Der franzö. Protestantismus (Chambon)

Joseph Chambon

Der französische Protestantismus

–  Sein Weg bis zur Französischen Revolution  –


Kapitel I     Vorgeschichte
Kapitel II    Renaissance und Reformation in Frankreich
Kapitel III   Die Reformation in Frankreich
Kapitel IV   Die Gegenreformation in Frankreich
Kapitel V     Zwischenspiel: Heinrich IV.
Kapitel VI  »Es geht eine dunkle Wolk’ herein« (Richelieu-Mazarin)
Kapitel VII  Das Sterben des französischen Protestantismus (Louis XIV.)
Kapitel VIII Das Auferstehen des französischen Protestantismus

KAPITEL I  DIE VORGESCHICHTE

»In der Geschichte findet eine höchst komplizierte Wechselwirkung dreier Prinzipien statt: des Prinzips der Notwendigkeit, des Prinzips der Freiheit und des wandlungskräftigen Prinzips der Gnade.«
Nikolaus Berdjajew, »Der Sinn der Geschichte«, Kap. III.


Kirchengeschichte ist die Geschichte des Handelns Jesu Christi an Seiner Gemeinde und durch sie an der Welt.
Die erste christliche Kirchengeschichte, die Apostelgeschichte, beginnt mit den Worten von Lukas, mit denen er auf sein früher geschriebenes Evangelium zurückweist:
»Die erste Rede habe ich getan, lieber Theophilus, von allem, das Jesus anfing, beides, zu lehren und zu tun.« Seine zweite Rede oder Schrift, die Apostelgeschichte, berichtet somit von dem, was Jesus fortfuhr, zu lehren und zu tun in Seiner Gemeinde und an der Welt. Seither ist geschriebene Kirchengeschichte nie etwas anderes gewesen als das Wagnis einer Darstellung dessen, was Jesus Christus, der Herr, fortfuhr, zu lehren und zu tun in Gemeinde und Menschheit, und ein bußfertiger Bericht über das, was in Seiner Gemeinde Unterlassung, Ungehorsam und Betrüben des Heiligen Geistes war.

Kirchengeschichte ist daher niemals nur etwa eine erhabenste Abteilung der Kulturgeschichte oder eine besondere Erscheinungsform der Völkergeschichte, trotz aller ihrer Beziehung zur Kultur- und Völkergeschichte. Sie zeigt uns immer ein Volk und ein Land einerseits, und ein darüber schwebendes Phänomen, das sich auf dieses Volk und dieses Land herabläßt und Wohnung nimmt, das wie ein Sankt Elmsfeuer über den Masten eines in der Dunkelheit treibenden sturmgepeitschten Schiffes schwebt und sich niederläßt und alles in ein neues und andersartiges Licht taucht.
So das Evangelium, das zu einem bestimmten Volk in einer bestimmten Zeit kommt: übergeartet, mit Licht aus einer anderen Welt, und letztlich in jeder Zeit, in jedem Volk und jedem Land sich selbst gleich bleibend. Wirklich verstanden wird Kirchengeschichte nur als Geschichte des Heiligen Geistes Jesu Christi, welcher heimsucht, wirkt, sich verkörpert, welcher oftmals betrübt und gehindert wird, welcher souverän kommt und geht.

Volk, Land und Zeitspanne sind für die folgenden kirchengeschichtlichen Betrachtungen bestimmt durch das Thema:
»Der Weg des Protestantismus in Frankreich bis zur Französischen Revolution«.
Die ersten Hauptabschnitte umfassen naturgemäß die Ereignisse der Reformation und Gegenreformation in Frankreich, also etwa die Spanne von König Franz I. bis zum Ende der Regierung Heinrichs IV. 1610, einschließlich der Grundlegung der Reformation durch den Humanisten Lefèbvre d’Etaples, der Reformation als Erweckung zunächst lutherischen, dann calvinistischen Gepräges, der ersten Hoch-Zeit des Martyriums, der Religionskriege und einer vorläufigen Synthese in dem Toleranzedikt von Nantes 1598.

Doch bevor wir in diesen ersten großen Hauptteil der französischen Geschichte des Protestantismus eintreten, haben wir uns in die Erinnerung zurückzurufen, dass wir unwillkürlich und immer wieder versucht sein werden, die Ereignisse dieser Zeit in Frankreich von den Gegebenheiten unseres eigenen Wissens von der Reformation, also von der Reformation in Deutschland her zu interpretieren, von den Gegebenheiten aus, die sich in unserem Gedächtnis und in unserer Auffassung über die Reformation im Lande Luthers zunächst vorfinden.

Dieser unserer Einseitigkeit werden wir uns immer bewußt bleiben müssen, wenn wir versuchen, das Wirken Gottes in einem durchaus anders gearteten Land und Volk in seiner Besonderheit zu verstehen. Wir haben uns daran zu erinnern, dass Luthers Botschaft und Werk universellen Charakter trägt, während der für Frankreich aufzuzeigende Weg des Evangeliums national bestimmt, ja eingeengt ist und dementsprechend eigengesetzlich verläuft. Im Lande Luthers sehen wir Fürsten, die sich für das Evangelium erklären und die mit ihrer Bekehrung ihren Untertanen vorangehen. In Frankreich gewahren wir Einzelne, zumeist Kinder des Volkes, die, zum Heilsglauben gekommen, sauerteigartig ihr Land mit dem Evangelium durchsetzen.

Am auffälligsten ist jedoch der Unterschied in der weltanschaulichen Polarität der beiden Entwicklungen in Deutschland und Frankreich. Luthers Aufgabe ist die Auseinandersetzung mit der ihm gegenüberstehenden katholischen Kirche, Lehre und Praxis. Das gilt auch in einem gewissen Sinne für Erasmus und die Humanisten. Das gilt auch für den Reichstag von Worms, der nur scheinbar das weltliche Kaisertum als Gegenspieler zeigt, während es in Wirklichkeit irgendwie getarnter Vertreter Roms ist.

Die Geschichte des Evangeliums in Frankreich zeigt je länger desto mehr eine andere Spannung auf. Bald gibt das Papsttum nur noch die Begleitmelodie zu einem anderen Gegenfaktor, zur Krone. Bald gibt auch die Macht des gallikanischen Bischofstums nur noch die Begleitmelodie eines anderen Gegenfaktors, nämlich des absoluten Königtums, das sich mit der christlichen Offenbarung auf Tod und Leben auseinander setzt, des absoluten Königtums als Sondererscheinung dessen, was das Johannesevangelium »diese Welt« nennt. Jedoch ist im sechzehnten Jahrhundert der Gegensatz »Katholizismus und Theologie der Sorbonne« einerseits und »Protestantismus« andererseits noch vorherrschend. Später, seit Richelieu, wird der Kampf eine endgültige Auseinandersetzung zwischen der Ideologie des Pariser Hofes und dem Evangelium.

Zugleich wird im Folgenden, gemessen an dem uneinheitlichen Bild des deutschen Protestantismus im sechzehnten Jahrhundert, immer wieder das Charakteristikum des Protestantismus in Frankreich ins Auge fallen, welches uns die Geschichte und die Schicksale des Evangeliums dort so erschütternd instruktiv machen. Es ist das die beinahe furchtbare Folgerichtigkeit, mit der im Laufe der Entwicklung beide Kontrahenten, Gott und Satan, Hand Christi und Hand des unerlösten Menschen, ihre Linien bis zum letzten Punkt ausziehen.

Alexandre Vinet sagte einmal, dass ein absolutes Prinzip nie halb befriedigt und nie halb getötet werden kann, und Kierkegaard bemerkte in der Schrift »Die Krankheit zum Tode« vom Gegenstück des Göttlichen, vom Dämonischen, dass es mit seiner letzten Konsequenz, ja mit jedem Seitenblick steht und fällt.
Diese Gedanken, auf unser Thema bezogen, gelten gleichermaßen für den Anspruch des Evangeliums, wie für den Anspruch des totalitären Papsttums, wie auch für den Anspruch des absoluten Königtums in Frankreich in dem System Mazarins, Bossuets und Ludwig XIV. In den letzten Widerstand, den inneren und dann den äußeren, treibt die Krisis die Protestanten hinein:
in den beiden großen Hauptabschnitten der Reformation und Gegenreformation bis zum letzten Bekenntnis und bis zum letzten äußeren Widerstand; in der unerhörten Auseinandersetzung des siebzehnten Jahrhunderts zwischen Evangelium und vergöttlichtem Königtum zum letzten Leiden und bis zur – menschlich geredet – Vernichtung der protestantischen Kirche. Die katholische Kirche stirbt dabei weithin an ihrer Mesalliance mit der Krone und wird durch die Aufklärung als herrschende Weltanschauung ersetzt. Das Königtum stirbt schließlich an seiner titanischen Überhebung und nicht zuletzt an seinen Siegen über die Hugenotten. Der Protestantismus ersteht, durch die Hand des Herrn berührt, im achtzehnten Jahrhundert von seinem Tod zu neuem Leben.

Diese mit Extremen gesättigte Gesamtgeschichte zeigt kaum Synthesen, wie die schweizerische Geschichte die Gottesstadt Genf oder wie die englische Geschichte den kurzlebigen Gottesstaat Cromwells. Die einzige in Frankreich deutlich werdende geschichtliche Vermählung, das Ineinanderfallen von Katholizismus und Staatsgewalt im siebzehnten Jahrhundert, vollzieht sich auf einer, nämlich der Gegenseite der protestantischen Seite der Parteien, und ist im Grunde zufällig.

Der Grund dieser und anderer Eigentümlichkeiten liegt – abgesehen von den einzelnen Entscheidungen des Geschichtsverlaufs – naturgemäß in den anders gearteten Voraussetzungen des französischen Protestantismus. Es ist daher zunächst allgemein zu fragen: Welches sind die zusammenwirkenden Kräfte, aus denen ein Volksbild und dann ein Kirchenbild entsteht?

Die Komponenten zu diesen Resultanten sind die Rasse in ihrer Besonderheit oder Vermischtheit, weiter das Land, die Landschaft, Boden, Klima und Umwelt, und drittens die »aufsummierte Vergangenheit«, die Geschichte: die Schicksalsverbundenheit der Menschen, die Gemeinsamkeit ihrer Kämpfe und Leiden. Dazu treten – erst dadurch wird überhaupt Volksgeschichte und erst recht Kirchengeschichte richtig und lückenlos gesehen – die Anstöße von außen, die nicht ableitbar sind aus Rasse, Boden und gemeinsamer Geschichte, Anstöße wie Invasionen, fremde Kulturen, allgemeine geistige Zeitströmungen, welche in ein Volkstum hereinbranden. Unter ihnen stehen für die Kirchengeschichte an erster Stelle die Anstöße übernatürlicher Art: die Gewalt Christi, das Wort Gottes und die Wirkung des Heiligen Geistes.

Es wird notwendig sein, besonders zu Punkt eins und zwei, Rasse und Land Frankreich, einiges vorauszuschicken, weil die Einzelgänge und Verlagerungen des ungeheuren göttlich-menschlichen Prozesses, den wir Geschichte des französischen Protestantismus nennen, sonst schwer verständlich bleiben in ihren spezifischen Erscheinungsformen: sei es in ihrer jeweiligen Lokalisierung, sei es im Wandern des Evangeliums durch das Land in der Richtung von Norden nach Süden, sei es auch in der ganz eigenartigen Vielgesichtigkeit der jeweiligen Lebensäußerungen.

Es gibt keine französische Rasse und hat es nie gegeben. Es gibt auch, anthropologisch gesehen, keinen französischen Typus. Ein Vergleichen beliebiger Köpfe aus illustrierten Zeitschriften macht das auch dem Außenstehenden ohne weiteres klar. Die Vorgeschichte des Landes erzählt uns von urzeitlichen behauenen Steinen und zeigt uns im Dordogne-Tal geniale Höhlenzeichnungen unbekannter Völkerschaften, ohne dass Frankreich sich darin von anderen europäischen Ländern wie Spanien oder Deutschland wesentlich unterschiede. Sie spricht von Neolithicum, von Dolmen, Totenkult, von Bronzezeit und Eisenzeit Frankreichs nicht anders als von den gleichzeitigen prähistorischen Kulturen Englands. Die eigentliche Geschichte Frankreichs beginnt mit den Spuren der Ligurer und Iberer, erhält Kunde von den Kolonien der Phönizier und Griechen und weiß ein wenig von der Einwanderung der Kelten oder Gallier, der Bretonen und Basken. Das volle Licht der Geschichte fällt erst auf die Kolonisation des Landes durch Cäsar und den Aufbau der ersten römisch-gallischen Kultur, vornehmlich in der Provence. Sie wird abgelöst durch die germanische Einwanderung der Burgunder, Franken und Westgoten, welche die römisch-gallische Kultur auf mehrere Jahrhunderte auslöscht. Dazwischen hinein kommen Sarazenen und dänische Normannen ins Land. Frankreich ist dementsprechend »ein internationales Gemenge von Völkern und Rassen« (Seignobos)¬: von germanischen Rassen im Norden, die mit Kelten untermischt sind, von überwiegend alpinen Rassen im Zentrum und Südosten und mittelländischen Rassen im Süden.

Gibt es auch keine französische Rasse, so gibt es doch das, was man das französische Genie nennen kann. Ähnlich dem Aufschießen der ägyptischen Kultur zur Zeit des Menes bricht es zu gegebener Zeit, etwa im zwölften Jahrhundert, hervor, beschränkt auf ein enges Gebiet mit frischem nordischen Blut, auf die Isle de France, die Normandie, die Picardie und die Champagne. Es stellt die verschiedensten Typen heraus, den kalten Rationalisten Abälard, den gottinnigen Bernhard von Clairvaux. Aus der Champagne stammt der Vater von Jeanne d’Arc, obwohl sie selbst äußerlich kein germanischer Typus, sondern, vielleicht von ihrer lothringischen Mutter her, schwarzhaarig war. In ihrem Charakter ist sie ebenso begeisterungsfähig als kühl-rational: In prophetischer Hellsicht heischt sie das verborgene Schwert vom Katharinenaltar in Fierbois, in kaltblütiger Sachlichkeit erbittet sie dann für dieses Schwert statt seiner Schmuckscheide aus rotem Sammet ein Futteral »de cuir bien fort«, »aus recht solidem Leder«.

Das génie français schafft die Baukunst, welche von den Italienern mit dem Spottwort »Gotik« belegt wird. Es schafft gotische Städte wie Rouen und überläßt es dem systematischen Geist der Deutschen, die letzten architektonischen Konsequenzen dieser unnennbar herrlichen Bauweise zu ziehen. Es schafft das zusammengeballteste Kulturzentrum der Welt: Paris.

Dieses französische Genie baut sich nach und nach, besonders seit Ludwig XIV., das auf, was französische Mentalität heißt, die nicht vorstellbar ist ohne den Sinn des »juste milieu«, des »sentiment de la nuance« und eine sonderliche Klarheit des Denkens und des Ausdrucks im Stil. Der Picarde Calvin in der Reformationszeit, die Denker Descartes und Pascal stellen sie in verschiedenen Abwandlungen dar. Die ruhelos feilende Arbeit an der Sprache, getan durch die Académie Française – an deren Wiege hugenottischer Geist stand –, ist ihr letzter Ausdruck. Zu dieser Geschichte einer Volkswerdung tritt der christliche, göttliche Koeffizient hinzu. Das erste Licht Christi bricht in den Süden des Landes hinein, die Rhône aufwärts. Die ersten Gemeinden werden dort gegen das vierte Jahrhundert hin von den eingewanderten Hellenisten aufgebaut. Dort hören wir die ältesten Märtyrernamen in Lyon und Vienne. Etwas später bewirkt die Taufe Constantins eine künstliche Christianisierung der Oberschichten weithin im Lande, welche die höheren Stände christlich firnisst. Die einbrechenden Westgoten und Burgunder sind bereits zum arianischen Christentum bekehrt, ehe sie in Frankreich erscheinen. Die Franken sind noch Heiden; die politische Taufe Chlodwigs leitete die langsame Christianisierung seiner Untertanen ein. Langsam durchdringt jetzt, durch die Arbeit der Mönche vorwärts getrieben, der christliche Glaube das Land, doch bleiben bis über die Reformation hinaus die Überreste des alten Heidentums lebendig und wirksam. Die Kreuzzüge durchsetzen das politische Leben mit christlichen Gedanken. Das Wort »Réforme«, das heißt Wiederherstellung verlorener Form (Form gleich Haltung und Seelenhaltung) tritt zuerst bei dem Restaurationswerk des Abts von Cluny auf.

Der Anbruch der Reformation in Frankreich – ich lasse die Bewegungen der Albigenser und Waldenser beiseite – wird äußerlich durch die Ära Franz’ I. gekennzeichnet. Die Regierungszeiten Karls VII., Louis’ XI., Karls VIII., Louis’ XII. liegen in der Vergangenheit begraben mit ihren Strömen von Blut, mit all ihrer Gewalttat und vielen anderen häßlichen Dingen. Mit dem erstgenannten jammervollen Schwächling, mit Karl VII., liegt das Zeitalter der Jeanne d’Arc hinter uns, das uns Deutschen seit Schiller besonders eindrücklich das Schicksal eines Landes vorstellt, welches aus einer Hand in die andere übergeht, das, bald in diesen, bald in jenen Teilen von England beherrscht, vielmehr ein Spielball einzelner Fürsten, denn der Besitz einer Krone ist.

Auch wenn bis zum Regierungsantritt Franz’ I. eine verhältnismäßige Geschlossenheit in der Regierung des Landes erreicht scheint, hat unterdessen die innere Zersetzung zusammen mit dem Verfall der Kirche einen erschreckenden Tiefstand erreicht.

Die sittlichen Zivilzustände, besonders in Paris, zeigen allgemeinen Niedergang. Die Zahl der Prostituierten in der Hauptstadt ist ungeheuer groß. Die bürgerlichen Mütter verkaufen ihre Töchter an reiche kirchliche Würdenträger, um zunächst eine Mitgift für den späteren legalen Gatten herauszuschlagen. Man läßt Wachsbilder durch einen Priester taufen und erdolcht sie dann nach heidnischer Weise, um einer wirklich existierenden, verhassten Person durch magische Fernwirkung einen schrecklichen Tod zu bereiten.
Alle Grenzen zwischen weltlicher Unsitte und kirchlicher Sitte scheinen verwischt zu sein. Die Straßendirnen von Paris tragen gleichsam als Zeichen ihres Gewerbes einen Rosenkranz aus kleinen Korallenperlen und großen Gold- oder Silberperlen auf der Brust. Genauer gesprochen ist von kirchlicher Sittlichkeit oder auch nur moralischen Hemmungen kaum noch die Rede. Bischöfe exkommunizieren einzelne Gemeindeglieder, um, wie man sagt, ihnen sodann die Absolution zu verkaufen. Priester profitieren vom geringsten Fehltritt in ihrem Sprengel, indem sie zunächst ihren Gemeindegliedern eine Wiederholung dieser Handlung ausdrücklich verbieten und sich dann die Aufhebung dieses Sonderverbots nach willkürlichen Tarifen bezahlen lassen. Es wird bitter darüber geklagt, dass in den Gotteshäusern selbst, wie erst recht in den Nonnenklöstern schändliche Unzucht durch Priester und willfährige Frauen getrieben wird, und in der Provinz geht das grässliche Wort um: »Schon der Schatten eines Franziskaner-Klosterkirchturms macht die Frauen der Umgebung schwanger«, – Zustände, die höchstens durch die von Gaberel berichtete sittliche Verrohung der damaligen katholischen Kirche Genfs noch übertroffen wurden.

Der König, der diese politische und moralische Erbschaft antritt, Franz I., ist der Vetter und dann der Schwiegersohn Ludwigs XII., doch ist seine Regierung etwas deutlich anderes als die einfache Fortsetzung einer Dynastie. Der Name Franz’ I. hat sich dem französischen Denken in besonderer Weise unvergeßlich gemacht, nicht eigentlich wegen seines objektiven Wertgehalts, sondern sicher vielmehr, weil Franz französisches Wesen zum ersten Mal repräsentativ darstellte.

Dazu kommt, dass von Franz I. über Heinrich IV. zu Ludwig XIV. eine bemerkenswerte Linie führt. Er ist in einem gewissen Sinne der Begründer des Gedankens von der königlichen Souveränität im höheren Sinne des Wortes, für dessen Weiterentwicklung dann die vermittelnde Haltung Heinrichs IV. ein verzögerndes Moment darstellt und dessen praktische Vollendung in Ludwig XIV. sichtbar wird. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes tragen während der Regierung Franz’ I. königliche Edikte den Schlußvermerk: »Car tel est notre plaisir« als Ausdruck des souveränen Placet von Seiten des Monarchen. Noch ist die Macht der Krone durch das so genannte Pariser Parlament, das heißt durch den obersten Pariser Gerichtshof, praktisch eingeengt. Es wird nicht immer so sein, und der Nachfolger Heinrichs IV., Ludwig XIII., wird hundert Jahre später durch Richelieu über den programmatischen Vollsinn jener Floskel belehrt werden. Als schließlich Ludwig XIV. im Jahre 1685 seinen Namen unter die Aufhebungserklärung des Toleranzedikts von Nantes setzt, seine majestätische und kalte Unterschrift unter die alte Formel: »Car tel est notre plaisir«, wird aus der fürstlichen Prätention eine Weltanschauung geworden sein.

Franz I., unter dessen Augen die erste Sturmflut der religiösen Wiedergeburt über das Land braust, ist ein Schöngeist. Er liebt den Genuß und die Pracht. Er fördert die Wissenschaften und die Künste, er interessiert sich für neue Erfindungen. Er ist zu oberflächlich, um viel zu wissen, er ist zu gescheit, um manches nicht sehr wohl zu verstehen. Die Charakteristik, welche Henri Martin im vierten Band seiner »Histoire de France« von Franz I. gibt, steht in Übereinstimmung mit vielen Einzelzügen und Einzelentscheidungen dieses königlichen Lebens, das die Reformation in Frankreich politisch umrahmte:

»Franz I. teilte mit seiner Schwester, der gütigen und bezaubernden Margarete, den Charme der Persönlichkeit, den Geschmack und den weiten geistigen Horizont. Von seiner Mutter, der gewalttätigen, durchtriebenen und hemmungslosen Louise von Savoyen, die leidenschaftlich und verderbt zugleich ist, in ihren Handlungen selbstsüchtig und unselig bis zu einer blinden Mutterliebe, welche sich mit ihren Lastern vermengt, und die unfähig ist, ihre Laster den Interessen eines vergötterten Sohnes zu opfern – von dieser Mutter hat Franz I. seine tolle Sinnlichkeit, seine völlige Hemmungslosigkeit und völlige Charakterlosigkeit. Hinter seinem so überaus anziehenden Gesicht, unter einem so viel versprechendem Äußeren findet man statt des erwarteten großen Mannes und untadelhaften Helden nichts als eine Seele, die ihren Instinkten, ihrer wandelbaren Leidenschaft und jeder Laune ausgeliefert ist. Franz verdient mehr als die leichtsinnigsten Frauen den Vorwurf, den er ihrem Geschlecht macht: Erst recht bei ihm liegen Feingefühl und Gutherzigkeit auf der Oberfläche. Den Grund bilden eine unersättliche Lüsternheit und ein ungebändigtes Geltungsbedürfnis. Obzwar er ohne System oder Berechnung im Bösen, ohne bewußte Falschheit nach Art seiner Mutter ist, muss dennoch von ihm gesagt werden, dass er jeden, der ihn geliebt hat, täuscht, unterdrückt oder fallen läßt – einen jeden, der seine Zuversicht auf ihn setzt. Selbst die Kunst, der er mehr Zuneigung schenkt als irgendeiner anderen Sache, ist für ihn mehr Angelegenheit der Phantasie und Spielerei als ein Anliegen der Seele, mehr ein Objekt besinnlicher Ästhetik und oberflächlicher Beschäftigung als ein Ideal und ein höchster Wert. Daher wird wahrhaft Großes nicht von ihm geschaffen werden.«

Ist Franz I. auch nicht schöpferisch, so ist er doch erfinderisch. Er erfindet das, was man »La Cour«, den französischen Königshof nennt, der später gegen Ende der Regierung Ludwigs XIV. zur feierlich-leblosen Maskerade entartet. Allein 22 Kardinäle gehören zu dieser Gloriole, darunter Jean von Lothringen, über dessen privates Leben besser geschwiegen wird und der in seiner Person zwölf Erzbistümer und Bistümer vereinigt, die ungeheuerliche »Erscheinung eines wandelnden Konzils in der Person eines einzigen freisinnigen Lebemannes«. An der Spitze dieses Hofes steht die Königin-Mutter, Louise von Savoyen. Sie begünstigt die Ausschweifungen ihres Sohnes, um ihn desto fester in ihrer Hand zu halten. Hinter ihr und ihrem Einfluß müssen die königlichen Gemahlinnen zurücktreten, nämlich die erste Gemahlin Claude, Tochter Ludwigs XII., eine gutherzige Dame, die bald irgendwo verstirbt, und die zweite Gemahlin Franz’ I., Eleonore von Österreich, die Schwester Karls V., – eine lebendige Brücke, wie man sie in der Politik gebraucht, wenn man zu einem gewünschten Ufer gelangen will.

