Hilfe für Gemütskranke (A.Lechler)

Alfred Lechler


Hilfe für Gemütskranke

 

– Eingestellt von Horst Koch. Auch viele Hervorhebungen im Text sind von mir. Im Februar 2024 –

Inhalt:



1.   Depressionen als Folge körperlicher Erkrankungen

2.   Depressionen als Folge schwerer Erlebnisse
3.   Der Gemütsdruck der Psychopathen

4.   Die schwermütige Veranlagung – Depressionen ohne erkennbare Ursachen

5.   Die Schwermut (Melancholie)

6.   Die manische (leichtmütige) Veranlagung

7.   Die Manie

8.   Die wechselmütige Veranlagung

9.   Die manisch – depressive Gemütsstörung

10. Gemütskrankheiten und Ehe

11. Die Voraussetzungen der Seelsorge

Einleitung
Depressionen sind eine außerordentlich häufige Erscheinung. Immer wieder kommen Arzt und Seelsorger mit Menschen zusammen, die unter mehr oder weniger starken Depressionen leiden. Die heutige Zeit mit ihren Nöten und Schwierigkeiten auf allen Lebensgebieten, die Hoffnungslosigkeit, in der zahlreiche Menschen dahinleben, ist in besonderem Maße dazu angetan, Schwermutszustände jeder Art und jeden Grades hervorzurufen, die nach einer Behandlung schreien. Aber diese ist erheblich erschwert, weil sich gerade der depressive Mensch besonders leicht von seiner Umgebung zurückzieht. Er ist der Ansicht, er gehöre nicht in die Gemeinschaft, und hat nicht den Mut, sich auszusprechen. Er wagt oft nicht einmal, seinen Angehörigen etwas von seiner Not zu sagen, weil er fürchtet, von ihnen nicht verstanden zu werden.
Und doch hat selbst der Schwermütige, der in gesunden Tagen wenig Neigung zur Aussprache hat, ein lebhaftes Bedürfnis danach. Empfindet schon der gesunde Mensch ein Verlangen nach Freude, so ist der Depressive in noch viel stärkerem Maße davon erfüllt.
Diese bedauernswerten Menschen hungern nach Mitgefühl und geduldiger Teilnahme. Denn ihr Leiden ist wesentlich schwerer zu tragen als ein körperliches.

Aus diesen Gründen fällt neben der körperlichen Behandlung der seelsorgerlichen Betreuung des Kranken eine ungemein wichtige Aufgabe zu. Deshalb brauchen wir Menschen, die nicht nur an sich selbst denken und an dem Leid ihrer Mitmenschen achtlos vorübergehen, die die Last des anderen auf ihre eigenen Schultern nehmen und bereit sind, mitzutragen und beizustehen.

Findet der Depressive Menschen, die sich seiner annehmen, wird er sich ihnen öffnen, und er wird die helfende Hand mit Freuden ergreifen. Wenn er verständnisvoll Beruhigung, Trost und Aufmunterung erfährt, wenn sein Wille gestärkt und seine äußere Lebensführung geordnet wird, kann sich in vielen Fällen sehr rasch die alte Zuversicht und positive Lebenshaltung einstellen.

Die wahre Genesung erfolgt aber erst dann, wenn der Schwermütige mit dem lebendigen Gott rechnen lernt. Erfahrungsgemäß hat eine große Zahl von Depressionen ihre Ursache letzten Endes in Sünde und Unglauben. Durch eine lebendige Verbindung mit Gott gelangt der Schwermütige zu innerer Befreiung. Fachgerechte Seelsorge erweist sich darin, daß sie dem Hilfsbedürftigen zu einer echten Beziehung zu Jesus Christus verhilft.

Um wirksam helfen zu können, muß der Zustand des Gemütskranken richtig erkannt werden. Darum setzt dieser Dienst eine gründliche Kenntnis der verschiedenen Krankheitsbilder voraus. Denn nur, wer die wahren Ursachen und krankhaften Äußerungen der einzelnen Gemütsleiden kennt, vermag zu helfen. Dabei ist auch nach dem Studium diese Buches vor einem vorschnellen Urteil zu warnen. Wer seelisch Kranken helfen will, braucht bestimmte Voraussetzungen, von denen die wichtigsten am Ende dieses Buches genannt werden. Der sachkundige Rat eines Arztes, der möglichst Christ sein sollte, darf dabei nicht unbeachtet gelassen werden.


1. Depressionen als Folge körperlicher Erkrankungen

Aufgrund der Einheit von Körper und Seele verursachen nicht selten körperliche Erkrankungen auch seelische Störungen. Sobald die Funktion der Körperorgane beeinträchtigt ist. wird oft auch das seelische befinden in Mitleidenschaft gezogen, und zwar um so mehr, je stärker die seelische Labilität des Kranken ist und je mehr er von der Schwere seines körperlichen Leidens überzeugt ist. So entwickeln sich oft erhebliche Depressionen, wobei die körperliche Erkrankung verhältnismäßig geringfügig sein kann.

Nicht selten beobachten wir so etwas bei nervöser Erschöpfung. Wenn durch körperliche oder geistige Überanstrengung, Schlaf- und Ernährungsmangel oder durch ein Zusammentreffen dieser Einflüsse die Körperkräfte aufgebraucht werden, kann sich die nervöse Erschöpfung in Niedergeschlagenheit und Reizbarkeit, in Antriebsschwäche, Schwindel, Kopfschmerzen, nervösen Herz- oder Magenbeschwerden oder Konzentrationsschwäche äußern.
Besonders häufig können solche Zustände bei Menschen beobachtet werden, die sich keine Erholung gönnen, die von ihre Arbeit aufgefressen werden.
Zu einer ausgesprochen seelischen Verstimmung kommt es jedoch erst, wenn mit der nervösen Erschöpfung starke Gemütserregungen verbunden sind.
Dies kann z.B. bei einer sehr verantwortungsvollen Tätigkeit, bei jahrelangen wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder nach schweren Operationen der Fall sein.
Auch bei Erkrankungen der Leben und der Gallenblase stellt sich nicht selten eine seelische Verstimmung ein, die mit innerer Unruhe, Reizbarkeit, Schuldgefühlen oder Gleichgültigkeit, mit Appetit- und Schlaflosigkeit verbunden ist. Ebenso können schwere Herzleiden und Störungen der Schilddrüsentätigkeit Depressionen hervorrufen.
Auch die Zeit der Schwangerschaft und danach bildet bei manchen Frauen einen Nährboden für seelische Verstimmungen. Ebenso leiden viele Frauen in den Tagen vor oder nach der Menstruation an mehr oder weniger starken Verstimmungen.
Besonders bekannt und verbreitet sind die Depressionen der Wechseljahre. Die Erkrankung fällt nicht immer mit dem Beginn der Wechseljahre zusammen, sondern kann schon einige Jahre vorher oder auch erst einige Zeit danach zur Entwicklung kommen und ein paar Jahre andauern. Damit verbunden sind allerlei körperliche Beschwerden wie Herzleiden, Hitzewallungen, Gliederzittern und Schweißausbrüche. Dieselben körperlich bedingten Verstimmungen können auch nach Unterleibsoperationen auftreten.


Aber auch beim männlichen Geschlecht finden wir bisweilen in den fünfziger Jahren oder anfangs der sechziger leichte Depressionen, die mit Gedächtnisschwäche, Nachlassen der Spannkraft, Launenhaftigkeit, Angstgefühlen, innerer Unruhe und Weinerlichkeit verbunden sind.

Im Alter sind Depressionen eine häufige Erscheinung, Verarmungsideen und Wahnvorstellungen, Mißtrauen der Welt gegenüber, Angst, Vergeßlichkeit, Urteilsschwäche und unruhiger Schlaf sind typische Begleiterscheinungen.
Der Kranke ist wehleidig, übertrieben ängstlich, voller unberechtigter Sorgen, und seine Klagen wiederholen sich ständig.

Es ist durchaus verständlich, daß körperliche Störungen auch beim Christen zu Depressionen führen können, die sein Glaube nicht zu überwinden vermag. Immer wieder kann beobachtet werden, daß selbst solche Menschen, die vor ihrer Erkrankung einen lebendigen Glauben hatten, träge und kraftlos werden.
 Diese Tatsache macht ihnen nicht wenig zu schaffen, da sie geneigt sind, sich selbst die Schuld an ihrer Glaubensschwäche zu geben.

Die körperliche Behandlung der Erkrankung ergibt sich aus der Art der Störung. Bei nervöser Erschöpfung ist ein völliges Ausspannen in einem Erholungsgebiet ratsam. Eine mehrwöchige Erholung wirkt oft Wunder. Die äußerer Ruhe, das Aufnehmen neuer, positiver Eindrücke, genügend Schlaf und gesunde Ernährung führen meist zu einer baldigen Besserung und Beseitigung nicht nur der körperlichen Beschwerden, sondern auch der Reizbarkeit und Niedergeschlagenheit.
Die durch Leber- Herz- und Schilddrüsenerkrankungen hervorgerufenen Depressionen müssen ärztlich behandelt werden. Wird das Grundleiden erkannt und sachgemäß behandelt, werden auch die seelischen Störungen abnehmen.
 Eine Behandlung durch den Arzt empfiehlt sich auch bei Depressionen in den Wechseljahren. So können z. B. Kneippanwendungen und Hormonpräparate den körperlichen und seelischen Zustand wesentlich verbessern.

Für den Seelsorger ergibt sich bei körperlich bedingten Gemütsverstimmungen eine klar vorgezeichnete Aufgabe. Er wird der ärztlichen Behandlung den ersten Platz einräumen und sich der Grenzen seelsorgerlicher Beeinflussung bewußt sein. Er wird sich davor hüten müssen, solche Zustände als Charakterschwäche, Mangel an Glauben oder als Strafe für begangene Sünden anzusehen. Er wird vielmehr versuchen, den Kranken aufzurichten und ihn positiv zu beeinflussen.

Der Kranke selbst muß die Überzeugung gewinnen, daß er sich trotz all seiner Beschwerden nicht um eine unheilbare seelische Erkrankung handelt, sondern, daß er von seinen Depressionen wieder frei werden wird. Auf diese Weise wird die seelische Veränderung, auch wenn sie sich länger hinziehen sollte, viel eher mit Geduld tragen und verkraften können. Und die seelsorgerliche Hilfe trägt wesentlich zur inneren Befreiung bei.
Bei schweren körperlich bedingter Depression in den Wechseljahren gelten für den Seelsorger dieselben Regeln, wie sie im Kapitel „Melancholie“ dargestellt werden.


2. Depressionen als Folge schwerer Erlebnisse
In zahlreichen Fällen liegt den Depressionen eine Gemütserschütterung zugrunde, die durch ein schweres Erlebnis verursacht ist. Darunter ist nicht einfach die Traurigkeit zu verstehen, unter der auch der seelisch gesunde Mensch leidet, wenn er ein schweres Erlebnis hat. Ein gesunder Mensch findet nach verhältnismäßig kurzer Zeit sein inneres Gleichgewicht wieder. Menschen mit einer ernsten Veranlagung kommen jedoch nicht so ohne weiteres über eine schwere Erschütterung hinweg; sie werden vielmehr von oft lang andauernden Depressionen geplagt.
Welche Erlebnisse können Depressionen hervorrufen? In erster Linie sind es schwere Schicksalsschläge, Krankheiten und Todesfälle, wirtschaftliche Nöte, Wohnungsprobleme, Arbeitslosigkeit, Vermögensverluste, außerdem Enttäuschungen, wie eine unglückliche Liebe, die Lösung einer Verlobung, Vereinsamung, Schwierigkeiten in der Familie und im Berufsleben, Sorgen aller Art und bevorstehende wichtige Entscheidungen, Kränkungen und ungestillter Ehrgeiz.
Häufig kann eine unglückliche Ehe schweren Gemütsdruck zur Folge haben. Dazu kommt die große Zahl der Schuldgefühle. Nicht wenige Depressionen haben ihren Ursprung im Bewußtsein des Menschen, eine schwere Schuld auf sich geladen zu haben. Sie treten besonders dann auf, wenn der Mensch sein schlechtes Gewissen vor anderen zu verbergen sucht.

Ein Beispiel hierfür gibt uns Psalm 32, in dem David bekennt: „Denn als ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein tägliches Klagen. Denn deine Hand lag Tag und Nacht schwer auf mir, daß mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird.“

Der hauptamtliche Mitarbeiter im Reich Gottes kann durch Überlastung, schwierige Seelsorge bei eigener geistlicher Labilität oder der Erkenntnis eigener Unfähigkeit und Sündhaftigkeit gemütskrank werden.
Als ein seelisches Erlebnis sind bei manchen Frauen auch die Wechseljahre anzusehen. Wir beobachten in dieser Zeit häufig Verstimmungszustände leichteren Grades, die nicht unmittelbar als Folge körperlicher Veränderungen entstehen, sondern durch die bewußtgewordene Erkenntnis, daß die Zeit der Mutterschaft vorbei ist. Zahlreiche Minderwertigkeitsgefühle, die ihren Grund in dem vermeintlichen Schwinden ihre äußeren Reize haben, befallen sie.
Viele Frauen sind beim Eintritt der Wechseljahre auch von der unbegründeten Angst erfüllt, es könnte sich in diesem Lebensabschnitt allerlei ernste Krankheiten einstellen. So finden sich neben der Gemütsverstimmung meist auch eine gesteigerte Reizbarkeit und starke Selbstbeobachtung.
Es sind häufig nervöse, empfindliche und stets auf ihre Gesundheit bedachte Naturen, die unter Depressionen zu leiden haben. Aber auch seelisch gesunde Frauen werden davon nicht immer verschont. Stellt sich die Frau jedoch einer Aufgabe, die sie erfüllt, verliert das Wort „Wechseljahre“ seinen deprimierenden Klang – Das Klimakterium wird zu einer Zeit des Neuanfangs.

Die Merkmale der durch schwere Erlebnisse hervorgerufenen Depressionen sind vielgestaltig; Konzentrationsschwäche, Vergeßlichkeit, Arbeitsunlust und völlige Gleichgültigkeit, Ratlosigkeit, Angst und nächtliche Unruhe.
Der Kranke kann sich an nichts mehr freuen, zu nichts mehr aufraffen, alles ist tot in ihm. Neben Selbstvorwürfen finden sich auch Anklagen gegen andere, denen er die Schuld an seinem Zustand zuschiebt. Die Verzweiflung und Bitterkeit dem Leben gegenüber kann Selbstmordabsichten zur Folge haben. Das Leben erscheint dem Kranken so verpfuscht und sinnlos, daß er keinen anderen Ausweg sieht als den Tod. Sind die Ursachen seiner Depressionen beseitigt, tritt meist rasch eine völlige Genesung ein.

Der Seelsorger hat zunächst die Aufgabe, die Ursachen der Depressionen ausfindig zu machen. Vielfach berichtet der Kranke oder seine Angehörigen von selbst darüber. In einer Reihe von Fällen ist jedoch dem Kranken der eigentliche Grund unbekannt, neigt er doch dazu, die unangenehme Ursache aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Oft muß es dem Nervenarzt vorbehalten bleiben, die eigentliche Ursache festzustellen.
Einer ebenso schwierigen Lage sieht sich der Seelsorger gegenübergestellt, wenn der Kranke absichtlich den wahren Grund verschweigt, vielleicht weil irgendeine schuldhafte Handlung vorliegt, die er um keinen Preis offenbaren will aus Furcht vor Verachtung oder etwaiger gerichtlicher Bestrafung. In solchen Fällen muß der Seelsorger versuchen, den Depressiven zu einer freimütigen Aussprache zu veranlassen und ihm klarmachen, daß er nur durch ein offenes, ehrliches Bekenntnis gesund werden kann.

