Lisa Heinz – Dönges
EMIL DÖNGES
– Groß durch die Liebe –
Zum hundersten Todestag von Emil Dönges
Vorwort: Emil Dönges war eine führende Persönlichkeit in der zweiten Generation der deutschen Brüderbewegung: als Evangelist, als Lehrer, als Autor, Herausgeber und Verleger und nicht zuletzt auch als Delegierter in internationalen Angelegenheiten. Aus Anlass seines 100. Todestages am 7. Dezember 2023 drucken wir im Folgenden das ausführlichste bisher erschienene Lebensbild von ihm – in leicht gekürzter Form – nach. Es wurde verfasst von seiner Tochter Auguste Bertha Elisabeth, besser bekannt als Lisa Heinz-Dönges (1897-1964) und erschien zuerst 1953 im Botschafter des Friedens.
KINDHEIT UND JUGEND
Georg Hermann Emil Dönges kam am 2, September 1853 als sehr schwächliches, zartes Kind zur Welt. In seiner humorvollen Art erzählte er später, dass seine Mutter nicht recht gewagt habe, ihn anzufassen, wenn sie ihn auf dem Schoß liegen hatte, um ihn zu waschen. Sie habe ihn durch eine geschickte Bewegung ihrer Schürze sacht von einer Seite auf die andere gedreht, um ihm ja nicht weh zu tuun. Einst kamm eine Nachbarin dazu, wie der Kleine so erbärmlich mit geschlossenen Augen im Arm seiner Mutter lag. >Frau Kantor<, sagte sie, >den behale Se net!< Da habe das Kind ein paar große blaue Augen aufgeschlagen und die Sprecherin vorwurfsvoll angeblickt, und die Mutter habe erwidert: >was Gott will erhale, das lässt er net erkale<. So war es auch hier. Gott wusste, dass er diesen Knaben einmal in seinem Dienst gebrauchen konnte, und auch, dass er selbst sich von mit tiefer Herzensfreude und ganzer Hingabe von ihm würde gebrauchen lassen.
Emil wuchs als zweitältester Sohn inmitten einer großen Kinderschar auf, wo es streng und sparsam zuging. Als er geboren wurde, stand sein Vater Philipp Dönges als Lehrer in Becheln bei Bad Ems. Er war ein geschätzter, tüchtiger Mann. Den >Vater des Allgemeinen Lehrervereins< hat man ihn später genannt, weil er erfolgreich für die Belange seiner Berufsgenossen eintrat. Sein Sohn schildert ihn als besonnenen, außerordentlich rechtlich denkenden stillen und ernsten Menschen. Emil hatte sein lebhaftes Temperament und seinen bienenhaften Fleiß, Humor und Schlagfertigkeit von der Mutter geerbt. Wie sehr die Lehrersleute, vor allem der Vater, beliebt waren, zeigt das Verhalten der Dorfbewohner bei seiner Versetzung von Becheln nach Wallau; sie verwehrten einer Musikantentruppe den Eintritt ins Dorf mit der Begründung: >Heute wird hier keine Musik gemacht. Wir haben Trauertag, unser Lehrer kommt weg.<
Im Lehrerhaus zu Becheln kammen auf Anregung des Vaters Pfarrer und Lehrer aus den Nachbarorten zusammen, um sich anhand der Bibel über allerlei wichtige Lebensfragen zu unterhalten. So lernte Emil mit seinen Geschwistern hier wohl Gottesfurcht und tiefen sittlichen Ernst kennen, aber noch nicht das Entscheidende: dankbare Übergabe des ganzen Lebens an Gott durch Jesus Christus.
