Maos Tote (M. Radunski)

Michael Radunski

Ein grausamer Befund

Maos Politik in den Jahren 1958 bis 1962 kostete 45 Millionen Menschen das Leben

Es ist eines der grausamsten Kapitel der chinesischen Geschichte: Maos „Großer Sprung nach vorn“. Mehrere Millionen fielen ihm zum Opfer, kaum eine Familie blieb verschont. Und dennoch ist Maos brutales Massenexperiment bis zum heutigen Tage in China ein Tabuthema: Es gibt kein Denkmal für die Opfer, Erinnerung ist verboten. Auch im Westen kennen nur wenige das wahre Ausmaß dieser grausamen Zeit ‑ zumindest bisher. Nun hat Frank Dikötter ein bedrückendes Buch über die Grausamkeiten der Jahre 1958 bis 1962 geschrieben. Wohl als einer der ersten westlichen Historiker hatte er Zugang zu den Archiven der Kommunistischen Partei auf Provinz- und Lokalebene. Die Quellen fügen sich zusammen zu einem umfassenden Bericht über die dramatische Situation in chinesischen Städten und Dörfern.

Was viele Historiker bisher lediglich vermuteten und Demographen nur zu schätzen wagten, wird durch Dikötters Akteneinsicht zum grausamen Befund: Mindestens 45 Millionen Menschen kamen während Maos größenwahnsinnigern Experiment des „Großen Sprungs“ ums Leben. Millionen verhungerten, doch viele wurden auch zu Tode gefoltert, fielen der Willkür lokaler Parteikader zum Opfer. 45 Millionen ‑ eine unfassbare Zahl. Sie übertrifft schlimmste Befürchtungen. Selbst Jung Chang schätzte in ihrer Mao‑Biographie die Zahl der Toten auf „lediglich“ 38 Millionen.

Das Buch veranschaulicht, mit welcher Skrupellosigkeit Mao das Sterben der Menschen in Kauf nahm. „Eine Revolution ist keine Dinnerparty“ hat der „Große Steuermann“ einst gesagt. Und nichts anderes als eine Revolution wollte der allmächtige Mao. Der „Große Sprung nach vorn“ war ein von oben diktiertes, äußerst brutales Massenexperiment. China sollte zum „großen Sprung“ ansetzen durch die bloße Kraft seiner Menschen. Rücksicht auf Verluste, auf äußere Umstände oder auf das Schicksal der Chinesen nahm Mao nicht: „Wir müssen mehr Korn produzieren. Wenn dafür die Hälfte der Menschen sterben muss, soll es so sein.“ Dabei folgte Maos Grausamkeit einer inneren Logik. Sie war nicht willkürlich, sondern rational motiviert. Alles wurde dem Ziel untergeordnet.
Angesichts solcher Aussagen kann die hohe Zahl der Toten kaum überraschen. Aber genau hierin liegt für Historiker ein Problem: Wie kann man dem Leser eine solche Zahl begreifbar machen? Dikötter nimmt den Leser hierfür mit in die Dörfer, mit in den grausamen Alltag der Menschen. Er beschreibt, wie sie hungerten wie sie zu leiden hatten, und wie sie immer wieder nach Auswegen suchten für sich, ihre, Familie und Nachbarn. Er nimmt den Leser mit in die Provinzen nach Yunnan, nach Sichuan oder auch nach Gansu. Dikötter erzählt die Schicksale einzelner Menschen ‑ wie das des Jungen Wang Ziyou, dem am 30. November 1960 ein Ohr abgeschnitten wurde; seine Beine wurden mit Stacheldraht zusammengebunden und ein zehn Kilo schwerer Stein wurde ihm auf den Rücken geworfen und mit einem glühenden Eisenstab die Haut verbrannt. Sein Vergehen: Er hatte auf einem Feld eine Kartoffel ausgegraben. Ein anderer Junge aus Hunan stahl eine Handvoll Weizen. Darauf zwang der Dorfvorsteher den Vater, den eigenen Sohn lebendig zu begraben.

Dikötter vermeidet unnötige Dramatik und Empathie. Doch bei aller Nüchternheit ist der Buchtitel irreführend. „Mao’s Great Famine“ suggeriert, dass es sich um eine Naturkatastrophe in Form einer Hungersnot handelte, die ihre Ursachen in äußeren, nicht oder nur schwer beeinflussbaren Umständen habe. Eine solche Argumentation wäre nichts anderes als die Wiedergabe der offiziellen Propaganda der damaligen Zeit: der „Zehn‑Finger-Theorie“. Hiernach symbolisieren neun Finger die Errungenschaften der Partei und lediglich der eine verbleibende Finger steht für die wenigen „Misserfolge“ des Projekts. Doch Dikötter zeigt, wie Ineffizienz, Verschwendung und Willkür zum Leiden beitrugen. In einem Land, in dem Millionen Menschen hungern, verschimmelt der Weizen in den Bahnhöfen, weil schlicht Züge für den Transport fehlen. Die Ernte verdorrt auf den Feldern, weil Menschen entweder zum Arbeitseinsatz für ein Staudammprojekt gezwungen werden, oder weil sie schlicht schon zu schwach sind, um die Ernte einzuholen.

Der Autor setzt Vorwissen voraus. Während Mao vielen Lesern sicherlich bekannt ist, werden Liu Shaoqi oder Tschau En‑Iai nur die wenigsten kennen. Auch der innere Aufbau der Partei kommt zu kurz. Zudem wäre eine Einordnung des „Großen Sprungs“ in die chinesische Geschichte wünschenswert, zumal die Zeit zwischen der Gründung der Volksrepublik 1949 und der Kulturrevolution 1966 bis 1976 zu den bisher weniger erforschten Jahren der chinesischen Geschichte gehört. Offen bleibt, inwiefern Dikötter wirklich Zugang zu bisher verschlossenen Archiven hatte. Die Begründung, warum ihm Einsicht gewährt wurde, bleibt er schuldig. Er schränkt ein, dass er nur ausgewählte Archive benutzen durfte. Das Buch ist ein wichtiger Schritt in der Forschung über den „Großen Sprung“. Es ist die erste umfassende Synthese eines westlichen Wissenschaftlers auf der Grundlage von chinesischen Quellen. Das Grauen wird Gewissheit. China‑Interessierte sollten es lesen, um abseits von Wachstumsrekorden, Glitzer und Glamour der aufstrebenden Metropolen mehr über ein Land zu erfahren, das die Welt in Zukunft entscheidend mitprägen wird.
MICHAEL RADUNSKI

Aus: Frank Dikötter ‑ Mao’s Great Famine. The History of China’s Most Devattstating Catastrophe