Islam in Deutschland?
Von Tilman Nagel, Islamwissenschaftler
Das Christentum ist eine Bekenntnisreligion. Man wird nicht als Christ geboren, man wird vielmehr durch das Sakrament der Taufe in die Gemeinschaft der Glaubenden aufgenommen. Dieser Akt wird später durch die Erstkommunion sowie durch die Firmung oder Konfirmation bekräftigt, denen Unterweisungen in den Glaubenslehren vorangehen.
Anders der Muslim! Jeder Mensch wird durch Allah im Mutterleib herangebildet und kommt folglich als Muslim zur Welt. Es sind negative Einflüsse, etwa ein verfehlter Elternwille, die bewirken, dass Neugeborene zu Juden, Christen oder gar zu Atheisten werden: Allah hat dem Satan gestattet, die Menschen zum Ungehorsam zu verführen. So geraten viele in einen Widerspruch zu der Daseinsordnung des Islams, die Allah für das fortlaufend durch ihn geschaffen werdende Diesseits vorsieht. Denn Allah überlässt das Diesseits nicht einen Augenblick sich selber; alles, was existiert und was in jedem Augenblick geschieht, wird unmittelbar durch ihn geschaffen. Tut der Mensch einen Schritt, so nicht dank seiner eigenen körperlichen Beschaffenheit, seiner eigenen Kraft und seinem eigenen Entschluß, sondern allein deshalb, weil Allah in ihm in dem betreffenden Augenblick alle Voraussetzungen für eben diesen Schritt schafft; nur dem äußeren Anschein nach ist der Mensch der Akteur. Die göttliche Daseinsordnung ist auf dieses ununterbrochene Schöpfungshandeln zugeschnitten. Sie setzt voraus, dass Allah – anders als der Schöpfer des Alten Testaments, der nach dem Sechstagewerk am siebten Tag ausruhte und dadurch der Welt ein gewisses Maß an Eigenständigkeit gewährte – unentwegt tätig ist (Sure 2, 255; Sure 55, 29).
Die zweigliedrige Formel „Es gibt keinen Gott außer Allah. Mohammed ist der Gesandte Allahs“ wird meist unzutreffend als das muslimische Glaubensbekenntnis bezeichnet. Ihr wird jedoch stets „Ich bezeuge, dass…“ vorangestellt. Der Muslim bezeugt den Sachverhalt, der sein Verständnis von der Welt und ihrem Schöpfer ausmacht, den Sachverhalt zudem, in dem die Befindlichkeit des Menschen im fortlaufend durch Allah geschaffen werdenden Diesseits in endgültiger Wahrheit zur Erscheinung kommt: Es gibt keine selbständig und unabhängig wirkende Macht außer Allah; alles, was im Diesseits ins Dasein gebracht wird, ist in jedem Augenblick seines Daseins unmittelbar von Allah abhängig und wird in allen Regungen durch ihn so und nicht anders festgelegt. Indem das ganze Diesseits mit all seinen Gegenständen und seinen belebten Wesen in jedem Augenblick unmittelbar zu Allah ist, muss es als die beste aller Welten aufgefasst werden, wie der Theologe al-Gazali (gest.1111) lehrte.
Der erste Satz der zweigliedrigen Formel weist somit auf den unüberbrückbaren Abstand zwischen dem gänzlich unabhängigen Allah und dem vollkommen von Allahs unauslotbarem Bestimmen und Schöpfungshandeln abhängigen Diesseits hin. In der islamischen Theologie wird dieser Abstand oft als die seinsmäßige Konsequenz des unüberwindbaren Unterschiedes zwischen demjenigen interpretiert, dem allein alle Verehrung und Anbetung gebühren, und der Kreatur, der es obliegt, unverwandt Allah zu verehren und anzubeten. Diesen Unterschied und die Folgen, die er für den mit dem Verstand begnadeten Menschen hat, drückt der Begriff „Islam“ aus:
Niemand kann eine trefflichere Daseinsordnung haben als der jenige, der „das Gesicht“ – als Metapher für die Person – „ganz Allah preisgibt“, heißt es beispielsweise in Sure 4, Vers 125, wobei „preisgeben“ mit einer verbalen Form von „Islam“ wiedergegeben ist. Der Mensch, der Muslim, der seine völlige Angewiesenheit auf Allah erkennt, wendet in Verehrung und Anbetung das Selbst ganz auf Allah. Denn er weiß, dass es außer diesem keine eigenständige Kraft gibt, und indem er dies bezeugt, unterdrückt er jede Vorstellung von selbständigen Kräften neben Allah, jede „Beigesellung“, wie der Muslim sagt. „Beigesellung“ ist die schlimmste Verfehlung, die der Mensch begehen kann.