Kennzeichnend für den Knaben ist folgendes Erlebnis. Er sollte einst mit seinem älteren Bruder einem Pfarrer die seidene Mütze zurückbringen, die dieser im Lehrerhaus zu Becheln beim Umkleiden nach dem Gottesdienst liegen gelassen hatte. (Becheln hatte keinen eigenen Pfarrer und wurde sonntags von den Nachbarorten bedient.) Auf dem Weg zur Lateinstunde bei diesem Pfarrer streiften die Knaben, nach Moos suchend, kreuz und quer durch den Wald. Dabei verloren sie die wertvolle Kopfbedeckung des Pfarrers. Voller Aufregung suchten sie alles ab. >Schließlich kniete ich< – so erzählte Dönges später in seinem Kinderblatt Der Freund der Kinder -. >obwohl ich noch nie jemand auf den Knien gesehen, noch auch, soweit ich mich erinnere, von jemand gehört hatte, der kniend gebetet, vor Gott nieder und rief ihn in der Angst an, uns irgendwie die Mütze wiederzuschicken. Mein Bruder erschrak, als er mich auf den Knien sah, und ich war sehr verlegen.< Noch am selben Tag entdeckte er >zufällig<, wie andere sagten, die Mütze bei einem nichtsnutzigen Knaben, der sie gefunden und für sich hatte behalten wollen. >Wie bebte mein Herz vor Freude<, so erzählt Dönges weiter, >weil ich erleben durfte, dass Gott Gebete erhört!<
Emil nahm am Unterricht seines Vaters in der Dorfschule teil; ab 1869 besuchte er die Realschule in Bad Ems. Da hieß es, in grauer Frühe aufstehen und bei Wind und Wetter mit den Bergleuten den weiten Weg nach Bad Ems antreten. 1872 kam er auf das Realgymnasium nach Elberfeld. Gott fügte es, dass er dort bei einer christlichen Familie wohnen konnte und mit entschiedenen Gläubigen in Verbindung trat. Besonderes Vertrauen gewann er zu dem Fabrikanten Julius Löwen, dessen Söhne er als Primaner Unterricht erteilte. Löwen erkannte bald, dass der junge Hauslehrer nach Frieden mit Gott verlangte, und er bemühte sich, ihm zu helfen, indem er ihm christliche Schriften aus dem Verlag seines Schwagers Carl Brockhaus zu lesen gab und selbst auch manche Fragen zu beantworten suchte, die dem jungen Mann im Herzen brannte. Dessen Verlangen, Versöhnung zu finden, war geweckt worden durch die Stelle in Goethes Tasso: >Sie ließ uns Kindern nicht den Trost, dass sie Mit ihrem Gott versöhnt gestorben sei<.
Die Frage ließ dem jungen Dönges keine Ruhe: Wie werde ich selbst mit Gott versöhnt? Doch er verließ Elberfeld, ohne klare Antwort gefunden zu haben.
BEKEHRUNG UND STUDIUM
Um die englische Sprache gründlich zu erlernen – denn er hatte vor, sich dem Studium der neuen Sprachen zu widmen -, begab er sich im Hebst 1874 nach England. In einem Erziehungsheim für Söhne aus vornehmen Häusern nahm er für anderthalb Jahre die Stelle eines Lehrers an. Es wurde einen schwere Zeit für ihn. Sei es, dass er >zu sehr den Deutschen herauskehrte<, wie seine Gattin, die nur Angenehmes in England erlebte, später meinte, sei es, dass die jungen Lords- und Baronetssöhne sich an dem frommen Sinn und den ernsten Grundsätzen ihres jungen Lehrers stießen, kurzum, es kam oft zu heftigen Auseinandersetzungen mit ihnen. Einmal geriet der tempramentvolle Deutsche sogar in ein Handgemenge, wobei er einen der aufsässigen jungen Männer in heftigem Zorn zu Boden schleuderte. Mit bitteren Selbstanklagen bereute er die Aufwallung. In einem kleinen Notizbuch vermerkte er: >O Gott, wie sehr habe ich mich vergessen!<
Einmal sahen es einige dieser schwer erziehbaren Söhne darauf ab (wie Dönges fest annahm), dass er sich den Hals brechen sollte. Sie hatten ihn scheinheilig, nach dem Nachbarort zu reiten, um dort die Post in Empfang zu nehmen. Der junge Dorfschullehrersohn, der noch nie auf dem Rücken eines Reitpferdes gesessen hatte, wollte sich vor den Herrensöhne keine Blöße geben und schwang sich hinauf. Einer seiner Peiniger versetzte dem dem Pferd einen Hieb, sodass es es wie besessen davonschoß. Es war dem jungen Reiter selbst ein Rätsel, wie er sich oben halten konnte. Ob er mit oder ohne Sattel ritt, hat er nicht erwähnt. Doch Gott bewahrte ihn. Wunderbar war es für ihn, wie das Pferd aus seinem wilden Galopp plötzlich vor dem Postgebäude anhielt, wartete, bis der herbeieilende Posthalter das Bündel Briefe dem Reiter hinaufgereicht hatte, und wie es dann von selbst kehrtmachte, um in dem selben tollen Galopp den Heimweg zurückzulegen. Die Plagegeister staunten, als ihr Lehrer heil und gelassen (wie es ihnen schien) vom Pferd stieg. Von jenem Tag an behandelten sie ihn mit Achtung.