Der glänzende Hofstaat des Königs zieht durch die Provinzen. Wo er geweilt hat, läßt er nichts Gutes zurück. Vom Leibarzt der Königin-Mutter, Agrippa, stammt das bittere Wort: »Wer in der Furcht Gottes leben will, verlasse den Hof!« Die Mehrzahl der königlichen Drohnen, die sich katholisch gebärden, rekrutiert sich im Wesentlichen aus aufgeklärten Skeptikern; doch ist auch ein anderer kleiner, wertvoller Teil erkennbar, der zum Neuen, zur Reform, zum Evangelium hinneigt.

Dem König, seinem Hof und dem zahllosen Gefolge weltlicher Fürsten in geistlichen Ämtern steht das Parlament von Paris gegenüber, der oberste Gerichtshof der Hauptstadt. Noch bedeutet er etwas; sicher bedeutet er viel, wenn nun die Verfolgung der Ketzer anhebt. Aus ihm wird die Sonderkommission gegen die Häresie gebildet und dieser Kommission parallel der päpstliche Ausschuß, der mit ihr im Einklang arbeitet. Die schauerlichen Kerker des Châtelet, der Conciergerie, der Bastille erwarten die Verurteilten, verschlingen die Opfer des Pariser Parlaments.

Neben dem Parlament steht in Paris die weltberühmte Universität mit ihren bereits vier Fakultäten: der theologischen oder der Sorbonne, der kirchenrechtlichen, der medizinischen und der Unterfakultät der Künste. Die Theologen der Sorbonne, in Aristoteles, Anselm, Thomas und Duns Scotus versunken, gehen unbeirrbar von Menschenalter zu Menschenalter denselben geraden Weg bornierter Intoleranz. Die Sorbonne war es, welche Johanna, die Jungfrau von Orléans, verdammte. Sie verdammte Hus, sie verdammte Wiclif. Sie verdammt die Buchdruckerkunst, die neue Wahrheiten verbreitet, sie verbietet das Studium des Hebräischen und Griechischen. Sie ist ausgesprochen ultramontan, päpstlich und gegen die Emanzipationsgelüste der französischen Bischöfe eingestellt. Sie produziert, sie fabriziert kirchliche Würdenträger: ein Papst, 20 Kardinäle, 50 Erzbischöfe und Bischöfe sind aus ihr hervorgegangen. Franz I. wird diesem Institut, das seinem Freisinn im Grunde der Seele zuwider sein muss, einen Dolchstoß versetzen, den es nie wird verwinden können, denn der König ist unter allem Schein der Orthodoxie ein Kind der Renaissance, die Renaissance französisch verstanden und gewendet.

Doch auch der Sorbonne gegenüber schwankt sein Verhalten, durch die Forderungen der Nützlichkeit bestimmt, unstet hin und her. Bald geht er gegen die Sorbonne in Angriffsstellung, um seine neuen Bildungsprogramme zu retten – bald ist er ihr zu Willen, wenn es opportun scheint, die evangelische Bewegung zu ersticken. So zündet er mit der einen Hand Lichter an und löscht wiederum mit der anderen Lichter aus.

KAPITEL II

RENAISSANCE UND REFORMATION IN FRANKREICH

Während in der deutschen Reformation die Renaissance in ihrer humanistischen Umprägung in Erscheinung tritt, bringt der Kulturkreis um Franz I. die Renaissance als solche in engste Beziehung zum religiösen Umbruch.

An der Spitze der Gestalten, die so oder so eine Berührung, eine Beziehung, eine verhältnismäßige Vermählung der italienischen Renaissancegedanken mit dem Evangelium darstellen, steht die edle Schwester des Königs, Margarete von Navarra, zuerst blutjung dem Herzog von Alençon angetraut, dann Gemahlin des Herrschers über Navarra, den kleinen unabhängigen Pyrenäenstaat an der Südwestgrenze des Landes.

Margarete ist mehr als eine schöngeistige Frau und alles andere als ein Blaustrumpf. Sie ist im besten Sinne des Wortes weiblich, doch ist ihre Weiblichkeit verklärt durch edlen Feinsinn und ergänzt durch die schönste Kultur des Geistes. Auch sie hat einen Hofstaat nach ihrem Geschmack um sich: Dichter und Gelehrte, die ihr folgen; vielmehr, denen sie folgt und deren gelehrige Schülerin sie ist. Margarete hat eine tief religiöse, mystisch-fromme Seele. Mit leidenschaftlicher und unmittelbarer Liebe liebt sie ihren Gott. Doch ist sie gleichermaßen ihrem königlichen Bruder und dessen königlicher Würde innerlich verschrieben. Ihr Denken ist gleich einer Ellipse mit zwei Brennpunkten und wird innerlich daran scheitern, dass in ihm Gott einem Menschen nebengeordnet ist. Die Unhaltbarkeit dieser Seelenstellung wird ihrem Bewußtsein durch den Nebel ihrer Mystik verdeckt, der es genügt, sich irgendwelchem Lichte zu öffnen. Die goldene Ringelblume wählt sie sich zum Wappenzeichen, die durch ihr strahlendes Gelb der Sonne so ähnlich ist und sich wendet, wohin das Tagesgestirn geht. Margarete korrespondiert mit allen großen Geistern, auch mit dem strengen Calvin; aber die kristallklare Umrissenheit seines Glaubens liegt ihr nicht, und sie versteht sich kaum mit dem Genfer Reformator.

Dem eben Gesagten entspricht auch der Zwiespalt zwischen ihrem reinen und untadeligen Leben und der Leichtfertigkeit ihrer Feder. Man hat versucht, die lockersten Szenen ihres Heptaméron ihrem Kammerjunker Desperiers zuzuschreiben, aber es ist zu befürchten, dass das ganze Werk von ihrer Hand ist, von der Hand einer Frau, die streng in ihren Sitten, aber schwach in ihren Worten war, immerhin in vorteilhaftem Gegensatz zu zahlreichen Zeitgenossen, die streng in ihren Worten und schwach in ihren Sitten gewesen sind.

In ihrem späteren Leben vertieft sie sich durch die Berührung mit den ersten Vertretern der Reformation, besonders mit Lefèbvre d’Etaples, dem humanistischen Bahnbrecher des Evangeliums in Frankreich, und schreibt den »Spiegel einer sündigen Seele«. Sie findet Worte vom Glauben, die von tiefer Erkenntnis zeugen: »L‘homme est par la foi: fait fils du Créateur, … juste, saint, bienfaiteur, remis en innocence. Par foi j’ai Christ et tout en affluence.« (»Durch den Glauben ist der Mensch Kind des Schöpfers geworden … gerecht, heilig, Gutes tuend, in seiner Unschuld wiederhergestellt. Durch den Glauben habe ich Christus und alles über Ihn hinaus.«)

Diese Einkehr verschärft die Spannung zwischen den Ansprüchen des christlichen Glaubens und der Beschlagnahme ihrer Seele durch ihren königlichen Bruder. Sie mag den ersten nicht dem zweiten, und sie mag den zweiten nicht dem ersten opfern, und schließlich, als Franz I. dem evangelischen Glauben den Krieg erklärt, ist es doch ihr Glaube, der ins Weichen kommt, und ihr Fuß kehrt wieder zum katholischen Kultus zurück. Ein Brief, den sie an Lefèbvre nach Meaux schreibt, gibt uns Zeugnis, dass sie wohl um ihr geistliches Versagen weiß: »… ich kehre zu euch zurück, zu Ihnen, Lefèbvre, und euch Herren allen, euch bittend, durch eure Gebete von der unnennbaren Barmherzigkeit Gottes eine Erweckung der armen Eingeschlummerten zu erlangen, die schwach geworden ist, damit sie aus ihrem lähmenden und tödlichen Schlafe wieder erwache.«

Die zweite Persönlichkeit, deren Kreise den Kreis der Reformation überschneiden, ohne deren Zentrum mit ihr zu teilen, ist der Hofdichter Clément Marot. In Cahors nördlich von Montauban als Sohn eines königlichen Hofjunkers 1495 geboren, tritt er in Paris in die Nachfolge seines Vaters. Südfranzose von Temperament, sprudelnd, witzig, graziös in seinen Formen, wird er bald anerkannter Poet in der Hauptstadt. Er lobt die schönen Frauen, er verschönt die häßlichen Damen des Hofes durch elegante Reime, vor allem preist seine Muse byzantinisch die königliche Majestät. Zeitig wird er für die Reformation gewonnen, die er sonderlich als Aufbegehren, als religiöse Befreiungsbewegung versteht. Erasmus hat ihn stark beeinflußt, doch findet er auch tiefere Töne: Er braucht Vergebung seiner Sünden und sucht sie bei Christus. Im Jahre 1526 wird er in den Kerker des Châtelet geworfen, weil er am Freitag Speck gegessen hatte, entsprechend der katholischen Moral der Zeit, nach welcher Kamele verschluckt, das heißt alle Laster übersehen wurden, während man Mücken seihte und Verstöße gegen die äußerste Peripherie kirchlicher Vorschriften umso grausamer ahndete. Man sagt von Marots uneinheitlichem und unruhigem Leben, dass es sich im Dreieck zwischen Königshof, Gefängnis und Gläubigern bewegt habe. Man würde treffender sagen, dass es, wie später das Leben Jean Jacques Rousseaus, an einem tiefen Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis krankte. Die Ideenwelt Marots ist weithin bekehrt, in seinen Handlungen ist er Epikuräer der Renaissance. Sein Geist geht den schmalen Weg des Glaubens, sein Herz geht den breiten Weg der Welt. So klafft sein Leben jammervoll auseinander, weil die evangelische Wahrheit, die sein sinnliches Gefühlsleben nicht annehmen mag, durch seinen Geist eindringt, – weil die fleischlichen Gedanken, die mit dem Verlangen seines Geistes unvereinbar sind, durch sein Gefühlsleben Eingang finden. So leidet er auch um des Glaubens willen, ohne Märtyrer zu sein. Er wird von den fanatischen Katholiken wegen lutherischer Ketzerei verfolgt, während in der Tiefe seine vitale Einstellung un-evangelisch ist, und dient so als Exempel für den Satz Lansons: »Es gibt Leute, die wegen Meinungen verfolgt werden, welche sie nicht besitzen.« Und wiederum vermögen die Evangelischen ihn nicht in Wahrheit als den Ihrigen anzuerkennen, denn auch ihnen bleibt er verdächtig.

Die erste Verfolgungswelle gegen den der Ketzerei Angeklagten wird im Jahre 1532 entfesselt. Bald flieht er nach Venedig; bei der Durchsuchung seines Hauses findet man unter seinen Büchern Bocaccio, dessen unsauberer Decamerone als Modebuch der Zeit nicht nur ihn, sondern auch die Jugend der Königsschwester Margarete verunreinigt hatte. In Venedig ist er unglücklich. In der Atmosphäre des Hofes war er aufgewachsen, in dem geistvollen und zugleich lebensgierigen Paris war seine Heimat gewesen; ausgewurzelt und fern von der Hauptstadt Frankreichs wird ihm die Sehnsucht nach dem Hof so überstark, dass er sich seine Rückkehr durch eine formelle Abschwörung des Glaubens vor dem fanatischen Kardinal von Tournon erkauft.

Die eigentliche Bedeutung Marots für die Reformation reicht weiter als der Einfluss Margaretes. War die Schwester des Königs Freundin und zeitweise Beschützerin des Evangeliums, so ist Marot, ohne es selbst zu wissen, in einer Beziehung Mitbegründer der protestantischen Kirche Frankreichs geworden, sofern diese in den kommenden Jahrhunderten jederzeit eine singende Kirche war. Er ist es, der nach und nach die Psalmen Davids in singbare Versform bringt. Der Hebraist Vatable liefert ihm zunächst die wissenschaftliche Übersetzung, gibt ihm den Wortsinn der Texte, so dass Marot instand gesetzt ist, das Übertragene in poetische Form zu gießen. Es versteht sich, dass Marot denjenigen Psalmen, die einen König preisen, ja deren Königsgestalt irgend auf Franz I. gedeutet werden kann, sonderliche Gunst am Hof verdankt. Der hier zuerst übersetzte Psalter, den dann Beza weiter bearbeitet und der schnell mit volkstümlichen, männlichen, starken Melodien versehen wird, gibt in kürzester Zeit der protestantischen Kirche Frankreichs ihr Gepräge, als einer Kirche Psalmen singender Bekenner, Psalmen singender Märtyrer, Psalmen singender Gemeinden, Psalmen singender Streiter.

Im Jahre 1542 flieht Marot, betroffen durch ein Edikt Franz’ I., von neuem ins Ausland. Er begibt sich dieses Mal nach Genf zu Calvin, aber er kann sich dort nicht halten, weil man ihm die Nachlässigkeit seines Lebens verargt oder weil er sich in der strengen Luft der Stadt nicht wohl fühlt, und geht weiter nach Turin. Als er 1544 – möglicherweise an Gift – stirbt, steht sein Ruhm als Meister der zeitgenössischen Dichtkunst im Zenit.

Die dritte der Persönlichkeiten, die, selbst noch in der Renaissance und ihrem Bannkreis lebend, an eine Verbindung der neuen reformerischen Ideen mit dem Bestand der katholischen Welt denken, ist Rabelais. Ich möchte ihn nicht gänzlich übergehen, da er im Reformationszeitalter einen Typus darstellt, den die deutsche Mentalität nicht kennt. Er ist der Vorläufer der Familie, die man später mit dem Namen Voltaires kennzeichnet und deren idealistischer Einzelgänger Jean Jacques Rousseau an der vorübergehenden Zersetzung des französischen Protestantismus – ich denke an die Verirrung des jüngeren Rabaut – mitbeteiligt sein wird. Rabelais ist zunächst Franziskanermönch und als solcher mit dem groben Leben und den Zoten seiner Klosterbrüder reichlich vertraut. Dann begibt er sich zu dem freisinnigen Bischof von Maillezais, treibt sich in der Welt herum, studiert ein wenig Jura und wird schließlich Arzt nach den Begriffen der Zeit. Von König Franz wegen seines robusten Witzes geschätzt, von der Sorbonne wegen seines Freisinns verflucht, stirbt er als »Priester« einer kleinen Gemeinde, um die er sich weder als Pfarrer noch als Arzt viel gekümmert hat.

Jacob Burckhardt sagte von Rabelais, er sei »die Renaissance ohne Form und ohne Schönheit«. Seine lebendigen und teilweise obszönen Bücher sind schonungslose Zeitbilder, Querschnitte der Sittlichkeit und der Sitten, Satiren über kirchliche Mißstände. Ein ungeheures Wissen, in welchem die heterogensten Bestandteile, auch die Heilige Schrift und Plato in Bruchstücken, ineinander stehen, trägt dazu bei, ihn zum geschätztesten Schriftsteller der Zeit zu machen. Rabelais hat einen gewissen Sinn für die Wissenschaft als solche. Er ist erster Typus der Freigeisterei, die zum Überkommenen Nein sagt und darin scheinbar mit der Reformation in eins fällt und deren Moral der Absud neu entdeckter Unmittelbarkeit, angeblicher Natürlichkeit ist. Als echter Rationalist teilt er mit dem Rationalismus aller Zeiten den Glauben an die ursprüngliche und wesenhafte Güte der Seele, die durch richtige Belehrung gepflegt wird, eine Theorie, die im merkwürdigsten Gegensatz zu seiner Erkenntnis menschlicher Leidenschaften steht. Er glaubt an das Wissen, er glaubt an die Güte der Welt. Das Übel ist ihm naturwidrig, ein bluthafter Optimismus beherrscht ihn.

Auf das Ganze gesehen vollzieht sich die Entwicklung bei Rabelais in Umkehrung der biblischen Linie, die mit dem Gnadenruf Gottes und dem Gläubigwerden der Seele beginnt, dann aus dem Glauben die christliche Persönlichkeit sprießen läßt und den Menschen als an Gott gebunden zu einem Leben rechter Gewissensfreiheit erhöht. Rabelais beginnt mit der Gewissensfreiheit im Sinne der Emanzipation, zieht aus ihr einen ungeordneten Individualismus und gelangt naturhaft-zentrifugal niemals zu einer auch nur moralischen, geschweige denn geistlichen festen Grundposition.

Alle drei, Margarete von Navarra, Marot und Rabelais sind Neuerer mit unzureichenden Mitteln: Rabelais ein Kritiker des Feindes der Protestanten, der katholischen Kirche, und darum noch kein Freund; Marot ein Wissender um das Evangelium, und darum noch nicht von ihm überwunden; Margarete von Navarra ein christus-gläubiges Herz, das sich zuletzt dennoch einem Menschen unterwirft.  

 

 

KAPITEL III

DIE REFORMATION IN FRANKREICH

»JESUS QUID VOLO NISI UT ARDEAT!«
»Jesus! Was will ich anderes, als dass es brenne!«

(Umschrift des Siegels Farels mit dem Flammenschwert des Wortes Gottes.)

Der Bahnbrecher der Reformation in Frankreich ist ein Gelehrter, Lefèbvre, den der Herr der Kirche vom Humanismus zur Theologie beruft. Es sei zuerst einen Augenblick an das Verhältnis des Humanismus zur italienischen Renaissance erinnert. Die italienische Renaissance als Bewegung richtet die Augen und den Geist des Menschen rückwärts auf die Kulturen Roms und Griechenlands, leitet zur Erforschung ihrer Quellen an und pflegt natürliches und sinnenhaft schönes Menschentum. Die deutsche Erscheinungsform der Renaissance, der deutsche Humanismus, greift gleichermaßen zurück, doch auf den Linien der Sprachforschung und des Studiums der Kirchenväter und folgerichtig bald auf den Urtext der Heiligen Schrift stoßend. So schreibt Reuchlin in Deutschland die erste hebräische Grammatik zur Erforschung des Alten Testaments, so fertigt Erasmus 1516 die erste Ausgabe des griechischen Neuen Testaments an.

Franz I., König von Frankreich, folgt eifrig den Anstößen der Renaissance in diesem besonderen, sozusagen philologischen Sinn, indem er der rückständigen und fanatischen Sorbonne zum Trotz in Paris ein altsprachiges Kollegium gründet, das »Collège royal«, später »Collège de France«, mit dem besonderen Auftrag, das Griechische und Hebräische zu studieren. Der Rektor der Pariser Universität, Beda, erklärt vergeblich, dass das Griechische eine Ketzersprache sei; Gelehrte der Sorbonne warnen vor dem Hebräischen, weil es den Menschen zum Judenchristen mache; doch müssen alle diese zornigen Stimmen vor der Autorität der Krone weichen. Es findet sich, dass fast alle Professoren der neuen humanistischen Hochschule irgendwie reformationsfreundlich eingestellt sind. Die Hörer werden als ein Elite-Auditorium beschrieben; eine glänzende Jugend und führende Persönlichkeiten drängen sich in den Hörsälen des königlichen Instituts.

Einige Jahrzehnte vor dieser Formwerdung des philologischen Humanismus in Paris und dann von ihr gewissermaßen getarnt, ersteht in aller Stille das Werk eines einsamen Gelehrten, der weltlich und dann geistlich forscht, der mühsam vorwärts tastet und sich Schritt für Schritt seinen Weg bahnt. Es ist Jacques Lefèbvre, genannt Lefèbvre d’Etaples, 1455 in der Picardie geboren wie später Calvin. Er ist von geringer Abstammung, ein Jüngling kümmerlichen Aussehens, und vereinigt in seltenem Maße Adel der Seele, Frömmigkeit und wissenschaftliche Begabung. Schon seit 1493 ist er Doktor der Theologie an der Sorbonne. Man rühmt seine Zartheit, seine Güte und die Kindlichkeit seines Charakters. Mit seinen Studenten verkehrt er kameradschaftlich, auch wenn sie weit jünger sind als er, wie Farel, der zuerst sein Schüler ist und später der Reformator Südfrankreichs sein wird.

Lefèbvre ist vor 1512 beschäftigt, eine Geschichte der Heiligen und Märtyrer nach den Namen im Kalender zu entwerfen. Angewidert von dem Wust des Aberglaubens, auf den er stößt, wendet er sich zur Heiligen Schrift. Es ist das die Zeit von Luthers Romreise. Im Kirchengebäude von St. Germain des Prés hat Lefèbvre damals seine Studierstube – die alte Kirche steht heute noch inmitten des modernen Paris als ältestes Denkmal der Reformation –, dort schreibt er seinen Kommentar zu den Briefen des Paulus und gibt ihn Ende 1512 heraus. Er sagt darin vier Jahre vor Luthers schriftstellerischen Arbeiten über die Rechtfertigung: »Solus enim Deus est, qui hanc justitiam per fidem tradit, qui sola gratia justificat ad vitam aeternam.« »Gott allein ist es, der diese Gerechtigkeit durch den Glauben verleiht, der allein aus Gnade rechtfertigt zum ewigen Leben.« Und zwar spricht er, um eine Brücke von der Tradition zur neuen Glaubenserkenntnis zu bauen, von zwei Gerechtigkeiten: Die eine ist die der Werke, die andere ist von Gott: Die erste ist Schatten und Zeichen, die andere ist Licht und Wahrheit. Die Gerechtigkeit der Werke lehrt die Sünde kennen, um dem Tode zu entfliehen. Die andere stammt aus der Gnade, um das Leben zu erwerben. Er sucht eine Versöhnung zwischen Paulus und Jakobus: »Einst gab es zwei Parteien, von denen die eine auf Werke baute, die andere auf den Glauben, ohne nach Werken zu fragen. Jakobus lehnt diese ab, Paulus jene. Und du, wenn du Weisheit besitzt, setze dein Vertrauen nicht auf deinen Glauben, nicht auf deine Werke, sondern auf Gott, und betrachte, um das göttliche Heil zu erlangen, als wesentlich den Glauben des Paulus, und füge zu ihm die Werke nach Jakobus, denn sie sind ja die Zeichen eines lebendigen und fruchtbaren Glaubens.« Und es sei noch ein sehr persönliches Wort aus seiner Vorrede zum Evangeliumkommentar hinzugefügt: »Es tut Not, dass die Könige, dass die Fürsten, dass das ganze Volk, dass alle Nationen nur an Jesus denken und nur nach Ihm sich ausstrecken.«

Im Jahre 1514 hatte Lefèbvre unternommen, Reuchlin zu verteidigen. Seine lateinischen Evangelienkommentare erscheinen 1522 und werden schon 1523 beschlagnahmt. In denselben Jahren übersetzt er die vier Evangelien, dann das ganze Neue Testament, also kurz nach Luther. Die Psalmen überträgt er 1523 und 1525, 1528 weitere Teile des Alten Testaments, 1530 das ganze Buch. Schon geraume Zeit vorher war man ihm gegenüber bedenklich geworden; die Fanatiker des Parlamentsgerichts und der Universität lauern auf ihn und stellen ihm Fallen. Man fragt ihn: »Sind die Werke umsonst?« Er antwortet: »Nein! Wenn ich einen Spiegel in den Glanz der Sonne halte, nimmt er ihr Bildnis auf. Je mehr man ihn poliert und reinigt, desto mehr erstrahlt in ihm und durch ihn das Licht der Sonne. Dagegen, wenn man ihn trübe werden läßt, verliert sich der Glanz des Himmelsgestirns.« Es ist deutlich, dass ausweichende Antworten solcher Art weder seine Gegner beruhigen, noch ihn selbst befriedigen können. So siedelt Lefèbvre mit Gleichgesinnten nach der Bischofsstadt Meaux über, von der besonders zu reden sein wird. Als während des unglücklichen Feldzugs Franz’ I. gegen Karl V. in Italien die katholische Reaktion am Hof überhand nimmt, muss er fliehen, darf aber dann durch Gnadenerlass des aus der Gefangenschaft freigelassenen Königs wieder zurückkehren und wird königlicher Bibliothekar und Prinzenlehrer. Angesichts der überall brennenden Scheiterhaufen flieht er abermals, jetzt nach Nérac in Navarra, wo er 72-jährig verscheidet, in Gewissensnot darüber, dass er nicht habe für das Evangelium leiden und sterben dürfen.

