Dr. René Pache
INSPIRATION UND AUTORITÄT DER BIBEL
Erster Teil: Die Offenbarung
Zweiter Teil: Das Wort
1. Kapitel: Das göttliche Wort
2. Kapitel: Das geschriebene Wort
3. Kapitel: Das fleischgewordene Wort und das eingegebene Wort
Dritter Teil: Die Inspiration
1. Kapitel: Verschiedene Auffassungen der Inspiration
2. Kapitel: Die volle und wortgemäße Inspiration der Schrift
3. Kapitel: Die Einheit der Bibel
Vierter Teil: Zeugnisse über die Inspiration der Heiligen Schrift
Fünfter Teil: Die Autorität der Schrift
1. Kapitel: Die übernatürlichen Wesenszüge der Schrift
2. Kapitel: Die Autorität der Schrift
– Der hier vorliegende Text wurde von mir gekürzt. Er ist dennoch recht ausführlich geblieben. Auch wegen der gründlichen Arbeit des Autors unter Anführung zahlreicher Bibelstellen, und wegen der grossen Bedeutung dieser Fragen in unserer heutigen Auseinandersetzung. Am Respekt vor der Autorität der Heiligen Schrift entscheidet sich auch heute noch Wohl und Wehe des Christentums. Das komplette Buch ist erhältlich zB bei amazon.de.
Die Hervorhebungen im Text sind von mir. Horst Koch, Herborn, im November 2012 –
Vorwort
Meine Lippen sollen dich loben, denn du lehrst mich deine Gebote. Meine Zunge soll singen von deinem Wort! (Ps. 119, 171)
Eine der wichtigsten Fragen, vor die sich der Christ gestellt sieht, ist die nach der Inspiration und nach der vollen Gültigkeit der Bibel. Es ist klar, daß die Wahrheiten, die Gott, Christus und das Heil betreffen, für ihn die größte Bedeutung haben. Aber wie können wir diese Wahrheiten kennenlernen, wenn nicht allein durch die Schrift? Deshalb hat man die Inspiration der Bibel den Ersten der Lehrsätze genannt: Wenn sie wirklich von Gott ist, mit seiner Vollmacht ausgestattet und dem Menschen voll zugänglich gemacht, beruht die ganze offenbarte Religion auf fester Grundlage. Wenn an der Inspiration gezweifelt oder wenn sie nur teilweise anerkannt wird, je nach der Erfahrung oder Meinung des Lesers oder des Predigers, dann wankt alles. Wenn man einem großen Teil des Textes gegenüber Mißtrauen hegt, verwirft man nicht nur das Zeugnis der biblischen Verfasser und das von Christus selber, man bezweifelt auch ihre Wahrhaftigkeit und sittliche Zuverlässigkeit.
Mehr als je wird in der Theologie heute um diese Frage gekämpft. Schon der erste Angriff des Versuchers untergrub Gottes Wort: „Sollte Gott wirklich gesagt haben … ?“ (l. Mose 3,1). Dennoch haben während langer Zeit die Kirchen und die Synagoge die Bibel für das gehalten, was sie selber zu sein beansprucht: das Wort Gottes. Seit zwei Jahrhunderten werden die Angriffe gegen die Schrift immer heftiger. Wir nähern uns sichtlich dem Zeitalter, von dem Paulus spricht: „Jede (heilige) Schrift ist von Gott eingegeben … Verkündige das Wort … Denn es wird eine Zeit kommen, wo sie die gesunde Lehre nicht ertragen werden, sondern sich nach ihren eignen Begierden Lehrer in Menge verschaffen werden, um sich die Ohren kitzeln zu lassen, und von der Wahrheit werden sie die Ohren abwenden, dagegen frei sich zu den Fabeln hinwenden“ (2. Tim 3,16; 4,2‑4).
Alles läuft auf die Frage nach der Wahrheit hinaus. Sagen wir mit Christus: „Dein Wort ist die Wahrheit“ (Joh 17,17) oder sprechen wir mit Pilatus: „Was ist die Wahrheit?“ (18,38) ?
Das Ziel dieses Buches besteht darin, zuerst zu prüfen, was die Bibel selber über die Offenbarung und ihre Eingebung aussagt; dann untersuchen wir genau, was Christus und die Kirche im Lauf der Jahrhunderte von ihr bezeugten, und schließlich geben wir einen Uberblick über einige sie betreffende Auffassungen. Möchte die wunderbare Wahrheit der Schrift den Lesern dieses Buches so klar erscheinen, daß für sie gelten mag, was Paulus einst den Thessalonichern schrieb:
„Wir danken Gott unablässig, daß ihr das von uns gepredigte Wort Gottes, als ihr es empfingt, aufgenommen habt nicht als von Menschen, sondern wie es in Wahrheit ist, als Wort Gottes, das in euch, den Gläubigen, auch wirksam ist“ (l. Thess 2,13).
Erster Teil: DIE OFFENBARUNG
I. Warum ist eine Offenbarung notwendig?
Der Mensch ist auf Erden in einer höchst merkwürdigen Lage. Mit logischem Verstand begabt, scheint er dafür bestimmt zu sein, den eigentlichen Sinn seines Daseins, den Ursprung des Weltalls und die Person seines Schöpfers zu erfassen.
Aber in Wirklichkeit ist er von undurchdringlichen Geheimnissen umgeben. Sich selber überlassen, ist er unfähig, auf jene Fragen zu antworten, die ihn am meisten angehen: Woher stammt er? Warum ist er dem Leiden und dem Tode ausgeliefert? Was wird nach dem Tode kommen: Vernichtung, Gericht oder ewiges Leben? Wird er je das Glück und den Frieden finden? Vor allem, gibt es einen Gott? Wenn ja, warum ist er so ferne von uns, und wie können wir ihm begegnen?
Alle Religionen und alle Philosophien bezeugen das leidenschaftliche Verlangen des Menschen, die Wahrheit zu erforschen und Gott zu erkennen. Aber man muß eingestehen, daß die Ergebnisse dieses Suchens enttäuschend, ja erschütternd sind: Wie viele unvollkommene, nach dem Menschenbild gestaltete Götter und wie viele verwickelte, oft widersinnige Systeme sind aufgestellt worden, die sich gegenseitig bekämpfen! Selbst die moderne Wissenschaft, auf die wir so stolz sind, erschließt uns nicht die letzten Rätsel des Weltalls. So haben gewisse Weltraumflieger, die durch den materiellen Raum flogen, naiv festgestellt, sie hätten niemand darin angetroffen.
Nur durch eine Offenbarung von oben gelangt der Mensch zur wahren Erkenntnis, und dies vor allem aus folgenden beiden Gründen!
a) Gott ist seinem Wesen nach dem Geschöpf unzugänglich. Seine Allmacht, seine Zeitlosigkeit, seine unbedingte Vollkommenheit sind ihrer Beschaffenheit nach für unsern beschränkten Geist nicht zu fassen. Sagt er nicht selber: „So hoch der Himmel über der Erde ist, so viel höher sind meine Wege als eure Wege und meine Gedanken höher als eure Gedanken“ (Jes 55,9) ? So ruft der Prophet aus. „Du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, und Erretter.“ (Jes 45,15). Es ist klar, daß, wenn der Mensch das höchste Wesen in seiner Ganzheit erfassen könnte, er selber Gott wäre.
Aber der Herr ist geneigt, sich zu offenbaren. Er schuf den Menschen nach seinem Bilde, um ein Gegenüber zu haben, das ihm antworte, das ihn kenne, ihn liebe und verherrliche. Im Garten Eden genoß Adam die unmittelbare Gegenwart Gottes und lebte glücklich in seiner Gemeinschaft. Gott fand Gefallen daran, unter den Menschenkindern zu sein (Spr 8,31), und dieser Zustand hätte, ohne Unterbrechung, zur ewigen Vollendung führen können.
b) Durch seinen Sündenfall hat der Mensch die Fühlung mit Gott unterbrochen. Aus dem Paradies vertrieben, bleibt er künftig in einem Zustand des geistigen Todes (l. Mose 2,17; 3,24; Eph 2,1.5) und der Verblendung. Er erkennt nicht „die Dinge des Geistes, denn sie sind Torheit für ihn; er kann sie nicht erkennen, weil sie geistlich beurteilt werden müssen“ (l. Kor 2,14). Diejenigen, die verloren gehen, „sind in ihrem Verstand durch den Herrn der Welt geblendet, damit sie nicht schauen können die Erleuchtung durch das Evangelium von der Herrlichkeit Christi“ (2. Kor 4,4). Der sündige, nicht wiedergeborene Mensch kann das Reich Gottes weder schauen, noch in dasselbe hineinkommen. Dazu muß er wiedergeboren werden durch die Offenbarung von oben. Denn „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und keinem Menschen ins Herz emporgestiegen ist, das alles hat Gott denen bereitet, die ihn lieben“ (1. Kor 2,9‑10).
II. Kann oder will Gott sich dem Menschen offenbaren?
Oder anders gefragt: Besteht überhaupt eine Möglichkeit der Offenbarung? Gewisse Philosophen haben sie verneint, indem sie sagten: Wie sollte das Unendliche sich dem Endlichen, der Schöpfer sich dem Geschöpf mitteilen können? Konnte die unbedingte Wahrheit in den relativen Begriffen der menschlichen Sprache ausgedrückt werden?
Sehen wir nicht Tag für Tag, wie ein Vater seinen Knaben belehrt, Wort um Wort, indem er seine Ausdrucksweise dem Fassungsvermögen des Kindes anpaßt? So berichtet auch ein Reisender über das Unbekannte, indem er vom Bekannten ausgeht. Gott handelt auf gleiche Weise, wenn er sich zu uns herabläßt, um uns seine Wahrheit in verständlicher Weise mitzuteilen. „Ein Tag sagt es dem andern, und eine Nacht tut es der andern kund. Diese Sprache und Rede ist allen verständlich; es gibt niemand, der diese Stimme überhören kann. Ihr Klingen geht aus durch alle Lande.“ (Ps. 19,3).
Unterstreichen wir noch einen andern wichtigen Umstand: Offenbarung kann nur ein Handeln Gottes sein. Die innersten Gedanken eines Menschen können nur von ihm selber aufgedeckt werden (l. Kor 2,11). So kann auch erst recht nur der Geist Gottes uns die Geheimnisse der Gottheit erschließen. Könnte der Mensch selber sie erforschen und erklären, so wäre er Gott gleich. Denn ihrer Natur nach sind die Gedanken Gottes unendlich höher als die unsern. Mit Recht hat Irenäus gesagt: „Der Herr lehrt uns, daß niemand Gott kennt, wenn er nicht von ihm selber gelehrt wird: also bleibt Gott ohne Gott unbekannt.“
Indem der Agnostiker an der Möglichkeit einer Offenbarung zweifelt, stellt er damit beides in Frage: die Fähigkeit des Menschen, Gott zu erkennen, und die Fähigkeit Gottes, sich zu offenbaren.
Diese letzte Feststellung würde gleich viel bedeuten wie Gott zu leugnen. Denn der Gedanke der göttlichen Offenbarung ist mit Gottes Dasein aufs engste verbunden. Wenn Gott nämlich da ist, kann erwartet werden, daß er sich offenbart, und zwar in übernatürlicher, unfehlbarer Weise. Jeder Mann wünscht mit seinem Kinde zu sprechen. Warum sollte Gott nicht wünschen, mit den nach seinem Bilde geschaffenen Wesen zu verkehren, die fähig sind, auf sittlicher, geistiger und geistlicher Ebene mit ihm in Beziehung zu treten? Und wenn er schon spricht, was anderes sollte er übermitteln als die Botschaft der Wahrheit und der Liebe, die sein Wesen ausmachen? Der ferne Gott der Deisten, welcher schweigsam und seinen Geschöpfen gegenüber gleichgültig irgendwo thront, ist ein unvollkommener Gott. Er verdient nicht, Gott genannt zu werden, denn die größte Vollkommenheit fehlt ihm: die Liebe.
Was soll man sagen zur Behauptung, der Mensch sei unfähig, Gottes Stimme zu vernehmen? Auch dies würde heißen, Gott zu leugnen. Wie ‑, der dem Menschen das Ohr geschenkt hat, um die zarten oder mißklingenden Geräusche der Erde zu vernehmen, der in unserm Herzen den Gedanken und die Sehnsucht der Ewigkeit verwurzelt hat, (Pred 3,11), der vermöchte nicht, den Menschen auch die Stimme des Himmels vernehmen zu lassen?
Das Geschöpf kann nur leben, soweit es in Beziehung zum Schöpfer da ist, und der gefallene Mensch ist nur durch die Offenbarung des Allmächtigen gerettet: „Das ist das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17,3).
III. Die beiden ersten umfassenden Offenbarungen
Der Gott der Macht und der Liebe will seinen Geschöpfen bekannt und von ihnen geliebt werden. Er neigt sich zu ihnen herab und bezeugt sich so, daß sie es verstehen können. Schon vor dem Sündenfall hatte er zwei besonders eindrückliche Offenbarungen von seiner Person und seinen Eigenschaften gegeben.
1. Gottes Offenbarung in der Natur
Paulus sagt: „Was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar, (den Menschen ‑ die Götzen anbetenden Heiden eingeschlossen); denn Gott hat es ihnen geoffenbart. Sein unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, ist seit Erschaffung der Welt, wenn man es in den Werken betrachtet, deutlich zu sehen, damit sie keine Entschuldigung haben, deshalb, weil sie Gott zwar kannten, ihm aber doch nicht als Gott Ehre und Dank erwiesen“ (Röm 1, 19‑21).
Diese Offenbarung in der Natur ist so überwältigend, daß sie jeden aufrichtigen Menschen dazu führt, seine Nichtigkeit gegenüber der Schöpfung und dem Schöpfer zu spüren. „Wenn ich schaue deine Himmel und das Werk deiner Finger…, was ist doch der Mensch, daß du seiner gedenkst?“ (Ps. 8,4.5).
Wir erkennen gleichzeitig die Allmacht, die Weisheit, die vorsehende Liebe und die Zeitlosigkeit des Schöpfers aller Dinge. „Gott, der den Himmel gemacht hat und die Erde und das Meer und alles, was darin ist, hat in den vergangenen Zeiten alle Heiden ihres Weges gehen lassen; und doch hat er sich nicht unbezeugt gelassen als Wohltäter, indem er euch vom Himmel herab Regen und fruchtbare Zeiten gab, wodurch er eure Herzen mit Speise und Freude erfüllte“ (Apg 14,15‑17). Dieser Gott wollte, daß alle Menschen suchten, ob sie ihn wohl spüren und finden möchten, da er doch nicht fern ist von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir“ (Apg 17,27). Nur der Unverständige behauptet, die Welt habe sich allein selbst gemacht.
Sogar Voltaire sagte: „Die Welt bringt mich in Verlegenheit; ich mag nicht daran denken, daß diese Uhr besteht und daß es keinen Uhrmacher gäbe.“
Dazu äußert sich P. E. Hughes im wesentlichen folgendermaßen:
„Der Wissenschaftler geht von der Annahme aus, daß das Weltall und die Natur zusammenhängen und daß die Entdeckung des einen ‚Gesetzes‘ logischerweise zu einem anderen führt. Die Wissenschaft kann als solche nur bestehen, wenn die Natur ein geordnetes Ganzes, ein All darstellt, und nicht ein Durcheinander von vereinzelten Tatsachen, die unabhängig voneinander und sinnlos sind. Der Gelehrte weiß, daß die wahrgenommenen Tatsachen ihn zu irgendeinem Schluß führen. Er weiß, daß er selber geschaffen wurde, daß die Welt einem göttlichen Plan und Ziel entspricht. Wer diese innere, angeborene Überzeugung ablehnt, verzichtet darauf, sich selber zu erkennen. Die Auffassung, die Welt sei Gottes Werk, ist dem, der nach seinem Bild geschaffen ist, zutiefst eigen.
Wir haben eben festgestellt, daß die Offenbarung dieser großen Wahrheiten vor eines jeden Auge in der Schöpfung sichtbar ist, und daß alles um uns herum davon zeugt. Aber die gefallenen Menschen weigern sich, gerade diese Offenbarung anzuerkennen. Durch die Sünde verblendet, ‚halten sie die Wahrheit gefangen … Obwohl sie Gott erkannten, haben sie seine Herrlichkeit nicht als göttlich anerkannt … Sie haben sich in ihren Gedanken verirrt … Da sie wähnten, weise zu sein, sind sie Toren geworden‘ (Röm 1,18‑22). Um menschliche Weisheit und Philosophie bemüht, widmen die Menschen ihre Verstandes‑ und Geisteskräfte der unabsehbaren Suche nach der Wahrheit, während von jeher die Wahrheit ihnen vor Augen lag, so klar wie es um Mittag die Sonne ist. Der Mensch hat buchstäblich die Wahrheit Gottes in Lüge verkehrt, indem er das Geschöpf verehrt und ihm dient, statt dem Schöpfer (V. 25). Das gilt nicht nur in bezug auf den Götzendienst der primitiven Heiden, sondern auch auf unsere Kultur, die den Menschen zu ihrem Mittelpunkt erhebt.
In der Hauptsache krankt jedes Denken des nicht wiedergeborenen Menschen an folgendem grundlegenden Widerspruch: Neben dem Grundprinzip des Verstandes, das die Voraussetzung für jegliches logische Denken ist, führt es ein nicht verstandesgemäßes Prinzip ein. Der Mensch kennt die Wahrheit über die Allmacht des göttlichen Schöpfers und über die in seinem Wollen begründete Schöpfungsordnung. Diese Wahrheit allein ermöglicht ein verstandesmäßiges und wissenschaftliches Verstehen der Welt. Gleichzeitig verwirft der Mensch diese Wahrheit aus einer irrationalen Ursache. Da er keinen Gott über sich haben will, der über ihn herrscht, zieht er es vor, die Tatsachen der Welt lieber in einer menschbezogenen als auf Gott ausgerichteten Philosophie auszulegen. Er gibt lieber Menschen die Ehre als Gott. Durch diesen heillosen Zwiespalt in seinem innersten Wesen sind die höchsten menschlichen Fähigkeiten wie gelähmt worden. Daher rührt der Mißerfolg aller menschlichen philosophischen Systeme, wie großartig sie auch scheinen mögen. Weil sie auf einem Widerspruch aufgebaut sind, müssen sie fragwürdig bleiben und sich gegenseitig bekämpfen“ (P. E. Hughes, Scripture and Myth, Tyndale Press, London 1956, S. 21‑24).
Immerhin muß gesagt werden, daß seit dem Sündenfall die Offenbarung durch die Natur unvollständig ist. Sie bezeugt die Macht, die Voraussicht und Zeitlosigkeit Gottes; aber sie sagt nicht klar genug, wie seine Person beschaffen ist, welches seine Heiligkeit, seine Gerechtigkeit, seine Retterliebe und sein ewiger Heilsplan uns gegenüber sind. Darüber wird man belehrt, wenn man die verworrenen, widerspruchsvollen Folgerungen betrachtet, zu denen auf dieser Grundlage die alten Babylonier, die Ägypter, die Römer, aber auch die Muslime, die Hindu, die Buddhisten, wie die wesentlichen Humanisten und Rationalisten gelangt sind. Die Menschheit bedurfte also unausweichlich noch anderer Quellen der Erleuchtung.
2. Gottes Stimme im Gewissen
Zu dem Zeugnis der Natur, von außen, kommt für den Menschen noch dasjenige von innen, in seinem Gewissen, hinzu. Paulus sagt darum: „Wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur tun, was das Gesetz enthält, so sind diese, die das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz; sie geben zu erkennen, daß das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, indem auch ihr Gewissen dies bezeugt und ihre Gedanken sich untereinander anklagen oder auch verteidigen. Das wird offenbar werden an dem Tage, da Gott das Verborgene des Menschen richten wird, nach meinem Evangelium, durch Jesus Christus“ (Röm 2,14‑16).
Gott hat dem Menschen einen sittlichen und geistlichen Sinn mitgegeben. Die großen Richtlinien des göttlichen Gesetzes sind seinem Herzen eingeprägt: er ermißt den Vorrang des Guten und freut sich, ihm zu dienen; er erkennt das Böse, das wider den göttlichen Willen streitet, fühlt sich schuldig, sucht wiedergutzumachen, im Bewußtsein seiner Verantwortung gegenüber Gott. Bekanntlich kann man sein Gewissen vergewaltigen und zum Schweigen bringen. Ein einzelner oder ein Volk kann sich von diesen Ur‑Gesetzen entfernen. Ein Rest bleibt immer übrig. Das Gewissen eines vom Leben noch nicht verhärteten Kindes empfindet am lebhaftesten. Es wird sofort ein Gefühl der Sünde haben, auch wenn es sich um verhältnismäßig geringen Ungehorsam, Diebstahl oder um eine Lüge handelt. Aus diesem Grunde haben alle Völker der Erde ein Verlangen nach Sühne. Auf verschiedene Arten geben die menschlichen Religionen der Schuld des Menschen, der die Gottheit verletzt hat, Ausdruck. Es gibt ihrer ganz wenige, die nicht das blutige Opfer eines geschlachteten „Sündenbockes“ anstelle des Schuldigen verlangen. Wir glauben, daß der allgemein bekannte Gedanke „ohne Blutvergießen keine Vergebung“ nicht so von ungefähr ins Gewissen der Menschen trat. Das war die Folge einer ursprünglichen Offenbarung an die ersten Menschen nach dem Sündenfall. Adam und Eva bedeckten ihre Blöße mit den Fellen von Tieren, die sie ohne Zweifel getötet hatten (vgl. 1. Mose 3,21 und 1,29). Abel wurde gerecht gesprochen durch das Opfer der Erstgeburten seiner Herden und durch ihr Fett (l. Mose 4,4; Hebr 11,4); Noah brachte Gott Brandopfer dar, sobald er die Arche verließ, usw.
Dem Sinne nach sollte jeder Mensch, durch die Offenbarung der Natur und diejenige des Gewissens belehrt, bereit sein, das Heil zu empfangen: seine eigne Nichtigkeit und die Größe des wunderbaren Weltalls erkennend, sollte er den unsichtbaren Schöpfer anbeten. Er zittert gleichzeitig vor ihm, denn sein Gewissen klagt ihn an, da ja kein Irdischer alle seine Verpflichtungen erfüllte. Mehr oder weniger direkt sucht er eine Errettung. Wenn er diese selber vollbringen will, wird er sich einer der unzählbaren menschlichen Religionen anschließen, die dem Menschen das Heil durch den Menschen versprechen. Ist er aber vom Geist Gottes erfüllt und von seiner Unfähigkeit, das Böse zu meiden und das aufgetragene Gute durchzuführen, überzeugt, so wird er dankbar und erleichtert die Botschaft des Retters, welche die ganze Bibel erfüllt, die geschriebene Offenbarung, annehmen. Wir kennen Beispiele solcher Haltung beim Kämmerer aus Äthiopien und beim Hauptmann Cornelius (Apg 8,27‑38; 10,1-48). Auf allen Missionsfeldern hat man Persönlichkeiten begegnen dürfen, die beim ersten Anhören des Evangeliums dieselbe Bereitschaft bewiesen. Leider sind dies seltene Ausnahmen. Weitaus die meisten Menschen achten nicht auf diese beiden mächtigen Stimmen der Natur und des Gewissens. Die sogenannten primitiven Heiden vertauschen den Schöpfer mit falschen Göttern, Götzen, Götzenbildern oder Tieren. Die aufgeklärten modernen Heiden verehren auf alle Arten und vergöttern stolz den Menschen und werden eines Tages dem Übermenschen, dem Antichrist zujubeln (Röm 1,21‑25; 2. Thess 2,3). Da sie ihr gutes Gewissen einbüßten, weichen sie dem wahren Gott aus (l. Tim 1,19). Darum nennt Paulus sie unentschuldbar (Röm 1,20); sie sind verloren und verdienen Gericht. Aber Gott liebt sie dennoch und hat ihnen seinen Sohn gesandt, gerade um sie von diesem Untergang zu retten. Um uns seine Retterliebe zu beweisen, gab uns Gott eine dritte Offenbarung, diejenige der Bibel, welcher diese Seiten gewidmet sind.
Kann ein Heide, der nur die Offenbarung der Natur und des Gewissens erhielt, das Heil erlangen?
Paulus erklärt ausdrücklich, daß jeder nach der empfangenen Erkenntnis beurteilt wird. „Alle diejenigen, die ohne das (geschriebene) Gesetz sündigten, werden ohne Gesetz verlorengehen, und alle, die unter dem Gesetz sündigten, werden nach diesem gerichtet werden“ (Röm 2,12). Wir haben gesehen, daß die Offenbarung der Natur und des Gewissens genügt, um zur Anbetung und zur Buße zu leiten, aber auch zur vollen Verantwortung der Heiden zu führen. Der gerechte und allwissende Gott weiß genau, ob ein aufrichtiger, aber unbelehrter Mensch das Angebot des Heils angenommen oder abgelehnt hätte, wäre es ihm gezeigt worden. Christus ist für die Sünden der ganzen Welt gestorben, für diejenigen, die vor seinem Kommen begangen wurden, wie für die, welche nachher und an Orten getan wurden, wo das Evangelium noch nicht verkündigt wurde (Röm 3,25). Der Herr wird wissen, wie er in seiner Liebe und Gerechtigkeit jeden Sünder richten will.
Das entbindet uns, die wir das Vorrecht der göttlichen Erleuchtung haben, nicht von der Pflicht, das Evangelium aller Kreatur zu bringen. Wie viele „aufrichtige Heiden“ werden unter denen sein, die in furchtbarer Finsternis leben? Ihre Körper sind befleckt, ihre Gewissen mißleitet, ihre Herzen den bösen Geistern ausgeliefert. Beeilen wir uns, ergriffen von Mitleid wegen ihrer Leiden und ihres geistlichen Elends, ihnen die Bibel, die wunderbare Botschaft des Retters zu bringen. Wie könnten wir dem Urteil entrinnen, vernachlässigten wir es, ihnen ein so herrliches Heil zu vermitteln?
IV. Könnte der Verstand wohl ein selbständiges Mittel sein, um zur Erkenntnis Gottes zu gelangen?
Ist die Vernunft nicht eine herrliche Gabe für den Menschen, die ihm erlaubt, alle Dinge zu erwägen und zu ermessen? Wenn er die Natur um sich herum, das Gewissen in sich selbst hat, kann er nicht, ohne weitere Offenbarung, allein durch sein Denken zur vollen Erkenntnis gelangen? Viele meinen tatsächlich, der Mensch könne die wesentlichen Wahrheiten seines irdischen Daseins und seiner ewigen Bestimmung erkennen, ohne dazu übernatürliche Hilfe nötig zu haben. Es dürfte übrigens recht schwierig sein, in unsern Ländern den Verstand ganz von der Offenbarung zu trennen, denn letztere hat bis ins Innerste unsre sogenannte christliche Kultur durchtränkt. Wenn man von den beiden erwähnten Offenbarungen absieht (Natur und Gewissen), genügt es wirklich, einen Blick auf ganze Völker oder auf einzelne zu werfen, die ihrer eigenen Vernunft überlassen sind, um zu erkennen, wie armselig die Natur und das Denken des Menschen sind.
Wie wir gesagt haben, ist der Mensch nach dem Sündenfall, von Gott getrennt, durchseucht vom Bösen. Er ist nicht mehr das vollkommene Wesen nach dem Bilde Gottes. Sein Herz kann abscheuliche Gefühle nähren, sein Wille ist schwach und widerspenstig, sein Leib geht unfehlbar mit jedem Tag dem Grab entgegen. Auch sein Verstand, der so viel Feines leisten kann, fehlt und irrt doch oft.
Paulus sagt von den überfeinerten Menschen seiner Zeit (die es auch heute gibt): „Sie verfielen eitlem Wahn, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert. Während sie vorgaben, weise zu sein, wurden sie zu Toren“ (Röm 1,21‑2). „Der natürliche Mensch Gottes (nicht wiedergeboren) nimmt die Dinge, die des Geistes sind, nicht an; denn Torheit sind sie ihm, und er kann sie nicht erkennen, weil sie geistlich beurteilt werden müssen.“ Der geistliche Mensch hingegen empfängt durch Offenbarung die Gedanken von Jesus selber (l. Kor 2,14‑16). Der Apostel ist nicht nachsichtig gegenüber der menschlichen Weisheit, die er als Torheit betrachtet (l. Kor 1,19). „Sehet zu, ob euch jemand (des Glaubens) berauben will durch die Weltweisheit, gestützt auf die Überlieferung der Menschen, nämlich auf die Naturmächte der Welt und nicht auf Christus“ (Kol 2,8). Veranlaßt uns eine solche Erklärung nicht, die ganze sogenannte christliche Theologie, in die so viele philosophische und verstandesmäßige Elemente eingedrungen sind, neu nach der Bibel durchzudenken?
Es tritt jedenfalls deutlich zu Tage, daß weder die Natur noch das Gewissen und ebensowenig der Verstand Gott klar genug offenbaren; der einzige Weg zur persönlichen, wahrhaftigen Erkenntnis Gottes ist die Offenbarung, die er uns durch seinen Geist gewährt.
V. Wie seit dem Sündenfall die Offenbarung stufenweise erfolgte
Sofort nach dem Ungehorsam unsrer Ahnen unternimmt der Herr die Verwirklichung seines Heilsplanes. Nach der Bibel ist es nicht der Mensch, der nach dem wahren Gott fragt (Röm 3,11). Der Anstoß geht immer vom Herrn aus, der unermüdlich die verirrten Schafe sucht. Da das ewige Leben darin besteht, den wahren Gott und den, welchen er gesandt hat, Jesus Christus, zu erkennen, setzt er alles daran, dem Menschen nicht nur seine Wohltaten, sondern seine Person selber zu schenken. „Seine göttliche Macht hat uns alles, was zum Leben und zur Frömmigkeit dient, geschenkt durch die Erkenntnis dessen, der uns vermöge seiner Herrlichkeit und Vollkommenheit berufen hat“ (2. Petr 1,3). Ein Unternehmen solchen Umfanges wird in mannigfach fortschreitender Weise erfolgen. Die wichtigsten Stufcn sind folgende:
1. Die Gotteserscheinungen sind häufig in den ersten Büchern der Bibel. Gott erscheint direkt oder in der Gestalt des Engels des Herrn, zum Beispiel:
Abraham (l. Mose 17,1.22; 18,1 usw.)
Isaak (l. Mose 26,2)
Jakob (l. Mose 32,30)
Mose (2. Mose 3,2‑6; 33,11)
Gideon (Ri 6,12.14‑18 usw.)
Man hat sich gefragt, ob dieser Engel des Herrn, der Gott vertritt, nicht eine vorübergehende Vorausnahme von Jesus Christus selber sei. Der eine Sohn kann ja allein Gott zeigen (Joh 1.18). In 2. Mose 23,20‑21 sagt der Herr von diesem Engel, der von allen andern verschieden ist: „Mein Name ist in ihm.“ Dieser sprach mit Mose auf dem Sinai (Apg 7,38) und rettete Israel aus allen seinen Nöten (Jes 63,9).
2. Gott sandte Träume und Gesichte (4. Mose 12,6), zum Beispiel:
Jakob (l. Mose 28,12‑16)
Salomo (l. Kön 3,5‑15)
Daniel (Dan 2,19.28; 7,1; 10,7‑8)
Joseph, Gatte der Maria (Mt 1,20; 2,13) usw.
3. Unmittelbare Begegnungen, ohne daß eine besondere Erscheinung genannt wäre. Gott kam zu Bileam (oder: Gott kam Bileam entgegen, 4. Mose 22,9; 23,4).
4. Die Wunder und Zeichen lassen den Menschen aufmerken und zeigen ihm Gottes erhabene Größe, Heiligkeit, Gegenwart und Wirksamkeit:
Das Gericht der Sintflut und die Rettung von Noah (l. Mose 6‑9)
Die Zerstörung Sodoms und die Beschützung von Lot (l. Mose 19)
Der brennende Dornbusch, die Plagen Ägyptens
Die Wolkensäule, die Befreiung Israels (2. Mose 3‑15)
Die Wunder in der Wüste (4. Mose) und der Einzug in Palästina (Josua) usw.
Je weiter wir lesen im Alten Testament, desto geistiger werden die Offenbarungen, desto mehr nach innen verlagert. (Die gleiche Entwicklung erfolgt auch von den Evangelien und dem Anfang der Apostelgeschichte zu den Briefen.)
5. Die Propheten. Gott hat sich den für seinen Dienst auserwählten Werkzeugen offenbart und schickt sie zum Volk, daß sie ihm sagen, was sie vernommen haben. Weniger wichtig ist es, daß er zu dem Propheten, als daß er durch ihn spricht. Übrigens heißt das hebräische Wort nabbi (Prophet), der Herold, Verkünder.
Der erste dieser großen Boten ist Mose, der das Gesetz offenbart. Er erklärt zuerst, er sei für einen solchen Auftrag unwürdig und unfähig: aber Gott antwortet ihm: „Wer hat den Mund des Menschen geschaffen? … Bin nicht ich es, der Herr? So gehe nun hin, ich will mit deinem Munde sein und dich lehren, was du sagen sollst“ (2. Mose 4,10‑12). Dann kündigt er deutlich die ganze Reihe der Propheten an, die von Mose bis zu Jesus Christus gehen wird: „Einen Propheten wie dich will ich ihnen aus der Mitte ihrer Brüder erstehen lassen und ihm meine Worte in den Mund legen, und er soll ihnen alles kundtun, was ich ihm gebieten werde“ (5. Mose 18,18).
Gesichte und Worte gehen oft ineinander über. Das Buch des Amos beginnt folgendermaßen. „Worte, Gesichte, die er über Israel erhielt“ (1,1). Einst nannte man den Propheten Seher (l. Sam 9,9) und das Merkmal der falschen Propheten bestand gerade darin, daß sie nichts sahen (Hes 13,3).
Die Propheten waren unter der Wirkung des Geistes Gottes. Nur er gibt dem Menschen die Vollmacht zu prophezeien (4. Mose 11,25.29; 1. Sam 10,6.10). Indem er davon spricht, wie Gott Israel gerufen hat, sagt Nehemia: „Du unterweisest sie durch deinen Geist, durch seine Propheten, und doch hören sie nicht darauf “ (Neh 9,30; Sach 7,12). Hesekiel erklärt, daß Gottes Hand auf ihm lag, daß sie kräftig auf ihn einwirkte, daß der Geist ihn aufhob, daß er in ihn eintrat und ihn auf die Füße stellte (Hes 1,3; 3,14; 22,24). Micha sagt, er sei mit Kraft und mit dem Geist des Herrn erfüllt worden, um seine furchterregende Botschaft auszurichten (3,8). Und Petrus bestätigt, daß die Propheten, vom Heiligen Geist erfüllt, an Gottes Statt gesprochen haben (2. Petr 1,21).
Das Amt dieser Männer erhielt noch größere Bedeutung in Israel, nachdem die direkte Gottesherrschaft verworfen und das Königtum eingeführt wurde (l. Sam 9,7). Gott bleibt niemals ohne Zeugen; er fuhr fort, durch solchen Auftrag ständig zu seinem Volk zu sprechen, wie Amos es ausspricht: „Der Herr tut nichts, er offenbare denn seinen Ratschluß den Propheten, seinen Knechten“ (Amos 3,7). Die Aufgabe der Letzteren war es auch, die nächste Stufe der Offenbarung vorzubereiten: die Erscheinung und das Erlösungswerk des Messias.
6. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus
Alle früheren Kundgebungen waren nur mittelbar und unvollständig. Wohl sprachen sie vom wahren Gott, gewiß; aber er war noch weit entfernt und unsichtbar; oder aber sie gewährten nur einen kurzen Kontakt, eine zwar nützliche, aber bestürzende Erscheinung oder Botschaft, die notgedrungen ein Bruchstück blieb. Der geistvollste der Propheten, Jesaja, fühlt dieses Ungenügen so stark, daß er ausruft. „Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, der Gott Israels, ein Erretter! … Warum lässest du uns abirren, o Herr, von deinen Wegen? … Oh, daß du den Himmel zerrissest und führest herab!“ (Jes 45,15; 63,17; 64,1). Und derselbe Prophet gibt auch die Antwort auf den Notschrei der verlorenen Menschheit. „Seid getrost! Fürchtet euch nicht! Siehe da, euer Gott… er selbst kommt und hilft euch“ (Jes 35,4).
Jesus Christus verkörpert Gott, er ist das Fleisch gewordene ewige Wort. Nicht nur bringt er eine neue Offenbarung, er ist sie selber. „Niemand kennt den Vater denn der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren will“ (Mt 11,27). Und Christus fügt hinzu: „Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen (Joh 14,9). Er besitzt die Fülle aller göttlichen Eigenschaften: Allmacht, unbedingte Heiligkeit, vollkommene Liebe, Allgegenwart, Allwissenheit (ausgenommen Mt 24,36, was seiner freiwilligen Niedrigkeit entspricht). Er ist uns gemacht zur „Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung“ (l. Kor 1,30). „In ihm wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9).
Die Gotteserscheinungen sind nur wie ein Blitz in der Nacht gegenüber der Verkörperung dessen, der das Licht der Welt ist. Die Propheten haben der Reihe nach die Bruchstücke von Geheimnissen, die sie erfuhren, aufgeschrieben, wie der Herr sie ihnen freundlicherweise zuteilte. Aber zwischen Vater und Sohn sind keine Geheimnisse. Der Sohn ist selbst „das Geheimnis Gottes, in welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol 2,3). Der Hebräerbrief faßt die Geschichte der Offenbarung folgendermaßen zusammen: „Nachdem Gott vorzeiten manchmal und auf mancherlei Weise zu den Vätern geredet hat durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn“ (Hebr 1,1‑2). Und mehr als je sind seine Worte Taten geworden in Jesus Christus: Durch das Opfer am Kreuz hat er in überwältigender Weise seine Liebe und seine Gerechtigkeit erwiesen, indem er unsre Sünden ganz sühnte. Dann hat er sein Versprechen des ewigen Lebens erfüllt, indem er den Sohn von den Toten auferweckte. Christus, die volle Kundgebung Gottes, ist somit nicht nur das Ende des Gesetzes (Röm 10,4), sondern auch dasjenige der Offenbarung. Er ist auch ihr Mittelpunkt, da sein Geist alle Prophezeiung eingibt (l. Petr 1,11; Offb 19,10) und da wir bis in alle Ewigkeit der Offenbarung Jesu Christi beiwohnen werden (Offb 1,1).
7. Die Schrift
Alle die aufgezählten Offenbarungen sind Personen oder Geschlechtern zuteil geworden, die heute verschwunden sind. Was wüßten wir von den empfangenen Erleuchtungen, den gemachten Erfahrungen, den vollbrachten Befreiungstaten, wenn sie nicht in einem von Gott eingegebenen Buch ihren endgültigen Niederschlag gefunden hätten? Zuerst wurde das Gesetz mitgeteilt für das Volk, das berufen war, Gottes Aussprüche zu empfangen. Dann schrieben die Propheten ihre glühenden Botschaften nieder. Darauf folgte die Lehre Christi und der Apostel. Wir wollen nun untersuchen, wie die göttliche Sendung aufgenommen, festgelegt und übermittelt wurde.
Zweiter Teil: DAS WORT
Erstes Kapitel
Das göttliche Wort
Bevor wir auf die Inspiration des geschriebenen Wortes eingehen, betrachten wir die Rolle, die das Wort an sich spielt.
I. Der Gott der Bibel ist ein sprechender Gott
Von der Schöpfung an, durch die ganze Geschichte seines Volkes, teilt er sich sprechend mit. Er spricht … und aus dem Nichts taucht das Weltall auf (l. Mose 1,3.6.9 usw.).
Johannes sagt in bezug auf Christus, der Menschengestalt annimmt, um uns zu retten, indem er uns Gott offenbart: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort … Und das Wort ward Fleisch“ (Joh 1,1.14).
Der Herr, der Licht und Liebe ist, findet Wohlgefallen daran, sich seinen Geschöpfen mitzuteilen. Er gibt seinem Wesen, seinen Gedanken, seinem Willen, seinen Plänen Ausdruck. Er erklärt sein vergangenes und sein gegenwärtiges Werk; er kündet sein künftiges Wirken und den Endsieg an.
Unser Gott bleibt nicht stumm, wie die Götzen alter und neuer Zeit (l. Kor 12,2). Die Bibel ist voll beißenden Spottes in diesem Punkt: „Die da Gold aus dem Beutel schütten, sie bestellen einen Goldschmied, daß er daraus einen Gott mache, fallen nieder und beten an. Sie heben ihn auf die Schulter, tragen ihn hin und her und setzen ihn nieder an seinen Ort; da steht er nun und rührt sich nicht von der Stelle. Man schreit auch zu ihm, doch er antwortet nicht, hilft einem nicht aus der Not“ (Jes 46,6.7).
Daß der Götze weder antwortet noch rettet, ist sein Kennzeichen. Auf dem Karmel hat Elia die Baalspriester herausgefordert, von ihrer Gottheit eine Antwort zu erhalten. „Sie riefen den Namen Baals an, vom Morgen bis zum Mittag, indem sie flehten: Baal, erhöre uns! Aber kein Laut, keine Antwort … Als es Mittag war, spottete Elia ihrer und sprach: Ruft doch lauter! Er ist ja ein Gott; vielleicht schläft er und wird dann aufwachen … Aber kein Laut, keine Antwort, keine Erhörung“ (l. Kön 18,26‑29).
Der Herr hat nichts gemein mit dem kalten und abwesenden Gott der Philosophen. Er schweigt nicht aus Gleichgültigkeit oder Unfähigkeit. Wenn er aber schweigt, dann tut er es, weil gewichtige Gründe ihn dazu zwingen. In diesem Fall kommt sein Schweigen einem schrecklichen Gericht gleich:
Saul, der wegen wiederholten Ungehorsams verworfen war, „befragte den Herrn, aber der Herr gab ihm keine Antwort, weder durch Träume, noch durch das heilige Los, noch durch die Propheten“ (l. Sam 28,6).
Gott sagt zu Jeremia, in bezug auf Israel: „Bete nicht für dieses Volk um Wohlergehen. Wenn sie fasten, höre ich nicht auf ihr Flehen“ (Jer 14,11). Anderswo fügt er hinzu: „Auch wenn ihr noch so viel betet, ich höre es nicht. Eure Hände sind voll Blut“ (Jes 1,15).
Die Ungläubigen, die seiner spotten, ermahnt Gott: „Kehret euch zu meiner Rüge … Ich will euch meine Worte kundtun. Weil ich rufe, und ihr nicht wollt, . . so will nun auch ich bei eurem Verderben lachen … Als dann werden sie mich rufen, aber ich werde nicht hören; sie werden mich suchen, mich aber nicht finden“ (Spr 1,23‑28).
II. Der Mensch, dem die Sprache gegeben ist, kann mit Gott sprechen
Da der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist, hat auch er die Möglichkeit, sich zu äußern. Sein Wort ist Antwort und Echo auf das göttliche Wort. Nur schon durch die Sprache ist der grundsätzliche, tiefe Unterschied zwischen Mensch und Tier dargetan. Sagen wir nicht von einem klugen Hund: „Es fehlt ihm nichts als die Sprache“? Sie ist das weitaus kostbarste Mittel der Mitteilung zwischen zwei Wesen. Wohl kann ich seine Person liebkosen oder schlagen, aber was bedeutet dies gegenüber dem Wort? Und was entbehren diejenigen, die nicht sprechen können!
Die Sprache kann die feinsten Regungen der Gedanken und Gefühle wiedergeben. Ihr ist eine Mannigfaltigkeit der Äußerungen eigen, der gegenüber die körperlichen Empfindungen grob und eintönig erscheinen. Sie ist der vollendetste Ausdruck der Persönlichkeit. Daher nimmt sie einen unvergleichlichen Platz ein in der Welt. Die Völker werden von Männern geführt, die willensstark und sprachgewaltig sind.
In gewissem Sinn wirkt das Wort mehr als die Tat, oder besser: es ist die eigentliche Quelle des Handelns. Unseren Gedanken, sprachlich gefaßt und mitgeteilt, entspringt unser Verhalten. Denn aus dem Innern, aus den Herzen der Menschen, folgen ihre guten und ihre schlechten Werke (Mk 7,21). Es ist also angezeigt von der schöpferischen Macht des Wortes zu sprechen. „Am Anfang war das Wort. .., alle Dinge sind durch dasselbe geworden“ (Joh. 1,1.3). Das bedeutet, daß Gott, bevor irgend etwas bestand, seinen Gedanken und seinen Willen ausgedrückt hat. Durch sein Sprechen hat er gehandelt und sich kundgetan. Was den Menschen betrifft, so gibt er sich auch preis, indem er den Mund öffnet. Darum werden die „Menschen von jedem unrechten Wort, das sie gesprochen haben werden, am Tage des Gerichtes Rechenschaft ablegen müssen. Denn nach deinen Worten wirst du gerecht gesprochen werden und nach deinen Worten wirst du verurteilt werden“ (Mt 12,36‑37).
Gott konnte kein besseres Mittel wählen, um mit uns zu verkehren.
III. Der göttliche Gebrauch des Wortes
1. Das ewige Wort. Da das Wort eine Äußerung des sich offenbarenden Gottes darstellt, ist es ewig im Himmel. Es war von Anfang an dabei (Joh 1,1). So hat Jesus auch im Blick auf die Zukunft sagen können: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mt 24,35). „Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“ (l. Petr 1,25).
2. Das schöpferische Wort. „Gott sprach: Es werde Licht. Und das Licht war da“ (l. Mose 1,3; das Wort „sagen“ kehrt elfmal wieder in diesem Kapitel). „Im Glauben erfassen wir, daß die Welt durch das Wort Gottes gebildet wurde, so daß das, was man sieht, nicht aus sichtbaren Dingen entstand“ (Hebr 11,3).
3. Gottes Wort im Alten Testament. Gott sprach ständig zu den Erzvätern (l. Mose 12,1 usw). Am Sinai läßt er den Klang seiner Worte, nur eine Stimme, ertönen, damit seine Offenbarung rein geistiger Natur bleibe (5. Mose 4,12). Der Hebräerbrief faßt folgendermaßen die ganze Wort‑Austeilung zusammen: „Gott hat zu vielen Malen und auf mancherlei Weise zu den Vätern durch die Propheten gesprochen“ (Hebr 1,1). Unter allen Wundertaten ist sein Reden die wesentlichste.
4. Das Fleisch gewordene Wort. Andererseits ist das ganze Neue Testament im Kern enthalten in dem Satz: „Gott hat in diesen letzten Tagen zu uns gesprochen durch den Sohn“ (Hebr 1,2). „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1,14). Jesus unterstreicht selber diese Tatsache beim Abschluß seines Wirkens unter den Jüngern. Ich habe ihnen die Worte gegeben, die du mir gegeben hast, und sie haben sie empfangen“ (Joh 17,8).