In England begegnete Dönges aber nun auch das Entscheidenste und Schönste seines Lebens: Sein Verlangen nach Versöhnung mit Gott wurde gestillt. Erst hier las er die Schriften gründlich, die er von Julius Löwen erhalten hatte., und forschte gewiss vor allem eifrig in Gottes Wort. So kam er zum klaren und frohen Glauben an den Versöhner Jesus Christus. Alle Ungewißheit, aller Zweifel und alle Schwermut – die ihn schon in Deutschland zuzeiten schmerzlich gequält hatten – waren von ihm gewichen. Begierig suchte er nun nach Gemeinschaft mit solchen, die dasselbe Glück und Heil kannten wie er. Und bei jedem Kreis, den er besuchte, prüfte er, ob alles, was man dort lehrte, mit dem Wort Gottes übereinstimmte. Schließlich glaubte er, die Brüder gefunden zu haben, deren Lehre und Zusammenkommen am meistem dem Bild der Urgemeinde entsprach. Mit diesen Gläubigen der >Christlichen Versammlung< blieb er bis zu seinem Tod treu verbunden.
Nach Deutschland zurückgekehrt, begann er im Frühjahr 1876 in Marburg mit seinem Studium. Bei aller Arbeit suchte und pflegte er stets die Gemeinschaft mit mit Gleichgesinnten. Sonntags wanderte er, ob der Himmel heiter oder trübe, oft stundenweit in die Nachbarorte, um mit anderen Gläubigen das Wort Gottes zu betrachten oder Fernstehenden das Evangelium zu verkündigen.
Im Frühjahr 1878 begab er sich nach Paris, um Stoff für seinen Doktorarbeit zu sammeln. Er fand auch hier Anschluss an Gläubige. (Dönges promovierte am 5. 8. 1879 bei Prof. Edmund Stengel in Marburg über >Die Baligantenepisode im Rolandslied<. Die Dissertation umfasst – heute undenkbar – nur 21 Seiten Text und 29 Seiten Anmerkungen. Gut zehn Wochen zuvor hatte Dönges die Lehramtsprüfung für Französisch und Englisch abgelegt.)
DIENST IN WORT UND SCHRIFT
Später im Beruf, als Lehrer am Gymnasium zu Burgsteinfurt, war es sein Hauptanliegen, dem Herrn und seiner Sache zu dienen. So bleib es nicht aus, daß er bald vor der Frage stand, ob er nicht seinen Lehrerberuf aufgeben und seine ganze Kraft in den Dienst des herrn stellen solle. Es ging nicht ohne schwere innere Kämpfe ab, denn er war ein geborener Lehrer, der an seinem Beruf hing. Aber er riss sich los: Die Liebe zum Herrn siegte. Seine Eltern und Geschwister konnten diesen Schritt freilich nicht verstehen, und es schmerzte ihn gar wohl, ihnen diesen Kummer zugefügt zu haben, doch er fühlte, daß der Herr ihn rief und daß er diesem Ruf folgen müsse. Nun war er frei für die Arbeit im Reich seines Gottes. Zunächst konnte er (von 1884-86) für ihn im Verlag Brockhaus in Elberfeld arbeiten, wo er bei der Übersetzung der Miller’schen Kirchengeschichte und der Durchsicht der Elberfelder Bibel half, nebenher eifrig im mündlichen Dienst stehend.
1886 zog er nach Frankfurt am Main, wo er seine treue, gleichgesinnte Lebensgefährtin, Catharina Kirch, finden durfte, eine Frau von klarem Charakter, ganzer Hingabe an den Herrn und entschieden christlicher-geistlicher Haltung. Sie bildete eine ganz ausgezeichnete Ergänzung zu seinem Wesen. Manche meinten, daß sie in der Ehe gerne die Bestimmende gewesen sei. Doch traf das nur in äußeren Dingen zu und wurde von ihm selbst dann meist als das Richtige empfunden. So stellte sie sich schützend vor seinen Kleiderschrank, aus dem er trotzdem oft unüberlegt hergab, in starker Übertreibung sagend, der Schrank >berste<, so voll sei er. Und er erinnerte an das Wort: >Wer zwei Röcke hat, gebe dem einen, der der keinen hat< Luk. 3,11. Worauf sie – von der man gewiß nicht sagen konnte, daß sie kein Herz für Arme gehabt – erklärte, es sei noch keiner zu ihr gekommen, der gar keinen Rock gehabt habe, und es stehe irgendwo geschrieben: >Gedenke der Armen mit Einsicht<.
