Neo – Evangelikalismus (G.Walter)

Georg Walter

Vom Evangelikalismus zum Neo-Evangelikalismus

Harold John Ockenga (1905-1985), US-amerikanischer Pastor der Park Street Church in Boston, Massachusetts, prägte als erster den Ausdruck Neo-Evangelikalismus und gilt vielen als Vater desselben. Ockenga wuchs in Chicago auf und gehörte einer methodistischen Gemeinde an. Er folgte seinem Ruf in den pastoralen Dienst und studierte Theologie an der methodistischen Taylor University. 1927 schrieb er sich nach Abschluss seines Studiums am Princeton Theological Seminary ein; sein Studium sollte er dort allerdings nicht beenden. In den 1920er Jahren tobte die Kontroverse zwischen den Vertretern des konservativ-evangelikalen Flügels – damals ohne negativen Beiklang als „Fundamentalisten“ bezeichnet – und des modernistischen oder liberalen Flügels. 1929 verließ Ockenga mit anderen Konservativen wie Gresham Machen das aus ihrer Sicht zu liberale Princeton, um sich in Philadelphia dem von Machen gegründeten presbyterianisch-reformierten Westminster Theological Seminary anzuschließen und das Banner des wahren Glaubens des Evangeliums hochzuhalten.

Schon in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war es zu heftigen Debatten zwischen „fundamentalistischen“ und liberalen Theologen gekommen. Die Fundamentalisten hielten an der Autorität und Irrtumslosigkeit der Bibel, der Göttlichkeit und Jungfrauengeburt Jesu, der leiblichen Auferstehung, dem stellvertretenden Sühnetod und dem zweiten Kommen Christi fest, während die Liberalen diese Lehren verwarfen und für alles Übernatürliche in der Bibel rationale Erklärungen suchten.
In den Jahren 1910-1915 wurden in der Auseinandersetzung mit der liberalen Theologie 90 Artikel von 64 bibeltreuen Autoren herausgegeben. Das zwölf Bände umfassende Werk wurde unter dem Titel The Fundamentals: A Testimony to the Truth (Die Fundamente: Ein Zeugnis für die Wahrheit) herausgegeben – seit den 1920er Jahren bürgerte sich daraufhin schließlich der Begriff „Fundamentalisten“ für die Vertreter einer konservativen, bibeltreuen Theologie ein. Zu den Autoren zählten unter anderem R. A. Torrey, C. I. Scofield, B. B. Warfield, G. Campbell Morgan, W. J. Erdmann.

Die Opposition zum theologischen Liberalismus führte in den 1930er und 1940er Jahren in den USA dazu, dass die fundamentalistischen Kreise sich immer mehr zurückzogen und eigene Denominationen und theologische Ausbildungsstätten gründeten. Bewusst distanzierten sich die konservativen Christen von Kultur und Bildungswesen jener Zeit, weil sie überall den glaubenszersetzenden Zeitgeist des Liberalismus erkannten.
In dieser Zeit, am 7. November 1918, erblickt William Franklin Graham in Charlotte, Nord Carolina, das Licht der Welt. Er sollte unter dem Namen Billy Graham einer der bekanntesten Evangelisten des 20. Jahrhunderts werden.

Graham bekehrte sich im Jahre 1934 nach einer Reihe von Gottesdiensten unter dem Evangelisten Mordecai Ham und schrieb sich im Jahr 1936 am fundamentalistischen Bob Jones College ein, um Theologie zu studieren.

Graham verließ das College jedoch, weil er die theologische Ausrichtung der von Bob Jones gegründeten Ausbildungsstätte als zu eng empfang. Ab 1937 studierte er am überkonfessionellen Florida Bible Institute, an dem er 1940 sein Studium beendete. Im Jahre 1943 schloss Graham ferner sein Studium der Anthropologie am Wheaton College ab, wo er nach eigenen Angaben zu der tiefen Überzeugung gekommen war, dass die Bibel das unfehlbare Wort Gottes ist.

