Helmuth Thielicke
Das Salz der Erde
Wenn man viele Christen in ihrer oft weichen und femininen und süßlichen Art sieht, möchte man meinen, daß sie doch den Ehrgeiz hätten, der Honigseim der Welt zu sein. Sie versüßen und verzuckern die Bitternis des Schicksals durch eine allzu billige Vorstellung vom lieben Gott. Sie erweichen die Härte der Schuld durch eine fast beängstigende Kindschaftsromantik. Sie haben die Hölle wegretuschiert und sehen nur den Himmel offen. Sie stecken vor Teufel und Anfechtung den Kopf in den Sand und haben das ewige und verkrampfte Lächeln einer gespielten Weltüberwindung auf ihren Zügen.
Das Reich Gottes, das unter den Wehen der Geschichte und unter wilden Schmerzen, das unter den Exzessen des Antichrists und unter dem Stöhnen der Märtyrer hereinbrechen soll, ist ihnen zu einem harmlosen Blütengarten geworden, und ihr Glaube ein süßer Honig, den sie diesen Blüten entnehmen. Daher kommt es denn auch, daß die Welt sich an diesen Christen immer wieder überißt und sich angeekelt abwendet, weil sie spürt, daß das Leben härter ist und daß es deshalb größeren Anstand verrät, wenn man seine Bitternisse unverzuckert erträgt.
Aber Jesus sagt ja gar nicht: »Ihr seid der Honig«, sondern »Ihr seid das Salz«. Das Salz beißt; und die unverkürzte Botschaft vom Gericht und von der Gnade Gottes hat denn auch noch immer gebissen, so sehr, daß man dagegen aufbegehrte und oft genug wieder gebissen hat.
Der Honiggott der natürlichen Weltanschauungen war leichter zu ertragen. Wo Salzkraft in einer Kirche und in einer Predigt ist, da findet man auch immer das saure Reagieren. Denn das Salz beißt und ätzt überall da, wo wir Menschen wunde Stellen haben. Wir aber wollen eine Heilung ohne Schmerzen – und außerdem sind wir nicht gern an jene wunden Stellen erinnert. Darum schreit die Welt nicht nur nach dem Goldenen Kalb, sondern nach den Honiggöttern, die unsere tiefsten Wunden vergessen machen. Wo das saure Reagieren auf die Botschaft nicht mehr da ist, da fehlt das echte Salz.
Es ist ein bedenkliches Zeichen, wenn die Welt in einem allzu ungetrübten Frieden mit der Kirche lebt und wenn eine Gemeinde allzu begeistert von ihrem Prediger ist. Dann hat er in der Regel kein Salz von der Kanzel gestreut. Die Menschen unter der Kanzel hat es nicht gebissen, und so sind sie denn nach Hause gegangen und haben gemeint, sie seien gesund, sie trügen keine Wunden, und der liebe Gott hätte sie »mit heiler Haut« davonkommen lassen. Begeisterung und allzu einmütige Zustimmung zu einer Predigt pflegen auf bedenkliche Mangelerscheinungen zu deuten.
Und weiter: Das Salz hat eine fäulnisverhindernde, eine konservierende Kraft. Das Fleisch des Abendlandes ist faulig und stinkend geworden, seitdem das Salz fehlt. Gewiß, man hat Fortschritte gemacht, man ist technisch auf der Höhe, man hat die Freude des Diesseits entdeckt, man liebt das braungebrannte, das lebensfrohe, das junge Fleisch. Aber darin kann der Wurm sitzen, und wohin wir mit der Devise der sonnengebräunten Lebensbejahung gekommen sind, in welchen Abgrund die Welt ohne Gott stürzt (diese in ihren eigenen Wonnen erschauernde und sich selber vergötternde Welt), das haben wir ja wahrhaftig in einer Weise am eigenen Leibe erfahren, daß ich darüber kein Wort zu verlieren brauche.
Wir, einschließlich aller nur denkbaren Freidenker, Atheisten und Antitheisten, leben alle noch vielmehr vom christlichen Erbe, vom »Salz im Fleisch«, als wir es selber wissen. Aber der Organismus unseres Vaterlandes, ja unseres ganzen Erdteiles, hat es allmählich aufgesaugt. Darum sind die Jünger so nötig, die neue Salzkraft in die Welt tragen und sie gegen die eingedrungenen Giftstoffe der Fäulnis und der Verwesung gegen alle jene Prozesse, die man mit einem ahnungsvollen Namen als »Untergang des Abendlandes« bezeichnet immunisieren helfen.
Professor Helmut Thielicke in: Das Helmut Thielicke Lesebuch; Quellverlag Stuttgart 1998: 200-201