5. Das Wort des Heiligen Geistes. Durch dasselbe sind die Jünger nach Pfingsten unterrichtet worden. „Der Geist der Wahrheit wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden, sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen“ (Joh 16,13).
Tatsächlich sehen wir im Lauf der Apostelgeschichte, wie der Geist zu den Kirchen spricht: „Der Geist sagte zu Philippus: Geh…“ (Apg 8,29). Der Heilige Geist ordnet an: Sondert mir Barnabas und Saulus aus zu dem Werk, zu dem ich sie berufen habe“ (Apg 13,2).
Das Wort der Apostel wird dem Heiligen Geist zugeschrieben, wie seinerzeit dasjenige der Propheten (l. Petr 1,12; 2. Petr 1,21).
IV. Die Religion des Wortes
Die biblische Offenbarung, das Evangelium, ist eine frohe Kunde, die Verkündigung einer Botschaft. Das Christentum erweist sich als eine wesentlich auf das Wort gegründete Religion, in deren Mitte die göttliche Person ist und die sie betreffende Wahrheit. Es befindet sich damit auf rein geistiger Ebene. Im Gegensatz dazu sind die menschlichen Religionen alle auf zu vollbringende Leistungen abgestimmt, auf die auszuführenden Riten, auf die Anbetung und Vorführung von Statuen, auf kirchliche Organisation. Jesus erklärt uns mit wunderbarer Schlichtheit: „Wahrlich, ich sage euch, wer mein Wort hört und an den glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und er kommt nicht ins Gericht, denn er ist vom Tode zum Leben durchgedrungen“ (Joh 5,24). „Die Worte, die ich euch gesagt habe, sind Geist und Leben“ (Joh 6,63).
„Herr, wohin sollten wir gehen? Du hast die Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68).
Zweites Kapitel: Das geschriebene Wort
Wenn das Evangelium eine Religion des Wortes ist, so ist es auch diejenige eines Buches.
I. Notwendigkeit einer geschriebenen Offenbarung
Eine mündliche Mitteilung an einen Gottesmann, an ein Geschlecht, an ein auserwähltes Volk genügt noch nicht. Die Botschaft muß unbedingt schriftlich festgehalten sein.
Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, daß die Erfindung der Schrift zum größten Fortschritt in der Entwicklung der Kultur Anlaß gab. In der ganzen Menschheitsgeschichte gibt es kein Beispiel von einem Volk, das zu wirklicher Kultur und folgerichtigem Denken gelangt wäre ohne die Schrift. Der erste Schritt, den ein wilder Stamm tun muß, um vorwärts zu kommen, ist das schriftliche Niederlegen seiner Sprache auf dem Papier. Auch eine göttliche Offenbarung, die dauern soll, beruht auf schriftlicher Grundlage.
II. Die Schrift ist unentbehrlich, um die Botschaft festzuhalten
Dadurch erhält sie eine endgültige Gestalt und bleibt vor Veränderungen, Zugaben oder Irrtümern der mündlichen Übermittlung verschont. Der Inhalt wird nicht verdorben, sondern er bleibt getreu derselbe. Das Gesetzbuch befand sich als Zeuge gegen Israel neben der Bundeslade (5. Mose 31,26). Als unveränderliche Richtlinie des göttlichen Willens sollte daran im Lauf der Jahrhunderte der Ungehorsam des Volkes gemessen werden.
Mit dieser endgültigen Gestalt besitzt die Offenbarung ihren unveräußerlichen Wert. „Denn wahrlich, ich sage euch: Bis daß Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüpfelchen vom Gesetz“ (Mt 5,18).
III. Der geschriebene Text erinnert jederzeit an die ursprüngliche Verkündigung
Man neigt so rasch dazu, sie zu vergessen. Nach den großen Ereignissen von Rephidim gebietet Gott dem Mose: „Schreibe dies zum Gedächtnis in ein Buch“ (2. Mose 17,14). Das erinnert uns an denselben Ausdruck bei Maleachi: „Da redeten miteinander, die den Herrn fürchten; und der Herr merkte darauf und hörte es. Und es wurde vor ihm ein Gedenkbuch geschrieben“ (Mal 3,16).
IV. Ein Buch bringt alle empfangenen Worte in eine bestimmte Ordnung
Alle Botschaften zusammen kommen auf diese Weise in eine Reihenfolge und werden so den künftigen Geschlechtern übermittelt. „Dies widerfuhr ihnen (den Israeliten) als Vorbild: geschrieben aber wurde es zur Warnung für uns, denen das Ende der Welt nahe bevorsteht“ (l. Kor 10,11).
V. Die geschriebene Botschaft hängt nicht vom Redner oder Verfasser ab
Jeremia bietet uns hierin ein packendes Beispiel. Nach langen Jahren des Predigtamtes gibt Gott ihm den Befehl, alle von ihm erhaltenen Worte in ein Buch zu schreiben (Jer 36,2). Der Prophet diktiert seinem Diener Baruch die Reihenfolge der Botschaften (V. 4). Da er selber im Gefängnis ist, schickt er Baruch, damit dieser den Text dem Volke und seinen Führern vorlese (V. 5‑13). Diese regen sich darüber auf und bringen es zustande, daß der König das Buch auch vorgelesen bekommt (V. 14‑21). Der König, wütend über solche Worte, zerschneidet und verbrennt das Buch. Der Prophet erhält den Befehl, ruhig ein neues, noch vollständigeres Buch zu schreiben (V. 28‑32).
So ist die Botschaft frei und beweglich; während der Verfasser im Gefängnis sitzt, dringt das Buch durch alle eisernen Gitter hindurch und erreicht die verschiedensten Kreise; es kann auch leicht ein zweites Mal geschrieben werden. Der Prophet kann verschwinden; Gott spricht weiter durch den von ihm eingegebenen Text.
Vl. Die schriftliche Botschaft ist unzerstörbar und erreicht fast alle Enden der Welt
Die erste Offenbarung ist dem Propheten selber beschert. Mündlich kann sie nur wenigen Hörern weitergegeben werden. Aber sobald der Text schriftlich vorliegt, kann er unendlich oft vervielfacht werden. Er kann leicht abgeschrieben und übersetzt werden. Jeder kann ein Exemplar des Wortes Gottes besitzen. Selbst wenn die Missionare der Verfolgung weichen müssen, so ist die Schrift noch vorhanden. Vielleicht bleibt eine geschriebene Seite lange Zeit verborgen, wie ein Samenkorn. Aber wenn es zu keimen beginnt, hat es an Leben und Kraft nichts eingebüßt. Um die heutigen Milliarden von Menschen zu erreichen, braucht es eine solche Strahlungskraft.
VII. Wer die schriftliche Botschaft besitzt, wird ihr gegenüber dadurch verantwortlich
„Sie haben Mose und die Propheten“ (Luk 16,29). Die Brüder des unbarmherzigen reichen Mannes haben alles, wessen sie bedürfen: Gott wird für sie weder besonders einschreiten noch ihnen ein zusätzliches Wunder schenken. Erst recht verhält es sich so mit unserm Geschlecht, dem die ganze Schrift so leicht zugänglich ist.
Drittes Kapitel: Das fleischgewordene und das eingegebene Wort
I. Christus und die Schrift
Es gehört heute zum guten Ton zu unterstreichen, daß Christus allein das Wort Gottes ist, während die Bibel das nicht sei, sondern dasselbe nur „enthält“. Ein Blick in die Bibel genügt, um diese Erklärung zu entkräften:
Christus selber verkündigt das Wort Gottes in seiner Predigt (Luk 5,1).
Philippus predigt Christus in Samarien, und die Apostel vernehmen, daß das Wort Gottes dort aufgenommen worden sei (Apg 8,5.14).
Paulus betont, daß er nicht Menschenworte lehre, sondern das Wort des Herrn (l. Thess 2,13).
Was Christus und die Apostel lehrten (wie auch die Propheten im Alten Bund), so wie es in der Schrift niedergelegt ist, dies ist für uns wirklich Gottes Wort.
Ein Vergleich zwischen Christus als fleischgewordenem Gotteswort und der Bibel als in Buchform gegebenem Gotteswort ist recht lehrreich, sowohl durch die dadurch sichtbar werdenden Unterschiede, wie durch die Ähnlichkeiten.
Bei seinem Eintritt in die Welt sagt Christus: „Einen Leib hast du mir bereitet … Siehe ich komme ‑ In der Buchrolle ist von mir geschrieben … “ (Hebr 10,5‑7). Welches Buch? Welche Person? fragt Luther bei dieser Stelle.
Ein Buch: die Bibel;
eine Person: Jesus Christus. – Wir werden sehen, in welchem Maß die beiden untrennbar sind.
CHRISTUS – DIE SCHRIFT
1. Christus, das göttliche, ewige Wort (Joh 1,1), die zweite Person der Dreieinigkeit, ist mit dem Vater und dem Geist der wahre Urheber der Heiligen Schrift (l. Petr 1,11; Offb 19,10). Sein Name ist Wort Gottes (Offb 19,13b).
DIE SCHRIFT – Die Gedanken Gottes, die der Schrift anvertraut sind, haben selber Ewigkeitscharakter: „Herr, dein Wort bleibt ewiglich, so weit der Himmel reicht“ (Ps 119,89). – Paulus beleuchtet das Geheimnis Christi und der Gemeinde, das „vor aller Zeit in Gott verborgen war“ (Eph 3,9; Kol 1,26.27).
2. Christus ist vom Heiligen Geist gezeugt (Luk 1,35).
DIE SCHRIFT – „Alle Schrift ist von Gott eingegeben“ (2. Tim 3,16). „Durch den Heiligen Geist getrieben, haben Menschen im Namen Gottes geredet“ (2. Petr 1,21).
3. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1,14). Der göttliche, ewige Christus ist Mensch geworden, sichtbar, zugänglich. Man konnte ihn kennenlernen, ihn hören und ihn lieben. Er hat sich zu den einfachsten Menschen gesellt, erschien unter ihnen als schlichter Mann, als Diener, als Arbeiter (Phil 2,7). Er hatte „keine Studien gemacht“, sondern sprach mit Absicht die Sprache der einfachen Leute (Luk 10, 21).
DIE SCHRIFT – Die unerforschlichen Gedanken des Herrn der Heerscharen (Jes 55,8‑9) wurden in unsrer irdischen Sprache ausgedrückt: Das göttliche wurde zum menschlichen Wort. In diesem Sinne ist es für Menschen geschrieben worden, von Menschen wie wir, von Fleisch und Blut, die ihrer Zeit, ihrem Volke angehörten. Dieses leibhaftige Wort führt uns mitten unter die Sünder, nicht etwa in eine unwirkliche Welt. So wird Gottes Botschaft sichtbar, verständlich und kann in die Sprache eines jeden übertragen werden. Bar aller menschlichen Spekulation und Philosophie, richtet sich die Schrift absichtlich an die allerniedrigsten Menschen, um ihnen Gottes Herrlichkeit zu offenbaren (l. Kor 2,4‑10).
4. Christus hat freiwillig die Niedrigkeit der Menschengestalt angenommen (Phil 2,5‑8). Er nahm bei der Geburt einen Leib an, der langsam heranwuchs. Seine Gegenwart war auf eine Gruppe von Menschen in einem kleinen Land beschränkt. Dennoch ist dieser „Sohn Josephs“ zugleich der göttliche Retter der Welt.
DIE SCHRIFT – Das geschriebene Wort Gottes ist auch begrenzt, um dem menschlichen Verständnis zugänglich zu sein. Es enthüllt nur teilweise die göttlichen Geheimnisse (l. Kor 13,12). Eine lange Entwicklung kennzeichnet die Offenbarung vom ersten bis zum letzten Buch der Schrift, mit Seiten darin, die noch schwer zu verstehen sind. Die Bibel ist in erster Linie ein jüdisches Buch, aus einem kleinen Volk hervorgegangen. Dennoch ist sie das umfassendste Buch ‑ Gottes Wort ‑ für die ganze Menschheit.
5. Der fleischgewordene Christus ist in allen Stücken uns gleich geworden, blieb aber vollkommen und ohne Sünde (Joh 8, 46; Hebr 2,17; 4,15), die Wahrheit in Person (Joh 14,6) und allmächtig (11,14).
DIE SCHRIFT – Jesus erklärt: „Dein Wort ist die Wahrheit“ (Joh 17,17). Beim Psalmisten heißt es: „Das Gesetz des Herrn ist vollkommen … Dein Gesetz ist die Wahrheit … Die Summe deines Wortes ist Wahrheit“ (Ps 19,8). Der Verfasser des Hebräerbriefes schließt mehrere aus dem Alten Testament übernommene Stellen ab mit den Worten: „Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert … und ist ein Richter der Gedanken und der Gesinnung des Herzens“ (Hebr 4,12). Der ursprüngliche Text der Schrift, der gleichzeitig von Gott eingegeben, aber auch menschlich ist, wurde vor Irrtum bewahrt.
6. Jesus Christus hatte eine einzigartige Vollmacht. „Er lehrte wie einer, der Gewalt hat, nicht wie die Schriftgelehrten“ (Mk 1,22). „Nie hat ein Mensch gesprochen wie dieser“ (Joh 7, 46).
DIE SCHRIFT – Nie hat ein Buch eine solche Wirkung ausgeübt wie die Schrift. Sie kann kühn ausrufen: „Höret, ihr Himmel, horche auf, o Erde! denn der Herr redet“ (Jes 1,2). Im Alten Testament wird 3808-mal bezeugt, daß es Gottes Worte selbst enthalte.
7. Christus wurde verraten und verworfen. Die Seinen nahmen ihn nicht auf (Joh 1,11‑12; 7,5). Die religiösen Führer glaubten nicht an ihn (Joh 7,48). Die Menschen zogen die Finsternis dem göttlichen Licht vor, denn ihre Werke waren böse (Joh 3,19; 7,7). Er wurde gekreuzigt, weil er sich als Sohn Gottes bezeichnet hatte (Joh 19,7).
Das Zeugnis, das Jesus von sich selber abgelegt hatte, war klar und wahr, aber man hat ihn bis zuletzt der Vieldeutigkeit und der Lüge bezichtigt. „Wenn du der Messias bist, sag es uns frei“ (Joh 10,24). „Dein Zeugnis ist nicht wahr“ (Joh 8,13).
DIE SCHRIFT – Mehr als irgendein andres Buch wurde das Buch der Bücher verabscheut und bekämpft. Es hat die furchtbare Feindschaft der Sünder erfahren, die sich in diesen Seiten verurteilt sahen. Man hat es zerrissen, verbrannt und verboten. Es wurde lächerlich gemacht und angegriffen von denen, die es hätten schätzen und verbreiten sollen. Die Menschen ertragen es nicht, daß es sich als Gottes Wort ausgibt und ihr Leben bestimmen will.
Trotz der zahllosen Erklärungen der Schrift behauptet man heute noch, nicht sicher zu wissen, ob sie Gottes Wort ist oder nicht. Und man erklärt das eigne Zeugnis, das sie sich gibt, unannehmbar.
8. Christus tritt als der siegreiche Retter voller Herrlichkeit in Erscheinung. Er ist das Licht der Welt, das vom Himmel gekommene Brot des Lebens (loh 8,12; 6,51). In ihm wird uns die Wiedergeburt und ewiges Leben geschenkt (Joh 5,24; 10,28). In seinem Munde steckt das zweischneidige Schwert seines machtvollen Wortes (Offb 1,16; 19, 15). Er wird die Welt richten und die Glaubenden retten (Apg 10,42; 1. Tim 4,10).
DIE SCHRIFT – Die Bibel besiegt zu allen Zeiten ihre Feinde. Sie ist stets lebendig und von Bedeutung für die Gegenwart. Sie ist ein Licht auf unserm Weg (Ps 119,105). Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes geht (Mt 4,4). Das lebendige und gegenwärtige Wort bringt dem Sünder Wiedergeburt und Rettung (l. Petr 1,23; Jak 1,21). Es ist das zweischneidige Schwert, das uns richtet (Hebr 4,12). Das Wort Gottes wird den Ungläubigen am Jüngsten Tag richten (Joh 12,48).
9. Christus offenbart sich dem Glauben: „Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen“ Joh 11,40). „Sei nicht ungläubig, sondern glaube! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott“ (20,27‑28).
DIE SCHRIFT – Nur die Glaubenden finden mit Gewinn den Zugang zur Schrift (l. Thess 2,13; Hebr 4,2). Sie erschließt sich nur denen, die an Jesus glauben (2. Kor 3,14-16).
10. Christus bekennt sich ohne Einschränkung zur Schrift, zu ihrer Inspiration, ihrer Vollmacht und zu ihrem endgültigen Charakter (Mt 4,4; 5,17‑18; Joh 10,35; usw).
DIE SCHRIFT – Die Schrift ebenfalls gibt ständig Zeugnis von Christus, welcher der Hauptinhalt ihrer Offenbarung ist (l. Petr 1,10‑12; Luk 24,27.44). Die zwei Erscheinungen des Wortes sind also unlöslich miteinander verbunden. Wie sollte der, welcher nicht an die Bibel glaubt, an den glauben, von dem sie zeugt? Und wer Jesus, das lebendige Wort, nicht aufnimmt, wie sollte er dem geschriebenen Wort vertrauen, welches die Grundlage seiner Lehre ist?
11. Nur durch Christus kennen wir den Vater (Joh 1,18). Wer Jesus gesehen hat, der hat den Vater gesehen und kommt zum Vater durch ihn (Joh 14,9.6). Wenn Christus spricht, dann spricht Gott und verlangt unbedingtes Vertrauen und restlosen Gehorsam (8,28.24).
DIE SCHRIFT – Allein die Bibel bringt die volle Offenbarung des Vaters und des Sohnes. Was wüßten wir außer durch sie über den wahren Gott und über unsern Erlöser Jesus Christus? (Joh 5,39). Daher schulden wir der geschriebenen Offenbarung unsern Glauben und unsre rückhaltlose Zustimmung (Offb 1,3; 22,18‑19).
II. Unser Verhältnis zum lebendigen Wort bestimmt auch unsere Haltung gegenüber dem geschriebenen Wort
Am Schluß dieser Gegenüberstellung betonen wir mit Nachdruck, daß wir keineswegs die Schrift anbeten. Der entscheidende Unterschied zwischen Christus und der Bibel bleibt: Der Herr ist einzig der göttliche Erlöser. Die Schrift ist nur das Mittel, von Gott eingegeben, das ihn offenbart und das zu ihm führt. Wir achten das heilige Buch und nehmen es in seiner Ganzheit an, aber Anbetung bringen wir nur dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist dar.
III. Das Geheimnis von den beiden verschiedenen Daseinsformen Christi und der Schrift
Wir haben gesehen, daß der fleischgewordene Christus zugleich ganz Gott ist (Joh 1,1.14; 20,28; Röm 9,5) und ganz Mensch (Hebr 2,14.17). Auch die Schrift ist durch das Wunder der Eingebung gleichzeitig ein göttliches und ein menschliches Wort. Wir maßen uns nicht an, eines dieser Wunder eher als das andere zu erklären, da wir außerstande sind, die Geburt des Menschen und die Wiedergeburt des Glaubenden restlos zu erhellen. Wir kommen mit einem Leib und mit einem Geist auf die Welt, und kein Gelehrter kann uns sagen, wo der eine beginnt und der andre aufhört, wo und wie beide zusammenhängen. Daß der Glaubende durch den Heiligen Geist eine göttliche Natur bekommt (Tit 3,5; 2. Petr 1,4), das ist für uns eine herrliche Gewißheit, die wir aber nicht begreifen können.
Geben wir hierzu Adolphe Monod das Wort:
„Wenn die Bibel spricht, redet Gott. Unser Vertrauen und unsre Unterwerfung der Schrift gegenüber hat so unbegrenzt zu sein, wie es die Wahrheit und die Treue Gottes sind … Bei genauem Zusehen lehrt dieses Buch unendlich viel über den Menschen … Ich kann bei den verschiedenen Verfassern ihre Persönlichkeit und ihren Charakter in ihrem Stil erkennen. Wir sehen, daß auch der menschliche Geist Anteil hat im Ausdruck des Wortes Gottes. Er war so durchdrungen von Gottes Gedanken, daß auf jeder Seite dieses Buches, das wir Wort Gottes nennen, man zugleich auch ein menschliches Wort vernimmt … Aber je göttlicher es ist, desto menschlicher ist es auch, man spürt die Macht und die Gegenwart des Heiligen Geistes und seinen Einfluß auf unsre Seelen um so mehr, als Gott, um es zu schreiben, sich solcher Werkzeuge bediente, in denen der Geist diese Macht und übernatürliche Erleuchtung wirken konnte. Daraus wurden dann die Gefäße, die bestimmt waren, die Wahrheit bis ans Ende der Welt zu tragen.
Die Schrift gibt manchmal der Person Jesu Christi und der Heiligen Schrift den gleichen Namen; sie nennt beide ‚Wort Gottes‘. Das eine Wort, Jesus Christus, ist das lebendige Gotteswort, die persönliche Erscheinung seiner Vollkommenheit unter den Menschen; das andre Wort, die Schrift, ist das geschriebene Gotteswort, eine Kundgebung der gleichen Vollkommenheit durch die Worte der Sprache. Für uns sind sie untrennbar: denn Jesus ist nur in der Schrift offenbart, und die Schrift ist uns nur gegeben, um uns Jesus Christus zu zeigen. So ist die Schrift das geschriebene Wort Gottes, wie Jesus Christus das lebendige Wort Gottes ist. Wer den menschlichen Charakter der Schrift unterstreicht, um ihre Göttlichkeit zu verkennen, denkt gleich wie derjenige, der die menschliche Gestalt Jesu Christi hervorhebt, um ihn der Gottgleichheit zu entkleiden. Es ist nicht erstaunlicher, daß die Schrift, obwohl Wort Gottes, zugleich menschliche Züge trägt, als es der Umstand ist, daß Jesus Christus, obwohl Gott, auch Mensch war. Wie sich die zwei Naturen (im einen Fall) und die zwei Stimmen (im andern) einigen, das macht den Kern unsres Glaubens aus in dieser Hinsicht. Es ist ein tiefes Geheimnis, wie Paulus sagt ein ‚Geheimnis der Ehrfurcht‘, das unsere Seelen mit Freude und Hoffnung erfüllt“ (Ad. Monod, Les Adieux, 1957, Groupes Missionaires, S. 169).
L. Gaussen kommt zu folgendem Schluß:
„Es verhält sich mit dem Glaubenssatz von der Inspiration wie mit der Fleischwerdung. Im einen wie im andern Lehrsatz steckt eine Tatsache, die in reichem Maß offenbart ist. Und mein Glaube nimmt sie in demselben Maße ernst. Aber ich versuche nicht, irgend etwas zu erklären; ich bin aufmerksam und gehorsam beiden Glaubenssätzen gegenüber und erkläre nichts … Nach dem einen spricht Gott selber in der Schrift; es ist das wunderbare Werk des Heiligen Geistes, der durch den Menschen und für den Menschen die göttlichen Geheimnisse aufschreibt … Und ‚diese ganze Schrift ist von Gott eingegeben‘, sagt Paulus. Welch hohes Geheimnis! Im andern Lehrsatz ist ‚das Wort, das am Anfang bei Gott war, das Gott war, Fleisch geworden’… Und derselbe Apostel sagt: ‚Unstreitig ist dieses Geheimnis groß, das Geheimnis der Ehrfurcht, Gott offenbart im Fleisch …‘ Fragt daher nicht: Wie kann Jesus Christus Mensch sein, da er Gott ist? Oder, wenn er Mensch ist, wie kann er Gott sein? Sagt noch weniger: Wenn die Schrift Gottes Wort ist, wie kann sie des Menschen Wort sein? Oder, wenn die Schrift Worte des Menschen sind, wie kann sie Gottes Wort sein? Nein, lesen wir es, erforschen wir es, glauben wir und beten wir an!“ (La véritable doctrine de L. Gaussen sur l’inspiration des Ecritures, Trois lettres, S. 13).
Dritter Teil: ‚DIE INSPIRATION‘
Erstes Kapitel
Definition der Inspiration (Allgemeines)
I. Definition
Die Offenbarung ist die Tat Gottes, durch die er sich seinem Geschöpf kundtut.
Die Inspiration (im engern Sinn des Wortes, wie wir es in diesem Werk auffassen), ist der entscheidende Einfluß des Heiligen Geistes auf die Verfasser des Alten und Neuen Testamentes, dank dessen sie die von Gott erhaltene Botschaft in genauer und beglaubigter Form verkündigen und niederschreiben. Diese Einwirkung leitete sie selbst bis in die Wahl der Worte hinein, um sie vor jedem Irrtum oder jeder Auslassung zu bewahren. (Wir werden später von den Ungenauigkeiten sprechen, die durch Abschreiber in den Text hineinkamen.) Eine gleiche Inspiration wurde den biblischen Verfassern gegeben auch in bezug auf Ereignisse oder Tatsachen, die ihnen ohne besondere Offenbarung schon bekannt waren, damit ihr Bericht dem Willen Gottes entspreche.
„Biblische Inspiration ist die Tätigkeit des Heiligen Geistes, durch die er den aktiven menschlichen Geist des biblischen Schreibers geheimnisvoll erfüllt, lenkt und überwaltet, so daß eine untrügliche, geistdurchwirkte Niederschrift entsteht, eine heilige Urkunde, ein Buch Gottes, mit dem sich der Geist Gottes auch weiterhin organisch verbindet“ (E. Sauer, Gott, Menschheit und Ewigkeit, S. 109).
II. Die klassische Stelle im 2. Brief an Timotheus 3,16‑17
1. Jede Schrift ist von Gott inspiriert (griechisch theopneustos, von Gott ausgeblasen und nicht „hineingeblasen“, eingegeben), hervorgegangen durch den schöpferischen Hauch Gottes, von ihm gegeben, von ihm gesprochen. Die berufenen Verfasser wurden von Gottes Willen ergriffen und von seiner Kraft getragen, die nicht die Schrift in irgend etwas oder irgend jemanden einhauchte, sondern sie direkt von Gottes Mund ausgehen ließ.
Die Schöpfung, die das andre große Buch Gottes darstellt, ist auf gleiche Weise entstanden. „Durch des Herrn Wort sind die Himmel gemacht: durch den Hauch seines Mundes ihr ganzes Heer“ (Ps 33,6).
Der Schriftsteller Josephus, Zeitgenosse von Paulus, sagt in seinem Buch Gegen Apion: „Die Propheten, welche die 22 heiligen Schriften (des Alten Testamentes) verfaßten, schrieben sie nach der Eingebung (pneustie), die von Gott kommt“ (1,7).
Folglich rührt die ganze Schrift, überall und völlig, von Gott her, obwohl sie von Menschen geschrieben und für den Menschen bestimmt ist.
2. Wie muß man 2. Tim 3,16 übersetzen? (siehe Albert Lüscher, Die letzten Zeiten und das inspirierte Wort, S. 90): Entweder: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich“, oder: „Alle von Gott eingegebene Schrift ist nützlich . . .“?
Es ist zu bedenken, daß im Griechischen das Wort ist nur inbegriffen ist und für uns irgendwo eingeschoben werden muß. Nach dem Geist der griechischen Sprache wird das Verb so eingesetzt wie in den nachstehenden Beispielen aus dem Neuen Testament, die alle in der gleichen Weise aufgebaut sind:
Röm 7,12: Das Gebot ist heilig, gerecht und gut (und nicht: das heilige Gebot ist auch gerecht und gut).
2. Kor 10,10: Seine Briefe sind stark und schwer (und nicht: seine starken Briefe sind auch schwer).
1. Tim 1,15: Das ist ein gewisses und teuer wertes Wort (und nicht: das gewisse Wort ist auch teuer wert).
Hebr 4,13: Alles ist bloß und aufgedeckt (und nicht: das Bloße ist auch aufgedeckt).
(Vergleiche dazu im Griechischen: 1. Kor 11,30; 1. Tim 4,4.9)
Also ist die folgende Übersetzung richtig: 2. Tim 3,16: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich.“
Nachdem dies gesagt ist, stellen wir fest, daß die andre Übersetzung „Alle von Gott eingegebene Schrift ist nützlich“, nichts andres bedeutet.
Es ergibt sich klar:
3. Jede Schrift (oder die ganze Schrift) ist eingegeben: nach dem Zusammenhang bezieht sich dies auf das Alte Testament, „die heilige Schrift“, wie Paulus sagt im Vers 15. Was hier ohne irgendeinen Vorbehalt vom Alten Testament ausgesagt ist, gilt offenbar auch für das ganze Neue Testament.
4. Es ist die Schrift, der Text selber, der in den Augen von Paulus eingegeben ist. Darauf kommt es uns an. Denn was würden uns die göttlichen Offenbarungen, welche die Verfasser empfingen, nützen, wenn diese nicht fähig gewesen wären, sie in ungefälschter Weise niederzuschreiben? Wir wissen, daß Bileam, David und Petrus zum Beispiel nicht unfehlbar waren in Worten und Handlungen, wenn sie nicht vom Geist Gottes erleuchtet waren (4. Mose 22‑24; 2. Sam 11; 24,1‑11; Gal 2,11‑14). Wenn Gott nur die Gedanken im Geist dieser Männer erleuchtet hätte, wüßten wir heute nichts mehr davon, da sie schon lange tot sind.
5. Jede Schrift ist nützlich. Das Wort ist nützlich, weil eingegeben und zum Nutzen eingegeben. Auch die Seiten und Bücher der Bibel, die am wenigsten gelesen werden, haben ihren Platz darin; wir schneiden nichts von ihr ab und fügen nichts hinzu (5. Mose 4,2; Offb 22,18‑19). Wir sind immer wieder versucht, uns mit ein paar bevorzugten Seiten oder einzelnen Versen, da und dort, zu begnügen. Aber alles bekommt seinen Wert durch den Zusammenhang: Die Stammbäume und Namenlisten sind für die Geschichte wertvoll! Die rituellen Gesetze im 2. und 3. Buch Mose zeigen dem Sünder in Bildform, wie er in Verbindung mit Gott kommen kann (was der Hebräerbrief ausführt); das Buch „Prediger“ weist auf die große Unvollkommenheit der irdischen Weisheit und der irdischen Güter hin; die Propheten decken den Ablauf des göttlichen Planes auf; die düsteren Seiten der historischen Bücher enthüllen den Ernst der Sünde, das Gericht Gottes und die unausweichliche Heilsnotwendigkeit; die Briefe geben unentbehrlichen Aufschluß über das Verhältnis zwischen der christlichen Lehre und dem Leben der Gemeinde, wie des einzelnen Glaubenden; usw.
Nach 2. Tim 3,16‑17 ist die ganze Schrift nützlich:
– um zu belehren, d. h. die Grundlage zu geben für die göttliche Wahrheit. „Über diese Seiten forschend nachzudenken ist die beste Vorlesung der Theologie und Religion“ (Ad. Monod). „Vom Himmel herab ließ er seine Stimme vernehmen, um dich zu belehren“ (5. Mose 4,36). „Alles, was zum voraus geschrieben wurde, ist für unsre Unterweisung geschrieben“ (Röm 15,4);
– um zu überzeugen: eine Überzeugung zu schaffen, den Irrtum zu widerlegen, der schädlicher ist als Unwissenheit. Des Menschen Verstand ist verdunkelt und sein Herz verhärtet (Eph 4,18); das göttliche Wort vermag ihm die Augen zu öffnen und ihn von der Wahrheit zu überzeugen (Jer 23,29; Hebr 4,12);
– um ihn zu bessern: ein verirrtes Gotteskind auf den geraden Weg zurückzuführen und ihm in der Liebe und mit der Vollmacht des Herrn Mahnung und Zurechtweisung zu erteilen. Der Mensch irrt so leicht ab, auf dem Gebiet der Sittlichkeit wie auf demjenigen der Lehre; darum bedarf er wie ein junger Baum des Stabes, der ihn fest aufrecht hält. „Wie wird ein junger Mann seinen Weg unsträflich gehen? Wenn er sich hält an dein Wort … Ich berge dein Wort in meinem Herzen, damit ich nicht wider dich sündige“ (Ps 119, 9.11);
– um die Gerechtigkeit zu lehren: es geht darum, den Glaubenden zu erziehen, zu bilden durch die geistige Zucht, die ihn zur vollen Mannesreife in Christus führt. Die Schrift wird nicht nur sein Denken, sondern auch sein Wesen prägen; sie wird ihm eine echte Daseinsberechtigung und eine umfassende Weltanschauung vermitteln. „Du machst mich mit deinem Gebot weiser als meine Feinde sind … Ich habe mehr Einsicht als alle meine Lehrer; denn über deine Mahnungen sinne ich nach.. . (Ps 119,98). „Die Schrift kann dich unterweisen zur Seligkeit“ (2. Tim 3,15);
– auf daß der Mensch Gottes vollkommen sei und geschickt zu jedem guten Werk. Dies ist das Ziel der Schrift: uns zum Heil zu führen durch die Begegnung mit dem Herrn, aus jedem von uns ein Eigentum Gottes zu machen, eine verantwortliche Persönlichkeit, die in ihrem Leben und Wirken den göttlichen Ursprung der ihr zuteilgewordenen Offenbarung bezeugt.
III. Das unerklärte und unerklärliche Wunder der Inspiration
Was können wir zum mindesten über den Vorgang der Inspiration wissen?
1. Der Ursprung der Inspiration nach Paulus (1. Kor 1 und 2).
a) Es gibt ein Denken, eine geheimnisvolle Weisheit Gottes, die verborgen und ewig ist (2,7.16).
b) Der von der Sünde verblendete Mensch kann natürlicherweise sie weder erkennen noch aufnehmen. Das Evangelium ist für ihn Torheit und Stein des Anstoßes (2,14.; 1,18).
c) Gott offenbart uns durch den Geist sein Wesen und sein Heil. Er hat diese Offenbarung denen zugedacht, die ihn lieben (2,9‑12).
d) Wenn wir diese wunderbare Gnade bekommen haben, können wir davon sprechen und sie verkünden (V 13). Paulus hat es mündlich getan, indem er Gottes Worte predigte (l. Thess 2,13), aber auch durch seine Briefe (l. Thess 4,8.15). Bei der Ausübung eines solchen Amtes waren die Apostel sichtlich geführt (beim Schreiben wohl noch mehr als beim Reden); ihre Reden (logoi griech. wörtlich: ihre Wörter, Ausdrücke) wurden ihnen vom Geist Gottes beigebracht (l. Kor 2,13).
e) Der geistliche Mensch, der wiedergeboren und dem Geist gehorsam ist, empfängt diese eingegebene Sprache. Er kennt sie und weiß sie zu beurteilen; er denkt die Gedanken Christi (2,14‑16).
2. Die Erklärungen des Apostels Paulus
In gleicher Weise spricht Petrus von der Art, in welcher das Alte Testament seinen Verfassern eingegeben wurde (l. Petr 1,10‑12; 2. Petr 1,19‑21; das Wort Prophet wird dabei im weitern Sinne von Dolmetscher oder Botschafter aufgefaßt).
a) Christus, Gottes Lamm, war vorherbestimmt vor Grundlegung der Welt, Urheber des Heils zu werden (l. Petr 1,19‑20).
b) Sein Geist zeigte ihnen die Zeit und die Umstände der Ankunft des Messias, seine Leiden und seine künftige Herrlichkeit (V. 11) . Denn dies ist der Kern der Schrift.
c) Diese Offenbarung ging über die Propheten hinaus; obwohl es ihnen klar war, daß andre die Erfüllung des Heils erleben würden, richteten sie doch ihre Nachforschungen darauf hin (V. 10).
d) Die Ankündigung des Werkes Christi ist Anlaß zu Staunen und Bewunderung für die Engel und Himmelsbewohner (V. 12; Eph 3,10).
e) Die Botschaft der alten Propheten lautet im wesentlichen gleich wie das Evangelium, das heute verkündigt wird in der Kraft des selben Heiligen Geistes (V. 12; 1. Thess 1,5).
Bewundern wir die Vorsicht und die Nüchternheit der Schrift. Sie bestätigt stets das Wunder der Inspiration, aber weder Paulus noch Petrus noch sonst ein anderer enthüllen uns, wie sie vor sich ging. Auch über den genauen Vorgang, wie der göttliche Einfluß sich bei den Verfassern auswirkte, sagen sie nichts aus. Es ziemt uns so wenig, dieses Geheimnis zu erklären, wie dasjenige der Fleischwerdung Jesu Christi, der Wiedergeburt des Glaubenden oder das der Weltschöpfung. Aber die Betrachtung einiger bestimmter Fälle in der Bibel wird uns erleichtern, gewisse Seiten der göttlichen Einwirkung zu verstehen.
IV. Wie hat Gott zu seinen Propheten gesprochen?
„Nachdem vorzeiten Gott manchmal und auf verschiedene Weise zu den Vätern gesprochen hat durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn“ (Hebr 1,1‑2). Es ist immer der gleiche Gott, der im Alten Testament wie im Evangelium spricht.
Sehen wir zu, auf welche verschiedene Arten er es getan hat.
1. Eine entscheidende Begegnung mit Gott bedeutet in der Regel den Anfang in der Laufbahn eines Propheten. Das beweist, daß Gott den ersten Schritt tat, indem er sein Werkzeug auswählte und zurüstete, bevor er ihm die Botschaft mitteilte.
Mose, beim brennenden Busch, beteuert Gott gegenüber, daß er nicht reden kann. Gott antwortet ihm: „Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen? … So geh nun hin; ich will mit deinem Munde sein und dich lehren, was du sagen sollst … (Aaron) wird für dich zum Volk sprechen; er wird dein Mund sein, und du sollst für ihn Gott sein“ (2. Mose 4,11‑12.16).
Samuel. „Zu jener Zeit war das Wort des Herrn selten, und es gab kaum noch Offenbarungen.. . Samuel hatte den Herrn noch nicht erkannt und des Herrn Wort war ihm noch nicht offenbart.“ Der Herr ruft Samuel dreimal, der ihm antwortete: „Rede, Herr, denn dein Knecht hört … Samuel ließ keines von des Herrn Worten zur Erde fallen . . . Der Herr offenbarte sich Samuel zu Silo durch sein Wort“ (l. Sam 3).
Jesaja erblickte den Herrn in seiner Heiligkeit. Ein Seraphim reinigt seine Lippen mit einer glühenden Kohle vom Altar. Der Prophet fügt hinzu: „Ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden und wer wird mein Bote sein?“ Ich aber antwortete: „Hier bin ich, sende mich!“ Und er sprach: „Geh hin und sprich zu diesem Volk!“ (Jes 6,1‑9).
Jeremia. „Es erging an mich das Wort des Herrn: noch ehe ich dich bildete im Mutterleibe, habe ich dich erwählt … habe ich dich geweiht zum Propheten, für die Völker habe ich dich bestimmt … Alles, was ich dir gebiete, wirst du reden … Ich lege meine Worte in deinen Mund“ (Jer 1,4‑9). „Siehe, ich mache meine Worte in deinem Munde zu Feuer und dieses Volk zu Brennholz, und es wird sie verzehren“ (5,14). . . .
Hesekiel. Er sagte zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den Kindern Israel … Alle meine Worte, die ich dir sage, die fasse mit dem Herzen und nimm sie zu Ohren … Rede zu ihnen und sage ihnen, mögen sie es nun hören oder mögen sie es lassen: So spricht Gott der Herr!“ Der Herr gibt ihm als Sinnbild eine Rolle zu essen, auf welcher die Botschaft geschrieben steht, die zugleich süß und bitter ist und die er ausrichten sollte (Hes 2,1‑3.11).
Amos erklärt: „Ich bin kein Prophet und kein Prophetenjünger, sondern ein Viehhirt bin ich und ziehe Maulbeerfeigen. Aber der Herr hat mich hinter der Herde weggenommen und hat zu mir gesprochen: Gehe hin und weissage meinem Volk Israel“ (Amos 7,14).
Paulus. Ananias sagt zu ihm: „Der Gott unsrer Väter hat dich verordnet, daß du seinen Willen erkennen sollst und sehen den Gerechten und hören die Stimme aus seinem Munde; denn du wirst für ihn vor allen Menschen Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört hast“ (Apg 22,14). Der Apostel fügt selber dazu: „Als es aber dem, der mich von meiner Mutter Leibe an ausgesondert und durch seine Gnade berufen hat, gefiel, seinen Sohn an mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Heiden verkündigen sollte, fuhr ich zu und besprach mich nicht mit Fleisch und Blut“ (Gal 1,15).
Johannes. Der Geist kam über mich am Tag des Herrn, und ich hörte hinter mir eine große Stimme, wie von einer Posaune, die sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es zu den sieben Gemeinden. Schreibe, was Du gesehen hast, und was ist, und was geschehen soll danach“ (Offb 1,10). Auch Johannes soll „ein Buch essen“, dann sagt man ihm: „Du mußt abermals weissagen von Völkern und Nationen und Sprachen und vielen Königen“ (Offb 10,8‑11).
Christus selber, das fleischgewordene Wort, empfängt seine Botschaft vom Vater. Jesaja sagt von ihm: „Der Herr hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht“ (Jes 49,2). „Gott, der Herr, hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, daß ich wisse, mit dem Müden zur rechten Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören (Jes 50,4). . . .
Jesus seinerseits erklärt nachdrücklich: „Ich tue nichts von mir selber, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich“ (Joh 8,28). Zu seinem Vater sagt er: „Die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen . . ., und sie haben dein Wort behalten“ (Joh 17,8).
2. Gott gewährt die Inspiration nach seinem freien Ermessen, jedenfalls ist sie nicht von unbeschränkter Dauer, denn der Geist spricht, läßt schreiben, wann und wie er will. Häufig lesen wir beispielsweise:
„Das Wort des Herrn erging an Jeremia zur Zeit Josias, im dreizehnten Jahr seiner Herrschaft (Jer 1,2)
bei Anlaß der Dürre (14,1)
im vierten Jahr Jojakims (25,1)
im Anfang der Herrschaft Jojakims (26,1);
im gleichen Jahr im Anfang der Herrschaft Zedekias (28,1)
beim Angriff von Nebukadnezar (34,1)
im Gefängnishof (39,15) usw.
Habakuk schreibt: „Hier stehe ich auf meiner Warte und stelle mich auf meinen Turm und schaue und sehe zu, was er mir sagen und antworten werde auf das, was ich ihm vorgehalten habe. Der Herr antwortete mir und sprach: Schreib auf, was du geschaut hast“ (Hab 2,1).
Die Propheten sprachen nicht, wie sie wollten, irgendwann oder zu bestimmten Tagen. Sie warteten auf eine Botschaft von oben. Zu Mose sprach Gott „von Mund zu Mund“ (4. Mose 12,6‑8). Aber er konnte sich auch in einem Traum kundtun, wie er sich Daniel kundtat (Dan 7,1), oder in einem Gesicht (Dan 8,1), oder indem er einen Engel sandte (Dan 9,21; 10,5‑11), ausnahmsweise auch in einer Verzückung (2. Kor 12,2; Offb 1,10).
3. Im allgemeinen behielt der biblische Verfasser sein klares Bewußtsein; er sprach mit Gott, stellte ihm Fragen und teilt uns seine Empfindungen mit (Jes 6,11; Jer 14,13; Hes 9,8 usw.).
Daniel erschrickt über die Gesichte, aber es wird ihm sofort eine Erklärung zuteil (Dan 7,15; 19,28;), es sei denn, er erhalte den Befehl, die Botschaft vorläufig zu versiegeln (8,26; 12,4; Offb 10,4).
4. Oft übersteigt die Botschaft das Verständnis des Verfassers, ihm bewußt oder unbewußt. Wir haben dies eben in bezug auf Daniel festgestellt. Jedenfalls sind die göttlichen Dinge „in keines Menschen Herz gekommen“ (l. Kor 2,9); die Eröffnung über Gottes Pläne für die Gegenwart und besonders für die Zukunft kann den geistvollsten Menschen verblüffen. Die Propheten begriffen, daß andre die Erfüllung ihrer eigenen Botschaft sehen würden, und verständlicherweise hätten sie gern mehr erfahren (l. Petr 1,10). Deshalb sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht! Denn ich sage euch, viele Propheten und Könige hätten das zu sehen gewünscht, was ihr seht, und sie haben es nicht gesehen“ (Luk 10,23). Im 22. Psalm beschreibt David genau, was er nicht erlebte: die Qual der Kreuzigung (Ps 22,1; 7‑9; 15‑19), die den Juden unbekannt war und von den Römern kurz vor unsrer Zeitrechnung in Palästina eingeführt wurde. Konnte er die messianische Anspielung seiner Worte im Ps 16,8‑10 ahnen? Jedenfalls war es für Petrus und Paulus leichter, in dieser Stelle eine Voraussage der Auferstehung Christi zu erkennen (Apg 2,24; 13,35).
Daniel empfängt und schreibt Worte nieder, die offensichtlich weder für ihn noch für seine Zeit gedacht sind. Darum sagt er. „Ich hörte, aber ich verstand nicht.“ Es wurde ihm geantwortet: „Geh hin, Daniel, denn diese Worte sind verborgen und versiegelt bis auf die letzte Zeit“ (Dan 12,4.8).
Es verhält sich erst recht so mit denjenigen, die, ohne es zu ahnen, als Vorbilder der Person Christi und seines Werkes aufgefaßt wurden:
Adam, ein Bild dessen, der kommen sollte (Röm 5,14),
Hagar und Sara, welche die beiden Bündnisse darstellen (Gal 4, 22‑26);
Aaron, das Vorbild Jesu als Hoherpriester (Hebr Kap, 7‑10) usw.
Diese Personen waren gewissermaßen Träger einer Offenbarung, deren Tragweite sie nicht erfassen konnten. Dies alles zeigt uns, daß, wenn auch das menschliche Instrument für die Übertragung der Botschaft eine gewisse Bedeutung hat, doch der Urheber der Offenbarung eine ungleich entscheidendere Rolle spielt.
5. Die Inspiration konnte als unbedingter Zwang vermittelt werden
Der Herr legt Jeremia einen schrecklichen Auftrag auf, dem dieser vergeblich zu widerstehen sucht: „Du hast mich überredet, Herr, und ich habe mich überreden lassen; du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen, ‑ aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich. … Denn so oft ich rede, muß ich schreien; ‚Frevel und Gewalt‘ muß ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Spott und Hohn geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, daß ich’s nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen“ (Jer 20,7‑9). Gleich bei seiner Berufung hatte Gott den Propheten gemahnt: „Du wirst alles sagen, was ich dir gebiete … Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund“ (1,7).