Der Kranke muß sich mit dem Schicksalsschlag, der ihm widerfahren ist, auseinandersetzen und mit ihm fertig werden. Das gelingt ihm in erster Linie, wenn er es lernt, sein Leben aus der Hand Gottes zu nehmen und auch hinter dem Schweren, Unbegreiflichen einen Sinn zu sehen. Die Enttäuschungen des Lebens wird er am besten dadurch überwinden, daß er sich nicht an Menschen und Dingen stößt, sondern mit der Wirklichkeit rechnet und seine egoistischen Wünsche aufgibt.
Ist es durch unfreundliche Behandlung oder Kränkung verbittert, gilt es für ihn, nach eigener Schuld zu forschen und Versöhnlichkeit zu üben, sooft bittere Gedanken in ihm aufsteigen wollen. Auf diese Weise wird er von den Depressionen frei werden.
Auch der sich in Sorgen verzehrende Mensch kann erleben, daß sein Gemütsdruck weicht durch die vertrauensvolle Hinwendung zu Gott. Wie viele haben die Wahrheit des Psalmwortes an sich erfahren: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft!“ (Ps. 62, 2).


3. Der Gemütsdruck der Psychopathen
Ebenso häufig wie die durch schwere Erlebnisse hervorgerufenen Depressionen, sind die der Psychopathen. Während bei den ersten das Erlebnis eine größere Rolle als die Veranlagung spielt, steht hier die krankhafte Veranlagung ganz im Vordergrund. Diese bewirkt, daß die Depressionen schon bei geringen Anlässen auftreten.
Der depressive Psychopath ist leicht gerührt und empfänglich für die trüben und unangenehmen Dinge des Lebens, der geborene Schwarzseher, häufig willensschwach, sehr empfindsam und leicht zu beeindrucken.
Sobald ihm ein Hindernis im Weg liegt, sieht er darin eine unüberwindliche Schwierigkeit, läßt allen Mut sinken und wird lebensüberdrüssig. Jede kleine Aufregung ist imstande, ihn völlig zu Boden zu werfen, und wenn ihm etwas nicht nach Wunsch geht, ist er sofort verzweifelt und fassungslos. Eine schlaflose Nacht, schlechtes Wetter oder eine ungewohnte Situation können seine Stimmung erheblich beeinflussen. Beim Lesen eines traurigen Buches oder Anschauen eines tragischen Films bricht er leicht in Tränen aus, und das Zusammensein mit kranken Menschen drückt ihn leicht nieder. Körperliches Unbehagen und Ermüdung stimmen ihn häufig depressiv, ebenso das Alleinsein oder fehlende Ablenkung an Sonntagen und im Urlaub.
In seiner Not hängt er sich gern an andere Menschen, um durch sie getröstet und aufgemuntert zu werden. Wird er jedoch durch sie enttäuscht, kommt es zu neuen Verstimmungen.
Er ist völlig abhängig von Menschen, Wetter, Schlaf, körperlichem Befinden und anderen Umständen. Nicht selten stellen sich plötzlich schwere Depressionen ein, deren Ursache völlig unklar ist. Viele Kranke können nur durch den engen Anschluß an verständnisvolle Menschen mit dem Leben fertig werden, weil sie dauend beraten und gestützt werden wollen. Manche sind nur dadurch ihrer Lebensaufgabe gewachsen, daß sie einen verständnisvollen Lebensgefährten besitzen, bei dem sie sich immer wieder Hilfe und Trost holen können.

Bezeichnend ist es, daß die Depressionen des Psychopathen sehr rasch nachlassen, wenn die Unannehmlichkeiten und Probleme aus dem Weg geräumt sind. Durch äußere Anregung und Beeinflussung, etwa durch eine angenehme Gesellschaft, ein Konzert oder irgendeine Ablenkung, läßt er sich aus seinem Gemütsdruck meist rasch herausreißen. Oft genügt ein Scherz, ein freundlicher Blick, ein aufmunterndes Wort, um ihn wieder fröhlich zu stimmen.
War der Kranke vielleicht eben noch völlig fassungslos und in Tränen aufgelöst, kann er bald darauf einen völlig ruhigen und heiteren Eindruck machen, um beim nächsten geringsten Anlaß von neuem verstimmt zu sein. Oft versinkt er zu Hause willenlos in seinen Depressionen, während er im Berufsleben gutgelaunt und zur Zufriedenheit seine Arbeit tut. 
So beobachten wir bei solchen Menschen eine starke Beeinflußbarkeit des Gemüts und einen raschen Wandel der Stimmung.

Als Christ weist der depressive Psychopath begreiflicherweise starke Schwankungen in seinem Glaubenleben auf. Schon bei geringen Unannehmlichkeiten machen sich Kleinglaube und Verzagtheit bemerkbar. Kommen körperliche Beschwerden dazu, kann er den Blick zu Gott völlig verlieren, weil er nur an seine eigene Unfähigkeit und Schwäche denkt. Die Festigkeit und Stetigkeit des Glaubens läßt er vermissen. Immer wieder lockert sich seine Verbindung zu Gott durch die über ihn kommenden Gemütsverstimmungen.

Der Seelsorger hat im Umgang mit solchen Menschen eine dankbare Aufgabe. Durch Liebe und verständnisvolles Eingehen auf die Kranken, durch Aufmunterung und Trost können sie ihr seelisches Gleichgewicht leichter wiedergewinnen. Gleichzeitig muß dem Kranken klargemacht werden, daß seine Verstimmungen in keinem Verhältnis zu der geringfügigen Ursache stehen. Er muß die kleinen Freuden des Alltags erkennen und in sich aufnehmen lernen.
Daneben ist es wichtig, seinen Willen zu stärken, um die aufsteigenden Verstimmungen zu überwinden und ein ausgewogenes Gefühlsleben zu bekommen. Auch geregelte Arbeit und ein Dienst für den Nächsten sind eine gute Therapie. Weil aber der Kranke meist sehr bald aufs neue unter Gemütsdruck gerät und seiner Umgebung damit zur Last wird, ist ein großes Maß von Geduld nötig, um ihm zu helfen.
Da dem Kranken die lebendige Gemeinschaft mit Gott inneren Halt bietet, sollte der Seelsorger seine Aufgabe darin sehen, ihn im Glauben zu stärken. Ein Wort aus der Bibel (die Psalmen eignen sich besonders gut) oder der Vers eine christlichen Liedes können wesentlich zur inneren Aufmunterung beitragen.

Die Einübung des Dankens ist daneben eine wesentliche Hilfe. Wenn der Kranke es lernt, seine immer wieder auftretenden Depressionen aus der Hand Gottes zu nehmen, und auf diesem Weg zu Standhaftigkeit und Selbständigkeit im Glauben kommt, wird er mehr und mehr von ihnen befreit werden.


4. Die schwermütige Veranlagung – Depressionen ohne erkennbare Ursachen
Während bei der krankhaften Veranlagung der Psychopathen eine geringfügige Ursache die traurige Verstimmung hervorruft, beobachten wir in zahlreichen Fällen einen ohne erkennbare Ursache vorhandenen Gemütsdruck. Es handelt sich dabei um eine schwermütige Veranlagung, die die krankhafte Steigerung der melancholischen (schwermütigen) Gemütsart darstellt.

Ein schwermütig veranlagter Mensch zeigt schon in seiner Kindheit und Jugend ein stilles, verschlossenes und menschenscheues Wesen. Mit Vorliebe sucht er die Einsamkeit, um seinen trüben Gedanken nachzuhängen. Geselligkeiten interessieren ihn nicht, und in extremen Fällen bleiben ganze Bereiche, wie Heiterkeit, Freude, Lebenslust für ihn unzugänglich. Seine Grundstimmung zeigt Gedrücktheit und Traurigkeit. Er ist nur mit sich selbst beschäftigt, und er kann nur wenig Gemeinsinn aufbringen. Von seinen Mitmenschen zieht er sich nach Möglichkeit zurück, weil er sich unverstanden fühlt, ihre Hilfe nicht in Anspruch nehmen will und ihnen nicht zur Last fallen möchte. Wird ihm Liebe und Verständnis entgegengebracht, glaubt er, daß er sie nicht verdient hätte.
Zu einer Aussprache über seine Nöte fehlen ihm der Mut und die richtigen Worte. So versucht er, alles in seinem Inneren zu verbergen und mit sich allein abzumachen.
Von sich, seinem Können und seinen Leistungen hat der schwermütig Veranlagte eine sehr geringe Meinung. Wenn ihn seine Eltern streng anfassen oder seine gesünderen und unkomplizierten Geschwister, wie dies häufig der Fall ist, ihn in den Hintergrund drängen, so steigern sich seine Minderwertigkeitsgefühle erheblich.
Weil er seinen Pflichten nicht hundertprozentig nachzukommen glaubt, bleibt er in seiner Arbeit unbefriedigt, empfindet sie nur als eine Bürde und verrichtet sie lediglich aus Gewissenhaftigkeit.

Durch sein mangelndes Selbstvertrauen nimmt er alles sehr schwer, und vor jedem Entschluß überlegt er lange Zeit, ob die Sache durchführbar ist. Jede Prüfung bedeutet für ihn eine unüberwindbare Klippe. Hat er einmal eine Entscheidung gewagt, empfindet er oft hinterher starke Reue über seinen Schritt.
Er ist völlig abhängig von dem Urteil seiner Mitmenschen. Beruflich hält er sich für untauglich und beneidet andere um ihre Leistungen. Trotz aller Begabungen kommt er im Leben nicht voran, weil er sein Wissen und Können nicht in der rechten Weise entfalten kann. Aus diesem Grund verzichtet er nicht selten auf einen verantwortungsvollen, ausbaufähigen Posten, obwohl er dazu durchaus geeignet wäre.
Sehr oft quälen den schwermütig Veranlagten massive Zwangsvorstellungen, über die er nicht Herr werden kann, z. B. die Angst, seine Pflicht versäumt oder bei seiner Arbeit etwas falsch gemacht zu haben. Oder er fürchtet, seine Nächsten durch Worte und Handlungen zu kränken oder ihnen nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben.
Das hat zur Folge, daß er von dauernden Gewissensbissen gequält wird. Er neigt zu Beziehungsvorstellungen, indem er alle möglichen Begebenheiten mit seiner Person in Verbindung bringt. Wenn sich ein Unglück ereignet oder in der Familie jemand krank wird, meint er nicht selten, man gebe ihm die Schuld daran. Oder er fürchtet im Umgang mit anderen, beobachtet zu werden und unangenehm aufzufallen. Dies sind alles Gründe, warum er sich niemals wirklich froh und frei fühlt und ständig ein leichter Gemütsdruck auf ihm lastet. Dazu kommt, daß er oft von seiner Umgebung völlig verkannt wird.

Dieses Krankheitsbild macht sich in der Regel schon in der Jugend bemerkbar, und es kann in stärkerem oder geringerem Grade das ganze Leben hindurch bestehenbleiben. Die Kranken sind, so weit sie zurückdenken können, gedrückt, freudlos, ohne Arbeitsfreude und Selbstvertrauen. Ihr Aussehen ist meist blaß und kränklich. Sie klagen über die verschiedenen körperlichen Beschwerden, wie Antriebsschwäche, rasche Ermüdung, Magenbeschwerden und Schlaflosigkeit.
Hat sich ein schwermütig veranlagter Mensch Gott übergeben, weist sein Glaubensleben eine besondere Färbung auf: Er vermag sich von einem andauernden Schuldbewußtsein nicht freizumachen und glaubt, nur durch Bußübungen die Vergebung erlangen zu können. Vieles wird ihm in seiner Übergewissenhaftigkeit zur Sünde. Er grübelt über religiöse Dinge nach und ringt täglich aufs neue um den Glauben.

Es fällt ihm sehr schwer, sich seines Glaubens zu freuen und in ein kindliches Verhältnis zu Gott zu treten. Die Gnade und Liebe Gottes wagt er kaum für sich in Anspruch zu nehmen, und die Bibel enthält für ihn nicht die frohe Botschaft des Evangeliums, sondern nur das Gesetz, vor dessen Forderungen er zurückschreckt, da sie ihm unerfüllbar erscheinen. Weil er nichts von Gottes Nähe fühlt, glaubt er, mit Gott nicht im reinen zu sein. Dadurch gerät er leicht in Selbstquälerei und krampfhaftes Bemühen um inneren Frieden.

Im folgenden Brief einer Patientin wird der qualvolle Zustand, unter dem diese Menschen leiden, deutlich:

„Es ist mir unangenehm, Herr L., daß ich Ihnen immer wieder mit den gleichen Klagen komme; aber wenn ich morgens aufwache, habe ich Angst vor dem Heimgehen in die alten Verhältnisse und vor der Zukunft. Das Zuhausesein ist mir eine Qual. Meiner Arbeit kann ich nicht mehr richtig nachkommen vor innerer Angst und Aufregung; darum mache ich nur das Nötigste. Meine Verwandten und Freunde können nicht verstehen, daß ich mich so niederdrücken lasse, und meinen, ich sollte mir eine Arbeit suchen und mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Sie versuchen, mir Mut zu machen, wenn ich ihnen sage, daß mir dazu die Gaben und Fähigkeiten fehlen. Aber das ist keine Einbildung von mir, sondern die Wirklichkeit.

Nach einer Aussprache mit meinen Angehörigen meine ich immer, ich müßte mich wenigstens an Jesus halten können; denn im tiefsten Grunde kann und will ich ja auch nicht ohne Gott sein. Manchmal habe ich schon geglaubt, ich könnte Gott festhalten, aber immer wieder war es nicht von Bestand.
Meine Unsicherheit und Unselbständigkeit überträgt sich auch auf mein geistliches Leben. Sagt mir z.B. jemand, ich sollte dies oder jenes in meinem Leben ändern, bin ich so ziemlich damit einverstanden, obwohl hinter allem die die Angst vor dem Versagen steht. Kommt mir aber dann jemand mit einem anderen Vorschlag, halte ich den für richtig und annehmbar. Dadurch befinde ich mich ständig im Konflikt. Dasselbe spielt sich in meinem geistlichen Leben ab. Wenn ich jetzt den Willen habe, am Glauben festzuhalten, und es kommen Stimmen von innen oder außen, die mir das Gegenteil sagen, ist wieder alles aus, ich liege am Boden.

So machen mir dauernd die Zweifel und Grübeleien zu schaffen. Ich frage mich oft: Warum muß ich diese Zweifel haben? Andere Menschen haben sie auch einmal, aber sie kommen doch immer wieder aus diesen Zweifeln heraus. Es gelingt mir einfach nicht, mich aus diesem Zustand zu reißen. Wenn ich es erzwingen wollte, erreichte ich das Gegenteil und lag erst recht am Boden . . . „

Die Aufgabe des Seelsorgers besteht darin, zunächst den schwermütig Veranlagten zur Aussprache zu bewegen, um ihm durch liebevollen Zuspruch und Aufmunterung zu helfen. Strenge und hartes Anfassen wären völlig verkehrt, denn dadurch würde der Neigung des Depressiven, sich zurückzuziehen, nur Vorschub geleistet. Ebenso ist starkes Bedauern zu vermeiden.

Der Mangel an Selbstvertrauen muß als unbegründet nachgewiesen, der Mut gestärkt werden, indem der Seelsorger ihm zu einer frohen und bejahenden Lebensauffassung und richtigen Einstellung zu seiner Umwelt verhilft und sich das verkrampfte Verhältnis zu Gott in einen kindlich-frohen Glauben verwandelt.
 Dadurch wird ihm Gott als Vater groß, den er lieben und zu dem er mit allen Anliegen kommen kann und der ihm täglich die Kraft für seine Aufgaben schenken will. Vom eigenen Ringen muß er sich lösen durch das dankbare Ergreifen der Gnade Gottes.
Eine verständnis- und liebevolle Seelsorge leistet dem schwermütig Veranlagten einen großen Dienst, indem er nach und nach lernt, seine falsche Einstellung zu sich selbst, seinen Mitmenschen und Gott gegenüber zu erkennen und zu überwinden.