1944 machte Graham die ersten Erfahrungen in einem christlichen Radiodienst, den er nach einem Jahr verließ und im Jahre 1945 zum baptistischen Northwestern College stieß, dem er von 1948-1952 mit gerade einmal dreißig Jahren als Präsident vorstand. Seit den 1948er Jahren war Graham Sprecher auf verschiedenen evangelistischen Veranstaltungen. Als erster vollzeitlicher Reise-Evangelist arbeitete er für Youth for Christ International (YFCI), einer Organisation, die von dem Baptisten Torrey Johnson im Jahre 1946 gegründet worden war.

1950 gründete Graham die Billy Graham Evangelistic Association (BGEA), die eine christliche Radiosendung unterhielt (Hour of Decison), eine Zeitschrift herausgab, christliche Fernsehsendungen in den USA und in Kanada produzierte, eine christliche Webseite für Kinder und Jugendliche schuf (Passageway.org) und mithilfe von World Wide Pictures evangelistische Filme vermarktete.
Sechs Jahre später, im Jahre 1956, rief Billy Graham mit seiner mittlerweile finanzstarken BGEA und mit Hilfe von Carl F. H. Henry das neoevangelikale Magazin Christianity Today ins Leben.
Carl Henry (1913-2003) war der erste Chefredakteur von Christianity Today und Mitbegründer des Fuller Theological Seminary, des ersten neoevangelikalen Seminars in den USA, das bis heute als eines der einflussreichsten theologischen Seminare in den USA gilt.
Carl Henry legte seinen Posten als Chefredakteur von Christianity Today im Jahre 1968 nieder, nachdem es zwischen ihm und der Redaktion (Pew, Bell) zu einem Streit über die geistliche Ausrichtung des Magazins gekommen war. Christianity Today erreichte im Jahre 2009 nach eigenen Angaben eine Auflage von 140.000 Magazinen und eine Leserschaft von 294.000 Personen. . . .

Der ebenso populäre wie einflussreiche Billy Graham wusste sehr genau, was er tat und was er wollte, als er die Herausgabe dieses neuen Magazins ermöglichte – und sein Name war die beste Werbung für ein neues christliches Magazin.

Grahams Vision, die er mit den Gründern des Fuller Seminars teilte, war es „die evangelikale Flagge in der Mitte des Weges zu positionieren, um eine konservative Theologie mit einer jedoch liberalen Haltung bezüglich sozialer Probleme zu verbinden.
Es [das Magazin Christianity Today] sollte das Beste des Liberalismus und das Beste des Fundamentalismus vereinen, ohne theologische Kompromisse einzugehen.“

Graham wählte einen Mittelweg zwischen dem Fundamentalismus, der ihm als zu eng, gesetzlich und separatistisch galt, und dem Liberalismus, den er als zerstörerisch betrachtete, was die Autorität der Bibel und den christlichen Glauben anging.
Graham wollte wie das Fuller Seminar einen neuen evangelikalen Glauben prägen, der modern sein sollte und akademische Respektabilität für sich beanspruchen konnte. Man wollte mit der Welt mithalten, mit den liberalen Theologen auf gleicher akademischer Augenhöhe mitreden können und gleichzeitig an den Wahrheiten des Evangeliums festhalten. Diese neue Art von Evangelikalismus wurde unter dem Namen Neo-Evangelikalismus bekannt.

Nach Grahams eigenen Worten wollte er „keine theologischen Kompromisse“ eingehen; wer allerdings seine Geschichte verfolgt, muss leider zu dem Schluss kommen, dass es lediglich bei seinem guten Vorsatz geblieben ist.
Graham begann als ein typischer „fire and brimstone preacher“ – „Feuer und Schwefel“-Prediger -, der ein kompromissloses Evangelium predigte, das sich an den Fundamenten der biblischen Lehre orientierte und seine Zuhörer zu einer klaren Bekehrung aufrief, andernfalls würden sie in die Hölle, den Feuer- und Schwefelsee der Offenbarung (20,10), geworfen werden. Die katholische Kirche galt ihm als die Hure Babylon, Katholiken als Heiden, die es zum wahren Evangelium zu bekehren galt. In den 1950er Jahren schien ihm dieses „fundamentalistische“ Evangelium offensichtlich als zu eng. Vom Weg des Evangelikalismus kehrte er sich ab, um von nun an den Weg des Neo-Evangelikalismus zu beschreiten.  . . .

