Rainer Mayer
Recht und Grenze historisch-kritischer Arbeit an der Bibel
Mancher mag fragen: Warum dies Thema? Es wurde reichlich behandelt. Die historisch-kritische Arbeitsweise gilt als wissenschaftlicher Standard an den Theologischen Fakultäten und gleichfalls als maßgebende Voraussetzung für die kirchliche Verkündigung. Andere exegetische Methoden werden entsprechend abqualifiziert oder nur insofern geduldet, als man sogenannte Pietisten oder Evangelikale, die Kritik an der Alleinstellung historisch-kritischer Arbeitsweise üben, aus pragmatischen Gründen einbinden und nicht verlieren will, weil sie den Kern der Kirchentreuen, die Basis der Gemeinden bilden.
Zwei Stellungnahmen zur historisch-kritischen Arbeit seien an den Anfang gestellt. Beide sind ihr gegenüber skeptisch, jedoch verschiedener Ansicht darüber, in wieweit man sich auf sie einlassen soll.
Eta Linnemann (1926-2009), Professorin, die zunächst mit historisch-kritischen Arbeiten im Rahmen der Bultmann-Schule ausgewiesen war und später zum persönlichen Glauben an Jesus Christus fand, warnt eindrücklich: »Diese Zeilen sind nicht geschrieben, Menschen zu verurteilen, für die unser Herr Jesus ans Kreuz gegangen ist. Vielmehr soll das System der historisch-kritischen Theologie in seiner Gefährlichkeit gekennzeichnet werden, so, wie man auf eine Giftflasche ein entsprechendes Etikett aufklebt, damit niemand aus Versehen daraus trinkt und meint, er würde sich damit Gutes einverleiben.« – Es geht ihr darum, zu warnen und zu meiden.
Demgegenüber äußerte sich Karl Barth (1886-1968) so: »Eines der besten Mittel gegen die liberale oder sonstwie üble Theologie besteht darin, sie eimerweise zu sich zu nehmen. Wogegen alle Versuche, sie dem Menschen künstlich oder zwangsweise vorzuenthalten, ihn nur veranlassen können, ihr in einer Art von Verfolgungswahn erst recht zu verfallen.« – Es geht ihm also darum, möglichst viel davon zu sich zu nehmen.
Was nun? – Ich denke, beide Aussagen sind insofern richtig, als sie von den verschiedenen Lebensläufen her zu erklären sind. Eta Linnemann spricht aus ihrer persönlichen Erfahrung, Karl Barths Aussage resultiert aus seinem ganz anderen Lebensweg.
Für mich als theologischem Lehrer hat das immer bedeutet, meine Studenten gründlich mit der historisch-kritischen Arbeit bekannt zu machen und insoweit Karl Barth rechtzugeben. Dies Bekanntmachen geschah allerdings in kritischer Weise, indem ich von vornherein aufzeigte, an welchen Stellen wissenschaftstheoretische und weltanschauliche Weichenstellungen geschehen. Insofern bekam Eta Linnemann recht. – Ich sagte meinen Studenten dem Sinne nach: »Ihr müsst Bescheid wissen, ihr müsst auf der Höhe der Diskussion argumentationsfähig sein. Doch Wissenschaft wird nur in der Weise richtig betrieben, dass Hypothesen als Hypothesen gekennzeichnet werden, die in laufenden Verfahren zu überprüfen sind. Wissenschaftliche Arbeitsweisen sind jedoch kein Glaubensgegenstand. Revidierbare Erkenntnisse dürfen nicht als unumstößliche wissenschaftliche Ergebnisse ausgegeben werden, die fraglos zu akzeptieren sind.«
Ein Weiteres tritt hinzu: Der Begriff »historische Kritik« enthält ja zwei Stichwörter, erstens das Historische, zweitens das kritische Denken. Es gilt aufzuschlüsseln. Erstens: Was wird unter »historisch« verstanden? Zweitens: An welchen Maßstäben misst sich »Kritik«? Und da in der Wissenschaft eine Forschungsmethode dem Forschungsgegenstand angemessen sein muss, ist es durchaus richtig, die Bibel auf geschichtliche Zusammenhänge hin zu befragen. Nicht zufällig reden wir von »biblischer Geschichte«. Weil wir wissen, dass die Bibel Gottes Offenbarung in der Geschichte bezeugt, dürfen wir keinesfalls die geschichtlichen Fragen abweisen. – Umgekehrt gibt es ja auch Versuche, auf historischem Weg die Wahrheit der Bibel und ihre Gültigkeit für uns zu beweisen; klassisch bei Werner Keller in seinem Buch »Und die Bibel hat doch recht! Forscher beweisen die historische Wahrheit.«
Als Theologiestudenten lernten wir freilich im Rahmen der existentialen Interpretation, dies Buch gründlich zu verachten, weil die »bloße« Historie nichts zur Wahrheit der Bibel beitragen könne. Doch auch das ist falsch. Warum sollten wir uns nicht darüber freuen, wenn historische Angaben der Bibel z. B. auf archäologischem Wege als korrekt erwiesen werden? Glaube im tieferen Sinne entsteht auf diesem Wege allerdings nicht. Denn für-wahr-halten ist nicht glauben im biblischen Sinne. Doch es ist umgekehrt keineswegs sinnvoll, den Zugang zum Glauben durch unnötige Zweifel an der biblischen Zuverlässigkeit zu erschweren.