5. Die Schwermut (Melancholie)

Die Krankheitserscheinungen der Schwermut
Die schwermütige Veranlagung ist häufig die Vorstufe der Schwermut. In einer Reihe von Fällen zeigt aber die Vorgeschichte nichts Auffallendes. Der Kranke kann bis zum Beginn der Schwermut einen durchaus positiven und seelisch gesunden Eindruck machen, doch ist eine krankhafte Veranlagung auch hier anzunehmen.

Nachweislich feststellbar ist die erbliche Belastung bei mindestens vier Fünftel der Kranken. Sind die Eltern oder Geschwister frei von Schwermut oder einer entsprechenden Veranlagung, so ist sie oft bei entfernteren Verwandten nachzuweisen. Man spricht daher bei dieser Krankheit von einer endogenen, d.h. anlagebedingten Störung.
Wenn wir nach der Ursache der Melancholie forschen, wissen die Kranken oft nichts Bestimmtes anzugeben. Bei einer nicht geringen Zahl setzt die Schwermut ohne jeden erkennbaren Grund ein. Häufig gibt der Kranke jedoch ein bestimmtes Erlebnis an, das nach seiner Auffassung die alleinige Ursache seines Zustandes ist. Tatsächlich lassen sich oft Umstände nachweisen, die einen entscheidenden Einfluß auf das Zustandekommen der Schwermut ausüben; jedoch kann ihnen nach dem Verlauf der Krankheit lediglich eine auslösende Rolle zugeschrieben werden.

Die eigentliche Ursache bildet die krankhafte Anlage, die in dem Menschen schlummert und nur auf einen Anlaß wartet, um zum Ausbruch zu kommen. Ein solcher Anlaß kann jede seelische Erschütterung sein. Daß diese aber nicht die alleinige Ursache der Schwermut sein kann, geht daraus hervor, daß die Krankheit hinsichtlich Stärke und Dauer der seelischen Erschütterung keineswegs entspricht.
Die Melancholie beginnt häufig mit Beschwerden wie Kopfschmerzen, Abgespanntheit, Magenbeschwerden, Appetit- oder Schlaflosigkeit. Dazu gesellt sich bald eine traurige Grundstimmung, die in zunehmendem Maße das Krankheitsbild beherrscht und die morgens in besonderer Stärke auftritt.
Der Kranke sieht alles nur noch in den schwärzesten Farben, und die Freude am Leben fehlt ihm völlig. Für ihn hat alles keinen Sinn mehr. Vergangenheit und Zukunft sind für ihn nichts weiter als eine ununterbrochene Kette von Leiden und Schmerzen. Was ihn bisher mit Freude und Hoffnung erfüllt, ist jetzt nur noch eine Quelle der Verzweiflung. Tiefe Depressionen beherrschen sein ganzes Denken. Selbst fröhliche Ereignisse stimmen ihn trübsinnig. Besonders stark befällt ihn die Schwermut, wenn er allein ist, aber auch in der Gesellschaft fröhlicher Menschen ist er nicht frei davon. Bei jeder Gelegenheit kommen dem Kranken die Tränen.


Zu den Depressionen gesellen sich meistens starke seelische Hemmungen. Diese äußern sich zunächst in einer Verlangsamung und Schwerfälligkeit des Denkens. Der Kranke ist unfähig, sich geistig zu sammeln. Schon das Lesen und Schreiben fällt ihm schwer und ist ihm oft ganz unmöglich. Einer Unterhaltung kann er zeitweise kaum folgen, da er selbst einfach Gedanken nicht mehr erfassen kann.

Diese Hemmung zeigt sich aber nicht nur im Denken, sondern auch im Gefühlsleben. Der Kranke leidet unter einer inneren Leere und seelischen Erkaltung. Er scheint daher stumpf und gefühllos. Alles scheint in ihm erstorben zu sein. Er kann keine Liebe mehr zu seinen Angehörigen aufbringen, und auch die Schönheiten der Natur erfreuen ihn nicht mehr, das Interesse an den Ereignissen des Lebens und an seinem Beruf hat er verloren. 
Er ist völlig gleichgültig geworden gegenüber all dem, was ihm in gesunden Tagen am Herzen gelegen hat. Er bringt weder Freude noch Haß, noch ein anderes Gefühl auf. Er kümmert sich nicht mehr um seine häuslichen Aufgaben und seinen Beruf, und er legt auch keinen Wert mehr auf sein Äußeres.
Neben den geistigen und seelischen Hemmungen weist auch der Wille bald eine starke Behinderung auf. Der Kranke muß sich zu allem, was er tun will, zwingen. Oft bringt er nicht einmal mehr die Fähigkeit auf, einen Entschluß zu fassen. Selbst zu den einfachsten Verrichtungen des täglichen Lebens kann er sich kaum aufraffen.

So bleibt er morgens lange im Bett liegen, kann sich nicht allein ankleiden, ist kaum zum Essen zu bewegen und sitzt untätig herum. Hat er endlich angefangen, einen Brief zu schreiben, so ist er außerstande, ihn zu vollenden. Selbst das Sprechen fällt manchen Melancholikern schwer. Stundenlang sprechen sie kein Wort, und an sie gerichtete Fragen bleiben unbeantwortet. Ist der Kranke noch berufstätig, läßt er oft dringende Arbeiten liegen. Die Kraft, Versäumtes nachzuholen, fehlt ihm gänzlich.

In schweren Fällen kommt es zu einer Reihe weiterer Krankheitserscheinungen. Als erstes ist die Angst zu nennen. Der Kranke weiß oft selbst nicht, wovor er sich eigentlich fürchtet. Nicht selten hat er jedoch Angst vor bestimmten Dingen; z.B. fürchtet er sich davor, nicht mehr gesund zu werden, den Verstand zu verlieren, in ein psychiatrisches Krankenhaus zu kommen und seinen Beruf aufgeben zu müssen.
Häufig beherrscht ihn auch die Furcht vor schweren Schicksalsschlägen, die über ihn als Strafe für irgendwelche Verfehlungen kommen könnten. Oder er fürchtet sich vor der ungewissen Zukunft und vor dem Selbstmord.
So äußert ein Schwermütiger: „Die Angst, ich könnte einmal etwas tun, um meiner Not ein Ende zu machen, läßt mich selten los. Ich möchte es nicht, und doch quält mich die Angst, mein Leben werde noch einmal ein schreckliches Ende nehmen.“
Manche Kranke haben Furcht vor dem Alleinsein, andere vor der Gesellschaft vieler Menschen. Die Angst kann besonders stark morgens und nach dem Mittagessen auftreten.

Wenn sich die Alltagssorgen zu grundlosen Befürchtungen auswachsen und der Kranke sich immer schrecklichere Dinge ausmalt, kommt es leicht zu Wahnvorstellungen. So ist der Kranke, der zunächst fürchtete, nicht wieder gesund zu werden, bald davon überzeugt, ein Todeskandidat zu sein. Oder es entsteht aus falschen Schuldgefühlen heraus die Wahnvorstellung, ein Verbrecher zu sein, der ins Gefängnis gehört.
Er fühlt sich aufgrund seiner Schlechtigkeit als Außenseiter und bildet sich ein, seinen Angehörigen Böses zugefügt, Kummer und Schande bereitet zu haben und an allem Unglück der Welt schuld zu sein und deshalb den Tod verdient zu haben. Die Liebe, die ihm die anderen erweisen, sei unangebracht. Daß er seine Familie nicht liebt, hält er für ein schweres Unrecht, und daß er seinen beruf vernachlässigt, sieht er als Willensschwäche und Drückebergerei an. Er ist fest davon überzeugt, vieles verkehrt gemacht zu haben, was er nie mehr wiedergutmachen kann. Wenn er einmal etwas fröhlicher erscheint, fürchtet er, als Heuchler angesehen zu werden.

Neben diesem Versündigungswahn beobachten wir auch häufig Beziehungswahnvorstellungen. Der Kranke ist der Auffassung, daß die Leute über ihn klatschen und lachen, weil er der Dümmste und Schlechteste sei. Er fühlt sich verfolgt, von seinen Mitmenschen und auch von der Polizei.
Dazu kommt der Verarmungswahn. Der Kranke glaubt, sein Geld reiche nicht mehr, seine Familie werde verhungern, und er fiele schließlich dem Staat zur Last.
Nicht selten sind auch hypochondrische Wahnvorstellungen. So glaubt der Kranke, er werde immer kleiner, sein Darm sei verschlossen, das Herz sei in den Bauch gerutscht, er habe keinen Mund mehr, seine Arme schrumpften zusammen, er könne nicht mehr sitzen, in seinem Kopf rumore es, als wenn ein Wurm darin säße u. a.
Jedes Organ, jeder Körperteil kann von irgendwelchen Beschwerden betroffen sein, die in immer gleichbleibenden Worten vorgebracht werden. Jegliche Krankheitseinsicht fehlt dem Schwermütigen; seine Wahnvorstellungen sind zu stark, und er läßt sich in keiner Weise von ihnen abbringen.

In Verbindung damit werden auch häufig Selbstvorwürfe geäußert. Der Kranke wirft sich unaufhörlich vor, er habe sein Leben verpfuscht, seinen Beruf vernachlässigt, Geld veruntreut, seine Kinder schlecht erzogen und seine Familie ins Unglück gestürzt. Stirb ein Angehöriger, hält er sich für daran schuldig.
Jedes unangenehme Erlebnis, ja überhaupt alles, was er hört und liest, kann ihm zum Anlaß von Selbstanklagen dienen. Da die Selbstvorwürfe aus den Wahnvorstellungen hervorgehen, sind sie durchaus unbegründet. Auch wenn die Selbstbeschuldigung an ein wirkliches Geschehen anknüpft, stellt sie eine wahnhafte Übertreibung dar.

Ein weiteres Merkmal der Schwermut ist die Grübelei. Der Kranke zerbricht sich den Kopf über alle möglichen Dinge des Lebens, besonders stark über die Ursache seines Leidens Irgendeine Schuld, vielfach aus frühester Jugend, steht ihm vor Augen und läßt ihm keine Ruhe. Auch grübelt er oft darüber, wie viele Schwierigkeiten er seiner Familie macht, wieviel Geld seine Krankheit kostet, wann er wieder arbeiten kann und ob sein Zustand unheilbar ist usw.

Der Schwermütige ist meist auch von innerer Unruhe erfüllt. Es ist die Folge seiner zahlreichen Selbstvorwürfe und Ängste. Diese Unruhe hindert ihn, einen klaren Gedanken zu fassen. Er ist völlig ratlos und kann nachts nicht schlafen. Bei der Arbeit fehlt ihm die Ausdauer, sobald er etwas anpackt, legt er es auch wieder beiseite, um nach kurzer Zeit wieder etwas Neues anzufangen.
Auch nach außen hin macht sich seine Ratlosigkeit bemerkbar: Er geht unaufhörlich im Zimmer umher, uns selbst nachts steht er immer wieder auf.

In schweren Fällen kann es zu Sinnestäuschungen kommen; besonders in der Nacht kann der Kranke alle möglichen Gestalten sehen oder Stimmen hören. Es ist verständlich, daß der Kranke, dem nichts mehr Freude macht und der Angst, Selbstvorwürfen und Skrupel geplagt ist, immer lebensüberdrüssiger wird. Er hält sich für lebensuntauglich. Die Lebensmüdigkeit verbindet sich häufig mit Selbstmordgedanken: Der Kranke will seinem Leben ein Ende machen und überlegt ständig, auf welche Weise er diesen Plan ausführen könnte.
Diese Selbstmordabsichten können plötzlich so heftig auftreten, daß der Schwermütige sich nicht dagegen wehren kann und irgendeine unbedachte Handlung begeht. Manchmal aber bereitet er seinen Selbstmord mit großer Umsicht vor und wartet auf einen günstigen Augenblick, um ihn auszuführen. Glücklicherweise kommt es jedoch aufgrund seiner Entschlußunfähigkeit nicht immer zu einem ernsthaften Versuch.

Auch körperliche Krankheitserscheinungen spielen bei der Schwermut eine Rolle, besonders wenn die Angst im Vordergrund steht.
Wir beobachten bei den Kranken sehr oft eine Erschlaffung aller Körperorgane. Ihre Tätigkeit verlangsamt sich, und der ganze Stoffwechsel wird herabgesetzt. Das hat eine gebückte Haltung des Schwermütigen zur Folge. Seine Bewegungen werden scherfällig, sein Äußeres altert schneller, die Augen sind trübe, die Atmung verlangsamt sich und ist oberflächlich. Auch machen sich Müdigkeit, Benommenheit, Schwindel, Appetitlosigkeit, Magendruck, Stuhlverstopfung, Herzbeklemmung, Durchblutungsstörungen und Schlaflosigkeit bemerkbar. Das Körpergewicht kann erheblich sinken, selbst wenn er normal ißt. Frauen leiden häufig an Menstruationsstörungen.

Die Schwermut kann je nach Charakter des Kranken eine besondere Färbung aufweisen, da er nicht mehr imstande ist, sich wie ein Gesunder zu beherrschen. Wenn der Schwermütige von jeher empfindlich und eigenwillig war, so ist er nun mit allem unzufrieden, unleidlich, rechthaberisch und herrschsüchtig. War er in gesunden Tagen tatkräftig, lehnt er sich zuweilen gegen die Melancholie auf und verspürt den Drang, Gegenstände entzweizuschlagen oder sich sonstwie auszutoben. Neben seinen Selbstanklagen traktiert er seine Umgebung mit Vorwürfen. Durch die Ungeduld und Unfähigkeit, sich in die Gemeinschaft einzufügen, kann sich sein Zustand erheblich verschlimmern und die Heilung stark verzögern.
Kennzeichnete den Kranken vor dem Ausbruch der Schwermut Willensschwäche, klagt und jammert er nun unaufhörlich, weint fassungslos und läßt sich gehen. Er kann störrisch sein wie ein Kind, sich zu Boden werfen, in betonter Weise von Selbstmord sprechen und seine Beschwerden bewußt übertreiben (sog. Jammer-Melancholie).
Solche Menschen klammern sich an andere Menschen und wollen dauernd eine Hilfe um sich haben, um sich bemitleiden und bedienen zu lassen. Zeitweise können sich Ohnmachtsanwandlungen, Krampfanfälle und starkes Zittern der Glieder einstellen, oder es zeigt sich eine Unfähigkeit, die Arme richtig zu gebrauchen, zu gehen und zu stehen; kurz, es können eine Menge hysterischer Erscheinungen auftreten, die aber keineswegs überzubewerten sind.

Die Schwermutsäußerungen können die Angehörigen stark belasten und ihre Geduld und Liebe auf eine harte Probe stellen.
Ein besonders unglücklicher Umstand ist es, daß die mit der Schwermut Hand in Hand auftretenden Störungen den Gemütsdruck noch verstärken. Vor allem quält den Kranken seine Gefühlkälte, seine Gleichgültigkeit, das Unvermögen zu denken und zu arbeiten. Diese Rückwirkung trägt dazu bei, daß das leiden sich oft lange hinzieht.
Es ist bemerkenswert für die Schwermut, daß sie außerordentlich häufig religiös gefärbt ist. Selbst Kranke, denen in gesunden Zeiten Gott völlig gleichgültig war, machen sich während der Krankheit manchmal Vorwürfe darüber, daß sie sich bisher so wenig um Gott und die Kirche gekümmert haben. Sie reden immer wiedewr davon und bitten ihre Umgebung, für sie zu beten – ein Zeichen dafür, daß das Unterbewußtsein auch des Nichtchristen einen religiösen Inhalt besitzt. Sobald jedoch die Depressionen vorüber sind, ist auch das Verlangen nach Gott geschwunden und von Sündenbewußtsein und Selbstanklage keine Spur mehr vorhanden.