Indem sich der Mensch bewusst macht, dass er einzig den einen in ununterbrochenem Schöpfungshandeln begriffenen Allah zu verehren hat, kommt Mohammed ins Spiel. Denn ihm allein, dem durch Allah auserwählten Gesandten, verdankt der Muslim das Wissen davon, wie er dies gemäß Allahs Willen zu tun hat. Da er zudem weiß, dass sein Dasein vollkommen durch Allah bestimmt wird wie auch die Welt, in der es nach Allahs Willen abläuft, gibt es für ihn nicht – wie beispielsweise für den Christen – eine Grenze zwischen einem profanen Daseinsvollzug und Handlungen, deren Durchführung eine Weihe voraussetzt.
Die islamische „Religion“ – wenn man diesen durch die christliche Tradition geprägten Begriff hier überhaupt verwenden will – ist daher eine alle Regungen des Menschen erfassende Daseinsordnung. Deren Einzelheiten sind aus dem Koran, der unmittelbaren Rede Allahs, und aus dem Hadith, den Überlieferungen vom göttlich inspirierten Reden und Handeln Mohammeds, abzulesen und abzuleiten. Das Resultat dieser Tätigkeit ist die Scharia, der nach islamischer Vorstellung die Herrschaft und das Gemeinwesen, die Gesellschaft und das Denken, Reden und Handeln des Einzelnen immer und ausnahmslos zu unterwerfen sind, wie auch das ganze Diesseits dem fortwährenden Bestimmen und Schaffen Allahs unterliegt. Der Gegenstandsbereich der Scharia wird dementsprechend als unbegrenzt aufgefasst. Es gibt Schriften, die dem Muslim erläutern, wie er auch die banalsten Verrichtungen schariagerecht auszuführen und wie er sie als den Ausdruck einer ununterbrochenen Verehrung und Anbetung Allahs zu gestalten habe. Das Fetwa-Wesen unterstützt ihn bei diesen Bemühungen. So verwirklicht sich, was der Koran den Muslimen zusagt: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen gestiftet wurde…“ (Sure 3, 110).
Die „beste Gemeinschaft“ verdankt ihre Herausbildung und ihren Fortbestand den Schariagelehrten (Ulama). Sie vermitteln den Muslimen die auf dem Koran und dem Hadith aufbauende Weltdeutung und Daseinsordnung. Die Einzelheiten leiten sich, so der Anspruch, mittels Verstandesschlüssen aus Aussagen des Korans und des Hadith her. Die Autorität dieser beiden Quellen gilt ebenfalls als durch einen Verstandesschluss gesichert: Da ihr Inhalt auf Allah zurückgeht, muss er wahr sein, auch wenn der Verstand des Menschen in seiner Schwäche manche ihrer Aussagen nicht begreift. Indem der Muslim diese Vorgaben billigt, erscheint ihm der Islam als der Verstandesglaube schlechthin. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert konnte in der islamischen Welt jedoch nicht mehr geleugnet werden, daß die europäische Zivilisation der eigenen überlegen war. Wie konnte die Deutungshoheit der Ulama, wie konnte der Islam selbst angesichts einer Kultur gerettet werden, die Welt und Gott als zwei getrennte Gegebenheiten betrachtet? Die Möglichkeit einer islamischen Aufklärung, einer Säkularisierung bestand und besteht nicht. Denn es gehört, wie eingangs dargelegt wurde, zu den Grundlagen des Islams, dass Allah niemals ruht und dass das „Reich Gottes“, das die Christen erst am Ende der Zeit erwarten, als das fortwährend durch Allah geschaffen werdende Diesseits bereits existiert. Es gibt keinen vom Menschen in eigener Verantwortlichkeit zu gestaltenden Daseinsbereich.