Im Anfang der Ehe war allerdings nicht viel zu verschenken. In sehr bescheidenen, ja dürftigen Verhältnissen begannen die jungen Eheleute ihren Hausstand. Die alten Eltern Dönges werden dem Sohn damals wohl vorgehalten haben, wie ganz anders er dastünde , wenn er in seinem Lehrerberuf geblieben wäre. Doch der Herr bekannte sich zu dem Glaubensschritt, den der junge Mann getan hatte, und legte seinen Segen auf dessen Beginnen.
Dönges fühlte sich bald gedrungen, auch seine Feder in den Dienst des Herrn zu stellen. Seine Erstlingsschrift war die Gute Botschaft des Friedens. Ein Wegweiser des Heils für jedermann. Sie erschien ab 1888, fand rasche Verbreitung und wurde mehrmals das beste Evangliumsblatt Deutschlands genannt.
Seine Liebe zu den Kindern legte es ihm nahe, auch für sie eine Zeitschrift zu schaffen, die die jungen Leser immer wieder aufrufen sollte, schon früh ihr Leben Christus auszuliefern. Er gab deshalb ab 1891 das bebilderte Sonntagschulblatt Der Freund der Kinder heraus, dessen Auflage ebenfalls schnell wuchs und von Kindern wie Erwachsenen gern gelesen wurde. In seine Frankfurter Zeit fällt auch das Erscheinen der beiden Kalender, des Familienenkalenders Botschafter des Friedens (ab 1891) und des Abreißkalenders Der Bote des Friedens (ab 1900). Gerade diese beiden Erzeugnisse des Verfassers erfreuten sich großer Beliebtheit und wurden alljährlich nicht nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz und in Amerika freudig begrüßt.
Seine reichste und gesegnetste Schaffenszeit verlebte Emil Dönges in Darmstadt, wohin er 1899 mit seiner Familie übersiedelte. Acht Kinder waren den Eltern in Frankfurt geschenkt worden; in der schönen Residenzstadt des hessischen Großherzogs kam das neunte Kind, der sechste Sohn, hinzu. Darmstadt wurde auch der Geburtsort seines letzten Geisteskindes, der Zeitschrift Gnade und Friede (ab 1911). Dieses Blatt durfte vielen Kindern Gottes zur Erbauung und Belebung dienen. Unserem Bruder war die göttliche Gnade, der er sich immer wieder anbefahl und auf die er sich so ganz angewiesen fühlte, etwas überaus Kostbares und Tröstliches, sie wurde es, je älter er wurde, umso mehr. In seinen letzten Tagen sagte er in dankbarem Rückblick auf die Langmut, mit der Gott ihn getragen hatte, zu seiner Frau: >Ich möchte einmal nur über die Gnade schreiben>.
Im Haus in der Klappacher Straße 22 verlebte die Kinderschar eine fröhliche Jugend in Frieden und Wohlfahrt der Kaiserzeit bis zum Ersten Weltkrieg. Die Strengere war wohl die Mutter, aber die Erziehung beider Eltern war nach den Grundsätzen der Bibel ausgerichtet, und jedes einzelne der Kinder wußte sich von der Liebe und den Gebeten der Eltern getragen. Trotz seiner großen Arbeitslast nahm sich der Vater frohen Herzens Zeit, wenn eins der Kinder mit einem Anliegen zu ihm kam. Viel war er ja auf Reisen, denn allerorts wünschte man seine Anwesenheit und seinen Dienst: bei Wortbetrachtungen, (den sogenannten großen Konferenzen), an Beerdigungen oder zur Evangeliumsverkündigung.
Wenn von Dönges Begabung die Rede war, gaben viele dem Redner den Vorzug vor dem Schreiber. Er wusste sehr anschaulich und packend zu reden und treffende Bilder und Beispiele flogen ihm zu und waren oft so einprägsam, daß man noch lange hin und wieder in einer Versammlung hören konnte: >Bruder Dönges hat einmal gesagt…<. Manchem Bruder waren seine Zusammenstellungen unvergesslich. Er sprach z. B. einmal den stehenden, den sitzenden und den liegenden Anbeter. Oder er hob verschiedene >Heute< hervor: >Heute ist diesem Haus Heil widerfahren> usw. Ein andermal bewegte ihn die Tatsache, daß sich der Himmel aufgetan hat, wie wiederholt in der Schrift berichtet wird; deshalb war das Leitwort eines Vortrages: >Der geöffnete Himmel<.