Bileam, der gekommen war, dem Volk zu fluchen, wurde förmlich gezwungen, es zu segnen. Der Engel sagte zu ihm: „Geh … aber du wirst nur die Worte wiederholen, die ich dir sage.“ Und wie Balak sich empört, antwortet ihm Bileam: „Ich vermochte nichts zu tun von mir aus … Ich werde wiederholen, was der Herr sagt“ (4. Mose 22,35; 24,13).
Kaiphas sprach auch nicht von sich aus, als er weissagte, es wäre besser, Jesus würde für das Volk sterben. In diesen Umständen mußte nach Gottes Willen die Erklärung gerade durch den Hohen Priester erfolgen, auch wenn er ungläubig war (Joh 11,51).
Tatsächlich ist nie eine Weissagung aus menschlichem Willen heraus ausgesprochen worden (2. Petr 1,21).
6. Es kam auch vor, daß der Verfasser sich nicht Rechenschaft gab über die auf ihn ausgeübte göttliche Einwirkung
Dachte Lukas daran, daß sein Bericht zu den Heiligen Schriften gezählt würde, da er als treuer Berichterstatter die Zeugnisse sammelte und die Augenzeugen befragte? Er schrieb Tatsachen auf, die ihm meistens ohne übernatürliche Offenbarung bekannt geworden waren. Aber die Inspiration leitete ihn in der Auswahl der Tatbestände und in der Auslassung dessen, was der Heilige Geist entbehrlich fand. Das gleiche würde auch von den Verfassern der andern geschichtlichen Bücher der Bibel gelten.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Inspiration einen Menschen ergreifen konnte,
ohne daß er es voraussieht, wie der alte Prophet im 1. Buch der Könige, Kap. 13,20
ohne daß er es weiß, wie Kaiphas Joh 11,51
ohne daß er es will, wie Bileam 4. Mose 23‑24
ohne daß er es versteht, wie Daniel Dan 12,8‑9
7. Ihrem Wesen nach kennt die göttliche Inspiration keine Abstufungen
Sie ist immer vollkommen und umfassend. Wie wir eben sahen, war Bileam, da er die Weissagung aussprach, unter der Leitung des Heiligen Geistes, genau wie David, als er ausrief: „Der Geist des Herrn spricht durch mich, und sein Wort ist auf meiner Zunge“ (2. Sam 23,2). Die Weissagung des Kaiphas ist gerade so genau und übernatürlich wie die Offenbarungen an den Apostel Paulus (Joh 11,51; Eph 3,3.5).
„Die Erleuchtung hat Abstufungen, nicht aber die Theopneustie. Der Prophet ist mehr oder weniger von Gott erleuchtet; aber sein Wort ist nicht mehr oder weniger eingegeben. Entweder es ist gegeben, oder es fehlt; es kommt von Gott oder nicht von ihm. Es gibt da weder Maß noch Grad, weder Vermehrung noch Verminderung. David war von Gott erleuchtet; Johannes der Täufer war es noch mehr als David; ein einfacher Christ kann es noch mehr sein als Johannes der Täufer; ein Apostel war es noch mehr als solch ein Christ und Jesus Christus mehr als dieser Apostel. Aber das Wort Davids, ja sogar das von Bileam, das von Johannes dem Täufer und von Paulus ist von Gott, wie das Jesu Christi! Es ist Gottes Wort“ (L. Gaussen, Théopneustic, S. 320).
8. Die Propheten haben die unbedingte Gewißheit, Gottes eigne Worte zu übermitteln.
Mose wiederholt allein im 3. Buch Mose mehr als fünfzigmal Sätze wie diesen: „Der Herr redete mit Mose und sprach: Sprich zu den Kindern Israel und sage ihnen…“ Abgesehen von einigen Versen in den Kapiteln 10 und 24 enthält das 3. Buch Mose nur Worte Gottes, von Mose für das Volk Israel aufgeschrieben.
Von David lasen wir eben seinen Ausruf: „Der Geist des Herrn spricht durch mich, und sein Wort ist auf meiner Zunge“ (2. Sam 23,2).
Jeremia gebraucht regelmäßig die Formeln: „Dies ist das Wort des Herrn, das geschah zu Jeremia“ ‑ „Der Herr sprach …
„Also spricht der Herr …“
Paulus zögert nicht, zu sagen: „Ihr habt das Wort, das wir euch brachten, aufgenommen, nicht als Menschenwort, sondern als das, was es wirklich ist, als das Wort des Herrn“ (l. Thess 2,13).
Johannes erklärt feierlich: „Offenbarung Jesu Christi an seinen Knecht Johannes, der das Wort Gottes bezeugt … So spricht der Sohn Gottes … Wer Ohren hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt … Dies sind die wahrhaftigen Worte Gottes“ (Offb 1,1; 2,18; 19,9).
Wir werden später genauer auf die wichtige Frage eingehen: Ist die Bibel Gottes Wort?
Zweites Kapitel
Verschiedene Auffassungen der Inspiration
Es gibt hauptsächlich vier Arten, die Heilige Schrift zu betrachten:
‑ Sie ist ein hervorragendes, menschliches Buch ohne göttliche Eingebung.
‑ Sie ist teilweise von Gott eingegeben.
‑ Sie ist rein göttlicher Natur, ohne menschlichen Beitrag.
‑ Sie ist zugleich göttlich und menschlich, indem Gott den biblischen Verfassern, die in seinem Namen sprechen, die volle
Eingebung schenkte.
Betrachten wir hier die ersten drei Auffassungen.
I. Die Bibel als hervorragendes menschliches Buch ohne göttliche Eingebung
Wie es genialen Künstlern, Schriftstellern, Dichtern, Musikern gelang, unvergleichliche Meisterwerke zu schaffen, so konnten auf religiösem Gebiet auch außerordentlich begabte Geister die Schrift verfassen. Sie hätten ungewöhnliche Intuitionen gehabt als seherisch Begabte; ihre Werke nähmen den Platz ein neben Homers Odyssee, Mohammeds Koran, Dantes Göttlicher Komödie, Shakespeares Tragödien und den heiligen Hindu‑Büchern.
Es mag sein, daß die Bibel von allen diesen Werken das Größte ist, ein einzigartiges Denkmal der Antike, das umfassendste Buch der Menschheit. Aber sie ist wie jedes andre menschliche Werk Fehlern unterworfen und nicht direkter göttlicher Einwirkung zuzuschreiben.
Diese Ansicht von der „natürlichen Eingebung“ verleugnet in Wirklichkeit die wahrhaftige Inspiration. Indem sie den menschlichen Verfasser emporhebt und den göttlichen ausschließt, ist sie der Ausdruck des Unglaubens. Es scheint klar zu sein, daß ihre Beweisführung nicht aufrecht zu halten ist angesichts der folgenden Tatsachen:
Die strahlende Gestalt Christi überragt an Reinheit, Liebe, Gerechtigkeit, Vollkommenheit alles, was in der Weltliteratur vorkommen kann. Woher hätten die Verfasser der Evangelien ein solches Vorbild gehabt, das hienieden nirgends sonst vorhanden ist? Selbst J. I. Rousseau erklärt dazu: „Solches kann nicht erfunden werden.“ Um eine solche Persönlichkeit zu „schaffen“, hätten die Verfasser ihm überlegen sein müssen, denn der Künstler ist stets größer als sein Werk. Die Jünger hingegen wissen und bekennen, daß sie von solcher Vollkommenheit weit entfernt sind. Andrerseits hätten die biblischen Schriftsteller auch noch andre Werke schreiben können, wenn sie schon fähig waren, die erhabenen Seiten der Schrift aufzusetzen. Wie wäre es dann zu erklären, daß sie, sich selber überlassen, außer den kanonischen Schriften nichts andres, Ähnliches zustande brachten?
Es gibt noch manche andere Feststellungen über den göttlichen Charakter der Schrift, auf die wir weiter unten eingehen und die alle ohne übernatürliche Einwirkung unverständlich wären. Wir wollen an dieser Stelle nur noch eines erwähnen: Wie wäre es möglich, daß die biblischen Verfasser so viele genaue Weissagungen geben konnten, welche die Geschichte bestätigte, wenn es ihnen nicht von oben gezeigt worden wäre?
Wenn die Schrift nur ein Erzeugnis des menschlichen Gehirnes wäre, das so unzuverlässig ist, würde sie das Ziel ganz verfehlen, das darin besteht, uns die gewisse Kenntnis der Wahrheit zu übermitteln.
Il. Die Bibel ist nur teilweise eingegeben
Die recht zahlreichen Vertreter dieser Ansicht stellen sie auf ganz verschiedene Weise dar:
1. Die Inspiration bezog sich nur auf die Gedanken des biblischen Verfassers, nicht auf die Worte seiner Schriften
Nach dieser Auffassung hätte ihm Gott wohl die Gedanken seiner Offenbarung in den großen Linien mitgeteilt, ihm aber überlassen, sie nach seinem Belieben, in seiner Sprache weiterzugeben.
In Wirklichkeit können Gedanken nicht anders erfaßt und wiedergegeben werden als durch Worte. Wenn der Gedanke, der dem Menschen mitgeteilt wird, eine göttliche Offenbarung ist, so hat der Ausdruck, den man ihr gibt, größte Wichtigkeit. Das eine kann nicht vom andern getrennt werden. In jedem juristischen Dokument kann alles von einem einzigen Ausdruck abhängen. Die Kraft und die Tragweite der biblischen Verheißungen beruhen oft auf einem besondern Wort. Das Studium der Auslegung der Heiligen Schrift in den Grundsprachen besteht in einem peinlich genauen Untersuchen der Wörter. Wenn diese sprachliche Einkleidung nicht eingegeben ist, verliert dieses Studium seinen Gegenstand. Die Bibel selbst betont dieses Gewicht der Wörter. Was Paulus betrifft, so sagt er über die von Gottes Geist offenbarten Dinge folgendes:
„. . . Wir sprechen davon, nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt“ (l. Kor 2,13). Hinter dieser Unterscheidung zwischen eingegebenen Gedanken und den dem Belieben des Verfassers überlassenen Wörtern versteckt sich im Grund der, welcher nicht an die Verbindlichkeit des biblischen Textes glaubt. Man scheint zuzugeben, daß Gott zu den Propheten sprach, aber man behält sich vor, ihre geschriebene Botschaft in aller Freiheit zurückzuweisen oder sie zu verbessern. So hofft man, gewisse schwierige Stellen des Textes umgehen zu können. Aber wenn die Ausdrücke ungenau sind, geht auch die Sicherheit, Gottes Gedanken zu erkennen, verloren. Übrigens bringt diese irrationale Annahme keine Lösung. Wenn einige Leser es sich schwer vorstellen können, daß Gott die Verfasser in der Wahl der Wörter leitete, ist es für sie dann leichter, zu erklären, wie er ihnen die Gedanken eingab? Wenn Mose von der Schöpfung der Welt spricht, wenn David, tausend Jahre zum voraus, die Gebete des Gottessohnes am Kreuz betet, wenn Salomo die göttliche Weisheit sprechen läßt, wenn Daniel, ohne ganz zu verstehen, in Einzelheiten die entfernten Geschicke der Welt und des Gottesvolkes wiedergibt, wenn die ungeschulten Fischer aus Galiläa die erhabenen Seiten des Evangeliums niederschreiben, wenn Paulus die tiefsten Wahrheiten des Heils darlegt, wenn schließlich Johannes in einem Fresco‑Gemälde in großen Strichen die Ewigkeit schildert, war es da nicht unumgänglich nötig, daß ihnen auch die geringsten Wörter von Gott eingegeben wurden? An Pfingsten begannen wohl die Gläubigen in fünfzehn verschiedenen Sprachen die Wundertaten des Herrn zu loben, „wie es ihnen sich auszudrücken der Geist eingab“ (Apg 2,4‑11) !
Wir fassen noch einige Äußerungen von L. Gaussen zusammen:
Wenn man sagt, die Gedanken seien von Gott, die Worte aber von Menschen, heftet man diesen sogleich Widersprüche, Versehen und Unkenntnis an. Diese angeblichen Irrtümer sind also vielmehr in den Gedanken als in den Wörtern begründet. Wir können sie nicht voneinander trennen, denn eine Offenbarung der Gedanken Gottes bedingt auch diejenige der sprachlichen Mitteilung.
Wenn Gott die Schrift eingab, so hat er ständig über der Gestaltung des Textes gewacht, aber er hat nicht immer die übrigen Gedanken des Verfassers eingegeben. Paulus war im Irrtum dem Hohenpriester gegenüber, irrte aber nicht, wenn er Gottes Wort schrieb und wenn Christus aus ihm sprach (Apg 23,5; 1. Thess 4,15; 2. Kor 13,3). Petrus täuschte sich Christus gegenüber und in Antiochia (Mt 16,22‑23; Gal 2,11‑14), nicht aber, wenn er Gottes Weisungen niederschrieb. Ebenso Bileam, als seine schlechten Gedanken in Segensworte verwandelt wurden (4. Mose 22,6.38; 23,5). Wir stellen zusammen:
Die Inspiration der Gedanken kann dem Glaubenden gewährt werden;
die Inspiration der Worte macht den Propheten aus;
die Inspiration der Schriften macht den biblischen Verfasser.
2. Die Auffassung, daß nur die sittliche und geistliche Belehrung der Bibel eingegeben sei
Man sagt, Gott habe nur die übernatürlichen, dem Menschengeist verschlossenen Dinge mitgeteilt. Da er nicht unnötige Wunder wirke, habe er es den Verfassern überlassen, was sie sonst in bezug auf Geschichte und zeitgenössisches Denken wußten, auf ihre Art darzustellen. So hätten sich viele Ungenauigkeiten, Legenden in die Bibel eingeschlichen und Begriffe, die wir vom modernen Denken aus als falsch beurteilen.
Darauf antworten wir, daß ein Zeuge, der in einem Punkt Falsches und Irriges aussagt, kaum in andern Punkten als wahr angenommen wird.
War es nötig, daß die geschichtlichen Berichte eingegeben waren?
Es ist wichtig zu beachten, daß die jüdisch‑christliche Religion sich in der Geschichte verwirklicht hat. Die großen Tatsachen der Offenbarung und der Erlösung haben sich an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich zugetragen. Wenn diese Tatbestände uns nur durch ungenaue, sagenhafte (oder wie man heute sagt mythische) Erzählungen bekanntwerden, welche geistliche Sicherheit können wir darauf gründen?
Die Bibel selber betont die Wahrhaftigkeit und den geistlichen Gehalt der geschichtlichen Berichte. Jesus Christus nimmt ohne Vorbehalt die Darstellung der großen Ereignisse des Alten Testamentes an. Paulus erklärt, sie seien zu unsrer Belehrung als Vorbild für die geistlichen Wahrheiten des Evangeliums geschrieben (l. Kor 10,4). Die Verfasser der geschichtlichen Bücher hatten die Inspiration um so nötiger, als sie an die Ereignisse, so wie Gott sie sah, die Offenbarungen, die Ermahnungen und Weissagungen, die unfehlbar göttlichen Ursprungs waren, untrennbar anknüpften.
So enthielt die schlichte Berichterstattung der Vergangenheit ohne Wissen der Schreibenden nach Gottes Willen oft eine genaue Vorausnahme vom Bild des Messias, von seinem Wesen, seinem Leiden, seinem Tod und seiner Herrlichkeit. Adam war „ein Bild dessen, der kommen sollte“ (Röm 5,14); das Wasser der Sintflut war „ein Bild der Taufe“ (l. Petr 3,21); Hagar und Sara versinnbildlichten die beiden Bündnisse des Gesetzes und der Gnade (Gal 4,24); das israelitische Passah‑Fest und das geopferte Lamm stellten „Christus, unser Osterlamm“ dar (l. Kor 5,7); der geistliche Fels am Horeb „war Christus“ (l. Kor 10,4) usw.
Schließlich waren die biblischen Geschichtsschreiber darauf angewiesen, in der Wahl der vorhandenen Stoffe geleitet zu werden, Schritt um Schritt. Johannes sagt (Joh 21,25), daß die Welt die Bücher nicht fassen würde, die über alle Taten Jesu zu schreiben wären. Welche göttliche Eingebung war nötig, um den Evangelien diese Nüchternheit, Kürze und unvergleichliche Vielfalt zu verleihen (ganz zu schweigen von den andern geschichtlichen Büchern)!
Das gilt so sehr, daß, je mehr man sich in die Kenntnis der Schrift vertieft, man darin um so mehr geistliche Nahrung findet. Das entspricht ganz dem Wort: „Alles ist zum voraus für unsre Unterweisung geschrieben worden“ (Röm 15,4). Es wird einen Tag geben, wo wir ohne Zweifel in aller Klarheit erkennen werden, daß in der Bibel Geschichte, Offenbarung und Inspiration sich völlig decken.
3. Die Ansicht, die Bibel „enthalte“, aber „sei nicht“ das Wort Gottes
So heißt das modische Schlagwort. Für viele Theologen schließt die Schrift viele Mythen, Legenden und Irrtümer ein, was sie, wie sie sagen, nicht daran hindert, auf ihre Weise Gottes Wort darin zu sehen. Nach ihrer Meinung kann keine geschulte und ehrliche Person an einer völligen Inspiration festhalten. Für die moderne Wissenschaft sei eine solche naive Auffassung eindeutig unhaltbar. . . .
Einer der einflußreichsten Theologen der Gegenwart, Rudolf Bultmann, ist bestrebt, den Bibeltext von allen Mythen zu befreien, um das Wesentliche des Evangeliums, das kerygma (griech.: Verkündigung) daraus zu behalten: die zu predigende Wahrheit.
Nach ihm sollten folgende Elemente beseitigt werden, die, weil zu mythisch, dem modernen Geist unannehmbar sind. Es handelt sich in Wirklichkeit um alles, was übernatürlich oder ein Wunder ist:
Christi Dasein vor seinem irdischen Leben
Die Jungfrauengeburt
Seine Gottheit und Seine Wunder
Sein stellvertretender Tod am Kreuz
Seine Auferstehung, und diejenige der Glaubenden
Seine Himmelfahrt
Seine Wiederkunft in Herrlichkeit
Das Endgericht
Das Vorhandensein guter oder böser Geister
Die Persönlichkeit und die Kraft des Heiligen Geistes
Die Lehre von der Dreieinigkeit
Der Tod als Folge der Sünde und Die Lehre von der Erbsünde, usw.
(Vgl. Kerygma und Mythos und Theologie des Neuen Testamentes von Rudolf Bultmann).
Nachdem man in dieser Weise den biblischen Text entmythologisiert hat, braucht man sich kaum zu fragen, was vom Wesentlichen des Evangeliums übrig bleibt, aus dem das kerygma herausgeschält werden sollte. Das gleiche Sezieren wird noch radikaler dem Alten Testament gegenüber angewendet, in welchem die Mythen und Legenden die Elemente göttlichen Wortes fast ganz überwuchern. Wäre es nicht letzte Konsequenz der Bultmannschen Logik, daß Gott selber als Mythus erklärt und abgelehnt würde? Wenn die Schrift dermaßen von zweifelhaften, ungenauen Angaben erfüllt ist, kann sie nicht an sich als Offenbarung Gottes gelten. Deshalb erklären jene Gelehrten, daß sie nur ein menschliches Echo, ein dem Irrtum unterworfenes Zeugnis von der Offenbarung sei. Wir begegnen hier wiederum der Auffassung, daß Gott zu den biblischen Verfassern gesprochen habe, daß diese aber, nachher sich selber überlassen, Ungenauigkeiten, Beschönigungen und Legenden in ihre Erinnerungen einflochten. Es ist sonnenklar, daß es in diesem Fall niemandem möglich wäre, in diesem Gemisch die Wahrheit vom Irrtum zu unterscheiden.
Um diese Schwierigkeit zu vermeiden, haben große Theologen erklärt: die Bibel ist ein menschliches Buch. Aber Gott kann bewirken, daß es zu seinem Wort „werde“, wenn er uns dadurch eine Botschaft zuteil werden läßt. In diesem Augenblick der „persönlichen Begegnung“ teilt Gott etwas von seiner Wahrheit mit; das ändert nichts an der Tatsache, daß der in Frage kommende biblische Bericht legendär, ungenau oder tendenziös bleibt. . . .
Es fällt uns schwer, uns vorzustellen, daß Gott sich fehlerhafter Dinge bedienen könnte, um uns die Wahrheit zu lehren. Wenn schon der Text Irrtümer enthält, durch welchen Prüfstein können wir dann die Erfahrung des Glaubenden nachprüfen, für den die Bibelstelle mit einem Schlag Wort Gottes „geworden“ ist? Eine solche Theologie müßte zu einer recht subjektiven Mystik führen.
Halten wir hier einmal inne, um uns in die Lage des betroffenen einfachen Gläubigen zu versetzen, der in seinem Glauben an die Schrift erschüttert wird. Man empfiehlt ihm, nur das Gute herauszulesen. Aber wir fragen nochmals, wie soll er das Richtige vom Falschen, das Menschliche vom Göttlichen zu unterscheiden vermögen?
Wer entscheiden will, was in der Bibel eingegeben ist und was nicht, stellt sich über die Schrift und verliert den göttlichen Zuspruch.
In der Praxis ergibt sich aus dieser Unmöglichkeit, eine Sichtung durchzuführen, eine Art Zwielicht. Man überläßt es einem zu entscheiden, ob jenes Gebot ernst zu nehmen ist oder nicht, ob diese Verheißung gewiß oder trügerisch ist, ob jener Verfasser lügt oder die Wahrheit sagt. Überall tauchen Fragezeichen auf. Die Predigt ist dadurch gelähmt, denn der Prediger muß über Glaubenssätze reden, an denen er zweifelt, oder über Berichte, die er für Legenden hält. Meistens wird er kaum wagen, von der Kanzel herab zu sagen, daß die Berichte von der Schöpfung und der Sintflut nur Mythen sind und die fünf Bücher Mose nicht verbürgte Urkunden darstellen. Und was sollen diejenigen predigen, welche die Berichte von der Jungfrauengeburt, vom Kreuz, von der Auferstehung und der Wiederkunft Christi in Herrlichkeit als Mythen betrachten? Einer von ihnen erklärte jüngst in großer Öffentlichkeit: Als ich Student war, ereiferten wir uns, meine Kameraden und ich, darüber, zu wissen, ob das Grab Christi am Ostermorgen wirklich leer war oder nicht. Heute habe ich begriffen, daß dies gar keine Bedeutung hat.“ Vor kurzem las ein andrer Prediger in einer Weihnachtsfeier den Evangelienbericht und fügte hinzu: „So erzählen es Matthäus und Lukas, aber wir wissen, daß dies eine Legende ist.“
Wenn ein großer Teil des biblischen Textes unecht und mythisch ist, was bleibt dann noch verbürgt? Dann hätten Jesus selbst und die Propheten wie die Apostel sich getäuscht, denn sie glaubten ohne Vorbehalt an die Heilige Schrift. Wem soll man sich dann anvertrauen? Denn man kann unmöglich sein diesseitiges und sein jenseitiges Leben abhängen lassen von einem so unzuverlässigen Buch. Soll man sich einem der großen Theologen verschreiben, obwohl man voraussieht, daß seine Gedanken gar bald überholt sein werden? Oder suchen wir Rettung in der Kirche, wie wandelbar und fehlbar sie sich auch im Lauf der Geschichte erwiesen habe, oder in unserm „religiösen Gewissen“, das uns immer wieder straucheln läßt?
4. Christus allein ist „das Wort Gottes“
Viele sagen uns, um uns zu beruhigen: „Wir glauben restlos an Gottes Wort, aber dieses ist Christus allein, von dem die Bibel nur ein Echo ist. Man darf ihn nicht mit der Bibel gleichsetzen. Eine solche Erklärung scheint zunächst recht fromm zu sein ‑ aber sie ist trotzdem unvollständig. Gewiß ist Christus das eine Wort des Herrn, ewig, schöpferisch, fleischgeworden, um uns zu erlösen (l. Joh 1,1‑3.14). Aber eben gerade von ihm, von seiner Person, seinem Heilswerk wissen wir nichts außer durch das geschriebene Wort.
Wenn Jesus allein Gottes Wort ist, unabhängig von der Heiligen Schrift, um welchen Christus handelt es sich dann in Wirklichkeit? Wenn das Bild von Matthäus, Johannes oder Paulus so verdächtig ist, gilt dann eher dasjenige von Bultmann oder Robinson oder einem andern berühmten Theologen, der den biblischen Text immer von neuem verbessert?
Was die Bibel selbst betrifft, so bestätigt sie ununterbrochen, daß sie das Wort Gottes ist. Das Alte Testament enthält 3808 Mal die gleichbedeutenden Ausdrücke: „Der Herr sprach“, „So spricht der Herr“, „Das Wort des Herrn geschah zu mir“ usw. Der Psalmist nennt, wie Jesus es selber tut, das Gesetz (die Heilige Schrift des Alten Bundes) Gottes Wort (Ps 119,9; Mt 15,6). Dieser Name ist im Neuen Testament sogar dem Wort gegeben, das Christus und seine Apostel predigten (Luk 5,1; Apg 13,44; und besonders 1. Thess 2,13).
III. Auffassung von der Bibel als einem rein göttlichen Buch, das den Menschen ohne ihr Dazutun diktiert wurde
Danach wäre der Verfasser des Textes ganz passiv gewesen, die Offenbarung aufnehmend und wiedergebend, wie es heute das Tonband tut. Seine Persönlichkeit wäre vollkommen aus dem Spiel gewesen, so daß der Text von jedem menschlichen fehlbaren Element frei blieb. So ist für die Muslime der Koran, der schon im Himmel auf Arabisch vollständig verfaßt war, auf die Erde herabgekommen ohne jede Veränderung. Aus diesem Grunde hat man sich lange gesträubt, irgendeine Übersetzung zuzulassen, denn der Koran sollte nur in der vollkommenen Gestalt, die Mohammed gegeben wurde, vorhanden sein. Die, welche die volle Inspiration der Bibel leugnen, meinen, wir müßten in unsrer Überzeugung von der vom Geist eingegebenen Schrift zwangsweise zu einer solchen Haltung gelangen.
Wir beeilen uns zu sagen, daß wir eine solche Auffassung ganz und gar nicht teilen, wiewohl sie uns stets angedichtet wird. Wir betonen ja im Gegenteil, daß Gott keineswegs die Persönlichkeit von Mose, David, Johannes oder Paulus ausgeschaltet hat. Man erkennt deutlich ihren ihnen eignen Stil, ihr persönliches Temperament und Gemüt. Ihre Schriften tragen das Gepräge ihrer Zeit und die Spuren der örtlichen Umgebung, in der sie geschrieben wurden. Darum trägt das genaue Erforschen des geschichtlichen, kulturellen und sprachlichen Rahmens viel zum Verständnis ihrer geistlichen Bedeutung bei. Ein Diktat hätte eine völlige Gleichförmigkeit aller biblischen Schriften zur Folge gehabt, was der Wirklichkeit bei weitem nicht entspricht. . . .
Warum versteift man sich darauf, den evangelischen Glaubenden eine derartig falsche Theorie zuzuschreiben, die unsres Wissens heute niemand verficht? Weil wir an die doppelte Natur der Schrift glauben; an die göttliche Inspiration ihres Gesamtinhaltes wie auch an ihr echt menschliches Gepräge. Eine solch übernatürliche Annahme scheint den modernen Ungläubigen, auch wenn sie religiös sind, unannehmbar. In ihren Augen bedingt die göttliche Inspiration der ganzen Bibel den Ausschluß jeder persönlichen Beteiligung von seiten der Verfasser. In Wirklichkeit lehnen es diese Kritiker einfach ab, an Wunder zu glauben. Für sie gibt es nur zwei Möglichkeiten:
– entweder ist der Text ganz von Gott, dann wäre er mechanisch diktiert worden (was Unsinn ist),
– oder dann, wenn der Mensch Anteil daran hat, ist die Schrift zwangsweise fehlbar, voller Legenden, Übertreibungen und
frommer Schwindeleien (was ihr Zeugnis unannehmbar macht).
Hatten nicht die Juden und die Doketen (Sekte der Früh‑Christenheit) der ersten Jahrhunderte die gleiche Einstellung gegenüber Christus? Für sie hätte der Messias, dessen Menschlichkeit nur äußerer Schein war, entweder ganz Gott oder ganz Mensch sein sollen, und damit auch fehlbar, fähig zu lügen und zu betrügen.
Nun ist das gerade das Besondere am Evangelium, daß Christus in seiner Vollkommenheit gleichzeitig Gott und Mensch ist, wie die von Gott eingegebene Bibel zugleich zu Gott und zum Menschen gehört.
Man hat oft behauptet, daß „das mechanische Diktat“ von den Reformatoren und besonders den lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts gelehrt worden sei. Immerhin bestätigen ernst zu nehmende Gelehrte wie Robert Preus und James I. Packer, daß jene Männer das Wort „diktiert“ nie so anwandten, wie es ihnen zugeschoben wird.
Weil die Evangelikalen glauben, daß die biblischen Verfasser völlig unter der Leitung des Heiligen Geistes standen, hat man vermutet, sie unterstützten die Ansicht von der mechanischen Inspiration … Das trifft nicht zu. Diese Meinung ist ein Hirngespinst. Man kann mit Sicherheit feststellen, daß jene Lehre nie von einem protestantischen Theologen von der Reformation bis zur Gegenwart vertreten wurde, erst recht nicht von heutigen Evangelikalen . . .
Erich Sauer schrieb vor wenigen Jahren:
„Wir reden nicht einer starr mechanischen Diktatinspiration das Wort! Eine solche wäre der göttlichen Offenbarung durchaus unwürdig. Eine mechanische Inspiration („automatisches Diktat“) gibt es auf dem Boden des Okkulten, Spiritistischen, also Dämonischen. Dort wirkt der böse, inspirierende Geist unter Beiseitesetzung („Substitution“) und Ausschaltung der menschlichen Individualität. Die göttliche Offenbarung aber hat mit solcher Herabsetzung des menschlichen Eigen-Ichs nichts zu tun. Sie will nicht Aufhebung der sonstigen Gesetze des menschlichen Bewußtseins, nicht Verwandlung von Menschen in Automaten, nicht Ausschaltung, sondern eher Steigerung der menschlichen Vorstellungswelt. „Das Licht kann nicht Finsternis hervorbringen, sondern wirkt im Gegenteil Sehkraft.“ Gottes Offenbarung will Gemeinschaft des menschlichen Geistes mit dem göttlichen Geist. Sie will Heiligung, Verklärung und In‑Dienst‑Stellung der Persönlichkeit. Sie will nicht passive „Medien“, sondern aktive „Menschen“ Gottes (2. Petr 1,21), nicht tote Werkzeuge, sondern lebendig geheiligte Mitarbeiter Gottes, nicht „Sklaven“, sondern „Freunde“ (Joh 15,15).
Darum ist ihre Inspiration nicht mechanisch, sondern organisch, nicht magisch, sondern göttlich‑natürlich, nicht totes Diktat, sondern lebendiges Geisteswort. Nur so kann Gotteswort Menschenwort und Menschenwort Gotteswort sein“ (E. Sauer, S. 106‑107).
Drittes Kapitel
Die volle und wortgemäße Inspiration der Schrift
Nachdem wir verschiedene Theorien über die Inspiration angeschaut haben, die alle ungenügend waren, betrachten wir das, was die Bibel selbst uns darüber zu lehren scheint:
I. Definition
Was verstehen wir unter voller und wortgemäßer Inspiration? Wir glauben, daß beim Niederschreiben der Urtexte der Heilige Geist die Verfasser bis in die Wahl der Ausdrucksweisen geführt habe, und zwar in der ganzen Schrift, ohne die Persönlichkeit auszuschalten.
Mehrere bedeutende Gelehrte äußern sich darüber wie folgt:
„Die Kirche hat von Anfang an die Bibel als Gottes Wort aufgefaßt, in dem Sinne, daß ihre Worte, von Menschen geschrieben und ihr unauslöschbares menschliches Gepräge verratend, unter dem Einfluß des Heiligen Geistes aufgesetzt wurden, so daß sie auch Gottes Worte, die sinngemäße Äußerung für sein Denken und sein Wollen darstellen. In bezug auf diesen doppelten Ursprung der Bibel hat die Kirche stets angenommen, daß die Einwirkung des Heiligen Geistes sich auch auf die Wahl der Ausdrücke seitens der menschlichen Verfasser ausdehnte (wortgemäße, aber nicht mechanisch diktierte Inspiration), wodurch dem Text alles erspart bleibt, was des göttlichen Verfassers unwürdig wäre. Es folgt daraus vor allem dieser Charakter der vollen Wahrheit, welche die biblischen Verfasser überall der Schrift zuschreiben“ (B. Warfield, S. 173).
„Die Lehre von der vollen Inspiration hält daran fest, daß der biblische Urtext durch Menschen verfaßt wurde, die bei voller Beibehaltung ihrer Persönlichkeit und in Ausübung ihrer literarischen Begabung geschrieben haben unter der nachprüfenden Leitung des Geistes Gottes. Es folgt daraus, daß jedes Wort des Urtextes uns in vollkommener Form ohne Irrtum die Botschaft übermittelt, die Gott dem Menschen mitteilen wollte“ (F. E. Gaebelein, S. 9).
In gleichem Sinn äußert sich Gaussen:
„Die Theopneustie (2. Tim 3,16, theopneustos: gehaucht, eingeblasen von Gott) ist die geheimnisvolle Kraft, die in den Verfassern der Heiligen Schrift gewirkt hat, wenn sie dieselbe schrieben, um sie im Ausdruck zu leiten und sie vor jedem Irrtum zu bewahren“ (L. Gaussen, S. 305).
Untersuchen wir nun das, was die obigen Definitionen an Positivem in sich schließen, indem wir in späteren Kapiteln auf gewisse Entgegnungen eingehen.
II. Was bedeutet nach der Bibel der Ausdruck „volle Inspiration“?
Sie bedeutet, daß die Inspiration völlig und ohne Einschränkung ist. Das bestätigen die biblischen Verfasser überall. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben“ (2. Tim 3,16); die Propheten und die Apostel übermitteln uns nicht Menschenwort, sondern wirklich Gottes Wort (l. Thess 2,13). Die schriftliche Offenbarung ist so abgeschlossen, daß wir weder ihr etwas hinzufügen, noch etwas davon nehmen sollen (Offb 22,18‑19); es wird vom Gesetz (der Heiligen Schrift des Alten Bundes) nicht ein Tüpfelchen noch der kleinste Buchstabe vergehen, bis daß alles geschehe (Mt 5,18).
Man kann den Nachdruck nicht ernst genug nehmen, den die Schrift auf den Empfang und die genaue Wiedergabe der göttlichen Ausdrucksweise legt.
Mose war sich darüber ganz im klaren, daß er Gottes eigne Worte überlieferte, im Gesetzbuch wie auf den Tafeln der zehn Gebote (2. Mose 24,4.7.12). Abschließend heißt es: „Und der Herr sprach zu Mose: Schreib dir diese Worte auf; denn auf Grund dieser Worte habe ich mit dir und mit Israel einen Bund geschlossen“ (34,27).
Bileam weiß, daß ihm zwangsweise die Worte eingegeben werden: „Wie kann ich etwas anderes reden, als was mir Gott in den Mund gibt? … Ich könnte nicht an des Herrn Wort vorüber und Böses oder Gutes tun nach meinem Herzen, sondern was der Herr redet, würde ich reden (4. Mose 22,38; 24,13). Was aber Gott einem feindseligen Menschen, einem falschen Propheten getan hat, wie sollte er es nicht den wahren Propheten gegenüber tun, die sich freudig seinem Willen unterwerfen?
David sagt zu Salomo beim Tempelbau: „Das alles steht in einer Schrift, gegeben von der Hand des Herrn, der mich unterwies über alle Werke des Entwurfes“ (l. Chr 28,19). Ohne Zweifel handelte es sich um die treue Niederschrift einer Offenbarung durch einen Propheten. David betrachtete es als von der Hand des Herrn geschrieben. Er ruft aus: „Der Geist des Herrn spricht aus mir, und sein Wort ist auf meiner Zunge“ (also nicht nur als göttlicher Gedanke in seinem Geist; 2. Sam 23,2).
Der Psalmist erblickt in der Heiligen Schrift der Juden die echte Wahrheit Gottes. „Ich verlasse mich auf dein Wort … das Wort der Wahrheit … Alle deine Gebote sind Wahrheit … Herr, dein Wort bleibt ewiglich, so weit der Himmel reicht … Dein Gebot bleibt bestehen. Wie habe ich dein Gesetz so lieb … Dein Gesetz ist Wahrheit. Alle Ordnungen deiner Gerechtigkeit währen ewig“ (Ps 119, 42.86.89.142).
Jeremia erhält von Gott diesen Befehl: „Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund … Predige ihnen alles, was ich dir gebiete . . Wer mein Wort hat, predige mein Wort recht … Predige alle Worte, die ich dir befohlen habe, ihnen zu sagen und tu nichts davon weg . . Nimm eine Schriftrolle und schreibe darauf alle Worte, die ich zu dir geredet habe (Jer 1,9.17; 23,28; 26,2; 36,2; Hes 2,7‑8; 3,10‑11.17; 5. Mose 18,18).
Jesus Christus erklärt in bezug auf seine im Neuen Testament enthaltenen Worte: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mt 24,35).
Paulus umschreibt folgendermaßen seine eigene Einstellung gegenüber der ganzen Schrift: „Ich diene dem Gott meiner Väter und glaube alles, was im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht. … Ich sage nichts, als was die Propheten und Mose gesagt haben, daß es geschehen sollte“ (Apg 24,14; 26,22).
Und Johannes wiederholt mit Bestimmtheit im letzten Buch der Bibel: „Diese sind wahrhaftige Worte Gottes … Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß, und der Herr, der Gott der Geister der Propheten, hat seinen Engel gesandt, seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muß“ (Offb 19,9; 21,5; 22,6).
III. Warum spricht man von „wortgemäßer“ Inspiration?
Eine volle Inspiration erstreckt sich notgedrungen auch auf die einzelnen Wörter. Der Sinn der göttlichen Offenbarung ist unlösbar verbunden mit der Ausdrucksweise der Schrift, denn der Inhalt bedarf der sprachlichen Hülle. Wenn wir nicht aussagen können, daß die sprachliche Gestalt von Gott gegeben ist, so ist es nicht möglich, die Schrift als eingegeben zu erklären, da sie aus Wörtern besteht. Wir sind nie sicher über das, was Gott in der Schrift sagen will, sofern wir nicht gewiß sind, daß die Wörter des Textes ausdrücklich von ihm eingeflößt sind.
Die einzige Möglichkeit der Mitteilung von Gedanken, die wir als Vernunftwesen begreifen können, ist diejenige, welche gleiche Gedanken weckt in der angesprochenen Person. Die allgemeinste Form solcher Mitteilung ist die Sprache, welche ihrem Wesen nach sich in Lauten und ihrer sichtbaren und sinnbildlichen Darstellung der geschriebenen Buchstaben ausdrückt. Wenn der Bericht von Jesu Fleischwerdung und die Stimme des Propheten wirklich eine göttliche Botschaft übermitteln, dann hat also Gott sich des Fahrzeuges der gesprochenen und geschriebenen Wörter bedient, welche das allgemeine Kennzeichen der Sprache ausmachen, um seinen Willen den Menschen kundzutun.
Was die Formulierung „wortgemäße“ Inspiration betrifft, erweckt sie bei vielen Theologen den Gedanken an ein mechanisches Diktat. Wir verwerfen diesen Gedanken. Die eifrigsten Anhänger der Lehre von der Verbalinspiration wollen damit gar nicht sagen, daß die Gedanken durch die Wörter eingeflößt wurden, sondern nur, daß die als Inspiration bezeichnete göttliche Einwirkung sich auf die Ausdrucksweise der Gedanken der biblischen Verfasser wie auf diese Gedanken selbst bezieht. Folglich ist für uns die Bibel, als schriftlicher Niederschlag betrachtet, göttliche Offenbarung, in Wörtern ausgedrückt. Sie ist für uns Gottes Wort.
Hören wir noch, zusammengefaßt, die Meinung von E. Sauer:
„Wir glauben an eine folgerichtige, volle Inspiration um der inneren Beziehung zwischen Wort und Gedanke willen. In jeder klaren Aussage gehört zum unmißverständlichen Ausdruck des Gedankens eine sorgfältige Wahl der entsprechenden Worte. Wohl sind die Worte der menschlichen Sprache zunächst nur lautliche Symbole und Zeichen für gemeinte Gedanken; denn der Mensch denkt nicht in Worten, sondern in Vorstellungen. Dies widerlegt aber nicht die Tatsache, daß alles Geistige, wenn es zu klarer Entfaltung gelangen soll, sich im Wort offenbart. Ein Gedanke wird erst dann recht eigentlich zum oberbewußten Gedanken, wenn aus dem Unterbewußtsein des Empfindens und dem unbestimmten Eindruck des Wollens und Fühlens das Wort herausgeboren wird. Wie eben erst durch die Geburt das keimende Leben zum Menschen oder Tier wird, so wird auch erst durch das Wort die geistige Möglichkeit und die geistige Urempfindung zur klar geistigen Voll‑Wirklichkeit. Das Wort ist gleichsam der ‚Leib‘ des Gedankens, die Sichtbarkeit und Form des Geistes. Wankt darum das Wort, so wankt auch der Sinn, und alles wird in Nebel verflüchtigt.“ (Gott, Menschheit und Ewigkeit. R. Brockhaus Verlag Wuppertal 1955, S.105.)
Wenn also die Gedanken eingegeben sind, müssen es auch die Wörter sein. Jede Veränderung der Wörter bringt auch eine mehr oder minder große Abweichung des Gedankens mit sich. Luther stellt mit Recht fest: Christus hat nicht von seinen Gedanken, sondern von seinen Worten gesagt, daß sie Geist und Leben sind (Joh 6,63). J. A. Bengel sagt von den Propheten: „Mit den Gedanken gab ihnen Gott auch die Wörter.“ Und Spurgeon, der König der Prediger, ruft aus: „Wir kämpfen um jedes Wort der Bibel. Wenn uns die Worte genommen werden, so geht uns der klare Sinn ganz von selbst verloren“.
Für die Männer der Bibel bestand gar kein Zweifel darüber; wir sahen dies am Beispiel von Jeremia. Hatte Gott ihm nicht erklärt: „Du wirst alles sagen, was ich dir gebieten werde … Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Du wirst mein Mund sein … Sag alles, was ich dir auftragen werde, ohne ein einziges Wort davon zu nehmen … Nimm eine Schriftrolle und schreibe alle Worte hinein, die ich dir gesagt habe“ (Jer 1,7; 15,19).
Für Paulus lehrt der Heilige Geist die Boten Gottes eine geistliche Sprache, deren Wörter der übernatürlich zu vermittelnden Botschaft angemessen sind. Daher erleben wir beständig, daß eine besondere Offenbarung aus einem besondern Ausdruck hervorspringt, oder daß ein Verfasser eine ganze Folgerung aus einem bestimmten Wort zieht.
Mt 22,32 ‑ 2. Mose 3,6: Indem der Herr sagt: Ich bin der Gott Abrahams … bezeugt er, daß die Erzväter noch leben, wodurch ihr Weiterleben, ihre Auferstehung dargetan ist (Vgl. Luk 20,37‑38).
Mt 22,45 ‑ Ps 110,1: Wenn David, vom Geist Gottes durchdrungen, den Messias seinen Herrn nennt, wie auch Gott, so sieht er in ihm nicht nur den Nachkommen nach dem Fleisch. Jesus zieht daraus einen Beweis für seine Gottheit und bringt die Gegner zum Schweigen.
Joh 8,58 ‑ 2. Mose 3,14: Wenn Jesus ausruft: „Ich bin, bevor Abraham war“, so betont er sein vorheriges Dasein in der Gottheit, indem er seinerseits den unaussprechlichen Namen Gottes annimmt, der Mose geoffenbart wurde. Entgegen den Regeln der Syntax sagt er „Ich bin“, (nicht: ich war). Damit unterstreicht er seine ewige Gegenwart, außerhalb der Zeit. Die Juden verstehen dies recht wohl, und wollen ihn einzig dieses Wortes wegen steinigen.
Gal 3,16 ‑ 1. Mose 12,7: Gott sagt zu Abraham: Ich werde dieses Land deinem Samen (deiner Nachkommenschaft) geben und nicht: deinen Nachfahren. Paulus sieht darin, in der Einzahl, eine genaue Prophezeiung in bezug auf die einzige Person Christi, dem Samen (Nachkommen) Abrahams.
Man könnte diese Beispiel‑Reihe noch lange fortsetzen. Betrachten wir noch, wie der Verfasser des Hebräerbriefes seine Beweisführung ständig auf ein Wort der Schrift bezieht:
Hebräer 1,5‑6 ‑ Ps 2,7; 2. Sam 7,14: Gott nennt den Messias seinen Sohn.
Hebräer 1,9 ‑ Ps 45,8: die Wiederholung des Wortes Gott, auf den Sohn und auf den Vater angewandt.
Hebräer 2,6‑8 ‑ Ps 8,5‑7: Alle Dinge dem Menschen‑Sohn untertan..“ Der Verfasser braucht den Ausdruck dreimal, um seine Tragweite und seine Anwendung in der Zeit zu betonen.
Hebräer 7,3 ‑ 1. Mose 14,18‑20: Auch das Verschweigen ist, in der Schrift, eingegeben. Daß Melchisedeks Herkunft und sein Stammbaum nicht genannt werden, wird mit dem Ewigkeitsdasein des Gottes‑Sohnes in Zusammenhang gebracht.
Zusammenfassend können wir feststellen, daß recht oft der Sinn einer Stelle abhängt
– von einem Wort
– der Einzahl oder Mehrzahl
– der grammatikalischen Zeit des Verbs
– den Einzelheiten einer Verheißung
– dem Übergehen andrer Punkte im Text.
Die Botschaft überstieg oft das Fassungsvermögen der alten Propheten, aber der Geist Christi, der in ihnen wirkte, half ihnen, in erstaunlicher Weise anzukündigen
– die Zeit des Kommens Christi (Dan 9,22‑27)
– die näheren Umstände (Zitate bei Mt 1 und 2)
– die Leiden (Ps 22; Jes 53)
– die Herrlichkeit des auferstandenen Herrn (Ps 2; 110).
Sie hätten sich wohl in so genauer Beschreibung getäuscht, wären sie nicht von Gott in der Wahl der Ausdrücke geleitet worden. Mußten sie nicht von Dingen sprechen, die ihnen wie den Engeln unbekannt waren, und die für die kommenden Geschlechter aufgespart wurden? Wie hätte Daniel allein Botschaften aufsetzen können, die er nicht begriff, die dazu bestimmt waren, verborgen und versiegelt zu bleiben bis an das Ende der Tage (Dan 12,8‑9) ? . . .