Dieser letzte Missklang, diese innere Not läßt uns irgendein Versagen in der Vergangenheit des so überaus sympathischen Mannes ahnen. Es wird nicht genügen, diesen Defekt etwa in der Tatsache zu suchen, dass er, wie jeder echte Humanist, an die menschliche Willensfreiheit glaubte und ihm infolgedessen die letzten Tiefen der Offenbarung von Sünde und Gnade vielleicht nicht aufgegangen waren. Die Geschichte der Erweckung von Meaux wird zeigen, dass er gelegentlich schwieg, ja nachgab, um sich zu retten, dass er gelegentlich den letzten Schritt nicht wagte, gelegentlich neun Schritte des Glaubens tat, um vor dem letzten Schritt zurückzuzucken – ich denke an das Wort von Alexandre Vinet: »Auf dem Weg zur Wahrheit sind neun Schritte die Hälfte von zehn.« Auch muss ja wohl von allen Humanisten rückblickend gesagt werden, dass ihre Stärke, die Hingabe an den gelehrten Stoff, an die Sprachen und Handschriften der Bibel und die Dokumente der alten Kirche, naturgemäß ihre Schwäche war. Die Begeisterung für die wissenschaftliche Arbeit, der »fanatisme de la matière« bleibt ihnen beherrschendes Moment: Das Studium wird ihnen nicht entscheidend Weg zur Herausstellung der Wahrheit, sondern bleibt überwiegend Freude an der Forschung selbst. Diese aufräumende, aufhellende Arbeit ist notgedrungen einseitig, und es ist diese Einseitigkeit, die die Lebensarbeit der Humanisten unbefriedigend macht. Lefèbvre hat darüber hinaus versucht, den christlichen Glauben wieder auf seine Grundbestandteile zu reduzieren, das heißt positiv zu vereinfachen. Die Not der Zeit, das Elend der katholischen Kirche war ja doch die Vielfältigkeit des Kultus. Es gab so viele Gnadenmittel, so viele Heilige! Es gab so viele Autoritäten in der Kirche! So viele, dass es praktisch keine mehr gab für die suchende Seele. Eines zerstörte das andere, ein Heiliger erschlug den anderen im Wechsel der kirchlichen Mode. Wenige haben so kritisiert wie Erasmus, wenige haben Überzähliges so treu durch das Wesentliche ersetzt wie Lefèbvre, doch es fehlt dem Humanismus dort und hier die absolute Gottbezogenheit eines Luther, die völlige Christusbezogenheit der Wittenberger Lehre.

Damit kommen wir auf die Bedeutung Luthers für den Aufbruch der Reformation in Frankreich. Nach den Abhandlungen des Erasmus dringen Luthers Streitschriften allenthalben im Lande ein; vor allem die »Babylonische Gefangenschaft der Kirche« wird in christlichen Kreisen gierig verschlungen. In direkte Beziehungen zu Frankreich tritt Luther durch den Ablaßstreit mit Tetzel, Eck und Prierias und die Disputation von Leipzig. Luther erklärt sich nämlich bereit, seine Lehre der Sorbonne zu unterbreiten. Kurfürst Friedrich von Sachsen schreibt in der Angelegenheit an die Fakultät zu Paris, deren damaliger Dekan, Beda, von Erasmus den wenig schmeichelhaften Zunamen »truncus«, auf gut Deutsch »der Kaffer«, erhalten hatte. Das Antwort-Gutachten der von der Sorbonne eingesetzten Kommission zieht eine Linie von den alten Ketzern über Waldus, Wiclif und Hus bis zum »Ketzerfürsten« Luther; die »Babylonische Gefangenschaft der Kirche« wird dem Koran verglichen. Interessanterweise bezichtigt man Luther des Individualismus, ein Vorwurf, der dem französischen Protestantismus gegenüber später durch die Jesuiten und auch durch Bossuet wieder aufgenommen wurde. Luther antwortet in der Schrift »De abroganda missa privata« überaus grob: »Wir sind nicht getauft worden auf den Namen der mildtätigen theologischen Fakultät von Sodome in Paris, noch der Gomorra von Löwen, sondern auf den Namen unseres Herrn allein.«

Der erste Märtyrer der französischen Reformation war ein »Luthérien«. Luthers Lied »Eyn newes lyed wyr heben an – die aschen will nicht lassen ab, die steubt in allen landen« machte den Feuertod von Heinrich Voes und Johann Esch, der Augustinermönche von Antwerpen, unvergeßlich, die als Anhänger Luthers am 1. Juli 1523 vor dem Rathaus in Brüssel verbrannt wurden. Brüssel liegt nicht weit von Paris: Kurz darauf hatte auch die Hauptstadt Frankreichs ihren ersten evangelischen Blutzeugen. Wiederum war es ein Augustiner, Jean Vallière aus dem Kloster von Livry; er hatte zuerst in Meaux unter dem Einfluss der Bibelarbeit Lefèbvres gestanden, dann unter dem der Schriften Luthers. Am 8. August wird er auf dem Pariser »Marché des pourceaux« lebendig verbrannt.

Dasselbe Schicksal ereilt den Übersetzer der Erasmus- und Lutherschriften Louis de Berquin, die Perle des Hofes, den Freund des Königs, den gelehrten Edelmann. Er gehört der Gruppe an, die mit Erasmus schriftlich verkehrt. So beginnt er humanistische Abhandlungen, dann auch Reformationsschriften, zu übertragen, parallel mit Lambert, dem Franziskaner von Avignon, der in Basel eine Schriftenzentrale für Luthers Abhandlungen betreibt. Nach der Beschlagnahme der Schriften Luthers in den Pariser Buchhandlungen durch die Sorbonne 1523 schreibt Berquin selbst seinen »Débat de piété et de superstition« und als kritische Schrift: »Le paradis du Pape Jules«. Am 13. Mai wird er verhört, am 26. Juli zum Widerruf aufgefordert, am 1. August in das Verlies der Tour Carrée gebracht. Der König, der sich noch nicht gegen die Reformation gewandt hat, lässt das Parlament durch einen Gardehauptmann einschüchtern und den Gefangenen entführen, dessen Bücher mittlerweile verbrannt werden. Drei Jahre später wird Berquin abermals verhaftet, weil er auswärts, in Cambrai und Amiens, evangelisch gewirkt hat. Unmittelbar darauf verbietet das Parlamentsgericht unter Androhung der schrecklichsten Strafen, die übersetzte Bibel zu lesen oder auch nur zu besitzen, sowie die Lehre Luthers zu verbreiten oder der katholischen Lehre zu widersprechen. Infolge der Rückkehr des Königs abermals freigelassen, sieht sich Berquin 1529 zum letzten Mal vor Gericht. Unvorsichtigerweise legt er Berufung beim König ein, der sich gerade nach ruhelosem Umherschweifen in der Provinz auf Schloss Blois aufhält. Das Parlamentsgericht nutzt die Gunst der Stunde aus und lässt Louis de Berquin am selben Tag verbrennen.

Neben den Schriften Luthers – denn Gottes Wort ist noch stärker als Menschenwort – beginnen unterdessen die übersetzten Evangelien, die übersetzten Bibelteile ihr entscheidendes Werk zu tun und Gottes Feuer im Lande zu entzünden. Die Strahlen ihres ewigen Lichts finden in einer sehr dunklen Zeit ihren Weg in die Herzen hinein, wie das Licht der Sterne am hellsten, am trostreichsten seinen Weg in die Augen der Menschen findet, wenn der Himmel sonderlich finster ist. Will man schon von »interessanten« Zeiten der Kirchengeschichte sprechen, von solchen, die unsere tiefe Aufmerksamkeit verdienen, dann sind es diese: die Zeiten eines stillen, unaufhaltsamen Wirkens des Geistes Gottes durch das Wort, die Zeiten, da Menschen es aufnehmen und Lichtträger werden – und nicht so sehr die Zeiten, die man konventionell die »interessanten« nennt, wie etwa in der Geschichte des französischen Protestantismus die Hugenottenkriege oder die Bartholomäusnacht.

Das vornehmste Beispiel der Evangeliumskristallisation an einem bestimmten Ort, in einem klar umschriebenen Kreis ganz bestimmter Menschen Frankreichs in den ersten Jahrzehnten der Reformation ist die Geschichte der Erweckung, des evangelischen Gemeindeaufbaus und der Bluturteile in Meaux: ein Mikrokosmos im Makrokosmos der französischen Kirchengeschichte.

Weltlich betrachtet ist die erste Person, der traurige Held auf der Bühne dieses Kleintheaters innerhalb des großen Theaters der Reformation, Bischof Briçonnet. Er entstammt einer typischen Familie des katholischen Klerus, er ist ein typischer Reformkatholik mit dem typischen Ende eines Reformkatholiken. Sein Großvater Jean Briçonnet, Generaleinnehmer der königlichen Finanzen, hinterlässt einen Sohn, Guillaume Briçonnet den Älteren, der dank der Stellung seines Vaters zunächst Bischof von St. Malò an der Nordwestküste und zugleich im äußersten Süden von Frankreich Bischof von Nîmes wird. Alexander VI. Borgia, das Scheusal auf dem Papstthron, ernennt ihn zum Kardinal. Dann wird er Erzbischof von Reims, darauf Erzbischof von Narbonne, außerdem Prior der großen Abteien von Grand-Mont, von St. Nicolas d’Angers und von St. Germain des Prés in Paris. Sein Sohn Denys wird Bischof von Toulon, Bischof von Lodève und Bischof von St. Malò. Sein anderer Sohn, Guillaume Briçonnet der Jüngere wird Bischof der Stadt Meaux bei Paris, deren geistliches Oberhaupt hundert Jahre später der Programmatiker des absoluten Königtums sein sollte: der große Prediger Bossuet.

Dieser Briçonnet, Bischof von Meaux, war ein Schüler Lefèbvres gewesen. Er ist »biblien« und Mystiker. Seit 1518 beschäftigt er sich mit den Missständen seiner Diözese. Die meisten so genannten Priester wohnen nicht in ihren Gemeinden; im Hôtel-Dieu von Meaux, einer königlichen Stiftung für Kranke, haben sich die Trinitarier-Mönche eingenistet und verzehren die Einnahmen der Institution. Die entarteten Franziskaner, die sogenannten »Cordeliers« – nicht zu verwechseln mit den auch »Cordeliers« genannten Linksjakobinern der französischen Revolution – beherrschen das Volk und plündern es aus.

Schon seit 1519 gibt es »Luthériens« im Land. Bereits gegen Ende des Jahres 1521 bedeutet das Vertreten lutherischer Ansichten Todesgefahr. Kein Wunder, dass eine Anzahl von Neuerern, in Paris bedroht, ihre Zuflucht bei dem Reformer Briçonnet in Meaux suchen. Lefèbvre selbst bildet dort einen Kreis der biblischen Richtung; unter ihnen befindet sich der junge Farel und Roussel, Hofprediger der fortschrittlichen Schwester des Königs, Margarete. Die Mittel der neuen Gruppe sind Evangeliumsverkündigung und Studium des Wortes Gottes.

Angesichts des Sturms, der, entfacht durch die Klagen der wütenden Mönche, von Paris her droht, zieht Briçonnet 1523 die Predigterlaubnis zurück, die er Farel und dessen Freunden gegeben hatte. Sie unterwerfen sich dem Verbot, mit Ausnahme von Farel, der gleichwohl versucht, an verschiedenen Orten der Diözese zu evangelisieren, und sich dann in die Höhle des Löwen nach Paris begibt, wo er »sich durchschlug, so gut er konnte«. Unterdessen weicht Briçonnet erschreckt noch einen Schritt weiter zurück und beruft eine Synode ein, in der er sich gegen Luther wendet und verbietet, dessen Schriften einzuführen, sie zu kaufen, zu lesen oder zu verbreiten. Am selben Tag, in einem Rundschreiben an seine Priester, schimpft er über die, welche gegen das Fegefeuer, die Heiligen- und die Marienverehrung predigen, und verbietet jede Teilnahme an der »lutherischen Pest«. Damit hat sich Briçonnet als Vertreter der Reform selbst erledigt. Lefèbvre und Roussel schweigen; der erste bringt es über sich, als Generalvikar Briçonnets noch in Meaux zu verbleiben.

Gleichwohl ist für den reformerischen Bischof der letzte Tiefstand noch nicht erreicht. Als 1524 Papst Clemens VII. eine neue Ablassbulle ausgibt, lässt Briçonnet sie an das Portal der Kathedrale und in den wichtigsten Teilen der Stadt anschlagen; doch werden die Plakate in der Stadt an verschiedenen Orten abgerissen, und an den Mauern der Stadt erscheinen Anschläge, welche den Papst als Antichrist bezeichnen. Im Januar 1525 findet man katholische Gebetsformulare im Inneren der Kathedrale durch Messer- und Degenstiche zerfetzt, ein Zeichen der zornigen Gärung, welche durch das Lesen der Evangelien in den Köpfen der besinnlichen Wollkämmer und Walker entstanden war. Einer von ihnen, Jean Leclerc, wird der Mitschuld überführt. Man peitscht ihn öffentlich aus und brandmarkt ihn vor seiner Ausweisung öffentlich mit einem glühenden Eisen auf der Stirn. Seine Mutter wohnt dieser Exekution bei und ruft, als die Haut ihres Sohnes unter der Glut zischt: »Es lebe Jesus und Sein Banner!«

Das nicht viel spätere schreckliche und glorreiche Ende Leclercs, ein Sterben mit dem Bekenntnis zum Erlöser und dem hundertfünfzehnten Psalm auf den Lippen, das der Flüchtige bald darauf in Metz findet, ruft die vom Evangelium Erweckten in Meaux zur Entscheidung auf. Der Erste, der sie mit seinem Leben bekräftigt, ist ein junger Kleriker, Jacques Pouent, welcher Bücher »ensuivant la secte de Luther« übersetzt hat. Briçonnet gibt ihn preis. An den Brandpfahl auf der Place de Grève gebunden, spricht er so gewaltig zum Volk, dass Pierre Cornu von der Sorbonne erklärt: »Es wäre besser, die Kirche hätte es sich eine Million in Golddukaten kosten lassen, um die Rede Pouents an das Volk zu verhindern«. »Der Tod dieses Menschen«, fügt er hinzu, »hat ihm so zahlreiche Nachfolger verschafft, dass man sie niemals wird völlig ausrotten können.«

Ein neuer Versuch Briçonnets, den Terror der parasitischen Franziskaner zu bekämpfen, endet damit, dass er selbst trotz aller Unschuldsbeteuerungen als Angeklagter vor dem Pariser Parlament steht. Es ergehen neue Verhaftungsbefehle der genannten Stelle; eine Anzahl Häretiker aus Meaux wird nach Paris ins Gefängnis gebracht, schlichte Leute aus dem Volk. Dazu wird für einige der Leisetreter und Flaumacher aus den Kreisen Briçonnets der Prozess vorbereitet. Lefèbvre und der königliche Hofprediger Roussel fliehen mit des Bischofs Hilfe nach Straßburg, einige andere entkommen nach Basel. All diese Ereignisse verhindern nicht, dass 1528 in Meaux eine angebliche Papstbulle angeheftet wird, welche mit echt französischem Witz erlaubt, ja einschärft, die Bücher Luthers zu lesen und zu verbreiten. Briçonnet stirbt einige Jahre später als guter Katholik und Privatmann in seinem Schloss von Aimans.

Mittlerweile hat sich in Meaux unter seinem unwürdigen Nachfolger eine kleine Gruppe gebildet, die durchzuhalten entschlossen ist: kleine Leute, aber auch Bürger, Männer und Frauen. Sie stehen in Verbindung mit der blühenden Gemeinde in Straßburg, wo ihre flüchtigen Freunde angesiedelt sind, wo Calvin die französische Gemeinde betreut. Als nun einige der Straßburger wieder in die alte Heimat zurückkehren, bilden sie mit den Zurückgebliebenen in Meaux die erste protestantische Kirche Frankreichs, eine evangelische Kirche nach dem Vorbild der calvinischen Kirche in Straßburg. Zu ihrem Pfarrer wählen sie nach Fasten und Gebet Pierre Leclerc, einen Wollkämmer von lauterem Lebenswandel und »wohl beschlagen in der Heiligen Schrift«. Hier, an dieser Stelle und in diesen Jahren amalgamieren sich zum ersten Mal in Frankreich Luthertum und Calvinismus, die Anstöße Luthers und die gestaltenden Gedanken Calvins auf der gemeinsamen Basis der Heiligen Schrift. Es stimmt immerhin nachdenklich, dass dieses erste Mal wohl eigentlich das letzte Mal war, und die Erwägung, dass Luthers Einfluss als dem französischen Geiste fremd auf die Länge der Zeit ohnehin zurücktreten musste, tröstet auch vom reformierten Standpunkt aus nicht über das Ausfallen jener reichen Befruchtung hinweg.

Der Kreis der Gläubigen mitsamt ihrem neuen Laienpfarrer Leclerc, der sich um das Wort Gottes und das Heilige Abendmahl versammelt, erweist sich als eine wahrhaft erlöste Gemeinde, die, bildlich geredet, ihren archimedischen Punkt außerhalb der Welt gefunden hat. Man versammelt sich im Haus von Etienne Mangin; aus der Stadt und vom Land strömen sie zusammen, bis 300 und 400 Männer und Frauen. Eines Tages – es ist am 8. September 1546 – überrascht die Gendarmerie eine Versammlung von 60 Personen und verhaftet sämtliche Teilnehmer, die keinen Widerstand leisten. Ein junges Mädchen sagt zum Polizeioffizier: »Wenn Sie mich in einem übel beleumdeten Haus gefunden hätten, statt in einer so heiligen und ehrbaren Gesellschaft, hätten Sie mich nicht so hart gefesselt!« Während man die Geknebelten ins Gefängnis schafft, singen auf den Gassen »ceux de la religion«, welche Zeugen des Vorgangs sind, mit lauter Stimme Psalm 79, das Lied von den Feinden Gottes, die in das Heiligtum einbrechen.

Die Anklage lautet auf gemeinsame Abendmahlsfeier und Teilnahme an Bibelverlesungen in der Landessprache durch Leclerc. Allein vierzehn von ihnen werden zum Feuertod verurteilt wegen »Ketzerei, verruchter Gotteslästerung, Konventikelwesen und verbotener Versammlungen, Schisma und fehlbarer Handlungen«. Die zum Tode verurteilten Vierzehn, an ihrer Spitze Leclerc und Mangin, verteilt man zunächst in verschiedene Klöster, wo sie widerrufen sollen, doch ohne jeden Erfolg. Dann schafft man sie wieder nach Meaux zur Hinrichtung. Auf dem Weg am Wald von Livry, im Dorf Couberon läuft ihnen ein Weber nach und ruft ihnen zu: »Brüder, denkt an Den, der im Himmel ist«, worauf die begleitenden Bogenschützen ihn packen und in den Karren der Delinquenten hineinwerfen »pour leur grande consolation« – »was diese gar sehr tröstete«.

Am nächsten Tag, dem 6. Oktober, werden sie dem Henker übergeben. Etienne Mangin schneidet man die Zunge ab, was ihn nicht hindert, laut zu rufen: »Der Name Gottes sei gepriesen!« Dann bindet man die Vierzehn auf dem Marktplatz an vierzehn Pfähle, die im Kreis aufgestellt sind, so dass sie einander in die Augen sehen und einander ermutigen können, Gott mit lauter Stimme lobend bis zum letzten Seufzer, während das Wutgeschrei des aufgehetzten Pöbels sich an den alten Häusern bricht und das »Salve Regina Coeli« der rasenden Priester sich mit dem Prasseln der brennenden Holzstöße tosend vermählt.

Am Tag darauf erscheint Picard, der als eine Säule der Sorbonne geachtet wird, mit einer prunkvollen Prozession auf dem Marktplatz, wo die Scheiterhaufenreste noch schwelen, und hält unter einem Baldachin die abschließende Festpredigt zur Feier des vollzogenen Gerichts; doch klingt eine heimliche Unsicherheit durch seine Worte, als er die nun erstickte Botschaft von der Heilsnotwendigkeit der Gnade durch das schauerliche Wort ersetzt, dass der Glaube an die ewige Verdammnis der lebendig verbrannten Vierzehn Bedingung der Seligkeit sei – ja, dass man auch einem Engel vom Himmel widersprechen müsse, wenn er das Gegenteil sage. Denn »Gott ist nicht Gott, wenn Er jene nicht auf ewig verwirft!«

Dies ist in Kürze die Chronik der ersten evangelischen Gemeinde in Frankreich, zur Ehre Gottes, der solches durch Menschen vermag, uns vorgestellt. Die Asche der vierzehn Scheiterhaufen stäubt über das ganze Land. Die evangelische Kirche von Meaux löst sich auf. Durch die Kunde von ihrem Glaubenszeugnis, durch ihre Flüchtlinge werden hin und her die Samenkörner ausgestreut zu neuem Glauben, so wie einst nach dem Martyrium des Stephanus und der Verfolgung des Saulus von den verfolgten Jüngern zu Jerusalem gesagt wurde: »Die nun zerstreuet waren, gingen umher und predigten das Wort bis nach Phönizien, Zypern und Antiochien«, und wie hundert Jahre später der hugenottische Nachfahre der Zeugen von Meaux, Agrippa d’Aubigné, in seinen »Tragiques« sang:

»Les cendres des brûlés sont précieuses graines
Qui, après les hivers noirs d’orage et de pleurs
Ouvrent, au doux printemps, d’un million de fleurs
Le baume salutaire …«

Auch die Lage der Evangelischen im Lande hatte sich unterdessen verschlimmert. Die bisherige Nachsicht des Königs war leider nicht durch Motive der Gerechtigkeit oder durch Anwandlungen von Frömmigkeit bestimmt gewesen, sondern durch seine Abneigung gegen die ihn abstoßende römische Beschränktheit und durch seine Freude an der wissenschaftlichen Arbeit der fortschrittlichen Humanisten. Andererseits ist für des Königs endgültiges Verhalten entscheidend nur sein Vorteil. Sobald es gelingt, ihn zu überzeugen, dass die Reformation seine Einkünfte verringert, seine Autorität bedroht und ihm persönlich abträglich ist, stellt er sich sofort auf die Seite der Verfolger – eine scheinbare Parallele ist die Intoleranz Elisabeths von England, welche die Presbyterianer unterdrücken ließ, weil sie in der zunehmenden Autorität jener eine Verringerung ihrer königlichen Macht voraussah – und doch, wie tief steht bei alldem der Charakter des französischen Königs unter den politischen Erwägungen der englischen Herrscherin!

Der Umschwung in der Stimmung Franz’ I. vollzieht sich in den Jahren 1533 und 1534. Als in Paris die Predigten des von Meaux her bekannten Beichtvaters von Margarete, Roussel, Aufsehen erregen, wird von dem Dekan der Sorbonne eine auch gegen Margarete von Navarra gerichtete Agitation auf den Kanzeln der Stadt entfesselt. Der Anstoß ist so groß, dass der König zwar Roussel ein Redeverbot auflegt, aber zugleich die klerikalen Aufpeitscher verbannt. Durch diese salomonische Entscheidung erregt Franz I. abermals den Zorn der Fakultät; man sagt, dass einer ihrer alten Theologen nicht sterben konnte, bevor nicht in seinem Krankenzimmer der Ketzer Roussel wenigstens in effigie verbrannt worden war.

Die noch immer im labilen Gleichgewicht befindliche Stimmung des Königs schlägt um infolge der sogenannten Plakat-Affäre. In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober des Jahres 1534 werden reformerische Plakate angeschlagen, deren Inhalt sich gegen die Korruption der Kirche richtet, aus welcher der König doch selbst so viele Vorteile zieht. Diese Plakate scheinen allgegenwärtig zu sein. Franz findet ein solches Druckblatt sogar in der »Tasse, in der er sein Tuch zu netzen pflegte«. Jetzt wirft er das Steuer herum und gibt den Todesurteilen freien Lauf. Die Hinrichtungen in großem Maßstab heben an: Am 27. November werden bereits sieben Protestanten, unter ihnen der arme Krüppel Milon, »convertis en cendres«. In einer riesigen Prozession des Heiligen Sakraments, an welcher der König teilnimmt, wird gegen die angebliche Verächtlichmachung der Hostie protestiert. Im Januar 1535 wird die erste Frau verbrannt, die Lehrerin der Gemeinde St. Séverin, Marie la Catelle. Sie hatte mit ihren Schülerinnen das Evangelium in der Landessprache gelesen und die Kinder nicht mehr das Ave Maria aufsagen lassen. Auch der Hofarzt Pointet stirbt auf dem Scheiterhaufen, weil er den Mönchen von ihren sittlichen Ausschweifungen gesprochen hatte und von den Schäden des Zölibats.

Im selben Jahr verscheidet der erbittertste Feind der Reformation und unheilvollste Ratgeber des Königs, Erzbischof Duprat, in seinem Prunkbett. Noch bevor er die Augen schließt, beschlagnahmt der König die Schätze, die der gewissenlose Kanzler aufgehäuft hatte: in seinem Schloss von Rambouillet sein Geschirr aus reinem Gold und 800.000 Taler. In seinen übrigen Besitzungen fanden sich, wie man sagte, noch 300.000 Livres, »zu deren Erben der König sich selbst ernannte«. Duprat war 72 Jahre alt geworden; nach einem Wort seiner Zeit »bipedum omnium nequissimus«, das heißt, in verständliches Deutsch übertragen: »der größte Schurke auf Gottes Erdboden«.