Bei den Vorträgen geriet er in seinem Eifer oft in eine schnelle Sprechweise, was alle Ermahnungen der Freunde und alle eigenen guten Vorsätze nicht abzustellen vermochten. Es wird erzählt, daß General von Viebahn, um ihm zu helfen, den Vorschlag gemacht habe, er wolle jedesmal aufstehen, wenn der Redner zu sehr in Fahrt geriete. Das erste und zweite Mal hatte diese Maßnahme Erfolg, aber nachher vergaß der vor Eifer glühende Prediger alles, und nach der Stunde trat er auf Viebahn zu mit der Frage: >Sag mal, warum hast du eigentlich die ganze Zeit gestanden?<
Ebenso sprichwörtlich war bei des Schreibers zunehmendem Alter seine unleserliche Handschrift. Die unzähligen Briefe, die er neben seiner schriftlichen Arbeit mit der Hand schreiben mußte, mögen diesen Umstand hinreichend entschuldigen. Erst in seinen letzten Lebensjahren fand er Erleichterung durch eine Schreibmaschine (Geschenk seines Sohnes) und durch Mithilfe des einen oder anderen seiner Kinder, denen er diktieren konnte.
Neben den regelmäßig erscheinenden Zeitschriften verfasste er noch eine Reihe von Traktaten und Büchlein, auch solche erzählender und unterhaltender Art. Das wiederholt herausgegebene Bändchen Jugendfreunde (ab 1905) mit vielen Bildern, das neben biblischen Unterweisungen auch lehrreiche, zu Spiel und Nachdenken anregende Betrachtungen enthielt, soll nicht unerwähnt bleiben. Sein umfangreichstes Werk ist die Betrachtung über die Offenbarung mit dem Titel Was bald geschehen muß (1913), das in weiten Kreisen bekannt war.
WEITERE TÄTIGKEITEN
Neben all diesen schriftlichen Arbeiten hatte der unermüdliche Diener des Herrn noch manche andere Aufgabe, so ab 1899 die Leitung der Anstalt für geistig Behinderte in Aue bei Schmalkalden, wohin er mindesten zweimal im Jahr reiste. Es wurde ihm zunächst nicht ganz leicht, dieses Amt zu übernehmen. Denn beim ersten Gang durch die Anstalt, beim Anblick der mancherlei körperlichen Übel und Entstellungen, wandelten den Zartbesaiteten Schwäche und Übelkeit an. Doch großes Erbarmen mit diesen Elenden half ihm so weit, daß er sie schließlich lieben konnte; die Kinder ihrerseits hingen mit großer Liebe an ihm und nannten ihn Vater.
Und er, gefragt, wie viele Kinder er habe, nannte oft eine Zahl über 100, die Anstaltskinder den eigenen hinzuzählend. Manchmal auch erwiderte auf die Frage nach seiner Kinderzahl: >Drei und ein halbes Dutzend!<, womit er neun meinte. Auf solch spaßige Antworten konnte man bei ihm gefasst sein. Und diese humorvolle Art machte ihm besonders unter der Jugend viele Freunde. Seine nüchterne Gattin konnte ihm hier nicht immer folgen und sagte oft mißbilligend: >Sag’s doch nicht, wenn du’s nicht so meinst!<
Er liebte auch bei anderen Humor und Schlagfertigkeit, sogar wenn sie sich einmal gegen ihn selbst richteten: Eines Morgens tadelte er zwei seiner Töchter, weil sie den Kaffeetisch noch nicht gedeckt hatten, und er zählte auf, was er hingegen am frühen Morgen schon alles geleistet. Da unterbrach ihn die kecke Jüngste mit dem Wort: >Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!<
Darauf erwiderte der Vater nichts mehr, sondern stieg, ein Lachen verbeißend, kopfschüttelnd die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf. Übrigends verwehrte er seinen Kindern sonst streng, Bibelworte scherzend in den Mund zu nehmen; einmal mit der ihnen mehr als alles Schelten einleuchtenden Begründung: >Wenn ich über dieses Wort spreche, könnte mir einfallen, wir ihr es gebraucht habt.<
Neben dieser heiteren Art wohnte ein tiefer Ernst in ihm, ja, Gemütsbedrückung war ihm zeitlebens nicht fremd. Daher hatte er auch besonderes Verständnis für alle Nervenleidenden und Beschwerten. Bei den vielen Gästen, die sich oft wochenlang in seinem Haus aufhielten, waren auch ab und zu solche Kranke. Eine davon, die in ständiger großer Unzufriedenheit lebte, nannte er nur die Millionärin. Er suchte ihr klarzumachen, daß jedes ihrer Augen und Ohren eine Million wert sei, ebenso ihre gesunden Arme und Füße, und erhob sie so zur Multimillionärin, was mit der Zeit nicht ohne Erfolg blieb. Natürlich suchte er bei ihr wie bei allen, mit denen er in Berührung kam, das Verhältnis zu Gott zu regeln und glücklich zu gestalten.