Welche Gewißheit hätten wir, wenn wir angesichts solch wunderbarer Texte uns fragen müßten: Hat wohl der Verfasser nicht übertrieben, den göttlichen Gedanken überboten? Wäre es wohl nicht besser, diesen oder jenen Ausdruck durch einen andern zu ersetzen?
Welcher Verzweiflung wären wir preisgegeben angesichts der nur angeblich göttlichen Offenbarung, ohne weitere Erleuchtung, um uns auf den Weg zur Ewigkeit zu führen. An Gottes Wort zweifeln – welche Qual!
Wie Erich Sauer sagt, ist die volle Inspiration der Bibel nötig geworden durch den Sündenfall. Wäre die Bibel ein Gemisch von Wahrheit und Irrtum, müßten wir immer selber zu entscheiden suchen, was göttlichen Ursprungs sein könnte und was als menschlich fehlbare Zutat verworfen werden müßte. Wenn der Mensch nicht von oben einen klaren Prüfstein erhält, wie sollte sein Geist das Göttliche vom Menschlichen unterscheiden? Wie sollten wir die Kühnheit haben, Gottes Buch zu zerlegen, zu sezieren, zumeist auf Grund von subjektiven Eindrücken und Gefühlen, oder von ungenügenden geschichtlichen Kenntnissen?
Was der gefallene Mensch über Gott denkt, ist zum größten Teil irrig und wenig vertrauenswürdig; es ist nur „Religion“. Es geht umgekehrt darum, zu erfahren, was der Höchste von ihm denkt und über seine Person und sein Heil bezeugt. Die objektive, wesentliche Wahrheit ist nicht ein Buch, sondern eine Person. Jesus Christus, der Fleischgewordene, Gekreuzigte und Auferstandene ist die Wahrheit, das Licht, die Quelle der Erkenntnis. Um ihn Menschen mit verdunkeltem Verstand (Eph 4,18) zu offenbaren, war eine übernatürliche Inspiration notwendig, die in vollem Maß zutreffend und vertrauenswürdig ist. Genau wie wir der Gnade bedürfen wegen unseres sittlichen Ungenügens, so brauchen wir die Inspiration wegen unserer geistigen und geistlichen Unzulänglichkeit (Vgl. E. Sauer, S. 101 ff).
Viertes Kapitel
Ist die Bibel Gottes Wort?
Während die evangelischen Christen von jeher die beiden Ausdrücke „Bibel“ und „Gottes Wort“ gleicherweise benutzten, finden gewisse Theologen Anlaß, in der Schrift nur die Erfahrungen von Menschen auf der Suche nach Gott zu sehen. Die Forschungen dieser Frommen hätten mehr oder weniger das Ziel erreicht, was ihnen gegenüber andern religiösen Geistern eine gewisse Überlegenheit verleihe. Aber sie seien bei weitem nicht erhaben über Irrtümer und man könnte höchstens sagen, die Bibel enthalte, aber nicht sie sei Gottes Wort. Oder mit einem andern modischen Schlagwort ausgedrückt: „Es gibt nur ein Wort Gottes, Jesus Christus.“
Was sagt die Bibel darüber? Da wir grundsätzlich auf dem Boden der Offenbarung stehen, fragen wir: Gibt es schriftgemäße und geistliche Gründe, zu glauben, die Bibel sei Gottes Wort?
I. Die Bibel bestätigt ununterbrochen, daß sie das Wort Gottes ist
Wir erwähnten schon, daß das Alte Testament in verschiedenen Ausdrücken 3808mal erklärt, daß es die ausdrücklichen Worte Gottes wiedergibt. Folgende Beispiele sind besonders deutlich:
In den fünf Büchern Mose wird dies 420mal in folgenden Worten umschrieben: „Der Herr sagte zu Mose. Schreibe dies zum Gedächtnis in ein Buch … Das sind die Worte, die du den Kindern Israel sagen sollst … Mose … legte ihnen alle diese Worte vor, die ihm der Herr geboten hatte … Und Gott redete alle diese Worte … Mose schrieb alle Worte des Herrn nieder … Und er nahm das Buch des Bundes und las es vor den Ohren des Volkes. Und sie sprachen: Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun … Der Herr sprach zu Mose: Schreib dir diese Worte auf, denn auf Grund dieser Worte habe ich mit dir und mit Israel einen Bund geschlossen (2. Mose 17,14; 19,6‑7; 20,1; 24,7; 34,27).
Esra bewirkt eine Erweckung dadurch, daß er das aus Babylon zurückgekehrte Volk dazu bringt, das Gesetz ernst zu nehmen. „Und es versammelten sich bei mir alle, die über die Worte des Gottes Israels erschrocken waren … So laßt uns nun mit unserm Gott einen Bund schließen … nach dem Rat des Herrn und derer, welche die Gebote unsres Gottes fürchten, daß man tue nach dem Gesetz“ (Esra 9,4, 10,3).
Nehemia bestätigt, daß diese Erweckung gekennzeichnet ist durch die öffentliche Vorlesung und die praktische Anwendung „des Buches des Gesetzes des Herrn“. Die Schrift übte eine solche Wirkung aus, weil man darin das Wort des dreimal heiligen Gottes selbst erblickte. „Du bist herabgestiegen auf den Berg Sinai und hast mit ihnen vom Himmel her geredet und ihnen ein wahrhaftiges Recht und rechte Gesetze und gute Satzungen und Gebote gegeben (Neh. 8,1‑8; 9,13‑14).
Der Psalmist. Der Verfasser des 119. Psalmes nennt die Schrift 24mal „Das Wort (oder die Worte) des Herrn“. Im Gewand von zehn verschiedenen Ausdrücken nennt er es 175mal und hört nicht auf, es mit folgenden Worten zu lobpreisen: „Dein Wort ist ganz durchläutert … dein Gesetz ist die Wahrheit … du lehrst mich deine Gebote. Meine Zunge soll singen von deinem Wort“ (Ps 119,140. 142.171.172).
Die Propheten stellen in besonders nachdrücklicher Weise ihre Botschaft dem Worte Gottes gleich. Sie werden nicht müde zu sagen: „So spricht der Herr … Vernehmet die Worte des Herrn … Das Wort geschah zu mir in folgenden Worten … Der Mund des Herrn hat geredet … Der Herr sagte mir . . .“ usw. Solche Ausdrücke kommen vor bei Jesaia 120mal – Jeremia 430mal – Hesekiel 329mal – Amos 53mal – Haggai 27mal (in 38 Versen) – Sacharia 53mal usw.
Es würde ein schwerwiegendes sittliches Problem aufwerfen, wollte man so außerordentlich zahlreiche wiederholte Aussagen bezweifeln. Die Bibel bietet uns unbestreitbar höchste und reinste Sittlichkeit. Ihre wiederholte Bestätigung, daß sie das Wort Gottes sei, ist entweder wahr oder falsch. Wenn sie falsch wäre, wieso wäre dann aus einem Gewebe von Lügen die höchste Sittenordnung entstanden? Das Wasser steigt nie höher, als seine Quelle ist, und die Lüge bringt nicht die Wahrheit hervor. Was uns betrifft, sind wir ganz überzeugt, daß die Bibel genau das ist, was sie zu sein behauptet.
II. Christus und die Apostel bestätigen das Zeugnis des Alten Testamentes
Wir begnügen uns hier mit folgenden Bemerkungen:
1. Auf der einen Seite erklären die Verfasser des Neuen Testaments „Gott sagt“, wenn tatsächlich die Schrift spricht. Umgekehrt bedeutet der Ausdruck „die Schrift sagt“ für sie in Wirklichkeit: Gott spricht. In beiden Fällen ist das Verhältnis zwischen Gott und der Schrift so, daß die gleiche unmittelbare Autorität beiden zuerkannt wird. Die Ausdrücke haben also den gleichen Sinn, ob es heißt „Es steht geschrieben“, „die Schrift sagt“ oder „Gott sagt“.
2. „Die Schrift hat es vorausgesehen, daß Gott die Heiden durch den Glauben gerecht macht. Darum verkündigte sie dem Abraham: In dir sollen alle Heiden gesegnet werden“ (Gal 3,8; 1. Mose 12, 1‑3). „Die Schrift sagt zu Pharao: Eben darum habe ich dich erweckt…“ (Röm 9,17; 2. Mose 9,16). In Wirklichkeit bestand die Schrift noch gar nicht, als diese Worte von Gott selber an Abraham oder Pharao gerichtet wurden. Eine solche Ausdrucksweise ist nur möglich, wenn das eingegebene Wort und Gott, der es ausspricht, sich völlig decken. So kann dann ganz natürlicherweise gesagt werden: „Die Schrift sagt“ im Sinne von: „Gott sagt in der Schrift . . .“.
3. Jesus erklärt den Pharisäern: „Gott hat geboten: Du sollst Vater und Mutter ehren; und: Wer aber Vater und Mutter flucht, der soll des Todes sterben. Aber ihr habt Gottes Wort aufgehoben um eurer Satzungen willen“ (Mt 15,4‑6). Christus legt die beiden Texte aus 2. Mose 20,12 und 21,17 Gott in den Mund. Anderswo erklärt er: Habt ihr nicht gelesen, daß der Schöpfer am Anfang den Mann und die Frau schuf, und daß er sagte: Der Mann wird Vater und Mutter verlassen . . .“ (Mt 19,4‑5). Das ist einfach der Text von 1. Mose 2,24.
4. Die ersten Jünger drückten sich ebenso aus: „Herr, der du durch den Heiligen Geist, durch den Mund unsres Vaters David, deines Knechtes gesagt hast: Warum toben die Heiden … “ (Apg 4,24‑25). Auch hier ist der 1. Vers aus Psalm 2 Gott selbst zugeschrieben. Auch in Apg 13,34‑35 wird die Jesaia‑Stelle (55,3) wie das Wort aus Psalm 16 (V. 10) Gott in den Mund gelegt. (Man vergleiche: Hebr 1,5 ‑ Ps 2,7; Hebr 1,6 ‑ Ps 97,7; Hebr 1,7 ‑ Ps 104,4; Hebr 1,8 ‑ Ps 45,7‑8; Hebr 1,10 ‑ Ps 102, 26‑28; usw.).
Die beiden obigen Reihen beweisen, daß für den Gesichtspunkt, der uns hier beschäftigt, Christus und die Apostel die Schrift dem Wort Gottes, der zu uns spricht, ganz gleich setzen.
III. Die Predigt Christi und der Apostel wurde selber „Wort Gottes“ genannt
Lukas sagt von Jesus (5,1): „Die Menge drängte sich herzu, um das Wort Gottes zu hören.“ Paulus schreibt den Thessalonichern: ,Als ihr das Wort göttlicher Predigt von uns empfinget, nahmet ihr es auf nicht als Menschenwort, sondern, wie es das in Wahrheit ist, als Gottes Wort, welches auch wirkt in euch, die ihr glaubet (l. Thess 2,13).
Folgende Stellen aus der Apostelgeschichte bestätigen dies:
„Samarien hatte das Wort Gottes erhalten“ (8,14)
„Die Heiden hatten auch das Wort Gottes angenommen“ (11,1)
„Das Wort Gottes breitete sich indessen immer mehr aus, und die Zahl der Jünger nahm zu“ (12,24)
Paulus drückt denselben Gedanken in folgenden Worten aus: „Wir danken Gott … um der Hoffnung willen . . ., von der ihr schon gehört habt durch das Wort der Wahrheit im Evangelium, das zu euch gekommen ist, wie es auch in aller Welt da ist und Frucht bringt und so wächst wie bei euch von dem Tage an, da ihr’s gehört habt und erkannt die Gnade Gottes in der Wahrheit“ (Kol 1,3‑6). „So kommt der Glaube aus dem Hören, das Hören durch das Wort Christi“ (Röm. 10,17).
Wenn also die Predigt der Apostel „Wort Gottes“ genannt wurde, trotz allem, was ihr an zufälligen und flüchtigen Zügen anhaften konnte, wie viel mehr verdienen ihre Schriften eine solche Benennung. Diese Texte, mit größter Sorgfalt abgefaßt, (l. Kor 2,13), sind die endgültige Gestalt der höchsten Offenbarungen des Neuen Bundes, die Grundlage für den Glauben und die Botschaft der Kirche zu allen Zeiten.
Von da aus gesehen, macht jede treue Verkündigung des Evangeliums das Wort Gottes bekannt. Will Petrus nicht dies sagen, wenn er schreibt: „Wenn jemand redet, so rede er’s als Gottes Wort“ (l. Petr 4,1l)? Paulus erklärt seinerseits: „Wir fälschen Gottes Wort nicht; vielmehr weisen wir durch Offenbarung der Wahrheit uns aus vor aller Menschen Gewissen im Angesicht Gottes“ (2. Kor 4,2).
IV. Die Bibel hört nicht auf, das heute noch gültige Wort Gottes zu sein
Nach der Auffassung Jesu Christi und der Apostel ist sie uns nicht nur für die Vergangenheit eingegeben worden; durch sie spricht Gott uns gegenwärtig an. Die Belegstellen aus dem Alten Testament werden recht häufig mit einem Tätigkeitswort in der Gegenwart statt in der Vergangenheit eingeführt, durch „Er sagt“, an Stelle von „Er hat gesagt“:
„David, vom Geist ergriffen, sagt …“ (Mt 22,43)
„Die Schrift zeugt von mir“ (Joh 5,39)
„… wie der Prophet sagt: Der Himmel ist mein Thron …“ (Apg 7,48)
„Denn was sagt die Schrift?“ (Röm 4,3)
„nach dem, was der Heilige Geist sagt: Heute. . . „
„Gott setzt abermals einen Tag fest, durch David . . .“ (Hebr 3,7.15; 4,7).
Man begreift wohl den Verfasser des Hebräerbriefes, daß er nach der Erklärung vieler Schrift‑Stellen mahnend ausruft: „Sehet zu, daß ihr den nicht abweist, der da redet . . .“ (12,25). Die Worte des Lebens, die Mose empfing, um sie euch zu geben, sind von unveränderter Bedeutung auch in der Gegenwart (Apg 7,38). Die Offenbarungen, die einst geschenkt wurden, haben nichts von ihrer Wirksamkeit eingebüßt, da sie immer belebt sind von der Stimme Gottes, die sich hier und heute an uns richtet.
In bestimmten Fällen zeigt das Fürwort (wir, ihr) an, wen der Text im besonderen angeht:
„Habt ihr nicht gelesen, was Gott euch gesagt hat: Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (Mt 22,31‑32). Was aber Gott damals zu Mose sagte, richtet sich auch an uns heute.
„Ihr Heuchler, mit Recht hat Jesaia über euch geweissagt, als er sagte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen“ (Mt 15,7).
„Im Gesetz des Mose steht geschrieben: Du sollst dem Ochsen nicht das Maul verbinden Es ist um unsertwillen geschrieben“ (l. Kor 9,9‑10).
„Denn der Heilige Geist bezeugt uns auch; denn nachdem der Herr gesagt hat, . . . spricht er“ (Hebr 10,15‑16).
In Apg 4,11 heißt es: „Jesus ist von euch Bauleuten verworfen worden“, während es im Ps 118,22 lautet: durch die Bauleute.
Diese unveränderte Gültigkeit der geschriebenen Offenbarung wird durch die Erklärungen des Apostels Paulus unterstrichen: „Alles, was zum voraus geschrieben wurde, ist zu unserer Unterweisung gegeben worden“ (Röm 15,4). „Das ist aber geschrieben nicht allein um seinetwillen (Abraham), daß es ihm zugerechnet ist, sondern auch um unsertwillen“ (Röm 4,23‑24).
VIII. Folgerungen
Es geht aus dem oben Gesagten hervor, daß die Bibel auch jetzt Gottes Wort ist. Dadurch, daß ihre Verfasser uns eine ewig lebendige Botschaft ausrichten, sind sie gleichsam unsre Zeitgenossen. Täglich wenden sie sich an uns, und wir wollen tatsächlich mit ihnen den Weg Gottes gehen.
Würden wir unsern Glauben nur auf ein lebloses Buch stützen, das Zeuge einer großartigen Vergangenheit ist, wären wir recht gesetzlich, die Sklaven des toten Buchstabens. Statt dessen strömt aus dem geistgewirkten Buch eine umgestaltende Kraft des Urteils, des Lebens und der Auferstehung.
Der Hebräerbrief mahnt uns mit großem Ernst: „Sehet zu, daß ihr den nicht abweist, der da redet. Denn wenn jene nicht entronnen sind, die Gott abwiesen, als er auf Erden redete, wieviel weniger wir, wenn wir den abweisen, der vom Himmel redet“ (12,25).
Fünftes Kapitel
Die Inspiration des Neuen Testamentes
Christus und die Apostel hören nicht auf, die volle Inspiration dessen, was für sie die Schrift war, nämlich das Alte Testament, zu bezeugen. Wie verhält es sich in dieser Beziehung mit dem Neuen Testament?
I. Der göttliche Ursprung der Worte Jesu Christi
Jesus ist das Wort, Fleisch geworden, um uns aus der Ewigkeit die ganze Botschaft Gottes in menschlicher Sprache zu bringen.
Er ist der versprochene Messias, in dessen Mund der Herr seine eignen Worte legt (5. Mose 18,18). Sein Mund (d.h. seine Botschaft) gleicht einem scharfen Schwert (Jes 49,2). Aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert (Offb 1,16; 19,15.21).
Er ist selbst die Wahrheit und das ewige Leben (Joh 14,6). Er kann außerdem sagen: „Ich sage das, was mich der Vater gelehrt hat“ (Joh 8,28)
„Was ich vom Vater vernommen habe, sage ich der Welt“ (8,26) „Der Vater hat mir ein Gebot gegeben, was ich sagen und reden soll. (12,49).
Und nach vollbrachtem Wirken sagt Jesus zum Vater:
„Ich habe ihnen die Worte gegeben, die du mir gegeben hast“ – „Ich habe ihnen dein Wort gebracht . . .“ – „Dein Wort ist die Wahrheit…“ (17,8.14.17).
Darum kann er feierlich bestätigen:
„Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mt 24,35). – „Wer mich ablehnt und meine Worte verwirft, ist schon gerichtet; das Wort, das ich verkündigt habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tag“ (Joh 12,48). – Was uns betrifft, sagen wir mit den Jüngern: „Herr, wohin sollten wir gehen? Du hast die Worte des ewigen Lebens“ (Joh. 6,68).
II. Jesus verspricht den Verfassern des Neuen Testamentes die göttliche Inspiration
Wir haben schon gesehen, daß die Offenbarungen Gottes an die Propheten verlorengegangen wären ohne ihre Niederlegung in einem inspirierten Buch. Dasselbe kann von Jesu Lehre gesagt werden, um so mehr, als er uns kein schriftliches Zeugnis aus seiner Hand zurückgelassen hat. Aber er unterließ es nicht, beim Abschied seinen Aposteln alle göttliche Hilfe zu versprechen, deren sie bedurften, um das Neue Testament zu schreiben. In den bekannten Stellen, Joh 14,26; 15,26‑27 und 16,12‑15, bestimmt er genau die verschiedenen Teile:
Die Evangelien: „Der Heilige Geist wird euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“.
die Apostelgeschichte: „Er wird von mir zeugen; und auch ihr werdet von mir Zeugnis ablegen“ (vgl. Apg 1,8);
die Briefe: „Der Geist der Wahrheit wird euch in alle Wahrheit leiten; er wird nicht aus sich selber sprechen … Er wird mich verherrlichen, denn von dem Meinen wird er es nehmen und euch verkündigen … Er wird euch alles lehren“!
die Offenbarung: „Was zukünftig ist, wird er euch verkündigen . . .“
Es ist klar, daß nur der Heilige Geist den vier Evangelisten in ihrer erdrückenden Aufgabe beistehen konnte, das Wesentliche aus dem Leben Christi zu berichten, seine Worte wiederzugeben, die Ereignisse, welche für das Verständnis der künftigen Jahrhunderte die wichtigsten waren, auszuwählen und viele Einzelheiten wegzulassen (Joh 20,30; 21,25) oder die Begebenheiten zu erzählen, bei denen keine Zeugen zugegen waren (Versuchungsgeschichte). Andrerseits mußten die vier Berichte übereinstimmen und zugleich sich ergänzen, indem Matthäus den Messias‑König, Markus den Knecht des Herrn, Lukas den Menschensohn und Johannes das Wort und den Sohn Gottes darstellen.
Im Blick auf den Rest des Neuen Testamentes ist offensichtlich, daß die Apostel nie imstande gewesen wären, von sich aus die verborgene Weisheit Gottes zu verkündigen (l. Kor 2,7), das Geheimnis Christi, das sogar den Engeln verborgen ist, zu enthüllen (Eph 3,3‑11), die Herrlichkeit des Neuen Bundes lobpreisend zu entfalten (Hebr 5,11; 8,6), noch die künftigen und ewigen Dinge zu offenbaren (Offenbarung des Johannes).
Auch folgende Stellen, welche nicht eigentlich die Niederschrift des Neuen Testamentes betreffen, können darauf angewendet werden: „Wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch. Empfangt den Heiligen Geist“ (Joh 20,21).
„Ihr werdet eine Kraft bekommen, den Heiligen Geist, … und ihr werdet meine Zeugen sein“ (Apg 1,8). Dieses Zeugnis wurde offenbar nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich abgelegt.
„Was ihr zu sagen habt, wird euch zur Stunde gegeben werden; denn nicht ihr sprecht, sondern der Geist eures Vaters wird aus euch sprechen“ (Mt 10,19‑20).
III. Die Inspiration beim Apostel Paulus
1. Paulus ist ein wirklicher Apostel, Zeuge des auferstandenen Christus
Obwohl er nicht dem Kreis der Zwölf angehörte, von sich als einer Fehlgeburt spricht, als einem ehemaligen Verfolger, als geringstem unter allen Aposteln, kann er ausrufen:
„Bin ich nicht Apostel? Habe ich nicht den Herrn, Jesus, gesehen?“ (l. Kor 9,1).
„Ich bin nicht weniger als die hohen Apostel … Denn es sind ja eines Apostels Zeichen unter euch geschehen“ (2. Kor 12,11).
Tatsächlich ist er „Apostel, nicht von Menschen, auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater“ (Gal 1,1).
2. Paulus erhält unmittelbare und einzigartige Offenbarungen
Der Herr hatte es ihm durch Ananias bei seiner Bekehrung angekündigt: „Der Gott unsrer Väter hat dich verordnet, daß du seinen Willen erkennen sollst und sehen den Gerechten und hören die Stimme aus seinem Munde, denn du wirst für ihn Zeuge sein“ (Apg 22,14). Daher kann der Apostel auch schreiben: „Das Evangelium, das von mir gepredigt wird, ist nicht menschlicher Art. Denn ich habe es von keinem Menschen empfangen, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi … Es hat Gott wohlgefallen, der mich von meiner Mutter Leibe an ausgesondert und berufen hat durch seine Gnade, daß er seinen Sohn offenbarte in mir“ (Gal 1,11).
„Mir ist dieses Geheimnis Christi durch Offenbarung kundgeworden … Mir, dem Allergeringsten unter allen Heiligen, ist diese Gnade gegeben worden, den Heiden den unausforschlichen Reichtum Christi zu verkündigen“ (Eph 3,3 ‑ 4,8).
Dieses Geheimnis „wurde jetzt den heiligen Aposteln und Propheten Christi offenbart“ (V. 5; man beachte, daß Paulus hier die Inspiration auch der andern neutestamentlichen Verfasser betont).
Er zögert nicht, anderswo zu sagen: „Ich habe vom Herrn erhalten, was ich euch lehrte … Ich habe vor allem euch gelehrt, wie ich es empfangen habe … Das sagen wir euch als ein Wort des Herrn“ (l. Kor 11,23; 15,3; 1. Thess 4,15). „Der Geist sagt deutlich, daß in den letzten Zeiten etliche vom Glauben abfallen werden“ (l. Tim 4,1).
3. Gott gewährt dem Apostel die Fähigkeit, getreu die empfangenen Offenbarungen der Gemeinde weiterzugeben
In bezug auf die göttlichen, von oben erhaltenen Wahrheiten schreibt Paulus: „Wir sprechen davon nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Sachen für geistliche Menschen … wir haben Christi Sinn“ (l. Kor 2,13.16).
Darum kann er mit voller Gewißheit sagen: „Wir fälschen nicht Gottes Wort, wie es etliche tun, sondern wie man aus Lauterkeit und aus Gott reden muß, so reden wir vor Gott in Christus“ (2. Kor 2,17; 4,2). „Nach dem Ratschluß Gottes ist mir anvertraut, euch Gottes Wort in seiner Fülle kundzumachen, nämlich das Geheimnis, das verborgen gewesen ist von allen Zeiten her; nun aber ist es offenbart“ (Kol 1,25).
„Gott, der nicht lügt, hat zu seiner Zeit sein Wort offenbart durch die Predigt, die mir anvertraut ist nach dem Befehl Gottes, unsres Heilandes“ (Titus 1,2).
So ist also Übereinstimmung zwischen der göttlichen Offenbarung und der Botschaft des Apostels, der mit Recht von seinem Evangelium sprechen kann. Denn dieses Evangelium ist das einzige allein wahre. Wenn ein Engel des Himmels etwas andres verkündigen würde, wäre er verflucht (Gal 1,8).
4. Zu Lebzeiten des Paulus werden seine Briefe den Heiligen Schriften gleichgestellt
Petrus spricht im Namen der Urgemeinde, wenn er sagt: „Unser geliebter Bruder Paulus hat es euch auch geschrieben nach der ihm verliehenen Weisheit. Das tut er ja in allen seinen Briefen, in welchen etliche Dinge schwer zu verstehen sind, welche die Ungelehrigen und Unbefestigten verdrehen, wie sie es auch bei den andern Schriften tun zur eigenen Verdammnis (2. Petr 3,15‑16).
Es ist beachtenswert, daß das, was vom Neuen Testament schon geschrieben war, für Paulus die maßgebende Richtlinie bedeutete. Im 1. Timotheusbrief (5,18) führt er mit dem Ausdruck „die Schrift sagt“ ebenso eine Stelle aus dem 5. Buch Mose (25,4: Du sollst deinem Ochsen keinen Maulkorb anlegen) ein, als auch eine Stelle von Lukas (10,7: Der Arbeiter ist seines Lohnes wert).
Während Paulus mit Fug und Recht zu den biblischen Schriftstellern gehört, haben seine Offenbarungen über den Neuen Bund den Vorrang gegenüber den alttestamentlichen, die nun erfüllt und ergänzt sind. Im Galaterbrief macht sich Paulus zum Verfechter der wortgemäßen Inspiration. Er erwähnt die Schrift (3,11), unterstreicht die Tragweite eines einzigen Wortes (seine Nachkommenschaft, diejenige von Abraham, in der Einzahl, V. 16) und rechtfertigt die entscheidende Rolle des Gesetzes (V. 21‑24). Aber, nachdem er Christus als Befreier dargestellt hat, ruft er aus: „Wie wendet ihr euch wiederum zu den schwachen Elementen, welchen ihr von neuem dienen wollt? Ihr haltet Tage und Monate und Feste und Jahre (nach Mose)! Ich fürchte für euch daß ich vielleicht umsonst an euch gearbeitet habe“ (4,9‑11).
Das Neue Testament ist also ebenso von Gott eingegeben wie das Alte. Beschließen wir unsere Darlegung durch zwei letzte Beispiele.
IV. Die Inspiration des Neuen Testamentes nach dem Hebräerbrief
Der Verfasser schreibt dem gleichen Herrn die Offenbarung beider Testamente der Bibel zu: „Nachdem vor Zeiten Gott manchmal und auf mancherlei Weise zu den Vätern geredet hat durch die Propheten (dies betrifft das Alte Testament), hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn (womit das Neue Testament zusammengefaßt ist) “ (1,1).
Der Inhalt des ganzen Briefes geht darauf hinaus, darzulegen, daß der Neue Bund dem Alten Bund überlegen ist, daß daher das Neue Testament, vom gleichen Gott mit der selben Vollmacht ausgestattet, das Alte Testament erfüllt und vollendet.
„Wenn das Wort fest geworden ist, das durch die Engel geredet ist (auf dem Sinai, Apg 7,38.53), und jegliche Übertretung und jeder Ungehorsam rechten Lohn empfangen hat, wie sollen wir entrinnen, wenn wir ein solches Heil nicht achten, welches zuerst gepredigt ist durch den Herrn und bei uns bekräftigt durch die, die es gehört haben?“ (die Apostel, Hebr 2,2).
„Seht zu, daß ihr den nicht abweist, der da redet. Denn wenn jene nicht entronnen sind, die Gott abweisen, als er auf Erden redete, wieviel weniger wir, wenn wir den abweisen, der vom Himmel redet“ (12,25). Die Botschaft, die auf Erden gegeben wurde, war das Gesetz, während das Evangelium uns unmittelbar vom Himmel gebracht wird, weil Gott in der Gestalt Jesu Christi Fleisch wird. Die frohe Kunde des Neuen Testamentes ist deshalb um so wunderbarer und um so mehr ernst zu nehmen; ihre Inspiration ist noch gewisser.
Aus dieser Sicht heraus wurde das Gesetz abgetan, weil es zu „schwach und nicht nütze war“, und eine „bessere Hoffnung“ eingeführt, ein „Neuer Bund“. Nun hat er, der Mittler eines „besseren Bundes“, der auf „besserer Verheißung steht“, ein „besseres Amt“ erlangt. Der levitische Gottesdienst war „Abbild und Schatten des Himmlischen“, dessen Wirklichkeit uns das Neue Testament bringt.
V. Die Inspiration der Offenbarung des Johannes
Auch das letzte Buch der Bibel beruht gleicherweise auf der göttlichen Botschaft an den Apostel Johannes.
Nach Offb 1,1 hat Gott selbst
Jesus Christus die Offenbarung gegeben,
die ein Engel
dem Johannes
für die ganze Gemeinde übermittelt hat.
Die Rolle des Apostels besteht darin, das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi zu bezeugen (V. 2). Er erhält deswegen den Auftrag, ein für alle zugängliches Buch zu schreiben (V. 11).
Jedes Sendschreiben an die sieben Gemeinden hat zwei Verfasser (Kap 2 und 3); am Anfang steht: „Das sagt … Jesus Christus.“ Am Schluß heißt es mahnend: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.“
Im 10. Kapitel wird Johannes, nachdem er sinnbildlich ein zugleich süßes und bitteres Buch verschlungen hat, berufen, aufs neue über viele Völker und Könige zu weissagen. Das bedeutet, daß er eine Botschaft der Gnade und des Gerichtes bekommt, die er sich aneignen und dann in seiner Umwelt verkünden muß (V. 8‑11; vgl. Jer 15,16).
Der Befehl zum Schreiben wird ihm im Kap. 14, V. 13 erneuert. Dreimal wird feierlich erklärt:
„Diese Worte sind die wahrhaftigen Worte Gottes“ (19,9).
„Schreibe, denn diese Worte sind gewiß und wahrhaftig“ (21,5). „Und er sagte: Diese Worte sind gewiß und wahrhaftig“ (22,6). Deshalb ist dem, der die Botschaft der Offenbarung annimmt oder sie verwirft, besonderer Segen oder Fluch verheißen.
„Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist“ (1,3).
„Wenn jemand etwas dazusetzt … und wenn jemand etwas davon tut . . ., so wird Gott abtun seinen Anteil vom Baum des Lebens“ (V. 18‑19).
Neuntes Kapitel
UNFEHLBARKEIT UND INSPIRATION
I. Definition ‑ Allgemeines
Unsre Definition der wortgemäßen und vollen Inspiration schließt in sich, daß die biblischen Verfasser bei der Niederschrift ihrer Urtexte in einer Weise geführt wurden, daß sie die genaue Mitteilung, die Gott dem Menschen machen wollte, vollkommen richtig und ohne Irrtum übermittelt haben.
In diesem Gedanken gipfelt die Auffassung von der vom Geist eingegebenen Schrift. An ihm scheiden sich eindeutig die evangelischen Biblizisten einerseits, die freisinnigen und dialektischen Theologen andrerseits. Während der Glaube sich auf einer unaussprechlichen geistlichen Höhe bewegt, ist die Lehre von der Unfehlbarkeit auf einer Ebene von feststellbaren Tatsachen den Angriffen des Unglaubens leichter zugänglich.
Wir erfinden eine solche Lehre nicht: sie ist in allen größeren Glaubensbekenntnissen enthalten, auf die wir später eingehen werden.
Unsre Väter im Glauben sahen in der Schrift tatsächlich „die Richtschnur aller Wahrheit“ (la Rochelle), „das wahre Gottes‑Wort“ (2. Helvetisches Bekenntnis), den „göttlichen Kanon“ (Waldenser Kirchen Piemonts). Das Westminster Bekenntnis fügt hinzu: „Unsre volle Überzeugung und Gewißheit über ihre unfehlbare Wahrheit gründen sich auf das innere Wirken des Heiligen Geistes … Das hebräische Alte Testament und das griechische Neue Testament, die von Gott eingegeben sind und durch seine besondre Fürsorge und Vorsehung rein erhalten geblieben sind durch die Jahrhunderte hindurch, sind darum echt . . .“
Calvin sagt sogar: „Wir schulden der Schrift die selbe Achtung, wie wir sie Gott schulden, denn sie kommt allein von ihm.“
Worin hat diese Lehre von der Unfehlbarkeit ihren Ursprung? Sie ergibt sich aus dem Wesen und den Erklärungen der Bibel selber. Sie gibt sich ständig als Wort Gottes aus. Wenn der Herr spricht, kann er nicht lügen, noch die Wahrheit durch Irrtümer lehren. Es geht dabei ebenso um seine Wahrhaftigkeit wie um seine Macht. Wenn er gleich von Anfang an fehlerhaft gesprochen, das Wahre mit dem Falschen gemischt hätte, was müßte man von ihm denken? Welche Gewißheit könnte uns eine solche Offenbarung bringen, von der doch unser ewiges Heil abhängt? Oder wenn er den biblischen Verfassern eine in allen Teilen genaue Botschaft anvertraute, wäre er dann unfähig gewesen, eine vertrauenswürdige Wiedergabe zu sichern? Würde er uns dann nicht enttäuschen? Was hätte dann die erste Offenbarung genützt?
II. Was sagt die Bibel über ihre eigene Unfehlbarkeit?
Erstens: Dürfen wir überhaupt unsern Glauben an die Unfehlbarkeit auf das biblische Zeugnis stützen? Ist das nicht ein Zirkelschluß: eine Frage abklären wollen, indem man sich vor allem auf die Äußerungen des Angeklagten oder des befragten Zeugen stützt? Nein, weil es ja um den Herrn selber geht, die alleinige Quelle aller wahren Kenntnis. Wie wir uns allein auf die Unterweisung aus der Schrift verlassen, in bezug auf die Lehren über Gott, Jesus Christus, den Heiligen Geist, das Gericht, das Heil, die Zukunft usw., so können wir auch nur durch die Offenbarung eine sichere Aufklärung über das geschriebene Wort Gottes erhalten. In allem ist uns am wichtigsten zu fragen: „Was sagt dazu die Heilige Schrift?“ (Röm 4,3; Gal 4,30).
Die Verfasser des Alten Testamentes geben darüber ein eindeutiges Zeugnis: 3808mal bezeugen sie, daß sie die wirklichen Worte Gottes übermitteln.
Nachdem Mose das Gesetz gegeben hat, erklärt er: „Ihr werdet zu meinen Vorschriften nichts hinzufügen und nichts davon wegnehmen“ (5. Mose 4,2; vgl. 6,1‑2.6‑9, 12,32).
Der Psalmist kann sich nicht genug tun in Ausrufen wie: „Das Gesetz des Herrn ist vollkommen … Das Zeugnis des Herrn ist gewiß .. . Ich verlasse mich auf dein Wort … Dein Gesetz ist die Wahrheit … Deine Mahnungen sind gerecht … Alle deine Gebote sind Wahrheit … Meine Zunge soll singen von deinem Wort, denn alle deine Gebote sind gerecht!“ (Ps 19,8; 119,42.96.140.142.151.160.172).
Christus hat sich in aller Form zum ganzen Alten Testament bekannt. Er hat keinen einzigen Irrtum darin hervorgehoben, noch den leisesten Verdacht ihm gegenüber ausgesprochen; im Gegenteil, er gründete seine Unterweisung stets auf die Schrift. So erklärte er „Bis daß Himmel und Erde vergehen, wird nicht der kleinste Buchstabe vergehen noch ein Tüpfelchen vom Gesetz“ (Mt 5 18). Im Streit mit den Juden wegen eines einzigen Wortes sagt er: „Die Schrift kann nicht gebrochen werden“ (Joh 10,35). Und bei seinem Abschied betet er: „Heilige sie in deiner Wahrheit, denn dein Wort ist die Wahrheit“ (Joh 17,17).
Die Apostel bezeugen ebenfalls die Vollkommenheit der Schrift. Paulus nennt das Gesetz heilig, gerecht und gut (Röm 7,12). Die Auslegung des Apostels folgt dem Text so genau, daß (vgl. z. B. Gal 3,16) ein Irrtum in diesem ihn zu einer falschen Darstellung verführen würde.
Für den Verfasser des Hebräerbriefes ist das Wort Gottes lebendig, wirksam, durchdringend; es ist der Richter der Gefühle und Gedanken (Hebr 4,12). Folglich ist es nicht an uns, über dasselbe uns als Richter einzusetzen.
Jakobus sagt: „Er hat uns geschaffen nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit“ (1,18); nachher spricht er vom vollkommenen Gesetz (V. 25). Von dessen voller Gültigkeit überzeugt, fragt er mahnend: „Meint ihr, die Schrift rede umsonst?“ (4,5).
Johannes beendet die Bibel mit den Worten: „Wenn jemand etwas dazu‑ oder davontut vom Buch dieser Weissagung“, so wird Gott seinen Anteil am ewigen Heil abtun (Offb 22,18). Wenn Gott uns seine Botschaft gegeben hat, wer würde es wagen, sie zu ergänzen oder in dem, was ihm weniger wichtig erscheint, zu verachten?
Ein solches klares und einhelliges Zeugnis ist von großer Bedeutung. Nirgends erklärt die Schrift irgendeinen Teil oder eine Einzelheit für irrig. Während sie schonungslos die Fehler und das Versagen der Menschen und des Gottesvolkes berichtet, hat der Umstand, daß sie gar nichts von etwaigen Unrichtigkeiten der biblischen Verfasser sagt, um so mehr Gewicht.
III. Worauf bezieht sich die Unfehlbarkeit der Schrift?
Es ist offensichtlich für jeden Sachkundigen, daß der biblische Text, wie er heute in unsern Händen ist, etliche Schwierigkeiten bietet. Darum dürfte es angebracht sein, genauer festzulegen, worauf sich die Lehre von der Unfehlbarkeit bezieht, bevor wir auf die Einwände gegen sie eingehen.
1. Die Unfehlbarkeit heißt nicht Gleichförmigkeit in den Einzelheiten jener Berichte, die von verschiedenen Verfassern über das Gleiche geschrieben wurden. In den Büchern Samuels, der Könige und der Chroniken ist zu einem guten Teil von dem gleichen geschichtlichen Zeitabschnitt die Rede, aber ihre Gesichtspunkte wie ihre Ausdrucksweise können voneinander verschieden sein. Jedes der vier Evangelien erzählt das Leben Jesu Christi, aber mit verschiedenen Einzelheiten. In der Apostelgeschichte weisen jede der drei Darstellungen von der Bekehrung des Saulus von Tarsus bestimmte, besondere Züge auf (Kap. 9; 22; 26).
Man hat diese Unterschiede oft stark übertrieben und sie als Widersprüche und Irrtümer hingestellt. In Tat und Wahrheit muß der Verfasser nach der Lehre von der unfehlbaren Inspiration der Schrift wahrheitsgemäß schreiben, aber er ist frei in der Wahl der Besonderheiten, die ihm zur Beleuchtung seiner Botschaft geeignet scheinen.
Wenn vor einem Gericht vier voneinander unabhängige Zeugen Silbe um Silbe dasselbe aussagen würden über eine Reihe von vielschichtigen Tatsachen, würde man sie anklagen, sie hätten ihre Berichte abgekartet. Gerade ihre Übereinstimmung würde sie verdächtig machen. Denn es ist eine bekannte psychologische Erscheinung, daß auch bei unbedingter Redlichkeit verschiedene Personen verschieden von den gleichen Ereignissen Rechenschaft ablegen, infolge der unausweichlichen Unterschiede in den Blickpunkten und Beobachtungen. Dasselbe kann von den biblischen Verfassern gesagt werden. Ihnen wurde das Richtige eingegeben, und sie schrieben nichts Falsches. Aber jeder war eine Persönlichkeit für sich und kein Automat. Alles, was sie sahen und erzählten, war Wahrheit, auch wenn sie nicht dieselben Einzelheiten gesehen und weitergegeben hatten.
Betrachten wir beispielsweise in den Evangelien die Berichte über die Auferstehung: Alles Entscheidende stimmt miteinander überein:
Christus ist auferstanden, das Grab war leer. Der Herr ist an verschiedenen Orten von verschiedenen Gruppen von Jüngern gesehen worden; sein neuer Leib war den Begrenzungen des gewöhnlichen menschlichen Körpers nicht unterworfen. Nach einer bestimmten Zahl von Tagen verließ er die Erde. Dieser allgemeine Rahmen ist bei allen Evangelien derselbe. Aber sie weichen voneinander ab in gewissen Einzelheiten und in der Darstellung einiger Nebensachen. Ihre Berichte sind deswegen nicht weniger wahrhaft, und die Wahrheit, die gelehrt wird, ist eindeutig.
2. Die biblische Unfehlbarkeit schließt nicht aus, daß Bilder und Sinn‑Bilder verwendet werden. Obwohl die Schrift als Ganzes eingegeben wurde, folgt nicht daraus, daß alles in buchstäblichem Sinn aufgefaßt werden soll. Der unmittelbare Sinn vieler Stellen ist klar vom geschichtlichen, praktischen, gesetzlichen und sittlichen Gesichtspunkt aus. Aber an vielen Stellen handelt es sich offensichtlich um Sinnbilder, zum Beispiel in den Psalmen, im Hohenlied, in den Propheten wie in den Gleichnissen der Evangelien und in der Offenbarung des Johannes. Außerdem gehören Tausende von Ausdrücken in beiden Testamenten eher der dichterischen als der prosaischen Sprache an. Darin liegt gerade der lebendige Reiz des biblischen Stiles. Der Glaube an die Unfehlbarkeit der Schrift heißt ganz und gar nicht, sie unbedingt in einem buchstäblichen Sinne auszulegen. Warum denn sollte die unfehlbare Inspiration nur den prosaischen Erklärungen vorbehalten sein und könnte sich nicht ebensogut auf eine bilderreiche Sprache und auf Sinnbilder beziehen, welche noch stärker die Vorstellungen und das Empfinden der Menschen aller Zeiten beeindrucken?
Der wiederholte Vorwurf, diese Auffassung führe zu einem obligatorischen Buchstabenglauben, rührt zum Teil davon her, daß sich die Kritiker von unsrer Stellungnahme eine falsche Vorstellung machen. Sie denken, daß wortgemäße Inspiration bedeute, man mache jedes einzelne Wort, aus dem Zusammenhang herausgenommen, zum Gegenstand der Eingebung. Das trifft gar nicht zu. Keine Sprache und keine Literatur dürfte einer solchen Behandlung unterworfen sein. Die Fahrzeuge der Gedanken, die Wörter, sind so miteinander verknüpft und angeordnet, daß sie einen allgemein verständlichen Sinn ergeben. Der Zusammenhang wird es sein, der bestimmt, ob die Auslegung wörtlich, geistlich oder sinnbildlich aufgefaßt werden muß.
3. Biblische Unfehlbarkeit setzt nicht voraus, daß eine genaue, technische Sprache und ein der modernen Wissenschaft entsprechender Wortschatz gebraucht werden. Die biblischen Verfasser waren alle Vertreter des Altertums. Sie drückten sich in der Sprache ihrer Zeit aus und beanspruchten nicht, die heutige Wissenschaft vorauszusehen. Aber sie drückten sich in bezug auf die Grundlinien ohne Irrtümer aus gegenüber den mit der Wissenschaft in Beziehung stehenden Tatsachen. So berührt zum Beispiel der biblische Bericht von der Schöpfung die folgenden Gebiete: Steinkunde, Sternkunde, Biologie, Wetterkunde, Tierkunde und Physiologie. Die Beziehungen sind nirgends technischer Art. Dennoch bleibt diese Seite der Bibel nicht nur viel erhabener, sondern auch viel vernünftiger als alle Versuche, den Ursprung des Weltalls zu erklären.
Der berühmte Geologe Dana erklärt: „Ich glaube, daß das erste Kapitel der Bibel mit der Wissenschaft übereinstimmt.“ Sir W. Dawson, ebenfalls Geologe, fügt hinzu: „Die Reihenfolge der Schöpfertaten, wie sie im 1. Buch Mose steht, ist im Licht der modernen Wissenschaft einwandfrei. Zahlreiche Einzelheiten beweisen die hervorragendste Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Wissenschaft“.
Es ist ganz klar, daß die Schrift in bezug auf Sternkunde oder Steinkunde und andre wissenschaftliche Gebiete volkstümliche Ausdrücke gebraucht, wie die meisten modernen Gelehrten es etwa im Alltagsgespräch tun. Wenn es im Prediger etwa heißt: „Die Sonne steht auf und geht unter“, so machen wir es ja nicht anders, trotz der Entdeckung der Erdbewegung.
4. Im Zusammenhang mit der Unfehlbarkeit muß die biblische Botschaft in den ihr eigenen geschichtlichen Rahmen gestellt werden. Gewisse Erklärungen der Schrift waren wahr zur Zeit der Niederschreibung, auch wenn sich heute die Verhältnisse geändert haben. Wenn im Buche Josua gesagt wird, daß die zwölf Steine, die mitten im Jordan aufgerichtet wurden, „noch dort sind bis zu diesem Tag“ (4,9), so bedeutet dies offensichtlich: bis zum Augenblick, wo diese Dinge aufgeschrieben wurden. Ein besonders heikler Punkt ist die Zeitfolge im Alten Testament, der man Fehler vorwarf. Was gewiß ist, das ist der Umstand, daß man im Altertum anders zählte, als wir es tun, und daß es keinen bestimmten und allgemeinen Kalender gab. Die Dauer der Regierungszeiten der Könige ist schwierig zu bestimmen, da das letzte Jahr der einen Königsherrschaft oft als erstes der neuen ein zweites Mal gezählt wurde.