1. Zur Geschichte der historisch-kritischen Forschung – oder: Was heißt hier »kritisch«?
Auch bezüglich der Frage, was »historisch-kritisch« genau bedeutet, wird zu wenig differenziert. Der Begriff hat sich eingebürgert und wird vielfach plakativ als Gegensatz zu einem »fundamentalistischen« Bibelverständnis verwendet. Dies ist jedoch ein Kurzschluss. Historische Bibelforschung (z. B. bei Werner Keller) ist nicht dasselbe wie historisch-kritische Arbeit. Und wer die Gültigkeit der historischen Kritik hinterfragt, ist deshalb noch lange kein Fundamentalist!
Es gibt Versuche, die historische Kritik an der Bibel bis auf die Reformation zurückzuführen. In der Tat hat Martin Luther (1483-1546) im Unterschied zur mittelalterlichen Lehre vom »vierfachen Schriftsinn« alles Gewicht auf den wörtlichen Sinn gelegt, um Spekulationen, insbesondere über den »allegorischen Sinn«, zurückzuweisen, weil auf diesem Wege alles Mögliche aus der Bibel herausgelesen – besser gesagt – hineininterpretiert werden kann, was gar nicht dasteht.
Durch Allegorisieren wird die Bibel unsicher, und es tritt ein, was die scholastischen Theologen sagten: »Die Bibel hat eine wächserne Nase, man kann sie drehen, wohin man will.« Durch Allegorisieren wurde z. B. aus Lk 22,38, wo Petrus zu Jesus auf dem Weg nach Gethsemane sagt, »hier sind zwei Schwerter«, die mittelalterliche Zwei-Schwerter-Theorie abgeleitet, wonach der Papst das eine Schwert führt, während das zweite Schwert dem Kaiser zusteht. – Luther hingegen war von der claritas scripturae (Klarheit der Schrift) überzeugt. Sie enthält nicht verborgenes Geheimwissen. Vielmehr laufen alle biblischen Bücher, beginnend beim Alten Testament, auf die Botschaft von der Versöhnung in Christus zu. Von dieser »Mitte der Schrift« aus lässt sich alles Weitere aufschlüsseln.
Geheimniskrämerei ist nicht nur unnötig, sondern schädlich. Sonst stellen sich andere Autoritäten über die Bibel und behaupten, diese Geheimnisse zu entschlüsseln. So geschieht es z. B. im Schwärmertum und dort, wo die Tradition als maßgeblicher Schlüssel zum rechten Bibelverständnis gilt. Deshalb ist schlicht und einfach zu erforschen: „Was steht da?“ – und eben das ist der wörtliche Sinn. Dieser wörtliche Sinn ist das Fundament aller Auslegung.
Als wichtigstes Hilfsmittel, um den wörtlichen Sinn zu erschließen, dienen die Sprachen. Deshalb war die Reformation so eng mit der humanistischen Bewegung verbunden, die, was die Sprachkenntnisse und Sprachforschung betraf, in Philipp Melanchthon (1497-1560) ein Glanzlicht hatte. Evangelische Theologen haben seither primär die Bibelsprachen Hebräisch und Griechisch zu lernen; erst in zweiter Linie das Lateinische als dogmatische Kirchensprache.
Die grundlegende Frage nach dem wörtlichen Schriftsinn ist später von der historisch-kritischen Forschung mit aufgenommen worden. Aber deshalb darf man keineswegs die Reformation für die historische Kritik vereinnahmen. Das ist eine Irreführung! Die Reformatoren gingen nämlich von der Klarheit und dem Vertrauen auf die Bibel aus, während in der historisch-kritischen Arbeit prinzipiell Unklarheit und Ungenauigkeit der Bibel vorausgesetzt werden, wie nun aufzuzeigen ist.