Grahams theologische Positionen wurden zunehmend von ökumenischen Überzeugungen eingenommen. Seine feindselige Haltung der katholischen Kirche gegenüber gab er im Laufe der Zeit auf und arbeitete mit ihr zusammen. In den letzten Jahren waren Grahams unscharfe Äußerungen immer wieder die Ursache dafür, dass er in die Schlagzeilen geriet. Es entstand der Eindruck, Billy Graham sei ein interreligiöser Universalist geworden. Von seinen ursprünglichen evangelikalen Überzeugungen hat er sich nur zu offenkundig entfernt.

Was Graham unter seinem neoevangelikalen Glauben versteht, mit welchen Personen er bereit war und ist, sich zu verbinden, und ob nicht schon sein Anliegen, „konservative Theologie mit einer liberalen Haltung in sozialen Fragen“ zu verbinden, eine Kursänderung war, die ihn letztlich vom einmal überlieferten apostolischen Glauben der Heiligen Schrift abirren ließ, soll im Folgenden hinterfragt werden. Nicht die Person oder die Motivation Grahams, die sicherlich eine aufrichtige war, steht zur Kritik, sondern die Lehre, die theologische Ausrichtung und insbesondere die evangelistische Methode Billy Grahams sollen an der Schrift geprüft werden.

Aus der Sicht der Fundamentalisten (Konservativen/Bibeltreuen) ist der konservative Evangelikalismus der schmale Weg der Wahrheit; der Fundamentalismus sondert sich von der Welt ab – vom Liberalismus, von der Ökumene, von Interreligiosität und vom sozialen Evangelium.
Billy Graham und die Vertreter des Neo-Evangelikalismus sehen den richtigen Weg in der Mitte zwischen den Fundamentalisten (Konservativen) und den Liberalen. Der Neo-Evangelikalismus befürwortet indessen anders als der konservative Evangelikalismus das soziale Evangelium und den ökumenischen Dialog.

Die ersten evangelistischen Feldzüge Billy Grahams zogen einige Hunderte bis zu zwei- oder dreitausend Zuhörer an. Er predigte in Gemeinden oder versammelte seine Zuhörer in einem Zelt. Wahrscheinlich hat er zu Beginn seines Dienstes nicht im Traum daran gedacht, einmal als bekanntester Evangelist der Welt in die Geschichte einzugehen. Billy Graham hat in 185 Ländern der Erde in mehr als 400 evangelistischen Veranstaltungen etwa 210 Millionen Zuhörern das (neoevangelikale) Evangelium verkündigt. Doch der so populäre Evangelist, der schon heute als Legende gilt, entfachte nach seiner ersten evangelistischen Großveranstaltungen in Großbritannien im Jahre 1954 eine Diskussion, was wahre Umkehr oder Scheinbekehrung angeht.

Die Presse berichtete im Vorfeld kritisch über Grahams Vorhaben, und viele Kirchenführer lehnten seine evangelistischen Pläne anfänglich ab. Als jedoch die für drei Monate andauernde Großevangelisation am 1. März 1954 in der Londoner Harringay Arena begann, unterstützten 80 Prozent der Londoner Kirchen und Gemeinden Billy Graham, der auf eine solch breite Unterstützung nicht zu hoffen gewagt hatte. Abend für Abend strömten zeitweise bis zu 12.000 Menschen in Grahams Versammlungen. Der letzte evangelistische Gottesdienst mit 120.000 Besuchern fand im Wembley Stadion statt. Am Ende der Evangelisation zog die BGEA Bilanz und zählte ca. 38.000 „Bekehrte.“ Doch viele dieser „Bekehrten“ waren entweder bereits Mitglieder einer christlichen Gemeinschaft oder schlossen sich nach der Evangelisation keiner Gemeinschaft an. Genauere Untersuchungen ergaben, dass es oft weniger als zehn Prozent der „Bekehrten“ waren, die verbindliche Mitglieder einer christlichen Kirche oder Gemeinde wurden.

