb, bezog Paul Schneider im Aushängekasten der Gemeinde eindeutig Stellung: es gehe nicht an, dass Werte wie Sittlichkeit und Keuschheit von einer hochgestellten Persönlichkeit despektierlich behandelt würden. Als einige Zeit später in einer Verlautbarung der Hitlerjugend die konfessionelle Jugend-
Christen in der rheinischen Kirche – erteilte ihm einen ernstlichen Verweis. Zu seinem späteren Bedauern Heß sich Paul Schneider diesmal zu einem halben Rückzug bestimmen, aber wenige Wochen später brach der Konflikt erneut los. In einer Predigt nahm er eindeutig Stellung gegen die theologischen Aussagen der Deutschen Christen: »Indem sie Blut und Rasse und Geschichte des Volkes als Offenbarungsquellen neben Gottes Wort stellen, neben Jesus als den alleinigen Mittler zwischen Gott und den Menschen, fallen sie in Wahrheit ab von dem lebendigen Gott und
Schneider in Dickenschied.
seinem Christus.« Und in derselben Predigt stellte er klar heraus, dass es mit der »deutschen Glaubensbewegung« eines Alfred Rosenberg vom Standpunkt des christlichen Glaubens keine Verständigung geben könne. Aber noch wollte Paul Schneider nicht so recht glauben, dass mit dem gesamten NS-Regime ein Konsens unmöglich sei. »Zu unvorstellbar war die Perspektive einer dezidierten kirchenfeindlichen Regierungspolitik in Deutschland«, urteilt mit Recht Albrecht Ai-chelin.
Die Einsicht, dass es doch so sei, hat Paul Schneider dann ganz bald gewonnen, insbesondere als es kurz nach Antritt der neuen Stelle in Dickenschied erneut zu schweren Konflikten kam. Ausgelöst wurden sie wieder durch das klare Christuszeugnis, das Paul Schneider gegen die neuheidnischen Äußerungen von Seiten der Vertreter der NSDAP ablegte. Gerade weil die Ereignisse aus heutiger Sicht so belanglos erscheinen, verdienen sie im Gedächtnis festgehalten zu werden. Treue beweist sich eben oft in scheinbar belanglosen Szenen. Da wird ein Hitlerjunge beerdigt, unter großer Beteiligung der Parteiorganisationen. Bei der Feier am Grabe erklärt der Kreisleiter, dass der junge Mann nun in den himmlischen Sturm Horst Wessels hinübergegangen sei. Darauf Paul Schneider: »Ob es einen himmlischen Sturm Horst Wessels gibt, weiß ich nicht. Aber Gott segne deinen Ausgang aus der Zeit und deinen Eingang in die Ewigkeit.« Darauf der Kreisleiter: »Kamerad, du bist doch hinübergegangen in den himmlischen Sturm Horst Wessels!« Aber Paul Schneider streicht nicht die Flagge: »Ich protestiere! Dies ist eine kirchliche Feier, und ich bin als evangelischer Pfarrer für die reine Lehre der heiligen Schrift verantwortlich.« Zwei Tage später wurde er in Schutzhaft genommen, d. h. verhaftet. Und im Grunde ging es bei den folgenden Zusammenstößen bis hin zu der Schutzhaft, die dann zur Ausweisung führte, um ähnliche Ereignisse.
Lohnt es, um solcher Torheiten willen wie dem Reden von einem himmlischen Sturm Horst Wessel Verhaftung und Konzentrationslager zu riskieren? Richtet es sich nicht als grenzenlose Dummheit selbst, wenn dann in der evangelischen Schule statt der Geburt Jesu eine Art germanisches Julfest gefeiert wurde?
Paul Schneider gehörte zu den evangelischen Christen, die – wie z. B. auch Martin Niemöller – sehr früh erkannten, dass hier von einer politischen Partei auf der Grundlage ihrer Weltanschauung der totale Anspruch auf Leben und Glauben der Menschen erhoben wurde. Einige Zeit nach dem eben geschilderten Ereignis hat Goebbels es unmissverständlich eingefordert: »Wir erheben den Anspruch auf die Seele des deutschen Volkes!« Darum musste an die Stelle des lebendigen Glaubens an Jesus Christus die nationalsozialistische Überzeugung von der erlösenden Kraft der nordischen Rasse treten. Dass es nur um diese Grundsatzentscheidung ging, das hat Paul Schneider gesehen und die Konsequenzen gezogen, und die hießen für ihn: Zeugnis ablegen, solange man den Atem dazu hat!