Man kann den Beginn der historisch-kritischen Arbeit mit Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) ansetzen. Jedenfalls lässt Albert Schweitzer (1875-1965) seine „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ mit dieser Gestalt beginnen (ursprünglicher Titel der Erstauflage: „Von Reimarus zu Wrede«, 1906).
Reimarus war ein Kind der Aufklärungszeit. Als er geboren wurde, lag der 30-jährige Krieg noch keine fünfzig Jahre zurück. Religiöse Auseinandersetzungen, die zu schrecklichen Kriegen führen können, galten als überholt. Jenseits aller Religionen, Konfessionen und divergierenden Dogmen proklamierte man einen allgemeinen menschlichen Vernunftglauben. In diesem Sinne verfasste Reimarus eine „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“, die allerdings erst nach seinem Tode von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) herausgegeben wurde. Aus rationalistischen Gründen lehnte Reimarus die Realität von Wundern (außer dem Urwunder der Schöpfung) ab. Jesus, so Reimarus, habe ein weltliches Reich errichten wollen und sei damit gescheitert. Aus dieser Verlegenheit heraus hätten die Jünger die Mythen von Auferstehung und Himmelfahrt erfunden und das „apostolische System von Jesus als geistlichem Erlöser“ entwickelt.
Als die Reimarus leitenden Ideen lassen sich festhalten: Rationalismus im Sinne der sich entwickelnden Naturwissenschaften. Die Naturgesetze gelten als undurchbrechbar und sind mit der menschlichen Vernunft als einer Gottesgabe voll zu erkennen. In derselben Weise gibt es eine vernünftige Religion, die jenseits der nur spaltenden Dogmen alle gutmeinenden Gottesverehrer eint, indem diese den Lehren von hohen sittlichen Pflichten und Tugenden folgen.
Wir halten folgende Motive für Bibelkritik fest, die sich bereits bei Reimarus zeigen: Kirchenkritik. In den Kirchen und in unvernünftigen Religionsformen werden Dogmen vertreten, die nur zu Spaltungen bis hin zu Kriegen führen.
Dogmenkritik. Die Dogmen sind irrational und beruhen auf supranaturalen Spekulationen und Mythen. Sie sind nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich.
Bibelkritik. Die Bibel ist, insbesondere im Alten Testament, mit unmoralischen Geschichten durchsetzt, und ihre historischen Berichte sind durch unvernünftige Mythen und Wunder verfälscht. Man kann aber diese unreinen Schlacken durch sorgfältiges Prüfen herausfiltern und beseitigen. Wenn man das tut, stößt man in der Bibel durchaus noch auf „echtes Gold“ und „heilsame Arzenei“.
Positiv. Es gibt eine alle vernünftigen Menschen verbindende gottgläubige Moralreligion, die die Gutwilligen friedlich vereint und zum Fortschritt der Menschheit führt.
Damit sind bei Reimarus bereits alle Argumente vereint, die sich in der Gegenwart bei den neuen Atheisten, wie z. B. Richard Dawkins, wiederfinden – mit Ausnahme dessen, dass Reimarus noch an einem allgemeinen Schöpfergott festhielt, den Dawkins durch den Glauben an die Selbstschöpfung durch Evolution ersetzt – und dass Reimarus noch an der Bibel als einem im Grunde guten Buch mit „echtem Gold“ festhält, nachdem sie durch Vernunft gereinigt wurde, während Dawkins die Bibel grundsätzlich verwirft.
War die erste Epoche der historisch-kritischen Arbeit an der Bibel von der Frage „natürlich oder übernatürlich?“ geleitet und stand hier der Gottesbegriff im Mittelpunkt, so geht es in einer zweiten Epoche um die Frage „Wer war Jesus wirklich?“ Diese Frage war zwar schon durch Reimarus angestoßen worden, doch nun wurde genauer untersucht: Wenn die Evangelien erst nach Jesus von seinen Jüngern oder späteren Anhängern verfasst wurden, so muss man herausfinden einerseits, was Jesus selbst gesagt und gemeint hat, andererseits, was seine Jünger daraus gemacht haben; in der Fachsprache: Es geht um den Unterschied zwischen historischem Jesus und verkündigtem Christus.