EVANGELISATION
Eine große Liebe erfüllte ihn zu denen, die Jesus noch nicht als ihren Heiland kannten. Ob jung, ob alt, gebildet oder ungebildet, er sprach sie alle darauf an, und er hatte eine Art dabei, daß die meisten es sich gern gefallen ließen, ja, daß viele durch ihn auf den rechten Weg gebracht wurden. Vergeblich mahnte man ihn. >Ruh’ doch deinen Kopf mal aus!<, wenn er im Eisenbahnabteil gleich begann, ein Gespräch mit den Mitreisenden anzuknüpfen oder Traktate zu verteilen.
In seiner Liebe zu den Menschseelen und zu seinem Herrn ging er so weit, daß er in Darmstadt besondere Stunden hielt für solche Leute, die nicht in die Versammlung kommen wollten oder konnten, wo er am Wort diente. So hatte er eine Zeitlang in seinem Haus Bibelstunden für die Nachbarschaft eingerichtet. Seine Kinder mußten in die benachbarten Häuser gehen, um die Leute einzuladen. Und wirklich, es kamen eine ganze Reihe, wohl mehr dem herzlichen Bitten und der Persönlichkeit des Redners zuliebe.
In das Haus einer alten adligen Dame ging er oft, um deren vornehmen Bekannten die frohe Botschaft zu bringen. Sein weites Herz ließ sich nicht irremachen durch Nörgler, die ihm das übelnahmen oder die ihm verwehren wollten, in einem anderen Kreis von Gläubigen zu dienen.
Bruder Dönges sah in allen wahren Gläubigen seine Brüder und Schwestern, deren Wohl und Wehe ihn mit betraf. In seiner Frankfurter Zeit geschah es, daß ein Prediger sich eines schweren Fehltritts schuldig machte, was stadtbekannt war. Ein junger Mann aus dieser Gemeinschaft, beschwert und verwirrt über das traurige Vorkommnis, wußte nicht, welchen Kreis von Gläubigen er sich nun anschließen sollte. Er wollte irgendwohin, wo man ihn nicht kannte, weil er sich für seinen Prediger schämte und das Richten und Urteilen der anderen scheute. Allen ein Fremder, saß er schließlich in der >Versammlung<, wo Bruder Dönges diente. Der kam auf den Vorfall zu sprechen, der ja alle Gemüter erfüllte. Aber wie tat er das! >Wir müssen uns tief demütigen<, sagte er, >daß diese Sünde bei uns vorgekommen ist und die Welt nun mit Fingern auf uns weisen kann. Wollen wir uns freisprechen von Schuld? Haben wir zu des Herrn Wohlgefallen gelebt? Waren wir treu in der Fürbitte, im >Flehen für alle Heiligen<, nach Epheser 6?< Er sprach ganz so, als habe sich das Betrübliche im eigenen Kreis ereignet. Der junge Mann, der eine solche Betrachtungsweise nicht erwartet hatte, war so ergriffen, daß er sich sagte: >Hier bleibe ich!<.
An einem Himmelfahrtstag machte er mit seiner Familie und den Geschwistern der Versammlung einen Ausflug. Auf einer freien Stelle im Wald, wo eine Holzkanzel errichtet war, wollte er für Ausflügler das Evangelium verkündigen. Doch als man an den Platz kam, war da schon ein anderer Hirte aus einer Nachbarstadt mit seinen Schäflein. Die Glieder der zwei verschiedenen Gemeinschaften musterten einander etwas fremd und mißtrauisch. Dönges aber ging auf den Prediger, der ihm bekannt war, zu und bat ihn, zuerst das Wort zu ergreifen. Der tat es. Danach stieg Dönges eilends zu ihm auf die hohe Waldkanzel, umarmte ihn vor aller Öffentlichkeit und verkündete, daß sie Brüder seien und demselben Herrn angehörten. Es ging damals eine freudige Bewegung durch die Reihen aller, die Zeugen dieses Vorfalls waren.