Und nun die Frage an uns: Sind wir noch wachsam gegenüber ähnlichen Versuchungen und Versuchen? Zwar ist uns heute ein Pfarrer in SA-Uniform nicht denkbar, und nationalsozialistische Töne erschallen in unseren Kirchen nicht. Aber so ganz ohne Sympathien für den Marxismus waren und sind manche in unserer evangelischen Kirche nicht, weil sie sich immer wieder blenden lassen vom Programm einer gerechteren Verteilung der Güter und dahinter nicht die Ideologie sehen von der Selbsterlösung des Menschen. Immer wieder muss gefragt werden: »Was steckt hinter den Worten, die vielleicht so eingängig formuliert sind?« Als ich vor einiger Zeit Scholders großes Werk »Die Kirchen und das Dritte Reich« las, stieß ich bei der Darstellung der Ereignisse anfangs der dreißiger Jahre auf Szenen, wie ich sie in den 68 er-Jahren an deutschen Hochschulen auch erlebt hatte. Für beide Zeitabschnitte war gemeinsam eine heillose Vermischung von verfremdeter Theologie und radikaler Politik. Also wachsam zu sein haben wir immer wieder Anlass!
Der Kampf Paul Schneiders lässt uns auch nach seinem, nach unserem Verhältnis zu unserem Staat fragen. Ganz ohne Zweifel hat er sein deutsches Vaterland geliebt. Anders ist seine Meldung zum Kriegsdienst 1915 nicht zu verstehen. Er hat nie aufgehört, den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit im staatlichen Bereich einzufordern und hat lange Zeit darauf vertraut, dass auch er unter dem Schutz des Reiches stehe. Es war für ihn und war für viele seiner Zeitgenossen, wie schon gesagt, ganz unvorstellbar, dass die Regierung des Deutschen Reiches eine dezidiert antichristliche Politik betreiben könne. Man wehrte sich gegen
Wenn wir aus der Vergangenheit eine Lehre zu ziehen haben, so ist es die Mahnung, alles daranzusetzen, dass unser Staat als freiheitlicher sozialer Rechtsstaat funktionsfähig bleibt. Dazu genügt es nicht, dass wir ihm, wie man heute auch im kirchlichen Raum nicht selten formuliert, »in kritischer Loyalität« gegenüberstehen, sondern dass wir ihn als unsere große Chance begreifen, in Recht und Frieden zu leben.
den Einfluss der Partei und ihrer Organisationen, einschließlich der Deutschen Christen, und erkannte erst allmählich — oder überhaupt nicht — dass es den Staat, der — wie These 5 der Barmer Erklärung sagt — »nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen«, je länger je weniger noch gab. Denn immer unmittelbarer wurde aus dem Staat, der nach innen und außen für Recht und Frieden zu sorgen hatte, das Instrument der nationalsozialistischen Ideologie, so wie wir das nach dem Ende des NS-Staates in der damaligen DDR noch einmal erleben mussten. Wenn wir also aus der bhbhbhhmhotgsbiwb»«
Vergangenheit eine Lehre zu ziehen haben, so ist es die Mahnung, alles daranzusetzen, dass der Staat in dem wir leben, als freiheitlicher sozialer Rechtsstaat funktionsfähig bleibt. Dazu genügt es nicht, dass wir ihm, wie man heute auch im kirchlichen Raum nicht selten formuliert, »in kritischer Loyalität« gegenüberstehen, sondern dass wir ihn als unsere große Chance begreifen, in Recht und Frieden zu leben. Wer das nicht begreift, der kann schwerlich für sich beanspruchen, in der Tradition Paul Schneiders zu stehen.