Die Zäsur setzt Ostern. Methodisch wird also zwischen Leben und Werk Jesu vor der Auferstehung und der Verkündigung des Heils in Christus nach der Auferstehung getrennt. Die Auferstehung selbst bleibt dabei der Dreh- und Angelpunkt. Da sie aber aufs Äußerste wunderhaft ist, wurde sie aus der Forschung über den historischen Jesus (nicht aus der Jesusforschung) herausgenommen und den sogenannten Mythen über den verkündigten Christus zugerechnet.
Mit der Frage nach dem historischen Jesus kam die Evangelienfrage in den Blick. Warum schildert der Evangelist Johannes Jesus so anders als z. B. Markus? – Antwort: Während bei Markus die Messianität Jesu im Leiden verborgen ist, geht nach dem Johannesevangelium Jesus schon in seinem Erdenleben als der erhöhte Gottessohn durch die Welt. Nach Markus ruft Jesus am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34); nach Johannes spricht er hoheitsvoll: „Es ist vollbracht“ (Joh 19,30). Folglich, so das Resultat, betont Markus mehr die vorösterliche, Johannes mehr die nachösterliche Sicht auf Jesus. Alle Evangelien sind aber nach Ostern entstanden, daher, so die These, haben sie alle, auch Markus, den historischen Jesus dogmatisch übermalt.
Diese Phase der Forschung fand nach Darstellung Albert Schweitzers ihren Abschluss mit dem „Leben Jesu“ (1835) von David Friedrich Strauß (1808-1874). Strauß vertrat in diesem Buch die radikale These, die gesamte Evangelienüberlieferung sei ungeschichtlich. Nicht ein historisches Geschehen sei mythisch übermalt worden, sondern viel radikaler meint Strauß, einem Mythos sei das Gewand der Historie übergeworfen worden. Alles, was historisch berichtet wird, gilt damit als sekundär. In gar keiner Weise ist den biblischen Berichten über Jesus historisch zu vertrauen. Übrig bleibt vom Neuen Testament die „Idee der Gottmenschheit“, das ist die Vereinigung des menschlichen Wesens mit dem göttlichen. Während Strauß also alles Übernatürliche als mythologisch ablehnt, will er die Bedeutung der Bibel dadurch retten, dass er das Historische für unwesentlich erklärt. Deshalb kann die Bibelkritik, und sei sie noch so radikal, die christliche Wahrheit nicht ungültig machen.
Hier liegt der Anknüpfungspunkt für Rudolf Bultmann (1884-1976), der ebenfalls davon ausgeht, dass wir vom historischen Jesus eigentlich nichts wissen können. Im Unterschied zu Strauß geht Bultmann dann aber – um die Bedeutung der Bibel festzuhalten – nicht wie Strauß zum Gottmenschentum über, sondern zur existentialen Interpretation. Die Kontinuität zwischen den Texten des Neuen Testaments und ihrer Auslegung in der Moderne liegt demnach in einem spezifischen menschlichen Selbstverständnis.
Wir sehen, dass bei den maßgebenden Vertretern der historisch-kritischen Bibelexegese das Motiv mitläuft, zu retten, was zu retten ist. Bösartigkeit darf ihnen keinesfalls unterstellt werden. Sie scheinen fast erschrocken zu sein über die Ergebnisse ihrer historisch-kritischen Arbeit, zugleich aber halten sie diesen Ansatz samt seinen Voraussetzungen für wissenschaftlich unverzichtbar und wollen ihn „um der Redlichkeit willen“ nicht aufgeben.
Bultmann und seine Schüler gehören insofern nicht zur Geschichte der historisch-kritischen Exegese der Bibel, als sie diese Arbeitsweise nicht mehr substantiell weiterentwickeln und deren Prinzipien nicht mehr in Frage stellen, sondern dass sie diese als selbstverständliches Paradigma für alle wissenschaftliche Exegese voraussetzen.
Auf dieser Basis wird nun allerdings Weiteres aufgebaut. Neben der existentialen Interpretation Bultmanns gibt es heute noch andere Ansätze wie: Politische Theologie, Feministische Exegese, ursprungsgeschichtliche Auslegung, tiefenpsychologische Exegese, materialistische Auslegung usw. Sie alle gehen nicht hinter die historisch-kritische Arbeit zurück, sondern modifizieren nur deren Ergebnisse daraufhin, welche verbleibenden Impulse der Bibel sie im Sinne ihrer jeweiligen Eigeninteressen für wichtig halten.