Versuche, ihn gleichwohl zu postulieren oder wenigstens die Naturwissenschaften von der koranischen Grundlage abzulösen und gleichzeitig an der zweigliedrigen Bezeugungsformel festzuhalten, wurden unternommen. Sie vermochten jedoch wegen ihrer eklatanten Unstimmigkeiten nicht zu überzeugen. Reformbestrebungen, die unabhängig von der europäischen Herausforderung in Gang gekommen waren und im 19. Jahrhundert aufgegriffen wurden, zielten darauf ab, die Kernbotschaft des Korans von allen Trübungen zu befreien. Insbesondere der Satz „Es gibt keinen Gott außer Allah“ sollte nicht mehr durch die „Beigesellungen“, die in der „besten Gemeinschaft“ um sich gegriffen hätten, beeinträchtigt werden. Die komplizierten Verfahren der Herleitung der Scharianormen, die allein von den Ulama beherrscht wurden und die diesen den Status von Glaubensautoritäten verliehen, galten als Beispiele für eine sündhafte „Beigesellung“. Man müsse sich wieder streng an den Koran und das Hadith halten.
In den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnenden intellektuellen Auseinandersetzungen mit Europa wurden diese Reformideen erneut aktuell. Der Ägypter Muhammad Abduh (1849–1905) verarbeitete sie zu einem Gedankengebäude, das bis heute die politisch-religiösen Machtansprüche des Islams prägt. Da der Islam die Daseinsordnung des Verstandes sei und der Verstand nach Allahs Willen den Menschen zum Menschen mache, sei der Islam die Religion, die für die Menschheit im Zustand ihrer Reife bestimmt sei. Andere Religionen, so das Christentum, passten lediglich zu vorausgehenden Entwicklungsstadien.
Warum aber verhält es sich dem Augenscheine nach in der Moderne anders? Der Islam, so Muhammad Abduh, habe über Jahrhunderte wie ein Arzt gehandelt, der die Leiden seiner Patienten, z.B. des Christentums, behandelt und sich dabei angesteckt habe. Er habe den Christen im Mittelalter die rationale Naturforschung vermittelt, sei aber mit dem Bazillus der „Beigesellung“ infiziert worden: Er habe Menschen als Vermittler der Beziehungen zu Allah akzeptiert, wie erwähnt wurde. Im von solchen Beimengungen befreiten, reformierten Islam erblickt Muhammad Abduh nicht nur die Grundlage für einen Wiederaufstieg der islamischen Welt, sondern die Religion und Daseinsordnung für die ganze, gereifte Menschheit, eine Daseinsordnung, in der Religionsausübung und Alltagsleben gerade nicht voneinander getrennt sind. Das bedeutet auch, dass der Islam als die künftige Menschheitsreligion die uneingeschränkte Herrschaft der Scharia etablieren muss, durch die die weltlichen Gesetze einer freiheitlich-demokratischen Ordnung ausnahmslos zu ersetzen sind. Es sei einer der grundlegenden Mängel des Christentums, dass es seine Machtentfaltung nicht institutionell mit der Auslegung und Verkündung der Heilsbotschaft verbinde.
Muhammad Abduhs Gedanken wurden stilbildend für die Auseinandersetzungen der Muslime mit der westlichen Zivilisation einerseits wie auch andererseits für die Hoffnungen auf eine zukunftsfähige Gestaltung islamischer Gesellschaften und Staaten. Bis heute werden diese Vorstellungen vielfältig variiert, sie liegen Strömungen des Islams zugrunde, die man als gemäßigt bzw. liberal charakterisiert, wie auch solchen, die den Kampf mit der Waffe auf ihre Fahnen geschrieben haben. Wem ist wohl damit gedient, wenn man vor diesen Tatsachen die Augen verschließt und dekretiert: „Der Islam gehört zu Deutschland“?
Professor Dr. Tilman Nagel, Islamwissenschaftler, Jahrgang 1942, lehrte am Seminar für Orientalische Sprachen bei der Universität Bonn und Göttingen.