Ist das religiöse Moment der Schwermut schon bei Menschen anzutreffen, die keine lebendige Beziehung zu Gott haben, ist es begreiflich, daß bei Christen sämtliche Schwermutserscheinungen in ausgesprochen religiösem Gewand auftreten können. 
So erlebt der Christ die Hemmungen als geistliche Dürre. Sein ganzes Glaubensleben ist tot. Er kann sich nicht mehr über Gott freuen, seine Nähe nicht fühlen; er empfindet keine Liebe zu ihm, und seine Heilsgewißheit ist geschwunden.
Bei starker Gleichgültigkeit klagt er darüber, daß er nicht einmal mehr Reue über seine Sünden und den Willen, ein anderer Mensch zu werden, aufbringen kann. Er sitzt stundenlang über die Bibel, ohne daß ein Wort sein Herz erreicht. Auch zur Predigt oder zum Gebet kann er seine Gedanken nicht sammeln. Er betet völlig gedankenlos ohne innere Beteiligung. Dabei hat er das Gefühl, daß eine Worte nur bis zur Zimmerdecke reichen. Ihm ist, als habe er gar keinen Willen mehr, sich Gott zu übergeben. „Mein Wille steht auf der Seite Gottes; nur ist es, als ob er gefangen sei, es fehlt ihm die Kraft, durchzubrechen.“

Der Kranke kann sich auch nicht mehr aufraffen, wie gewohnt seine Stille Zeit zu halten, und ein Dienst für den Herrn ist ihm unmöglich geworden.
Die Angst äußert sich beim Christen in Form einer lebhaften Furcht vor dem heiligen und gerechten Gott und dessen Vergeltung. Er ist überzeugt, daß es für ihn keine Gnade mehr gibt und daß die ewige Verdammnis auf ihn wartet.


Auch die Wahnvorstellungen und Selbstvorwürfe sind beim Christen religiöser Art. Seinen Zustand sieht er als gerechte Strafe für seine Verfehlungen an; er glaubt, von Gott verstoßen und von ihm abgefallen zu sein. So klagt er sich zahlreicher Sünden an, die ihm nicht vergeben werden können. Er ist überzeugt, Gott gelästert und die Sünde wider den Heiligen Geist begangen zu haben. Er meint, überhaupt nie ein wirkliches Kind Gottes gewesen zu sein. Nicht selten glaubt er, besessen zu sein.

Die innere Unruhe bringt ihn leicht zu der Annahme, er werde von bösen Geistern verfolgt. Beim Bibellesen bezieht er die von der Verdammnis redenden Stellen auf sich und nimmt nur die anklagenden und strafenden Schriftworte in sich auf, während er die Verheißungen und Trostworte zurückweist. Er hält sich für den größten Sünder und damit für unwürdig, zu Gott zu beten.

Jede Predigt ist ein Anlaß zu neuen Selbstanklagen. Von der Unrichtigkeit seiner Gedanken ist es nicht zu überzeugen. Selbst wenn ihm nachgewiesen werden kann, daß er nicht gesündigt hat oder daß seine Schuld längst vergeben ist, kommt er von seinen Selbstvorwürfen nicht los.

Neigt der Christ zu Zwangszuständen, so handelt es sich häufig um die Zwangsbefürchtung, die göttlichen Gebote nicht genau zu erfüllen, dem Nächsten Anlaß zum Ärgernis zu geben, nicht alles gebeichtet zu haben.
Hieraus kann sich ein lebhafter Bekenntnis- und Wiedergutmachungszwang entwickeln. Dazu kommen häufig Lästergedanken, die ihn quälen, wenn er die Bibel liest oder den Gottesdienst besucht.

Auch von Selbstmordgedanken wird der Christ nicht verschont. Diesen Kampf in seinem Inneren kann sich der Gesund nur schwer vorstellen. Während ihn einerseits die lebensmüden Gedanken quälen, weiß er andererseits, daß sein Vorhaben Sünde ist.

Alle diese krankhaften Gedanken haben zur Folge, daß der Christ nun erst recht in seelischen Druck und innere Anfechtung versetzt wird. Die Überzeugung, sich mehr und mehr von Gott zu entfernen, wächst. Seine Hemmung wird ihm zur Sünde, indem er sich sagt: Weil ich nicht glaube und die Gnade nicht erfasse, kann Gott mich nicht annehmen. Das Grübeln wird ihm zur Sünde, indem er folgert, Gott lasse ihn nicht gesund werden, weil er an seiner Liebe zweifle. Der Lebensüberdruß wird ihm zur Sünde, indem er daraus schließt, daß er verloren ist. Und wenn sein Zustand Schwankungen aufweist und nach einer leichten Besserung eine erneute Verschlimmerung einsetzt, macht er sich Vorwürfe darüber, daß er ein „schwankendes Rohr“ ist, das Gott nicht gebrauchen kann.

Im Bewußtsein seiner Glaubensarmut kann er begreiflicherweise kein freudiges Zeugnis mehr für Jesus Christus ablegen. Besonders schmerzlich empfindet der hauptamtliche Mitarbeiter die Schwermut, weil ihm die für den Beruf nötige Geisteskraft und Glaubensfreudigkeit abhanden gekommen ist und weil er für seinen Dienst völlig unfähig wird.

So ist die Schwermut für den Christen eine unerträgliche Last. Sein Glaubensleben wird durch die Krankheit schwer erschüttert, und er neigt dazu, seinen Zustand auf teuflische Einflüsse zurückzuführen.
Während er eine körperliche Störung glaubensmäßig eher verkraftet, gerät er durch die Melancholie in große innere Nöte. Denn jede Art von Depressionen erscheinen ihm für einen Christen unwürdig und als Zeichen mangelnden Glaubens und fehlender Treue Gott gegenüber.
Die Trostlosigkeit seiner Lage wird oft noch durch das Verhalten seiner Umwelt vergrößert. Häufig stehen ihm Angehörige und Freunde verständnislos gegenüber, und nicht selten wirft man einem Melancholiker mangelndes Gottvertrauen vor.

Der Verlauf der Schwermut ist wie ihre Entstehung nur wenig von äußeren Einwirkungen abhängig. War eine Gemütserschütterung der Auslöser, so dauert die Krankheit an, auch wenn die äußeren Umstände ihren Einfluß längst verloren haben.

Die Dauer der Schwermut schwankt zwischen einigen Monaten und einigen Jahren, im Durchschnitt beträgt die Dauer ein halbes Jahr. Die Heilung tritt meistens ganz allmählich, manchmal aber auch innerhalb kurzer Zeit ein. 
Mit zunehmender Besserung schwächen sich die krankhaften Erscheinungen mehr und mehr ab. Hierbei kommt es aber auch häufig zu Rückschlägen, die jedoch immer seltener werden, so daß die Besserung vielfach keinen gleichmäßigen Verlauf nimmt, sondern in Wellenbewegungen verläuft. Nach der Genesung ist das Seelenleben wieder völlig intakt, ohne daß eine Schädigung zurückbleibt. 

Bei einer Anzahl von Fällen kommt es nach einer gewissen Zeit zu einer erneuten Erkrankung. Der Rückfall kann sich schon nach einem halben bis einem Jahr, oft erst nach zehn oder zwanzig Jahren einstellen. Sind die Zwischenzeiten ungefähr gleichmäßig und nicht zu lang, so spricht man von periodischer Melancholie. Die Stimmung zwischen den einzelnen Erkrankungen ist meistens ausgeglichen und die Leistungsfähigkeit normal.


Die Beurteilung der seelischen Störungen bei Schwermut
Kaum eine seelische Störung wird von der Umgebung des Kranken, wie auch vom Kranken selbst, so oft falsch beurteilt wie Schwermut. Nahezu jede Krankheitserscheinung kann falsch gedeutet werden.
So wird nicht selten die Hemmung des Willens als Willensschwäche und Eigensinn angesehen, und hinter der Blockierung des Denkens und des Gefühlslebens wird oft beginnender Schwachsinn vermutet. Die Wahnvorstellungen des Schwermütigen werden leicht für Einbildung gehalten, die man ihm energisch ausreden muß.

Besonders die Auswirkung der Schwermut auf das geistliche Leben wird häufig falsch beurteilt. So wird die Unfähigkeit, die Vergebung im Glauben zu begreifen, oft als Hochmut, die Unempfänglichkeit für göttliche Einflüsse als Verstocktheit bezeichnet. Die Selbstvorwürfe sieht man als echte Sündenerkenntnis und Wirkung des Heiligen Geistes, Lästerungen und Selbstmordgedanken werden für ein sicheres Zeichen dämonischer Beeinflussung, oft auch für Besessenheit gehalten. Der Zustand, in den ein Unglücklicher geraten ist, erscheint vielen als die natürliche Folge seiner Schuld oder als eine Anfechtung des Satans.

Dieser Auffassung muß entschieden widersprochen werden. Denn es besteht kein Zweifel, daß es sich bei der Schwermut um eine Krankheit handelt. Darauf weisen eine Reihe von Tatsachen hin. Nicht nur die krankhafte Veranlagung als Grundlage der Schwermut, sondern auch der Verlauf des Leidens, das oft unabhängig von äußeren Einwirkungen beginnt und ohne erkennbaren Ursache wieder verschwindet, sind eindeutige Zeichen krankhafter Störung. Ferner sprechen die körperlichen Erscheinungen, die in den meisten Fälle von Schwermut auftreten, sowie die melancholieartigen Zustände während der Schwangerschafts- und Wochenbettzeit und der Wechseljahre für eine körperlich bedingte Krankheit.
Daß außerdem die Wahnvorstellungen und Selbstvorwürfe krankhafter Natur sind, geht schon daraus hervor, daß sie sich bei näherem Erforschen als völlig unbegründet erweisen und offensichtlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegen.
Auch bei dem Unvermögen, sich geistig zu konzentrieren, bei der Entschlußunfähigkeit und der seelischen Unempfindlichkeit handelt es sich nicht um eine beginnende geistige Störung oder um Charakterschwäche, sondern um krankhafte Hemmungen, die nach Ablauf der Schwermut restlos verschwinden. Von einer „Verstocktheit“ kann schon deshalb keine Rede sein, weil der Schwermütige sehr unglücklich über seinen Glaubensmangel ist, auch wenn er selbst zuweilen glaubt, ihm fehle die Reue. Der wirklich Verstockte kennt keine Trauer über seinen Zustand.

Bei der Beurteilung ist deshalb große Vorsicht geboten, weil sich religiöse Gedanken auch bei Menschen finden können, die sich sowohl vor Beginn ihrer Krankheit als auch nach ihrer Genesung religiösen Einflüssen gegenüber ablehnend verhalten.

Äußerungen von Reue über frühere Verfehlungen, die der Seelsorger vielleicht als Zeichen echter Selbsterkenntnis gewertet hatte, könnten nach Ablauf der Krankheit spurlos verschwinden. Wird der Genesene daran erinnert, winkt er lächelnd ab. 
Daran erkennen wir, daß die religiös gefärbten Erscheinungen der Schwermut nicht als Maßstab für die Glaubenshaltung des Kranken angesehen werden dürfen. Doch wie oft hält man in christlichen Kreisen den Schwermütigen für einen, der im Glauben Schiffbruch erlitten und die richtige Stellung zu Gott verloren hat!

Diese falsche Beurteilung beruht auf der Verwechslung von Ursache und Wirkung. Die Gefühlskälte, die Gebetsunfähigkeit, die Furcht vor der ewigen Verdammnis, die Überzeugung, wider den Heiligen Geist gesündigt zu haben, die Zweifel, die Lästerungen – alle diese Erscheinungen sind nicht die Ursache der Schwermut, sondern lediglich ihre krankhaften Merkmale. Niemals können sie als Beweise für die Gottentfremdung und den Unglauben des Schwermütigen angesehen werden.

Wer einen Melancholiker kennt, weiß, daß es ihm im Grunde gar nicht am Glauben fehlt, wenn er dies auch nicht wahrhaben will, und daß er sich danach sehnt, wie in gesunden Zeiten Gott zu vertrauen. Und doch ist er aufgrund seiner Blockierungen nicht fähig, sich seines Glaubens zu freuen. Nicht der Wille zum Glauben fehlt ihm, sondern das Können. Ebensowenig können die Selbstvorwürfe als Zeichen einer Versündigung angesehen werden, da sie sich besonders bei solchen Kranken finden, die stets korrekt waren und sich nichts zuschulden kommen ließen. Und wer die Selbstmordgedanken für ein Zeichen besonderen Unglaubens hält, tut ihm bitter unrecht. Denn der Kranke ist zu einer solchen Tat nur in einem Zustand geistiger Umnachtung fähig. Mit seinem Glaubenstand hat seine Selbstmordabsicht nichts zu tun.

Nun aber wird vielfach entgegnet, die Erscheinungen der Melancholie seinen als Einwirkungen dämonischer Mächte aufzufassen. Dieser Auffassung kann nicht ohne weiteres beigepflichtet werden. Denn wie oft hat der Schwermütige vor seiner Erkrankung seine ganze Vergangenheit vor Gott geordnet und ein Leben der Gemeinschaft mit ihm geführt! Es besteht in solchen Fällen kein Anlaß, eine teuflische Einwirkung anzunehmen. Wenn hierbei die Lästergedanken als Beweis einer feindlichen Beeinflussung angesehen werden, so ist zu bedenken, daß Lästergedanken meistens bei schwermütig veranlagten Menschen beobachtet werden können, die ängstlich darauf bedacht sind, das Heilige nicht zu verletzen. In diesen Fällen sind die Lästergedanken als krankhafte Zwangsbefürchtungen und –handlungen zu betrachten, die gar nicht aus dem Herzen des Kranken kommen, sondern von ihm selbst als etwas durchaus Fremdes, Häßliches und Gemeines empfunden werden.
Daß die Lästergedanken nichts mit feindlicher Einwirkung zu tun haben, geht auch daraus hervor, daß sie nach erfolgter Heilung des Schwermütigen von selbst schwinden. Auch die Tatsache, daß durch bestimmte Medikamente die Lästergedanken, die Angstzustände, die Selbstmordabsichten und andere Schwermutserscheinungen völlig zurücktreten können, zeigt deutlich, daß hier nicht eine satanische Beeinflussung vorherrscht, sondern eine krankhafte Störung.
Wie oft kann beobachtet werden, daß Schwermütige durch eine rein körperliche Therapie gesund werden und ihren früheren Glauben wiedererlangen! Andererseits müßte doch wohl bei rein dämonischer Einwirkung das oft wiederholte Gebet des Glaubens die Schwermutserscheinungen mildern oder zum Verschwinden bringen. Aber wie oft wird auch solchem Gebet keine Erhörung zuteil.

Teuflische Einflusse können daher höchstens in dem Sinne angenommen werden, daß die vorhandene Gemütskrankheit und die dadurch geschwächte seelische Widerstandskraft vom Feind als Einfallstor benützt wird. Wenn z.B. der Schwermütige unwillig wird, wenn er sich gegen Gott auflehnt und seinen Mitmenschen Vorwürfe macht, wie dies in manchen Fällen vorkommt, wenn er seinen Angehörigen trotzig begegnet oder mit Selbstmord droht, so könnte man hier eine feindliche Einwirkung annehmen. Die eigentlichen krankhaften Erscheinungen jedoch als Folge dämonischer Einwirkung anzusehen, ist unberechtigt.