In den folgenden Jahren dehnt sich die Ausrottungsaktion von Paris über das Land aus, wo sich, auch als Frucht der Märtyrerzeugnisse, die Evangelischen geradezu vervielfachen. Die Scheiterhaufen rauchen allenthalben gen Himmel, man verbrennt die Bekenner des christlichen Glaubens wie Reisigbündel. Im Einzelfall überschlagen sich die Exekutionen: In Toulouse wird um der römischen Lehre halber der Inquisitor Louis de Rochète mitverbrannt. Die weitaus schrecklichste Erscheinung aus dem letzten Jahrzehnt der Regierung Franz’ I. ist jedoch die Vernichtung der stillen, fleißigen und frommen Waldenser diesseits der Alpen in der Provence. Man hatte beim König den Anschein erweckt, dass sie Aufrührer seien, welche sich der Stadt Marseille bemächtigen wollten, und er bewilligt dem Kardinal von Tournon durchgreifende Massaker, welche die Ausrottung der Bevölkerung von Cabrières und Mérindol östlich der Quelle von Vaucluse zum Ziel haben. Dreißig Dörfer werden in Brand gesteckt. Die Waldenser werden erschossen, niedergestoßen und in ihren Zufluchtsstätten verbrannt. Außer den Tausenden an direkten Todesopfern werden etwa 250 hingerichtet, 600 auf die Galeeren geschickt, Kinder als Sklaven verkauft, viele in Gefängnisse gebracht. Einige Tausend schlagen sich durch die Gebirge nach Genf durch, wo Calvin in letzter Treue eine Hilfsaktion der schweizerischen Kantone für sie einleitet. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass der Hauptschuldige an diesem grauenhaften Verbrechen, der Baron d‘Oppède, das Lob des Papstes erntet.

Die Waldenserverfolgungen lenken unsere Aufmerksamkeit auf das südöstliche Frankreich, das später die ganze Verantwortlichkeit für das Schicksal des Evangeliums in Frankreich zu tragen haben wird. Hier, nördlich von der Provence, war im Jahre 1489 der Reformator Farel geboren. Um seinen Typus vergleichend zu verstehen, könnte man zuvor die allgemeine Frage anschneiden, ob Propheten und Reformatoren Exponenten oder Ergänzer ihres Volkscharakters zu sein pflegen, Standardtypen oder Gegentypen. John Knox in Schottland wäre ein Beispiel für das Erstere. Aber die Beobachtung, dass jedes Volk Gegengewichte für seine herrschenden Neigungen anzuerkennen bestrebt ist, legt die Frage nahe, ob dies auch für das Gebiet der Religion und für Frankreich gilt. Die Druiden werden uns vorgestellt als finstere Priester des so beweglichen keltischen Volkes. Calvin, herb und streng und sichtlich ohne den leichten Charme des Franzosen, ist der gallischen Seele eigentlich nur durch das rationale Element verbunden, das in ihm ohne Unterlass auf höchste Klarheit drängt. Sein Gegentyp ist Guillaume Farel. Es würde eine bequeme und schiefe Vereinfachung bedeuten, wenn man ihn etwa als Südfranzosen dem Nordfranzosen Calvin gegenüberstellen wollte. Farel wirkt wie eine Inkarnation des rassereinen Keltentums. Sein Geburtsland ist die Dauphiné, das alte Gebiet der keltischen Allobroger und ihrer Stammesgenossen, die sich hier angesiedelt hatten. Der Kelte – man studiere dazu die Kulturgeschichte von Wales – ist begeisterungsfähig, hitzig, gemütsbewegt, draufgängerisch, heroisch, und eben deshalb ungeordnet und unfähig zu organisieren. So steht der Charakter Farels vor uns: jäh, ein Mann des wilden Ansturms ohne Reflexion auf Gefahr, ein schweifender Feuerbrand. Später in Genf wird er Calvin als Ergänzung und Korrektiv bitter nötig haben, damit geordnet und aufgebaut werde.

Dieser Elias, der nicht schreibt, sondern handelt, erblickt 1489 als Kind eines kleinen Landedelmannes in Gap, der Heimat der keltischen Caturici und Avantici, das Licht der Welt und wächst inmitten von vier Geschwistern auf. Seine Eltern sind fromme Katholiken. »Mein Vater und meine Mutter glaubten alles«, schreibt er von ihnen. Der Knabe ist sehr begabt, phantasievoll, aufrichtig und treu, von unbezähmbarem Mut und einer Kühnheit, die vor keinem Hindernis zurückschreckt. Er ist ein hundertprozentiger Mensch: Der spätere Zusammenstoß mit dem immerdar minderprozentigen Erasmus und mit dessen »Hass gegen jenes absolute Sichersein, das so unzertrennlich zu den Reformatoren gehörte« und gegen alle Zerstörer erwünschter Kompromisse ist eine geschichtliche Groteske. Er hat die Schattenseiten seiner Vorzüge: Seine Gewalttätigkeit kostet ihn später seine Tätigkeit in Montbéliard.

Der junge Guillaume wirft sich zunächst Hals über Kopf in alle katholischen Praktiken hinein. Als Kind von sieben Jahren schon steht er andächtig bei Tallard vor dem wunderbaren Kreuz, das aus dem Kreuz Christi geschnitten ist. Dann begehrt er zu studieren, und der Vater gibt seinem Wunsch nach. So nimmt er vorläufigen Unterricht in der Heimat, bevor er nach Paris geht zur »Mutter aller Wissenschaften, dem wahren Licht der Kirche, das niemals verdunkelt wird; dem klaren und polierten Spiegel des Glaubens, den keine Wolke verdunkelt und keine Berührung verunreinigt«. Um 1509 erreicht er die Hauptstadt, als gerade der Vorgänger Franz’ I., Ludwig XII., die Bischofsversammlung von Tours einberufen hat, um dem Papst Trotz zu bieten. Lefèbvre d‘Etaples lehrt ihn mit ungewöhnlicher Klarheit Philosophie, doch sehr bald werden der Alte und der Junge auch durch freundschaftliche Bande verbunden. Die Gemeinsamkeit eines innigen Glaubens führt sie zusammen; sie schmücken gemeinsam Madonnenbilder, sie beten gemeinsam auf den Feldern zu der Himmelskönigin.

Noch ist Farel Katholik ohne Vorbehalt. Hört er gegen den Papst reden, dann fletscht er die Zähne wie ein reißendes Tier – »Ich glaube an das Kreuz, an die Wallfahrten, an die Heiligenbilder, an die Reliquien. Was der Priester in der Hand hält und in den Schrein setzt, ist mein einziger wahrer Gott, und außer ihm gibt es keinen anderen, weder im Himmel noch auf Erden.« Später sagte er von sich: »Der Satan hatte den Papst und alle Papisterei derartig in mein Herz gepflanzt, dass der Papst selbst nicht so viel Papisterei in sich hatte wie ich«. Je mehr er Gott sucht, desto mehr versinkt er in seine Fehler und in die Abgründe seiner Seele. Er liest das Leben der Heiligen, er studiert die alte Philosophie und versucht, Aristoteles für einen Christen zu halten. Dann liest er die Heilige Schrift und findet dort ganz andere Wahrheiten. Er errötet, wenn er Verse entdeckt, die gegen die katholische Kirche zeugen. Schließlich will er nichts mehr sehen – nur nichts mehr sehen! –; so schließt er die Augen und wirft sich blindlings in die Möncherei der Chartreuse-Brüder. »Ich hatte damals mein Pantheon in meinem Herzen: so viele Fürsprecher, so viele Heilande, so viele Götter, dass ich ein wandelndes Register des Papsttums war.«

Jetzt ist es Lefèbvre, der ihm helfen kann, weil ihm selbst geholfen worden ist. Der Professor liest die Schrift mit geöffneten Augen der Seele und lehrt sie seinen jungen Studenten geistlich verstehen. »Lefèbvre hat mich unterwiesen«, schreibt er, »dass alles aus Gnade kommt und einzig aus der Barmherzigkeit Gottes, ohne dass es irgendjemand verdient hat. Das habe ich geglaubt, sobald es mir nur gesagt wurde.« Bankrott mit sich selbst, mit seinen Vorsätzen und guten Werken, wirft er sich auf die Verheißung der Rechtfertigung aus dem Glauben an Jesus Christus.

Er ahnt zunächst nicht, dass dieses Geschenk der Gnade an seinen erleuchteten inneren Menschen seine katholische Rechtgläubigkeit aus den Angeln gehoben hat. Die Anrufung der Heiligen steht noch immer in seinem Leben mit all ihren reichen, erbaulichen, farbensatten Bildern, und erst die Abwendung Lefèbvres von der katholischen Legende und das treue Wort Michel d’Arandes, des späteren Seelsorgers Margaretes von Navarra, lösen ihn von der sinnenhaften Welt der Vermittler und Nebengötter Roms. Mit ihnen fällt auch schließlich die Autorität des Mittelsmannes auf dem Stuhl des Petrus. »Es war freilich nötig«, schreibt Farel, »dass sie stückweise von meinem Herzen abfiel, denn auf den ersten Stoß hin kam sie noch nicht herunter«. Aber als er Jesus Christus mit der Seele schaut und sagen kann: »Die Stimme Christi, mein Hirte, mein Meister, mein Lehrer spricht mit Macht zu mir«, vermag er »nicht mehr mit dem mörderischen Herzen eines tollwütigen Wolfes, sondern wie ein sanftes Lamm« zum Papst die neue Stellung zu gewinnen und sich Jesus Christus hinzugeben.

Nun studiert er Griechisch und Hebräisch, um die Bibel im Urtext kennen zu lernen. Er wird die Heilige Schrift brauchen, denn noch steckt »eine starke Wurzel der Bezauberung Satans« in seinem Herzen. »Ich konnte«, schreibt er zurückblickend, »mich schlechterdings nicht von der Messe losmachen; ich war noch wie von ihr behext … und am meisten war ich durch die Anbetung des Brotes und des Weines verführt und geblendet.« Immer noch besucht er katholische Gottesdienste, aber inmitten der lateinischen Litaneien und der unruhigen Menge, der »clamores multi, cantiones innumerae«, schreit es in ihm auf: »Du allein, Du bist Gott. Du allein, Du bist weise. Du allein, Du bist gut. Nichts darf hinweggenommen werden von Deinem heiligen Gesetz, nichts darf hinzugetan werden, denn Du bist Herr ganz allein und nach Dir allein verlangt mich und nach Deinem Befehl!« Doch ist es nicht der Schrei der religiösen Seele, der ihn endlich vom Zauber des Hochamts löst, sondern das objektive Wort der Offenbarung in der Bibel in einer »cognoissance générale de la dignité de la parole de Dieu« und die »Überzeugung, dass alles ihr nicht Gemäße völlig verdammenswert« sei.

Von der nun folgenden Tätigkeit Farels in Meaux haben wir gesprochen. Bald muss er nach dem Süden und nach Basel fliehen, bald wird er, und zwar als Laie, zum evangelischen Pfarrer ordiniert werden. Hier bricht ein auffallender Unterschied zwischen dem Luthertum und dem französischen Protestantismus auf. Wir wissen, wie sehr Luthers Tätigkeit bestärkt wurde durch das Bewusstsein, dass er Doktor der Theologie war, und wie lebendig noch heute in der nordischen Ausprägung des Luthertums die Gedanken von der bischöflichen Sukzession sind. Wäre Bischof Briçonnet dem Evangelium treu geblieben und hätte ihn der Feuertod verschont, dann wäre er vielleicht der erste evangelische Kleriker Frankreichs geworden. Mit Briçonnets Abfall reißt diese mögliche organische Linie gleichsam schon nach ihrem ersten Punkt ab, und die großen Zeugen des Evangeliums und die ganz großen christlichen Persönlichkeiten in Frankreich von jetzt ab werden Laien sein. Schon Lefèbvre war philosophischer Humanist gewesen, obzwar er nebenbei die Weihen empfangen hatte. Farel ist Laie. Calvin ist Doktor der Rechte. Beza ist Jurist und Altphilologe. Coligny ist General. Pascal, der evangelische Katholik, ist Mathematiker. Der Schöpfer des freien Predigtamts für die Kirche der Wüste, Claude Brousson, ist Doktor der Rechte und Advokat von Beruf. Der Wiederhersteller der protestantischen Kirche, Antoine Court, ist ein primitiver Autodidakt, Rabaut ist Laienprediger und nur vorübergehend auf dem Seminar in Lausanne. Dementsprechend ist der Charakter des französischen Protestantismus bis 1750 laienhaft geprägt und in diesem Sinne volkstümlich.

Zunächst arbeitet Farel als freier Evangelist, seine Tätigkeit in Meaux unterbrechend, in seinem Heimatort und spricht zu seinen drei Brüdern über das Evangelium – zehn Jahre später sehen wir sie ihr Hab und Gut für den Heiland verlassen. Eine in Gap ausbrechende Erweckung vereinigt die kirchlichen und weltlichen Mächte gegen ihn. Nun schweift er an den Ufern der Durance und Isère predigend umher. Dort gewinnt er auch den Hutten Frankreichs, den Ritter Anémond von Coct, für Jesus Christus. Im Temperament ist Anémond Farels Komparativ, in der Unrast eines ungestümen Lebens fast sein Zerrbild. Liebenswürdig, unternehmungsdurstig, alles wagend verzichtet der Ritter auf sein Familienerbteil zu Gunsten seines Bruders, eilt nach Basel, dann nach Wittenberg und erreicht dort, dass Luther beim Herzog von Savoyen die Versorgung der Dauphiné mit evangelischen Predigern beantragt.

Nach der Katastrophe von Meaux und der Flucht über Paris nach dem Süden, nach einer Zwischentätigkeit in Basel und Straßburg, kehrt Farel, von Oekolampad konsakriert, nach Frankreich zurück, das heißt nach dem Ländchen Montbéliard südlich von Belfort, das 1397 von der Freigrafschaft Burgund an die württembergischen Herzöge gekommen war und dessen Herzog Ulrich dem Evangelium wohlgeneigt ist. Farel ist hier ein General auf Vorposten. Oekolampad, der das unbändige Temperament seines Freundes nur zu gut kennt, ermahnt ihn vorsorglich, doch seinen Löwenmut mit der Sanftheit einer Taube zu vermählen. Vor Farel liegt die Franche Comté, die Bourgogne, zu seiner Linken das Lyonnais, zu seiner Rechten Lothringen. Dass der geistberührte Prediger allenthalben Feuer Gottes entzündet, bezeugt ein grämlicher Brief des Erasmus an den Bischof von Rochester aus jenen Jahren. Unterdessen wächst auch die evangelische Bewegung in Grenoble und besonders in Lyon. Etwa um dieselbe Zeit bildet sich im nahen Basel eine fruchtbare Arbeitsgemeinschaft des Freundeskreises Farel-Anémond; Zwingli, Oekolampad, Myconius stehen ihnen nahe. Täglich finden Gebetsversammlungen für die heilige Sache statt. Schwer sind die Erschütterungen der neuen Gemeinschaft durch die Abendmahlsstreitigkeiten, die sich auch für den Norden Frankreichs als verheerend erweisen. Aufbauend dagegen ist die Gründung einer Bibel- und Traktat-Gesellschaft, die von den wohlhabenden Evangelischen in Lyon finanziert wird. Farel übersetzt die reformatorischen Schriften ins Französische, besonders Luthers Auslegung des Vaterunsers. Anémond liest Korrektur und lässt drucken. Die Maschinen in Basel laufen Tag und Nacht, und Frankreich wird von hier aus mit Bibelteilen und evangelischen Schriften geradezu überflutet.

Leider kommt bald die rastlose Arbeit Farels in Montbéliard zu einem schmerzlichen Ende. Farel, dem ein Melanchthon fehlt, beginnt, die Franziskaner von Besançon, welche zu polemischen Zwecken in die Kirche von Montbéliard herübergekommen waren, zu »entlarven«. Nicht nur der elektrische Strom, sondern auch seelische Spannungen suchen immer den kürzesten Weg und lieben den Kurzschluss. Ins Religiöse übertragen: Allzu nahe liegt dem hitzigen natürlichen Menschen aller Zeiten eine ungeistliche Imitation des Jesus, der den Tempel reinigt. Oekolampad, der das Verhängnis kommen sieht, schreibt an den ungestümen Geißelschwinger seelsorgerliche Worte: »Du bist gesandt, zu segnen und nicht zu fluchen. Die Ärzte amputieren nicht eher, als bis alles andere versagt hat. Sei ein Arzt, sei kein Henker!« Doch das Unheil ist nicht mehr aufzuhalten; irgendein letzter, entscheidender öffentlicher Zusammenstoß scheint Farels Schicksal besiegelt zu haben. Ein leidlich bezeugter Bericht spricht von einem öffentlichen Angriff des ergrimmten Reformators auf die Monstranz, die von einem Priester über Land getragen wird. Eine andere, legendäre Überlieferung, die seit Kirchhofer bestritten wird, hat den Vorteil ungemeiner Lebendigkeit – man möchte sagen, dass sie Farel zu ähnlich ist, um ganz erfunden zu sein: Er begegnet einer Prozession des Heiligen Antonius und stößt mit ihr genau an einer Brücke zusammen. Zwei Priester, die einen Schrein mit dem Heiligenbild tragen, bewegen sich auf ihn zu. Farel ist einen Augenblick unentschieden. Soll er umkehren? Soll er ausweichen? Es wird ihm nicht allzu schwer, aus sich das Gegengift zu der scheinbaren Versuchung der Stunde zu erzeugen. Er packt den Schrein und wirft ihn mitsamt dem wundertätigen Bild in den Fluss. Auf das wütende Geschrei der Prozessionsteilnehmer antwortet Farel mit Donnerstimme: »Ihr armen Götzenanbeter, werdet ihr niemals eurer Abgötterei entsagen?«

Farel muss nun Montbéliard verlassen; seiner eigentlichen Wirksamkeit in Frankreich ist damit ein Ende gesetzt. Nur noch einmal, im Winter 1561-1562, ist er vorübergehend in der alten Heimat Gap tätig. Von seiner weiteren Arbeit in der Schweiz ist hier nicht zu handeln.

»Man ist fruchtbarer Fortsetzer eines Werkes nur unter der Bedingung, dass man den voraufgegangenen Führern unähnlich ist« – dieses paradoxe Wort Vinets charakterisiert den anderen Reformator Frankreichs, der zwanzig Jahre jünger war als Farel und seinen Vorgängern unähnlich und ihnen nicht angepasst werden kann und nicht aus ihnen erklärt werden kann: Johannes Calvin. Luthers überreiche, sturmdurchtoste Seele hat viele Saiten auf ihrem Instrument und kann zwar allein vom Glauben her in ihrem Wesen verstanden, kann aber auch von allerlei natürlichen Gesichtspunkten her mannigfaltig missverstanden werden. Die Freunde des Rassegedankens verstehen ihn als Exponenten des wesenhaften Deutschtums in seiner Eigenschaft als Bibelübersetzer und Neuschöpfer der deutschen Sprache. Der Liberalismus preist ihn als Zerbrecher des scholastischen Dogmas, als Herold einer geistigen Emanzipation. Sozialisten schmähen ihn als Feind der Bauernaufstände, Gegner des Judentums reklamieren ihn als den Ihrigen, und die Allermodernsten nennen den Kämpfer Luther den ersten »Deutschen Christen«.

Calvins Gestalt dagegen ist spröde wie Hartglas oder Stahl, sein Charakter erscheint beinahe übermenschlich homogen. Er kann von niemandem in Anspruch genommen werden, der anders ist als er selbst, und jeder Versuch dazu muss scheitern. Das Wort Schillers im Prolog zum Wallenstein: – »von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte«, gilt wohl von Männern wie Cromwell, den die Torys als ein Könige mordendes Ungeheuer und den die Whigs als einen vulgären und lächerlichen Heuchler beschrieben. Aber das eindeutige Bild Calvins kann nur innerhalb seiner selbsteigenen Art, durch Unterstreichen ihm eigentümlicher markanter Linien vereinseitigt und überspitzt werden, die Schönheiten seines Charakters überbetont, seine Schwächen mit schwarz unterlegt, vermittelnde Eigenschaften wegretuschiert werden. Er bleibt im Grunde immer derselbe, der schlechterdings Respekt einflößt, von der Souveränität Gottes inspiriert, unerbittlich folgerichtig gegen sich und andere bei aller Herzensgüte, die metaphysischen Voraussetzungen seines Denkens in unverbrüchlichem rationalen Denken logisch weiterverfolgend bis zum letzten Ende.

Er ist ein Kämpfer wie keiner, und doch anders als der Heros, als den Carlyle John Knox so wundervoll beschreibt, denn eine naturhafte Scheu und Ängstlichkeit begleitet ihn sein Leben lang und wird nur überwunden durch die noch größere Furcht vor dem Gott, der ihn berufen hat.

Es ist nicht die Aufgabe dieser Kapitel, einen Lebensabriss des Mannes zu schreiben, der sein eigentliches Werk in der Schweiz tat und mit geradezu furchtbarer Wucht das Gepräge seines Geistes dem westlichen Europa und darüber hinaus einem Teil der Vereinigten Staaten von Amerika aufdrückte. Auf Frankreich wirkt er nur mittelbar, durch die Ausstrahlung seines Geistes, durch seine Lehre in der Institutio und im Katechismus, durch Briefe, durch das Vorbild Genfs und durch den von dort nach Frankreich gesandten Predigernachwuchs, aber er wirkt darum nicht schwach, sondern auf andere Weise stark.

Unmittelbar, als Franzose in Frankreich, steht nur der junge Jehan Cauvin vor uns, der Sohn eines Emporkömmlings und bald ein mutterloses Kind. Von dem rechnenden Vater aus einer lukrativen Karriere in die andere geschoben, aus dem Priestergeschäft in die noch einträglichere Juristenlaufbahn, lebt er in einem Milieu, das ihn im Opportunismus zu ertränken droht. Mit zwölf Jahren erhält er als Sohn eines bischöflichen Finanzverwalters bereits eine Kaplanspfründe der Kathedrale von Noyon. Mit 18 Jahren wird ihm eine Kaplanspfründe der Pfarrstelle von Monteville zuteil, ohne dass er jemals irgendwelche kirchlichen Dienste zu tun braucht. Wenn Hippolyte Taines Geschichtsbetrachtung, nach welcher der historische Mensch als Produkt von Erbmasse und Milieu zu erklären ist, richtig wäre, müsste der Charakter Calvins als der eines juristischen Erasmus errechnet werden. Stattdessen zeichnet uns die Überlieferung den jungen wie den alten Calvin als ein sich gleich bleibendes Bild von Selbstlosigkeit, Unbestechlichkeit und Ungebrochenheit des Wesens; in der Zeit seiner größten Macht in Genf erhält er schließlich nach Hungerjahren 3500 Mark Jahresgehalt und findet, dass schon dieser Betrag zu hoch ist.

Etwa in das Jahr 1534 fällt die Bekehrung des stillen Gelehrten, von der er in der berühmten Vorrede seiner französischen Erklärungen zum Psalter sagt: »Obwohl ich hartnäckig dem Aberglauben des Papsttums ergeben war, hat Gott durch eine plötzliche Bekehrung (une conversion subite) mein Herz gebändigt und Sich gefügig gemacht … Nachdem ich also den ersten Geschmack und die erste Kenntnis wahrer Frömmigkeit gewonnen hatte, wurde ich sogleich von einem so großen Verlangen entzündet, alles das auszukosten, dass ich, ohne die anderen Studien völlig aufzugeben, sie immerhin erheblich nachlässiger betrieb. Dazu kam, dass zu meinem großen Erstaunen bereits vor Ablauf eines Jahres alle diejenigen, welche irgendein Verlangen nach reiner Lehre hatten, sich mir anschlossen, um zu lernen.«

Das war in Nérac südlich von der Garonne. Ein Jahr zuvor hatte er noch im Collège Forfet, in der Rue Vallette in Paris gewohnt – wer Paris durchwandert, betrachte sich aufmerksam den alten Treppenturm im Hof, die einzige Erinnerung an den Reformator in der französischen Hauptstadt – und dort seinem Freund Cop, dem jugendlichen Rektor der Universität, seine Amtsrede am Allerheiligentag über Rechtfertigung und Gnade ausgearbeitet. Dann müssen beide fliehen. Nur noch einmal kommt Calvin nach Paris zurück, dann nicht mehr nach Frankreich.

Um Calvins Lehre, die bald das ganze gebildete Frankreich ergreifen sollte, um die Eigenart seiner Gedanken über Aufbau der Gemeinde und Wesen der Kirche, über Heiligung und Dienst Gottes zu verstehen, die dann den hugenottischen Typus formieren, wird es nützlich sein, sich einmal an das Frankreich zu erinnern, das Calvin erlebte, bevor er es verließ.