Von einem anderen Kuss wird erzählt, den Dönges unter auffallenden Umständen erteilte. Er erkannte in einer Großstadt unter den Straßenkehrern, die ihres Amtes walteten, einen Bruder der >Versammlung<. Ohne sich zu besinnen, ging er auf ihn zu und gab ihm auf offener Straße einen Bruderkuss.
PERSÖNLICHKEIT
Er hatte Freunde in allen Gesellschaftsschichten. Dabei war es nicht so, daß seine angeborene warmherzige Art immer gleich für jedermann Liebe empfunden hätte. Er gehörte zu den empfindsamen Menschen, die auch durch irgendwas im Wesen des anderen gereizt werden können und die sich Liebe, Geduld und Verständnis für einen solchen erst oft vom Herrn schenken lassen müssen. Aber der ungeduldig Gewordene konnte auch um Verzeihung bitten. Dies war ein Zug an ihm, der ihm immer wieder die Herzen zufliegen ließ. Ja, er schämte sich nicht, gelegentlich seine eigenen Kinder um Verzeihung zu bitten. So erzählte ein Bruder, daß er Zeuge gewesen sei, wie Bruder Dönges einmal seine jüngste Tochter um Verzeihung gebeten habe, weil er ihr ungerechte Vorwürfe wegen einer Sache gemacht hatte. Der Besucher betonte, er selbst sei noch nie auf den Gedanken gekommen, sich bei einem seiner Kinder zu entschuldigen, und die Demut des hochgeschätzten Bruders habe ihn tief beeindruckt.
Das Bild von der Persönlichkeit dieses Knechtes Gottes bliebe unvollständig, erwähnten wir nicht seine Festigkeit und Entschiedenheit im Verkehr mit Irtrlehren und Gottesleugnern. Ja, mit Schärfe konnte er solchen Leuten begegnen und sie von sich weisen. Als einst ein gelehrter Freigeist in Darmstadt einen Vortrag über das Thema >Hat Jesus gelebt?< die Person des Herrn angriff und Jesus zur sagenhaften Erscheinung stempeln wollte, ruhte Dönges nicht, bis sich sämtliche christlichen Gemeinschaften verbanden und im größten Saal Darmstadts eine Proteskundgebung veranstalteten, bei der eine Reihe von Pfarrern und Predigern sprach und bei der er selbst bestimmt nicht das schwächste Zeugnis ablegte.
So gingen die Jahre dahin mit viel Arbeit und mancher Sorge, aber auch Freude im Familien- und Freundeskreis. Auch während der Ferienreisen mit der Familie war der nimmermüde Vaterimmer >im Dienst<, es sei, daß er den Versammlungen am Ort diente oder für seine Zeitschiften und Kalender schrieb oder Korrektur las. Bei der Wahl der Erholungsorte wurde meist auch ein guter Zweck ins Auge gefasst. Einmal sollte dem Besitzer eines verschuldeten und etwas verwahrlosten Heimsaufgeholfen werden, ein andermal sollten die zum Glauben gekommenen Bewohner eines Dorfes im Schwarzwald, die manche Anfechtung zu erdulden hatten, durch die Anwesenheit des teuren Bruders und seiner Familie ermuntert werden. Die Familie hatte dort selbst manche Gehässigkeit der übrigen Dorfbewohner einzustecken, was den Kindern Dönges die Freude am Ferienaufenthalt oft etwas vergällte.
LETZTE JAHRE
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde bald der schöne Familienkreis zerrissen. Fünf Söhne mußten ins Feld, eine ständige schwere Sorge für die Eltern, wenn sie sich auch immer wieder aufrichteten im Blick auf ihren Herrn. Er allein vermochte sie auch zu trösten in dem tiefen Schmerz, über den Verlust zweier geliebter Söhne, die innerhalb von fünf Tagen vor Verdun fielen.