Auch die Fragen des Stiles und der Grammatik berühren sich mit dem geschichtlichen Rahmen. Wir denken in dieser Hinsicht nicht wie die Muslime über den Koran. Für sie ist dieses Buch im Himmel aufgesetzt und auf die Erde gesandt worden, weshalb sie sich lange gegen jede Übersetzung sträubten. Wir halten dafür, daß je nach der Zeit oder dem Verfasser das Hebräische in reinerer Gestalt auftritt, das Griechische mehr oder weniger korrekt ist (wie in gewissen Propheten‑Schriften und in der Offenbarung des Johannes), ohne daß dadurch die Gültigkeit des Textes beeinflußt wäre. Der Stil ist nicht formelhaft oder geziert, wie wenn er diktiert worden wäre. Manchmal ist er hoheitsvoll oder voller Spannung, sehr häufig aber schlicht, abwechslungsreich oder recht volkstümlich.
Man behauptet, daß gewisse Gelehrte nach der Reformation die Unfehlbarkeit der Inspiration auch auf die Punkte anwendeten, welche den Konsonanten des hebräischen Textes zugefügt wurden, um die Vokale anzudeuten. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß die Vokal‑Punkte vom 5. Jahrhundert nach Christus an durch die Masoreten erfunden wurden.
5. Die Auffassung von der Unfehlbarkeit richtet sich auf die Gesamtheit der biblischen Botschaft. Das gilt innerhalb der oben angeführten Grenzen, aber nicht nur für das, was „Glaube und Sittlichkeit“ betreffen. Sonst müßte man annehmen, in andern Gebieten sei die Schrift fehlerhaft. Zeigen wir dies am Beispiel der Geschichte. Gott hat auf Erden eingegriffen. Sein Erlösungsplan bewirkt die Fleischwerdung und vollzieht sich in ganz bestimmten geschichtlichen Tatsachen. Wenn die Bibel sich hierin täuscht, worauf würde dann unser Glaube beruhen?
Vergleichen wir was Paulus von der Auferstehung Christi und von den Ereignissen der Geschichte Israels sagt: 1. Kor 15,14‑19, 10,11; Röm 15,4. Andererseits sind die geschichtlichen Begebenheiten so eng mit den geistlichen Wirklichkeiten verbunden, daß es schwer halten würde, die einen von den andern zu trennen. Wir haben gesehen, daß es sich gleich verhält mit dem Bericht von der Schöpfung, in bezug auf das Gebiet der Naturwissenschaften (Steinkunde, Sternkunde, Biologie usw.). Diese Erzählungen wie diejenigen vom Paradies, vom Sündenfall, von der Sintflut usw. sind von Christus und den Aposteln voll und ganz bestätigt worden. Sofern wir sie nicht als Mythen erklären wollen, wie könnten wir sie von den geistlichen Unterweisungen trennen, die daraus abgeleitet wurden? Immerhin halten wir daran fest, daß unsre Auffassung der Unfehlbarkeit sich auf den Text allein bezieht, nicht etwa auf die manchmal unmöglichen Auslegungen, die man darüber anstellte.
Auch in bezug auf die Geographie ist durch die Archäologie und eine genauere Kenntnis des Altertums die Genauigkeit der Schrift bestätigt worden.
Wir fügen noch ein Wort hinzu über den in etlichen Glaubensbekenntnissen vorkommenden Ausdruck: Die Schrift ist das Wort Gottes, „unfehlbare Richtschnur in bezug auf den Glauben und die Sittlichkeit“. Man will damit ebenfalls aussagen, daß die Bibel nicht beansprucht, ein wissenschaftliches Handbuch zu sein: Ihr Bereich ist in erster Linie der Glaube und das Leben. Sie ist das Buch des Heils; ihr Ziel liegt darin, uns zu Gott zu führen, uns darin zu helfen, hier schon in seiner Gegenwart zu leben und erst recht für immer im Himmel. Darum sind die sogenannten wissenschaftlichen Fragen schließlich zweitrangig. Das entspricht ganz unserer Meinung.
6. Die Unfehlbarkeit bedeutet nicht Allwissenheit der biblischen Verfasser. Sie kennen nicht alle Wahrheiten in bezug auf die von ihnen behandelten Stoffe. Ihre Erläuterungen können wahr sein, ohne daß sie stets vollständig sind. Die Tatsache, daß es vier Evangelien gibt, ist dafür der anschaulichste Beweis. Jedes ergänzt, erweitert das Bild und baut es aus. Dieser Grundzug der Bibel erklärt es, daß sie von einem Ereignis oder von der Aussage einer Wahrheit nicht den umfassenden und unbedingt vollständigen Bericht gibt, den man von Seiten der Allwissenheit erwarten könnte. Die Schrift ist von Menschen geschrieben worden, die in dieser Aufgabe von Irrtümern verschont blieben, aber die nicht mit den Fähigkeiten des Verständnisses begabt waren, die Gott eigenen.
Übrigens gehört es gar nicht zum Ziel der biblischen Erzählungen, vollständig zu sein. So berichten die Evangelien gar nichts über das Leben Jesu zwischen seinem zwölften Altersjahr und seiner Taufe durch Johannes den Täufer. Dieser Bericht wäre wohl ansprechend ausgefallen, nach den apokryphen Evangelien zu urteilen, aber er war nicht notwendig vom Heiligen Geist und von den Verfassern selber aus gesehen.
IV. Einwände gegen die Lehre der Unfehlbarkeit
Diese Auffassung ist von der ganzen Inspirationslehre am meisten angegriffen worden. Wir gehen auf die wichtigsten Einwände ein.
1. Die Unfehlbarkeit soll unvereinbar sein mit der menschlichen Natur der biblischen Verfasser. Man sagt: „Irren ist menschlich“, und alles Menschliche ist unvollkommen. Da die Bibel nicht vom Himmel herabfiel, hat Gott die Menschen gebraucht, die er zur Verfügung hatte, um dieses Buch zu schreiben, gerade wie ein Künstler in seinem Ausdruck durch sein Material begrenzt ist.
Diese Überlegung ist richtig auf der Ebene des Sündenfalles. Aber sie rechnet weder mit der Allmacht Gottes noch mit dem Eingriff seines Erlösungswerkes. Genau wie die Offenbarung an sich eines seiner Wunder ist, so bildet auch die Tatsache, daß der Verfasser durch die Inspiration vor Irrtümern bewahrt bleibt, ein anderes Wunder. Wenn menschliche Natur notwendigerweise auch Sünde in sich schließen würde, so wäre ja Jesus Christus nicht der sündlose Erlöser, was die Ungläubigen auch behaupten.
Wir haben gesehen, daß, wenn die biblischen Verfasser ihrer natürlichen Unzulänglichkeit überlassen worden wären, sich dieses gewiß auf alle Gebiete ausgedehnt hätte, auf das geistliche sowohl wie auf das geschichtliche oder naturwissenschaftliche. Umgekehrt, wenn sie in geistlichen Dingen fehlerfrei sind, warum könnten sie es nicht auch in anderen Sachen sein? Wenn nur die menschliche Unvollkommenheit bei der Niederschrift des biblischen Textes in Frage kommt, wie könnten wir dann, die wir ebenso unzulänglich sind, das Wahre vom Falschen unterscheiden? Wir hätten keine andre Wahl, als uns der Skepsis zu überlassen.
2. Es heißt, die moderne Wissenschaft hätte die alte Meinung von der vollkommenen Bibel zerstört. Keine gebildete Person könne heutzutage an der Unfehlbarkeit der Schrift festhalten.
Das müßte zuerst ernstlich bewiesen werden. Wohl hat das 19. Jahrhundert geglaubt, dem Glauben die Wissenschaft entgegensetzen zu müssen, währenddem sie gar nicht gegensätzlich sind; nur liegen sie auf verschiedenen Ebenen. Man könnte mühelos eine große Zahl von bedeutenden Gelehrten anführen, die nicht nur an Gott glauben, sondern die auch ihren Glauben an die Heilige Schrift bekunden.
In dem Kapitel „Die Schwierigkeiten der Bibel“ werden wir sehen, wie manchmal das, was als „Irrtum“ der Bibel vorgeworfen wurde, von einer besser unterrichteten Wissenschaft beurteilt wird. Erwähnen wir hier nur die Äußerung von Professor Robert Dick Wilson, Princeton, Träger verschiedener Doktortitel, welcher 45 Sprachen und Dialekte des Vordern Orients, darunter alle semitischen Sprachen, kannte: „Ich bin zur Überzeugung gekommen, daß kein Mensch genug wissen kann, um die Wahrhaftigkeit des Alten Testamentes anzugreifen. Jedesmal, wenn man über genug urkundliche Beweise verfügte, um eine kritische Prüfung zu unternehmen, haben die biblischen Tatsachen, die der Urtext herbeibringt, bei weitem den Sieg davongetragen.“ (A. Lüscher, S. 64.)
Vergessen wir andererseits nicht, in welchem Grade die Ergebnisse der „Wissenschaft“ relativ und veränderlich sind. Sie ist ein ununterbrochener, fortschreitender Versuch, die vielen Geheimnisse der Natur zu erklären. Es wäre sinnlos und unwissenschaftlich, das zu verwerfen, was wir neueste Erkenntnisse nennen, weil es noch vieles abzuklären gibt.
Aber jede wissenschaftliche Erklärung ist auch wieder der Korrektur und der Vervollkommnung unterworfen. Was heute die Gelehrten sagen, kann morgen verneint oder ergänzt werden. Selbstverständlich ist die „theologische Wissenschaft“ weniger überprüfbar, als es die sogenannten Naturwissenschaften sind. Sie hat es mit der geistigen Welt zu tun, und, was die Bibel betrifft, geht sie oft von äußerst subjektiven philosophischen oder psychologischen Annahmen aus. Nach A. Lüscher hat die Bibelkritik seit 1850 mehr als 700 Theorien aufgestellt, die das Neueste an Wissenschaft darstellen sollten. Davon sind heute mehr als 600 überholt und fallengelassen, infolge gründlicherer oder ausgedehnterer Erkenntnisse. Wir nehmen gerne die Belehrung der menschlichen Wissenschaft an, aber nicht mit geschlossenen Augen. Wir prüfen alles und behalten das Gute (l. Thess 5,21). Wir behaupten nicht, alles darlegen zu können, wollen aber auch unsern Glauben nicht auf rein verstandesmäßigen Boden gründen. Der Glaube, der von wahren Tatsachen ausgeht, wird immer durch eine Erweisung des Geistes und der Kraft geweckt und genährt werden.
3. Fehler von seiten der Abschreiber lassen sich aus dem Vergleich der Varianten der verschiedenen Handschriften ersehen. Das stimmt, und wir gehen in einem nächsten Kapitel darauf ein. Da diese Fehler ungefähr ein Tausendstel des biblischen Textes ausmachen, vermögen sie nicht, unsern Glauben an die Unfehlbarkeit des Urtextes zu erschüttern.
4. Daß die Belegstellen des Alten Testamentes im Neuen mit einiger Freiheit benützt werden, scheint zu beweisen, daß sie nicht als unantastbar betrachtet wurden. Wir erinnern hier nur nochmals daran, daß Christus und die Apostel, welche dafür verantwortlich sind, ständig ihr restloses Vertrauen und ihre Unterordnung der Schrift gegenüber beweisen.
5. Es wird gesagt, daß man durch den Glauben an die Unfehlbarkeit den biblischen Text „versteinere“. I.K.S. Reid drückt sich so aus: „Das Wort Gottes wird zu einer Versteinerung, zu einer toten Urkunde“ (The Authority of Scripture, S. 279).
S. Van Mierlo faßt die Frage folgendermaßen zusammen: „Die Theologen, welche die Auffassung von der vollen Inspiration bekämpfen, sagen, es sei ein großer Irrtum, eine Sache nur deshalb zu glauben, weil sie in der Bibel stehe, und zwar aus zwei Gründen: 1) Es hat ohne Zweifel geschichtliche und wissenschaftliche Irrtümer in der Bibel gegeben, und so hat man ständige Auseinandersetzungen mit der Wissenschaft. 2) Eine Bibel ohne Irrtümer wäre gleich einem Götzen und würde eine unzulässige Herrschaft über unsern Geist ausüben. Wir würden dann diese Dinge in mechanischer Weise als wahr annehmen, ohne persönlichen Glauben an den Herrn Jesus Christus, welcher die wahre göttliche Offenbarung darstellt. Die Bibel wäre dann eine Sammlung von Lehrsätzen, also toter Buchstabe. Wir hätten dann eine autoritäre Religion, die vorschreibt, was man glauben muß, und deren Gebot man annimmt, ohne eine persönliche Erfahrung zu machen.“
Ein solcher Gedankengang scheint uns unhaltbar zu sein. Wieso sollte der biblische Text versteinert werden, wenn er mehr göttliche Wahrheit und weniger menschlichen Irrtum enthält? Gott hat den Propheten für uns „Worte des Lebens“ gegeben (Apg 7,38). Das geschriebene Wort stammt vom Heiligen Geist (Hebr 3,7); es ist stets lebendig und wirksam (4,12). Ihm entströmt eine Lebenskraft, gerade weil es zugleich göttlich und menschlich ist.
6. Sollte die Lehre von der Unfehlbarkeit den Menschen hindern, sich im Glauben zu üben? – „Die alte protestantische Lehre von der wortgemäßen Inspiration verwandelt das lebendige Wort Gottes in einen heiligen Text; damit wird der menschliche Charakter der Schrift verneint, nicht nur die Möglichkeit des Irrtums, sondern auch die Wirklichkeit des Glaubens mißachtet und verkannt“ (H. Vogel, God in Christ, S. 139).
In den obigen Einwürfen tritt uns eine völlige Unkenntnis darüber entgegen, was der Heilige Geist an Erleuchtung und Erneuerung im Leser bewirken kann. Der eingegebene Text wird uns nur dann verständlich, wenn wir im Glauben den Herrn aufnehmen, den er offenbart, und wenn wir uns durch den Heiligen Geist erneuern lassen. Denn für die Leser der Bibel „hängt eine Decke vor ihren Herzen; aber wenn sich die Herzen zum Herrn bekehren, wird die Decke abgetan … Wo der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit“ (2. Kor 3,15‑17).
Mit Warfield möchten wir nochmals das Folgende unterstreichen: So gut wie für alle andern Lehren ist unsre Auffassung von der vollen Inspiration auf die Aussagen der Schrift selbst aufgebaut. Wir fragen nicht: Was lehren die Glaubensbekenntnisse? Was sagen die Theologen? Was die Kirchenbehörde? Sondern: Was lehrt uns die Bibel selber? Wir stützen uns also auf eine exegetische Wirklichkeit, nämlich auf die peinlich genaue und ehrfurchtsvolle Erforschung des Textes. Wenn die Kritik die Lehre von der vollen Inspiration unhaltbar gemacht hätte, müßten wir nicht nur eine besondere „Lehre über die Inspiration“ aufgeben; wir würden damit den Herrn selbst und die Apostel aufgeben (denn sie lehren dies klar) als unsere Meister der Lehre und der Wortauslegung (S.179‑182). Das hieße für uns, auf die Glaubenshaltung verzichten, in der wir mit Gottes Hilfe beharren wollen.
7. Diese Unfehlbarkeitslehre hat vor allein den großen Nachteil, daß sie die Freiheit der Kritiker einengt. Das geht aus dem Obigen deutlich hervor. Man will nicht gebunden sein an einen heiligen Text, an eine Sammlung von Lehren, an eine väterlich herablassende Religion, die einem vorschreibt, was geglaubt werden muß. Man findet, eine Bibel ohne Irrtum würde eine unerträgliche Herrschaft über den Geist ausüben. E. Brunner sagt: „Der Fundamentalismus ist der Sklave des biblischen Textes … So wird aus der Bibel ein Götze und aus mir ein Sklave“ (Revelation and the Bible, S. 232).
Gewiß, wenn jeder sich das Recht herausnimmt, irgendwelche Stellen des Textes als Irrtum, als Widerspruch, als Legende oder Mythos zu erklären, wird er eine schrankenlose Freiheit genießen. Wenn keiner zu behaupten berechtigt ist, eine gegebene Stelle drücke die Wahrheit aus, wird der Wertmaßstab um so persönlicher, um so subjektiver. Zuletzt haben das religiöse Gewissen und der Verstand des einzelnen die Autorität der göttlichen Offenbarung ersetzt. Die Erfahrung zeigt, daß jene beiden Größen nicht bereit sind, sich von der letzteren geschlagen zu geben.
Es ist klar, daß das Zeugnis im Innern durch den Heiligen Geist die Linie jener Wahrheit fortsetzt, die er selber schon offenbart hat.
8. Der papierene Papst Man hört oft sagen: „Luther hat die Christenheit vom römischen Papst befreit, und die orthodoxen Protestanten haben ihn durch einen papierenen Papst ersetzt. Ihr wollt uns, die wir nicht an die unfehlbare Kirche glauben, die unfehlbare Schrift aufdrängen. Jesus Christus allein ist unfehlbar, und er allein sollte diese höchste Autorität behalten. Die Protestanten haben die Bibel an die Stelle des Christus gesetzt, und das ist eine ihrer großen Schwächen.“ (Vgl. Ed. J. Young, S. 104.)
Das sind Spitzfindigkeiten. Luther und die bibelgläubigen Christen haben nichts erfunden. Sie sind einfach zurückgegangen auf die Einstellung Christi und der Apostel zur Schrift. Bemerken wir, daß die geistliche Autorität nur drei Formen haben kann:
Vollmacht des Herrn und der geschriebenen Offenbarung,
Vollmacht der Kirche und ihres unfehlbaren Papstes,
Vollmacht des Menschenverstandes, der sich zum Herrscher macht.
Haben die Reformatoren wirklich Christus durch die Schrift verdrängt? Das Gegenteil trifft zu, da wir Christus nur durch sie kennen. Indem sie der Welt die Bibel zugänglich machten, gaben sie ihr eine wunderbare Predigt vom Evangelium der Gnade in Jesus Christus. Ed. J. Young sagt dazu: „Diejenigen, die eine solche Angst haben vor einem papierenen Papst, vor einer unfehlbaren Bibel, haben in sich selber eine solche unfehlbare Autorität: den menschlichen Geist. Ist der Christus der modernen Theologen das ’alleinige Wort Gottes’, der ewige Sohn Gottes, von der Jungfrau Maria geboren, für die Sühne unsrer Sünde ans Kreuz geschlagen, leiblich auferstanden? Jedenfalls nicht für Brunner, Niebuhr, Bultmann“ ( S. 107).
Die einzige Art, die Herrschaft Christi zu achten, besteht darin, ihn in der einzigen Offenbarung, die wir von ihm haben, kennenzulernen und seiner Unterweisung, wie derjenigen der Propheten und Apostel, die er mit aller Macht bestätigte, zu gehorchen.
9. Die Gefahr der Bibel‑Vergötzung. Wer an die völlig eingegebene, unfehlbare Bibel glaubt, wird stets der Vergötzung der Bibel angeklagt. „Der Fundamentalismus macht aus der Bibel einen Götzen, dessen Sklave er ist.“ Die Wirklichkeit sieht ganz und gar anders aus. Der aufrichtige Gläubige hat kein größeres Verlangen, als den Herrn, wie ihn die Bibel offenbart, anzubeten und zu verherrlichen. Die Schrift ist nur Botin, das vom Heiligen Geist geschmiedete Werkzeug, um ihn kennenzulernen.
10. Bekennt Paulus nicht selber, daß er nicht immer im Namen des Heiligen Geistes spricht? Er schreibt den Korinthern:
„Was ich schreibe, ist ein Gebot des Herrn“ (l. Kor 14,37);
„Denen, die verheiratet sind, gebiete nicht ich, sondern gebietet der Herr“ (7,10);
„Den andern sagt nicht der Herr, sondern sage ich … (V. 12)
„So ordne ich es in allen Gemeinden an … (V. 17) ;
„Was die Jungfrauen betrifft, habe ich kein Gebot des Herrn; ich sage aber meine Meinung, als der ich Barmherzigkeit
erlangt habe von dem Herrn, sein Getreuer zu sein“ (V. 25).
Paulus berührte damit eine recht ernste Frage, in der eine Änderung des mosaischen Gesetzes in bezug auf Ehescheidung vorlag. Es besteht kein Zweifel daran, daß er, seiner Inspiration gewiß, berechtigt war zu sagen: „Dies ist ein Gebot des Herrn.“ Aber er zeigt damit, daß, wenn die einen Ordnungen von unbedingter Gültigkeit sind, Gott durch andere in gewissen praktischen Fällen dem Menschen einen Spielraum läßt, um nach seinem Gewissen, nach den Umständen und seiner persönlichen Gabe zu entscheiden. (V. 6‑7. 8‑9.36.39.) Paulus fühlt sich frei, dank seiner großen Erfahrung und seiner besonderen Berufung, einen treuen Rat zu geben, der vom Herrn eingegeben ist (V. 40). Etwas Unrichtiges, das der Unfehlbarkeit Eintrag täte, ist darin nicht vorhanden.
11. Enthält die Bibel nicht Dinge, die an sich falsch sind? – Doch, gewiß, denn sie gibt ja die Worte des Teufels wieder, wie auch die Äußerungen der Feinde Gottes, die größten Sünden und die bösen Gefühle der Gläubigen. Das kann ja nicht heißen, daß der Herr die Verantwortung dafür übernehme! Er wollte, daß diese Dinge zu unsrer Belehrung genau aufgeschrieben würden, unter der Zucht des Heiligen Geistes.
12. Läßt sich die Inspiration und die Unfehlbarkeit auf ganz nebensächliche Einzelheiten anwenden? Paulus schreibt dem Timotheus, daß er um der Schwäche seines Magens willen nicht nur Wasser, sondern etwas Wein trinken soll (l. Tim 5,23). Aus Rom bittet der greise gefangene Apostel darum, man möge ihm den Mantel, die Bücher und vor allem die Pergamente bringen, die er in Troas bei Carpus zurückgelassen hatte (2. Tim 4,13). Das Schlußkapitel des Römerbriefes (16,1‑16) ist voller Ausdrücke der Freundschaft und persönlichen Würdigung für die Personen, die Paulus in Rom grüßen läßt. Gelehrte Professoren haben erklärt, daß solche geringfügigen, alltäglichen Dinge der Inspiration nicht würdig seien. Die Bibel hat es offenbar nicht leicht, es allen Leuten recht zu tun! Andre Male kann man nicht genug ihre menschlichen Züge herausstreichen. Solche Stellen dünken uns gerade der Beweis zu sein für die herrliche Natürlichkeit des biblischen Stiles, der uns auch die Spuren der Persönlichkeit des Verfassers, seiner Zuneigungen und seiner Umstände nahe bringt. Gerade solche Angaben entkräften den Gedanken, die Schrift sei mechanisch diktiert worden.
Zu 2. Tim 4,13 führen wir noch die bedeutsame Bemerkung von Erasmus an: „Da seht ihr, worin die Güter des Paulus bestanden haben, ein Mantel, der ihn vor dem Regen schützte, und ein paar Bücher!“ Und Grotius fügt hinzu: „Wie arm muß der große Apostel gewesen sein, daß er einen so bescheidenen Gegenstand, den er in der Ferne zurückgelassen hatte, derart entbehren mußte!“
Wir könnten noch andre Einwände beibringen gegen die Unfehlbarkeit, aber sie würden nur in andrer Form die gleiche grundsätzliche Auflehnung gegen die biblische Offenbarung darstellen. Gehen wir zu einer andern, positiven und wichtigen Seite unsres Gegenstandes über.
V. Die Unfehlbarkeit der Ur‑Handschrift
1. Gott hat darüber gewacht, daß die Botschaft getreu der empfangenen Offenbarung niedergeschrieben wurde. Wir halten dafür, es entspreche der Schrift einerseits wie dem Wesen und der Ehre Gottes andererseits, daß er bei jedem von ihm inspirierten biblischen Verfasser dafür Sorge trug, daß der Urtext ohne Irrtümer war. Wie könnte man behaupten, Gott habe gesprochen, wenn das geschriebene Wort nicht genau das Gesagte wiedergibt?
2. Es ist andererseits klar, daß auf keinen Fall eine Ur‑Handschrift bewahrt worden ist. Unsere Kapitel über die Übermittlung des Textes, über die Varianten und Schwierigkeiten der Bibel erklären, in welchem Zustand der heutige Text in unsern Händen ist, von dem nicht gesagt werden kann, daß er fehlerlos sei. E. Brunner sagt, daß die Fundamentalisten angesichts der Widersprüche und Fehlschlüsse, welche die Kritiker entdeckten, zu einem „unfehlbaren Text“ Zuflucht nehmen mußten, von dem man nur weiß, daß er erstens das unfehlbare Wort Gottes ist, und zweitens, daß er die Bibel von heute ist, obwohl recht verschieden von ihm. E. Brunner verurteilt dies als „apologetische Kunstgriffe“. Diese Darstellung gibt ein verzerrtes Bild, wie wir unten sehen werden.
3. Warum ist es wichtig, daß der Urtext ohne Irrtümer war? Könnten wir nicht auskommen, ohne zu wissen, was er war, da Gott es nicht zuließ, daß er uns erhalten blieb? Die Gelehrten können sich auf den hebräischen und griechischen Text berufen, wie ihn die Abschreiber überliefert haben. Aber der Durchschnitts‑Leser muß sich mit einer notgedrungen unvollkommeneren und vom Urtext entfernteren Übersetzung begnügen. Wenn Gott ihn aber durch dieses Mittel segnet, was sollte man mehr verlangen?
Erstens. Wir glauben, daß es um die Wahrhaftigkeit Gottes geht, und um seine Macht, sich nicht nur dem einzelnen, sondern der ganzen Menschheit zu offenbaren. Was müßten wir von ihm denken, wenn er gleich von Anfang an den Irrtum in die Niederschrift seiner Botschaft hätte einreißen lassen? Es kommt immer wieder auf die gleiche Frage heraus: Wenn schon im Urtext Fehler waren, wer zeigt uns, bis wohin der Irrtum geht, und wer lehrt uns, ihn zu unterscheiden? Wir wären in der größten Ungewißheit.
Zweitens. Es ist klar, daß der Verfasser des Urtextes eine ungleich schwierigere, entscheidendere Aufgabe hatte, als irgendein Abschreiber nach ihm. Mit L. Gaussen sprechen wir zuerst vom Urtext und seinen Übersetzungen, die im Lauf der Jahrhunderte gemacht wurden.
a) Der biblische Verfasser mußte der göttlichen Botschaft eine menschliche Gestalt verleihen. Das war eine geheimnisvolle, schwierige und dem Irrtum in höchstem Maße ausgesetzte Aufgabe, dafür brauchte es den vollen Beistand des Heiligen Geistes. Der Gedanke Gottes hat Form angenommen in der menschlichen Sprache; wenn man ihn übersetzt, muß er nicht wieder einen Körper bekommen; er wechselt nur das Kleid. Man sagt in unsrer eigenen Sprache, was das Hebräische und das Griechische gesagt haben, indem man bescheiden jedes Wort durch einen gleichbedeutenden Ausdruck ersetzt. Dieses Werk ist mit dem ersten, schöpferischen, nicht zu vergleichen. Zur Not könnte es durch einen loyalen Ungläubigen ausgeführt werden, der die fraglichen Sprachen vollkommen kennt.
b) Der Verfasser des Urtextes war ohne die volle Inspiration weit mehr den Gefahren der Irrtümer ausgesetzt als die Übersetzer. Die Arbeit der Letztern wurde ausgeführt von einer großen Zahl von Männern aus allen Sprachen und Ländern, die alle ihre Zeit und ihre Sorgfalt dafür verwenden konnten, wobei sie einander von Jahrhundert zu Jahrhundert überprüften, unterwiesen und vervollkommneten. Der Urtext hingegen mußte in einem bestimmten Augenblick durch einen einzelnen Menschen ein für allemal geschrieben werden. Niemand als Gott selber hat diesem Mann beistehen, ihn aufrichten und ihm bessere Ausdrücke eingeben können, wenn er in Gefahr stand, sich zu täuschen. Wenn Gott es nicht tat, war sonst niemand dazu in der Lage.
c) Während es sich bei den Übersetzern der Schrift um geschulte Männer handelte, die sich im Sprachstudium auskannten, waren die biblischen Verfasser oft ungeschulte Personen, mit wenig Erfahrung im Niederschreiben ihrer Sprache. Es wäre ihnen unmöglich gewesen, die göttliche Offenbarung allein fehlerfrei aufzusetzen.
d) Gottes Gedanke zündete im Geist der Propheten wie ein Blitzstrahl. Der Gedanke kann heute anderswo nicht mehr gefunden werden als im raschen Wort, durch das der Verfasser ihn beim Schreiben festhielt. Wenn er es schlecht gesagt hätte, wo fände man die Botschaft in reiner Gestalt? Der Fehler wäre nicht wiedergutzumachen gewesen; er hätte ohne Abhilfe das ewige Buch befleckt. Ganz anders verhält es sich mit den Übersetzungen. Da wir heute einen biblischen Text besitzen, der dem Urtext äußerst nahe ist, können unsre Übertragungen ständig verbessert werden, um dem Urtext möglichst gleichzukommen. Diese Arbeit vollzieht sich von Jahrhundert zu Jahrhundert; so ist es möglich, die Vulgata des heiligen Hieronymus nach 1500 Jahren, Luthers Übersetzung nach 450 Jahren, die autorisierte englische Übersetzung nach 350 Jahren, diejenige von L. Segond und die Elberfelder nach einem Jahrhundert zu verbessern. Wie wichtig war es, daß der Urtext uns ohne Fehler und in genauester Treue übermittelt wurde!
e) Wenn der Text fehlerhaft war, würde sich das Feld der daraus entstehenden möglichen Irrtümer immer weiter ausdehnen. Wenn er hingegen fehlerfrei war, sind die Gelegenheiten zu Irrtümern stets geringer. Die genaue Erforschung der zahllosen Exemplare der Schrift, die wir besitzen, die neue Entdeckung von Handschriften am Sinai und am Toten Meer, die Fortschritte der Auslegung und der Sprachwissenschaft, die ununterbrochene Verbesserung der Übersetzungen ‑ all dies hat wunderbar dazu beigetragen, den Grundtext zu bestätigen und viele Abschreibe‑ oder Übersetzungsfehler zu beseitigen, die im Laufe der Jahrhunderte begangen worden waren. Einmal mehr muß gesagt werden, daß ein solcher Fortschritt einen sicheren Urtext voraussetzt, von dem alles herrührt, wie weit wir davon heute auch entfernt sein mögen.
Prof. F. F. Bruce faßt folgendermaßen sowohl die Meinung der Gelehrten als diejenige der Bibel‑Gläubigen zusammen: „Durch die besondere Fürsorge und Vorsehung Gottes (Westminister Bekenntnis) ist uns der biblische Text in einem Zustand der größten Reinheit übermittelt worden, so daß auch die unkritischste hebräische oder griechische Ausgabe nicht die eigentliche biblische Botschaft verdunkeln oder ihr die rettende Macht nehmen kann.“
4. Warum hat Gott es nicht zugelassen, daß uns der Urtext erhalten blieb? – Wäre es darum, daß wir davor bewahrt blieben, daraus einen Götzen zu machen? Die Christen in Rom zum Beispiel, welche den echten Text des Briefes von Paulus in den Händen hatten, hielten sich im Glauben an die eingegebene Botschaft (wie wir es auch heute tun sollen). Aber später, als der Glaube weniger lebendig war, hätte da nicht die Gefahr bestanden, daß man aus dem Dokument, das aus den Händen des Apostels stammte, eine Reliquie, ein Zauberding machte? Das Beispiel der ehernen Schlange, der geräuchert worden war und die Hiskia schließlich zerstörte, gibt in dieser Hinsicht allerlei zu denken (4. Mose 21,8‑9; 2. Könige 18,4).
Da wir den Urtext entbehren, sind wir um so mehr darauf angewiesen, die vorhandenen Urkunden zu vergleichen und sie mehr und mehr dem Grundtext, von dem wir gar nicht so weit entfernt sind, anzunähern. Von der machtvollen Botschaft der Schrift ergriffen, von der Offenbarung des lebendigen Gottes überführt, können wir ihm unser volles Vertrauen schenken. Diese Einstellung ist uns möglich, auch wenn wir noch nicht imstande sind, das Wenige, das noch unklar bleibt, zu erklären, darzulegen oder in Übereinstimmung zu bringen.
In der gleichen Haltung haben wir auch alle biblischen Hauptlehren anzunehmen:
– die Dreieinigkeit: Gott in drei Personen offenbart
– die Fleischwerdung: Jesus Christus zugleich Gott und Mensch
– der Sündenfall. der Mensch ist nicht fähig, das Gute zu tun, bleibt aber
verantwortlich
– die Rechtfertigung: der Gläubige ist zugleich sündig und gerecht
– die Vorausbestimmung: die ewige Wahl und des Menschen Freiheit
– die Auferstehung: ein neuer Leib, der gleichzeitig geistig ist
– die ewige Verdammnis: wie ist sie mit Gottes Liebe zu vereinen?
Wir glauben dies alles auf Grund der Schrift, deren Zeugnis uns überwunden hat, auch wenn wir nicht jede Einzelheit erläutern können. Gleicherweise können wir auch die Lehre von der Inspiration und der Unfehlbarkeit annehmen: Wir vertrauen dem Buch, das ganz von Gott und vom Menschen herkommt und von Irrtümern bewahrt wurde, um uns mit Gewißheit die Wahrheit zu offenbaren.
Vierter Teil
ZEUGNISSE ÜBER DIE INSPIRATION DER HEILIGEN SCHRIFT
Erstes Kapitel
Jesus Christus und die Heilige Schrift
Jesus, das göttliche, ewige, Fleisch gewordene Wort, ist nicht zu trennen von der Schrift, dem Wort Gottes als Buch. Die Beziehungen zwischen den beiden sind so bedeutsam, daß wir ihnen noch weiter nachgehen wollen:
I. Christus ist der Hauptinhalt der Heiligen Schrift
Die Bibel, als Botschaft des Heils, offenbart uns Gott, den Erlöser, und führt uns zu ihm. Deshalb gebührt dem Retter, dem Messias, der erste Platz in allen Teilen der Schrift. Jesus selber fordert uns auf: „Forschet in der Schrift, denn ihr meint, darin das ewige Leben zu finden, und sie ist es, die von mir zeugt“ (Joh 5,39).
Der Geist Christi lebte in den Propheten des Alten Testamentes und offenbarte ihnen für uns die Leiden und die Herrlichkeit des Retters der Welt (l. Petr 1,10‑12).
„Das Zeugnis Jesu ist der Geist der Weissagung“ (Offb 19,10). Daher gibt Jesus seinen verwirrten Jüngern den Schlüssel zum Verständnis der Schrift, wenn er mit ihnen durchgeht, was im Gesetz Mose, in den Propheten und in den Psalmen (den drei Teilen der hebräischen Bibel) von ihm geschrieben steht (Luk 24,44).
Der Hebräerbrief schreibt darüber ganz klar: Für seinen Verfasser ist der Ewige, der Herr des Alten Testamentes, kein andrer als Jesus selber, ganz vereinigt mit dem Vater:
– „Alle Engel Gottes sollen ihn anbeten“ (Hebr 1,6; Ps 97,7).
– „Dein Thron, o Gott, ist ewig . . .“
– „O Gott, dein Gott hat dich gesalbt“ (V.8‑9; Ps 45,7).
– „Du, Herr, hast am Anfang die Erde gegründet (V.10; Ps 102,26).
Welch unerschöpfliches Studium ist es, in jedem Buch der Schrift nachzuforschen und darüber nachzudenken, was es vom Herrn aussagt!
Führen wir hier noch E. Sauer an: „So lösen wir die Frage der Bibel zentral, das heißt von dem Mittelpunkt der Bibel, von Jesus Christus, aus. Wir glauben an die Bibel um Jesu willen. Durch den Glauben an Christus kommen wir auch zum vollen Glauben an Sein Wort. In Christus, dem Zentrum der Heilsoffenbarung Gottes, haben wir auch das Zentrum einer gottgemäßen Bibelanschauung.
Dies ist auch glaubensmäßig das allein Folgerichtige. Denn Christus selbst ist der ‚Logos‘, die Urform des Wortes, das personhaft lebendige ‚Wort‘, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Mund der ewigen Wahrheit, ja, die Wahrheit selbst. Sein Geist aber, der ‚Geist Christi‘, hat die Propheten inspiriert (l. Petr 1,11), und das ‚Zeugnis Jesu‘ ist der ‚Geist der Weissagung“‚ (Off 19,10) (a.a.O., S. 135).
II. Christus ist die Erfüllung der Schrift
Er erklärt: „Glaubt nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). „Der Sohn des Menschen geht von hinnen, wie von ihm geschrieben steht“ (26,24). Am Abend des Auferstehungstages sagt er: „Es muß alles erfüllt werden, was von mir geschrieben ist im Gesetz Mose, in den Propheten und in den Psalmen“ (Luk 24,44).
Daher unterlassen die Evangelisten es nicht bei jeder Gelegenheit zu zeigen, wie alle Ereignisse im Leben Christi Schriftworte erfüllen. Beschränken wir uns hier auf die Beispiele von Matthäus:
Die Jungfrauengeburt (Mt 1,22‑23; Jes 7,14)
in Bethlehem (2,5‑6; Micha 5,1)
die Flucht nach Ägypten (2,15; Hos 11,1)
der Kindermord (2,17‑18; Jer 31,15)
die Kindheit in Nazareth, in Galiläa (2,23; 4,12‑16; Jes 8,23‑1 9,1)
der Vorläufer Johannes der Täufer (3,3; 11,10; Jes 40,3)
die Heilung der Krankheiten (8,16‑17; Jes 53,4)
die Verstockung des Volkes (13,14‑15; Jes 6,9)
die Heuchelei der Pharisäer (15,7‑9; Jes 29,13)
das Kommen Elias (17,10‑11; Mal 4,6; vgl. Mk 9,12)
der Einzug auf einem Esel in Jerusalem (21,4‑5; Sach 9,9)
der Tempel, der zur Räuberhöhle geworden war (21,13; Jes 56,7; Jer 7,11)
das Lob aus dem Mund der Kinder (21,16; Ps 8,3) und der verworfene Eckstein (21,42; Ps 118,22)
der Messias, den David seinen Herrn nennt (22,43; Ps 110,1)
die 30 Silberlinge, welche die Führer anboten (26,15; 27,3‑10; Sach 11,12‑13)
der Verrat des Judas (26,24; Ps 41,10)
der Hirte geschlagen und die Herde der Jünger zerstreut (26,31.56; Sach 13,7)
die Gefangennahme; Jesus unter die Missetäter gerechnet (26, 54.56; 27,38; Jes 53,7.9.12)
die Wiederkunft des Menschensohnes in den Wolken (26,64; Dan 7,13)
die Kreuzigung; die durchstochenen Füße und Hände (27,35; Ps 22,15)
das Los, das über seine Kleider geworfen wird (27,35; Ps 22, 15‑19)
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (27,46; Ps 22,2) uvam.
So weit geht allein das Zeugnis von Matthäus. In der Tat, die Person und das Werk Christi sind untrennbar mit der Heiligen Schrift verbunden!
Ill. Das praktische Verhalten Christi gegenüber der Schrift
1. Er bezeugt mit größter Klarheit ihre Vollmacht und göttliche Inspiration Nach seinen Worten kann die Schrift nicht gebrochen werden (Joh 10,35). Ihre Geltungsdauer wird mit der Himmels und der Erde verglichen, weil sie übermenschlichen Ursprungs ist (Mt 5,18).
Gott selbst spricht durch den biblischen Text, zum Beispiel in dem Bericht des Mose vom brennenden Busch: „Habt ihr nicht gelesen, was Gott euch gesagt hat? Ich bin der Gott Abrahams (Mt 22,32; vgl. 15,4).
Der eingegebene Text ist „das Gebot Gottes“, „das Wort Gottes“, denn Gott hat es selbst gesprochen (Mt 15,3.6).
Das Gebot Gottes ist als das geschriebene Wort weit erhaben über alle menschlichen, auch die religiösen Überlieferungen (Mk 7,8‑9).
2. Er unterstreicht die Bedeutung eines jeden Wortes „Es werden eher Erde und Himmel vergehen, als daß ein einziges Strichlein des Gesetzes untergeht“ (Luk 16,17). „Alles, was geschrieben ist von den Propheten über des Menschen Sohn, wird sieh erfüllen“ (Luk 18,31; vgl. 24,44).
3. Er bezieht sich für seine Darlegung oft auf einen einzigen Ausdruck des Textes Der Name, den Gott sich zulegt: Ich bin der Gott Abrahams (Mt 22,32); das Wort „mein Herr“, das auf den Davidssohn bezogen ist (V. 43‑45).
4. Er stellt den biblischen Text gleich seinen eigenen, göttlichen und unfehlbaren Worten, die nie vergehen werden (Mt 24,35).
5. Er stützt sich ständig auf die Schrift Im Kampf gegen die Versuchungen Satans antwortet er dreimal: „Es steht geschrieben!“, alle seine Gründe aus dem 5. Buch Mose beziehend (Mt 4,4.7.10; 5. Mose 8,3; 6,16; 6,13).
In seinen Auseinandersetzungen mit den Juden wiederholt er ständig:
„Habt ihr nicht gelesen, was David tat?“ (Mt 12,3); oder habt ihr nicht gelesen (was über den Sabbat gesagt ist? (V. 5
habt „ihr nicht gelesen, daß der Schöpfer zu Beginn Mann und Frau schuf?“ (Mt 19,4);
„habt ihr nie in der Schrift gelesen?“ (der verworfene Eckstein, Mt 21,42);
„habt ihr nicht gelesen, was Gott gesagt hat … ?“ (über die Lebenden, deren Gott er ist, Mt 22,31);
„was hat Mose euch vorgeschrieben … ?“ (wegen der Ehescheidung, Mk 10,2‑3);
„in eurem Gesetz steht geschrieben, daß das Zeugnis zweier Menschen wahr ist“ (Joh 8,17);
Seine Unterweisung an die Jünger stützt er auf die Schrift, um seine Vollmacht zu betonen:
Sein öffentliches Auftreten beginnt mit den Worten zu einer Stelle aus Jesaja: „Heute ist dieses Wort der Schrift, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Luk 4,16‑21).
Dem Schriftgelehrten antwortet er: „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du dort?“ (Luk 10,26).
Die Bergpredigt ist ganz auf dem Gesetz aufgebaut, das durch sie bestätigt und ergänzt wird (Mt 5,17).
In seiner Unterwerfung unter die Gebote des Gesetzes: Jesus hat es nicht verschmäht, „unter dem Gesetz geboren zu werden“ (Gal 4,4). Er wird beschnitten und im Tempel dargestellt, wie im Gesetz des Herrn geschrieben ist (Luk 2,21).
Er empfiehlt dem geheilten Aussätzigen, das von Mose vorgeschriebene Opfer darzubringen (Mt 8,4). Er ist bereit, die zwei Drachmen zu zahlen, die für den Tempel erhoben werden (Mt 17.24).
Am Kreuz sagt Jesus die Gebete und erfüllt die Verheißungen der messianischen Psalmen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Ps 22,2; Mt 27,46).
„Danach, da Jesus wußte, daß alles vollbracht war, sagte er, auf daß die Schrift erfüllt würde: ‚Mich dürstet‘ (Ps 69,22; Joh 19,28). Die Worte „Es ist vollbracht“ bedeuten, daß sein versöhnendes Werk vollendet und die biblische Weissagung ganz verwirklicht war. „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ ist das Gebet des 31. Psalms (V. 6; Luk 23,46).
Nach der Auferstehung kommt Jesus nicht auf die Bestätigung zurück, die er der Schrift verliehen hatte in den Tagen seiner Erniedrigung (in welchen er nach gewisser Auffassung auf seine Allwissenheit verzichtet hätte). Im Gegenteil, er erklärt den Jüngern von Emmaus und dann allen versammelten Jüngern, was sich auf ihn bezieht, in der Schrift von Mose bis zu allen Propheten und den poetischen Büchern (Luk 24,27.44).
6. Christus bestätigt die Erzählungen der Heiligen Schrift. Er nimmt ganz natürlich und ausdrücklich Bezug auf die Ereignisse des Alten Testamentes. Also ist es klar, daß er in ihnen weder Legenden noch Mythen, sondern geschichtliche Begebenheiten sieht:
die Erschaffung der ersten Menschen (Mt 19,4‑5),
die Ermordung Abels (Luk 11,51),
Noah, die Arche und die Sintflut (Mt 24,37),
die Rolle und der Glaube Abrahams (Joh 8,56),
die Beschneidung, die den Erzvätern gegeben und am 8. Tag vollzogen wurde, selbst wenn es ein Sabbat war (Joh 7,22),
die Zerstörung von Sodom, Lots Rettung, Untergang seiner Frau (Luk 17,29.32),
die Personen Isaak und Jakob (Luk 20,37),
die Berufung des Mose (Mk 12,26),
das Gesetz des Mose, das die Ehescheidung erlaubt und die Reinigung des Aussätzigen anordnet (Joh 7,19; Mt 19,18),
die zehn Gebote (Mt 19,18), das Manna (Joh 6,31‑51), die eherne Schlange (Joh 3,14).
Elia und die Witwe in Sarepta (Luk 4,26), die künftige Bedeutung des Elia (Mk 9,12),
Elisa und der aussätzige Naemann (Luk 4,27),
Jona und die Niniviten (Mt 12,40), die Weissagung Daniels (Mt 24,15).
7. Jesus setzt sich auch für Stellen der Schrift ein, die heute hart angegriffen werden. Wir erwähnten schon seine Bezugnahme auf Adam und Eva, auf die Sintflut, Jona, Daniel (aus dessen Schrift er den Titel „Menschensohn“ übernimmt) usw.
Er bestätigt ebenso die Gültigkeit und Einheit des Buches Jesaja, von dem er keinen Unterschied zwischen erstem und zweitem Teil angibt. Er beginnt sein Werk durch eine Erklärung zu Jesaja 61,1‑2 (Luk 4,17‑21).
Er macht auf die Drohung von Jesaja aufmerksam (Mt 13,14) und er wendet den schweren Vorwurf von Jesaja 29,13 auf das Volk an (Mt 5,7‑9). Uam.
Christus findet in den fünf Büchern Mose, die er Mose zuschreibt, die zwei wichtigsten Gebote des Herrn (5. Mose 6,4‑5; 2. Mose 19,18; Mk 12,29‑31).
Wir sahen schon, daß Jesus im lebensgefährlichen Kampf mit Satan dreimal das Schwert des 5. Buches Mose zückt (Luk 4,4.8.12), ein Buch, das zusammen mit dem 2. Buch Mose am meisten kritisiert wird.