Graham hatte eine Bekehrungspraxis übernommen, die gerade einmal 150 Jahre alt war und auf den Methodismus des beginnenden 19. Jahrhunderts zurückging. Man bezeichnete diese Praxis als „Altarruf.“ Die Zuhörer wurden aufgefordert durch ein Zeichen wie das „Heben der Hand“ oder durch das „Nach-Vorne-Kommen“ und „Sprechen eines Übergabegebets“ zu signalisieren, dass sie sich „bekehrt“ hatten. Billy Graham und andere führten auch das Ausfüllen von „Entscheidungskarten“ ein, um Bekehrungen zu dokumentieren. Unzählige Studien seit den 1960er Jahren weisen übereinstimmend darauf hin, dass vielfach weniger als zehn Prozent (die BGEA spricht in einer Studie sogar von lediglich zwei Prozent) tatsächlich als Neubekehrte gelten können.5

Nicht nur Evangelikale aus den USA, sondern auch der renommierte britische Prediger und Autor Martyn Lloyd-Jones kritisierte Billy Graham sowie dessen evangelistischen Altarruf und forderte eine Diskussion darüber, wie biblisch der Altarruf letztlich sei. Lloyd-Jones sah Charles Finney als den Vater des Altarrufs an und datiert den Beginn dieser Praxis auf das Jahr 1820. Seiner Ansicht nach warnten schon die Puritaner vor einem „falschen Bekenntnis“ oder „vorübergehendem Glauben.“6 Billy Graham reagierte auf die Kritik und die eindeutigen Studien und versuchte durch intensive Nacharbeit alle diejenigen zu erreichen, die nach einer ersten „Entscheidung“ für Christus sich wieder vom Glauben abwandten. Grahams Ziel war es, mehr Menschen für eine dauerhafte und aktive Gliedschaft in einer christlichen Gemeinschaft zu gewinnen. Seine evangelistische Methode stellte er allerdings nicht in Frage, und so hat sich weder etwas an der Praxis der Altarrufe geändert, noch verzichtete die BGEA darauf, ihre stets neuen statistischen Erfolgsmeldungen zu verkünden.

Eine echte Bekehrung kann allerdings nicht durch eine Methode erzwungen werden, sondern sie wird ausschließlich vom Heiligen Geist gewirkt. Und echte Bekehrungen zeigen sich in der Frucht einer wahren Nachfolge. Seit langem weisen nicht wenige Evangelikale auf die vielen Scheinbekehrungen hin, die die modernen Großevangelisationen bis heute mit sich bringen. Beflügelt von der unerwarteten Zustimmung aller christlichen Gemeinschaften zu seinem evangelistischen Feldzug in London sollte Graham in Zukunft auch mit liberalen und nicht-evangelikalen Partnern zusammenarbeiten. „Diese Vorgehensweise wurde als notwendiges Mittel angesehen mit den besten Absichten, eine noch größere Zuhörerschaft für das Evangelium zu erschließen.“ 7

Cathy Burns hat in ihrem Buch Billy Graham and his Friends – A Hidden Agenda? (Billy Graham und seine Freunde – Eine geheime Agenda?) in einer nahezu 800 Seiten umfassenden Dokumentation alle Verbindungen von Billy Graham ausführlich dargelegt und einen Blick hinter die Kulissen seines Dienstes geworfen. Grahams Kontakte zu vielen einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik, Kirche oder Wirtschaft waren nicht immer weise. Im Jahre 1957 nahm Bischof Pike an einer Evangelisation Grahams in New York teil. Bei den Evangelisationen Grahams in San Francisco sowie in Detroit im Jahre 1959 respektive 1960 durfte Bischof James A. Pike das Gebet leiten. Bischof Pike war von 1952-1958 Dekan der Cathedral of St. John the Divine in New York, die schon damals für ihre extrem modernistische Ausrichtung bekannt war und heute unverhohlen New Age Gedankengut propagiert. Obwohl schon in dieser Zeit ohne Zweifel ersichtlich war, dass der liberale Pike wesentliche Lehren des Christentums wie die Trinität, die Fleischwerdung Christi, die Jungfrauengeburt Jesu und die Autorität der Heiligen Schrift ablehnte, bezeichnete Graham ihn als „einen großen geistlicher Führer.“ 8