In moralischer Beziehung vollendet sich die Jugend Calvins in dem Frankreich Franz’ I., in welchem der überkommene sittliche Tiefstand des Volkes und erst recht des Hofes sich mit der sittlichen Unbekümmertheit der Renaissance nur zu innig vermählt. Der höfische Geschichtsschreiber der Zeit, Brantôme, beschreibt den Hof als einen Pfuhl von Schamlosigkeit. Der König selbst stirbt an der Lustseuche, nachdem er seine zweite Gemahlin und die Damen des Hofes damit infiziert hat. Weiter vermischt das Frankreich Calvins die sinnenhaften Gedanken der Renaissance in gefährlicher Weise mit christlichen Ideen, wenn auch nicht in demselben Maße wie in Italien. Es hing damals im Schloss Fontainebleau ein Gemälde, das Calvin vielleicht kannte, ein Bild von Leonardo da Vinci, in dem dieser Zusammenhang geradezu krass deutlich wird: Johannes der Täufer, der in der Form des Verkünders Christi unverkennbar die Züge eines heidnischen Bacchus trägt. Der italienische Meister hatte es um 1510, einige Jahre vor seinem Aufbruch nach Frankreich gemalt, wo er die letzten Jahre seines Lebens als Gast des französischen Königs in dem Schlösschen Cloux bei Amboise verbrachte. Wenn die Renaissance sich dergestalt weithin in den Mantel christlicher Vorstellungen kleidete, löste sie umso sicherer letzte Widerstände christlicher Reserven auf, sie, die ja eben nicht sittliche Wiedergeburt, sondern eine Art weltanschauliche Verfeinerung der Sinnlichkeit bedeutete und so den moralischen Niedergang nicht aufhob, sondern vielmehr unkenntlich und dadurch umso gefährlicher machte.

In diesem Frankreich des sittlichen Verfalls, der nur dünn mit den freudigen Farben des Florentiner Neuheidentums übermalt ist, lebt der junge Calvin. Die Summe der auf ihn einstürmenden hässlichen Einzeleindrücke kann von ihm nicht anders denn als der einheitliche Block einer feindlichen Macht empfunden werden, von der es sich so weit wie möglich zu entfernen gilt. Er muss lernen, nicht nur abzurücken, sondern einen möglichst breiten Rand zwischen sich und dem Abgrund zu lassen: So wird er auch die Kirche Frankreichs lehren. Und wenn später in der von seinem Geist geformten Gemeinde Montauban eine adlige Dame vom Abendmahl ausgeschlossen wurde, weil sie eine künstliche Frisur trug, dann meinte der strenge Kirchenzuchtbeschluss nicht eigentlich den »fil d’archal« in ihren Haaren; er wies darauf hin, dass hier der Rand des Abstands vom weltlichen Leben zu schmal geworden war.

Die Tatsache, dass man die Wahrheit von dem Rückschlag in der Geschichte, von der Pendelausschwingung nach der anderen Seite ein wenig totgehetzt hat, schließt nicht aus, dass man sich ihrer zur rechten Zeit erinnere. Sicherlich ist das in diesem Zusammenhang am Platze, und ich möchte den angeschnittenen Gedanken noch ein wenig weiterführen. Man beanstandet in Calvins Gedanken und Wirken und Anweisungen für das Gemeindeleben den radikalen Ton, sobald es sich um völlige Scheidung von Wesen und Art des katholischen Kultus handelt. Wie war dieser Kultus, den er in der ersten Hälfte seines Lebens geschaut hatte, geartet? Ein unsinniger Pomp in Verbindung mit zahllosen Emblemen und darstellenden Festen schafft im besten Falle einen mystischen Ästhetizismus, welcher sinnenhafte Rührung mit sittlicher Charakterbildung verwechselt. Das Volk bleibt – und ach wie gern! – im Symbol stecken und sieht Gott mit den Augen des Geistes nicht mehr. Die Unterschlagung des zweiten Gebots: »Du sollst dir kein Bildnis, noch irgend ein Gleichnis machen von dem, was im Himmel ist … « rächt sich nach den unerbittlichen Gesetzen der Geisteswelt. Allenthalben werden äußerliche Dinge stellvertretend für unsichtbare Werte gebraucht, z.B. Bilder, Schaustellungen, Prozessionen.

Wenn man einwendet, dass Luther in Deutschland eine ähnlich veräußerlichte Kirche vorgefunden hat, so mag daran erinnert werden, dass vielleicht in Frankreich noch mehr als in Deutschland das grobe Heidentum der Vergangenheit in dem bunten Kleid des Katholizismus einen festen Unterschlupf gefunden hatte. Allein gelassen, verliert es von selbst seinen Reiz für reifere Menschen, so wie der »Feenbaum« bei Domremy, in dessen Zweigen die Jugend des Dorfs Blumenopfer aufzuhängen pflegte, der herangewachsenen Jeanne d’Arc nichts mehr zu sagen hatte. Sobald aber Heidentum durch christlichen Kultus in haltbare Formen gefasst und durch sie verklärt im Volkstum wuchert, gedenkt es gerade so lange zu leben, als die kirchlichen Formen bestehen, die ihm schützende Schneckenschale geworden sind. Wer dafür eine unvergessliche Illustration zu haben wünscht, der lerne zuerst aus einer Religionsgeschichte etwas über die heilige Dreiheit der keltischen Fruchtbarkeitsgöttinnen. Dann reise er in die Provence und durchwandere nördlich von Arles die Gegend der grauenhaften Trümmerstadt Les Baux. Dort findet er die alten Felsen, auf denen nach der Überlieferung die keltischen Priester ihre Opfer schlachteten, dort zeigt man ihm auch ein uraltes Steinrelief mit drei verwaschenen Figuren. Die Anwohner nennen sie in ihrem provenzalischen Dialekt: »Les tré-majé«, die drei Marien. Und endlich, am 24. Mai, fahre er hinunter in das Rhônedelta zum Fischerdorf Les Saintes Maries und sei dort Zeuge der Prozession, die dort seit Urzeiten gefeiert wird zu Ehren der angeblichen »Drei Marien«, der Maria Jakobäa, der Maria Salome und der Maria Magdalena, wie sie jetzt heißen, und zu Ehren ihrer Reliquien, die in einer Hochkapelle über der Apsis der alten Festungskirche verwahrt werden.

Das ist katholische Kirche Frankreichs noch in unseren Tagen. Daran gemessen können wir uns einen schwachen Begriff machen von dem, was der heranwachsende Calvin an verkapptem Heidentum, an verbilderter Dämonie vorfand, wie denn auch im »Gargantua« von Rabelais die Pilger die Pest auf den heiligen Sebastian zurückführen als christliche Neuerscheinungsform alten Dämonenglaubens, oder die Wassersucht auf den heiligen Eutropius. Calvin wusste, was es um die irrtumsträchtige Macht sinnlicher Vorstellungen und äußerer Formen sei. So verwirft er kompromisslos das Symbol und weist den Aufbau der Gemeinde zu streng bildloser Lebensgestaltung und einfachster Gottesverehrung. Wenn die Schwärmer der Reformationszeit die Bilder verwarfen, weil sie nicht klar Wesentliches und Unwesentliches zu unterscheiden vermochten, so lehnt Calvin eine Ästhetik des Gottesdienstes ab, weil er allzu klar sieht, wie stark sinnenhafte Form den Inhalt gestaltet, wie gierig sie ist, ihn zu ersetzen, wie unausrottbar die Neigung der Seele ist, ein gefälliges Äußeres irdischen Ursprungs dem unsichtbaren Glaubensgehalt vorzuziehen.

Die Glaubenslehre Calvins, die Institutio, – zuerst in kleinem, später in größerem Umfang, zuerst in lateinischer, dann in französischer Sprache –, erscheint von 1536 an in den Händen der Gebildeten Frankreichs. In dem Maße, wie die Wirkung der Schriften Luthers als eines nationalen Exponenten der deutschen Reformation abebbt, tritt die klassische Kirchenlehre Calvins an ihre Stelle. Ihr Einfluss wird am eindrücklichsten klargemacht durch die Äußerungen eines seiner Gegner aus jener Zeit (du Plessis)¬: »Die Ketzerei, die in Meaux eingerissen war, war genau gesehen weder die Häresie Luthers, noch die Zwinglis. Sie war ein übles Gemenge des einen und des anderen unter Beifügung von allerhand Gottlosigkeiten, welche die Einzelnen von sich aus dazugaben. Calvin erschien kurze Zeit darauf in Frankreich. Er bot seine Maximen in einer weniger entliehenen Form und in mehr systematischer Gestaltung, als es bisher der Fall gewesen war. Und alle diejenigen, welchen es wenig ausmachte, diese oder jene Sektenlehre anzunehmen, wenn sie nur dadurch von der katholischen Kirche loskamen, auf die sie im Grunde ihres Herzens nichts mehr gaben, – stürzten sich kopfüber in diese neuen Fabeln hinein. Es ist unglaublich, in welchem Maße gerade dieser Ketzer Anhänger warb, und mit welcher Schnelligkeit er es tat. Jetzt war es nicht mehr der rohe Pöbel, wie in der Zeit von Bischof Briçonnet, sondern die großen Herren und die vornehmsten Familien des Königreichs schüttelten um die Wette das Joch der alten Religion ab.«

Doch wir reihen uns jetzt wieder in den äußeren Geschichtsverlauf ein. Heinrich II., zweiter Sohn Franz’ I., gespannt in den dreifachen Einflussrahmen seiner Mätresse Diana von Poitiers, seiner italienischen Gemahlin Katharina von Medici (die erst später hervortreten wird)¬und der ultramontanen lothringischen Guisen, wird im Monat Juli des Jahres 1547 von dem 22-jährigen Erzbischof von Reims gesalbt, der über ihm ausspricht: »Die Nachwelt soll von dir sagen können: Wenn Heinrich II. nicht regiert hätte, wäre die römische Kirche vollends zu Grunde gegangen«. Im Oktober desselben Jahres wird als Schöpfung der neuen Regierung die »Chambre ardente«, die Scheiterhaufenkammer, in Paris konstituiert. Zwei Jahre später hält der König seinen feierlichen Einzug in Paris mit einer Sakramentsprozession, einem Festessen und einer Parade von Galgen und Scheiterhaufen, die zur Erhöhung der Feierlichkeit in den Straßen aufgebaut ist. Unter den Todesopfern befindet sich auch jener evangelische Schneider, der vom Bischof von Macon verhört worden war und welcher der sich dabei wichtig tuenden Diana von Poitiers zornig gesagt hatte: »Es ist genug, Madame, dass Sie Frankreich unsicher gemacht haben! Unterlassen Sie es, Ihr Gift und Ihren Schmutz auch in die heiligen Dinge Jesu Christi zu mischen!« Der König betrachtet mit besonderem Wohlgefallen das qualvolle Sterben dieses Mannes auf dem Scheiterhaufen vom Fenster eines gegenüberliegenden Hauses. Als er gewahr wird, dass der Märtyrer ihn, den König, unverwandt durch die Flammen hindurch fixiert, verlässt er hastig seinen Beobachtungsposten, noch lange, wie man sagt, von dem Erinnerungsbild dieser beiden schrecklichen Augen gepeinigt.

Das Parlamentsgericht in Paris erlässt in den drei ersten Jahren der neuen königlichen Herrschaft 500 Haftbefehle gegen die Protestanten. Menschen aller Stände, jeden Alters, vom Kind bis zum Greis, Frauen jeden Lebensalters, Laien, Mönche, Priester werden lebendigen Leibes in Asche verwandelt. Dieses Verfahren wird während der zwanzig Jahre der Regierung Heinrichs II. fortgesetzt. In diesen Jahrzehnten christlichen Martyriums ist Geschichte im höheren Sinne des Wortes beschlossen, »die Geschichte zwischen Gott und Menschen, die« – um mit Brunner fortzufahren – »in keine Chronologie eingeht, da das wahre Sein überzeitlich ist«. Hier kann »durch eine einfache Funktion unseres Geistes das Allgemeine im Einzelnen gefunden und empfunden werden«.

Von den evangelischen Glaubenszeugen, die mit dem Leben abgeschlossen haben, wird ein merkwürdiger und feierlicher Stil des Sterbens erzeugt. Man hat von den »erhabenen Lebensformen des hugenottischen Menschen« gesprochen. Taine spricht von einer »noblesse intérieure«, Milton beschreibt den Calvinisten als »chevalier«, Viénot als den Sinn seines Lebens den ritterlichen Kampf um die Gewissensfreiheit. An diesen freundlichen Lobsprüchen, die aber alle den Kern der Sache nicht treffen, ist eines richtig, dass im Ringen und Sterben dieser Evangelischen ein eigenes und großes Format sichtbar wird.

Eine junge, schöne und vornehme Witwe, Madame de Graveron, sitzt auf dem Schinderkarren, der durch die Straßen holpert. Vordem hatte sie sich selbst so wenig getraut, dass sie Gott täglich bat, ihr das Leiden der Märtyrer zu ersparen. »Ach«, sagte sie, »ich bin so empfindlich, dass ich kaum einen Strahl Sonne aushalte – wie soll ich die Gewalttätigkeit der Henker und die Hitze der Flammen überstehen?« Jetzt hat sie ihre schwarzen Trauerkleider abgetan und ihre feine Sammethaube und anderen Festschmuck angelegt, um, wie sie sagt, sich ihrem himmlischen Bräutigam würdig zu bereiten, bevor man ihr, die alles freudig an sich geschehen lässt, die Zunge abschneidet, damit sie nicht auch vor dem Volk den Heiland preise, und bevor man ihr die Füße und das Gesicht absengt und sie erdrosselt.

In wundervoller Gestrafftheit und Energie der Gebärde steht der junge Florent Venot vor dem Präsidenten des Parlamentsgerichts, Lizet, der ihn auf vier Monate in den Kerker geworfen hatte, um ihn zu zermürben. Als diese Maßnahme erfolglos ist, hat man den Gefangenen in ein Sonderverlies gebracht, in die so genannte »poche« im Palais. In diesem Loch, in dem man weder sitzen noch liegen konnte, und wo niemand länger als 14 Tage aushielt, ohne irrsinnig zu werden, soll der Widerstand Venots gebrochen werden. Der junge Hugenotte besteht die Probe und sagt Lizet ins Gesicht: »Sie nehmen wohl an, dass Sie durch die Länge der Marter meinen Geist schwächen können. Aber Sie vergeuden nur Ihre Zeit damit! Denn ich hoffe, dass Gott mir die Gnade geben wird, bis zum Ende durchzuhalten und Seinen Heiligen Namen durch meinen Tod zu preisen.«

Die Haltung Venots vor seinem Verscheiden erinnert an das Wort des alten gläubigen Keramikers Palissy, dass bei den Hugenotten »schon die Kinder so erzogen werden, dass es in ihrem jungen Leben keine kindische Geste mehr gibt, sondern eine wahrhaft männliche Festigkeit.« Derselbe Palissy wird später in Paris verhaftet, weil er weder abgeschworen noch das Land verlassen hat. Er wird mit Todesstrafe bedroht und schließlich als Neunzigjähriger in die Bastille eingekerkert. Der damalige König Heinrich III. – es ist im Jahre 1588 – besucht den berühmten Künstler und sagt zu ihm: »Mein Lieber, wenn Sie sich in Sachen der Religion nicht anpassen, muss ich Sie leider in feindlicher Hand lassen!« Der alte Mann antwortet: »Sire, Sie haben nun wiederholt gesagt, dass ich Ihnen Mitleid einflöße. Aber ich habe Mitleid mit Ihnen, denn Sie haben nicht wie ein König gesprochen. Weder Sie, noch die, unter deren Zwang Sie stehen (die Liga)¬, werden etwas über mich vermögen, denn ich verstehe zu sterben.« Wenn die anderweitige Überlieferung von de l’Estoile zutrifft, versucht darauf der Gouverneur der Bastille, Bussy, vergebens, Palissy durch den Anblick eines Scheiterhaufens zu erschrecken, bevor der ungebrochene Greis im Kerker stirbt.

Aber der eigentliche Sterbensstil der französischen Protestanten ist der singende Tod. Die fünf Theologiestudenten von Lyon singen auf ihrem Armesünderkarren Psalm 9: »De tout mon cœur t’exalteray, Seigneur … « Im Jahre 1555 wird bei Nevers ein Tischler Filleul und ein Mann aus Sancerre namens Léveillé verbrannt: Sie singen den 6. Psalm und den Lobgesang des Simeon. Ein Franziskaner Rabec wird in Angers vor der Kirche St. Maurice hingerichtet. Man hat ihm die Zunge verstümmelt, um ihn am Singen zu hindern, und ihn zunächst zur Verlängerung seiner Qual mit Schwefel bestrichen und über dem Feuer in die Höhe gezogen. Dennoch singt er allen verständlich den Psalm: »Les gens entrés sont en ton héritage«, bis er in den Flammen erstickt.

Der Gesang der Zeugen Christi in Rauchschwaden und Feuer geht seinen Weg und dringt bis zum Hof, wo sogar der König die Psalmenmelodien vor sich hin summt. Ihr Klang wandert zum Louvre und über die Seine zur »Schreiberwiese«, zum »Pré aux Clercs«, und berührt die Studenten, die sich drüben belustigen, und die Adligen, die sich im Grünen ergehen. Am 13. Mai 1558 erheben sich dort plötzlich wie Wogen eines flutenden Meeres die Glaubenspsalmen der Protestanten. Hunderte, Tausende heben an zu singen. Der Gesang schwillt tosend an und braust fort von Tag zu Tag. Der König von Navarra, der in Paris zu Besuch ist, stimmt mit ein. Es ist wie eine Explosion. Dreitausend, viertausend Menschen singen über Paris hinweg die Genfer Glaubenslieder, der Raserei des fassungslosen Königs ins Gesicht.

Unterdessen nimmt der evangelische Glaube allenthalben zu und durchdringt das ganze Land. Überall finden private oder geheime Versammlungen statt. Man wechselt die Orte der Zusammenkünfte, um den Nachstellungen zu entgehen. Wenn eine führende Persönlichkeit verhaftet wird, tritt ein Ersatzmann an seine Stelle. Allenthalben bekennt sich der Adel in unbegreiflichem Ausmaß zur Reformation.

Die Ära Heinrichs II. bricht ein Jahr später jäh ab. Das Königshaus erwartet im Jahre 1559 einen Höhepunkt seiner dynastischen Macht und Pracht: Die Prinzessin Elisabeth soll mit Herzog Alba, dem Prokurator des spanischen Königs, vermählt werden, zugleich die Prinzessin Margarete mit dem Herzog von Savoyen. Man berät sich, wie diese Wochen pompös und würdig zu gestalten sind. Einer der Guisen, der Kardinal von Lothringen, sagt dem willensschwachen König, dass die Exekution einiger lutherischer Parlamentsräte dem spanischen Herzog, dem zukünftigen Schwiegersohn, Spaß machen würde. Es verspreche das den spanischen Granden ein Schauspiel zu sein, »welches durch den Tod von mindestens einem halben Dutzend Staatsräten dem Fest eine besondere Weihe verleihe«.

Man beschließt, zu diesem Zweck einen verabredeten Rechtsbruch in Szene zu setzen. Der König wird in eine Sitzung des Parlaments gehen, und die evangelischen Parlamentsräte sollen mit List veranlasst werden, sich selbst bloßzustellen. Der König betritt demgemäß eines Tages den Saal des Augustinerklosters, wo das Parlamentsgericht provisorisch tagt. Der Großsiegelbewahrer Bertrand ersucht heuchlerisch die Versammlung, jetzt einmal in völliger Freiheit der Meinungsäußerung die begonnene Diskussion über religiöse Fragen fortzusetzen. Infolgedessen wagen einige Parlamentsräte völlig offen und gewissensmäßig zu sprechen. Viole empfiehlt ein Konzil zur Reformierung der Kirche. Du Faur spricht von den Schäden des Papsttums. Du Bourg anerkennt Wahrheitselemente in den lutherischen Schriften. Darauf werden sechs von ihnen hinausgeführt und in die Bastille gebracht. Nun folgen die Vermählungsfeierlichkeiten. Am 20. Juni wird Elisabeth dem Spanier angetraut. Am 27. Juni wird zunächst die Verlobung der Prinzessin Margarete mit dem Herzog von Savoyen gefeiert. Dann findet ein dreitägiges Turnier statt; eine Arena wird am Ende der Rue St. Antoine eröffnet, beinahe am Fuß der Bastille, in der sich die betrogenen protestantischen Staatsbeamten befinden. Der vierzigjährige König fordert den Grafen von Montgomery zum Zweikampf heraus, denselben, der soeben zwei der Parlamentsräte in den Kerker geschleppt hatte. Die zersplitterte Lanze des Ritters, die er nicht rasch genug zurückgezogen hat, dringt durch das sich öffnende Visier in das Auge des Königs bis in das Gehirn. Heinrich sinkt zurück, siecht einige Tage dahin, segnet noch die Ehe seiner Schwester Margarete und stirbt.

Sein Tod leitet den Verfall der Valois’ ein, die einst die Jungfrau von Orléans verbrennen ließen, deren Dynastie sich jetzt noch einige Jahrzehnte weiterschleppt und dann schuldbeladen und jammervoll untergeht. Und eben dieses Todesjahr Heinrichs II., 1559, ist das Geburtsjahr der protestantischen Kirche Frankreichs als Kirche, konstituiert durch die Synode von Paris.

Doch ich greife zunächst zurück. Die unaufhaltsam wachsende Bewegung in den Provinzen war von Genf her in jeder Weise gefördert worden. Die Bibelkolporteure, das Schrifttum Calvins in Bibelauslegungen, Predigten und Kampfschriften, sind überall zu finden. Die erweckten Kreise schicken Calvin ihre jungen Männer, die in der Genfer Akademie rastlos für den Opferdienst in Frankreich ausgebildet werden. Der durch ganz Frankreich erwachte geistliche Hunger, das Verlangen der protestantischen Gruppen, ist derart, dass unzählige Prediger umsonst angefordert werden. Seit 1546 – so in Lyon und Paris – beginnen die gläubigen Kreise umrissene Gestalt zu gewinnen. Seit 1555 treten schon Ortskirchen mit fester Verfassung in Erscheinung. Im Jahre 1558 wird die Zahl der Protestanten auf 400.000 geschätzt.

Alles drängt gebieterisch zur festen Formwerdung, zur Geburt der Gesamtkirche auf dem Grund ordnungsgemäß verfasster Einzelkirchen. Calvin beobachtet und berät seit 1554 diese Entwicklung mit letztem Ernst. Sein klarer Geist weiß etwas davon, dass »der Moment der Fixierung bei der Religion wie beim Staatswesen von entscheidender Wichtigkeit« ist, und dass »alles Bestimmte ein Königsrecht hat gegenüber dem Dumpfen, Unsicheren und Anarchischen«. Zum Sammelprinzip muss jetzt das Ordnungsprinzip treten, doch zögert Calvin jahrelang mit der Aufforderung zur Kirchenkonstituierung mit Verwaltung der Sakramente. Sein Zaudern kommt ihm nicht aus Unklarheit über die zu schaffenden Formen des Kultus und über die geistliche Führung des Gemeindelebens, wie das in der Geschichte der puritanischen Pilgerväter so auffällig ist.

Wir denken einen Augenblick hinüber in jene andere Welt: Die Abschiedsworte des Predigers Robinson in Leyden, die Erinnerungen des Gouverneurs Bratford in der neuen Heimat, ja schon der erste »Covenant« der Pilgerväter im alten Heimatstädtchen Scrooby enthalten dieselbe merkwürdige Wartetheologie, das Harren auf kommendes Licht aus der Heiligen Schrift über geistliches Leben und Ordnung der Gemeinde, das ihnen noch werden soll (»to be made known unto them«)¬. Calvin weiß aus der Schrift, was werden soll und wie es werden soll, aber ihm ist bange, ob die Kinder Gottes in Frankreich schon reif sind zur eigentlichen Gemeindebildung. Ordentlich bestellte Pastoren, verlässliche Gemeindekörperschaften fehlen noch fast überall. Fast alles ist im Fluss, und eine völlige Scheidung von allen päpstlichen Befleckungen ist noch nicht sichtbar. So möge man, schreibt er, sich vorläufig nur mit gemeinsamem Gebet und Unterweisung versammeln und den Wandel ständig bessern.

Jedoch macht der Kristallisationsprozess der nächsten Jahre so rasche Fortschritte, dass eine nationale Zusammenkunft zur Erarbeitung einer festen Gesamtlehre und Regel unabweisbar wird. Die Verhältnisse in Paris scheinen abzuraten. Wer sich dort zu geheimen Religionsversammlungen begibt, wird mit dem Tod bestraft, das Haus des Gastgebers dem Erdboden gleichgemacht. Die Gendarmerie arbeitet mit allen erdenklichen Mitteln und Methoden, um der Schuldigen habhaft zu werden, mit Geheimlisten, mit Haussuchungen, mit Provokateuren. Gleichwohl tritt die Synode mit unerhörter Kühnheit und Strenge der Geheimhaltung 1559 in Paris zusammen, »im Schein der Scheiterhaufen«. Der Leiter ist der zweite Pariser Pfarrer de Morel. Erschienen sind Vertreter von 72 Einzelkirchen, Pfarrer und Älteste. Zuerst wird in drei Tagen eine Gemeindeordnung, die »Discipline«, beraten, dann das Glaubensbekenntnis, die »Confession de Foi«, aufgestellt.