Sehr oft werden die krankhaften Äußerungen der Schwermut mit den Folgeerscheinungen okkulter Praktiken verwechselt.
Durch den Okkultismus,
der außerordentlich weit verbreitet ist, kommt nicht nur der Ausübende, sondern auch der Kranke, der dort Heilung erhofft, sehr häufig unter den Einfluß Satans, der nie ohne Gegenleistung hilft. Da die Heilige Schrift ein scharfes Urteil über das Treiben der Zauberer und Wahrsager gefällt hat, ist es begreiflich, daß die Menschen, die sich abergläubischer Handlungen bedienen, in schwere innere Not geraten können. Bei ihnen kann sich ein Gemütsdruck, begleitet von Läster- und Selbstmordgedanken einstellen, der der Schwermut ähnelt.

Es ist nun außerordentlich schwierig, beide Arten voneinander zu unterscheiden. Von vornherein ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine krankhafte Schwermut anzunehmen, wenn eine deutliche krankhafte Veranlagung und körperliche Störungen nachzuweisen sind. Selbst wenn früher einmal okkulte Praktiken angewandt worden sind, ist ein vorhandener Gemütsdruck nicht ohne weiteres darauf zurückzuführen. Ein ursächlicher Zusammenhang wird vielfach zu Unrecht angenommen, wo der Zustand nicht als Krankheit erkannt wird.

Besonders in den Fällen muß dieser Zusammenhang verneint werden, in denen der Gemütsdruck nicht weicht, obwohl der Christ seine Schuld klar erkannt, Buße getan und sich entschieden vom Satan losgesagt hat. Ebenso ist eine satanische Beeinflussung unwahrscheinlich, wenn der Gemütsdruck erst viele Jahre nach Anwendung des Sympathiezaubers auftritt und der Kranke während dieser Zeit ein Leben mit Jesus Christus geführt hat.

Aus all diesen Gründen ist große Zurückhaltung bei der Annahme eines Zusammenhangs zwischen einem Gemütsleiden und okkulten Praktiken geboten. Wenn der Seelsorger bei jeder Schwermut auf Zaubereisünden tippt, vielleicht sogar bei den Vorfahren des Betreffenden, kann sich diese Auffassung für den wirklich Schwermütigen verhängnisvoll auswirken. Durch das Forschen und Bohren wird er in seinen Grübeleien und Selbstvorwürfen begreiflicherweise noch bestärkt.


Ärztliche Behandlung und fürsogerische Betreuung
Da die Melancholie eine organisch bedingte Krankheit ist, deren Ursache bis heute noch nicht genau erklärt werden konnte, geschieht die Behandlung in erster Linie durch sogenannte Psychopharmaka, Medikamente, die auf gewisse Gehirnzentren einwirken und dadurch die psychischen Vorgänge günstig beeinflussen. An die Stelle der Medikamente kann eine Beeinflussung mit Elektroschocks treten. Aber mit Rücksicht auf die immer wieder auftretenden unangenehmen Folgeerscheinungen und die Entdeckung zahlloser neuer medikamentöser Behandlungsmethoden, ist die Schocktherapie wieder in den Hintergrund gedrängt worden. Bei Unruhe oder Angstvorstellungen sind neben den erwähnten Medikamenten die üblichen Beruhigungs- und Schlafmittel nicht zu umgehen. Die Überwachung durch den Arzt ist jedoch bei der medikamentösen Behandlung unerläßlich.

Neben der ärztlichen Behandlung spielt auch die Lebensgestaltung des Kranken eine wichtige Rolle. 
An erster Stelle steht ein geregelter Tagesablauf, in welchem Ruhepausen, Spaziergänge und leichte körperliche Arbeit im Haushalt oder im Garten miteinander abwechseln sollten. Dusch- und Vollbäder, Turn- und Atemübungen und Schwimmen sind sehr zu empfehlen. Eine leichte geistige Beschäftigung wirkt ablenkend, falls die krankhaften Hemmungen nicht zu stark sind.
Vielfach muß erst ausprobiert werden, was dem Kranken zugemutet werden kann. Dabei sollte er aber nicht alleingelassen werden, damit er sich nicht von neuem in seine Grübeleien verstrickt.
Morgens sollte der Kranke zu einer bestimmten Zeit aufstehen, um der Gefahr zu entgehen, in wachem Zustand seinen quälenden Gedanken nachzuhängen. Ist die Unruhe sehr groß und der Kranke zu keiner Arbeit zu bewegen, ist Bettruhe unvermeidlich. Jeder Arbeit, die dem Schwermütigen aufgetragen wird, muß eine genaue Anleitung vorausgehen, die ihm die eigene Verantwortung abnimmt; sonst ist zu befürchten, daß sich seine innere Unruhe vermehrt. Auch andere selbständige Entscheidungen müssen dem Kranken abgenommen werden, wie z.B. ein Wohnungswechsel, Kündigung eines Arbeitsverhältnisses, Aufgabe seines Berufes u.a. Glücklicherweise kommt es zur Durchführung solcher Pläne aufgrund der krankhaften Hemmungen meist nicht.

Wenn der Schwermütige nicht mehr allein in der Wohnung leben kann, sollte die Einweisung in eine gut geführte psychiatrische Klinik erfolgen, schon um der Angehörigen willen, deren Kräfte durch die ständige Sorge um ihn aufs äußerste beansprucht werden; das trifft besonders bei Selbstmordabsichten zu. Für den Kranken hat zwar die Unterbringung in einer Klinik nicht selten eine vorübergehende Verschlechterung seines Zustandes zur Folge, aber wenn der Zeitpunkt seiner Einweisung immer weiter hinausgeschoben wird, könnte die Familie von einem plötzlichen Selbstmordversuch überrascht werden.
Auch die Entlassung aus der Klinik darf nicht zu früh erfolgen. Erst wenn der Schwermütige keine Angst mehr vor der Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeit äußert und zu einer positiven Lebenseinstellung zurückgefunden hat, ist die Gefahr eines Rückfalls unwahrscheinlich. Der Kranke drängt zwar sehr oft auf eine vorzeitige Entlassung; aber eine Erfüllung dieses Wunsches hat sich oft als unzweckmäßig und verhängnisvoll erwiesen.

Auch nach seiner Rückkehr in die häuslichen Verhältnisse muß der Kranke noch längere Zeit geschont werden. Übernimmt er zu rasch wieder seine alten Aufgaben und Pflichten und ist er zu Hause zu vielen neuen Eindrücken ausgesetzt, besonders durch Besuche von Verwandten und Bekannten, muß unter Umständen mit einem Rückfall gerechnet werden. Deshalb ist gerade zu diesem Zeitpunkt die ärztliche Überwachung des geheilten eine zwingende Notwendigkeit.


Seelsorge an Schwermütigen
Zunächst ergibt sich die Frage, ob überhaupt eine seelsorgerliche Beeinflussung des Schwermütigen aussichtsreich ist, da diese Krankheit einer tieferen Veranlagung entspringt und nach bestimmten Gesetzen, auf die wir bis jetzt keine Einwirkung besitzen, auftritt und verschwindet. Hat hier nicht nur der Arzt das Wort zu sprechen?


Zweifellos ist eine seelsorgerliche Beeinflussung auf dem Höhepunkt der Schwermut so gut wie unmöglich, da der Kranke zu diesem Zeitpunkt gegenüber jeglicher Einwirkung unzugänglich ist. Darum muß sich der Seelsorger immer der Grenzen seiner Möglichkeiten bewußt bleiben.
Trotzdem hat ein verständnisvoller Seelsorger auch bei hochgradiger Schwermut eine wichtige Aufgabe zu leisten. Er darf dem Kranken allerdings nicht in der Meinung gegenübertreten, seinen Zustand ohne weiteres günstig beeinflussen zu können, sondern er darf es als seinen Dienst ansehen, dem Kranken die Gelegenheit zur Aussprache zu geben. Dieser sehnt sich meistens danach, sich auszusprechen, und empfindet es wohltuend, wenn ihm Liebe und Anteilnahme entgegengebracht werden.

Die Voraussetzung jeder erfolgreichen Beeinflussung ist das Vertrauen des Kranken zum Seelsorger. Der Schwermütige muß merken, daß jemand seine Not versteht und mit ihm fühlt. 
Hier zeigt es sich, wie schwierig die Seelsorge an Schwermütigen ist; denn sie unterscheidet sich wesentlich von der Seelsorge an gesunden Menschen. Geht der Seelsorger mit den gleichen Maßstäben an ihn heran, wie an einen Gesunden, würde er großen Schaden anrichten. Wer vielleicht eine hohe Meinung von seinem seelsorgerlich Können hat, der wird gegenüber Schwermütigen demütig, weil er erkennt, daß er allein nichts vermag, und daß alles von Gott und seinem Wirken abhängig ist.


Vorsichtig reden
Drei Dinge sind bei der Seelsorge an Schwermütigen unbedingt zu vermeiden:

Vorwürfe
Wenn dem Kranken z.B. vorgehalten wird, seine Grübeleien seinen lediglich eine Beschäftigung mit sich selbst und völlig unnütz, oder wenn man ihm sagt, seine Untätigkeit sei ein Unrecht gegenüber seiner Familie und seine Selbstvorwürfe nichts andere als eine Selbstbespiegelung, oder wenn der Bekenntniszwang vor Menschen als eine Selbsterlösung bezeichnet wird, so fehlt diesen Vorwürfen jede Berechtigung.
Es ist auch unrichtig, die Versündigungsideen, Angstzustände und Lästergedanken als Mangel an Glauben oder Folge einer Schuld zu bezeichnen. Bezichtigt sich der Kranke früherer Verfehlungen, hat der Seelsorger vorsichtig zu prüfen, ob diese Selbstanklagen begründet sind, wobei er sich hüten muß, dem Kranken als Richter gegenüberzutreten und allzusehr in der Vergangenheit herumzuwühlen. Meist kann leicht nachgewiesen werden, daß von einer Schuld keine Rede ist. Und selbst wenn eine Sünde eine auslösende Rolle bei seiner Erkrankung gespielt hat, wäre es auch in diesem Falle unberechtigt, dem Kranken Vorwürfe zu machen und ihn in seinen Schuldgefühlen zu bestärken. Der Seelsorger muß sich immer bewußt sein, daß jeder Vorwurf dem Kranken gegenüber diesen nur noch mehr in innere Not und Angst versetzen. Außerdem verliert der Kranke dadurch das Vertrauen zum Seelsorger, und er zieht sich völlig von ihm zurück. Ein einziger Vorwurf kann ihn zum Selbstmord treiben. In dieser Hinsicht ist schon von manchem Seelsorger unbeabsichtigt großer Schaden angerichtet worden.

Ebenso unangebracht ist es, dem Schwermütigen gegenüber von Besessenheit zu sprechen. Selbst wenn der Kranke überzeugt ist besessen zu sein, ist das niemals ein Beweis für wirkliche Besessenheit. Überhaupt ist das häufige Reden über satanische Mächte verkehrt, auch wenn der Kranke selbst mit Vorliebe davon sprechen sollte.

Christoph Blumhardt berichtet aufgrund seiner Erfahrung:
„Auch wenn ich jetzt in die Kräfte der Finsternis mehr hineinsehe als mancher andere, so spricht doch vielleicht niemand, der auch etwa daran glaubt, weniger davon als ich, am wenigsten vor dem Kranken selbst. Ja, wenn die Leute selber davon anfangen, so lasse ich mich nicht darauf ein, sondern lenke davon ab . . . “


Ermahnungen
Die Aufforderung, der Schwermütige solle sich aufraffen, seinen Gedanken nicht nachhängen, sondern Zerstreuung suchen und zum Gottesdienst gehen, ist bei stärkeren Hemmungen völlig unangebracht. Es ist absolut verkehrt, in dieser Richtung einen Zwang ausüben zu wollen. Nur bei Hemmungen leichteren Grades kann manchmal ein leichter Ansporn hilfreich sein. Die Berufung auf den Willen und die Selbstbeherrschung des Kranken ist lediglich in den Fällen nötig, in denen die Schwermut mit ausgesprochener Willensschwäche einhergeht. Das gleich gilt, wenn die Schwermut mit Anzeichen von Eigenwillen verbunden ist.

Aufforderungen
Ebenso gefährlich ist die Aufforderung zur Beichte, Buße und Bekehrung. Der Seelsorger muß wissen, daß eine Übergabe an Gott im Zustand tiefer Melancholie völlig unmöglich ist, da der Kranke weder eine klare Erkenntnis über sich selbst noch über die Liebe Gottes haben kann und außerstande ist, eine so weittragende Entscheidung zu fällen. Wird der Kranke jedoch immer wieder in dieser Hinsicht unter Druck gesetzt, kommt er zwangsläufig in vermehrte Grübelei und Selbstquälerei hinein. Er ist ohnehin schon unglücklich darüber, daß es ihm nicht gelingt, in Kontakt mit Gott zu kommen.

Darum muß er vielmehr begreifen, daß Gott keine Anforderungen an ihn stellt, die er nicht erfüllen kann. Erst in der Genesungszeit wird sich der Kranke bewußt der Frohen Botschaft öffnen können.


Der Seelsorger sollte auch Bekehrungsversuche vermeiden und dem Kranken zunächst ruhig zuhören, ohne ihn gleich zu korrigieren und ihm zu widersprechen. Ist erst das Vertrauen gewonnen, kann ein ruhiger Versuch gemacht werden, ihm seine verkehrten Gedanken auszureden. Es ist jedoch ein vergebliches Bemühen, den Kranken unbedingt überzeugen zu wollen.


Jeder Beweisführung gegenüber ist der Schwermütige vollkommen unzugänglich. Wer den Schwermütigen meint, mit Gewalt kurieren zu können, wird nur Enttäuschungen erleben. Alle diese Versuche tragen lediglich zu einer Vermehrung seiner Unruhe bei und bestärken den Kranken in dem Glauben, man verstehe ihn nicht.

Statt dessen: tröstender Zuspruch
Statt Vorwürfen, Ermahnungen und Belehrungen sollte der Seelsorger immer wieder tröstend auf den Kranken einwirken. Wenn er nicht aufhört, dem Schwermütigen zu versichern, daß die vermeintliche oder wirkliche Schuld, deren er sich selbst anklagt, nicht die Ursache seines Zustandes ist, sondern daß es sich um eine Krankheit handelt, stützt er darin wirksam die Bemühungen des Arztes. Gleichzeitig darf er den Kranken mit der Zusicherung trösten, daß er nicht unheilbar krank ist und auch keine dauernde Schädigung des Verstandes, des Willens oder des Gefühlslebens eintreten wird, sondern daß er mit Bestimmtheit wieder gesund werden wird, auch wenn er das zur Zeit noch nicht glauben kann.

Der Seelsorger ist in der glücklichen Lage, mit gutem Gewissen die volle Gesundung in Aussicht stellen zu können. Und wenn es während der Genesungszeit vorübergehende Rückschläge gibt – dies ist häufig der Fall -, wird der Seelsorger dem Kranken Mut machen, geduldig zu sein. 
Wird der Schwermütige von Selbstanklagen und Versündigungsgedanken gequält, darf der Seelsorger immer wieder auf das Sühnopfer Jesu Christi und die damit verbundene Vergebung hinweisen. Der schwermütige Christ muß sich die Tatsache, daß seine Schuld getilgt ist, täglich neu vergegenwärtigen, auch wenn der Zweifel ihm diesen Glauben nehmen will. Der Kranke darf getrost einen Strich unter seine Vergangenheit ziehen. Es ist gefährlich und unwahr, wenn der Seelsorger dem Kranken einzureden versucht, daß er neue Sünde auf sich lädt, wenn er die Vergebung nicht annimmt.