8. Jesus legt dar, daß die Schrift vollkommen genügt, um den Menschen zum Heil zu führen. Den bittenden Brüdern des reichen Mannes erklärt er: „Sie haben Mose und die Propheten; auf die mögen sie hören!“ (Luk 16,29).
Die niedergeschriebene Offenbarung enthält alles, was den Sünder zur Erkenntnis Gottes und zum ewigen Leben führen kann. Ein wiederauferstandener Toter (V. 30‑31) oder selbst ein Engel (Gal 1,8) würden nichts mehr ausrichten.
9. Er zeigt, daß jede Quelle von Irrtum daher rührt, daß man die Schrift zu wenig ernst nimmt und sie nicht zu verstehen sucht. „Irrt ihr nicht, weil ihr die Schrift und die Macht Gottes nicht begreift? … Ihr irrt sehr“ (Mk 12,24.27).
Die Jünger von Emmaus sind traurig und verwirrt, weil ihre Auffassung von Gottes Plan zusammenbrach. Jesus weiß wohl um diese Ursache ihrer Enttäuschung, indem er sagt: „O ihr Toren und trägen Herzens, dem zu glauben, was die Propheten geredet haben“ (Luk 24,25).
IV. Folgerungen
Abschließend können wir sagen, daß Jesus, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, wie gesättigt ist von der Schrift, die er kennt, obwohl „er nicht darin geschult worden ist“ (Joh 7,15). Ein Zehntel seiner Belehrung ist dem Alten Testament entnommen, nämlich von den 1800 Versen seiner Reden in den vier Evangelien sind 180 direkte Entlehnungen oder Anspielungen auf die geschriebene Offenbarung.
Wenn man uns vorwirft, ständig Bibelstellen anzuführen, was mögen dann diese Leute von Jesus denken, der die Schrift jederzeit im Munde führte? (Dieses Verhältnis von einem Zehntel entspricht übrigens dem andern Teil des Neuen Testamentes, während die Entlehnungen in den Ansprachen der Apostelgeschichte fast die Hälfte ausmachen.)
Die Bibel ist für Jesus das Zeughaus, in welchem er seine Waffen findet, der befestigte Hort der Wahrheit. Von Satan versucht, wendet er sich an Mose, seinen Diener, weil dieser die Worte von Gott selber gesprochen hatte. Und in der Todesgefahr, als die Juden ihn wegen angeblicher Lästerung steinigen wollten, da beruft er sich auf die Schrift, die nicht gebrochen werden kann“ (Joh 10,31‑36).
Nach seinem Vorbild sei auch unsre eigene Schriftauslegung gestaltet. Er weist die unfehlbare Inspiration und die Stetigkeit der göttlichen Offenbarung nach, ihre Einheit, ihren innern Zusammenhang und ihren hinreichenden Inhalt. Er lehrt uns die Kunst, die Haupt- und die Nebenlinien, alles in einem Text Vorhandene auszuschöpfen.
Er, welcher die Wahrheit, das Wort Gottes in Person ist, unterwirft sich ohne Bedenken dem eingegebenen Text. Es ist offensichtlich, daß für ihn jede Aussage des Alten Testamentes das Wort Gottes ist.
Man hat wahrhaben wollen, daß in diesem Verhalten der Herr von jüdischen Gedanken beeinflußt war. Das Gegenteil ist der Fall. Selbstverständlich brauchte Jesus die Sprache seiner Zeit, um von seinen Hörern verstanden zu werden; aber niemals teilte er deren Irrtümer oder ihre Unwissenheit. In Wirklichkeit setzte er sich ständig in offenen Gegensatz zu den falschen Auffassungen seiner Mitbürger in bezug auf die Überlieferung, die Bräuche, das Jenseits, die Reinigung, das Gesetz, den Sabbat, das politische und diesseitige „Reich Gottes“ oder auf den Messias selber. Hätte Jesus über die volle Inspiration des Alten Testamentes eine andere Auffassung gehabt als die Juden, würde er sie mit der gleichen Unerbittlichkeit angegriffen haben wie irgendeine menschliche Überlieferung. Was sollten wir sonst von seiner sittlichen Lauterkeit und Wahrhaftigkeit denken?
Diese Haltung Christi, voller Vertrauen und unbedingter Unterwerfung gegenüber der Schrift, ist auch meine eigne Richtschnur. Mein Glaube an Christus, den göttlichen Retter, ist aufs engste verbunden mit meinem Vertrauen in die Schrift, die ihn offenbart. Indem ich die unverrückbare Vollmacht des Herrn anerkenne, kann ich nicht umhin, auch die Tatsachen und Lehren des inspirierten Buches zu glauben. Umgekehrt wird jeder, der das Zeugnis der Schrift annimmt, auch zum Glauben an Christus gelangen. Die Juden glaubten angeblich an Mose, verwarfen aber Christus. Deshalb hielt er ihnen entgegen: „Wenn ihr Mose glauben würdet, so glaubtet ihr auch an mich, denn er hat von mir geschrieben. Aber da ihr seinen Schriften nicht glaubt, wie solltet ihr mir Glauben schenken?“ (Joh 5,46).
Viertes Kapitel
Wohin die Ablehnung der vollen Inspiration und die Kritik an der Bibel führen können
I. Was verstehen wir unter „Bibelkritik“?
Das Wort Kritik (griech. krinein, (be)urteilen, richten) bedeutet Gespräch, das nach vernünftiger Prüfung die Wahrheit und Echtheit gewisser Tatsachen oder Urkunden feststellt. Sagen wir von vornherein, daß wir eine positive Kritik der alten Texte für durchaus angebracht und sogar für notwendig erachten. Das Wort Gottes ist uns in der Form einer Sammlung alter Schriften gegeben, die von verschiedenen Verfassern in verschiedenen Sprachen in mehreren Zeitepochen und Ländern geschrieben wurden. Nichts ist richtiger, als unsern Verstand anzuwenden auf die Prüfung der Handschriften und Varianten, die alten Sprachen zu erforschen und dem Sinn der Sätze und dem Wert der Ausdrücke nachzuspüren. Man nennt dies die niedere Kritik. Es gab Gelehrte, die ihr ganzes Leben ihr gewidmet haben, bis ins kleinste die geringsten Einzelheiten des heiligen Buches untersuchend. Männer wie Alfred Menge für die ganze Bibel, B. F. Westcott und F. I. A. Hort durch ihr Neues Testament haben der wissenschaftlichen Textkritik unschätzbare Dienste geleistet. B. Kennicott in früherer und R. D. Wilson in jüngerer Zeit haben für das Alte Testament durch ihr unermüdliches Schaffen dasselbe getan. Hat nicht auch Lukas selber „alles von Anbeginn an mit Fleiß erkundet“? (Luk 1,3).
Man nennt andererseits die hohe Kritik die Prüfung der literarischen Gattung, des Inhaltes der Botschaft, ihr Verhältnis zu den Sitten, zur Zeit und zur Geschichte, usw.
Die Kritik, welche zu besserem Verständnis verhilft, ist daher zu begrüßen, und wir scheuen keine wissenschaftliche Erforschung, die im Licht und in der Wahrheit erfolgt. Aber nun stellt die Kritik der Bibel einen besondern Fall dar. In diesem einzigartigen Buch ist der Glaubende seinem Gott begegnet: sein gegenwärtiges und sein ewiges Leben ist durch die Erkenntnis Jesu Christi erleuchtet worden. Deshalb vermag er nicht an die Schrift heranzutreten wie an ein gewöhnliches Menschenwerk. Sein Wertmaßstab wird bei ihrem Studium immer der Herr selber sein, der diese Seiten selber eingab und erschließt. Die rein verstandesmäßige Kenntnis wird ergänzt und gemessen an der Lebenskraft, die aus dem eingegebenen Text hervorgeht.
L. Gaussen bemerkt zur Rolle der Bibelkritik folgendes: „Die Kritik der Heiligen Schrift ist eine edle Wissenschaft. Sie ist es durch ihren Gegenstand, nämlich die Geschicke des inspirierten Textes zu untersuchen, seinen Kanon, seine Handschriften, seine Übertragungen, seine Zeugen und die zahllosen Entlehnungen … Gott bewahre uns davor, den Glauben der Wissenschaft entgegenstellen zu wollen, wo doch der Glaube von der Wahrheit lebt, welcher die Wissenschaft nachforscht.
Die kritische Wissenschaft überschreitet hingegen ihre Grenzen, wenn sie, statt als Magd zu dienen, sich zum Richter aufspielt, wenn sie, statt die Worte Gottes zu sammeln, sie auseinandernimmt und zusammensetzt, wenn sie dem Kanon zurechnet oder von ihm ausschließt, wenn sie ihre eigenen orakelmäßigen Erklärungen abgibt. Wenn sie von diesem Buch, das von sich selber sagt, es sei inspiriert und es werde jedermann am Jüngsten Tag richten, etwas wegschneidet; wenn sie die Rolle der Engel am Jüngsten Gericht (Mt 13,48) zu spielen sich anschickt, um das Buch Gottes an das Ufer der Wissenschaft zu ziehen, um aus dem Schlamm herauszuholen, was ihr gut scheint, in ihren Gefäßen gesammelt zu werden, und wegzuwerfen, was schlecht ist; wenn sie mit menschlichem Denkvermögen die Gedanken Gottes richtet … dann muß man sie mißbilligen … Es kommt nicht selten vor, daß ein eifriges Studium der äußeren Gegebenheiten des heiligen Buches, nämlich seiner Geschichte, seiner Handschriften, seiner Übertragungen, seiner Sprache, die Aufmerksamkeit der Forscher so stark beansprucht, daß sie wie abgestumpft werden gegenüber seinem Sinn, seinem Ziel, der darin sich entfaltenden sittlichen Kraft, den Schönheiten und dem Leben die daraus strömen . . . Ein solcher Mann erstickt sein geistliches Leben … Kann er den Tempel erkennen? Er hat nur Steine gesehen; er weiß nichts von der shekina (der Herrlichkeit des Herrn, 2. Mose 40,35). Kann er die prophetischen Bilder erkennen und ahnt er ihre neutestamentliche Erfüllung? Er hat nur die Altäre gesehen, die Lämmer, das Blut, das Feuer, den Weihrauch, die Sitten und Gebräuche, aber er hat nichts geschaut von der Erlösung, von der Zukunft, vom Himmel, von der Herrlichkeit Jesu Christi.“
Die verneinende Kritik. Es ist leider offensichtlich, daß eine gewisse verneinende Kritik ihre Befugnisse überschritten hat. Indem sie zu oft von vorgefaßten theologischen und philosophischen Gedanken und nicht bewiesenen Theorien ausging, kam sie dazu, die Schrift, den Text wie einen Leichnam zu sezieren. Wir wollen einige der von solcher Kritik vorgebrachten Fragen betrachten und sehen, wohin sie notwendigerweise führen.
Il. Das Aufkommen und der Siegeszug der modernen Kritik
Man ist sich einig darüber, anzuerkennen, daß die Juden, Christus, die Apostel, die Urgemeinde, die Kirchenväter, die Reformatoren und ihre Nachfolger in umfassender Weise die volle Inspiration der Schrift bis Anfang des 18. Jahrhunderts bekannten.
Diese Auffassung wurde erschüttert durch den Rationalismus des 18. und den religiösen Freisinn des 19. Jahrhunderts. Unter dem Einfluß der Evolutionstheorie hat man den biblischen Bericht von der Schöpfung und vom Sündenfall abgelehnt. Der Mensch, der sich vom Höhlendasein befreite, hätte sich seine Götter nach seinem eigenen Bild gedacht (Polytheismus); nach und nach die Barbarei hinter sich lassend, habe er später den einen Gott erdacht (Monotheismus). Vor der Entwicklung der Altertumskunde, vor hundert Jahren, glaubte man, es gebe keinen geschichtlich gewissen Befund, der weiter zurückginge als zum 6. Jahrhundert v. Chr. Folglich wurde die Geschichte der Erzväter und des alten Israel als Legende und Mythos erklärt. Von Mose nahm man an, er habe sicher weder lesen und schreiben noch das Gesetzbuch mit den mannigfachen Riten, das nach ihm genannt ist, aufstellen können. Die Beschreibung der Ägypter, der Kanaaniter, der israelitischen Könige, vor allem von Salomo, wurde ins Reich der Fabel verwiesen. Also konnten die sogenannten Bücher Mose nicht von ihm stammen. Sie sollen viel später geschrieben worden sein. Die Wissenschaft der Kritiker setzte sie in den Stand, nach Tausenden von Jahren des Abstandes die vielfachen „Quellen“ festzulegen . . . – Es erübrigt sich, auf die Gründe hinzuweisen, welche die Fragwürdigkeit dieser Folge von verwickelten Hypothesen aufzeigen, die durch gar keine Tatsachen gestützt sind. . . . (Gekürzt H. Koch)
Der Freisinn, der die Bibel als irgendein Buch behandelt, hat auch das Neue Testament angegriffen. Wo der Mensch keinen Sündenfall kennt, sondern sich von selbst zum Guten entwickelt, braucht er auch keinen Erlöser. Die Evangelien‑Berichte sind daher Legenden, das Übernatürliche wird kurzweg daraus entfernt. Weder ist Jesus durch ein Wunder geboren, noch vermag er die Sünden durch seinen Tod zu sühnen. Von seiner Wiederkunft ist nicht die Rede, und eine ewige Hölle gibt es nicht. Das vierte Evangelium wie einige Briefe und die Offenbarung sind nicht echt.
III. Die „Biblische Erneuerung“
Eine besser unterrichtete Wissenschaft hat auf viele Einwände des alten Freisinns geantwortet. Die materialistische Evolutionstheorie ist von einer großen Zahl von Gelehrten abgelehnt worden. Die Entdeckung von Ur in Chaldäa und der ältesten Kulturen (Sumer, Babylon, Ninive, Mari, Ugarit, Jericho, Kreta, Ägypten usw.) hat bewiesen, wie genau die biblische Beschreibung von der Zeit der Erzväter, von Mose und Israel ist. Wer wollte nach der Auffindung des Gesetzbuches von Hammurabi noch bestreiten, daß Mose nicht ebensogut etwas Gleiches verfassen konnte? Solche Bestätigungen sind für Glaubende eine Freude, auch wenn ihr Vertrauen in die Schrift dieser Stärkung nicht bedurfte.
Eine neuere Strömung der Theologie betonte ihre Absicht, Gottes Wort wieder zu Ehren und uns zur Bibel zurückzubringen. Nun ist abzuklären, welches Wort Gottes und welche Bibel gemeint ist. Gewiß ist die Bibel wieder mit neuem Eifer erforscht worden. Aber für die Mehrzahl der zeitgenössischen Theologen gilt die alte Gleichung nicht mehr, daß die Bibel schlechthin das Wort Gottes darstellt. Es wird ‑ wie beim alten Freisinn ‑ daran festgehalten, daß die Schrift Irrtümer, Legenden und Widersprüche enthält. Sie ist nicht das Wort Gottes selbst; sie ist nur ein Zeugnis, das von fehlbaren Menschen dem Wort Gottes dargebracht wird.
Karl Barth schreibt: „Die Propheten und Apostel waren als solche in ihrem gesprochenen und geschriebenen Wort irrtumsfähig; sie waren tatsächlich fehlbare Menschen wie wir alle“ (Kirchliche Dogmatik, 1, 2. S. 563). „Hat Gott sich der Fehlbarkeit all der menschlichen Worte der Bibel, ihrer geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Irrtümer, ihrer theologischen Widersprüche, der Unsicherheit ihrer Überlieferung und vor allem ihres Judentums nicht geschämt, sondern hat er sich dieser Worte in ihrer ganzen Fehlbarkeit angenommen und bedient, dann brauchen wir uns dessen nicht zu schämen, wenn er sie in ihrer ganzen Fehlbarkeit als Zeugnis auch an uns erneuern will, dann wäre es Eigenwilligkeit und Ungehorsam, in der Bibel auf die Suche nach irgendwelchen unfehlbaren Elementen ausgehen zu wollen“ (S. 590).
Es ist klar, daß für Barth „die wirkliche Menschlichkeit der Bibel die nicht weniger wirkliche Möglichkeit von Fehlern in sich schließt. Und ebenso klar ergibt sich, daß in dieser wirklichen Menschlichkeit der Bibel die Berechtigung zur Bibelkritik liegt.“ Wie das Fleisch gewordene Wort ohne Sünde war, so ist das niedergeschriebene Wort Gottes ohne Irrtum. Die Menschlichkeit Jesu ist der unsrigen gleich, ausgenommen die Sünde. Die Menschlichkeit der Bibel ist allen menschlichen Büchern ähnlich, ausgenommen den Irrtum.
Nach der modernen dialektischen Methode bleibt Barth dabei nicht stehen. Was er über die Menschlichkeit und Fehlbarkeit der Bibel sagt, sind nur vorangehende Feststellungen. Aber worum es ihm letztlich, daß die Schrift Gottes Wort sei. Barth: „Wir glauben in und mit der Kirche, daß die heilige Schrift als das ursprüngliche und legitime Zeugnis von Gottes Offenbarung das Wort Gottes selber ist“ (S. 557). Aber, was will Barth mit diesen Worten sagen, da er doch die Lehre der Inspiration mit aller Entschiedenheit ablehnt, so wie sie formuliert wurde von den Kirchenvätern und den Reformatoren des 16. Jahrhunderts und von den reformierten Glaubensbekenntnissen.
Ein andrer berühmter Theologe, Emil Brunner, sagt: „Ich bin Anhänger einer ziemlich radikalen Schule der Bibelkritik, welche das Johannes‑Evangelium nicht als geschichtliche Quelle anerkennt und manche Teile der synoptischen Evangelien legendär findet“ (Die Theologie der Krisis, S. 41). „Wer behauptet, das Neue Testament gebe uns einen klar zusammenhängenden Bericht von der Auferstehung, ist entweder unwissend oder wenig ehrlich“ (Der Mittler, S. 577). – Die Schrift selbst ist nach der Ansicht der dialektischen Theologie nicht Offenbarung, weil diese ihrem Wesen nach gar nicht schriftlich festzuhalten ist. Was niedergeschrieben ist, wird damit der menschlichen Einsicht unterworfen. Emil Brunner drückt es so aus: „Es ist, wie wenn der Geist Gottes zwischen zwei Deckeln des geschriebenen Wortes gefangen wäre.“ – „Darum können, was unsere Inspirationslehre auch sein möge, die biblischen Urkunden nicht als inspiriert gelten“ (R. A. Finlayson, Develation and the Bible, S. 225).
Emil Brunner lehnt auch die Jungfrauengeburt und das Sühneopfer ab. Er schreibt über die drei ersten Evangelien: „Etliches, was darin erzählt wird, ist nicht historisch. Auch in ihnen werden Jesus Worte in den Mund gelegt, die er nicht gesagt hat, und sie berichten verschiedene Tatsachen, die sich nicht zutrugen.“ Was das vierte Evangelium betrifft, „so hat Jesus vielleicht keines der ihm zugeschriebenen Worte gesprochen“ (Dogmatik II). „In gewissen Punkten stellt die Verschiedenheit der apostolischen Lehre vom rein theologischen, intellektuellen Standpunkt aus einen nicht zu versöhnenden Widerspruch dar“ (Revelation and Reason, S. 290). – Das legt uns die recht ernste Frage nahe: Wenn die Bibel Fehler und Irrtümer enthält in Theologie, Moral, Geschichte und Wissenschaft, was bringt sie uns dann? Besteht die Möglichkeit, Gott objektiv zu erkennen? Fast sind wir versucht, mit Maria zu sagen: „Sie haben den Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (Joh 20,13).
Wenn die bedeutendsten Theologen sich so über den eigentlichen Wert der biblischen Texte äußern, wie können sie dann auf dieser Grundlage eine „Theologie des Wortes Gottes“ aufbauen? Offenbar gibt man diesem letzten Ausdruck einen andern Inhalt, als es der überlieferte war. Man macht einen Unterschied zwischen dem geschriebenen Text und dem, was Gott durch die Bibel sagt. Es heißt, das Wort Gottes sei die Botschaft, die uns durch die Schrift erreicht; aber es wäre irrig zu glauben, diese Botschaft sei an diesen oder jenen Vers gebunden. Für viele neuprotestantische oder Barth’sche Theologen (wie G. S. Hendry, E. Brunner, J. A. Mackay) ist die Offenbarung Gottes diejenige einer Person; sie kann uns nicht Belehrungen, Wahrheiten, Lehren oder Aufschlüsse geben. Gottes Taten sind den Belehrungen und Sätzen der Bibel entgegengesetzt. Das ist für uns wohlverstanden unhaltbar, und man verwundert sich über die Geschicklichkeit des menschlichen (oder dämonischen) Geistes, der in neuer Form immer wieder das Wort Gottes in Frage stellt. Die Schlußfolgerung: Der Neuprotestantismus in seinen verschiedenen Formen spricht immer wieder von einer ‚Theologie des Wortes‘ und von ‚biblischer Theologie‘, wobei er das angreift, was die Bibel von sich selber sagt, nämlich daß ihre Belehrungen, ihre Lehren, ihre Aufschlüsse und ihre Aussagen das geschriebene, von Gott inspirierte Wort Gottes seien.
Das Echo der Offenbarung
Die zeitgenössische Theologie geht vom Grundsatz aus, daß die Schrift als solche nicht die offenbarte Wahrheit sei. W. Temple, anglikanischer Erzbischof von Canterbury schrieb: „Es gibt nicht ‚offenbarte Wahrheit‘ . . . Es gibt Wahrheiten der Offenbarung, nämlich Aussagen, welche die Frucht wichtiger Gedanken über die Offenbarung ausdrücken; aber an sich sind sie nicht direkt offenbart“ (Nature, Man and God, S. 317). Die Schrift wäre also die menschliche Antwort auf die Offenbarung und ein Zeugnis über sie; sie wäre ein Echo davon, aber keineswegs die Offenbarung selber. Professor D. D. Williams bezeugt, daß fast alle Theologen heute diese Auffassung teilen. Er schreibt: „So kann der christliche Gedanke befreit werden vom unerträglichen Dogmatismus, welcher Gottes Offenbarung irgendeiner menschlichen Formel gleichsetzen will“.
W. Temple schreibt ferner: „Es ist von größter Wichtigkeit, daß Christus kein Buch geschrieben hat. Es ist sogar noch wichtiger, daß wir von keiner einzigen seiner Handlungen oder keinem seiner Worte vollständig sicher sind, daß sie so getan oder so gesprochen worden sind.“ Über die Bibel als Ganzes fügt er hinzu: „Es gibt keinen Satz, welcher die Autorität einer deutlichen Erklärung des dreimal heiligen Gottes hat“ (S. 350).
R. A. Finlayson zieht daraus folgenden Schluß: „Dies zeigt, wie weit der neue Freisinn hat gehen müssen um seines Versuches willen, die Offenbarung von der Schrift zu trennen und der Bibel den Charakter einer glaubenswürdigen Quelle irgendeiner angemessenen Kenntnis Gottes abzusprechen. Vermutlich hat für Dr. Temple die Unsicherheit über alle Worte Christi eine ungeheure Wichtigkeit, weil sie der Ausübung des Glaubens um so mehr Raum läßt. Aber ein Glaube, der auf solchen Unsicherheiten beruht, ist reine Anmaßung.“
IV. Wie wird die fehlbare menschliche Botschaft zum „Wort Gottes“ ?
Wie kann der Gläubige die Wahrheit erkennen, wenn der biblische Text so unsicher ist, wenn seine Verfasser in allen Punkten der Möglichkeit von Fehlern unterworfen und ihre Seiten voller Legenden und Irrtümer sind? Man antwortet uns darauf: Das geschieht, wenn der Text, so wie er ist, von Gott benützt wird, um den Leser jetzt und hier anzusprechen. Dann wird die Botschaft zum „Wort Gottes“, und die Offenbarung ist dem Menschen in der persönlichen Begegnung mit dem Herrn gewährt. John Murray faßt die moderne Auffassung, die er nicht teilt, in folgende Worte: Die Schrift „gibt dem Wort Gottes Zeugnis für uns; sie ist das Fahrzeug und als solches einzigartig. Aber Gott muß immer neu handeln und durch einen göttlichen Entscheid herbeiführen, daß das Zeugnis der Schrift als Gottes Wort uns mit zwingender Macht treffe. Die Vollmacht der Schrift besteht nicht an sich. Sie erweist sich nur hier und jetzt für diesen einen Menschen, aber nicht für einen andern, in einer Krisis und bestimmten Herausforderung. Gott offenbart sich durch den Kanal der Schrift, aber diese wird uns nur zum Wort Gottes in der ständigen Erneuerung der Krise, die im Menschen entsteht, und in der göttlichen Entscheidung“ (The Infallible Word, S. 43).
Kommen wir auf Th. Engelders Bemerkung über diese Theologen zurück: „Sie lehnen das Wunder ab, das Gott gemacht hat, indem er uns durch Eingebung eine fehlerfreie Bibel gab, aber sie glauben ohne weiteres an das viel größere Wunder, das Gott jeden Tag vollbringen muß, indem er Menschen befähigt, in dem unvollkommenen, menschlichen Wort das vollkommene Wort Gottes zu finden und zu erkennen“ (Scripture cannot be broken, S. 129).
Wenn wirklich die Bibel Gottes Wort nur vermittelt im Augenblick, wo ich Gott in seiner Wahrheit begegne, wo seine Botschaft mich trifft, liegt ihre Autorität beim Empfänger der Botschaft. Das ist eine Verwechslung zwischen Inspiration der Bibel und dem innern Zeugnis des Heiligen Geistes.
Robert Preus fragt dazu: „Was ist denn dieser Text, der ‚Wort Gottes‘ wird? Die Schrift ist Gottes Wort. Sie wird es nicht und kann es im besondern Fall nicht werden. Sie wird es weder, wenn die Kirche sie anerkennt, noch wenn Gott einen Menschen dazu führt, sie als solches anzunehmen. Gerade wie der Brief eines Freundes seine Gedanken ausdrückt, so enthält seit allen Zeiten die Schrift Gottes Plan für unser Heil … Unter welchem Gesichtspunkt man auch Gottes Wort betrachtet, es ist immer das gleiche, sich treu bleibende Wort des Herrn. Man kann es ins Auge fassen aus dem Geist Gottes, aus dem der Propheten und Apostel heraus, von diesen Männern gepredigt und aufgeschrieben ‑ oder als das, was unsre Herzen aufnehmen: Es bleibt stets das Wort Gottes“ (a.a.O., S. 16, 19).
V. An welchem Prüfstein kann man Gottes Wort erkennen?
Wer behauptet, Gottes Wort sei nur in der Bibel „enthalten“, in welcher der Glaubende es zu entdecken habe, setzt sich damit in Wirklichkeit einer unlösbaren Schwierigkeit aus. J. I. Packer äußert sich über den Zwiespalt, in dem die zeitgenössischen Theologen sich verfangen, wie folgt: „Wie kann die Bibel oberster Richter über die menschlichen Irrungen sein, solange der Mensch oberster Richter über die biblischen Irrtümer bleibt? Wie verträgt es sich, das Zeugnis der Schrift für wahrhaftig zu erklären und doch ihre Fehler anzuklagen? Man verzeihe uns, wenn wir finden, es brauche einen Kunstkniff, um dieser Frage eine überzeugende Lösung zu geben. Dennoch ist dies das Unternehmen der modernen Theologie. Sie nimmt sich vor, die Lehre von der Offenbarung in neuer Weise so zu formulieren, daß einerseits die rechtgläubige Unterwerfung des Herzens und des Geistes unter die biblische Autorität und andrerseits die Unterjochung der Bibel unter die Autorität der verstandesmäßigen Kritik nicht als gegensätzlich, sondern als sich ergänzende Grundsätze erscheinen“ (Contemporary Views of Revelation, in Revelation and the Bible, S. 94).
J. I. Packer fragt sich dann, welches das Kennzeichen der Offenbarung sein kann. „Wenn es keine offenbarte Wahrheit gibt, wenn die Bibel nur ein menschliches, fehlbares Zeugnis von der Offenbarung gibt, wer verbürgt uns dann, daß unsre Auffassung von der Offenbarung der Wahrheit entspricht? Da wir Sünder sind, haben wir Anlaß anzunehmen, daß unsre eigenen Gedanken über die Offenbarung ebenso anfechtbar sind wie diejenigen der andern. Wie können wir sie prüfen und ergänzen? Die althergebrachte Meinung der Christenheit antwortet: Dieser Wertmesser besteht in der biblischen Darstellung der Wahrheit. Die moderne Theologie sagt zurückhaltend: Der einzige Prüfstein für unsre fehlbaren Urteile ist unser eignes, auch fehlbares Urteilsvermögen …
Durch die moderne Art, die Frage zu behandeln, hat man einer Sprache Vorschub geleistet, die über die Bibel in Ausdrücken mit doppeltem Sinn spricht und mit biblischen Bezeichnungen spielt. Die biblischen Begriffe sind dargestellt als beste Möglichkeit, den Christenglauben zu bezeugen, aber sie werden nachher einer rationalistischen Kritik unterworfen, die sie ganz um den biblischen Gehalt bringt. (Zum Beispiel bezeichnet man den Bericht vom Sündenfall als Mythus, als wahres und bedeutsames Sinnbild des heutigen Zustandes des Menschen, aber falsch als Erzählung eines geschichtlichen, sachlichen Ereignisses.) So ist die theologische Münze abgewertet worden, und eine Wolke der Doppelsinnigkeit verdunkelt einen großen Teil des modernen ‚Biblizismus‘. Bultmann hat wenigstens das Verdienst, die Konsequenzen gezogen zu haben: Nachdem er die Erlösungslehre im Neuen Testament als Mythus erklärt hatte, sah er mit einer Klarheit, die vielen andern abgeht, daß es das Vernünftigste sei, alles Mythische fallen zu lassen und einfach eine Art Existenzialismus zu verkündigen, die für ihn die wahre Bedeutung des Neuen Testamentes ausmacht“ (a.a.O., S. 97‑98).
Dieser Tage erklärte ein Professor an einer unsrer theologischen Fakultäten, im Gegensatz zu den Bestätigungen der Elia‑Geschichte durch Jesus (Luk 4,25‑26) und durch Jakobus (5,16‑18): „Es kann gesagt werden, daß dieser Bericht historisch falsch, aber geistlich wahr ist.“ Was mögen die Studenten dieses Professors denken, und was wollen sie der Gemeinde predigen, die schlicht glaubt, die Bibel sage die Wahrheit?
Vl. Wie kann man der Gefahr einer allzu persönlichen Auffassung entrinnen?
Wenn die Bibel nicht die Offenbarung an sich ist, sondern anfechtbar und irrig von der Theologie, der Moral, der Geschichte wie von der Wissenschaft her, wird das „Wort Gottes“, das ich angeblich durch sie erhalte, äußerst ichbezogen, d.h. es wird von meiner Erfahrung und Würdigung abhängig sein. Wer wird bestimmen, was in dem vorliegenden Text wahr und bedeutsam ist? Wie kann ich wissen, ob die wiedergegebenen Ereignisse genau, beschönigt oder erfunden sind? Wie soll ich unterscheiden können zwischen den Tatsachen und der Lehre, zwischen der eigentlichen Botschaft und dem wenig verbürgten Hintergrund? Im Grunde wird unser Verstand darüber entscheiden, gewiß in Anlehnung an bestimmte, unserm Geist ureigene Maßstäbe. Also sind Kenntnis und Verständnis des Menschen letzten Endes die höchsten Schiedsrichter über das, was jenes Wort Gottes ist (Dr. M. Lloyd Jones, Authority, S. 34).
Wir wiederholen die Frage: Wie kann ein solches Wort Gottes unterschieden und erkannt werden? Diese brennende Frage bewegt auch E. I. Young (Thy Word is Truth, S. 241). Immer wieder bleibt es bei dem, daß der Mensch in seinem ganz persönlichen Urteil sich selbst zum Richter macht. Diejenigen, welche den Unterschied zwischen der Schrift und dem Wort Gottes machen, billigen praktisch alle die Bibelkritik, oft in ihrer schärfsten Form. Dann kann jedes Wort des Textes in Frage gestellt werden und wird es auch. Alles, was die modernen Theologen wissen über Gott, die Dreieinigkeit, über Jesus Christus, den Heiligen Geist, die Auferstehung, von dem, was sie „Wort Gottes“ nennen, haben sie durch Worte der Bibel bekommen. Aber wenn diese Worte nicht sicher sind, müssen sie dann nicht in ihrem eignen Geist eine Sicherheit suchen? Wie kann diese unbestimmte Mitteilung genau gefaßt werden, da nicht die Verse an sich reden? Und das vernommene Wort wird recht verschieden sein, von Mensch zu Mensch, von einer theologischen Berühmtheit zur andern. Man vergegenwärtige sich die grundlegenden Unterschiede zwischen Barth, Brunner, Bultmann, Tillich und Robinson. Wo liegt da die Wahrheit?
Wenn wir bisher von Subjektivismus sprachen, so hätten wir auch von Illuminismus (Lehre von der Erleuchtung) und von Mystik reden können. Bei der besonderen Betonung der Erleuchtung behauptet der Gläubige, von Gott unmittelbar ein besondres Licht empfangen zu haben, eine Mitteilung des Geistes, die ihn von der geschriebenen Offenbarung unabhängig macht. Wir glauben ohne weiteres, daß der Herr sich an den Geist eines jeden von uns wenden kann. Aber um uns vor Abwegen zu bewahren, hat er uns den unerlässlichen Prüfstein im unfehlbaren Wort gegeben. Die modernen Theologen entbehren diese Norm, und die ganze Kirchengeschichte zeigt uns, wie gefährlich dies sein kann.
In der Mystik vereinigt sich die Seele mit Gott, dessen Wesen unfaßbar bleibt. So sieht zum Beispiel E. Brunner die persönliche Begegnung, in welcher Gott mit dem einzelnen spricht. Die übermittelte Mitteilung ist unaussprechlich und entzieht sich jedem gefaßten Ausdruck. Ohne die Beziehung zur richtunggebenden Wahrheit der Schrift scheint uns dies eine unüberprüfbare mystische Angelegenheit.
Im 18. und 19. Jahrhundert war man von der Unfehlbarkeit der menschlichen Vernunft überzeugt, denn man hielt sie von der Sünde unverdorben. Unsre Zeitgenossen haben diesen Wahn verloren. Zu viele Philosophien und Ideale sind vor ihren Augen untergegangen. Sie wissen um den Einfluß der nicht verstandesmäßigen Größen auf unser Denken. Sie sahen die Macht der Massenmedien und der Gehirnwäsche; sie erschauern vor dem, wohin der ungesteuerte Gebrauch der menschlichen Wissenschaft und Intelligenz führen können. Und sie sind nahe daran, es aufzugeben, über irgendein Ding sachlich genaue Kenntnis zu erwerben. Wo finden sie die Gewißheiten, deren sie im Leben bedürfen?
Sie werden sie nicht dort finden, wo man den Zusammenbruch des Rationalismus zugibt und gleichzeitig an der niedergeschriebenen göttlichen Wahrheit zweifelt. Sofern wir nicht den Zugang haben zu einer wegweisenden Offenbarung, welche unsre irrigen Begriffe zu erkennen und zu berichtigen erlaubt, werden wir Sünder beständig auf dem Meer der Zweifel und der Vermutungen steuerlos umhergetrieben werden. Und wenn die moderne Theologie uns sagt, daß wir uns weder auf die Bibel noch auf uns selber verlassen dürfen, so gibt sie uns einem hoffnungslosen Schicksal preis.
VII. Die Jagd nach Mythen
Es gehört heute zur Mode, von Mythen zu reden. Ein Mythus ist nicht eine Legende oder eine Fabel, sondern „eine Geschichte, welche Erscheinungen, Ereignisse der geistigen Welt darstellt, als gehörten sie dem irdischen Leben an, oder die irdischen Ereignisse so darstellt, daß ihre geistlichen Wurzeln besonders hervortreten“ (Otto A. Piper, God in History, Macmillan, New York 1939, S. 61).
Prof. Rudolf Bultmann in Marburg hat sich eine große Berühmtheit erworben durch sein Unternehmen, die Bibel, vor allem das Neue Testament, der Mythen zu entkleiden. Sein bekanntestes Buch heißt „Kerygma und Mythus“. Fassen wir die Würdigung, die P. E. Hughes in Scripture and Myth (Tyndale Press, London 1956) davon gibt, zusammen. Der Leitgedanke Bultmanns geht dahin, daß, wenn man jeden mythischen Bestandteil des biblischen Textes wegnimmt, das Wesentliche des Evangeliums, das Kerygma (die Verkündigung, die zu predigende Wahrheit) bleiben wird. Was mit einem Wunder zusammenhängt, ist gleichbedeutend mit mythisch und daher dem modernen Menschen unzugänglich.
Jesus von Nazareth ist ein gewöhnlicher Mann, dessen Person und Werk nichts Übernatürliches an sich haben. Er ist eine historisch faßbare Gestalt, deren Kreuzigung wirklich stattgefunden hat. Alles andere, Jungfrauengeburt, leeres Grab und Himmelfahrt, sind Legenden, die Auferstehung als nicht geschichtlich abzulehnen. Die Lehre, Jesus Christus, der Sohn Gottes, habe schon vorher gelebt, ist nur mythisch. Diese Dinge werden rasch weggetan, da sie „sehr sicher spätere Ausschmückungen der ersten Überlieferung“ darstellen (Kerygma und Mythus, S. 34‑39). Was den Sühnetod Christi betrifft, so ist „diese mythische Auslegung eine kurze Zusammenfassung von Analogien aus dem Opfer‑ und Gerichtsdienst, die heute nicht mehr haltbar sind“ (S. 35). Daß der Tod die Strafe für die Sünde bedeute, widerspricht (immer nach Bultmann) dem Naturalismus sowohl wie dem Idealismus, weil beide den Tod als einen natürlichen Ablauf betrachten“ (S. 7), dem nichts mehr folgt. Die christliche Jenseitshoffnung ist gegenstandslos. „Unser ganzes heutiges Denken geht von der modernen Wissenschaft aus. Nachdem die Kräfte und Gesetze der Natur entdeckt worden sind, bedeuten die Wunder des Neuen Testamentes nichts Wunderbares mehr … Es ist unmöglich, an die neutestamentliche Welt mit Dämonen und Geistern zu glauben … Die mythische Eschatologie ist unhaltbar; wir haben keine Wiederkunft des Menschensohnes in den Wolken des Himmels zu erwarten. Dank dem Wissen, das der moderne Mensch über sich selber hat, kann man heute sagen, die menschliche Natur sei eine Einheit, die sich selbst genügt und die bewahrt ist vor dem Eingriff übernatürlicher Mächte“‚ (a.a.O., S. 3).
J. E. Hughes schließt mit folgenden Worten: „Bultmann stellt den Grundsatz auf, daß die Kenntnis des ‚modernen Menschen‘ und der ‚modernen Wissenschaft‘ darüber entscheidet, was in unserer Welt möglich ist und was nicht. Er verleiht also dieser Erkenntnis des Menschen die Autorität und spricht sich gegen die Kenntnis und Autorität Gottes aus. Sieht er denn nicht, daß nach der Logik seines Systems er noch den letzten Schritt zu tun und zu erklären hat, Gott sei der letzte abzulegende Mythus?“ (S. 27)
VIII. Gott ist anders ‑ Gott ist tot ‑ der Mensch ist Gott
Dieser Schritt ist tatsächlich gemacht worden. Das Buch „Honest to God“, das der anglikanische Bischof John A. T. Robinson veröffentlichte, wurde sofort ein Welterfolg; es wurde in 9 Sprachen übersetzt und zu Anfang des Jahres 1966 in über 1 Million Exemplaren verkauft. Der Verfasser hält den Mann des 20. Jahrhunderts für erwachsen. Man kann nicht mehr an einen Gott glauben, der „über, unter oder außer“ einem wäre, an den man sich als an den himmlischen Großpapa wendet und der die Welt als himmlischer Diktator beherrscht. Robinson beruft sich dabei auf Dietrich Bonhoeffer und noch mehr auf Paul Tillich, den berühmten Professor, damals am Union Theological Seminary in New York. Nach ihm ist Gott nicht eine Projektion nach außen von uns und unserer geschaffenen Welt, ein Anderer, im Jenseits, von dessen Leben wir uns überzeugen müssen, sondern er ist „der Grund unsres Wesens selbst“ (Gott ist anders, S. 31). Tillich spricht hier „von der Tiefe und dem unbegrenzten, unerschöpflichen Urgrund jedes Daseins“, denn, fügt Robinson hinzu, „das Wort Gott bedeutet die letzte Tiefe unsres Wesens, Grundlage und Sinn unsres Daseins“. Martin Buber, der vielgenannte jüdische Philosoph, sagte: „Wenn ein Mensch, der den Namen Gottes verabscheut und glaubt, Atheist zu sein, sich ganz dem Gespräch mit dem ‚Du‘ seines Wesens hingibt wie mit einem ‚Du‘, das durch niemand eingeschränkt werden kann, dann wendet er sich an Gott“ (S. 62).
Bedeutet ein solches Denken nicht das Ende des Theismus (d. h. Glaube an die persönliche Existenz Gottes und an sein vorsehendes Handeln in der Welt) ? Robinson antwortet darauf: „Tatsächlich ist der Ausdruck ‚ein persönlicher Gott‘ unzutreffend. Ein solcher Ausdruck ist dieser Auffassung fremd. Die Aussage ‚persönlicher Gott‘ bedeutet, daß ‚die Wirklichkeit auf der tiefsten Ebene persönlich ist‘.
Wenn das so ist, wären die theologischen Aussagen nicht die Beschreibung eines höheren Wesens, sondern die Zerlegung der Tiefen der persönlichen Beziehungen … oder eher die Untersuchung der Tiefen jeder Erfahrung, durch die Liebe ausgelegt‘. Folglich hatte der deutsche Philosoph Feuerbach nicht unrecht, als er die Theologie in Anthropologie umwandeln wollte“ (was Bultmann ebenfalls zu unternehmen erklärte, in seiner Antwort an K. Barth, S. 65‑67).
Nach Robinson ist auch die althergebrachte Art, Jesus Christus darzustellen, mythisch. „Ein Gott in menschlicher Gestalt … er galt als Mensch, war aber Gott, in Menschenkleid gehüllt wie St. Niklaus. Ich bin mir bewußt, daß das eine wahrscheinlich sehr beleidigende Verballhornung ist, aber ich glaube, sie ist gefährlich nahe der Wahrheit. Der Glaube, daß wir durch diese Person (Christus, vom Himmel gefallen als Besucher, gleich einem Märchenprinz) mit Gott in Verbindung treten, wird mehr und mehr die Überzeugung einer religiösen Minderheit sein, welche bereit ist, die alten Mythen als wahr anzunehmen“ (S. 88‑93). Nach dieser Auslegungsart hat das Neue Testament nie gesagt: Jesus Christus sei Gott, und es ist nicht erwiesen, daß er sich Gottes Sohn nannte. Die Lehre von der Erlösung ist nicht eine rein mythische Verhandlung zwischen „Gott“ einerseits und „dem Menschen“ andererseits, wie diejenigen meinen, die an Übernatürliches glauben. Vor allem der Begriff, daß der Vater für uns den Sohn strafe, ist eine Abirrung vom Inhalt des Neuen Testamentes. Ebenso verhält es sich mit dem Weihnachts- und Auferstehungsmythus (S. 94‑105).
Gott ist tot. Nachdem Gott im Himmel zum Mythus erklärt wurde, haben einige amerikanische Theologieprofessoren und Laien sich damit bekannt gemacht, daß sie den Gott der Bibel, der Schöpfung und der Geschichte für tot erklärten.
Im letzten Jahrhundert hat F. Nietzsche, bevor er im Wahnsinn versank, den Schrei der Verzweiflung gerufen: Gott ist tot! Heute gibt es Baptisten, Anglikaner und Methodisten, die sich als „christliche Atheisten“ vorstellen. Sie sagen: „Wir müssen den Tod Gottes als geschichtliche Tatsache erkennen: Gott ist in unsrer Zeit, in unsrer Geschichte, in unserem Dasein tot.“ In Look Magazine vom 22. Februar 1966 erklärte ein Bischof der Episkopalkirche ebenfalls, er habe die Trinität, die Jungfrauengeburt und die Fleischwerdung verworfen, wie auch den Gedanken an Gott als ein höheres Wesen, das Gebet, die Wunder, die Gottheit Christi. Aber er ist dennoch Bischof. Billy Graham gibt dazu folgenden Kommentar: „Die Menschen sagen nicht, daß wir vor Gott tot sind, sondern Gott selbst sei tot. Solche maßlosen und lächerlichen Äußerungen sind heutzutage kennzeichnend für die Haltung an vielen christlichen Hochschulen… Ich möchte Sie versichern, daß solche Heißsporne nicht die Überzeugung der Mehrheit unsrer Gemeinden vertreten. Es ist eine kleine Gruppe, die viel Lärm macht und von der man wegen ihrer Einseitigkeit viel hört.“
Der Mensch ist Gott. Die oben gezeichnete Richtung soll weder geleugnet noch lächerlich gemacht werden. Sie ist unterirdisch verbunden mit der weiten Bewegung, die seit dem Sündenfall den Menschen von der Erkenntnis und Anbetung Gottes weg zur Verherrlichung und Verehrung des Geschöpfes führt (Röm 1,18‑25). Das verführerische Versprechen lautet immer gleich: „Ihr werdet Gott gleich sein“ (l. Mose 3,1.5). Nach Buffon ist der Mensch ein religiöses Tier. Er unterscheidet sich vom Tier durch seine Fähigkeit, zu glauben und anzubeten. Wenn er den Schöpfer und sein Wort aufgibt, wird er sich Götzen machen und schließlich sich selber anbeten in der Person des Widerchristen. Der Übermensch Nietzsches und der Mensch, „der im Grund seines Wesens göttlich ist“, sind Vorläufer des höchsten Diktators, der über kurz oder lang sich von der ganzen Welt anbeten lassen wird (2. Thess 2,3‑12; Offb 13,8). Auf politischem Gebiet sind durch die „Vergötterung der Persönlichkeit“ Männern wie Hitler, Stalin, Mao Tse‑tung Verehrung zuteil geworden, die der Anbetung nahezu oder ganz gleichkommt. Auf religiösem Boden herrscht außerhalb des unerschütterlichen Felsens vom Glauben an die eingegebene Schrift eine unheimliche Verwirrung. Es würde nicht wundernehmen, wenn durch eine ungeheure Zusammenballung (Synkretismus) auf der ganzen Erde die Religion des Menschen aufgerichtet wird als das große Babylon, daß die Propheten so klar vorausgesagt haben.