2. Zur Systematik historisch-kritischer Arbeit an der Bibel (oder: Was heißt hier „historisch“?)
Wir haben bisher gesehen, dass Wunder und alles, was den Anschein des Übernatürlichen hat, im Rahmen historisch-kritischer Arbeit als „unhistorisch“ abgelehnt wird. Dahinter steht ein bestimmter Vernunftbegriff, eine bestimmte Wirklichkeitssicht und ein Wissenschaftsverständnis, das von der Undurchbrechbarkeit stetiger Naturgesetze ausgeht. Das alles führt zu einem spezifischen Geschichtsverständnis.
Wie kommt es zu diesem Geschichtsverständnis? Die Antwort auf diese Frage hat Ernst Troeltsch (1865-1923) in dankenswerter Klarheit gegeben. In seinem Aufsatz „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ von 1898 wandte er sich gegen die dogmatisch-positiv denkenden Theologen seiner Zeit und warf ihnen vor, nicht wirklich geschichtlich zu denken. Für die wissenschaftliche Geschichtsforschung nannte er drei Prinzipien: Kritik, Analogie und Korrelation. Diese Prinzipien gelten nach Troeltsch für alle Wissenschaften, haben aber zugleich nach seiner Ansicht jeweils eine antidogmatische Spitze. Dogmatisch-positiv denkende Theologen, die noch an Wunder usw. glauben, werden keine Zukunft mehr haben, meint Troeltsch. Denn: „Die historische Methode (im Sinne von Troeltsch), einmal auf die biblische Wissenschaft und auf die Kirchengeschichte angewandt, ist ein Sauerteig, der alles verwandelt und der schließlich die ganze bisherige Form theologischer Methoden zersprengt.“
Die drei Prinzipien und ihre antidogmatischen Folgerungen bedeuten im Einzelnen:
Kritik: Es gibt in der Geschichtsforschung nur Wahrscheinlichkeitsurteile. Wir sind auf Quellen angewiesen und müssen deren Zuverlässigkeit prüfen.
Die antidogmatische Folgerung lautet: Auch im Blick auf die biblische Überlieferung (z. B. im Blick auf die Frage, wer Jesus war, was er getan und gelehrt hat) gibt es nur Wahrscheinlichkeiten. Es gibt folglich keine eindeutige Offenbarung Gottes in der Geschichte, in diesem Sinne auch keine (Heils-)Gewissheit
Analogie: Allem historischen Geschehen liegt ein Kern von Gleichartigkeit zugrunde. Anders gesagt: Wir können nur nach solchen (Natur-)Gesetzen geschichtlich zurückblicke! und urteilen, die auch heute gültig sind. Denn Naturgesetze gelten zeitlos und sind ja undurchbrechbar.
Die antidogmatische Folgerung lautet: Es gibt keine analogielosen Ereignisse. Was heute unmöglich ist, war auch früher unmöglich. Wenn z. B. heutzutage keine Toten auferstehen, kann sich das früher ebenfalls nicht ereignet haben. Die Auferstehung Jesu Christi ist deshalb keine geschichtliche Tatsache.
Korrelation: Alles Geschehen im Kosmos läuft in einer Kette von Ursache und Wirkung ab; keine Ursache ohne Wirkung, keine Wirkung ohne entsprechende Ursache.
Die antidogmatische Folgerung daraus lautet: Es gibt keine direkte Einwirkung Gottes auf innerweltliche Zusammenhänge. Alle Ereignisse, von denen die Bibel berichtet, stehen ebenfalls in einer innerweltlichen Kette von Ursache und Wirkung, die erforscht werden kann. So z.B. entstanden Christentum und Kirche nicht durch Einwirkung des Heiligen Geistes zu Pfingsten, sondern ihre Entstehungsgeschichte muss im Rahmen religionsgeschichtlicher Zusammenhänge erschlossen und erklärt werden.
Diese Troeltschen Kriterien als Voraussetzung aller theologisch-wissenschaftlichen Forschungsarbeit sind von den maßgeblichen Vertretern historisch-kritischer Arbeit an der Bibel bis heute nicht modifiziert, geschweige denn widerrufen worden. Es handelt sich jedoch um ein völlig veraltetes Wissenschaftsparadigma, das aus den Prinzipien der vormodernen Naturwissenschaft stammt und durch die Lehren der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts repräsentiert wird. Von dort wurde es auf die Geschichtsforschung übertragen.