Selbst die säkulare Presse lag in ihrer Beurteilung von Bischof Pike näher an der Wahrheit als Graham, als Newsweek über den Bischof schrieb, dass er das orthodoxe Christentum ablehnte. Der Okkultist Nat Freedland schreibt in seinem Buch The Occult Explosion (Die okkulte Explosion) ausführlich über Bischof Pikes „Bekehrung“ zum Spiritismus. 9 Pikes drogenabhängiger Sohn hatte sich nach einem LSD-Trip im Jahre 1966 das Leben genommen. Arthur Ford (1896-1971), ein bekanntes spiritistisches Medium in den USA in jener Zeit, stellte in Trance den Kontakt zwischen Pike und seinem verstorbenen Sohn her. Die Informationen des Spiritisten Ford stellten sich für Pike verblüffenderweise als richtig heraus und führten dazu, dass der „große geistliche Führer“ Pike im Januar 1968 ein Buch mit dem Titel The other Side: An Account of my Experiences with Psychic Phenomena (Die andere Seite: Ein Bericht über meine Erfahrungen mit paranormalen Phänomenen) herausbrachte, das zu einem Bestseller wurde.

Ohne die breite Unterstützung aller Kirchen wäre Billy Graham wahrscheinlich ein unbekannter Zeltevangelist mit einer bescheidenen Zuhörerschaft geblieben. Graham musste im Laufe seines Lebens Kompromisse eingehen, um sich die Unterstützung möglichst aller christlichen Kirchen und Gemeinschaften zu sichern. Ferner musste er auch für die finanzielle Unterstützung sorgen, um seinen weltweiten Predigt- und Mediendienst aufrechterhalten zu können. Die Verbindung Grahams zu dem Medienunternehmer Rupert Murdoch wurde immer wieder kritisiert. Graham begegnete Murdoch zum ersten Mal im Jahre 1959 in Australien. In seiner Biographie erinnert sich Graham: „In Adelaide traf ich Rupert Murdoch zum ersten Mal… Später wurden wir Freunde, und er hat unseren Dienst durch seine Veröffentlichungen in vielen Teilen der Welt in großem Maße unterstützt.“10

Dem Multimilliardär Rupert Murdoch gehören heute diverse Zeitungs- und Buchverlage, Radio- und Fernsehsender sowie Filmstudios in der ganzen Welt. Neben Billy Graham wurde auch Rick Warren von Murdoch mit Millionenbeträgen bedacht, um seine Vision voranzutreiben. Murdoch gilt als zwielichtig, weil er auf der einen Seite seinen Medieneinfluss dazu nutzt, ein konservativ-christliches Weltbild zu verbreiten, aber auf der anderen Seite sein Geld mit Hardcore Pornosendern sowie Büchern pornographischen Inhalts verdient.

Der Apostel Paulus lehrte, dass Diener des Wortes materielle oder finanzielle Unterstützung annehmen dürfen. Doch aus der Praxis, wie Paulus seinen eigenen Dienst finanzierte, darf man durchaus etwas lernen. An Orten, wo Paulus neue Gemeinden gründete, lehnte er finanzielle Gaben ab. Als er in Thessaloniki weilte, erhielt er Geld aus Philippi, wo er bereits eine Gemeinde gegründet hatte. Als er allerdings in Philippi weilte, nahm er von den Philippern nichts an. Er wollte mit den gängigen Praktiken seiner Zeit nichts zu tun haben, denn um so populärer ein Redner in jener Zeit war, um so mehr Geld konnte er verlangen. Paulus sprach auf den Märkten jener Zeit, ohne Geld zu fordern. Er wollte zeigen, dass sein Leben aus Gnade im Reich Gottes sich von der Welt unterscheidet. Sollte Paulus einmal nicht genug Unterstützung erhalten, dann arbeitete er als Zeltmacher.

In der Antike gab es ein Wohltätigkeitssystem, indem die Elite und die Wohlhabenden Dienste und Arbeiten an die arme Bevölkerung vergaben. Dies taten sie nicht ohne Eigennutz. Im Gegenzug verlangten sie Loyalität, und ferner erwarteten sie, dass alle, die von ihnen Arbeit und Geld bekamen, sie nicht kritisierten. Es war ein manipulatives Netzwerk von gegenseitigen Abhängigkeiten. Dieser falsche Zeitgeist und die Knechtschaft des Geldes lehnte Paulus ab. Er entschied stets mit großer Weisheit, von wem er Geld annahm und ob er überhaupt Geld annahm oder stattdessen lieber selbst arbeitete. Hier mag Graham nicht immer weise gehandelt haben.