IX. Was bleibt letzten Endes?
Wollte man der Reihe nach alle Kritiken der Kritiker zusammennehmen, blieben von der Schrift nur wenige „echte“ Verse und wenige annehmbare Lehren übrig.
Es gibt ja nichts Neues unter der Sonne. Schon vor hundert Jahren faßte Gaussen die Haltung der Rationalisten in folgende Worte: „Sie sagen, es gebe im Wort Gottes ein Gemisch. Sie scheiden aus; sie verbessern. Und mit der Bibel in der Hand kommen sie daher und verkünden: Es gibt keine Gottheit Christi, keine Auferstehung des Leibes, keinen Heiligen Geist, weder den Teufel noch Dämonen, keine Hölle, keinen Sühnetod Jesu Christi, keine angeborene Verderbtheit des Menschen, keine ewig dauernde Qual, keine Wunder in der Tat, keine Wirklichkeit in Jesus Christus“ (Theopneustie, S. 448).
Sind hier nicht alle heute geäußerten Zweifel enthalten, gleichsam ein gesteigertes Echo der alten Frage des Versuchers in Eden: „Sollte Gott gesagt haben … ?“ (l. Mose 3,1).
X. Folgewidrigkeit
Zum Glück sind viele der kritischen Theologen in ihrer praktischen Haltung nicht logisch. Obwohl sie so manche Seiten der Schrift als mythisch und irrig erklären, hindert sie das nicht, ihr eifrige und tiefe Studien zu widmen. Es scheint in ihrem Geist eine Scheidewand zu bestehen, die neben der Verneinung recht schöne positive Äußerungen nicht ausschließt. Das gehört zur Dialektik und zur existenziellen Spannung unsrer Tage.
Emil Brunner schreibt: „Es wird allgemein angenommen, daß die Berichte 1. Mose 1‑12 mythischen, nicht geschichtlichen Charakters sind; das hindert uns keineswegs, darin das Wort und die Offenbarung Gottes zu vernehmen.“
Dieses Nebeneinander macht den modernen Theologen gar keine Mühe, am wenigsten Karl Barth. Sie berufen sich ständig auf Stellen der Bibel, die nicht „Gottes Worte“ sind und auf die man sich nicht stützen sollte, die K. Barth aber auslegt, wie es ein Anhänger der Verbalinspiration tun würde.
Merkwürdigerweise, durch eine seltsame Umkehrung, machen jene uns den Vorwurf, Rationalisten zu sein. Im letzten Jahrhundert war es gerade umgekehrt. Der Freisinn pries die unfehlbare menschliche Vernunft und spottete über die Glaubenden, die Angst hätten vor dem Denken und der Wissenschaft. Heute gilt die Dialektik und das Irrationale. Wer in seinem Glauben eine richtige Logik und eine ausgeglichene Überlegung nicht preisgeben will, wird des Rationalismus bezichtigt. Liegt da nicht eine Verwechslung vor? Gott hat nie den Verstand, den er uns gegegen hat, ausschalten wollen. Aber dieser Verstand bedarf der Erneuerung und der Unterwerfung unter seinen Geist und unter sein Wort: „Nachdem ihr Sklaven der Sünde gewesen seid, seid ihr nun von Herzen gehorsam geworden dem Bild der Lehre, welchem ihr ergeben seid“ (Röm 6,17). Gott will, daß wir ihn „mit unserm ganzen Denken“ lieben (Mt 22,37).
Wir sollen ihm einen vernünftigen Gottesdienst tun (Röm 12,1). Wir dürfen erfüllt werden mit Weisheit, geistlichem Verständnis (Kol 1,9; 2. Tim 2,7) und gesundem Menschenverstand (2. Thess 2,2; Apg 26,25). So werden wir eine gesunde Vernunft erwerben (Spr 3,4). Wir kennen wohl die Grenzen dieser Vernunft und unterwerfen sie daher der Offenbarung. Die göttliche Weisheit ist vollkommen, sie klärt auf, sie macht verständig, sie führt in alle Wahrheit.
XI. Gehen die bibelgläubigen Christen von unwissenschaftlichen Voraussetzungen aus in ihrer Einstellung zur Bibel?
So lautet ein moderner Einwand gegen uns, indem man uns erklärt: „Ihr dreht euch im Kreis. Zuerst stellt ihr das Dogma der Inspiration und der Unfehlbarkeit der Schrift auf; dann nehmt ihr in der Bibel die Texte vor, welche die Inspiration beweisen. Die Wissenschaft geht ohne vorgefaßte Meinung an die Tatsache heran und leitet daraus ein Gesetz ab, wenn es geht. Auch die Bibel muß man der wissenschaftlichen Prüfung unterziehen und dann die Ergebnisse ehrlich annehmen.“
Dieses Kompliment wäre leicht zurückzugeben. S. van Mierlo tut dies auf eine gute Art, wo er zur Hauptsache ausführt: Tatsächlich nimmt der Wissenschaftler eine kritische Haltung ein, wenn er die Wahrheit über Naturerscheinungen untersucht. Aber der Natur als Ganzes gegenüber befolgt er diese Methode nicht. Da nimmt er a priori an, die Natur sei wahr und eine erfaßbare Einheit. Man kann sogar vom tiefen Glauben der Gelehrten an die Einheit der Schöpfung reden. Wenn der Physiker auf einen scheinbaren Irrtum oder Widerspruch in der Natur stößt, kritisiert er sie nicht. Er forscht, vergleicht, versucht zu begreifen und zur Wahrheit zu gelangen, von der er annimmt, sie existiere. Gegenüber den Erscheinungen, die er nicht glauben oder mit andern zusammenreimen kann, sucht er den Fehler bei sich. Er berichtigt seine (erste) Bewertung, verändert seine Theorie und gibt, wenn es sein muß, sein bisheriges Denken auf. Er ist bescheiden gegenüber der Wahrheit. Die Wahrhaftigkeit und Einheit der Natur bezweifelt er nicht, sondern setzt mit der Kritik an der menschlichen Meinung über sie an.
Ganz gleich verhält es sich mit dem Glaubenden, der sich vor der Autorität, der Einheit und Wahrhaftigkeit der Schrift verneigt. Diese sind ihm nicht durch ein Gebot auferlegt worden. Wenn er sich ihr mit offenem, demütigem Herzen genähert hat, kam es zur großen Erschütterung seines Daseins: Er ist Gott begegnet; seine Augen wurden geöffnet; er empfing das neue Leben. Künftig überzeugt davon, daß er es mit Gottes Buch zu tun hat, wird er seinen Inhalt ernst nehmen und wird seinen kritischen Verstand anwenden auf die Auslegungen, welche die Menschen und er selber ihm geben.
Was das Wort „Wissenschaft“ betrifft, scheint es für die Theologen gewagt, sich in sein Schlepptau zu begeben, wie es beispielsweise Brunner und Bultmann tun. Für den ersten ist es wissenschaftlich unmöglich, den Berichten vom 1. Buch Mose zu glauben, der zweite erklärt, die Technik des 20. Jahrhunderts habe den Glauben an das Übernatürliche endgültig erledigt. Auffällig ist nur, daß die „moderne Wissenschaft“ so schnell immer wieder überholt wird. Die wissenschaftlichen Handbücher sind für die nächste Generation veraltet. Noch vor kurzem versicherte man uns in feierlichstem Ton daß die moderne Wissenschaft den Glauben an eine Endkatastrophe, wie die Bibel sie voraussagt, unmöglich mache. Heute erklärt man ohne weiteres, daß die Atomwissenschaft einen solchen Glauben, der gestern noch als absurd verschrien war, annehmen kann. Darum mußten die Theologen, die sich der Wissenschaft des Tages fest verschrieben, rechtsum kehrtmachen.
Die Suche nach der „wissenschaftlichen Achtbarkeit“. Der theologische Freisinn ist stark oder sogar entscheidend beeinflußt gewesen von der Welle des wissenschaftlichen Rationalismus, die das 19. Jahrhundert erfüllte. Die neueren Theologen, die eine neue Lehre der Offenbarung aufstellten, wollten sich auf der Höhe zeigen und ihre wissenschaftliche Würde dartun, die ihnen die Fühlung mit den gebildeten Kreisen sichert. Aber sie waren wenig auf dem laufenden über die positiven biblischen Forschungen, Andrerseits mußten sie Abstand wahren gegenüber dem biblischen Text und Zuflucht nehmen zu einer Lehre der unmittelbaren Begegnung mit Gott, die erst recht außerhalb des Bereiches und des Interesses der modernen Wissenschaft ist.
XII. Worauf soll die Predigt beruhen?
Wenn die Bibel nicht Gottes Wort ist, begreift man schwerlich, worüber der Verkündiger mit Gewißheit predigen kann. Wir haben gesehen, daß die Apostel bei ihrer Verkündigung des Wortes Gottes den ausgiebigsten Gebrauch von Bibelstellen machten (z. B. Apg 13, 16‑41). Aber was soll der Mann sagen, für den ganze biblische Bücher frommer Betrug und für den die zentralsten geschichtlichen Ereignisse nur Legenden und Ausschmückungen sind? Es wird schwierig sein, den Sinn der Mythen der Gemeinde zu erklären. Und was wird der Pfarrer an jenem Tag sagen, an welchem seine christliche Gemeinde eine Predigt von ihm erwartet über das, woran er nicht mehr glaubt?
Entweder wird er „tun als ob“, um die einfachen Seelen zu schonen, oder er wird in verwickelten Sätzen die religiöse Philosophie entfalten, die in seinem Geist den Platz der biblischen Theologie eingenommen hat. Daß diese Philosophie nicht mehr dem Evangelium entspricht, geht aus der Tatsache hervor, daß dieses den Weisen und Klugen verborgen, den Kindern aber zugänglich ist (Luk 10,21). Darum sind so viele moderne Predigten langweilig und gehen über die Köpfe hinweg. Spurgeon bemerkt, daß Jesus zu Petrus gesagt habe: Weide meine Lämmer!, nicht: Weide meine Giraffen!
Oder der Redner hält den Augenblick für gekommen, um in aller Freiheit seine Hörer „zu befreien“ von dem veralteten, überholten Glauben. Der Erfolg wird sein, daß er einige fromme Seelen vor den Kopf stößt und vielen andern ihren naiven Glauben zerstört. Das schließt nicht aus, daß diese letzteren ihm Dank dafür wissen, wenn man an den unglaublichen Erfolg des Buches „Gott ist anders“ von Bischof Robinson denkt.
XIII. Wie soll man sich die theologischen Strömungen erklären, die einander folgen?
Wir sahen die Schwierigkeiten für einen Prediger, welcher von den Gedanken der Kritik erfüllt ist. Wenn die moderne Belehrung nur wenigstens klar und vor allem beständig wäre. Schlimmer ist es, daß die Kritik immer wieder wechselt und ebensogut das heute verehren kann, was sie gestern verbrannt hat.
Sie hängt, wie wir sahen, vom persönlichen Urteil des einzelnen ab. Da die Bibel nicht mehr oberste Richtschnur ist, muß sie die Autorität des Menschen anerkennen, der durch seine Erfahrung und Erleuchtung dem Wort Gottes begegnet. Selbstverständlich werden die großen Persönlichkeiten als besonders erleuchtet angesehen werden, und ihre Erfahrung und Belehrung wird großes Ansehen erlangen. Aber ihr Unterricht ist fehlbar und unvollkommen, und ihr Lehrgebäude überdauert selten seinen Urheber. Unerquicklich ist es überdies zu sehen, wie sehr die Kritiker einander widersprechen und wie die maßgebenden Führer weit auseinandergehen. Jedes Geschlecht erlebt also eine neue theologische Schule und wird für einen neuen Meister schwärmen. So sind einander gefolgt:
Der Freisinn des letzten Jahrhunderts unter Schleiermacher und Wellhausen (letzterer so veraltet, daß 1948 ein Theologe seinem Zitat hinzufügte: Verzeihen Sie, daß ich diesen alten, verurteilten Drachen anführe!“) A. Bentzen, angeführt in Revelation and the Bible, S. 342.
Die dialektische Theologie, vor allem von K. Barth, E. Brunner und R. Niebuhr. Schien es zuerst, daß diese Bewegung von Dauer sein würde, so weiß heute jedermann, daß sie abgelöst wurde von der
Theologie R. Bultmanns, zusammen mit E. Käsemann, P. Tillich in Deutschland und Amerika, Robinson in England usw.
Da diese letzte Richtung reichlich verneinend ist, fragt man sich beunruhigt, was die nächste Welle bringen wird. Die amerikanische Bewegung, die Gott für tot erklärt, zeigt, daß man sich auf alles gefaßt zu machen hat. Der Titel, den Paul Tillich einem seiner Bücher gab, ist aufschlußreich: „Die Erschütterung der Grundlagen“ (The Shaking of the Foundations).
Fünfter Teil: DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT
Erstes Kapitel
Die übernatürlichen Wesenszüge der Schrift
I. Erhabene Offenbarung Gottes und Jesu Christi
Die Schrift, die sich als das Wort von Gott erklärt, gibt von ihm ein einzigartiges Bild, das jede menschliche Vorstellung von der Gottheit übersteigt. „Der Herr ist groß und hoch zu loben … denn alle Götter der Völker sind Götzen“ (Ps 96,4). Einige wenige Reste einer ursprünglichen Offenbarung ausgenommen, bezeugen die babylonische, ägyptische, griechische, römische, germanische, keltische, hinduistische und chinesische Kultur einen weitreichenden Untergang aller Begriffe von Wahrheit, Heiligkeit und Gewißheit.
Der Gott der Bibel ist allein der wahre Gott, Geist, Schöpfer, höchster Herrscher des Weltalls, herrlich, ewig, heilig, allweise, in seinem tiefsten Wesen unfaßbar, vollkommen gerecht, voller unerschöpflicher Vaterliebe.
Er ist auch der Erlöser, der mit dem gefallenen Geschöpf mit‑leidet, sich in der Offenbarung und Fleischwerdung zu ihm neigt und den großartigen Plan für das Heil der Menschheit ‑ und zu welchem Preis! ‑ verwirklicht.
Die Person Jesu Christi ihrerseits geht über jedes irdische Maß hinaus. „Auf diese Weise wird nicht erfunden.“ Kein menschlicher Geist unter den Gliedern unsres Menschengeschlechtes hätte je eine so reine und strahlende Gestalt ausdenken können. „Nie hat ein Mensch geredet wie dieser“ (Joh 7,46). Niemand hat je so wie er gelebt, gelitten, geliebt. Er, der Auferstandene, kann allein uns mit ihm neues Leben geben.
Jesus Christus, das Fleisch gewordene Wort, ist der allergültigste Beweis für die göttliche Eingebung des Wortes, das zum Buch geworden ist. Er ist auch der einzig wirklich notwendige Beweis. Der Leser, welcher durch den Glauben und die Erleuchtung des Heiligen Geistes auf den Seiten des biblischen Buches in Christus dem lebendigen Gott begegnet, bedarf gar nicht mehr weiterer Beweise. Er bekennt: „Eines weiß ich gewiß. Ich war blind und bin nun sehend geworden“ (Joh 9,25). „Ich hatte dich vom Hörensagen gekannt; aber nun, (da ich dich gelesen habe), haben dich meine Augen gesehen“ (Hiob 42,5).
II. Einzigartige Offenbarung des Menschen
Der Mensch, der seit dem Sündenfall, im jetzigen Zustand, sich selber überlassen ist, weiß nichts über das Wesen seiner Natur und seines Geschickes. Woher kommt er, welches Ziel hat sein Dasein, hat sein Leiden, sein Tod, und wohin geht er nachher? Er vermag es nicht zu sagen. Alle Religionen und Philosophien, die sich durch ihre Gegensätze gegenseitig aufheben, lassen ihn auf der ganzen Linie in der Unsicherheit und im Dunkeln.
Einzig das Wort des Schöpfers, die Bibel, gibt ihm Antwort auf alle diese Fragen. Sie zeigt ihm seinen Ursprung, den denkbar höchsten, da er nach Gottes Bild geschaffen wurde. Sie erklärt ihm durch den Sündenfall den zwiespältigen Stand, in welchem er sich befindet, hin und her gerissen zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Glück und dem Leiden, dem Leben und dem Tod. Vor diesem Spiegel sieht der Mensch zu seinem Erstaunen sein entlarvtes Herz. Er fühlt, daß er erkannt ist, zurechtgewiesen, verurteilt, aber auch gerufen, geliebt, geschätzt, wiederangenommen. Der allwissende Urheber der Bibel hat den Menschen geschaffen und weiß, wie es um sein Geschöpf steht. Die Bibel gibt einen kurzen Abriß des menschlichen Wesens, indem sie dessen tiefe Triebe, seine verborgenen Leidenschaften und seine ungeahnten Möglichkeiten enthüllt (Vgl. 1. Kor. 14,25). Nun weiß er, wohin er geht. Er erfaßt den Sinn der Geschichte wie denjenigen seines eignen Geschickes. Er rüstet sich im Blick auf das kommende Reich und lebt schon jetzt in lebendiger Beziehung zur Ewigkeit.
Wir erkennen mit Paulus, daß dergleichen nie in die Herzen der Menschen gekommen ist: sie bergen den Beweis ihres übernatürlichen Ursprungs in sich selber (l. Kor 2,9‑10).
III. Der für den menschlichen Verstand unfaßbare Heilsplan
Vergleichen wir die verschiedenen Religionen mit der Schrift. Dann stellen wir fest, daß die menschlichen Systeme kein wahres Heil bieten können, denn sie kennen den dreimal heiligen Gott nicht, noch seine unbedingten Forderungen und die Verurteilung jeden Ungehorsams gegenüber seinem Gesetz. Da sie keinen wirklichen Begriff von der Sünde haben, wissen sie auch keine Lösung dafür. Für sie ist der Mensch nicht unrettbar verloren; er kann durch immerwährendes Bemühen sich loskaufen.
Die Bibel hingegen spricht von der Schuld, der Unzulänglichkeit und dem ewigen Verderben des Menschen. Dann zeigt sie, wie der Herr selber aus Liebe unsre ganze Schuld am Kreuz bezahlt hat und uns seine unfaßbare Gnade mit der Gewißheit des ewigen Heils frei anbietet. Welcher menschliche Geist hätte je eine Botschaft erfinden können, die so demütigend ist für den stolzen Sünder und so wunderbar für den bußfertig Glaubenden?
IV. Die Weissagungen als Beweis für die göttliche Inspiration
1. Gott allein ist allwissend und deshalb fähig, die Zukunft vorauszusagen.
Gott ist ewig, für ihn spielt die Zeit keine Rolle; der morgige Tag, ja alle Ewigkeit sind für seine Augen ebenso gegenwärtig wie das Heute. Keine andre Religion auf Erden hat je Weissagungen gebracht, die denjenigen der Bibel vergleichbar wären.
Die Wahrsagekunst und die Magie waren immerhin ganz weit verbreitet in der Antike (gerade wie in der Gegenwart). Überall wimmelte es von Orakeln, Wahrsagerinnen neben den Pythinnen von Delphi und anderswo, von Astrologen, Auguren und Sehern. Die falschen Propheten sind erkennbar daran, daß ihre Weissagungen nicht in Erfüllung gehen (5. Mose 18,20‑22) oder daß ihre doppelzüngigen Aussprüche nach Belieben ausgelegt werden können (Delphi, Nostradamus usw.) . . .
2. Die Weissagung nimmt in der Schrift einen beträchtlichen Raum ein.
Im Alten Testament sind von 39 Büchern 17 prophetischen Gehalts, ganz abgesehen von vielen Voraussagen, zum Beispiel in den Schriften von Mose oder in den Psalmen. Im Neuen Testament sind ganze Kapitel der Evangelien, viele Stellen aus den Briefen und die ganze Offenbarung des Johannes der Weissagung gewidmet. . . .
3. Die großen Linien der Weissagungen
Untersuchen wir der Reihe nach einige Gebiete, in welchen die angekündigte Erfüllung genau nachgeprüft werden kann.
a) Israel
– Aufenthalt der Nachkommen Abrahams in Ägypten während 400 Jahren (l. Mose 15,13‑16).
– Aus dem Stamme Juda sind die königliche Familie und der König der Könige hervorgegangen (49,10).
– Israel wird stets ein besonderes Volk sein (4. Mose 23,9).
– Untreue, Gefangenschaft, Zerstreuung des Volkes (5. Mose 28, 20‑66; 3. Mose 26,14‑39).
– Die 10 Stämme werden 65 Jahre zum voraus über ihre Verbannung durch den assyrischen König unterrichtet (Jes 7,8‑20).
– Juda für 70 Jahre nach Babylon entführt (Jer 25,11; 29,10).
– Nach der Verwerfung des Messias werden Jerusalem und der Tempel zerstört werden (Dan 9,25‑26; Mt 24,1‑2.34).
– Zerstreuung Israels in der ganzen Welt und Leidenszeit (Luk 21, 21‑24; 5. Mose 28,64‑67).
– Das jüdische Volk wird dennoch bestehen bleiben bis ans Ende der Tage, während alle großen Völker der Antike
untergegangen sind (Jer 31,35‑36).
– Israel wird zurückkehren in das öde Land seiner Väter, dem wieder eine neue Blüte beschert ist (Hes 36 und 37).
– Zuletzt wird Israel sich zum verheißenen Messias bekehren (Sach 12,10; Röm 11,25‑29). Dies ist noch nicht in Erfüllung gegangen, wird es aber tun, so gut wie alles andre Vorausgegangene Wirklichkeit wurde.
b) Der Messias
Wir haben die Erfüllung der messianischen Weissagungen allein im Matthäus‑Evangelium erwähnt. Man zählt 333 auf Christus bezogene Weissagungen, die verwirklicht wurden!
Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung gäbe es nur eine Möglichkeit auf 83 Milliarden Fälle, daß so viele Voraussagen sich in einer Person erfüllen würden. Es ist überflüssig, zu sagen, daß ein solcher „Zufall“ nicht vorkommt und daß allein der allwissende Gott in dieser Weise voraussagen und handeln konnte.
c) Die Völker
Es sind außer Israel noch viele andre geschichtliche Ereignisse in den Bereich der Weissagungen getreten:
– die vollständige Zerstörung von Ninive, der stolzen assyrischen Hauptstadt (Zeph 2,13‑15; Nahum);
– der dramatische Untergang von Babylon (les 13; 21,1‑10);
– das Urteil über Ägypten und der Verlust seiner Vormachtstellung (Hes 29, besonders V. 15‑16);
– der Aufstieg und der Niedergang der sich folgenden Kaiserreiche der Babylonier, der Meder und Perser, der Griechen
(mit Alexander und seinen Nachfolgern) und Rom (ungenannt Dan 2,7‑8 usw.);
– die berühmte Weissagung der 70 Wochen bei Daniel 9, die Zeit bestimmend, in welcher der Messias erscheinen werde,
und die Rolle der Völker dabei;
– die Einnahme von Tyrus durch Nebukadnezar nach einer 13jährigen Belagerung und das Schicksal, das Alexander der
Stadt zuletzt bereitete (Hes 26; Jer 27,1‑11).
d) Die Endzeiten
Christus und die Propheten des Alten wie des Neuen Testaments entwerfen bis in Einzelheiten ein Gemälde der Auflösung der Geschichte, das um so erregender ist, als es in den großen Linien dem entspricht, was vor unsern Augen sich zu erfüllen anschickt.
Das Evangelium wird allen Völkern gepredigt werden, und dann wird das Ende kommen (Mt 24,14). Welch kühne Erklärung des einfachen Zimmermannes von Nazareth. Aber die Bibel ist tatsächlich in Tausenden von Sprachen übersetzt und gepredigt und durch gedruckte Schriften, durch Radio, Schallplatten verbreitet, so daß immer mehr Menschen in raschem Zuwachs von der Botschaft erreicht werden.
Umgekehrt wird die Menschheit sich in ihrem Unglauben und in der Ablehnung der sittlichen und geistlichen Werte verhärten. Eine Erklärung hierzu erübrigt sich.
Der Krieg wird immer mörderischer und umfassender werden (Mt 24,6‑7; Offb 6,4.8). „Der Friede wird von der Erde genommen sein“ und ein erschreckend großer Anteil der Menschheit vernichtet.
Die religiösen Verfolgungen werden zunehmen (Mt 24,8‑10). Nach der Vernichtung von Millionen Juden mitten im 20. Jahrhundert, ‑ wer wagte noch, eine solche Weissagung als unerfüllbar hinzustellen? (Vgl. Dan 12,7; Sach 13,8‑9).
Die Menschheit geht einer einheitlichen Weltregierung, der Diktatur des Widerchristen entgegen, welche von den Propheten angekündigt wurde (Dan 7,24; 2. Thess 2,3‑12; Offb 13,1‑8).
Dies wird zusammenfallen mit außerordentlichen Ereignissen in Palästina, wohin die noch ungläubigen Juden zurückgekehrt sein werden (Hes 37; Mt 24,15).
Jesus Christus selber ermahnt uns ernstlich: „Wenn diese Dinge beginnen werden, sehet auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung naht“ (Luk 21,28).
Noch einmal: Bilden diese Voraussagen nicht eine Garbe zusammenlaufender, unwiderlegbarer Beweise der göttlichen Inspiration der Schrift?
(Wer dem großen Gedanken der biblischen Weissagung nachgehen will, findet ihn genauer entwickelt in unserem Buch Die Wiederkunft Jesu Christi, R. Brockhaus, Wuppertal 1967).
V. Die Lebenskraft, die von der Bibel ausgeht
1. Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam
Das Wort des Herrn hat in einem einzigen Akt die Welt geschaffen (Hebr 11,3). Das schriftliche Wort strömt eine übernatürliche Kraft aus. „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt? … Ich will meine Worte in deinem Munde zu Feuer machen und dieses Volk zu Brennholz, daß es verzehrt werde“ (Jer 23,39; 5,14).
Der Verfasser des Hebräerbriefes, nachdem er von der Botschaft an das Volk in der Wüste, welche vom Heiligen Geist in den Psalmen bestätigt war, gesprochen hat, folgert daraus: „Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als ein zweischneidiges Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, Mark und Bein, und richtet Gedanken und Sinne des Herzens. Es ist alles bloß und aufgedeckt vor Gottes Angesicht, dem wir Rechenschaft geben müssen (3,7; 4,12‑13).
2. Die Schrift überzeugt von der Sünde und weckt das Gewissen
Indem sie das Gesetz und den Willen Gottes verkündet, straft sie unsern Ungehorsam und spricht das verdiente Urteil aus. Sie zeigt uns wie in einem Spiegel unser natürliches Gesicht, das zwar wohl die andern sehen, nicht aber wir selber (Jak 1,23). Sind wir aufrichtig, so sind wir ob solcher Entdeckung tief bestürzt. Der Heilige Geist unterstreicht den Ernst der biblischen Gerichtsurteile. Das Wort des Herrn wird uns am Jüngsten Tag richten (Joh 12,48).
Es ist ein leichtes, darzulegen, daß jede Erweckung in Israel durch die Wiederentdeckung der Schrift hervorgerufen wurde, welche unmittelbar in den Herzen die Überzeugung der Sünde schuf.
Man brachte eines Tages Josia das Gesetzbuch, das im Tempel vergessen worden war. „Als der König die Worte des Gesetzes hörte, zerriß er seine Kleider. Und der König gebot: . . . Gehet hin, befragt den Herrn über die Worte des Buches, das gefunden ist; denn groß ist der Grimm des Herrn, weil unsre Väter nicht gehalten haben das Wort des Herrn, was geschrieben steht in diesem Buch“ (2. Chr 34,14‑21).
Zur Zeit von Jeremia verlangen alle Führer des Volkes von Baruch, er möge die Botschaft des Propheten verlesen. „Und als sie alle die Worte Gottes hörten, so entsetzten sie sich untereinander und sagten zu Baruch: Wir müssen alle diese Worte dem König mitteilen.“ Aber der König, von den Worten nicht überzeugt, schnitt die Schriftrolle Stück um Stück mit einem Schreibmesser ab und warf sie ins Feuer. Deshalb verhängt der Herr eine furchtbare Strafe über ihn, sein Haus und sein Volk (Jer 36,11.16.23‑24.29‑31).
Esra und Nehemia weihen sich nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft in feierlicher Weise aufs neue Gott. Das geschieht durch eine öffentliche Vorlesung der Heiligen Schrift. Angesichts der großen Wirkung auf das Volk, sagen die Führer: „Seid nicht traurig und weinet nicht.“ Denn alles Volk weinte, als es die Worte des Gesetzes hörte. Dann wurde ein Fasten ausgerufen. „Man las vor aus dem Buch des Gesetzes des Herrn, ihres Gottes, und drei Stunden bekannten sie und beteten zum Herrn ihrem Gott“ (Neh 8,1‑9; 9,3).
Wer unter uns Kindern Gottes hat nicht durch das heilige Buch seinen Zustand des Verlorenseins vor dem höchsten Richter erkannt und mit den Worten der Samariterin vor Jesus bekannt: „Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe“ (Joh 4,39) ? Und sind nicht in der Geschichte der Gemeinde, wie damals in Israel, ohne Ausnahme alle geistlichen Erweckungen durch eine Rückkehr zur Bibel entstanden? Erwähnen wir nur als Beispiele die Waldenser von Lyon und Piemont, Wycliffe und die Lolarden in England, Johannes Hus und die Böhmischen Brüder, die großen Reformatoren Luther, Calvin, Zwingli, Knox, die Pietisten und die Herrnhuter Brüdergemeine, im 18. Jahrhundert, Haldane und die Genfer Erweckung im 19. Jahrhundert, usw.
3. Durch das Wort des Lebens wird der Sünder wiedergeboren.
Die menschlichen Bücher, auch die frömmsten, haben nicht Leben in sich selber. Sie können bestenfalls ein Echo der himmlischen Botschaft sein. Die Schrift, als lebendiges Wort Gottes, wirkt wie ein unverwüstlicher Same, um zu erneuern und geistlich aufzuwecken (l. Petr 1,23‑25). Gepredigt oder geschrieben, erweist sich ihre Botschaft immer wieder als das Wort des Lebens, das die Welt erleuchtet (Phil 2,15). Sie verwandelt diejenigen, die glauben (l. Thess 2,13), denn sie ist Geist und Leben. Ohne den Geist bleibt das Gesetz der Buchstabe, der verurteilt und tötet; aber der Geist, der das Wort belebt, bringt das ewige Leben (Joh 6,63; 2. Kor 3,3‑6).
„Das Evangelium ist eine Kraft Gottes zum Heil für jeden, der glaubt“ (Röm 1,16). „Der Glaube kommt vom Hören, und das Hören vom Wort Christi“ (10,17). Jesus selber verkündet: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist vom Tode zum Leben durchgedrungen“ (Joh 5,24). Dies sind nicht leere Worte. Man könnte Abertausende von Beispielen anführen von Menschen, deren Leben buchstäblich umgestaltet wurde durch den Einfluß der Schrift. Drei berühmte Beispiele mögen genügen:
Augustin führte einunddreißig Jahre lang ein Leben stürmischer Unruhe, erfüllt von Anstrengungen nach dem Guten, aber auch von Rückfällen und Not. Als er einst elend im Garten saß und seufzte, hörte er die Stimme eines Kindes, welches die Worte sang: „Nimm und lies! nimm und lies!“ Er nahm die Rolle der paulinischen Briefe, und sein Blick fiel auf Römer 13,14. Damit war durch ein einziges Wort die Entscheidung gefallen; Jesus hatte gesiegt. Augustin brauchte gar nicht mehr weiter zu lesen; er schloß das Buch. „Mit dem Schluß dieses Satzes hatte sich ein Strom des Lichtes und der Geborgenheit in meine Seele ergossen, und die ganze Finsternis meiner Zweifel war verschwunden“.
Luther rutscht alle Stufen der berühmten Heiligen Treppe in Rom kniend hinauf, gequält von der Last seiner Sünden und abgestumpft von den vergeblichen Kasteiungen. Aber ein einziges Wort der Schrift bringt ihm den Frieden. Das Wort „Der Gerechte wird durch den Glauben leben“ (Röm 1,17) ergreift ihn mit unwiderstehlicher Gewalt. Mit diesem Wort hebt die Reformation an, die den Menschen die Bibel, den Erlöser, die Freiheit der Kinder Gottes und die Gewißheit des ewigen Lebens zurückgibt.
Wesley hatte in Oxford Theologie studiert und suchte mit solch strenger Methode ein Leben der Frömmigkeit zu führen, daß ihm dies den Spottnamen „Methodist“ eintrug. Dann hatte er sich in Amerika der Mission widmen wollen, ohne jedoch zur Heilsgewißheit zu gelangen. Aber am 24. Mai 1738 sprach Gott zweimal zu ihm durch Bibelworte (2. Petr 1,4 und Ps 130). Er erzählt: „An jenem Abend begab ich mich widerwillig in eine kleine Versammlung an der Aldergate Street, wo ich die Einführung Luthers zum Römerbrief vorlesen hörte. Gegen achtdreiviertel Uhr, beim Anhören der Beschreibung von der Veränderung, die Gott durch den Glauben an Christus bewirkt, stieg eine seltsame Welle von Wärme in mein Herz. Ich spürte, daß ich mich Christus übergab, ihm allein mein Heil anvertrauend; und ich empfing die Gewißheit, daß er mich von meinen Sünden befreite von der Knechtschaft der Schuld und des Todes.
Eben gerade weil dank der Bibel auch unser Leben verwandelt wurde, bezeugen wir die Wirkung ihrer neugestaltenden Kraft. Deshalb können uns alle Gegenargumente nicht abhalten von unsrer Antwort „Ich weiß, an wen ich glaube“ (2. Tim 1,12) und „Ich glaube, darum rede ich“ (2. Kor 4,13).
4. Die Schrift heiligt den Glaubenden
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus Gottes Mund hervorgeht“ (Mt 4,4). Das Wort gibt dem Kind Gottes nicht nur das Leben, sondern es nährt es und fördert sein Wachstum. „Seid begierig nach der vernünftigen, lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, auf daß ihr durch dieselbe zunehmt zu euerm Heil, wenn ihr geschmeckt habt, daß der Herr freundlich ist“ (l. Petr 2,2‑3). Der Psalmist sehnt sich nach dem Gesetz mit folgenden Worten: „Meine Seele verzehrt sich vor Verlangen nach deinen Ordnungen allezeit … Ich habe Freude an deinem Gesetz. …“ (Ps 119, 20.70.103.131).
Das tägliche Verlangen des Neubekehrten nach der Heiligen Schrift ist eine unleugbare Tatsache. Jedesmal, wenn er sich in Gottes Wort versenkt, stärkt, tröstet, ermahnt es ihn. Der übernatürliche Gehalt des Wortes ist damit einmal mehr erwiesen.
Das war ja auch das Gebet des Herrn. Jesus betet: „Heilige sie in deiner Wahrheit, denn dein Wort ist die Wahrheit“ (Ich 17,17).
Das Leben echter Christen in seiner Reinheit und Ausstrahlung in unsrer verdorbenen Welt ist ebenfalls einer der stärksten Beweise von der göttlichen Herkunft der Schrift. Nur das schöpferische Wort kann aus einem selbstsüchtigen Menschen eine siegreiche Persönlichkeit voll überströmender Liebe machen. Solche Zeugen sind tatsächlich „offene Briefe Christi“, lebendiges Gottes‑Wort, von jedermann gelesen (2. Kor 3,2‑3).
Durch die Gnade Gottes hat es der Welt an solchen Zeugen Christi nie gefehlt, die ihre Zeit neu belebten, die Welt erneuerten und die Gemeinde weckten. Durch die schon genannten Reformatoren kam über Europa eine Welle neuen Geistes nach dem Winterschlaf des Mittelalters. Blaise Pascal hat, seiner körperlichen Leiden ungeachtet, die tiefsten Wahrheiten des Evangeliums in unerreichter Klarheit auszudrücken verstanden. Wesley und Whitefield haben England, das moralisch, sozial und geistlich am Rand des Unterganges war, buchstäblich gerettet. Elizabeth Fry und Mathilde Wrede unter den Gefangenen, Josephine Butler unter den gefallenen Frauen, Félix Neff in den Alpentälern, William und Catherine Booth in den Elendsquartieren, Hudson Taylor im Herzen Chinas haben bezeugt, daß die Botschaft des Evangeliums heute noch allenthalben Wunder wirkt.
5. Das Wort Gottes überwindet den Gegner
Es ist das Schwert des Geistes, die ausgezeichnete Angriffswaffe (Eph 6,17). Adolphe Monod veranschaulicht folgendermaßen den Gebrauch, den Christus davon machte, um über Satan zu siegen: „Jesus hat ganz einfach die Schrift angeführt, ohne Einführung oder Ausführung, und sie dem großen Feind entgegengehalten an jenem geheimnisvollen, schrecklichen Tag, von dessen Ausgang das ganze Erlösungswerk abhing.
Es steht geschrieben! ‑ und der Versucher hält inne.
Es steht geschrieben! ‑ und er weicht zurück.
Es steht geschrieben! ‑ und er wendet sich weg.
Es steht geschrieben, und durch wen? Durch Mose, den Knecht, dem sein Wort zu Hilfe kam in der Stunde des Kampfes und der Not!“. Wie ist dies möglich, außer durch die göttliche Eingebung dieses Wortes?
Daß der Feind die Macht der Schrift fürchtet, das beweisen seine unaufhörlichen Angriffe gegen sie. Er verabscheut das Buch, in welchem der Retter angekündigt und er selbst entlarvt wird. Er haßt die Bibel, die von seiner Niederlage und ewigen Strafe spricht, vom ersten bis zum letzten Buch (l. Mose 3,15; Offb 20,10). Darum hat er gleich zu Beginn die listige Frage aufgeworfen: „Sollte Gott wirklich gesagt haben?“ (l. Mose 3,1). Zu allen Zeiten fand Satan Zweifler, die sich zu befreien suchten, indem sie ihm folgten. Aber eines der bedenklichsten Kennzeichen unsres Zeitalters des Abfalls ist der zielbewußte Angriff des Feindes, den er seit zweihundert Jahren gegen die Schrift und ihre Vollmacht führt. Ein Drittel der Menschheit lebt unter einer atheistischen Regierung. In den westlichen Ländern wird unser Zeitalter als „nach‑christlich“ bezeichnet. Noch mehr zu denken gibt die Tatsache, daß ein großer Teil der heutigen „Christenheit“ den Gedanken, die Bibel sei das Wort Gottes, verwirft.
6. Die Schrift trotzt allen Angriffen.
Die Hugenotten stellten die Bibel und den christlichen Glauben als Amboß dar, der von drei kräftigen Schmieden umstanden ist und wozu die Worte gehören:
Je mehr man mich schlägt und faucht,
desto mehr Hämmer man braucht.
Sieht es nicht aus wie eine göttliche Ironie, daß das 19. Jahrhundert, die Blütezeit der Kritik in Theologie, Literatur und Politik, die größte Ausbreitung der Bibel gezeitigt hat? Allein die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft hat innerhalb von 150 Jahren (von 1804 bis 1954) mehr als 600 Millionen Bibeln und Bibelteile gedruckt. Rechnet man die Produktion der andern Gesellschaften im gleichen Zeitraum dazu, so gelangt man zu einer Zahl von 1300 Millionen Exemplaren. Und doch hat man während vieler Jahrhunderte alles versucht, um die Schrift zu vernichten, zu verbieten und lächerlich zu machen.
„Dies ist um so bemerkenswerter, wenn man bedenkt, durch wen diese Bücher aufbewahrt wurden. Die Juden waren die gewissenhaften Hüter des Buches des Königtums. Rom bewahrte das Buch der Gemeinde. Die Juden, welche den Messias verwarfen, bewahren gerade jene Bücher, die ihren Unglauben feststellen und die Welt von der göttlichen Sendung Christi überzeugen (Pascal, Pensées, S. 284‑286). Wo sonst fände man ein Volk, das eifersüchtig eine Urkunde hütete, in welcher es so oft als verstockt, undankbar, verdorben erklärt wird? In welcher seine Siege und seine Überlegenheit nicht etwa seinem Wert sondern einzig der göttlichen Gnade zugeschrieben werden? Andrerseits bedenke man, daß Rom das Buch der Evangelisten und Apostel bewahrte, daß diese Kirche über der Erhaltung dieser Bücher wachte, in welcher folgendes erklärt wird. Christus hat durch ein einziges Opfer diejenigen vollkommen gemacht, die geheiligt sind. Das Heil ist aus Gnaden durch den Glauben geschenkt; es kommt nicht von uns, sondern ist Gottes Gabe; alle Glaubenden sind Priester und Könige vor dem Herrn; es gibt keinen andern Mittler zwischen Gott und den Menschen als den Menschen Jesus Christus. Diejenigen, welche die Ehe und gewisse Speisen verbieten, sind falsche Lehrer. Maria spielt gar keine Rolle in der Gemeinde nach Apg 1,14. Petrus wird von Paulus streng getadelt. Die Christen werden gelobt dafür, daß sie die Verkündigung der Apostel an Hand der Schrift nachprüfen (Hebr 7,24‑25; 10,14; Eph 2,8‑9; Offb 1,6; 1. Tim 2,5; 4,1‑5 Gal 2,11; Apg 17,11) . „
Die Juden geben dem Christus ein unfreiwilliges Zeugnis und Rom behütet und vermittelt sorgfältig seine eigne Verurteilung. Dasselbe läßt sich auch von den Protestanten sagen, die einst das Volk der Bibel waren, ohne immer an ihren Inhalt zu glauben.
7. Schlußfolgerung
Es ist kaum in wenige Worte zu fassen, welche Dienste die Bibel der Menschheit geleistet hat, da ihre lebenerneuernde Kraft immer wieder sichtbar wurde. A. Vinet hat gesagt: „Das Evangelium ist die unsterbliche Saat der Freiheit in der Welt.“ Man könnte statt „Evangelium“ „die Bibel“ setzen, denn das Evangelium ist ja nur dort zu finden. Von ihr inspiriert, haben die Christen am Ende des Altertums sich von seiner grausamen und sittenlosen Kultur befreit und sich aufgemacht zu neuen Taten auf folgenden Gebieten:
Abschaffung der Sklaverei
Selbständigkeit der Frau
Anteilnahme am Leiden und Elend der Menschheit
Fürsorge für die Kranken, Gebrechlichen, die Greise,
Schaffung von Spitälern, Heimen aller Art, Waisenhäusern
Aufschwung der Wissenschaften durch Zerstörung der Schranken des Aberglaubens,
Kampf gegen Prostitution, Alkoholismus, das Laster
Schulung für alle Kinder, auch die am meisten Benachteiligten
die Jugendbewegungen und ihre Lager
Kampf gegen Armut und soziale Ungerechtigkeit,
Werk des Roten Kreuzes, Gefangenenfürsorge, Hilfe für Kriegsopfer, usw.
Diese Unternehmungen der bibelgläubigen Jünger wurden dann vom Staat übernommen, als man den religiösen Einfluß ausschalten wollte oder als dieser seine Salzkraft verloren hatte. Aber über die Wurzel aller dieser Werke kann kein Zweifel herrschen. Mancher Unterschied zwischen den christlichen und den nichtchristlichen Ländern springt in die Augen in bezug auf Lebenshaltung und Sittlichkeit. Und auch unter den ersteren ist ein Unterschied sofort auffällig, zum Vorteil der Länder der Bibel, d. h. der protestantischen Länder. Man vergleiche den Norden Europas mit dem Süden, Nord‑Irland mit Süd‑Irland, das englische und das französische Kanada, das angelsächsische und das lateinische Amerika (Vgl. hierzu F. Hoffet, L’Impérialisme Protestant, Flammarion, Paris 1948).
VIII. Die Überlegenheit der Bibel gegenüber allen andern religiösen jüdischen, christlichen oder heidnischen Büchern
Ein andrer übernatürlicher Wesenszug der Schrift tritt an den Tag, wenn man sie mit irgendeinem andern Buch vergleicht. Offenbar ist ihr Urheber viel größer als der menschliche Geist, wie auch ihre Botschaft unendlich und ewig ist.
Beim Vergleich des biblischen Textes mit den Quellen der Geschichte der Assyrer und Babylonier stellt M. de Niebuhr fest: „Das Alte Testament ist frei von jeder patriotischen Lüge; nie verschleiert es das Elend des Volkes, dessen Geschichte es schreibt. Darin ist es einzigartig unter allen Geschichtsbüchern, in einer Treue, die ihresgleichen nicht hat; das muß auch derjenige anerkennen, der an die göttliche Inspiration nicht glaubt. Und auch seine peinlichste Genauigkeit muß anerkannt werden“.
Welch ein Gegensatz herrscht ebenfalls zwischen den vier Evangelien einerseits und den apokryphen Schriften über das Leben Jesu andrerseits! Wie kindisch sind die Wundertaten, welche die Uberlieferung demjenigen zuschreibt, der in allen seinen Handlungen den Vater verherrlichte und offenbarte. Wenn Johannes genau festlegt, daß Jesus in Kana das erste Wunder vollbrachte, so sind damit alle diejenigen, die man seiner Kindheit andichtet, ausgeschlossen (Joh 2,11).
Auch die Werke der Kirchenväter, wie schön und wohltuend sie auch sein mögen, haben ihren Wert darin, daß sie die erhabene Ursprünglichkeit der eingegebenen apostolischen Briefe erst recht zur Geltung bringen, ihre wunderbare Dichte, ihre Klarheit, ihren umfassenden Gehalt, mit einem Wort ihr göttliches Gepräge.
Auch sieht man mit Befremden, wie schnell die Kirchenväter sich von der Schrift und der Schlichtheit der Evangelien entfernten. Schon nach zwei oder drei Jahrhunderten nach den Aposteln haben sie die Abweichungen eingeleitet, welche die Kirche der folgenden Jahrhunderte entstellen sollte. Was soll man denken von ihrer Kurzsichtigkeit und ihren offensichtlichen Irrtümern auf dem Gebiet der Naturgesetze?
Der Koran behauptet, daß der Engel Gabriel ihn Mohamed Stück für Stück vom Hinunel gebracht habe. Mit seinen moralischen Sprüchen und sozialen Anordnungen trägt er überall das Wesen des menschlichen, fehlbaren, erdgebundenen Geistes. Die Berge sind geschaffen worden, um die Bewegungen der Erde zu hindern und sie festzuhalten wie mit Ankern und Tauen. Maria, Schwester von Mose, ist verwechselt mit der Mutter von Jesus (Sure 19,29). Gabriel bringt mehrfach besondere Offenbarungen des Himmels, um Mohamed zu rechtfertigen, wenn er die Frau seines Pflegesohns heiratet, wenn er allen Gattinnen seines Harems willfährt oder sich Kebsweiber aus seinen Verwandten oder ihm gefallende Gefangene zuspricht (Sure 33,49‑52 usw.). Der gleiche Koran stellt den Grundsatz des heiligen Krieges auf und verspricht den Getreuen ein recht fleischliches Paradies.