Dem folgen heute keineswegs alle Historiker und die Naturwissenschaftler schon gar nicht mehr. Die moderne Naturwissenschaft kann und darf zwar Gott nicht als Arbeitshypothese voraussetzen, sie kann und darf aber ebensowenig die Realität Gottes und sein geschichtsmächtiges Handeln prinzipiell bestreiten. Und tatsächlich kann und will moderne Naturwissenschaft weder positiv noch negativ Erkenntnisse über Gott vermitteln.
Der Physiker Pascual Jordan (1902-1980), der mit Max Born zusammen an der Erforschung der Quantenmechanik beteiligt war, schrieb über Bultmanns Verhaftetsein an den von Troeltsch genannten Wissenschaftskriterien und dem daraus folgenden Wissenschaftsverständnis:
„So liegt etwa den gesamten Bestrebungen Bultmanns die unabänderliche Überzeugung zugrunde, die Naturwissenschaft von heute sei noch immer stehen geblieben, wo sie vor hundert Jahren stand, und die naturwissenschaftlichen Irrtümer des vorigen Jahrhunderts müssten heute von der Theologie mit tiefem Respekt als unumstößliche, der Theologie übergeordnete Wahrheit anerkannt werden.“
Der Umbruch im Wissenschaftsverständnis der Physik begann Anfang des 20. Jahrhunderts mit Forschungen im Rahmen der Kernphysik. Das Fazit lautet: Die moderne Naturwissenschaft beweist nicht, dass es Gott nicht gibt („doppelte Verneinung“ / Pascual Jordan), sie anerkennt „offene Spielräume“, weil die Kausalketten zwar gelten, aber insbesondere im Mikrokosmos nicht in allen Bedingungen fassbar sind (und zwar grundsätzlich nicht: z.B. sind Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons nicht gleichzeitig bestimmbar: „Unschärferelation“). Schließlich ist „gehorchender Zufall“ denkbar, dass nämlich einmalige Entscheidungen Prozesse in Gang setzen, die später als zufällig erscheinen (Heisenberg).
Das alles ist kein Gottesbeweis, sperrt aber die Theologie, wenn sie wissenschaftlich arbeiten will, nicht mehr in den Käfig des vormodernen Wissenschaftsverständnisses aus dem 19. Jahrhundert ein.
Kurz: Die sogenannte „moderne Theologie“ ist in Wirklichkeit völlig veraltet, weil sie sich einem vormodernen Wissenschaftsverständnis verschrieben hat. Ihre sogenannten Forschungsergebnisse sind vielfach keine Ergebnisse von Forschungen, sondern Niederschlag ihrer weltanschaulichen Voraussetzungen. So ist z.B. die These, die Auferweckung Jesu Christi durch Gott sei kein geschichtliches Ereignis, keineswegs ein zwingendes Ergebnis der Quellenforschung, sondern eine Feststellung a priori aufgrund der von Troeltsch genannten Kriterien für das, was als historisch gelten kann und was nicht.
War nun alles vergeblich und sinnlos, was in Jahrhunderten historisch-kritischer Arbeit an der Bibel erforscht wurde?
3. Ergebnis und Ausblick
Sofern es nicht um Glaubensfragen und Wunder geht, haben Jahrhunderte historisch-kritischer Arbeit an der Bibel zweifellos auch Ergebnisse gebracht, die zu beachten und erkenntnisfördernd sind.
Das betrifft zunächst den Grundsatz, dass die Bibel ein geschichtliches Buch ist und geschichtlich gelesen sein will. Dies widerspricht nicht dem Gedanken von der Heilsgeschichte Gottes mit Mensch und Welt, sondern fördert ihn, obwohl die historische Kritik selbst nicht heilsgeschichtlich denkt. Darüber hinaus erbrachte die historische Kritik viele Einzelerkenntnisse auf philologischem, historischem und religionsgeschichtlichem Gebiet. In ihrem Rahmen wurden folgende Methoden weiter- oder neu entwickelt, die zum Standard-Handwerkszeug exegetisch arbeitender Theologen gehören.