Zu Beginn seines Dienstes in den 1950er Jahren musste sich Graham immer wieder verteidigen, wenn er zu eng mit Kirchen und Gemeinschaften zusammenarbeitete, die keine protestantische Ausrichtung hatten. Ende der 1950er Jahre verfasste Robert O. Ferm, einer der Mitarbeiter in der BGEA, eine Schrift mit dem Titel Co-Operative Evangelism (Ko-operative Evangelisation), um sich gegen Kritik zu verteidigen, Graham würde Kompromisse eingehen. In der Schrift wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Teilnahme der römisch-katholischen Kirche an Veranstaltungen der BGEA ausgeschlossen war.11

Das sollte sich spätestens in den 1970er Jahren ändern, als Graham zusammen mit Robert O. Ferm an einer Evangelisation auf dem Gelände der Notre Dame University, einer führenden katholischen Universität in den USA, teilnahm. Was vor mehr als einem Jahrzehnt noch undenkbar gewesen wäre, war hier bereits Realität. Graham sagte anlässlich dieser Veranstaltung, die er zusammen mit der katholischen Kirche organisierte: „Ich empfinde, dass ich allen Kirchen angehöre. Ich fühle mich in einer anglikanischen Kirche oder baptistischen Kirche oder einer Brüdergemeinde oder einer römisch-katholischen Kirche gleichermaßen zuhause. Heute können wir uns auf 100 Prozent Unterstützung der katholischen Kirche in diesem Land stützen… Und die Bischöfe und Erzbischöfe und der Papst sind unsere Freunde.“12 Und bereits 1966 sagte Graham: „Ich stehe den Katholiken näher als den radikalen Protestanten.“13 Unter „radikalen“ Protestanten verstand Graham die konservativen Evangelikalen, die seinen ökumenischen Kurs nicht guthießen.

Wer Billy Graham kennt, weiß, wie oft er den Ausspruch „Die Bibel sagt“ verwendete. Doch als er 1986 gefragt wurde, wie er es denn mit der theologischen Vielfalt seiner Partner halte, antwortete er: „Evangelisation ist das einzige Wort, das uns verbindet.“14 Evangelisation, Grahams zentrales Anliegen, war für ihn zur höchsten und alleinigen Priorität geworden. Biblische Lehre – „die Bibel sagt“ – musste sich diesem Ziel unterordnen. Dass auch die liberalen Protestanten gern auf den evangelistischen Zug Billy Grahams aufsprangen, lässt sich damit erklären, dass auch sie wenigstens einen Teil der „Bekehrten“ zu ihrer Herde leiten wollten. Graham profitierte von der Unterstützung der Liberalen, und die Liberalen konnten einen Teil der Seelenernte, die Graham einbrachte, für sich verbuchen.

Die solide Biographie von William Martin über Billy Graham bringt unverhohlen ans Licht, dass Grahams Entschlossenheit, sich von sektiererischen christlichen Gruppierungen fern zu halten, im Laufe seines Lebens immer mehr schwand. Martin schreibt: „In zunehmendem Maße, und insbesondere nach einer engen Kooperation mit den liberalen Landeskirchen in England, Schottland und auf dem Kontinent, akzeptierte Graham zuerst die Zusammenarbeit mit allen offenkundig modernistisch-protestantischen Gruppierungen, um sie dann zu befürworten und schließlich sogar einzufordern; zu diesen Gruppierungen zählten die Unitarier ebenso wie die Mormonen und Zeugen Jehovas, deren Lehren sowohl von Evangelikalen wie Protestanten verworfen wurden.“15