Auch diese Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte für den bejahrten Knecht des Herrn schwere Belastung, die seine Kräfte aufzehrte. Die Geldinflation machte dem gewissenhaften Mann, der auch die Verwaltung der Gelder für das Werk des Herrn hatte, manche Not. Gaben, die aus dem Inland eintrafen, sollten schnellstens an ihren Bestimmungsortgelangen, damit die Empfänger bei dem rasenden Absinken des Geldwertes keine zu große Einbuße erlitten. Wohnten Bedürftige am Ort selbst, mußte das Geld sofort zu ihnen gebracht werden, was nicht selten er selbst übernahm. Trafen Summen vom Ausland ein, so sollten sie zum günstigsten Kurs umgesetzt werden; Dinge, die ihm besonders zu schaffen machten, weil sie ihm nicht lagen.
Anfang Dezember 1923 wollte er die alljährlich stattfindende Gebetswoche in Siegen besuchen. Schon auf dem Weg zur Staßenbahn kehrte er um, da er sich nicht wohl fühlte. Er diktierte im Bett eine Karte an seinen Freund Rudolf Brockhaus und drückte seinen Schmerz darüber aus, daß er nicht kommen könne. Dabei führte er den Vers an:
>Sein Tun ist stets gesegnet; auch wenn es hart uns scheint<.
Diesen Vers sangen die Hunderte von Brüdern stehend, als wenige Tage darauf die Nachricht vom unerwarteten Heimgang ihres geliebten Bruders eintraf.
Völlig unerwartet kam dessen Hinscheiden auch für die Angehörigen, denn er schien wenige Tage nach jener mißglückten Abreise wieder ganz wohl und war voller Eifer, an seinen Schreibtisch zu kommen. Die Tochter, die ihm meldete, daß sein Arbeitszimmer in Ordnung sei, fand ihn aber zu ihrem Erstaunen wieder im Bett. Gleich darauf hörte sie ihn röchelnd atmen; sie wunderte sich, daß der Vater so schnell eingeschlafen sei, rief aber, doch beunruhigt, die Mutter herbei. In deren Armen tat er den letzten Atemzug.
Er hatte die Bitterkeit des Todes nicht geschmeckt, kein langes Leiden und Siechtum gehabt, wovor ihm manchmal bange gewesen war. Oft hatte er sich getröstet mit dem Liedvers:
>Du kannst durch des Todes Türen träumend führen,
und machst uns auf einmal frei<.
So ließ der Herr in seiner Freundlichkeit es ihn am 7. Dezember 1923 erfahren.
Ergreifend war, was die Angehörigen mit seinem letzten Manuskript für den Freund der Kinder erlebten. Dieses wurde von der Druckerei angefordet. In Darmstadt erwiderte man, es müsse in Dillenburg liegen, denn der Vater habe es schon lange in die Maschine diktiert und abgesandt. Manches Telefongespräch ging zwischen Dillenburg und Darmstadt hin und her, man suchte dort wie hier. Schließlich fand jemand im Arbeitszimmer die Aktentasche, die der Vater zur Reise mit allen nötigen Schriftstücken verpackt und bei seiner plötzlichen Rückkehr beiseitegestellt hatte. Niemand hatte an die Mappe gedacht. Darin lag das Manuskript für die Januarnummern, fix und fertig. Doch da stand noch etwas von ihm selbst mit der Feder hinzugefügt. In tiefer Wehmut lasen Mutter und Kinder diesen letzten Gruß von seiner Hand. Es war ein Abschiedsgedicht (nicht von ihm selbst verfasst), dessen erster Vers so lautet:
>Ich bin fertig, reisefertig,
bald werd’ ich nach Haus gebracht.
Lebet wohl, ihr meine Lieben,
denn nun hält mich keine Macht!
Dort auf lichten Himmelshöhn
gibt’s ein frohes Wiedersehn<
Groß war auch der Schmerz bei allen Geschwistern der >Versammlung<. Von nah und fern bekundete man seine Teilnahme. Ein Bruder aus Holland sandte ein Telegramm mit den Worten aus 2.Sam. 3: >Ein Oberster und Großer in Israel ist gefallen<.
Ein Großer! Worin bestand seine Größe? Er hatte sicherlich reiche Geistesgaben, auch brennenden Eifer für seinen Herrn und tiefe Erkenntnis im Wort Gottes und was man noch nennen mag. Wenn Freunde sich jedoch sein Bild vor Augen riefen, so leuchteten ihnen daraus vor allem eins entgegen: seine Liebe. Und hierdurch war er groß.
Denn >die Größte von allen ist die Liebe<. (1. Kor. 13, 13)
Lisa Heinz-Dönges. 1953
Eingestellt von Horst Koch, im Januar 2024.
Viele Betonungen sind auch von mir.