Aber der Hauptunterschied zwischen Bibel und Koran liegt in dem, was dieser nicht enthält, nämlich die Liebe Gottes, der in seiner Fleisch gewordenen Gestalt mit seinem Geschöpf leidet; seine Heiligkeit, welche die Züchtigung der Sünde erheischt, die Sühnung unsrer Schuld am Kreuz, die volle Gewißheit der Vergebung, die Wiedergeburt des neuen Menschen, der geistliche Gehalt und die Wahrheit der ganzen mitgeteilten Botschaft ‑ dies alles fehlt im Koran und überzeugt uns um so mehr vom göttlichen Wesen der Bibel.
Auch die heiligen Bücher der Hindu können nicht den Vergleich mit der Bibel aushalten mit ihren 330 Millionen Göttern, deren Größter, Shiva, durch das Fortpflanzungsorgan sinnbildlich dargestellt ist; Hunderttausende von sogenannten Seelenwanderungen in Gestalt von Tier oder Mensch lösen sich ab, bis ein farbloses Nirwana den Menschen von jedem Wunsch befreit. Auch hier fehlt völlig eine Lösung des Problems der Sünde und der Not, des Zuganges zu einem reinen und befreiten Leben, unbedingte Gerechtigkeit und ein Zustand ewigen und tätigen Glückes in Gottes Gegenwart.
Nach der hinduistischen Weltentstehungslehre ist der Mond 50 000 Meilen höher als die Sonne. Er hat sein eignes Licht und gibt unserm Leib das Leben. Die Nacht entsteht durch das Verschwinden der Sonne hinter dem Berg Someyra, der in der Mitte der Erde und Tausende von Metern hoch ist. Unsre Erde ist flach und dreieckig, aus sieben Stockwerken bestehend, von denen jedes seinen Grad von Schönheit, seine Einwohner und sein Meer hat. Das erste ist aus Honig, das zweite aus Zucker, das dritte aus Butter, wieder ein andres aus Wein. Die ganze Masse wird von den Köpfen ungezählter Elefanten getragen, die, wenn sie sich schütteln, unsre Erdbeben verursachen (Vgl. Gaussen, S. 161).
Für Plato ist die Welt ein verständiges Tier. Die Schriften der griechischen und römischen Denker, Aristoteles, Seneca, Plinius, Plutarch, Cicero, in mancher Hinsicht so hervorragend, enthalten eine Fülle von Äußerungen, von denen eine einzige genügen würde, unsre Lehre der Inspiration bloßzustellen, wäre sie in irgendeinem Buch der Bibel enthalten (s. o. S.171).
Wir könnten unsern Vergleich noch lange weiter führen. Wenden wir unsre Aufmerksamkeit lieber der göttlichen Knappheit der eingegebenen Texte zu.
Die Juden haben der Schrift die zwei Talmude angefügt, ihnen den nämlichen göttlichen Charakter verleihend, von denen der eine (derjenige von Jerusalem) einen Folio‑Band und der andre (der von Babylon) zwölf Folio‑Bände bilden; der letztere ist der meistbefolgte und muß von allen Gelehrten erforscht werden.
Die römisch‑katholische Kirche hat auf dem Konzil von Trient erklärt, daß sie mit der gleichen Zuneigung und Verehrung wie der Bibel auch ihren Überlieferungen in bezug auf den Glauben und die Sitten begegne, das heißt das unabsehbare Verzeichnis der Synodal-Erlasse, der Verordnungen, der Bullen, der Kanonschriften und der Schriften der Heiligen Väter (Concile de Trente, décrets et avril 1546 ‑ Bellarmin, de Verbo Dei, IV).
Demgegenüber betrachte man, erklärt Gaussen, was der Heilige Geist in der Bibel gewirkt hat, und man bewundere die himmlische Klugheit seiner unnachahmlichen Kürze.
Der Bericht über die Schöpfung ist in 31 Versen zusammengefaßt.
Die Bewährungsprobe, der Sündenfall und die Verurteilung unsres Geschlechts sind in 24 Versen berichtet, während so
manche Kapitel die Stiftshütte und den Opferdienst beschreiben, in welchen schon ein Vor‑Bild Jesu und seines
Erlösungswerkes zu schauen ist.
Zwei Kapitel genügen, um die Menschheit vom Sündenfall zur Sintflut zu führen, während der größte Teil des 1. Buches
Mose den Lebensläufen der Erzväter gewidmet ist, da sie das Volk gründen, das den Messias hervorbringen wird.
Die zehn Gebote und ihre erhabene Zusammenfassung (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18) enthalten hinsichtlich der Pflichten
gegenüber Gott, den Eltern, der Familie, den Arbeitern, den Fremden ‑ über den Besitz‘ das Leben, die Erholung, die Ehre
und die Wahrheit weit mehr, als alle Werke der Antike zusammengenommen.
Jedes Evangelium erzählt das Leben Jesu in 16 bis 28 knappen Kapiteln oder 800 Zeilen seine Geburt, seine Jugend, seine Lehre, seine Wundertaten, sein Vorbild, sein Leiden, seinen Tod, seine Auferstehung und seine Himmelfahrt. Das geschieht mit einer Unparteilichkeit, einer Achtung vor Gott und den Menschen, einer Zurückhaltung, einer Wahrhaftigkeit, daß wir abermals fragen: Ist der Mensch imstande, so zu berichten? Die Evangelisten waren leidenschaftliche Männer, voll brennender Liebe zu ihrem Meister. Wieso vermochten sie dann mit solch ruhig maßvoller Überlegenheit, Nüchternheit und scheinbarem Unbeteiligtsein die verabscheuungswürdige Ermordung des von ihnen verehrten Herrn zu schildern? Wie konnten sie mit solcher Unverblümtheit ihre eigne Feigheit und ihren fleischlichen Sinn darstellen, ohne den leisesten Versuch, sich reinzuwaschen, und ohne irgendeine Erklärung?
In der Apostelgeschichte entwirft Lukas auf dreißig Seiten das Bild der dreißig schönsten Jahre in der Geschichte des Christentums. Welch wunderbare Kürze! War es nicht das Werk des Geistes Gottes, diese gedrängte Bestimmtheit, diese Wahl der Einzelheiten, diese ehrwürdige, mannigfaltige, knappe und doch bedeutsame Sprache, die mit wenig Worten viel aussagt?
IX. Folgerungen
Für den, der sieht, sind die Sonne, das Licht, seine Strahlen, seine Wärme keine Fragen. Der Blinde kann, wenn er will, an allem zweifeln, da er der unmittelbaren Wahrnehmung durchs Auge entbehrt.
Für den Glaubenden ist das übernatürliche Gepräge der Schrift mehr als offensichtlich. Er weiß, daß er durch sie zum Licht durchgedrungen ist. „Ich war blind, und nun sehe ich!“ Er ist darin Gott begegnet; in ihr hat er durch Christus die Vergebung, das neue Leben, die Gewißheit des ewigen Heils erlangt. Die Weissagungen haben ihn von der Allweisheit des Urhebers des Buches überzeugt. Im Spiegel des Wortes hat er sein eignes Herz erkannt, wie es gezeichnet ist von dem, der es besser kennt als er selber. Jeden Tag vertieft er seine Erfahrung von der Macht, der ewigen Frische, der umfassenden Geltung und der Überlegenheit der Schrift über alles nur Menschliche.
Wir jubeln mit dem Psalmisten: „Ich freue mich über dein Wort wie einer, der große Beute macht. Ich habe deine Befehle gewählt“ (Ps 119).
Leider macht diese ganze Beweisführung, die uns unwiderlegbar scheint, auf einen Ungläubigen nicht den geringsten Eindruck, so wenig als es das so klare Zeugnis der Schöpfung tut. „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und das Firmament verkündigt das Werk seiner Hände … (Ps 19). „Gottes unsichtbares Wesen, seine ewige Kraft und Gottheit ist seit der Erschaffung der Welt, wenn man es in den Werken betrachtet, klar und deutlich zu erkennen“ (Röm 1,20). Und dennoch verherrlicht die große Mehrheit der Menschen nicht diesen lebendigen und wahren Gott.
Viele Menschen, auch wenn sie religiös sind, lehnen das Zeugnis dieses andern Buches Gottes, welches die Bibel ist, ab. Das gilt von den vielen, die noch nicht wiedergeboren sind, denn „der natürliche Mensch begreift nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm Torheit … denn es muß geistlich verstanden sein“ (l. Kor 2,14). Der Fall Nikodemus zeigt uns, daß die Wiedergeburt selbst einem religiösen Führer und „Obersten unter den Juden“ fehlen kann (Joh 3,3‑10).
Das Weltall ist das große Buch Gottes für die, welche glauben wollen. Die Bibel ist ebenfalls sein Buch, für diejenigen, welche durch den Glauben sein Zeugnis des Lebens annehmen. Die oben erwähnten übernatürlichen Wesenszüge der Schrift wollen nicht eine verstandesmäßige Beweisführung sein, die den Lesern den Glaubensschritt ersparen soll. Im Gegenteil, wir wiederholen abschließend die Worte von Paulus: „Mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, auf daß euer Glaube nicht auf Menschenweisheit bestehe, sondern auf Gottes Kraft“ (l. Kor 2,4‑5).
Zweites Kapitel: Die Autorität der Schrift
I. Gott, die Quelle aller Autorität
Das ganze Weltall ist seinem höchsten Herrn, dem Schöpfer, unterworfen. Er ist die letzte Wirklichkeit, die einzige Quelle des Lebens, der Wahrheit und der Einheit. Er ist der vollkommene Gesetzgeber, dessen geistliche, sittliche und physische Gesetze die Welt lenken. „Der Herr ist König, immer und ewiglich“ (Ps 10,16). „Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit … der Selige und allein Gewaltige, der König aller Könige und Herr aller Herren (l. Tim 1,17; 6,15).
Wie alle andern Geschöpfe, hängt der Mensch von dieser Macht ab. Er fiel in Sünde, indem er „die Autorität mißachtete“; er wollte sich befreien, um zu sein wie Gott (l. Mose 3,5; 2. Petr 2,10). Sein Heil besteht darin, sich dem König, den er beleidigt hat, völlig zu unterwerfen, sich dem Reich einzugliedern, in welchem der Herr allein befiehlt, handelt und errettet.
II. Die Autorität Jesu Christi
Christus, Fleisch gewordener Gott, entfaltet auf dieser Welt die ganze Macht seines Vaters. Von seinem ersten Auftreten an lehrt er mit Vollmacht, nicht wie die Schriftgelehrten (Mk 1,22). Er sagt nicht wie die Propheten: „Das Wort des Herrn geschah zu mir
„Also spricht der Herr sondern: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch … Zu den Alten wurde gesagt, ich aber sage euch“. Er gebietet mit Vollmacht und Kraft den unreinen Geistern (Luk 4,36). Er hat auf Erden die Macht (oder Autorität: exousia), die Sünden zu vergeben (5,24).
Er handelt in derselben Vollmacht gegenüber der Krankheit (6,19), dem Tode (8,53‑55) und der Natur (Mt 8,23‑26).
Gott gab ihm Macht über alles Fleisch, damit er das ewige Leben gewähre (Joh 17,2).
Alles Gericht ist dem Sohn übergeben worden (5,22).
Tatsächlich sind ihm alle Dinge von seinem Vater gegeben worden (Mt 11,27). Deshalb kann er erklären: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (28,18).
Paulus ruft voller Freude aus: „Ihr habt diese Fülle in ihm, welcher das Haupt aller Reiche und Gewalten ist“ (Kol 2,10).
Und Johannes verkündigt: „Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unsres Gottes geworden und die Macht seines Christus“ (Offb 12,10).
Diese unbedingte und offensichtliche Macht wird nicht als Zwang auferlegt. Jesus tritt als gewöhnlicher Mann auf, „ohne Schönheit und Hoheit, um die Blicke auf sich zu lenken“, ohne sichtbare Königskrone auf dem Haupt, ohne priesterliches Diplom und ohne Ordination (Joh 7,15), ohne Reichtümer und besondern sozialen Rang. Darum ist er ja von den Führern und Priestern seines Volkes abgelehnt worden, die ungeduldig fragten: „In welcher Macht tust du diese Dinge, und wer gab dir die Vollmacht?“ (Mt 21,23).
Allein seine Vollmacht wird nur durch den Glauben wahrgenommen. Sie hängt an seinem tiefsten Wesen, an der Geistesmacht und der Liebe, die er ausstrahlt, an der Verbindung mit dem Vater, der in ihm wohnt. Die frommen Israeliten, welche das Zeugnis von Johannes dem Täufer empfingen, erkennen, aus welcher Macht heraus Jesus handelt. Sobald er spricht, rufen die erschütterten Kriegsknechte aus: „Nie hat je ein Mensch gesprochen wie dieser Mann“ (Joh 7,46). Er vertreibt einen Dämonen, und die schlichten Seelen sind „entsetzt ob der Größe Gottes“ (Luk 9,43)
III. Die Autorität der Schrift
1. Quelle und Definition
Es verhält sich mit dieser Vollmacht wie mit derjenigen Jesu Christi: sie geht aus ihrem Wesen hervor. Sie ist die unmittelbare Folge der Inspiration. Wenn Gott die Schrift ganz eingegeben hat (wie wir gesehen haben), dann ist sie auch mit seiner Vollmacht ausgestattet. Dem Buch, in dem tausendmal steht: „So spricht der Herr!“ gebührt die Achtung und der Gehorsam, die wir dem Urheber schulden. Die Autorität der Schrift kommt von ihrer Inspiration, und auf ihrer Inspiration beruht ihre Autorität.
Gaussen erzählt, daß er, um seinen tausend quälenden Zweifeln ein Ende zu setzen, viele Verteidigungsschriften der Bibel gelesen habe, daß ihn aber zuletzt doch nur das Bibelwort selber überzeugt habe. „Die Schrift gibt Zeugnis nicht nur durch ihre Versicherungen, sondern durch ihre Wirkungen … denn sie bringt mit ihrem Glanz Gesundheit, Leben, Wärme, Licht. … Lest darum die Bibel … sie wird euch selber überzeugen und euch sagen, ob sie von Gott ist . . . “ (a.a.O., S. 281).
Für jeden, der im Glauben an die Schrift herantritt als an Gottes Wort, ist die Sache klar: Ihre Gültigkeit braucht nicht verteidigt, sie soll bezeugt werden (genau wie die Existenz Gottes und Jesu Christi). C. H. Spurgeon sagte in diesem Zusammenhang: „Ihr müßt den Löwen im Käfig nicht verteidigen. Es genügt, das Tor zu öffnen und ihn hinausgehen zu lassen.“ Dr. Martyn Lloyd Jones unterstreicht, daß die Predigt der Bibel ihre Wahrheit und Vollmacht begründet. Zum Beispiel erklärt nichts so gut wie die Bibel mit ihrer Lehre vom Sündenfall und von der Sünde die heutige Weltlage nach den beiden Weltkriegen. Ähnlich verhält es sich mit der Erklärung der Weltentstehung: Große Gelehrte haben nach viel rationalistischem Forschen auf das Vorhandensein einer obersten Weisheit, eines Erbauers des Weltalls schließen müssen ‑ was die Bibel von jeher gesagt hat. Aber den Kritikern war die Lehre vom Sündenfall und von der Sünde verhaßt. Für sie ging die Menschheit bergauf, schritt voran und vervollkommnete sich ohne Ende. Es geht ihnen gegen den Strich, auf den Begriff des Bösen und die Verderbnis des Menschengeschlechtes zurückzukommen. Natürlich tun sie dies nicht wegen der Bibel, sondern gezwungenermaßen, weil der Weltlauf es sie lehrt. (M. Lloyd Jones, Authority, S. 41).
2. Die Autorität der Schrift in Israel
Das Buch des Gesetzes, Offenbarung des göttlichen Wollens, war die Grundlage des Bundes (2. Mose 24,7). Die Opferpriester und Leviten hatten die Aufgabe, das Gesetz zu lehren und darauf alle ihre Anweisungen aufzubauen (5. Mose 17,9‑11; 24,8). „Denn des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus seinem Munde Weisung suche, denn er ist ein Bote des Herrn Zebaoth“ (Mal 2,7). Die Wirkungsmacht des heiligen Buches beeinflußte „alle diejenigen, welche ob den Worten des Gottes Israels erzitterten“ (Esra 9,4; 2. Chr 34,19; Neh 8,9 usw.). Jesaja beginnt seine Weissagung mit folgenden Worten: „Höret, ihr Himmel und Erde, nimm zu Ohren, denn der Herr redet!“ Und im Blick auf das Elend Israels ruft er aus: „Hin zum Gesetz und hin zur Offenbarung! Werden sie das nicht sagen, so wird ihnen kein Morgenrot scheinen“ (1,2; 8,20). Jeremia warnt: „Verflucht sei der Mensch, der nicht Gehör schenkt den Worten des Bundes, den ich euern Vätern vorschrieb“ (11,3). Das Gesetz erstreckt seine furchtbare Macht auch heute noch über die, welche nicht durch die Gnade und den Glauben an Christus gerettet sind.
3. Christus beugt sich vor der Autorität der Schrift
Wir sahen weiter oben, mit welcher Sorgfalt Christus vorbehaltlos die Schrift bestätigt (Mt 5,17‑18); sie bis in die geringste Einzelheit erfüllt (Mt 26,54; Luk 24,44); sich auf sie allein stützt dem Gegner gegenüber: „Es steht geschrieben“ (Mt 4,4‑10); auf den heiligen Text diejenigen verweist, die ihm widersprechen: „Habt ihr nicht gelesen? … Irrt ihr nicht, weil ihr weder die Schrift noch die Macht Gottes begreift?“ (Mt 12,3; Mk 12,24); am Kreuz sogar die prophetischen Worte spricht, die er eben zur Erfüllung bringt (Joh 19,28‑30); seine Belehrung an die Jünger, selbst nach der Auferstehung, auf alle Teile des jüdischen Kanons gründet (Luk 24,27.44.46); das Endgericht auf Grund der Schrift ankündigt (Ich 5,45‑47; vgl. Röm 2,12). – Bedarf es noch weiterer Worte? Die Autorität des geschriebenen Wortes wird so wenig untergehen wie diejenige des Fleisch gewordenen Wortes, die dahinter steht.
4. Die Autorität der Schrift in der Urgemeinde
Der Schrift des Alten und des Neuen Bundes unbedingt gehorsam, hatten die Apostel den Auftrag, die Sendboten des Herrn zu sein und die schriftliche Offenbarung zu bestätigen und zu vollenden, Christus der Welt zu verkündigen.
Die Diener Gottes aller folgenden Geschlechter, die nicht mehr Augenzeugen der Auferstehung und Zeitgenossen der biblischen Verfasser sind, müssen notgedrungen ihr Amt in der Gemeinde ausüben, indem sie sich der Offenbarung unterziehen.
Ihre Vollmacht ist zwangsläufig verschieden und in gewissem Sinn geringer als die der Apostel. Timotheus soll die Gläubigen verbessern, zurechtweisen, aber vor allem das Wort predigen, evangelisieren, nach der gesunden Lehre (Die Wörter „Lehre, Belehrung, Lehrer“ kommen in den beiden Timotheusbriefen und dem Titusbrief etwa dreißigmal vor). Die völlig eingegebene Schrift wird den Mann Gottes geschickt und für seinen Dienst geeignet machen (2. Tim 3,16; 4,3). Paulus schreibt an Titus, daß der wahre Gemeindeälteste sich halten soll an das Wort, das gewiß ist, nach der Lehre, auf daß er mächtig sei, zu ermahnen durch die gesunde Lehre und zu überführen, die da widersprechen. An ihn wendet er sich weiter: „Du aber rede, wie es sich ziemt nach der gesunden Lehre . . Solches ermahne und stelle ans Licht mit großem Ernst. Es soll dich niemand verachten“ (Tit 1,9; 2,1.15). Die Aufgabe des Ältesten oder Bischofs (vgl. Apg 20,17.28) besteht darin, die Herde mit dem Wort Gottes zu weiden in einer Vollmacht, die ganz auf die Schrift gestützt ist, und von ihr überprüft. . . .
IV. Wer hat den Vorrang, die Schrift oder die Gemeinde?
Für die römisch‑katholische Kirche ist die Sache klar. Nach Bellarmin ist die Autorität der Schrift auf derjenigen der Kirche aufgebaut. Durch die Apostel, die Verfasser des Neuen Testamentes, bekam die Ordnung der Gemeinde ihr Gepräge und fand ihre Autorität ihren Ausdruck. Daraus folgert man, daß die Kirche Herrin über die Schrift sei. Diese könne nur gültig verstanden werden durch die Auslegung von seiten des priesterlichen Lehramtes. Die römische Kirche ergänzt von sich aus die Schrift durch Hinzufügen der alttestamentlichen Apokryphen (im Konzil von Trient 1546) und durch die Verfügung, daß die Überlieferung, die Entscheidungen der Konzilien und schließlich die Erlasse des unfehlbaren Papstes (seit 1870) eine weitere Quelle der Lehre darstellen.
Es gibt genug Gründe, die im Gegenteil die Vorherrschaft und Vollmacht der Schrift beweisen.
1. Offenbar ist das Alte Testament nicht aus der Kirche entstanden, und wir haben eben gesehen, in welchem Grade Christus selber, die Apostel und die ersten Christen es anerkannten.
2. Die Gemeinde wuchs aus dem Wort Gottes heraus, das die Apostel predigten und im Neuen Testament niederlegten (l. Thess 2,13). Jeder Glaubende war durch das lebendige und stets gegenwärtige Wort Gottes wiedergeboren worden (l. Petr 1,23.25).
3. Ein ansehnlicher Teil des Neuen Testamentes setzt fest, wie das Gemeindeleben geregelt werden soll. Die Hirtenbriefe wie auch der 1. Korinther‑ und der Galaterbrief (ohne von der Apostelgeschichte und den Kapiteln 2 und 3 der Offenbarung des Johannes zu sprechen) legen die Gemeindeordnung dar und bemühen sich, gewisse im Lauf des 1. Jahrhunderts schon auftauchende Abweichungen richtigzustellen. Also bestimmt die Vollmacht der Schrift, wie die Gemeinde aussehen und wie sie tatsächlich sein soll. Es geht nicht an, das Neue Testament abhängig zu machen von einer Einrichtung, welche aus seinem Inhalt hervorging.
4. Wohl stützt die römische Kirche ihre Vorherrschaft, indem sie auf ihre Art Worte Christi dafür benützt. Aber wo holt sie diese her, wenn nicht eben aus der Bibel?
5. Die Schrift bestand vor den Kirchenvätern und Konzilien (und selbstverständlich vor den Päpsten). Die verschiedenen neutestamentlichcn Bücher, die im 1. Jahrhundert geschrieben wurden, sind in ihrer Gesamtheit erst später von den Kirchen anerkannt worden. Ihre göttliche Inspiration war von Anfang an vom Herrn gewirkt, nicht durch die Kirche. Diese hat sich einfach vor der Inspiration der apostolischen Schriften gebeugt. Es liegt auf der Hand, daß die Bedeutung eines Buches an seinem Verfasser hängt, nicht an seinem Verwalter oder Leser. So haben beispielsweise die Briefe von Paulus keineswegs die Genehmigung der Gemeinde abgewartet. In dem oft erwähnten Vers (l. Thess 2,13) lobt Paulus die Thessalonicher dafür, daß sie seine Botschaft tatsächlich als Wort Gottes annahmen. Er ordnet an, daß, wer sich seinem Schreiben widersetzt, ausgeschlossen werde (2. Thess 3,14). Er beschwört die Empfänger, die Briefe allen Gemeinden zur Kenntnis zu bringen (l. Thess 5,7; Kol 4,16). Er wagt, den Galatern zu schreiben, daß, wenn ein Engel vom Himmel seinen Worten widersprechen würde, dieser verflucht wäre (Gal 1,8).
6. Man sagt, daß die Kirche, die den Kanon festlegte, über der Schrift stehe. Nach dem Vorangegangenen stimmt dies so wenig, wie der Richter über dem Gesetz steht, das ihm der Gesetzgeber vermittelt. Nicht der Richter hat es geschaffen. Nachdem er sich von seiner Echtheit überzeugt hat, beschränkt sich seine Rolle darauf, es zu verteidigen und anwenden zu lassen. Die Kirche ist daher nicht die Herrin, sondern die Magd der Schrift, nicht die Mutter, sondern die Tochter, nicht die Richterin, sondern Zeuge und Verteidigerin des biblischen Textes.
Wäre außerhalb der Schrift eine Quelle der Autorität nötig, um uns gegenüber ihre Echtheit zu verbürgen und ihr Macht zu verleihen, hätte diese Quelle nicht ihrerseits wieder einen Bürgen nötig, und so weiter bis ins Unendliche? So geht es ja ähnlich mit der Jungfrauengeburt Christi. Man erfand die unbefleckte Empfängnis der Maria (die doch besonders begnadet war und die Gott ihren Retter nennt, Luk 1,30.47), ohne sich dessen bewußt zu sein, daß auch ihre Großmutter, ihre Urgroßmutter und das ganze vorangehende Geschlecht ohne Sünde hätte gezeugt werden müssen.
7. Die Schrift ist durch Männer entstanden, die unmittelbar von Gott inspiriert waren. Die Inspiration erfolgte durch ihn, nicht durch die Kirche. Darum ist auch ihre Vollmacht von ihm abgeleitet und vollauf genügend, um unsern Glauben zu gründen. Sagt doch Paulus, daß die Gemeinde aufgebaut sei „auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus selber der Eckstein ist“ (Eph 2,20).
8. Alle göttliche Vollmacht auf Erden muß der Würde des Herrn entsprechen; sie muß beständig und unfehlbar sein. Solcher Art war diejenige der Theokratie in Israel, diejenige von Jesus in den Evangelien und die der Apostel, welche das Neue Testament aufsetzten. Aber Petrus selber wird eines Tages fehlbar und verdient den Vorwurf der Heuchelei und Verstellung (Gal 2,11‑14). Paulus trennt sich von Barnabas und Markus nach lebhaften Meinungsverschiedenheiten (Apg 15,37‑39). Später, wahrscheinlich wegen seiner schwachen Augen, täuscht er sich über die Person des Hohenpriesters (23, 2‑5). Die Hirtenbriefe, der 2. Petrus‑ und der 2. Johannesbrief, der Judasbrief, die Kapitel 2 und 3 der Offenbarung des Johannes zeigen, wie rasch falsche Propheten und falsche Schriftgelehrte sich in gewissen Fällen in der Gemeinde Macht anmaßten. Dieser Zustand wurde im Lauf der Jahrhunderte noch schlimmer: die Kirchenväter haben die gegensätzlichsten Meinungen vertreten. Es gab ganz unwürdige Päpste und religiöse Führer (wie auch im Protestantismus, bis heute), die nicht glaubten. Kirchliche Behörden haben Verfolgungen und grauenhafte Kriege befohlen, recht viele Konzilien sind im Widerspruch untereinander, und die aus der Überlieferung geschöpften Lehren entfernen sich immer mehr vom Evangelium. Nach der Weissagung wird der Abfall in der Welt der Schein‑Religion überhandnehmen, um auszumünden in die falsche Kirche, Babylon (2. Thess 2,3‑12; 1. Tim 4,1; 2. Tim 4,3‑‑4; Offb 17).
Da Gott den Ungehorsam und den Zerfall Israels voraussah, hat er das Buch des Gesetzes ins Heiligtum bringen lassen, als Ur‑Maßstab und unverwüstlicher Zeuge für die Haltung des Volkes (5. Mose 31, 24‑27). So, glauben wir, ist gleicherweise die eingegebene Schrift der Gemeinde als einzig unwandelbare Richtschnur zur Seite gegeben, denn die Gemeinde ist stets in Gefahr einzuschlafen, abzuweichen und abzufallen.
V. Die Angriffe gegen die Autorität der Schrift
1. Der aufrührerische Sinn des Menschen
Als Geschöpf, das nach dem Bilde Gottes geschaffen und berufen ist, die Erde zu beherrschen, hat der Mensch einen unglaublichen Drang zur Unabhängigkeit und zum Ehrgeiz. Aus Stolz ist er gefallen, denn er wollte sich von der Bevormundung des Schöpfers befreien. Er wird fortgerissen vom „Geist, der die Kinder des Aufstandes umtreibt“ (Eph 2,2). Am unerträglichsten ist es für ihn, sich einzugestehen, daß er nicht unabhängig ist, daß sein Verstand und seine Kräfte begrenzt sind. Auf der ganzen Erde macht der Mensch heute eine gewaltige Anstrengung, um sich von jeder andern Autorität als der eignen zu befreien.
„Warum toben die Heiden und murren die Völker so vergeblich? Die Könige der Erde lehnen sich auf, und die Herren halten Rat miteinander wider den Herrn und seinen Gesalbten: Lasset uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Stricke!“ (Ps 2,1‑3).
Diese Auflehnung verursachte auch das Kreuz. „Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche“ (Luk 19,14). Sie richtet sich heute erst recht gegen die Schrift, die um ihrer Autorität willen gehaßt wird. Denn als Wort Gottes ist die Bibel das größte Hindernis auf dem Weg zur vermeintlichen Mündigkeit des Menschen.
2. Wie viele Autoritäten liegen miteinander im Streit?
a) Gott oder der Mensch
Es gibt auf der Welt im Grund nur zwei Religionen: in der einen bietet Gott durch Jesus Christus die Erlösung an, in der andern geht es bei allen Systemen, die auf den Erfindungen des Geschöpfes beruhen, darum, daß der Mensch sich durch eigene Anstrengung retten will. Also stehen sich zwei Autoritäten gegenüber, diejenige Gottes, Christi, und der Bibel – und diejenige des Menschen.
Nachdem wir schon auf die erste eingegangen sind, wollen wir die zweite noch untersuchen. Es handelt sich im Grund um den Kampf zweier Herrschaftsbereiche. Gott, unser Schöpfer, hat Anrecht auf uns. Um uns frei und glücklich zu machen, will er ungeteilt über unser Herz, unsere Seele und unser Denken herrschen. Der Mensch wehrt sich gegen diesen Anspruch auf allen Gebieten, im Bereich der Religion, der Vernunft, der Wissenschaft, der Sittlichkeit wie in der Politik.
b) Die Autorität der Kirche.
Sie hat die Neigung, unter verschiedenen Formen die Autorität der Schrift zu beseitigen, zu zerstückeln und zu vermindern.
Der Papst wird zum unfehlbaren Haupt der Kirche hienieden erklärt. Die Apokryphen werden dem Kanon beigefügt, um Lehren zu stützen, die sich nicht darin finden.
Die Schrift wird der Autorität der Kirche unterstellt, und diese bestimmt ihre Auslegung. Das Lehramt der Kirche behauptet, sich auf die einstimmige Ansicht der Kirchenväter zu stützen, aber diese Einstimmigkeit gibt es nicht.
Da der Überlieferung, den Entscheiden der Konzilien und den Erklärungen, die der Papst als höchster Lehrer gibt, ebensoviel Gewicht beigemessen wird wie der Schrift, kann diese nach Belieben ergänzt werden. Sie ist in jeder Hinsicht in den 2. Rang versetzt. Die Bibelkritik, die neulich von Rom erlaubt wurde, hat keinen derartigen Einfluß wie bei den Protestanten, denn sie greift die höchste Macht der Kirche nicht an.
Was die orthodoxe Kirche betrifft, die sich selbst als unfehlbar ausgibt, begründet sie ihre Lehre außer auf die Schrift noch auf die sieben ersten Konzilien, die ökumenisch genannt werden (und sich von der Bibel in vielen Punkten entfernen).
e) Die Autorität des religiösen, kritischen Verstandes
Etliche Theologen haben zu ihrer nicht geringen Erleichterung die „Zwangsjacke“ der Lehre von der unfehlbaren Bibel abgelegt, um sie durch ihre eignen Überlegungen zu ersetzen. E. Brunner läßt es an der größten Klarheit nicht fehlen: „Einst wurde jede Auseinandersetzung unvermittelt mit dem Satze abgebrochen: Es steht geschrieben!, indem man sich auf die Lehre von der Verbalinspitation berief. Heute könnten wir nicht mehr so vorgehen, selbst wenn wir es wünschten … Es ist unmöglich, nur einfach mit dem Hinweis auf den Bibeltext das Gespräch abzuschließen. Denn in den einfachen Vertretern der christlichen Lehre wie hinter den Worten Jesu und der Apostel ist vor allem die eigentliche Botschaft zu suchen … Die Bibel kann nicht gleichgesetzt werden mit dem Wort Gottes, schon deshalb, weil der Begriff ‚Gottes Wort‘ in sich selbst ein Problem darstellt.“
S. van Mierlo erhellt mit folgenden Worten die Gründe einer solchen Haltung: „Die modernen Theologen lehnen die ‚Autoritätsreligionen‘ ab und wollen nicht, daß eine Autorität außerhalb des Menschen ihnen aufgedrängt werde. Aber sie gelangen selber wieder zu einer solchen Religion. Denn wenn die ganze Schrift nicht von Gott eingegeben ist, wenn sie zum großen Teil Urkunden von fragwürdigem Wert enthält, die von unbekannten Verfassern stammen, wie kommt dann der in der Kritik unerfahrene Glaubende zurecht? Woran erkennt er in der Bibel die rein menschlichen Meinungen einiger alter Persönlichkeiten? Es muß also jedermann die Theologen befragen, um zu wissen, welchen Texten man Vertrauen schenken kann und wie man sie lesen soll. Aber da diese Kritiker häufig verschiedene Ansichten vertreten, wird er sich für einen unter ihnen entscheiden müssen. Dieser Auserwählte wird dann seine Autorität werden. Man verwahrt sich gegen die Autorität Gottes, unterwirft sich aber derjenigen eines Menschen“ (a.a.O., S. 69). Und was geschieht dann, wenn derjenige, den man zum großen Meister seines Denkens machte, sich weiterentwickelt und dem widerspricht, was er zuvor lehrte, oder ganz einfach, wenn er veraltet und von einem neuen ‚Stern‘ abgelöst wird?
Das wäre für die einen noch kein Übelstand. Nach ihnen gehört zum Wesen des Glaubens die Freiheit, welche gefährdet wäre, wollte die Offenbarung als Autorität ihnen fertige Wahrheiten aufdrängen. Die Irrtümer, Widersprüche, Legenden und Mythen sind für sie notwendig, damit man von keiner Stelle sagen könne, sie drücke die Wahrheit aus. Die Methode des Zweifels sichert „das Wagnis des Glaubens“. Dem Leser wird sein „religiöses Gewissen“ sagen, was im Texte wahr ist und der Heilige Geist wird ihm zeigen, ob darin für ihn „Wort Gottes“ wird (selbst wenn er einen Irrtum oder eine Legendeenthält). Eine solche unkontrollierbare Selbstbezogenheit vermöchte uns keine Gewißheit zu vermitteln. Brauchen wir noch zu sagen, daß die „Methode des Zweifels“ uns als das genaue Gegenteil von Glauben erscheint? Sie fordert den Leser dazu auf, allem mit Mißtrauen zu begegnen und zu verwerfen, was ihm mißfällt. . . .
d) Das „innere Licht“
Wir müssen nochmals auf die Gefahr aufmerksam machen, die darin besteht, daß die Wirkung und die Erleuchtung des Heiligen Geistes von der Schrift getrennt werden. Den Quäkern des 17. Jahrhunderts lag vor allem andern am „inneren Licht“, dem Zeugnis des Geistes in der persönlichen Erfahrung. Dies führte die einen dazu, die Tragweite und Vollmacht der Schrift praktisch einzuschränken, während andere erklärten, sie sei überhaupt nicht nötig. Andrerseits waren die Worte eines Bruders, die er in der Versammlung „unter Eingebung“ vorbrachte, von der gleichen Bedeutung wie der biblische Text. Wohin dies führen kann, ist leicht zu sehen.
Wir haben in unsern Tagen Leute kennengelernt, welche die gleiche Sprache redeten. Sie vernachlässigten die Schrift, weil ihnen in ihrer Frömmigkeit der Heilige Geist, das Streben nach seinen Gaben, die Verzückung und Weissagung über alles gingen. Wozu sollte man noch an ein Buch aus der Vergangenheit gebunden sein, wenn doch täglich der unfehlbare Zugang zum lebendigen Gott offen war? Aber gerade hier lauert die Gefahr. Ohne die ständige Zucht der geschriebenen Offenbarung wird der einzelne seinen ganz persönlichen Empfindungen ausgeliefert sein. Auch der Glaubende mit den lautersten Absichten fällt leicht irgendeiner Entgleisung zum Opfer, dem übertriebenen Kult der Erleuchtung oder der Schwärmerei. Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß dem Wort Gottes nichts hinzugefügt und nichts von ihm genommen werden darf (5. Mose 4,2; Offb 22,18‑19). Fast alle Ketzereien und Sekten entstanden durch eine vermeintliche Offenbarung oder die neue persönliche Erfahrung des Begründers außerhalb des biblischen Rahmens. Wir müssen einmal mehr wiederholen, daß der Heilige Geist den Glaubenden stets in der Richtung und durch das Mittel des Wortes der Wahrheit, das er eingab, führen, belehren und heiligen wird.
f) Gefahr, die Erleuchtung mit der Inspiration zu verwechseln
Wir sahen weiter oben, als wir von der inneren Erleuchtung sprachen, deren wir zum Verständnis der Bibel bedürfen, daß sie leicht mit der Inspiration verwechselt wird. Nur die biblischen Verfasser, Botschafter des Herrn, waren bei der Niederschrift des Urtextes vor dem Irrtum bewahrt. Als die Synagoge oder die Kirche begannen, den Erklärungen zur Schrift gleiches oder größeres Gewicht als dieser selbst beizumessen, haben sie diese entthront.
Lassen wir Gaussen noch weiter zu Wort kommen in dem, was er über die Juden schreibt: „Sie haben die Rabbiner in den Jahrhunderten, welche der Zerstreuung folgten, mit einer Unfehlbarkeit ausgestattet, welche jenen das Ansehen von Mose und den Propheten gab (wenn nicht noch mehr). Sie glaubten gewiß an eine Art göttlicher Inspiration der Heiligen Schrift; aber es war verboten, ihre Botschaft anders als ihrer Überlieferung gemäß zu erklären (Talmud, Mishna, Gemaras) … Rabbi Isaak sagt: ‚Mein Sohn, lerne, den Worten der Schriftgelehrten mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den Worten des Gesetzes.‘ Der Rabbi Eleazar antwortete auf seinem Totenbett den Schülern, die ihn nach dem Weg des Lebens fragten: ‚Lehrt die Kinder, sich von der Bibel abzuwenden, und setzt sie zu Füßen der Weisen.‘ Der Rabbi Jakob sagt: ‚Lerne, mein Sohn, daß die Worte der Schriftgelehrten lieblicher sind als die der Propheten‘ “ (a.a.O., S. 323‑325).
Die römische Kirche ist, wie wir schon ausführten, in den gleichen Fehler, in die gleiche Verwirrung gefallen. Das unfehlbare Konzil von Trient gebietet, daß man alle Bücher des Alten und Neuen Testamentes ehre (in Anbetracht dessen, daß Gott ihr Urheber ist) und ebenso die Überlieferungen, welche sich auf den Glauben und die Sitten beziehen; diese sind vom Munde Jesu Christi oder vom Heiligen Geist diktiert worden und durch die ständige Sukzession von der katholischen Kirche bewahrt … Wenn jemand diese Bücher nicht völlig annimmt oder vorsätzlich die erwähnten Überlieferungen verachtet, sei er verflucht“ (Konzil von Trient, 1. Dekret, Sektion 4). Der Doktor der Kirche, Bellarmin, lehrt: „Die Heilige Schrift enthält nicht alles, was zum Heil nötig ist, und ist nicht hinreichend … Sie ist dunkel. Es ziemt sich dem Volk nicht, die Heilige Schrift zu lesen. Wir müssen im Glaubensgehorsam viele Dinge annehmen, die nicht in der Schrift sind“ (de Verbo Dei, lib. IV; II. cap. 19; IV, cap. 3). Außerdem sind bei Gaussen Auszüge aus Bullen von Klemens VI. (8. Sept. 1713) und von Leo XII. (1824) zu lesen, die das Lesen der Bibel in der Volkssprache ablehnen (a.a.O., S. 325‑330). Leo XII. beklagt sich schmerzlich über die Bibelgesellschaften, welche entgegen der Überlieferung der Väter und des Konzils von Trient die Schrift in den Landessprachen unter alle Völker verbreiteten . . . „Um dieser Pest zu steuern, haben unsre Vorgänger mehrere Verordnungen veröffentlicht, welche beweisen, wie schädlich diese ruchlose Erfindung für den Glauben und die Sitten ist.“
Obgleich solche „unfehlbaren“ Texte nie aufgehoben wurden, sind wir glücklich darüber, daß in neuerer Zeit katholische Priester zum Bibellesen aufmuntern. Dennoch bleibt die Gefahr zu allen Zeiten bestehen, die alleinige Vollmacht der Heiligen Schrift anzugreifen und das zu tun, was Jesus seinen Zeitgenossen vorhielt:
„Ihr hebt das Wort Gottes auf zugunsten eurer Überlieferungen“ (Math 15, 1‑9).
Vl. Ergebnisse der Autorität der Schrift
1. Befreiung
Die vorbehaltlose Rückkehr zur Anerkennung der höchsten Schrift-Autorität war das große Ziel der Reformatoren. Ihr Losungswort ist auch das unsere: nur die Schrift und die ganze Schrift. Diese Wiederentdeckung hat die Glaubenden befreit von allen möglichen Überlagerungen, von Aberglauben und Vernebelungen der vorangegangenen Jahrhunderte. Das war ja gerade, was Jesus denen verheißen hatte, die seine volle Botschaft annahmen: „Wenn ihr in meinem Worte bleibt, seid ihr in Wahrheit meine Jünger; ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,31).
2. Einheit
Andrerseits sichert die Autorität der Schrift die geistliche Einheit unter denen, die sie annehmen. Für die evangelischen Christen gilt immer noch der entscheidende Grund: Es steht geschrieben! Sie sind bereit, gemeinsam die ganze, klare Lehre der Schrift zu bekennen, was nicht wenig bedeutet. Sie können in zweitrangigen Punkten und Fragen der Auslegung verschiedener Meinung sein (Phil 3, 15). Aber sie sind gewiß, daß sie die gleiche Bibel, den gleichen Christus und dieselbe Botschaft in die Welt hinauszutragen haben. Die Christenheit hat aber aufgehört eine einheitliche Front zu bilden, von dem Augenblick an, da in ihrem Schoße die verschiedensten Autoritäten diejenige der Schrift als des unfehlbaren Wortes Gottes verdrängt haben.
3. Vollmacht
Es ist nicht paradox, wenn wir sagen, daß der Glaubende, welcher die Vollmacht der Schrift anerkennt, selber mit einer gewissen Vollmacht ausgerüstet wird. Für ihn ist die Bibel das Schwert des Geistes, unversehrt und geschliffen, das er gegen sich selber wie gegen den Feind gebrauchen kann. Ohne Zögern kann er bezeugen: Es steht geschrieben. So spricht der Herr! Mit Paulus weiß er, daß das, was er verkündet, wirklich Gottes Wort ist (l. Thess 2,13). Nach dem Vorbild seines Meisters, dessen unfehlbare Botschaft er weitergibt, spricht er in beglaubigten Worten. (Mt 7,29). Wenn er sich seiner Schwachheit bewußt wird und zittert, kann er sich hinter das Buch stellen und sagen: „Dieses Wort ist nicht von mir, sondern von Gott.“ Mit einem Wort, er ist ein wirksamer Botschafter, denn er spricht, wie wenn Gott durch ihn ermahnte (2. Kor 5,18‑20).
4. Eine freie Wahl
Eines ist klar: der Gott, dem alle Gewalt und alle Herrschaft gehören, zwingt uns nicht, uns ihm zu fügen. Seine Offenbarung blendet uns nicht; sie spricht zu unserm Herzen und setzt eine freie Entscheidung unsres Glaubens voraus (vgl. Apg 17,17). Seine Macht bietet sich uns ohne jeden Zwang an. Jetzt ist die Stunde der göttlichen Gnade und der Geduld. Selig, wer die Sklaverei der Sünde und die widerspenstigen Gedanken aufgibt und die Freiheit wählt, indem er sich Christus und seinem wunderbaren Wort unterwirft: „Gott aber sei gedankt, daß ihr Knechte der Sünde gewesen seid, aber nun gehorsam geworden von Herzen dem Bild der Lehre, welchem ihr ergeben seid“ (Röm 6,17). Paulus fügt weiter hinzu: „Wir zerstören damit Anschläge und alles Hohe, das sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes, und nehmen alle Gedanken gefangen unter den Gehorsam Christi“ (2. Kor 10‑,5).
Einmal allerdings wird Gottes Geduld ein Ende haben. Die Stunde naht, in der sich jedes Knie vor ihm beugen wird. Diejenigen, die nicht wollten, daß er über sie herrsche, werden ein schreckliches Schicksal haben (Luk 19,14.27). Christus, der gekommen ist, nicht um die Welt zu richten, sondern zu retten, sagt eindeutig: „Wer mich verwirft und mein Wort nicht annimmt, ist schon gerichtet: das Wort, das ich verkündigt habe, das wird ihn eines Tages richten“ (Joh 12,48).
VII. Schlußbetrachtung
Wir könnten uns noch lange mit unserem Thema, der geschriebenen Offenbarung, beschäftigen, denn wir haben es bei weitem nicht ausgeschöpft. Aber es ist uns Halt geboten, um die Leser nicht zu ermüden und jedem Zeit zu lassen, persönlich über die vernommenen Wahrheiten nachzudenken. Auch hier geht es darum, zu Taten zu schreiten. Der Gott der Liebe, der höchste Meister, der große Richter will sich gerne offenbaren.
An uns ist es, in der Stille zu verharren, in Ehrfurcht jedem Wort aus seinem Mund zu lauschen, zu gehorchen und der Welt diese herrlichen Wahrheiten zu vermitteln.
Sprich, Herr, deine Diener hören!
„Jede Schrift ist von Gott eingegeben“ (2. Tim 3,16).
„Wohl dem Manne, der Lust hat am Gesetz des Herrn und über seinem Gesetz nachsinnt Tag und Nacht. Was er macht, das gerät wohl“ (Ps 1,1‑3).
„Öffne mir die Augen, daß ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. Du lehrst mich deine Gebote.
„Das Wort, das aus meinem Munde geht … wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen“ (Jes 55,11).
Die Hervorhebungen im gekürzten Text sind von mir. Horst Koch, Herborn, im November 2012
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Alle Beiträge siehe unter: www.horst-koch.de