Es ist hier nicht möglich, die Ereignisse vom Sommer und Herbst des Jahres 1937 im Einzelnen nachzuzeichnen. Bekanntlich hat sich Paul Schneider der Ausweisung aus dem Rheinland und damit der Trennung von seiner Gemeinde nicht gebeugt, sondern ist im Wissen um die dann drohende Verhaftung in seine Gemeinde zurückgekehrt. In einem ausführlichen Schreiben an die Reichskanzlei begründete er sein Handeln: »Ohne Rechtsgrund greift die Ausweisung erheblich in das Leben von Kirche und Gemeinde hinein. Sie reißt Pfarrer und Gemeinde auseinander, die vor Gott feierlich zueinander gewiesen sind… Gemeinde und Pfarrer sind darum gehalten, dem unrechten Verlangen und Gebot obrigkeitlicher Personen zu widerstehen, zumal ein solcher ohne Rechtsgrund gemachte Eingriff in Freiheit und Selbständigkeit des kirchlichen Lebens den feierlichen Versicherungen der höchsten obrigkeitlichen Person des Deutschen Reiches widerspricht.«
Man muss hier sehr genau hinhören, um die Wucht dieser Worte zu erfassen. Da ist auf der einen Seite die ganz eindeutige Weisung Gottes und auf der anderen Seite – nicht etwa der Staat, sondern eine obrigkeitliche Person, die ihr Wort gebrochen hat und nicht etwa nur das Recht verletzt, sondern der Willkür freien Lauf lässt. Da gab es für Paul Schneider keinen Kompromiss.
Und wie hat sich angesichts dieser Entscheidung der rheinische Bruderrat, wie hat sich die Leitung der Bekennenden Kirche verhalten? Warum hat sie nicht Paul Schneider mit einer eindeutigen Weisung geholfen angesichts dieser Frage, bei der es – das wusste man – um Leben und Tod gehen konnte? Hören wir, was der spätere Präses Joachim Beckmann damals an Paul Schneider schrieb: »Es ist uns klar, dass wir zu Ihrer Entscheidung nicht Nein sagen können. Ebenso klar «mm«———um ist uns aber auch, dass es sich bei dem Ja Ihrer Entscheidung nicht um das Befolgen einer kirchenregimentlichen Anweisung handeln kann, sondern nur um die Gewissheit des Gehorsams gegenüber dem Befehl des Herrn selbst. Darum kann hier weder etwas befohlen, noch etwas geboten werden.«
Blieb er also doch allein in der letzten schweren Entscheidung, die ihn dann in das Konzentrationslager, in Grauen und Tod führte? Ich kann so nicht urteilen, weil es Augenblicke und Situationen der Entscheidung im Leben eines Christen geben kann, in denen kaum zu raten, aber gewiss nicht anzuordnen ist, in denen nur eines bleibt: die Gewissheit, dass die Zusage, die dem Jeremia gegeben wurde, auch für uns gilt und damals für Paul Schneider gegolten hat: »Ich bin bei dir, dass ich dir helfe, spricht der Herr.«
Mahnt uns nicht die dankbare Erinnerung an Paul Schneider, uns auf diese Zusage zu verlassen?
■ Der Autor dieses Artikels, Albrecht Martin (*1927) war Soldat im Zweiten Weltkrieg, studierte Theologie, Geschichte und Germanistik, war zuletzt Studiendirektor. Von 1960 bis 1972 Lehrbeauftragter für Studien- und Berufsfragen der Facultastheologen an der Universität Mainz. 1974-1985 Präsident des Landtags Rheinland-Pfalz. Von 1982 bis 1988 stellvertretender Landesvorsitzender der rheinland-pfälzischen Christdemokraten. Von 1984 bis 1990 war er Bundesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU. Von 1985 bis 1989 Minister für Bundesangelegenheiten.
Am 27. November 1937 wurde Paul Schneider ins Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verlegt, wo er Zwangsarbeit verrichten musste. Hier, in dem zu jener Zeit politisch, religiös oder rassisch Verfolgte wie Kriminelle einsaßen – Juden kamen erst nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 hinzu —, wurde er für seine Mitgefangenen zum »Prediger von Buchenwald«. Über ein Jahr wurde er in einer Einzelzelle inhaftiert und gequält – am 18. Juli 1939 wurde er ermordet.