Die Synode gibt diese Normen nicht aus im Sinne eines katholischen Konzils, als göttlich autorisiert, sondern als unter der Autorität der Heiligen Schrift stehend – so wie später Cromwell in politischer Verantwortung den katholisierenden Pfarrer von Ely von dem Altar seiner Kirche vertrieb mit den Worten: »Ich bin ein Mann unter Autorität … « So sind die Maßstäbe der Pariser Synode gemeinsame Unterwerfung unter einen Glauben, der sich auf die Schrift bezieht, sei es in Sachen des Dogmas, sei es in Sachen der Zucht und der Form.

Luther sagt am Schluss seiner Gottesdienstordnung von 1526: »Jede Gottesdienstordnung ist so zu gebrauchen, dass, wenn ein Missbrauch daraus wird, man sie flugs abschaffe, denn Ordnung ist ein äußerlich Ding und kann, so gut sie ist, missbraucht werden.« Luther denkt also in Sachen der kirchlichen Ordnung grundsätzlich elastisch. Demgegenüber ist die französische Kirchenordnung in das Zentrum des Glaubens mit hineingenommen und dort dogmatisch fixiert. »Wir glauben, dass die wahre Kirche entsprechend der Ordnung (police), welche unser Herr Jesus Christus eingesetzt hat, geführt werden muss: Nämlich, dass da seien Pastoren, Aufseher und Diakone.« (Christus ist dabei als der Inspirator der Apostelgeschichte und der Briefe mit ihren Gemeindeordnungen vorgestellt.) Dieser Artikel 29 der »Confession de Foi« wird ergänzt durch das Bekenntnis des Artikels 25: »Wir glauben, dass die Ordnung der Kirche, die durch Seine Autorität aufgerichtet ist, sakrosankt und unverletzlich (sacré et inviolable)¬sein muss.« Diese rechte Kirchenordnung muss von der gesamten Gemeinde sogar dann bewahrt und unterhalten werden: »encore que les magistrats et leurs édits y soient contraires« (Artikel 26).

Aus der »gepflanzten Kirche« (Eglise plantée) wird eine »etablierte Kirche« (Eglise dressée)¬durch die Erstwahl eines Pfarrers auf Grund der Gemeindeabstimmung. Das Presbyterium wird sodann durch den gewählten Pfarrer und die Gemeindestimmen zusammengestellt. Es besteht aus den Pfarrern als Hirten und Predigern, den Lehrern (so die »docteurs« in Genf ), den Ältesten, welche die Sitten überwachen, sowie den Diakonen zur Armenpflege (bis 1620 obliegen diesen auch Austeilung des Abendmahls, Taufen und Unterweisung in Einzelfällen). Dieser Gesamtkörper des Presbyteriums ergänzt sich nicht aus der Gemeinde, sondern durch Zuwahl vermittels der Stimmen der Pfarrer und Ältesten.

Aus der Einzelgemeinde, der »paroisse«, baut sich die Kreissynode auf, das »colloque«. Aus den Colloques werden die Provinzialsynoden gebildet, aus ihnen die Nationalsynode als höchste Instanz. Dieser Synodalaufbau erinnert deutlich an die verschiedenen Gerichtsinstanzen der bürgerlichen Rechtsprechung. Dazu kommt, dass der verwaltungsmäßige Aufbau der Kirche immer mehr wider ihren Willen unter die Herrschaft der königlichen Kommissare gerät. Bald muss die Nationalsynode vor ihrer Zusammenberufung vom staatlichen »procureur« genehmigt sein und wird infolgedessen dauernd vertagt. Seit 1623 ist auf Grund einer Verfügung des Königs und des Parlamentsgerichts auch in den Colloques und Synoden ein königlicher Kommissar anwesend.

Als Beispiel dieser Tätigkeit der behördlichen Kontrolleure mögen folgende Einzelheiten aus dem Bezirk Alençon (1637) dienen. »Monsieur de St. Marc … verbietet nicht nur im Namen des Königs allen Briefwechsel mit dem Ausland, sondern auch den schriftlichen Austausch zwischen Provinzialsynoden. Er verbietet, über Maßnahmen der Behörde gegen die Reformierten Klage zu führen oder, sei es schriftlich, sei es in Predigten, Worte wie Folter, Martyrium, Verfolgung der Kirche Gottes sich zu erlauben. … unter Strafe des Gottesdienstverbots in den Kirchen, wo solche Ausdrücke gebraucht werden, oder unter Androhung noch härterer Strafen. … Monsieur de St. Marc verbietet, den Anordnungen der Ortsbehörde Widerstand zu leisten, wie es in Anduze geschehen war, wo der Pastor sich geweigert hatte, einen Mann zum zweiten Mal zu trauen, dessen erste Ehe der Magistrat geschieden hatte. Es ist den Pfarrern untersagt, außerhalb ihrer Gemeinde zu predigen, das heißt in den Filialen, … und Hauskollekten zu machen.«

 Schließlich verbietet Ludwig XIV. auch, Sitzungen der Gemeindekirchenräte ohne Gegenwart des Kommissars zu halten. Das ist das Ende selbstständiger kirchlicher Leitung in geordneter Form.  

KAPITEL IV

DIE GEGENREFORMATION IN FRANKREICH

»Wer Kalvinist sagt, meint eine Religion. Wer Hugenotte sagt, meint ein Temperament. Dem Hugenotten ist es nicht genug, seinen Glauben zu bekennen – er proklamiert ihn. Es ist ihm nicht genug, seinen Glauben zu verteidigen – er zieht des Glaubens Fahne auf. … Er ist konzentriert und doch ungestüm. Er ist bescheiden und fährt doch unausstehlich hoch her. An feinstem Ehrgefühl wird er von keinem übertroffen. Sein Moralkodex ist der eines heroischen Stoikers. Er hat die Rechtschaffenheit des unverdorbenen Menschen und den Stolz des Edelmannes. Er verachtet das Geld und weithin das, was man kaufen kann. Dinge und Menschen beurteilt er nach ihrem inneren Wert. Er kann auch anders sein als ein Heiliger, aber er hat immer etwas von der Aufopferungsbereitschaft der Alkestis und von der Strenge Catos. Die Offenheit seiner Sprache kennt keine Schranken. In Kriegszeiten ist er ein Held in Reih und Glied; der Friede zerrüttet ihn, und lieber will er verwundet oder sterbend sein, als ein Mann ohne Waffen.«

S. Rocheblave, »Agrippa d’Aubigné«, Kap. IV.

Es ist gesagt worden, dass man die Gegenreformation in Frankreich als einen organischen Teil der Gegenreformation in ganz Europa verstehen müsse. Die Grundlage dieser These ist die Annahme, dass, wie in Deutschland so überall, Gegenreformation ein Rückschlag auf die Reformation gewesen sei, der – einmal ganz schematisch ausgedrückt – durch die katholische Kirche und das Papsttum veranlasst war, der politisch durch die katholischen Fürsten ausgeführt wurde und geistlich-moralisch bewerkstelligt wird durch die Selbstreinigung der katholischen Kirche sowie die jesuitische Aktion.

Dieses Schema lässt sich auf Frankreich nicht ohne weiteres übertragen. Gewiss spielt Katholizismus und Papsttum mit herein, aber es ist schon im ersten Kapitel darauf aufmerksam gemacht worden, dass als Gegenpol des französischen Protestantismus sich langsam, aber unaufhaltsam der Machtanspruch des Königtums als entscheidend erweist. Gewiss treten katholische Gewalthaber als Gegenspieler auf, die Guisen, doch nur ein Menschenalter hindurch. Gewiss gibt es in Frankreich eine jesuitische Aktion, doch auch sie scheitert zunächst nach einigen Jahrzehnten. Gewiss sind politische Querverbindungen vorhanden, wie der unheimliche Einfluss Philipps von Spanien; doch auf der anderen Seite verbindet sich oft genug die französische Krone mit den protestantischen Fürsten Deutschlands, während sie die Evangelischen im eigenen Land verfolgt. Aber eines ist über das Gesagte hinaus der französischen Gegenreformation eigentümlich. Sie ist, vom Evangelium her gesehen und paradox ausgedrückt, ein Werk der Evangelischen selbst, Wirklichkeit geworden in dem Augenblick, als der Hugenotte Coligny zum Bürgerkrieg aufrief.

Wir befinden uns im Monat März des Jahres 1560. Der große runde Turm des Schlosses von Amboise ist mit abgehackten Köpfen hingerichteter Menschen geschmückt. Von den Renaissance-Erkern an den Ecken des Baus hängen Leichen an Stricken und Ketten wie Marionetten an den Drähten ihres Theaters, wenn nun die Vorstellung aus ist. Die gesamte schauerliche Dekoration, »zur Unterhaltung der Damen von den Guisen angesetzt«, wird von den erlauchten Persönlichkeiten auf einem Balkon mit Interesse gemustert. Eine verführerisch schöne Gestalt ist unter den Damen, fast noch ein Kind, Maria Stuart, die Gemahlin des knabenhaften Königs Franz II. von Frankreich. Der Aufstand von Amboise, an dem sich auch trotz aller Warnungen Calvins hugenottischer Adel beteiligt hatte, war mit diesem Schauspiel zu seinem Ende gekommen.

Die einjährige Regierung des sechzehnjährigen Franz II. leitet insofern die Gegenreformation äußerlich ein, als er die beiden Onkel seiner Gemahlin, den Herzog Franz von Guise und den Kardinal von Guise zur Leitung des Königreichs beruft. Diese lothringische Familie, die in ihrer ungeheuren Lebenskraft an die Borgias und Medicis in Italien erinnert, entschlussmächtig, konsequent, hemmungslos, ehrgeizig, gewalttätig, heimtückisch und fanatisch ultramontan, nistet sich von jetzt an parasitär in Frankreich ein. Sie zehrt vom Volksvermögen und vom Prestige des Königs. Unter den Guisen wird aus dem Kronschatz von beinahe zwei Millionen Talern, welchen Franz I. hinterlassen hatte, bald eine Regierungsschuld von 47 Millionen Talern, gleichbedeutend mit dem vierfachen Jahreseinkommen des Königtums.

Das Ende der Guisen fällt etwa mit dem Niedergang der Dynastie der Valois’ zusammen. Dem französischen Adel gelten diese Lothringer als ausländische (deutsche) Usurpatoren; dem Protestantismus erscheinen sie als rechtlose Räuber der Königsgewalt.

Am 17. November 1560 stirbt Franz II. einen echt katholischen Tod. Der Kardinal von Guise, der den willfährigen königlichen Jüngling hoffnungslos an einer Ohrenvereiterung hinsiechen sieht, ordnet Prozessionen und Sühnezeremonien an, um vom Himmel die Verlängerung des königlichen Lebens »mindestens bis zur völligen Ausrottung der Ketzer« zu erlangen. Der bigotte König selbst verschreibt sich der Mutter Gottes von Cléry und allen Heiligen. Er begehrt noch zu leben, um sein Land von aller Irrlehre zu reinigen. Er verflucht sich selbst, falls er in Zukunft Frauen, Mütter, Schwestern, Verwandte, Freunde schonen würde, die irgend der Ketzerei verdächtig sind.

Sein Nachfolger ist der zweite Sohn der Königin-Witwe Katharina von Medici, Karl IX., damals zehn Jahre alt und Scheinkönig Frankreichs bis zu seinem Tod im Jahre 1574. In Wirklichkeit herrscht die ränkesüchtige Italienerin in dem unglücklichen Land, dessen Bestimmung es schien, von Ausländern zerfetzt und ausgesogen zu werden, ein Spielball in der Hand der Lothringer Guisen, ein Machtobjekt der Florentinerin, später Annas von Österreich, des Sizilianers Mazarin und endlich des Korsen Bonaparte. Durch perfide Schaukelpolitik, durch Ausnützung aller Konjunkturen, jeweils einen Gegner durch einen anderen unschädlich machend, spielt Katharina von Medici die Guisen und die Bourbonen, das Papsttum, die protestantischen Adelsstände und Spanien gegeneinander aus. Unterdessen ist der evangelische Glaube schon fast Volksreligion in einzelnen Landesteilen geworden als Frucht glorreicher Märtyrerjahrzehnte. Etwa 2.500 protestantische Gemeinden werden gezählt; man spricht sogar von zehn Bischöfen, die ihren katholischen Glauben abgelegt haben. In dem erzkatholischen Paris gehen über 6.000 Personen zum evangelischen Predigtgottesdienst. Fast könnte man sagen, dass der reformierte Glaube Mode zu werden anfängt.

Dieser anscheinend übermächtigen Entwicklung gegenüber bildet sich ein Jahr nach dem Regierungsantritt Karls IX. unter der Führung der Guisenfamilie ein Triumvirat, das zum Ziel hat, den Protestantismus auszurotten. Am Ostermorgen teilen sich in der Kapelle des heiligen Saturnin in Fontainebleau drei Verschworene eine Hostie: der Herzog Franz von Guise, vom Typus der italienischen Condottieri, der alte Marschall von Montmorency, ungebildet, gewalttätig und habgierig, und der Günstling des Hofes, St. André, ein hemmungsloser Soldat, eitel, verschwenderisch und grausam. Ein hagerer Schatten mit den Umrissen Philipps II. von Spanien fällt vom Süden her über die kleine Gruppe.

Zeitlich damit parallel geht der Versuch der Königin-Mutter, die beiden Hauptvertreter des Protestantismus aus der bourbonischen Linie, König Anton von Navarra und seinen Bruder Louis, Fürst von Condé, wirksam zu schwächen. Die beiden dieser Italienerin nahe liegenden Mittel des Kampfes sind das Gift, das den Körper zerstört, und das Gift, das die Seele zersetzt. Die Stärke des schwachen Antoine ist der Charakter seiner wundervollen evangelischen Gemahlin, der unvergesslichen Jeanne d’Albret. Der innere Halt des Fürsten von Condé ist seine edle Gemahlin Eleonore. Hier setzt die Königin-Mutter mit ihrem zweiten Mittel ein. Aus den Reihen ihrer »escadron volant«, einer Bereitschaftsgruppe weiblicher Lockvögel, entsendet sie Mademoiselle de la Béraudière, die »belle Rouet«, die die Ehe Antons von Navarra zerstört. Isabella von Limeuil verführt den Prinzen von Condé, der bald sittlich von Stufe zu Stufe sinkt, während seine Gemahlin dem Tod entgegensiecht. Niemand wird Calvin den Abscheu verdenken, mit welchem er von Genf aus diese infamen Methoden gegenüber evangelischen Fürsten brandmarkte.

Ein zweckloses Religionsgespräch in Poissy und ein Toleranzedikt der Königin von 1562, durch das sie die unerträgliche Spannung im Land zu lösen versucht, ändern nichts an dem fanatischen Ausrottungswillen der katholischen Führer. Hier liegt ein entscheidender Punkt zum Verständnis der Religionskriege und zum menschlichen Verständnis der Politisierung weitester protestantischer Kreise. Dies ist die formell-rechtliche Sachlage: Im Gegensatz zu dem vom König unterzeichneten Toleranzedikt ergreifen die Guisen Maßnahmen zur Vernichtung evangelischer Prediger und ihrer Gemeinden. Ihre Regie ist also ungesetzlich. Die Erhebung der Protestanten wird demgemäß erfolgen auf der Linie: für königliche Edikte gegen eine Illegalität, die in ihren Augen die königliche Autorität unwirksam macht, bekämpft und untergräbt.

Der erste Anlass der acht aufeinander folgenden Religionskriege, die bis in die Zeit Heinrichs III. hineinragen und Frankreich entvölkern und verwüsten, ist das Blutbad von Vassy, das der Herzog von Guise unter der dort versammelten Gemeinde anrichten lässt, sowie im Anschluss daran das Gemetzel unter den Evangelischen in Sens. Die Antwort der Protestanten ist der siegreiche Angriff auf Rouen und Lyon. Sie verlassen damit das christliche Terrain des Sieges. Sie verzichten auf die einzigen christlichen Kampfmittel des Bekenntnisses und der Leidensbereitschaft. Sie steigen herunter zu einem Terrain, auf dem ihre Gegner auf die Dauer sicherer sein werden als sie. Sie nehmen das Schwert, durch das sie umkommen werden.

Wie vollzieht sich diese Umschaltung des französischen Protestantismus auf die Ebene weltlichen Denkens und Handelns? Calvin hatte kurz zuvor, angesichts der Vorbereitungen zur Verschwörung von Amboise, an Admiral Coligny das berühmte Wort geschrieben: »Der erste Tropfen Blut, den unsere Leute vergießen, wird Ströme Bluts hervorrufen, die ganz Europa überschwemmen.« Seit dem Regierungsantritt des Kindes Karl erscheint jedoch die Sachlage grundsätzlich verändert. Der protestantische Adel als Stand scheint berufen, die Verwüstung des Landes und die Vergewaltigung eines unmündigen Königs durch die Standesanmaßungen der Lothringer und ihrer Partei mit entsprechenden, das heißt weltlichen Mitteln zu verhindern. Indem die Protestanten gegen die katholischen Führer das Schwert ziehen, können sie glauben, sich für die Unversehrtheit des Königtums einzusetzen. Die Institutio Calvins enthält in Buch 4, Kapitel 20, Abschnitt 31 über die Abgrenzung individuellen und behördlichen Handelns eine in der Formulierung vorsichtige, aber für eine Glaubenslehre im Inhalt gewagte Ausführung:

» … unseren Händen … ist nichts anderes aufgetragen als zu gehorchen und zu leiden. Dabei spreche ich zunächst von Privatpersonen. Denn, so es in dieser Zeit Magistrate gäbe, zur Verteidigung der Volksinteressen eingesetzt, zur Eindämmung der allzu großen Begehrlichkeit und des Sichgehenlassens der Könige – wie ja möglicherweise heutzutage in jedem Königreich die drei Stände ihre Vertreter haben, wenn sie nun zusammengetreten sind – ich sage: Solchen, die dergestalt standesgemäß verfasst sind, könnte ich nicht so sehr verbieten, sich aufzulehnen und Widerstand zu leisten (s’opposer et résister) gegenüber der Maßlosigkeit oder Grausamkeit gewisser Könige, entsprechend der Pflicht solchen Amtes, als Standesvertreter des Volkes. Also dass, wenn sie Versteckspiel trieben bei dem Anblick der Könige, die hemmungslos das Volk quälen, dann würde ich sagen: Für ein solches Versteckenspielen wären sie wegen Bruchs des Amtseids anzuklagen, durch ihr Verhalten würden sie treulos die Freiheit des Volkes verraten, so sie doch wissen müssen, dass gerade sie die Garanten solcher Freiheit nach dem Willen Gottes sind« (Übertragung der franz. Institution von 1560; in der ersten lat. Ausgabe von 1536 heißt es milde statt »s’opposer et résister« »pro officio intercedere«).

Dementsprechend sind Calvin und Coligny noch loyal und königstreu, aber nicht mehr im Sinne restloser Ergebenheit gegenüber den Entscheidungen des Königtums. Zudem vermag Calvin von Genf aus schon vieles nicht mehr zu hindern. Nicht lange darauf gibt er, vor allem durch Aufbringen von geldlichen Unterstützungen, praktisch seine Zustimmung zur Selbsthilfe der französischen Protestanten.

Ein äußerst lebendiges Gegenstück zu der grundsätzlichen Stellungnahme des Reformators sind die leidenschaftlichen Worte des Haudegens der Religionskriege, Agrippa d’Aubigné. Niemand soll an seiner Königstreue zu zweifeln wagen: »Ich erhebe meine Hand zu Gott, um … zu beteuern, dass ich die Verfassung des Königtums als die ehrenhafteste und ausgezeichnetste von allen erachte«, freilich »wenn es durch Korrektive gestützt wird, die es daran hindern, zur Tyrannei herabzusinken«. Und zurückblickend rechtfertigt er die weltliche Erhebung der Protestanten in seiner Schrift »Die gegenseitigen Pflichten der Könige und der Untertanen« von dem freilich nicht biblischen Standpunkt aus, dass grundsätzliche Preisgabe der öffentlichen Gerechtigkeit grundsätzlich die Freigabe des Bürgerkriegs für die Protestanten bedeute:

»Und ich sage: Der Himmel wird für alle Zeiten Zeuge davon sein, dass – solange man die Protestanten noch halbwegs in Form rechtlicher Prozesse zu Tode brachte, so parteiisch und untragbar diese Rechtsprechung auch sein mochte, solange sie sich noch durch den Thron ihrer Könige und unter ihren eingesetzten Autoritäten und öffentlichen Rechtsformen verurteilt sahen – dass sie dann allewege ihren Hals dem Henker hingehalten haben und ihre Hände ohne Gegenwehr in den Schoß legten. Aber als die Autorität aus ihren Gleisen sprang und die Behörde, der Scheiterhaufen müde, das Schlachtmesser den Händen des Volkes überantwortete und durch Tumulte und große Massaker hindurch das verehrungswürdige Antlitz der Justitia entstellte und in feierlicher Staatsaktion Volksgenossen durch Volksgenossen töten ließ – wer konnte dann den Unglücklichen verwehren, Arm gegen Arm und Stahl gegen Stahl zu erheben und von einer der Gerechtigkeit baren Wut sich anstecken zu lassen mit der Wut der Gerechtigkeit …«

Zu solchen, rein menschlich durchaus bestechenden Erwägungen tritt als besondere Versuchung für die schwer bedrohten Protestanten ihr Erstarken an Zahl, an Konnexionen – und der wachsende Aktionsradius ihrer Bewegung; und auch die für den geistlichen Charakter der evangelischen Kirche verantwortlichen Seelsorger versagen im Bewusstsein ihres öffentlichen Einflusses immer mehr. Schon während der Verfolgungswellen unter Heinrich II. hatten die Pariser Pastoren intolerante Ansichten bekundet. Von milde gesonnenen Parlamentsräten befragt, hatten sie geantwortet, dass die Bibel nichts wider eine Todesstrafe gegen Irrlehrer sage. Es müssten also Sachkundige über die Güte der jeweiligen Lehrer richten; den unterliegenden Teil aber solle man mit Strafe treffen. Calvin klagt in seinen Briefen der darauf folgenden Zeit immer wieder über protestantische Übergriffe; die durch örtliche Übermacht nahe gelegt werden, zahlreiche Besetzungen katholischer Kirchen, ja offenkundige Ungerechtigkeiten. Nicht von ungefähr trägt die erste vierstimmige Ausgabe der Psalmen, herausgekommen bei Jaqui in Genf 1565, als Titelbild einen gewappneten Krieger. Das gereimte Vorwort ist von Beza, demselben Beza, der nun als protestantischer Feldprediger den protestantischen Heeren folgen wird und der der geistige Vater des berühmten Bildes vom hugenottischen Amboss ist, auf dem sich die Hämmer der Gegner verbrauchen:

»Plus à me frapper on s’amuse,
Tant plus de marteaux on y use.«

(Der Amboß spricht:  »Je mehr mich zu schlagen die Lust sich regt,
                                    Je mehr man der Hämmer auf mir zerschlägt!«)

Jedoch vermögen alle Erwägungen über die Stellung Calvins, über die verständliche seelische Verfassung der Protestanten und über die Auswirkungen der katholischen Gewalttaten nichts an der Tatsache zu ändern, dass der geistliche Niedergang der evangelischen Sache in Frankreich, dass die Politisierung des Protestantismus letztlich die Sache eines Mannes und einer Stunde war. Ein Mann ragt über das Geschehen dieser Jahre so gewaltig empor, dass seine protestantischen Mitstreiter, mit ihm verglichen, sich nur wie Statisten ausnehmen. Hier gilt einmal das Wort Carlyles: »Die Weltgeschichte ist im Grunde die Geschichte der großen Männer, die in der Welt gewirkt haben«, wenn damit die Entscheidungen großer Männer gemeint sind, bei denen der Atem der Zeitgenossen gleichsam stillstand in der Erwartung, auf welche Seite sich die Waagschale neigen werde.

Dieser Mann ist Gaspard, Admiral von Coligny, und seine Zustimmung zum Bürgerkrieg in jener dreimal unseligen Nacht im Schloss Châtillon lässt für Geschlechter des Protestantismus den Würfel fallen. Niemals wird diese Entscheidung wieder gutgemacht werden können.

So ist dieser Mann beschaffen: Als er während der Belagerung von St. Quentin durch die Spanier das Besatzungsheer befehligt, werden ihm vom Feind, der bereits sieben Breschen in die Mauer geschossen hat, Pfeile hereingeschleudert mit einem Zettel: »Ergebt euch, sonst springt ihr alle über die Klinge«. Und Coligny lässt die Pfeile zurückschießen mit der neuen Inschrift: »Regem habemus« – »Wir haben einen König«.