Doch Graham scheint am Ende seines Lebens noch weiter zu gehen, als lediglich die christlichen Kirchen, Gemeinschaften und Sondergruppen (Sekten) in sein weites Herz zu schließen. Das Nachrichtenmagazin idea stellte in einem Artikel im Jahre 2005 die Frage: „Ist der Evangelist Billy Graham ein Allversöhner?“ Bereits im Jahre 1997 war Graham in die Schlagzeilen gekommen, als er in einem Gespräch mit dem Fernsehevangelisten Robert Schuller sagte: „Ich glaube, dass jeder, der Christus liebt oder ihn kennt, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, zum Leib Christi gehört. Auch die, die den Namen Jesus nicht kennen, die aber in ihren Herzen wissen, dass sie etwas brauchen, was sie noch nicht haben, und die sich dann diesem Licht in sich zuwenden, auch die sind gerettet und werden mit uns in den Himmel kommen.“16

In einem Artikel von Jon Meacham im Nachrichtenmagazin Newsweek aus dem Jahre 2006 lautet die Antwort Grahams auf die Frage, ob der Himmel für „gute Juden, Muslims, Buddhisten, Hindus oder weltliche Leute“ verschlossen bleibe: „Diese Entscheidung trifft allein Gott. Ich wäre töricht, wenn ich darüber spekulieren würde, wer dort sein wird und wer nicht. Ich glaube, dass Gottes Liebe umfassend ist. Er gab seinen Sohn für die ganze Welt, und ich glaube, dass er jeden Menschen liebt, unabhängig davon, was für ein Etikett er trägt.“17

Iain H. Murray erinnert an Martin Luthers Worte, dass Nachgiebigkeit und Härte die beiden größten Schwächen sind, von denen alle Irrtümer der geistlichen Führer herrühren. Grahams Anliegen, nicht zu hart zu sein, ist bestimmt ein positives Merkmal seines Charakters. Doch indem er die eine Schwäche zu vermeiden suchte, wurde er Opfer der anderen. Murray schreibt über die Stärken und Schwächen eines Mannes, der angetreten war, die evangelikale Flagge aufzurichten: „Es war ein schwerwiegender Fehler zu glauben, dass seine vielen nicht-evangelikalen Freunde wahre Christen sein mussten. Graham lag richtig in seinem Anliegen, alle Menschen zu lieben, aber ausnahmslos jedem das Band der ökumenischen Liebe anzubieten, ist nicht unbedingt das gleiche. ‚Hütet euch vor den Menschen’ (Mt 10,17) ist ebenso eine Christenpflicht. Ein großzügiger Geist, eine von Grahams Stärken, erwies sich zugleich als seine Schwäche… Die Geschichte hat gezeigt, dass sein Unvermögen, Gefahren zu erkennen, sein Entschluss, nur noch versöhnend zu wirken und sein zunehmendes Engagement für die Ökumene seine ursprünglichen Überzeugungen aushöhlten.“18

Grahams Leben und Dienst spiegelt die Problematik des ganzen Neo-Evangelikalismus wider. Neoevangelikale wollten sich gegenüber den Liberalen abgrenzen oder sie für das wahre Evangelium gewinnen, aber zugleich befürworteten sie das soziale Evangelium und die Ökumene, die selbst vom liberalen Zeitgeist geprägt waren. Der konservative Evangelikalismus (Fundamentalismus) blieb seiner Botschaft des Evangeliums treu. Das ist sein Verdienst. Die Neoevangelikalen wollten den konservativen Evangelikalismus reformieren, weil er ihrer Ansicht nach zu sehr von der Welt zurückzog und sich den akademischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die die Zeit mit sich brachte, nicht stellte, um stattdessen ihre eigenen Traditionen in einer oft zu militanten Weise zu vertreten. Diese Kritik mag teilweise zutreffend sein.