Textkritik: Hier werden die verschiedenen antiken Handschriftenfunde der biblischen Textüberlieferung untersucht, um den Bibeltext in der Ursprungssprache so darzustellen, wie er wahrscheinlich erstmals aufgeschrieben wurde (Vergleich von Textvarianten und Ausmerzung von – meist kleinen – Abschreibfehlern in Handschriften). Die Textkritik begann schon vor der historisch-kritischen Arbeit an der Bibel und wurde insbesondere von Theologen betrieben, die die Autorität der Bibel anerkennen und denen der wörtliche Schriftsinn wichtig ist. Die Pioniere gehören oft in den pietistischen Zusammenhang und finden sich in Erweckungskreisen. Als besonders wichtige Namen sind hier zu erwähnen: Johann Albrecht Bengel (1687-1752), der erstmals bestimmte Textgruppen und Überlieferungsstränge zusammenstellte; Konstantin von Tischendorf (1815-1874), der den Codex Sinaiticus auffand und vor der Vernichtung rettete, sowie Eberhard Nestle (1851-1913), der 1898 im Rahmen der Württembergischen Bibelanstalt erstmals das Griechische Neue Testament mit kritischem Apparat herausgab.
Literarkritik: In der Literarkritik werden alle biblischen Schriften bis in den Halbvers hinein analysiert. Daraus ergibt sich die Quellenscheidung. Impulsgebend war die Auffassung von Julius Wellhausen (1844-1918), dass den Mosebüchern verschiedene Quellen zugrunde liegen. In der Bibel selbst werden z.T. die Quellen genannt, so z.B. ausgiebig in den Königsbüchern. Die Literarkritik lehrt, die Texte ernst zu nehmen und genau hinzusehen. Ihre Grenze besteht darin, dass die Thesen über Autor(en) und Entstehungszeit der jeweiligen Quelle oft überzogen sind und ins Hypothetische führen, so wenn z.B. die Texte des Neuen Testaments weitestgehend als nachapostolische Gemeindebildung deklariert werden.
Formgeschichte: Die Formgeschichte analysiert die Gattungen der Texte (Gleichnis, Gebet, Wundererzählung, Geschichtsbericht, Lied, prophetischer Spruch usw.). Sie greift bis auf die Zeit der mündlichen Überlieferung, also vor die Verschriftlichung, zurück. Dabei fragt sie nach dem Sitz im Leben der einzelnen Gattungen. Wer oder welche Gruppe hat den Text überliefert und warum? – Die formgeschichtliche Forschung ist insbesondere mit dem Namen Hermann Gunkel (1862-1932) verbunden. Ihre Grenze besteht darin, dass manchmal ins Gebiet von Spekulationen vorgedrungen wird. So führte Gunkel zur Erklärung der Genesis den Begriff der „Sage“ ein, den er aus der nordgermanischen Sagenforschung bezogen hatte und sich primär auf die mündliche Überlieferung bezieht. Gunkel berücksichtigte zu wenig, dass im Alten Orient Texte viel früher verschriftlicht wurden als in Nordeuropa.
Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte: Der jüngste Zweig in der exegetischen Methodik ist die Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte. Sie will den Prozess der Entstehung eines Textes rekonstruieren von der mündlichen Stufe über eventuelle schriftliche Quellen und deren Überlieferung bis hin zur Form der Niederschrift, wie wir sie im heutigen Urtext der Bibel finden. Falls Quellen verarbeitet wurden, wird von einer „Redaktion“ gesprochen. Das Verfahren setzt die vorher genannten Methoden voraus und ist auf deren Teilergebnisse angewiesen. Wegen dieser Abhängigkeit und Komplexität bleibt manches offen.
Zusammenfassend halten wir fest, dass die exegetischen Methoden, die im Rahmen der historisch-kritischen Arbeit an der Bibel gebraucht werden, teilweise grundlegend für Theologie und Glaube sind wie die Textforschung („Textkritik“), andererseits für das rechte Verständnis unbedingt erforderlich wie die Gattungsunterscheidungen. Wieder anderes kann manchmal erhellend sein, bleibt aber oft hypothetisch wie die Quellenscheidung. Weitgehend spekulativ arbeiten Formgeschichte, Überlieferungsgeschichte und Redaktionsgeschichte.
Deutlich haftet den genannten Arbeitsweisen etwas Technisch-Formales an: Von der notwendigen Textforschung („Textkritik“) als Grundlage, weiter über die Literarkritik und Formgeschichte, wird ein biblischer Abschnitt rückwärts in seine Einzelteile zerlegt; mit Hilfe der Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte wird er vorwärts wieder zu einem Ganzen zusammengefügt. Das ist der typische Vorgang moderner Technik, bei dem Natur zerlegt wird, um die Einzelteile für den menschlichen Gebrauch zu frei bleibenden Zwecken neu zusammenzufügen.