Coligny wird um 1559 ein gläubiger evangelischer Christ. Seine Gemahlin ermahnt ihn in seinem Schloss Châtillon, die römische Irrlehre abzutun. Bedächtig erinnert er sie an die Folgen und Leiden des Bekennertums, doch wendet er sich immer mehr dem Evangelium zu und zieht bald die Bewohner des Schlosses mit sich. Kurz darauf nimmt er in dem normannischen Städtchen Vatteville an einem geheimen Predigtgottesdienst teil und bittet, da er sich nicht getraut, am Abendmahl teilzunehmen, den Prediger um eine Sonderbelehrung. Er wird nun völlig überzeugt und geht bald selber zum Tisch des Herrn.

Dieser Mann ist zum Politiker und Militär vorgebildet, gewöhnt zu organisieren, zu streiten und seine Niederlagen in Erfolge zu verwandeln. Er ist klassisch und theologisch geschult, umfassend in geschäftlicher Arbeit, ein Bild fein geschliffener Kraft. In der Öffentlichkeit mit würdevoller Beredsamkeit auftretend, spricht er unter vier Augen langsam und leise und hält nachdenklich mit seinem Zahnstocher Rat. Er ist gewandt, doch in den Grenzen einer völligen Rechtschaffenheit, und niemals hätte man von ihm sagen können, was Kardinal Granvella einmal von dem jungen Oranien schrieb: »Er ist bald Katholik, bald Calvinist, bald Lutheraner, ganz nach Erfordernis der Gelegenheiten und je nach seinen verschiedenen Absichten.«

Den klassischen Bericht über die tragische Wendung im Leben des Admirals gibt Agrippa d’Aubigné in seiner »Histoire universelle«, Band 1, Buch 3 (Text nach Viénot). Vorausgegangen sind die schon erwähnten Blutbäder von Vassy und Sens sowie ein Gewaltstreich des katholischen Triumvirats, das sich der Königin-Mutter und des jugendlichen Königs bemächtigt hat und Paris beherrscht.

»In Chastillon sur Loing waren beim Admiral seine beiden Brüder und andere versammelt, um einen Druck auf ihn auszuüben, dass er satteln ließe. Der alte Heerführer fand den Übergang über diesen Rubikon so gefährlich, dass, nachdem er ihnen zwei Tage lang widersprochen und mit gelehrten und scheinbaren Gründen ihr heftiges Drängen zurückgewiesen und sie durch seine Befürchtungen in Erstaunen gesetzt hatte, ihnen kein Hoffnungsstrahl mehr blieb, ihn umzustimmen. Da geschah das …, was ich selbst von denen gehört habe, die dabei waren.

Dieser hohe Herr – es war zwei Stunden, nachdem er seiner Gemahlin gute Nacht gesagt hatte, – wurde durch ihre schweren Seufzer und ihr heftiges Schluchzen aufgeweckt. Er wandte sich ihr zu, und nach einigen Bemerkungen seinerseits ließ er sie sich folgendermaßen aussprechen:

›Es tut mir so Leid, mein Herr Gemahl, dass ich Ihren Schlaf durch meine Unruhe störe! Aber wenn nun einmal die Glieder Christi so zerrissen sind und wir zu Seinem Leib gehören, wie kann dann ein Teil des Ganzen gefühllos bleiben? Sie, mein Herr Gemahl, haben nicht weniger Gefühl als ich, aber Sie vermögen es besser zu verbergen. Können Sie wirklich Ihrer treuen Gattin verübeln, wenn sie mit mehr Freimut als Ehrerbietung ihre Tränen und ihre Gedanken in Ihr Herz ausschüttet? Wir liegen hier köstlich gebettet, und die Leiber unserer Brüder, Fleisch von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein, liegen, die einen in den Kerker geworfen, die anderen tot über die Felder verstreut, zur Beute der Hunde und der Raben. Dieses weiche Bett ist mir ein Grab, weil jene keine Gräber haben; diese Linnen halten mir vor, dass jene keine Grabtücher haben … Ich dachte soeben an die klugen Reden, mit denen Sie Ihren Herren Brüdern den Mund gestopft haben… ich zittere bei dem Gedanken, dass diese Klugheit eine Klugheit der Kinder dieser Welt sein könne und dass so große Weisheit bei Menschen nicht Weisheit bei Gott zu sein braucht, der Ihnen die Gaben eines Heerführers verliehen hat. Können Sie wirklich mit gutem Gewissen den Gebrauch dieser Gaben seinen Kindern vorenthalten? Sie haben mir zugegeben, dass Ihr Gewissen Sie schon manches Mal aufgeweckt hat, und dieses Gewissen ist das Sprachrohr Gottes. Fürchten Sie, dass Gott Sie schuldig werden lasse, wenn Sie dieser Stimme folgen? Tragen Sie den Degen des Edelmanns, um die Bekümmerten zu unterdrücken, oder um sie den Krallen der Tyrannen zu entreißen? … Mein Herr Gemahl, so viel vergossenes Blut der Unseren lastet auf meinem Herzen; all dieses Blut und Ihre Gemahlin schreien gen Himmel zu Gott empor und auf diesem Lager gegen Sie, dass Sie der Mörder derer sein werden, die Sie nicht davor erretten, gemordet zu werden.‹

Der Admiral antwortet: ›Da meine Gründe von heute Abend nichts zuwege gebracht haben … da … so viel Macht auf der Seite der Feinde, eine solche Schwäche auf der unseren Ihnen keinen Einhalt tun können, bitte ich Sie: Legen Sie die Hand auf Ihr Herz, prüfen Sie klar bewusst Ihre Standhaftigkeit, ob sie große Niederlagen ertragen kann, die Beschimpfungen Ihrer Feinde und Ihrer eigenen Anhänger, die Vorwürfe, die gemeinhin die Völker machen, wenn sie die Dinge nach ihren Misserfolgen beurteilen, ob sie die Verräterei Ihrer eigenen Leute ertragen kann, die Flucht, die Verbannung ins Ausland und dort die Schwierigkeiten mit den Engländern, die Händel mit den Deutschen, Ihre Schande, Ihre Blöße, Ihr Hunger, und was noch härter ist, den Hunger Ihrer Kinder. Prüfen Sie sich weiter, ob Sie imstande sind, Ihren Tod durch Henkershand zu erdulden, nachdem Sie gesehen haben, wie man Ihren Gemahl fortschleppte und der Gemeinheit des Pöbels aussetzte und dazu Ihre Kinder ehrlose Knechte Ihrer Feinde wurden, die durch den Krieg groß geworden sind und über Ihrer Hände Arbeit triumphierten. Ich gebe Ihnen drei Wochen Bedenkzeit; und wenn Sie sich mit klarem Bewusstsein gegen diese Möglichkeiten stark gemacht haben, werde ich bereit sein, mit Ihnen und mit unseren Freunden ins Verderben zu gehen.‹

Die Admiralin entgegnete: ›Die drei Wochen sind bereits vorüber! Sie werden niemals durch die Kraft Ihrer Feinde besiegt werden; gebrauchen Sie die Ihrige und häufen Sie nicht die Toten von drei Wochen auf Ihr Haupt. Ich fordere Sie im Namen Gottes auf, uns nicht länger zu enttäuschen, oder ich werde am Jüngsten Tag gegen Sie Zeugnis ablegen!‹

Die Überredungen eines so geliebten Mundes und einer so bewährten Treue wirkten so stark, dass der Admiral satteln ließ, um den Fürsten von Condé und andere große Führer der protestantischen Partei in Meaux aufzusuchen.«

In diesem erschütternden Dokument fällt auf, dass Coligny nicht – nicht mehr – die christlich-entscheidende Frage stellt, ob es erlaubt sei, für das Evangelium das Schwert zu ergreifen, sondern nur noch die Frage nach den Chancen und den Gefahren einer Erhebung. Insofern kann man sagen, dass es sich hier bei dem Christen Coligny nicht um eine echte Krise handelt. Die Worte seiner Gemahlin von dem Leib Christi und ihr Ruf nach schirmender Gerechtigkeit für die Kinder Gottes gehen tiefer, aber sind verwandt mit dem allgemeinen Schrei der Protestanten nach rettender, ausgleichender, vergeltender Gerechtigkeit. Der überall unter den Mächtigen des Landes wachsende Einfluss der Evangelischen sieht zugleich am Horizont die Möglichkeit auftauchen, auf dem Weg weltlichen Eingriffs den Entrechteten wirksamen Schutz zu schaffen, die Bösen zu strafen, ja, durch Vergeltungsmaßnahmen die an den Verbrechen der vergangenen Jahrzehnte Schuldigen zu belangen.

Bereits im Sommer 1559 schreibt der Pariser Pfarrer de Morel zornerfüllt über den noch immer fortdauernden Terror und Mord: »Zahle doch Gott endlich seinen Feinden den verdienten Lohn!« Wer Psalmen singt, weiß von der Sehnsucht der Unterdrückten, endlich »zu sehen, wie den Gottlosen vergolten wird«, – wer im Namen Gottes zum Schwert greift, fühlt sich nicht mehr gehindert, beim Strafvollzug Gottes werkzeughaft mit Hand anzulegen. Vorübergehend wird der französische Protestantismus in diesen Gedanken sogar durch die Krone ermutigt, als die Königin-Regentin in einem Jahr von besonderer Bedrängtheit durch den gewalttätigen Ehrgeiz der Guisen den evangelischen Gemeinden eine Abkündigung auflegt, die von der »Absicht Volksfremder« spricht, sich des Königs zu bemächtigen, und fragt, wie viel »Fußvolk und Reiter« die Hugenotten zu stellen in der Lage sein würden – eine Aufforderung, die allerdings keine einheitliche Stellungnahme von der anderen Seite zur Folge hat.

Der Übergang aus der geistlichen Periode des französischen Protestantismus in seine politische Periode vollzieht sich naturgemäß teils fließend, teils sprunghaft, unbeschadet des tiefen und entscheidenden Einschnitts, den das Signal Colignys zum Bürgerkrieg darstellt.

Ein deutliches Aufflackern wird bereits kurz nach dem Tod Franz’ II. bemerkbar, als die Hugenotten in der Bretagne ihre Waffen erheben und Coligny sich noch vermittelnd bemüht, in Paris diese lokale Revolte als verhältnismäßig sittlich berechtigt (er wagt zu sagen: »legitim«) hinzustellen.

Nach und nach wird aus den einzelnen Gruppierungen und örtlichen Reaktionen ein System. Die Schwerpunkte verschieben sich: Die Aufgerufenheit zum Reich Gottes verblasst, die Aufgerufenheit zu einer irdischen Partei tritt immer mehr an ihre Stelle. Die Hugenotten erheben Kriegssteuern, ernennen Offiziere, werben Soldaten an, da sie gegenüber dem Kaleidoskop der in Paris wirksamen Kräfte auf eine Rechtsgarantie der Krone nicht mehr zählen.

Der einfache Mann und Soldat des Hugenottentums wendet robust die ihm vertrauten Gedanken der vorprophetischen alttestamentlichen Zeit auf die konkreten Verhältnisse des Heute an und versteht kaum noch die neutestamentlichen Gewissenshemmungen seiner Führer. Fast grotesk ist die Geschichte, die vom Fürsten Condé erzählt wird. Er trifft an einer Kirche einen protestantischen Soldaten, welcher gerade beschäftigt ist, ein steinernes Heiligenbild über dem Portal zu zertrümmern. Condé hält sein Pferd an und macht den Soldaten darauf aufmerksam, dass die Kriegszucht der Armeen Colignys dergleichen Gewalttaten mit dem Tod bestraft. Der Soldat erwidert angesichts der erhobenen Büchse Condés: »Haben Sie gerade noch ein wenig Geduld, bis ich das Götzenbild fertig mache; dann will ich sterben, wenn es Ihnen gefällt!«

Während sich nun in den Jahren 1562-1598 Kampfhandlungen mit Kampfhandlungen, Siege mit Niederlagen ablösen, während erzwungene Toleranzedikte mit provozierenden Terroredikten abwechseln, beginnen in Bälde die verheerenden Folgen des neuen Kurses sichtbar zu werden.

Die Protestanten mit Coligny und dem Prinzen von Condé an der Spitze sind in Nachteil gebracht durch die Kunst der Guisen, aus anderen Staaten Hilfskräfte heranzuziehen: 30.000 Spanier kommen herüber, 6.000 Schweizer sind angeworben, der katholische Rheingraf schickt 20 Fähnlein Landsknechte zur Hilfe. Folgerichtig erliegen die Evangelischen der Versuchung, dementsprechend fremde protestantische Hilfskräfte ins Land zu ziehen. Wie stark diese ausländischen Truppen Einsatz finden, sehen wir bei dem Gefecht von Dreux 1562: Franz von Guise befehligt dort 6.000 Franzosen und 6.000 fremde Soldaten, die Hugenotten haben 5.000 Franzosen und gar 8.000 Ausländer.

Um sich die landfremden Hilfeleistungen zu sichern, muss man fragwürdige Schritte tun. Die Hugenotten wenden sich an die protestantischen Fürsten Deutschlands, die ihnen die gefürchteten und rohen »reîtres« herüberschicken. Sie wenden sich an England um Soldaten und Geld und verpfänden der fremden Krone dafür notgedrungen die landeseigene Hafenstadt Le Havre. Die Folge ist, dass England ohne Rücksicht auf die Klauseln des Vertrags den französischen Hafen als Besitz reklamiert und damit das Odium des Landesverrats auf die Hugenotten bringt.

Aus der Hereinziehung ausländischer Soldateska folgt wiederum ein schnelles Absinken in der Moral der Hugenottenheere, die in der ersten Zeit noch als streng disziplinierte Truppen gefochten hatten: In ihren Lagern durften liederliche Frauenzimmer nicht sein, das Spielen und Fluchen war verboten, das Plündern und alle Gewalttat unter schwere Strafe gestellt. Aber die zügellosen Horden der reîtres und anderer Söldner kommen nur, um besiegte Heere und besetzte Landesteile auszuplündern, und säen Groll und Hass im Volk gegen die gute Sache, deren Abzeichen sie tragen.

Die entfesselten Kriegsleidenschaften in den gemischten Heeren wirken auf die ehemaligen Kerntruppen zurück. Allenthalben brechen tausendfache Gelegenheiten nicht nur zum Schaffen von Gericht und Gerechtigkeit, sondern zum Begleichen alter Privatrechnungen auf. Lange verhaltene Rachegedanken werden übermächtig. Man vergilt mit den neuen Mitteln und mit Zins und Zinseszins denen, die am Tod des gequälten Vaters, am Schicksal der geschändeten Schwester schuldig waren. Einladend tritt die unbeschränkte Möglichkeit dazu vor den jeweils siegreichen Krieger. Dabei schärft ein Messer das andere. Eine hemmungslose Entladung alten Grolls schafft in der Familie des übel Gestraften neue Verbitterung und ruft zu noch schärferen Repressalien auf. Nach Art des Aufschaukelns in der Induktionsphysik wird so immer neue Spannung, gesteigerte Grausamkeit und wildere Kriegswut verursacht.

Ein überaus lehrreicher Brief Calvins, der diese Entwicklung in ihrem Gegenbild auf dem kirchlichen Gebiet schon 1562 sich anbahnen sieht, spricht uns von dem Verhalten Lyoner Pastoren, die im Machtrausch jedes Gleichgewicht verloren haben. (»Aux ministres de Lyon«, 13. Mai 1562.) »Wir wären Verräter an Gott und an euch und an der ganzen Christenheit, wenn wir euch verhehlen wollten, was wir über euer tief bedauerliches Tun denken. Es ziemt sich nicht, dass ein Geistlicher sich zum Söldnerführer oder zum Hauptmann macht; aber es ist noch viel schlimmer, wenn man (geradewegs)¬die Kanzel verlässt, um zu den Waffen zu greifen. Und der Höhepunkt ist, zum Stadtgouverneur zu gehen mit einer Pistole in der Hand und ihn zu bedrohen, indem man sich mit Macht und Gewalt brüstet. Dies sind die Worte, die man uns hinterbracht hat und die wir durch glaubwürdige Zeugen gehört haben: ›Mein Herr, Sie haben das und das zu tun, denn wir haben die Gewalt in unserer Hand‹. Wir sagen rundheraus, dass diese Äußerung uns ein ungeheurer Schrecken gewesen ist: … Wir haben gehört, dass die Beutestücke, die man der Kirche de St. Jean entnommen hatte, für jeden Käufer öffentlich ausgeboten worden sind und dass man sie für 112 Taler losgeschlagen hat; ja man hat den Söldnern versprochen, einem jeden seinen Anteil daran zuzumessen. Wahr ist dabei, dass Monsieur Rufi (einer der Lyoner Pfarrer) aller dieser Dinge namentlich angeklagt worden ist. Aber es scheint uns, dass ihr zum Teil schuldig seid, dass ihr ihn nicht zurechtgewiesen habt, die ihr doch dazu Freiheit und Vollmacht besaßet. Denn, wenn er sich nicht eurem Tadel unterwirft, soll er sehen, wo er eine Sonderkirche baut. Wir können euch diese Dinge nicht gelinde vorhalten, die wir nicht ohne tiefe Scham und Bitternis des Herzens hören können….«

Als Folge aller dieser Ausschreitungen lässt der Verlust der Popularität im guten Sinne des Wortes, des Vertrauens, des sittlichen Rufs der evangelischen Sache nicht lange auf sich warten, und das Absinken des Prestiges wirkt sich auch auf die königliche Familie und die Hauptstadt aus. Der Versuch der Hugenotten, nach dem Vorbild der Guisen den König mit Gewalt in Monceaux zu entführen, reizt ihn und vermehrt sein Mißtrauen. Der Marsch protestantischer Truppen auf Paris nach dem Tod Condés wird von dem Pöbel der Hauptstadt nicht vergessen und in der Bartholomäusnacht liquidiert werden.

So ist der Schaden all dieses Abgleitens unsagbar groß. Wenn vordem der Katholik Raemond angesichts der grauenvollen Exekution des großen und gütigen Hugenotten Anne du Bourg gesagt hatte, die Jugend sei auf dem Heimweg von der Hinrichtung in Tränen ausgebrochen und dieser Anblick habe dem Katholizismus mehr geschadet als hundert protestantische Prediger – so galt dasselbe jetzt umgekehrt und potenziert: Der Mord, begangen an dem brutalen Schloßherrn von Fumel, der auf der Straße einen kalvinistischen Kirchenältesten zu Boden schlug und dafür mit seiner Familie und seinem Schloss die Rache der empörten Protestanten bezahlte, richtet mehr Schaden an, als hundert Predigermönche der evangelischen Sache hätten zufügen können. Beinahe seelsorgerlich faßt der weitherzige Katholik Castellion das Endergebnis in einer Botschaft an die Evangelischen zusammen: »Ihr habt einst geduldig Verfolgung für das Evangelium ertragen. Ihr habt eure Feinde geliebt und Schlechtes mit Gutem erwidert: Woher kommt jetzt eine so große Veränderung in einem jeden unter euch? Ihr tötet und mordet und stellt eure Feinde vor die Spitze eures Degens; zwingen wollt ihr sie sogar, sich bei euren Predigten einzufinden.«

Dies über die innere Bilanz der Religionskriege. Ihre erste äußere Bilanz ist die Bartholomäusnacht. Sie ist nicht, wie es die erbauliche Übereinkunft will, in erster Linie ein klassisches Beispiel für Christenverfolgung oder für evangelisches Martyrium. Die Vorgeschichte der Pariser Bluthochzeit gibt allerdings zu der erwähnten Auffassung einigen Anlass. Bereits 1565 hatte zu Bayonne eine Zusammenkunft der Königin-Mutter mit Herzog Alba als Geschäftsträger Philipps II. von Spanien stattgefunden. Diese Konferenz war durch Papst Pius IV. veranlasst worden. Wie de Thou als zeitgenössischer Chroniker berichtet, verhandelte man dort über die Wege, Frankreich von der ansteckenden Krankheit der Protestanten zu befreien. Es wird das Wort des Herzogs von Alba: »Der Kopf eines Lachses ist mehr wert als die Köpfe von tausend Fröschen« wohl verstanden und als Ziel bezeichnet, Coligny zu töten, die Sizilianische Vesper zum Vorbild zu nehmen und alle Protestanten niederzumetzeln. Es ist der blutjunge Prinz von Navarra, später König Heinrich IV., dem als unbeargwöhnten Knaben dieses Wort Albas zu Ohren kommt und der es für später in seinen Busen verschließt.

Drei Jahre danach verweilt Katharina in Metz und unterhält sich dort mit dem spanischen Gesandten Alava. Dieser wirft der Königin vor, dass das französische Heer gegen die Hugenotten lässig vorgehe. Sie gibt zu verstehen, dass sie selbst nicht über die genügenden Vernichtungsmittel verfüge. Das Werkzeug Philipps antwortet: »Dann muss man nach anderen Mitteln greifen«. Er rät ihr, Coligny und einige andere ermorden zu lassen, und erwähnt, dass man 50.000 Taler für den Kopf des Admirals ausgesetzt habe.

In den Jahren bis kurz vor der Bartholomäusnacht bereitet Papst Pius V. von Rom her die Ausrottung der Ketzer in Frankreich unermüdlich vor. Er ist das Schulbeispiel des christlichen Christenverfolgers und im strengen Sinne des Wortes ein Fanatiker. Ihm gegenüber ist Alexander VI. ein Verbrecher pro domo und in Wahrheit kein Papst; doch steht Pius ihm in der Wahl verwerflicher Mittel nicht grundsätzlich nach, nur dass er sie als Papst gebraucht und sie in seiner Hand Ausdruck echt katholischer Gesinnung sind.

Dieser Dominikaner hatte als Mönch ein frommes, armes, strenges und eifriges Leben geführt. Zur Stellung eines Kardinals erhoben, bleibt er derselbe, der er zuvor war, widmet sich in gleicher Treue seinen Andachtsübungen und dem Kampf gegen alle Feinde der Kirche. Dass er jetzt die Würde eines Papstes bekleidet, ist ihm schier eine Last, die ihm nur Fasten, Gebete und grobe Kleidung erträglich machen. Er ist unerbittlich gegen sich, unerbittlich gegen die Würdenträger der Kirche und unerbittlich gegen die Ketzer in Italien, die er bis etwa 1570 mit Feuer und Schwert ausrotten lässt. Die Marmorbüste Pius’ V. in der Chiesa di Santa Maria Maggiore zeigt uns einen sympathischen liebenswerten Greis mit ernsten und gehaltenen Gesichtszügen: So verehrte ihn das Volk, wenn er mit dem reinen Ausdruck ungeheuchelter Frömmigkeit den Prozessionen voranschritt.

Der katholische Glaube des alten Mannes ist gebieterisch und exklusiv und haßträchtig gegen alle Andersgläubigen. Dem Anführer eines Hilfstrupps für die französischen Katholiken gibt er die Weisung mit, keinen Hugenotten gefangen zu nehmen und jeden, der ihm in die Hände falle, zu töten. Er sendet einem Ungeheuer wie Alba für vollbrachte Bluttaten einen päpstlich geweihten Hut und Degen. Er predigt, wo er kann, die Ausrottung der Ketzer und schreibt – Ranke, der das obige Bild zeichnet, scheint diesen Brief noch nicht gekannt zu haben – im Jahre 1569 an Katharina von Medici: »Wenn Ihre Majestät fortfahren, öffentlich und glühend die Feinde der katholischen Religion zu bekämpfen, bis dass sie alle massakriert sind, soll die königliche Majestät sicher sein, dass die göttliche Hilfe Ihr nicht fehlen wird. Nur durch die völlige Ausrottung (›extermination‹ – das Wort wurde später in der Übersetzung zu ›Verbannung‹ abgemildert) kann der König dem edlen Königreich Frankreich den alten Kultus wiedergeben.« Noch vor seinem Verscheiden gibt Pius der Liga sein letztes Geld zur Vernichtung der Evangelischen und sagt am Rande des Grabes: »Gott wird nötigenfalls aus den Steinen den Mann erwecken, dessen man bedarf«.

Vorerst gehen trotz der Tätigkeit Spaniens und Roms die Dinge in Frankreich einen anderen Weg. Ein Schreckensedikt vonseiten des Königshauses im September 1568, das den evangelischen Gottesdienst unter Todesstrafe verbietet, setzt sich nicht durch. Es bewirkt nur eine neue Erhebung der Protestanten, die jetzt auf Paris marschieren und den Hof wider alle Vorstellungen des Papstes zum Frieden von St. Germain zwingen. Dieses Abkommen garantiert die Freiheit des evangelischen Kultus außerhalb der Stadtgrenzen und überläßt den Hugenotten vier Freistädte, unter ihnen die Hafenfestung La Rochelle an der Westküste und Montauban.