Der Seelsorger muß dem schwermütigen Christen die Angst nehmen, die Sünde wider den Heiligen Geist begangen zu haben. Nur glaubende Menschen haben Glaubensnöte. Der Schwermütige darf wissen, daß Gott derselbe ist, der er vor seiner Erkrankung war, daß er sein Leiden genau kennt und ihm die Ängste, die Läster- und Selbstmordgedanken nicht als Schuld anrechnet, weil diese ja gar nicht aus seinem herzen stammen. Er darf sich daran klammern, daß ihn auch die völlige Dunkelheit, die er in sich fühlt, nicht von Gott zu trennen vermag und daß Gott ihn liebt, weil er Gottes Kind ist, auch wenn er augenblicklich seine Wege nicht versteht.

Und wenn der Schwermütige meint, zwischen Gott und ihm sei eine unübersteigbare Mauer, darf er sich damit trösten, daß die Mauer eine Folge seiner depressiven Vorstellungen ist. Er darf sich sagen, daß Gott ihn festhält, auch wenn er sich von ihm verlassen glaubt, daß Gott da ist und ihn hört, auch wenn er meint, seine Gebete erreichen ihn nicht. Der Seelsorger soll nicht müde werden, dem Schwermütigen zu sagen, daß sein Zustand keine Strafe Gottes ist. Wie viele Schwermütige haben nach ihrer Genesung auch für diese dunkle Zeit Gott gedankt, weil sie ihm dadurch innerlich nähergekommen sind! Die Hilfe Gottes wird nicht ausbleiben. „Er führt in die Hölle und wieder heraus.“ Gott hat auch mit dem Schwermütigen seinen Plan, den er in seiner Liebe zur Durchführung bringen wird.

Der Seelsorger darf sich jedoch nicht beirren lassen, wenn der Kranke nur für kurze Zeit oder überhaupt nicht auf seinen Trost und Zuspruch reagiert. Oft ist es zweckmäßig, dem Schwermütigen in wenigen kurzen Sätzen aufzuschreiben, was der Seelsorger ihm zu sagen hat, damit der Kranke seine Worte immer wieder lesen und sich einprägen kann. 
Der Schwermütige sollte versuchen, das anzunehmen, was der Seelsorger ihm ans Herz legt. Weil er selbst Gott nicht glauben kann, darf er dem Seelsorger glauben, der vor Gott steht und für ihn eintritt.


Beratung
Wenn der Kranke sich im unklaren darüber ist, was Gott von ihm erwartet, sollte er den Rat des Seelsorgers einholen, da er in seinem krankhaften Zustand keinerlei eigene Entscheidungen treffen kann. Hat er z.B. das Verlangen, Sünden zu bekennen, die nicht vor Menschen bekannt werden müssen, oder meint er, eine bestimmte Schuld wiedergutmachen zu müssen, sollte er zuvor den Rat des gesunden und sachlich denkenden Seelsorgers annehmen.

Ebenso muß dem Kranken die Entscheidung darüber, ob er zum Gottesdienst gehen, am Abendmahl teilnehmen oder die Bibel lesen soll, abgenommen werden. Einerseits möchte der Kranke immer wieder das Wort Gottes hören und glaubt, daß er sich versündigt oder den inneren Halt ganz verliert, wenn er der Predigt fernbleibt; andererseits aber kann der Besuch eines Gottesdienstes oder einer Bibelstunde ihn in noch größere Unruhe versetzen, weil ihn entweder Gottes Wort kalt läßt oder er es als Anklage empfindet.

Nach einer Predigt macht er sich auch leicht den Vorwurf, nicht konzentriert zugehört zu haben. Um dem Kranken nicht zu schaden, braucht der Seelsorger viel Weisheit und Fingerspitzengefühl im Umgang mit ihm.

Auch die Teilnahme am Abendmahl ist für den Schwermütigen oft ein zweischneidiges Schwert. Meistens muß ihm davon abgeraten werden. Denn schon vorher grübelt er darüber, ob er sich auch genügend geprüft hat, und hinterher macht er sich sehr häufig Vorwürfe, am Mahl unwürdig teilgenommen zu haben. Und wenn der erhoffte innere Friede ausbleibt, wächst die Überzeugung, von Gott verstoßen zu sein.


Bibelworte und geistliche Lieder
Das Lesen der Bibel und anderer christlicher Bücher sollte der Seelsorger auch überwachen. Denn der Kranke nährt aus allem Gelesenen seine traurigen Gedanken und Wahnvorstellungen.
So kann z.B. das Trostwort: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Matth. 11, 28) den Schwermütigen stark bedrücken, weil er meint, nicht Folge leisten zu können.
Auch das Psalmwort. „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“ (Ps. 23) kann seine Qual verstärken, weil er die Furcht vor einem Unglück nicht ablegen kann.
Ebenso wird die Stelle: „Also hat Gott die Welt geliebt …“ (Joh.3, 16) dem Kranken gefährlich, weil er überzeugt ist, nicht glauben zu können und deshalb ewig verlorenzugehen.
Aus diesen Gründen sollten alle Bibelworte, die einen geistlichen Besitz voraussetzen oder eine Aufforderung enthalten, vermieden werden. Dazu kommen solche Stellen, die von Buße und Bekehrung, von der Endzeit, von Gericht und Verdammnis handeln. Sie sind für den Schwermütigen völlig ungeeignet.

Auf dem Höhepunkt der Melancholie ist es ratsam, dem Kranken die Bibel überhaupt nicht zur freien Verfügung zu überlassen. Statt dessen sollten dem Kranken biblische Aussagen wie z.B. Matth 5, 4; Joh. 16, 33; Röm. 8, 18; 1.Kor. 10, 13; 2. Kor. 12, 9; 1. Joh. 3, 20; Offb. 7, 17; Ps. 34, 19.20; Jes, 43, 1-4 vorgelesen werden.

Dasselbe gilt auch für geistliche Lieder. Wir haben einen großen Schatz von Liedern, die manchen Schwermütigen, besonders in schlaflosen Nächten, getröstet haben. Und doch können nicht wenige Lieder, besonders Lob- und Evangelisationslieder, den Kranke stark belasten. Geeignete Lieder sind: „Gott ist getreu“; „Was Gott tut, das ist wohlgetan“, „Stillehalten deinem Walten“; „In allen meinen Taten“, „Jesus, Heiland meiner Seele“; „So nimm denn meine Hände“; „Befiehl du deine Wege.
Eine ungünstige Beeinflussung des Kranken können dagegen schon folgende Lieder haben: „Keiner wir zuschanden“; „Mir nach, spricht Christus, unser Held“; „Blicke nur auf Jesum“; „Wenn ich ihn nur habe“; „Nur mit Jesu will ich Pilger wandern“; „Wer nur den lieben Gott läßt walten“.

Gemeinsames Gebet
Ob der Seelsorger mit dem Schwermütigen beten soll oder nicht, muß von dessen Zustand abhängig gemacht werden. Auf jeden Fall sollte der Kranke zuvor gefragt werden, ob er mit einem gemeinsamen Gebet einverstanden ist. Sowohl die Erwartung seines Gebets als auch der Zwang zum Beten würden seine Not nur vergrößern, da er aufgrund seiner Hemmungen oft gar nicht selbst beten oder dem Gebet eines anderen folgen kann. 
Aber auch wenn der Kranke um das gemeinsame Gebet bittet, kann man nicht selten erleben, daß sich durch plötzliche Zweifel und Zwangsgedanken die innere Unruhe vermehrt. Darum muß der Seelsorger gerade in diesem Punkt besonders taktvoll und weise vorgehen.

Oft ist es für den Kranken, der weder glauben noch beten kann, wohltuend, wenn ihm der Seelsorger zusichert, für ihn zu beten. In leichteren Fällen übt das gemeinsame Gebet oft eine beruhigende und befreiende Wirkung aus, wenn der Kranke sieht, daß der andere seine Last auf sich nimmt und vor Gott bringt.

Ist das gemeinsame Gebet jedoch nicht angezeigt, hat der Seelsorger in besonderer Weise die Pflicht, für den Schwermütigen fürbittend einzutreten. Er wird auch andere Christen dazu auffordern. Es ist das Vorrecht der gesunden Christen, für ihre kranken Brüder und Schwestern Fürbitte zu tun. Sie sind ihnen diesen Liebesdienst schuldig (!Thess. 5, 14; Hebr. 13, 3).

Handauflegung
Große Zurückhaltung ist auch bei der Anwendung der Handauflegung geboten. Damit ist schon manchem Schwermütigen sehr geschadet worden. Der Kranke, bei dem das Auflegen der Hände nicht die ersehnte Besserung brachte, sieht darum gewöhnlich eine Bestätigung seiner Meinung, von Gott verlassen und unheilbar krank zu sein. Dadurch wird er geradezu in die Verzweiflung hineingetrieben.
Im allgemeinen sollte man zurückhaltend in dieser Sache sein, und auch nur auf ausdrückliches Bitten des Kranken hin (gemäß dem Wort: „Ist jemand krank, der rufe die Ältesten in der Gemeinde“, Jak. 5, 14) die Hände auflegen, es sei denn, daß der Seelsorger sich unmittelbar von Gott dazu berufen weiß.

Liegt der Verdacht von Selbstmordabsichten vor, muß der Seelsorger den Kranken immer wieder eindringlich auffordern, ihm von seinen Selbstmordgedanken Mitteilung zu machen. Der Schwermütige fühlt sich sehr oft erleichtert, wenn er nur seine Gedanken aussprechen kann. Bei echten Selbstmordabsichten kann der Seelsorger die Verantwortung nicht allein tragen, sondern die Angehörigen zur vermehrten Wachsamkeit veranlassen oder auf die Hinzuziehung eines Arztes dringen.

Wenn der Arzt die Einweisung in eine psychiatrische Klinik für erforderlich hält, wird der Seelsorger diese Absicht unterstützen und auch den Angehörigen zu diesem Schritt raten. Der Seelsorger soll sich auch davor hüten, für eine vorzeitige Rückkehr des Kranken nach Hause einzutreten, da eine zu frühe Entlassung nicht selten einen Rückfall bringt.
gerade nach seiner Rückkehr in die häuslichen Verhältnisse muß der Seelsorger dem Kranken zur Verfügung stehen, da sich dieser über die in der Anstalt aufgenommenen Eindrücke aussprechen will.

6. Die manische (leichtmütige) Veranlagung
Das Gegenteil der schwermütigen Veranlagung bildet die leichtmütige (manische) Veranlagung, eine krankhafte Steigerung der leichtblütigen (sanguinischen) Gemütsart.

Ein manisch Veranlagter ist von Jugend auf ein übersprudelnder, tätiger Sanguiniker, der bis zur Hemmungslosigkeit Unrast verbreitet. Heitere Grundstimmung und gehobenes Selbstgefühl schalten Selbstkritik und Besonnenheit weitgehend aus. Harmlos wie ein Kind, vertrauensselig, mitteilsam und offen, menschenfreundlich, gutherzig und hilfsbereit, knüpft er immer neue Beziehungen an. In der Unterhaltung ist er außerordentlich redselig, liebenswürdig und zu Scherzen aufgelegt, dabei sprunghaft und leicht ablenkbar. Da er aber auch launisch, großsprecherisch, taktlos und vorschnell in seinem Urteil sein kann, kommt es häufig zu Spannungen mit seiner Umgebung.
Von seinen Leistungen ist er überzeugt, nicht immer zu Unrecht, da er oft glänzend, aber einseitig begabt ist. Seinem Tun fehlt die Ausdauer und Stetigkeit; in seinen Entschlüssen ist er oft unberechenbar.

Sein geistliches Leben ist oberflächlich; in die Tiefe gehende Fragen machen ihm wenig zu schaffen. Zum Gebet und zum Bibellesen fehlt ihm oft die Ausdauer, und echte Sündenerkenntnis hat er selten.
Überzeugt von seiner Frömmigkeit, kommt er leicht zu Fall, was ihn aber nicht besonders anficht. Er ist davon überzeugt, daß Christus ihm sehr schnell vergeben wird. Mit einer starken Neigung zu allzu vertraulichem Umgang mit Gott, hält er sich für ein Kind Gottes, das besondere, wunderbare Führungen erlebt. Er kann stundenlang über seine herrlichen Erfahrungen reden, wobei er zur Schwärmerei neigt. Der Umgang mit den Glaubensgeschwistern wird sehr oft durch sein rechthaberisches und unbeherrschtes Wesen getrübt.

Der Seelsorger darf nun nicht den Fehler machen, krankhafte Äußerungen als unabänderlich hinzunehmen. Dadurch würde er ihn falsch beurteilen. Sondern er soll ihn auf krankhafte Neigungen aufmerksam machen und ihn zur Selbstzucht anregen. Sein übergroßes Vertrauen muß gedämpft und sein Wille und seine Ausdauer gestählt werden. Die Aufgabe des Seelsorgers schließt ein, daß er ihm die Heiligkeit Gottes vor Augen stellt und ihn zur Sündenerkenntnis und Buße anleitet.
Nur durch eine entschiedene Nachfolge Jesu Christi, durch Gebet und durch eine geregelte Arbeit auch im Dienst für den Nächsten können die gefahren, die in seiner Veranlagung liegen, gebannt werden. Bei aller Liebe ist es nötig, dem manisch Veranlagten gegenüber ernste Töne anzuschlagen, damit er einigermaßen zur Selbstbesinnung gebracht wird.

7. Die Manie
Wie die schwermütige Veranlagung häufig in eine Schwermut mündet, führt die manische Veranlagung sehr oft zu einer Manie. Auch hier ist eine krankhafte Veranlagung bei einem hohen Prozentsatz aller Fälle festzustellen.

Wie beschränken uns auf das Krankheitsbild der leichten Manie, da dieses für den Seelsorger in erster Linie in Frage kommt. Hierbei unterscheiden wir im wesentlichen zwei Formen. Bei der einen Form ist die Stimmung des Kranken auffallend heiter, oft geradezu ausgelassen. Er kann sich kindlich und überschwenglich auch über kleine Dinge freuen. Seinem übervollen Herzen macht er durch häufiges Singen Luft, und er ist wunschlos glücklich. Schwere Erlebnisse und Enttäuschungen beeinträchtigen seine Stimmung nur wenig; mit Leichtigkeit kommt er über sie hinweg.
Im Umgang mit anderen Menschen legt der Musiker einen unverwüstlichen Humor an den Tag. In der Unterhaltung springt er unvermittelt von einem Thema zum anderen, und in seinen Erzählungen neigt er zu Übertreibungen, Verdrehungen und überschwenglichen Ausdrücken, wobei er ausführlich nur von sich und seinen Erfolgen redet.

Durch sein vieles und lautes Sprechen fällt er seiner Umgebung stark auf die Nerven, ohne daß er sich dessen bewußt wird. Mit seinen Mitmenschen schließt er rasch Freundschaft, und in Liebesbezeugungen ist er oft maßlos. Dem anderen Geschlecht gegenüber fehlt es an Zurückhaltung; er ist leicht aufdringlich, burschikos, taktlos und indiskret.

In seinem Handeln zeigt der Maniker eine außergewöhnlich Unternehmungslust, unermüdliche Arbeitskraft und große geistige Regsamkeit. In einem Zustand dauernder Hochspannung, kann er wenigstens zu Beginn der Krankheit wertvolle Leistungen vollbringen und große Erfolge im Leben erringen.

Über Schwierigkeiten kommt er spielend hinweg. Doch steigert sich sein Tatendrang häufig bis zur ruhelosen Vielgeschäftigkeit. Er arbeitet nächtelang oder steht schon sehr früh auf, um sich zu betätigen. Er schmiedet immer wieder neue Pläne und faßt bedenkenlos weitreichende Entschlüsse.