Deshalb ist es wichtig, die begrenzte Bedeutung der historisch-kritischen Arbeit zu sehen, sie aber nicht absolut zu setzen. Es ist eine irreführende Verleumdung, diejenigen, die den Absolutheitsanspruch der historisch-kritischen Arbeitsweise bestreiten und auf ihre Grenzen hinweisen, als „Fundamentalisten“ zu verschreien. Entscheidend ist, dass festgehalten wird: Bei den biblischen Texten handelt es sich um Zeugnisse vom Handeln Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zur Dimension des geschichtsmächtigen Handelns Gottes hat die historisch-kritische Arbeitsweise aufgrund ihrer selbstgewählten Voraussetzungen jedoch keinen Zugang. Kritischer müssten deshalb die Historisch-Kritischen sein, kritischer gegen ihre eigenen Voraussetzungen!
Aus diesen Gründen sollte man besser – um die weltanschaulichen Engführungen der historisch-kritischen Arbeit zu meiden – historisch-theologische oder biblisch-historische Forschung betreiben. Es geht dabei um eine veränderte Haltung gegenüber der Bibel. Statt dem biblischen Zeugnis mit grundsätzlichem Misstrauen zu begegnen, ist ihm grundsätzlich zu vertrauen|. Der Text und seine Botschaft werden ernst genommen. Das heißt im einzelnen: Es gibt echte Prophetie, Gott handelt wirklich in den Geschichte, er schreibt seine Heilsgeschichte fort von der Schöpfung bis zur Wiederkunft Jesu Christi und der Neuschöpfung des Himmels und der Erde. Deshalb ist der Gott des Alten Testaments derselbe Gott wie der Gott des Neuen Testaments, nämlich der Gott und Vater Jesu Christi.
Das ernsthafte Ringen der Schulhäupter historisch-kritischer Arbeit an der Bibel soll nicht in Zweifel gezogen werden. Bei aller heutigen Kritik an ihren Forschungsvoraussetzungen waren es durchweg solide Wissenschaftler. Aber leider war ihre geschichtliche Wirkung negativer als sie selbst. Denn in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Geltung der Bibel in der Kirche scheint von der gesamten historisch-kritischen Arbeit nicht viel mehr übrig geblieben zu sein als der Grundsatz, dass man es mit der Geltung der Bibel nicht so genau nehmen muss, so dass man manchmal seufzen möchte: „Wenn sie doch wenigstens solide historisch-kritisch arbeiten und argumentieren würden!“ Stattdessen werden die Stellen, die nicht in die herrschende Anschauung passen oder als unangenehm und persönlich herausfordernd empfunden werden, als „zeitbedingt“ abgetan. Im übrigen wird ins Blaue hinein phantasiert, was im Unterschied zum Geschriebenen „eigentlich gemeint“ sei. Heraus kommt ein Aufguss von zeitgeistabhängigen Belanglosigkeiten, die man meist besser bei Parteien, Sozialverbänden oder in den politischen Nachrichten findet. Eine Kirche, in der solches geschieht, macht sich selbst überflüssig, auch dann, wenn sie vorübergehend noch auf der Welle des Zeitgeist-Wohlwollens mitschwimmt.
Doch Kirche ist nur da, wo lebendige Gemeinde – auch gegen Widerstände – Jesus Christus als ihren HERRN und Heiland bekennt. (Was durchaus soziale und politische Folgen hat; aber als Folge, nicht als maßgebliche Grundlage!). Allein die Bibel hat stets die maßgebende Grundlage zu bleiben!
Johann Albrecht Bengel stellte im Blick auf die Geschichte der Kirche fest: „Wenn die Kirche wacker ist, so glänzt in ihr die Heilige Schrift; wenn die Kirche kränkelt, so liegt die Schrift danieder.“
Martin Luther war einer der größten Bibeltheologen der Kirchengeschichte. Seine Lebenserkenntnis, niedergeschrieben am 16. Februar 1546, nach seinem Tod am 18. Februar auf seinem Tisch aufgefunden, lautet:
„Die Heilige Schrift meine niemand hinreichend verstanden zu haben, er habe denn hundert Jahre lang mit den Propheten die Gemeinden regiert. Du lege nicht die Hand an diese göttliche Aeneis, sondern tief anbetend gehe ihren Fußstapfen nach. Wir sind Bettler. Das ist wahr.“
Entnommen der Zeitschrift DIAKRISIS, 1/2015. Die Hervorhebungen im Text wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Mai 2015
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