Doch auch die Neoevangelikalen sollten ein Ohr für die Kritik der konservativen Evangelikalen haben. Letztere werfen dem Neo-Evangelikalismus einen Mangel an Ehrfurcht vor Gottes Wort, Verweltlichung, eine unreflektierte Übernahme säkularer Methoden, das zweifelhafte Streben nach akademischer Anerkennung, die Preisgabe zentraler biblischer Wahrheiten sowie die Neigung zu einem ökumenischen Pluralismus und einer nicht schriftgemäßen Einheit vor. Beide Lager könnten von dem weisen Ratschlag A. W. Tozers lernen, der einmal sagte: „Die Einheit unter Christen wird meiner Ansicht nach erst mit der Wiederkunft Christi hergestellt werden. Es gibt zu viele Faktoren, die bis dahin der Einheit entgegenwirken. Aber ein größeres Maß an Einheit könnte zustande kommen, wenn wir uns alle der Wahrheit mit einer tieferen Demut stellen würden.“19 Vielleicht haben Evangelikale wie Neoevangelikale eine „Reformation der Demut“ nötig, um ein größeres Maß an Einheit zu schaffen und ein kraftvolleres Zeugnis in der Welt zu sein.

Über jede wahre Bekehrung, die durch den Dienst Billy Grahams zustande kam, freuen sich die Engel des Himmels. Die wahre Zahl der Bekehrten ist allerdings nicht in irdischen Statistiken niedergeschrieben; sie ist alleine im Himmel angeschrieben. Dass der Neo-Evangelikalismus ebenso seine Schattenseiten hat wie der konservative Evangelikalismus ist gleichermaßen wahr. Wer den größeren Schaden über Gottes Volk gebracht hat, wird sich in der Ewigkeit erweisen. Alleine Gott wird über allem Tun der Menschen ein gerechtes, der Wahrheit entsprechendes Urteil sprechen nach dem Evangelium durch Jesus Christus (Röm 2,2; 2,16). Um an die Worte Billy Grahams anzuknüpfen: „Die Bibel sagt“ wird letztlich Gottes Maßstab sein.

Anmerkungen

1  URL: http://www.cti-advertising.com/files/publicationfiles/ChristianityTodayrev03_09.pdf.
2  URL: http://www.cti-advertising.com/.
3  In meinem Buch Der Angriff auf die Wahrheit (CLV Bielefeld) habe ich in Kapitel 2 (S.21-57) beschrieben, wie die Vision des Fuller Seminars, einen neuen Evangelikalismus (Neo-Evangelikalismus) zu schaffen, der theologisch konservativ – also bibeltreu – bleiben und zugleich modern sein wollte, aus meiner Sicht gescheitert ist. Das Gedankengut des Liberalismus, des Ökumenismus, der Charismatik und bisweilen auch des New Age haben das Fuller Seminar in Teilen erfasst. Von der Bibeltreue, die man bewahren wollte, blieb in den Jahrzehnten seit Gründung des Seminars immer weniger übrig.
4  Christian Smith, American Evangelicalism: Embattled and Thriving. University of Chicago Press, 1998, S.12.
5  Detaillierte Statistiken und geschichtliche Hintergründe in Kapitel 10 in meinem Buch Der Angriff auf die Wahrheit (CLV).
6  Martyn Lloyd-Jones on the Altar Call. URL: http://www.banneroftruth.org/pages/articles/article_detail.php?422.
7  Iain H. Murray, Evangelicalism Divided, Banner of Truth Trust, Edinburgh, 2001, S.58.
8  Dr. Cathy Burns, Billy Graham and his Friends – A Hidden Agenda? Sharing, 2002, S.75.
9  Nat Freeland, The Occult Explosion, Michael Joseph, London, 1972, S.208-210.
10 Dr. Cathy Burns, Billy Graham and his Friends – A Hidden Agenda? Sharing, 2002, S.387
11 Iain H. Murray, Evangelicalism Divided, Banner of Truth Trust, Edinburgh, 2001, S.67.
12 Ebd., S.68-69.
13 Dr. Cathy Burns, Billy Graham and his Friends – A Hidden Agenda? Sharing, 2002, S.439
14 Ebd., S.70.
15 Ebd., S.35.
16 Ist Billy Graham ein Allversöhner?, ideaOnline, 8.8.2005.
17 Jon Meacham, Pilgrim’s Progress. Artikel in Newsweek vom 14. August 2006. URL: http://www.newsweek.com/id/46365.
18 Iain H. Murray, Evangelicalism Divided, Banner of Truth Trust, Edinburgh, 2001, S.64,65,66. 19 Ron Eggert, The Tozer Topical Reader, Christian Publications, Camp Hill, Pennsylvania, 1998, S.263

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