Doch fehlt seiner Arbeit meist die Ausdauer. Er beginnt alle möglichen Dinge, ohne sie zu Ende zu führen. Seine anfangs mit Begeisterung aufgenommenen Pläne verwirft er bald wieder, um etwas anderes, Neues aufzugreifen.
In seinem Bildungsdrang kauft er sich eine Menge Bücher, die er jedoch nur flüchtig liest. Er wird nicht müde, schwungvolle Briefe und überschwengliche Gedichte zu schreiben. In seiner Leichtgläubigkeit sieht er alles zu rosig, und jede ruhige Überlegung oder sachliche Beurteilung geht ihm ab. Dadurch gerät er oft in gewagte Unternehmungen. Er hält sich für fähig, große Pläne zu verwirklichen, und ist fest davon überzeugt, daß ihm alles gelingt, was er unternimmt. Auch finanziell kennt er keine Grenzen und bringt sich dadurch leicht in Schulden.

Bei der anderen Form der leichten Manie steht eine starke Reizbarkeit im Vordergrund. Der Kranke ist in dauernder Erregung, unverträglich, rechthaberisch, ausfallend gegenüber der leisesten Kritik und streitsüchtig. So lebt er in ständiger Fehde mit seiner Umgebung, und die Reibereien können sogar in Tätlichkeiten ausarten. Sobald der andere eine ungeschickte Bemerkung macht, ist er gekränkt und braust auf.

Durch seine stark übertriebene Selbsteinschätzung erwartet er besondere Anerkennung von den anderen. Wird er nach seiner Meinung falsch angefaßt, läßt er sich zu scharfen Ausdrücken und ungerechten Urteilen hinreißen. Er tritt anmaßend auf, mischt sich in alles ein und benimmt sich seinen Vorgesetzten gegenüber respektlos. Seinen Mitmenschen gegenüber kennt er keine Rücksichtnahme. Unzufrieden und nörgelnd beklagt er sich dauernd über Schwierigkeiten. Gegenüber Ratschlägen und Ermahnungen ist er völlig uneinsichtig, da er von seiner Vollkommenheit überzeugt ist. Er sieht nur die Schwächen und Fehler der anderen, während ihm jedes Verständnis für sein Fehlverhalten und die Krankhaftigkeit seines Zustandes fehlt. Nicht er ist krank, sondern die anderen.

Beide geschilderten Formen der leichten Manie können natürlich in den verschiedensten Mischungen auftreten. – Körperlich fühlt sich der Maniker meist sehr wohl. Sein Stoffwechsel arbeitet ausgezeichnet, und nervöse Beschwerden sind ihm fremd.

Bei einem manischen Christen tragen die Krankheitsäußerungen zum Teil religiösen Charakter. In gehobener Stimmung ist er überglücklich mit seinem Gott. Er betont immer wieder, welche innere Befreiung er erlebt hat und welche wunderbaren Erfahrungen er täglich machen darf. Er ist fest davon überzeugt, daß Gottes Geist in besonderer Weise mit ihm redet und daß ihm eine Fülle von Erkenntnis geschenkt ist. Überzeugt davon, daß Gott etwas Besonderes mit ihm vorhat, fühlt er sich von ihm dazu berufen, seine Pläne zur Ausführung zu bringen.

In seinem geistlichen Hochmut fehlt ihm jede Erkenntnis der Sünde und der Notwendigkeit der Buße. Er hält sich einer Sünde nicht für fähig, weil ihm Gott die Kraft zum Überwinden des Bösen verliehen hat.
Seine geistliche Erkenntnis uns seine vielen Erfahrungen sind auf Gefühle gegründet und oberflächlicher Natur. Mit Leichtigkeit setzt er sich über Bedenken hinweg, und das Gefühl für sein oft unwürdiges Verhalten als Christ fehlt ihm völlig. In seinem Rededrang spricht er überschwenglich und wortreich ununterbrochen von seinen geistlichen Erfahrungen – mit Vorliebe in der sogenannten „Sprache Kanaans“. Seine Briefe sind mit Worten aus der Bibel gespickt, und jede Predigt ist ihm aus der Seele gesprochen. Im Gesangbuch und in der Bibel wird fast jeder Vers, den er singt und liest, unterstrichen, und eine Menge Randbemerkungen zieren seine Bücher.

Der Einsatz für seinen Herrn ist dem manischen Christen eine selbstverständliche Pflicht, und in den Werken der Nächstenliebe kann er sich geradezu aufopfern. Seine Ersparnisse fließen den Missionswerken zu, er fehlt in keiner Versammlung und läßt keine Gelegenheit aus, ein Zeugnis abzulegen. Dabei fehlt es ihm häufig an Takt und Bescheidenheit. Jeden, der ihm in den Weg kommt, versucht er zu bekehren.

Maniker, die vor ihrer Erkrankung dem Christentum neutral gegenübergestanden haben, können eine starke Vorliebe für das religiöse Leben entwickeln. Sobald die Manie aber verschwunden ist, ist auch ihre religiöse Neigung ausgelöscht. Andererseits wendet sich der Maniker nicht selten von Gott ab, während er als Gesunder durchaus geistlich orientiert war.
Dazu ein Auszug aus dem Brief eines leicht manischen jungen Mädchens, das eben eine Schwermutszeit überstanden hatte:
„Mein Leben war in letzter Zeit erfüllt mit Glück und Sonne, mit gesegneter Arbeit im Freien und einer tiefen Freude im Herzen. Zwar ist die Arbeit nicht so einfach, wie ich gedacht hatte, es gehört viel Ausdauer und Pünktlichkeit dazu. Alles sieht viel leichter aus, als es ist. Aber mit Lust und Liebe zur Sache, mit echtem Wollen geht es. Es ist so schön: Man sieht, was man fertiggebracht hat, und das ist eine wunderbare Sache.

In meinem Innern hat sich das gefestigt, was an Gutem in mich hineingelegt wurde, und Gott hilft mir bei allem. Ich habe ein ganz starkes persönliches Verhältnis zu meinem Schöpfer bekommen, ein tiefes Dankgefühl für den reichen Sommersegen und das große innere Glück. Es ist herrlich, zu leben und nach bitteren Winternächten zu dieser Freude zu erwachen. Ich erkenne jetzt, daß ich früher in meiner Schwermut nur mir selber lebte. Wenn man jetzt wieder für etwas arbeitet und da ist, sich hingeben, opfern und lieben kann, dann wächst man über sich selbst hinaus. Schwermut ist eigentlich purer Egoismus und muß hart angepackt werden. Trotzdem wäre ohne die unendliche Liebe und Güte meiner Umgebung bei mir nichts erreicht worden. Erbarmende Liebe und vor allem Glauben, wo man selbst keinen hat – das ist es, was hilft. Leiden sind da, um reicher und reifer zu machen. Sie öffnen die Augen für vieles. Man sieht es nur nicht, wenn man noch darunter seufzt.

Ich sehe das Leid im Vergangenen jetzt so: Gott schickte es mir, weil er etwas mit mir vorhatte. Also als ein Geschenk aus seiner Hand, und darum kostbar. Ich glaube, ich bin auf dem guten Weg, und bitte Gott immer wieder, mich weiter zu führen. Ganz elend kann man nun nie mehr werden. Nicht wieder ohne Vertrauen, Glauben und Lieben.
In die liebe. Kleine Dorfkirche gehe ich außer zu Gottesdiensten auch zu den Bibelstunden. Die Auslegungen des Pfarrers sind sehr gut. Leider konnte ich nur viermal hingehen, da ich mir den Fuß verstaucht hatte und lange daran herumlaborierte. Erst jetzt, nach Wochen, kann ich wieder auftreten. Aber so was ist ja bloß äußerlich . . . “

Diesem Brief lagen folgende Zeilen der Schwester des jungen Mädchens bei:
„Ohne Wissen meiner Schwester und ohne ihren Brief gelesen zu haben, möchte ich Ihnen schreiben. Sie werden gewiß sehen, daß meine Schwester wieder sehr unruhig und nervös ist; wir alle leiden darunter sehr. Sie lebt in allem maßlos übertrieben, geht seit Tagen sehr spät zu Bett und stört die Hausbewohner; sie denkt nicht einmal daran, Rücksicht zu nehmen, und auf Ermahnungen antwortet sie mit Ungezogenheit. Sie ist arrogant und selbstherrlich, was ihren Glauben, von dem sie redet, in keiner Weise entspricht. Weder unsere Mutter noch ich können irgend etwas bei ihr erreichen.
 Ihr augenblicklicher Zustand ist wirklich beunruhigend, und ihre Ausgelassenheit läßt uns einen baldigen Rückschlag ahnen . . . “

Die geschilderten Krankheitserscheinungen treten in der Regel periodisch auf. Zeiten gehobenen Glücksgefühls schieben sich zwischen längere oder kürzere Pausen gesunder Stimmungen oder wechseln mit Zeiten von Schwermut ab. Die Dauer der manischen Zeiten ist wie die der Schwermut ganz unterschiedlich und läßt sich im voraus keineswegs bestimmen. Die Mehrzahl der Erkrankungen erstreckt sich über mehrere Monate. Ihre Ursache ist nicht sicher bekannt. Doch ist sie ebenso wie die Schwermut offenbar bedingt durch Störungen im inneren Drüsensystem, die wiederum auf krankhafter Veranlagung beruhen. Hierbei können Erregungen aller Art eine auslösende Rolle spielen.


Die Manie wird in ihren leichten Formen von der Umgebung des Kranken und auch vom Seelsorger sehr häufig falsch beurteilt, da der Maniker zunächst den Eindruck eines kerngesunden und vitalen, aktiven Menschen macht. Die Krankhaftigkeit des Zustands kann am Anfang völlig übersehen werden. Besonders wenn keine Schwermut vorausgegangen war.
Die Umgebung des Manikers freut sich meistens über sein Wohlbefinden, bis irgendeine auffallende Handlung keinen Zweifel an der wahren Natur seiner Krankheit läßt. Aber auch einsichtsvolle Angehörige sind geneigt, das Verhalten des Manikers mit rein sittlichen Maßstäben zu messen. Sie halten ihn für schlecht erzogen und hemmungslos, sie beklagen sich über seine Rücksichtslosigkeit und Reizbarkeit, machen ihm Vorwürfe und versuchen, ihn durch Ermahnungen und Zurechtweisungen zur Vernunft zu bringen. Auch hinter der religiös verkleideten Manie wird nicht selten ein hoher Glaubensstand vermutet, was zu schweren Folgen führen kann.


Daß die Manie ebenso wie die Schwermut eine Krankheit ist, geht nicht nur aus der Vorgeschichte der krankhaften Veranlagung, sondern auch aus dem oft ohne erkennbare Ursache erfolgten Auftreten und dem ganzen Verlauf eindeutig hervor. Auch die Manie ist, ebenso die Schwermut, heilbar, ohne daß ein geistiger Schaden zurückbleibt.
Die ärztliche Behandlung beschränkt sich auf das Verabreichen von Beruhigungs- und Schlafmitteln. Wenn die Erregungen oder die auffallenden Handlungen zunehmen, läßt sich die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oft nicht vermeiden.

Die Seelsorge bietet, wenigstens auf dem Höhepunkt der Krankheit, nur geringe Aussicht auf Erfolg. Begreiflicherweise, denn der von krankhaftem, übersteigertem Selbstgefühl beherrschte Maniker ist kaum zu beeinflussen.


Als Regel gilt für den Seelsorger, sich wie bei der Schwermut auf gar keinen Fall über sein Verhalten aufzuregen und zu ärgern. Mit Vorwürfen, Ermahnungen und Belehrungen sollte man zurückhaltend sein, da diese nur eine vermehrte Aufregung oder einen Zornesausbruch des Kranken hervorrufen würden. Die Umgebung des Manikers muß vielmehr darauf bedacht sein, alle Erregungen von ihm fernzuhalten. Seine Handlungen müssen überwacht werden, um ihn vor unbedachten Taten zu bewahren. Selbständige Entscheidungen des Kranken müssen vermieden und seine hochfliegenden Pläne in realisierbare Bahnen gelenkt werden.
Er muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß die Durchführung seiner Pläne seine Unruhe verstärken würde und daß er es deshalb lernen muß, mit einer seinen Kräften angepaßten Tätigkeit zufrieden zu sein. Erfahrungsgemäß wird der Seelsorger dabei auf Widerstand stoßen, weil der Kranke seine Ratschläge für überflüssig hält. Ruhige Freundlichkeit und unermüdliche Geduld sind Grundvoraussetzungen für den Umgang mit Manikern.

Eine geistliche Beeinflussung ist nur in leichteren Fällen bis zu einem gewissen Grade möglich. Dem Kranken geht meist der Sinn für Schuld und Sünde ab, und seine Unbeständigkeit steht einem echten Glauben im Wege. Der Seelsorger muß auf die Überschwenglichkeit und die Hochstimmung seiner religiösen Gefühle mit Vorbehalt reagieren, um nicht enttäuscht zu werden. Verantwortung oder Leitung dürfen manisch Kranken in der Gemeinde keinesfalls übertragen werden. Auch darf bei solchen Kranken nicht Gelegenheit gegeben werden, öffentlich Zeugnis abzulegen. 
Erst auf dem Wege der Genesung wird sich die Seelsorge voll entfalten und den Kranken erfolgreich beeinflussen können.

8. Die wechselmütige Veranlagung
Außer der schwermütigen und leichtmütigen Veranlagung beobachten wir eine wechselmütige Veranlagung, die sich durch einen starken Stimmungswechsel auszeichnet. Aktivität, Heiterkeit, Lebenslust und Spannkraft werden ohne ersichtliche Veranlassung von Abgespanntheit, Übellaunigkeit und Mißmutigkeit abgelöst. Einige Wochen oder Monate später kehrt die alte Frische und Spannkraft wieder zurück. Unzählige Menschen, unter ihnen sind viele Künstler, leiden unter dem Wechsel ihrer Stimmung. Sie sind nur während eines Stimmungshochs zur Arbeit fähig. Im seelischen Gleichgewicht befinden sie sich selten. Ihre Stimmungskurve verläuft meist entweder über oder unter der normalen Linie. 
Dem Wechselmütigen wird im manischen Stadium aufgrund seiner Gereiztheit und Nörgelei häufig gekündigt, während er in depressiven Stadium aufgrund seiner Entschlußunfähigkeit und geistigen Schwerfälligkeit von sich aus seine Stellung aufgibt, um seiner Umgebung nicht zur Last zu fallen. Der Stimmungswechsel ist völlig unregelmäßig. Die Ausgelassenheit dauert nur einige Stunden oder Tage, während die depressive Phase wochenlang anhalten kann. Die Schwankungen neigen dazu, sich mehr und mehr auszudehnen und schließlich das ganze Leben zu erfüllen. 
Sie unterscheiden sich von den Zeiten der Schwermut und Manie nicht nur durch ihre kürzere Dauer und geringere Stärke, sondern auch durch eine gewisse Beeinflußbarkeit. So können sich manche Kranke derart beherrschen, daß sie in Zeiten der Verstimmung nach außen hin nicht auffallen und nur zu Hause ihren trüben Gedanken nachhängen.
Naturgemäß ist auch das Glaubensleben solcher Menschen außerordentlichen Schwankungen unterworfen. In einem Brief heißt es: „In den letzten Jahren wechselten oft gute Zeiten mit schlechten. Zeitweise kann ich fröhlich sein und alles dankbar hinnehmen und mich meines Glaubens freuen. Ich nehme mir dann vor und bitte Gott darum, daß ich nicht wieder in Anfechtung falle und daß ich mir dann in schweren Wochen vergegenwärtigen will, daß ich krank bin. Aber es dauert nicht lange, bis wieder eine unerklärliche Verstimmung über mich kommt, die meine Aktivität lähmt und meinen Glauben schwächt. Doch schenkt mir Gott immer wieder so viel Kraft, daß ich mich durchringe, meinen Aufgaben nachzukommen.“

Der Seelsorger wird Glaubensschwankungen eines wechselmütig Veranlagten nicht als Schuld, sondern als Krankheit ansehen und ihm von daher keinen Vorwurf machen, daß er sich in seiner Unbeständigkeit von seinen wechselnden Stimmungen hin und her reißen läßt. Er hilft ihm, indem er ihn aufzurichten versucht und ihm im Blick auf eine Besserung Mut macht.

In Zeiten gesunder Stimmungen wird ein regelmäßiges Bibelstudium geistliche Reserven schaffen, die dem Kranken zur Verfügung stehen, wenn die Stimmungkurve fällt und der Glaube angefochten wird.

9. Die manisch – depressive Gemütsstörung
Die manisch-depressive Gemütsstörung kann, ohne daß vorher eine besondere seelische Labilität vorlag, aufgrund einer ererbten Anlage krankhaften Charakter annehmen.

Bei dieser Krankheit wechseln in unregelmäßigen Abständen Zeiten der Schwermut mit Zeiten der Manie. Eine manische Erregung kann sich unmittelbar an einen Schwermutsanfall anschließen oder erst nach einer längeren Pause, in der die Stimmung völlig ausgeglichen und die Leistungsfähigkeit normal waren. Oder wir beobachten nach einer Reihe von gesunden Jahren zahlreiche manische Anfälle, die wieder von einzelnen Schwermutsanfällen unterbrochen werden.

So ergeben sich die verschiedenartigsten Reihenfolgen, in denen beide Gemütskrankheiten auftreten können. Die Ursachen, die den Wechsel bewirken, sind noch unbekannt, aber eine völlige Heilung ist nicht ausgeschlossen.

Das Glaubensleben des kranken Christen ist auch hier starken Schwankungen unterworfen.
 So machte sich ein Kranker einige Wochen nach einer Evangelisation schwere Vorwürfe, er habe sich dem Teufel verschrieben, um das Wort von der Vergebung gelte nicht ihm, sondern nur das Wort des Gerichts, und sein Beten dringe nicht mehr bis zu Gott.
Bald darauf machte diese Schwermut einem überschwenglichen Gefühl Platz, und er fing an, die Gnade Gottes zu rühmen, die ihm widerfahren sei.

Aber auch dieser Zustand hielt nicht lange an; zunächst mischte sich wieder die Angst vor den dunklen Gedanken unter die Freude, und bald hatte die Schwermut die Oberhand wie zuvor.

Daß es sich bei manisch-depressivem Irresein um eine Krankheit handelt, ist für den Seelsorger meist rasch erkennbar, wenn er sich eingehend mit dem Kranken unterhält. Leicht verkannt wird aber die auf eine Schwermutszeit folgende plötzliche Übergabe an Gott, die scheinbar Züge einer echten Bekehrung hat. Doch ist auch hier die Krankheit oft sehr schnell durch das stark schwärmerische und aufdringliche Verhalten des Kranken zu erkennen. Im übrigen gelten für Arzt und Seelsorger die im Kapitel Schwermut und Manie genannten Regeln.

10. Gemütskrankheiten und Ehe
Die Frage, ob ein Gemütskranker heiraten soll und darf, ist für ihn selbst wie auch für seine Angehörigen von großer Bedeutung.
Der leichtmütig Veranlagte und der Depressive haben meistens den starken Wunsch und das Verlangen nach einem Lebensgefährten, um alles, was sie bewegt, mit jemand teilen zu können.


Der Seelsorger wird sie – falls sie Heiratsabsichten äußern – an einen Facharzt verweisen. Treten die krankhaften Züge nicht zu stark in Erscheinung, wird der Arzt meist keine wesentlichen Bedenken gegen eine Verheiratung haben. Selbstverständlich ist mit Nachdruck zu betonen, daß eine Ehe nur mit einem seelisch Gesunden in Frage kommt, einem Menschen, der die Fähigkeit besitzen muß, den Gemütsschwankungen verstehend entgegenzukommen. Und den Partner in Liebe und Geduld zu tragen.

Dabei sollte besonders berücksichtigt werden, daß das Wesen des gesunden Ehepartners keine allzu große Ähnlichkeit mit dem des Kranken aufweist. Würden beide in ihrer Wesensart einander zu sehr gleichen, wäre die Gefahr einer Vererbung der Gemütskrankheit außerordentlich groß; auch könnten beide, Mann und Frau, einander keine wesentliche Hilfe im Lebenskampf sein, vielmehr würde der Gesunde den Kranken nur in seiner Labilität bestärken.
Andererseits dürfen die Partner auch nicht zu verschieden sein, da dies das gegenseitige Verstehen erschweren würde. Der Gesunde sollte daher nicht nur fröhlich, ausgeglichen und positiv sein, sondern ein gutes Stück Ernsthaftigkeit besitzen, damit er den anderen in seinem Trübsinn sowohl verstehen als auch aufmunternd beeinflussen kann. Nur durch diese Ergänzung kann auch die Ehe mit einem zu Schwermut bzw. Leichtmut neigenden Partner glücklich werden und bleiben.


Sehr viel schwieriger ist die Frage der Verheiratung eines ausgesprochenen Melancholikers bzw. Manikers. Bei diesen Gemütskrankheiten, besonders wenn sie schon in der Pubertät auftreten, ist die Wahrscheinlichkeit der Vererbung auf die Nachkommen außerordentlich groß.
Wenn bei einem der Ehepartner eine der Störungen vorliegt, ist laut Statistik bei fast zwei Dritteln der Kinder eine seelische Krankheit zu befürchten. Sind beide Eltern gemütskrank, sind ihre Kinder durchweg gefährdet.
Diese Tatsache gibt Veranlassung, bei Melancholie und Manie dringend von einer Ehe abzuraten. Wenn diese Krankheiten durch äußere Anlässe und nicht ohne erkennbare Ursache ausgelöst werden, sind die Bedenken gegen eine Verheiratung nicht ganz so groß, da wissenschaftliche Erfahrungen zeigen, daß die Erbanlage in diesem Falle wesentlich schwächer ist.

11. Die Voraussetzungen der Seelsorge
Die Aufgabe der Seelsorge an Gemütskranken ist äußerst verantwortungsvoll. Jede Seelsorge muß scheitern, wenn drei Dinge fehlen:

Weisheit
Worin besteht die Weisheit im Umgang mit Gemütskranken? Zunächst darin, daß der Seelsorger Menschenkenntnis besitzt, um sich über den Kranken ein richtiges Bild machen zu können. Er muß klar erkennen, ob der Kranke die Wahrheit sagt oder manches einseitig darstellt; ob er alles bekennt, was nötig ist. oder ob er Wichtiges verschweigt; inwieweit eine krankhafte Anlage oder Schuld vorliegt usw. Nur aufgrund dieser Fähigkeit kann der Seelsorger wirklich helfen.



Die Weisheit besteht auch darin, daß der Seelsorger das rechte Wort zur rechten Zeit findet. Er muß sich sehr davor hüten, schematisch vorzugehen und mit einigen gutgemeinten, aber billigen Redensarten den seelisch Kranken abzuspeisen. So, wie jede körperliche Wunde gewissenhaft und sachgemäß behandelt werden muß, so muß auch der Seelsorger auf den Gemütskranken und dessen besonderen Zustand eingehen. In diesem Fall kann eine Aufmunterung, im anderen ein Wort der Ermahnung oder sogar der Strenge angebracht sein.

Immer aber sind Äußerungen zu vermeiden, die dem empfindsamen Kranken schaden könnten. Es besteht kein Zweifel, daß „Kurpfuscherei“ sich bei seelischen Störungen wesentlich verhängnisvoller auswirkt als bei körperlichen Erkrankungen.


Der Seelsorger braucht viel Weisheit, um den Kranken nicht zu verletzen, zu ängstigen, zu bedrücken oder aufzuregen! Eine unvorsichtige Äußerung oder ein einziges ungeschicktes Wort hat nicht selten das vielleicht mühsam errungene Vertrauen des Kranken auf lange Zeit oder für immer gestört. Wenn er dagegen merkt, daß ihm der Seelsorger Verständnis entgegenbringt, keine Phrasen drischt und nicht an ihm herumpfuscht, ist ihm ein wesentlicher Dienst geleistet.
Auch die geistige Beeinflussung des Kranken muß mit Weisheit geschehen. Es ist völlig verkehrt, den Kranken zu drängen, die Auffassung des Seelsorgers anzunehmen, und Forderungen an ihn zu stellen, die er in seinem Zustand gar nicht ohne weiteres erfüllen kann.
In vielen Fällen bleibt dem Seelsorger zunächst nichts anderes übrig, als fürbittend für den Kranken einzustehen.
Liebe
Psychologische und pädagogische Begabung und Ausbildung, so wertvoll sie sind, genügen aber im Umgang mit Gemütskranken nicht. Der Seelsorger braucht ein Herz voll geistlicher Liebe, die ihn daran hindert, sich über den Kranken zu erheben, von oben herab mit ihm zu reden oder ihn zu verachten. Der Gemütskranke ist sein Nächster und sein Bruder, dem er tragen helfen
soll.
Seelsorger sein, heißt Lastenträger sein. Jede Mitteilung des Kranken wird für den Seelsorger zum Mit-Teilen. In der Erkenntnis, daß seelische Wunden sehr viel schmerzhafter sind als körperliche, wird der rechte Seelsorger dem Kranken in Liebe begegnen und versuchen, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, zu „weinen mit dem Weinenden“, mitzufühlen und mitzuleiden.

Die Liebe sucht die Veranlagung des Kranken, seine Erziehung, seine Umgebung und sein Schicksal zu berücksichtigen. Ein liebevoller Seelsorger wird dem Gemütskranken nicht als strenger Richter gegenübertreten, sondern jedes harte Urteil vermeiden. Und selbst wenn es eindeutig um Schuld des Kranken geht, ist der Seelsorger nicht berechtigt, Vorwürfe zu machen.

Spürt der Kranke die Liebe des Seelsorgers, wird er auch ein ernstes Wort ertragen und das Vertrauen zu ihm behalten. Fehlt aber dem Seelsorger die Liebe, wird der Kranke seine Worte mit Recht als überheblich und anmaßend empfinden und sich verbittert und enttäuscht zurückziehen.
In erster Linie braucht der Gemütskranke Trost, liebevolle Aufmunterung und Zuspruch. Selbst wenn dem Seelsorger die Worte fehlen und er sich seiner Ohnmacht dem Kranken gegenüber bewußt wird, übt sein teilnehmendes Schweigen auf den Kranken einen beruhigenden Einfluß aus, weil er dahinter die Liebe sieht.

Geduld
Die Liebe bringt noch eine Eigenschaft hervor, die im Umgang mit dem Kranken sehr wichtig ist: die Geduld. Keinem anderen Menschen gegenüber braucht der Seelsorger ein so großes Maß an Geduld. Besonders der Melancholiker stellt in diesem Punkt sehr hohe Anforderungen. Zunächst dauert es sehr lange, bis der Kranke Mut faßt, sein Anliegen offen auszusprechen. Mit unermüdlicher Geduld wird der Seelsorger versuchen, ihn zum reden zu bringen, ohne ihn gewaltsam dazu zu drängen. Er wird ihm möglichst zur Verfügung stehen, wenn er merkt, daß der Kranke unbedingt eine Aussprache braucht. Unter Umständen muß er andere Verpflichtungen zurückstellen, weil er weiß, daß das Verschieben einer Aussprache vielleicht eine Verschlimmerung der Krankheit oder eine unbedachte Handlung das Kranken zur Folge haben kann.

Sind die Hemmungen endlich gewichen und ist der Kranke endlich bereit, vielleicht unter Tränen seinem übervollen Herzen Luft zu machen, muß sich der Seelsorger unbedingt Zeit nehmen, geduldig zuhören und nicht vorzeitig die Unterhaltung abbrechen und mit seinem Urteil dazwischenfahren. Der Kranke könnte sich sonst zu einer weiteren Aussprache vielleicht nicht mehr entschließen und wichtige Dinge für sich behalten.



Geduld braucht der Seelsorger auch, um die sich immer wiederholenden Selbstanklagen oder gleichbleibenden Wahnvorstellungen anzuhören.
Bringt der Kranke unermüdlich die gleichen Klagen vor, darf auch der Seelsorger nicht müde werden, ihn immer wieder aufzumuntern und zu trösten. Allzuleicht aber wird mancher Seelsorger ärgerlich. Oder er resigniert, wenn sich der Kranke völlig unbeeinflußbar zeigt und am Ende der Unterredung genau dieselben Einwände äußert wie zu Anfang.


Es ist zweifellos nicht einfach, die Geduld zu behalten, wenn sich der Zustand des Schwermütigen oft nicht bessern will oder wenn er nach kurzer Besserung wieder einen Rückschlag erlebt. Aber gerade in solchen Situationen zeigt es sich, ob der Seelsorger geduldig ist und gelassen auf Gottes Handeln warten kann. Die immer gleichbleibende Haltung des Seelsorgers wirkt wie eine Macht gegen die Mutlosigkeit und Ungeduld des Gemütskranken.


Seelsorge in dieser Weise wird meist nicht erfolglos sein. Sie wird – vielleicht über eine lange Zeit hinweg – verborgene Hilfe für den Kranken bedeuten. Aber auch da, wo der Seelsorger zunächst kaum Erfolg sieht, darf er es nach der Wiederherstellung des Kranken immer wieder erleben, daß dieser, auch ohne seinem Empfinden Ausdruck gegeben zu haben, die seelsorgerliche Liebe und Geduld als außerordentlich wohltuend empfunden hat, und daß manchmal schon ein freundlicher Blick den Kranken tröstete.

Eines darf jedoch nicht unerwähnt bleiben: Zur Seelsorge an Gemütskranken ist nur ein reifer Christ fähig. Wer selbst noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, wer auf Vorwürfe des Kranken empfindlich reagiert, wer selbst gebunden ist, wird niemals dem anderen helfen können. Wer unter eigenen Lasten seufzt, kann nicht die Last des anderen tragen. Wer selbst innerlich zerrissen und friedlos ist, wird dem anderen nicht zur wirklichen Ruhe verhelfen können. Wer nicht selbst mit Gott im reinen ist, wird nicht imstande sein, den anderen zu Gott zu führen, und Gott wer nicht selbst in lebendiger Gebetsverbindung mit Gott steht, kann die Not des anderen nicht vor Gott bringen.
Der Seelsorger muß sich selbst als Sünder erkennen, der auf Gottes Gnade angewiesen ist, und dem Gemütskranken aus dieser Haltung heraus die erbarmende Liebe Jesu entgegenbringen; im Wissen, daß ihm selbst göttliches Erbarmen widerfahren ist. Damit ist jeder Dienst des Seelsorgers zugleich ein Prüfstein für die eigene Stellung vor Gott.

Das Vorbild eines echten Seelsorgers ist Jesus. Er besaß Weisheit, Liebe und Geduld in einem unerschöpflichen Maße für jeden, der zu ihm kam. Er verstand es in einzigartiger Weise, die verzagten aufzurichten, den Traurigen Freude zu geben unjd den Kleinmütigen zu trösten, 
Wenn der Seelsorger in lebendiger Verbindung mit Jesus, dem Tröster, steht, darf er in seiner Kraft und Vollmacht den schweren Dienst an gemütskranken Menschen tun.

Alfred Lechler.

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