Der Hof wendet sich äußerlich von den unterlegenen Guisen ab und Coligny zu, dessen er nicht nur für seine militärischen Auslandsunternehmungen, sondern auch für die Gewährleistung des inneren Friedens vorübergehend bedarf. Man erzeigt dem Admiral hundert Gunsterweisungen, man schenkt ihm dem Anschein nach unbegrenztes Vertrauen, um sein Vertrauen umso sicherer zu gewinnen. So wird man ihn danach zu Fall bringen, so bringt man ihn binnen kurzem zu Fall durch seine Treuherzigkeit, die eine abgrundtiefe Treulosigkeit auf der anderen Seite nicht verstehen kann noch will und folglich nicht mit ihr rechnet. Schon 1571 war Coligny gewarnt worden. Damals hatte der Herzog von Mont-Pensier ihm abgeraten, schutzlos im königlichen Schloss Blois umherzugehen. Des Admirals Antwort war gewesen: »Ich befinde mich doch im Haus meines Königs!« Darauf hatte der Herzog erwidert: »Wohl, aber in einem Haus, in dem der König nicht immer Herr ist«.

Siegfried fällt nicht durch den Speer Hagen Tronjes, sondern durch das Lindenblatt, das ihm eine Blöße gab: Coligny fällt nicht durch die Macht Katharinas, sondern durch den Mangel an Misstrauen, der aus der Vornehmheit seiner Seele stammt. Wilhelm von Oranien war, sagt man, in seiner Jugend von Karl V. gelehrt worden, »niemals einem Menschen zu glauben«, und immerdar »war es sein Schicksal, Kassandra zu sein«. Dass Coligny mit der Treue und Ehre seines Herrn rechnete, erhebt ihn rein menschlich über den niederländischen Führer, aber das furchtbare Ende seines Lebens zeigt zum ersten Mal in der Geschichte des Reiches Gottes in Frankreich neben dem Irrweg weltlicher Kampfmittel die andere Fehlerquelle auf, das andere Verhängnis der Evangelischen: die unerschütterliche »patience huguenote«, ihr beinahe religiöses Vertrauen in die Lauterkeit des Königs, das zwangsläufig zur schuldhaften Blindheit wird. »Qui mange du Pape, en meurt«, so wusste man vor dem Borgia-Papst zu warnen. »Qui mange du Roi, en meurt« erweist die Bartholomäusnacht an Coligny. Vor der Aufhebung des Edikts von Nantes mißachten die Hugenotten zum zweiten Mal die neue Lehre ihrer Geschichte, und zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wird sie abermals von dem Cevenolenführer Cavalier vergessen werden, der, wie vor ihm Coligny, zuerst nach dem Schwert griff und dann an der Falschheit des französischen Königtums verdarb.

Der scheinbare Gegenspieler Colignys in den Tagen der Bartholomäusnacht ist der Jüngling Karl IX. Aber hier schon verwirren wir uns in ein Netz widersprechender Meinungen, die uns einzufangen begehren. War Karl IX. der eigentlich wirksame Akteur auf dieser Bühne? War er, wie die einen meinen, eine Ausgeburt aller Verworfenheit und Grausamkeit? Oder ist er nur ein fast entschuldbarer pathologischer Schwächling gewesen und Produkt einer unheilvollen Charaktererziehung, so wie Chateaubriand ihn darstellt: »Dieser König, der aus den Fenstern seines Palastes auf seine hugenottischen Untertanen schoß, dieser katholische Monarch, der seine Mordtaten bedauerte, Blut spie, schluchzte und Ströme von Tränen vergoß, schließlich von allen verlassen und nur noch von seiner Amme, einer Hugenottin, betreut wird; dieser dreiundzwanzigjährige Monarch, überaus begabt, mit seiner großen Vorliebe für Kunst und Literatur, hochherzig in seiner Veranlagung, den nur seine verbrecherische Mutter auf eine abschüssige Bahn brachte, bis er ausartete und seine königliche Macht mißbrauchte – hat er nicht vielmehr Mitleiden verdient?«

Sicher ist, dass dieser Charakter schwer in eine einfache Schablone paßt und sich dem Verfahren widersetzt, entweder als sys-tematisch-harmonisch oder als geisteskrank klassifiziert zu werden. Karl IX. ist von einem achtbaren Erzieher herangebildet, von seiner Mutter in Verstellung geübt, von seinen Freunden zu Ausschweifungen überredet, durch die liebenswürdige Maria Touchet von seiner edlen Gemahlin Elisabeth abgebracht; ein leidenschaftlicher Jäger, grausam bis zum Sadismus, unermüdlich als Waffenschmied, ein Freund der Gelehrten, ein Dichter, Sänger und Komödiant. Vielleicht ist es wahr, dass er Anfang 1572 nach einem gleißenden Empfang der Königin von Navarra im Schloss Blois zu seiner Mutter sagte: »Habe ich meine Rolle gut gespielt? Du wirst sehen, ich fange sie in ihrem Netz!« Vielleicht ist es wahr, dass er den durch ein Attentat verwundeten Admiral Coligny in seinem Pariser Zimmer begrüßte mit dem theatralischen Wort:

»La blessure est pour vous,
  La douleur est pour moi!«

Neben all diesen anekdotischen Einzelzügen bleibt doch der allgemeine Eindruck, dass der dekadente Valois irgendwie ein Reflex, eine Ableitung, ein Zerrbild der Königin-Regentin selber ist und von ihr her gesehen werden muss, wie denn der Schlüssel zur Bartholomäusnacht letztlich in den Händen Katharinas und ihres skrupellosen Machthungers liegt.

Eben noch hatte Karl, den Einmischungen der Spanier abgeneigt, Coligny wieder an den Hof gezogen. Des Admirals weit schauender Plan, das katholische und protestantische Frankreich zu einigen in einem gemeinsamen Unternehmen, das den Spaniern durch einen Krieg in Flandern den Todesstoß gegeben und jene Provinz an Frankreich angeschlossen hätte, gefiel ihm nicht übel. Katharina, die das katholische Spanien nicht aufgeben will und die durch Colignys militärische Autorität ihren Einfluss auf Karl sich verringern sieht, widersetzt sich diesem Projekt und nähert sich dem Gedanken eines Anschlags auf den Admiral. Am Ende bereitet sie dem König eine Tränenszene, die ihn in erwünschter Weise psychologisch umlegt.

Die Schlingen ihres Netzes ziehen sich um Coligny und die Führer des protestantischen Adels zusammen, als nun in Anwesenheit von Tausenden geladener Gäste die jüngste Schwester Karls IX., Margarete, am 18. August 1572 dem jungen König von Navarra in Paris angetraut wird.

Wie weit das Massaker der nun folgenden Bartholomäusnacht im Einzelnen überlegt und vorbereitet war oder wie weit es die Selbstzündung angesammelter ungeheurer Sprengstoffmassen gewesen ist, wird vielleicht nie ausgemacht werden können. Ein dumpfes Grollen unter dem Vulkan, der Tod und Verderben zu speien sich anschickt, ist deutlich hörbar. Die Guisen drängen zu einem Gewaltstreich gegen den politisch-militärischen Protestantismus als einen Feind ihresgleichen, der mit Mitteln ihresgleichen endlich völlig vernichtet werden soll. Auf der anderen Seite ist das Pariser Bürgertum durch eine nicht enden wollende Agitation hetzender Predigermönche derart mit Misstrauen und Hass gegen die Feinde der Hauptstadt gesättigt, dass es beinahe reflexmäßig dem Mordbefehl des Louvre nachkommt.

Vier Tage nach der Hochzeit im Königshaus, am 22. August, wird Coligny, der mit seinem Schwiegersohn Téligny in der Rue Béthisy wohnt und den der König mit allen erdenklichen Ehrenbezeugungen umgibt, auf der Straße von einem gedungenen Edelmann angeschossen. Der König besucht sogleich den verwundeten Admiral, umgibt sein Krankenbett mit den ihm geläufigen Flüchen und mit lästerlichen Beteuerungen seiner Empörung und versichert ihm, er werde an dem Mordgesellen eine so schreckliche Rache nehmen, dass sie niemals aus dem Gedächtnis der Menschen schwinden werde. Zugleich lässt er sich eine Liste aller außerhalb des Louvre einquartierten protestantischen Edelleute geben, um, wie er sagt, sie um so sorgfältiger behüten zu können. In das Schloss zurückgekehrt, findet Karl bei seiner Mutter und dem Prinzen von Anjou den festen Plan vor, Coligny ermorden zu lassen, die gesamten Protestanten in Paris zu töten und selbst die Edelleute, welche im Louvre die königliche Gastfreundschaft genießen, nicht zu verschonen. Er schwankt, wohl auch im Blick auf die gefährlichen Folgen des ungeheuerlichen Treubruchs im Inland und Ausland, bis sein Widerstand zusammenbricht, vielleicht auch in Erinnerung an das genuin spanische Wort, das er selbst, heißt es, einst von Philipp II. heimgebracht hatte und das seinem Zögern die Sehne durchschlägt: »Pietà lor ser crudele, crudeltà lor ser pietoso« – »Mitleid mit ihnen wäre Grausamkeit, Grausamkeit gegen sie ist die einzige Barmherzigkeit«.

Die folgenden Ereignisse sind in klarerem Umriß überliefert. Coligny wird in seinem Schlafzimmer bestialisch ermordet. Er stirbt nach innigem Gebet, in ruhiger Glaubenszuversicht und mit der Würde des großen Edelmannes – vielleicht der größte Charakter, den, menschlich geredet, Frankreich jemals nach dem heiligen Ludwig und dem Hirtenmädchen von Domremy hervorgebracht hat.

Es ist ein deutscher Kammerdiener, Nikolaus Muß, der Coligny bis zuletzt unwandelbar treu zur Seite steht. Es ist ein Deutscher slawischen Blutes mit Namen Dianowitz, »der Böhme«, der den Admiral Frankreichs wie ein Tier absticht und die verstümmelte Leiche dem wartenden Guise zum Fenster hinaus auf die Straße schleudert.

Unterdessen hat das Morden im Louvre begonnen; dort werden die Gäste des Königs teils in den Gemächern niedergemacht, teils in den Schloßhof hinuntergetrieben und dort zwischen den Mauern umgebracht. In der Stadt läutet die Sturmglocke der Kirche St. Germain d’Auxerrois den Massenmord der evangelischen Gäste und protestantischen Bürger ein. Die Blutarbeit wird durch den Magistrat und die Bürgergarden in völligster Ordnung und lückenloser Organisation durchgeführt, ein Umstand, der stark gegen die These eines plötzlichen Mordentschlusses der Verschworenen spricht. In der ersten Nacht sind es etwa zweitausend Menschen, die aus ihren Betten gerissen und erbarmungslos getötet werden. Man wirft ihre Leichen in die Seine und bemerkt witzig dazu, dass man jetzt der Ketzerstadt Rouen flußabwärts einen Zug von ganz besonderen Fischen sende.

Während der folgenden Tage geht das Gemetzel weiter. Der Graf von Coconas rühmt sich einer besonderen Methode: Er sagt etwa dreißig Hugenotten Schonung ihres Lebens zu, falls sie widerriefen. Dann, nach ihrem Widerruf, bringt er einen jeden von ihnen mit kleinen Dolchstichen langsam zu Tode, um ihr Leiden zu verlängern.

Während auf den Straßen wahllos evangelische Frauen, Mütter, Kinder, wehrlose Flüchtlinge abgeschossen werden und mit ihrem Blut die Erde röten, verbreitet sich im Pariser Volk die Kunde, dass im »Cimetière des Innocents« ein Weißdornstrauch, vom Blut der Ketzer befeuchtet, zum zweiten Mal erblüht sei. Eine Prozession des Pöbels zieht zum Friedhof, um das Wunder mit eigenen Augen zu sehen und danach mit umso größerem Eifer das Massaker fortzusetzen. Einer der Ihrigen, der Metzger Pezou, wird vom Helden der Straße zum Helden des Königshofs. Er hat in der ersten Nacht einhundertzwanzig Evangelische geschlachtet. Er rühmt sich dessen vor dem König und macht sich anheischig, in der folgenden Nacht noch einmal dasselbe Werk zu tun. Karl IX. lacht – es ist ein wildes und unruhiges Lachen, ganz anders als das grimmige Lächeln des großen Systematikers der Protestantenverfolgung, des finsteren Philipps II. von Spanien, als er die Kunde von der Bartholomäusnacht erhält.

Neben dem königlichen Gelächter Karls IX. hört man irgendwo im Louvre ein königliches Weinen, gequält und herzbrechend. Elisabeth, die Gemahlin Karls, hat an eben diesem ersten Morgen von dem Beginn des Mordens erfahren. Sie fragt entsetzt: »Mein Gott, weiß mein Gemahl davon?« / »Der König hat es selbst befohlen!« / »Wer hat es ihm geraten? Vergib ihm, o Gott! Ich fürchte, diese Schändung Deines Willens wird ihm nicht vergeben werden!« Sie nimmt ihr Gebetsbuch zur Hand und beginnt unter Tränen, Gott anzuflehen. Später wird die edle Frau, der man auch die einzige Tochter weggenommen hat, – das Kind stirbt früh eines natürlichen oder beschleunigten Todes – wieder in ihre Heimatstadt Wien zurückkehren und im Kleid der franziskanischen Tertiarierinnen Kranke pflegen, damit »Gott ihrem verstorbenen Gemahl Karl IX. die Mordtaten der Bartholomäusnacht vergebe«.

Fast sämtliche Freunde Colignys sind in der ersten Nacht getötet oder werden noch erledigt. Wie der Admiral selbst, waren sie zweimal vor der Katastrophe durch den Vicedominus von Chartres gewarnt und zum Verlassen der Stadt aufgefordert worden. Im Glauben an die königliche Ehre bestehen sie darauf, noch zu bleiben. Keiner von ihnen wird geschont außer de Chartres und Montgommery, denen es zu entfliehen gelingt. Im Louvre bleiben der Schwager des Königs, Heinrich von Navarra, und der ältere Condé am Leben, außerdem der Leibarzt des kränkelnden Karl und die alte hugenottische Amme des Königs. Karl IX. selbst lehnt an einer Fensterbrüstung des Schlosses und schreit: »Bringt sie um, bringt sie alle um!« und schießt mit der Büchse auf flüchtende Gestalten. Dann zieht seine Mutter mit dem Hofstaat hinaus, um die dort mit den Füßen an den Galgen gehängte kopflose Leiche Colignys zu betrachten. Sie hat allen Anlass, diesen zerhackten Kadaver des edelsten Mannes ihrer Zeit, – des Mannes, den ihr Sohn »mein Vater« nannte – auf dem Schindanger nachdenklich anzuschauen, denn der Leichnam ihres eigenen Vaters, des schamlosesten Mediceers Lorenzo von Urbino, ruht daheim ehren- und kunstverklärt in der neuen Sakristei von San Lorenzo, in dem von allen Augen angestaunten wunderherrlichen Grabmal aus der Hand Michelangelos.

Das Haupt des Admirals wird in Verwahrung genommen und durch Sonderboten dem Nachfolger Pius’ V. nach Rom gesandt. Dort läuten die Glocken, und die Kardinäle erfahren durch den Pontifex maximus, dass solche Tat geschah »auf speziellen Befehl des Königs von Frankreich«. Jubelgottesdienste, Feiermessen, Kanonenschüsse, Freudenfeuer, Prunkprozessionen lösen einander ab. Eine Festmedaille wird geschlagen mit dem Bild eines Engels, der ein Kreuz erhebt und mit der anderen Hand Protestanten tötet, mit der Umschrift: »Hugonotorum strages«, »Der Hugenotten Niedermetzelung«. Die Gegenseite der Münze trägt das Bild des Papstes.

Die sorgfältigste Zählung der Pariser Opfer durch Crespin gibt 10.468 Personen an. Dazu kommen in der Provinz, in die nun die Blutbefehle hinausgehen, 30.000 Getötete. In den Niederlanden kostet die Nachricht von dem geglückten Gewaltstreich Katharinas Wilhelm von Oranien die Festung Mons. In Frankreich selbst beginnt bald darauf der siebte Religionskrieg durch die Initiative der schwer getroffenen, aber ihrer Sache unverbrüchlich treuen hugenottischen Stände, Soldaten und Gemeinden. Bald darauf stirbt auch Karl IX. im Alter von vierundzwanzig Jahren, sei es an Blutstürzen, sei es, wie Brantôme angibt, an der Syphilis. Seine alte hugenottische Amme sagt ihm noch die letzten Trostworte. Nach der Überlieferung antwortet er ihr: »Meine Beste – wie viel Blut, wie viel Blut! Man hat mich schlecht beraten! Vergib mir, o Gott, denn ich fühle, ich bin verloren!«

Die Bartholomäusnacht und die ihr folgenden Exekutionen in der Provinz vernichten die evangelische Sache nicht, aber verkrüppeln sie zeitweise äußerlich. Eine Anzahl bisheriger Protestanten wenden sich um ihres Lebens halber dem katholischen Bekenntnis zu, so auch 527 Edelleute im Land. Zugleich setzt eine neue Auswanderungswelle ein, so dass etwa ein halbes Jahr nach der Bartholomäusnacht allein in London vierzig flüchtig gewordene Pfarrer aus der Normandie und Picardie gezählt werden.

Vielleicht die schwerwiegendste Folge der Pariser Bluthochzeit ist die Tatsache, dass den Evangelischen Frankreichs eine Rückbesinnung auf die geistliche Linie des Glaubenskampfs so gut wie unmöglich geworden ist. Schon die vorlaufende Strafaktion gegen die hugenottischen Mitverschwörer von Amboise hatte bei Einzelnen eine sozusagen grundsätzliche Einstellung auf Rache erzeugt. Agrippa d’Aubigné, der protestantische Kämpe mit Schwert und Feder bis in die Zeit Ludwigs XIII. hinein, spricht davon in seinen Erinnerungen. Er konnte nie vergessen, wie ihn, das hellwache, überbegabte Kind – mit sechs Jahren las er bereits lateinische, griechische und hebräische Schrift – sein Vater eines Tages »durch den Jahrmarkt in Amboise führte und angesichts der am Galgen der Stadt noch immer ausgestellten Köpfe seiner alten Freunde vor sieben- oder achttausend Personen ausrief: ›Sie haben Frankreich geköpft, diese Henker!‹« Und dann, als sein Sohn sich überaus wunderte, auf dem Antlitz seines Vaters eine ungewöhnliche Erregung wahrzunehmen, legte dieser ihm die Hand auf das Haupt und sagte: »Mein Kind, es tut nicht Not, dass dein Haupt einst verschont wird, weil das meine verschont wurde. Wenn du dich bei deinem Werk schonst, wird mein Fluch dich treffen« (d’Aubigné, »Vie à ses enfants«). Nach den Schrecken von 1572 treten in genugsam verständlicher Reaktion geradezu Gleichgewichtsbrüche in Erscheinung. Ein maßvoller Vertreter des evangelischen Bekenntnisses in La Rochelle wird von einem der dortigen Pfarrer buchstäblich geohrfeigt. Überreizte Hugenotten rufen die Hilfe der Königin Elisabeth von England an und erklären sie als legitime Königin.

Während nach den das gesamte Volkstum zerreißenden Massenhinrichtungen in der Provinz die Katholiken, über die Lawine des Mordens erschreckt, sich noch in einer Art dumpfer Betäubung befinden, werden die Hugenotten von neuen Führern, mit dem ernsten La Noue an der Spitze, neu zusammengefaßt und verschanzen sich in den ihnen treu gebliebenen festen Städten La Rochelle im äußersten Westen und Montauban, Nîmes, Sommières, Anduze im Süden. Der Schwerpunkt des Protestantismus verlegt sich nach dem unberührteren meridionalen Frankreich, von dem aus auch später der letzte Widerstand in den Cevennen und im Languedoc geleistet werden wird, von dem aus auch zuletzt die Wiedergeburt der evangelischen Kirche ihren Ausgang nimmt.

Eine weitere Folge der Bartholomäusnacht sind die allenthalben einsetzenden grundsätzlichen Angriffe auf die Schrankenlosigkeit der königlichen Vollmachten.

Im Jahre 1535 war Niccolò Machiavellis Abhandlung: »Il principe«, die er dem jüngeren Lorenzo, dem Vater Katharinas von Medici, gewidmet hatte, in Rom im Druck erschienen. Er gedenkt darin Cesare Borgias als eines erfolgreichen Fürsten und proklamiert grundlegend Idee und Methode der skrupellosen Staatsgewalt. Das Büchlein, das von dem Hofstaat der italienischen Königsbraut in Paris eingeführt worden war, hatte zu der sich dort durchsetzenden Praxis ein Stück Theorie und Programmatik geliefert. Zur Zeit der Bartholomäusnacht scheint die Abhandlung Machiavellis am Pariser Hofe bereits eine Art politisches Brevier geworden zu sein.

Jetzt setzt der schriftstellerische Protestantismus in Frankreich Theorie gegen Theorie, Programm gegen Programm. Eine immer höher ansteigende Welle von Flugschriften und Pamphleten anonymer, das heißt hugenottischer Herkunft, tritt in Erscheinung, die dem Prinzip eines unverantwortlichen Königtums den Rechtsboden zu entziehen trachtet. An der Spitze dieser Literatur stehen die Abhandlungen des Juristen Hotman, der, infolge der Massaker von Bourges nach Genf flüchtig geworden, von dort seine Angriffe auf die in Übung kommende französische Staatspraxis schleudert. Hotman versucht zu beweisen, dass sich aus dem freien Wahlrecht der Gallier und Franken das primäre Verfahren bei jeder Königswahl ergeben habe und dass dieses Wahlrecht durch elf Jahrhunderte hindurch über der Krone gestanden sei. Er steigert diese Gedanken zu dem Programm, dass das Nationalkonzil, die Generalversammlung des französischen Volkes, im Grunde allein rechtskräftige Gesetze geben könne und als letzte Instanz der Nation über dem König zu gelten habe. Wie stark sich diese Gedanken im Gegensatz zum katholischen Staatsabsolutismus in den Niederlanden auswirken, ersehen wir aus der Erklärung der dortigen selbstbewussten Stände wider den abgesetzten König von Spanien vom 26. Juli 1581: »Wenn daher der Fürst seine Schuldigkeit nicht tut, wenn er seine Untertanen sogar unterdrückt, ihre alten Freiheiten vernichtet und sie wie Sklaven behandelt, so ist er nicht mehr als Fürst, sondern als Tyrann zu betrachten. Als solchen kann das Land ihn nach Recht und Vernunft absetzen und einen anderen an seiner Stelle erwählen;«  – wir erinnern uns sogleich an den früher erwähnten Schlussabschnitt aus Calvins Institution – und der Calvinist Marnix St. Adelgonde hatte dazugefügt: »Keinem sterblichen Menschen hat Gott die absolute Gewalt verliehen, seinen eigenen Willen gegen alle Gesetze und alle Vernunft durchzusetzen.«

Aber wir kehren nach Frankreich zurück. Als während der Regierung Heinrichs III., des Nachfolgers Karls IX., das Königtum aus politischen Gründen den Protestanten gewogen ist, und erst recht, als nach der Ermordung Heinrichs III. der Bourbone Heinrich IV., das Kind einer protestantischen Familie, den Thron besteigt, setzen die Angriffe auf die Souveränität der Krone von neuem ein, dieses Mal mit katholischen Vorzeichen und von den Jesuiten gegen die unbegrenzte Macht halbherziger Katholiken auf dem Königsthron vorgetragen.

Dieses römische Gegenstück zu Hotmans Theorien über das französische Kronrecht ist von dem Jesuiten Lainez und später von Mariana geschaffen worden. Aus Anlaß des Tridentiner Konzils hatte der Jesuitengeneral Lainez eine Rede gehalten, deren Gedanken auf eine Lockerung der Staatsautorität hinauskamen. Das Volk, so führte er aus, ist der ursprüngliche Träger der Staatsautorität und kürt in freiem Willen den König der Nation. Wenn daher ein Herrscher von der allein selig machenden Kirche abfällt und sein Volk damit der ewigen Verdammnis zuführt, kann er jederzeit vom Volk abgesetzt werden.

Unter Berufung auf diese Gedanken Lainez’ wird schon unter Heinrich III. wegen seiner Annäherung an die Hugenotten um 1585 von den katholischen Kanzeln Frankreichs die Parole einer bewaffneten Empörung ausgegeben. Die Spannung erscheint dann durch das Verhalten des Königs auf die Spitze getrieben. Heinrich III. schließt ein Bündnis mit dem Protestanten Heinrich von Navarra. Jetzt stellen sich die Jesuiten an die Spitze der katholischen Partei und lassen durch einen zu diesem Zweck geschürten Aufstand in großem Maßstab den König aus Paris vertreiben. Der König wird durch den fanatisierten Dominikanermönch Clément ermordet, von dem erzählt wird, dass er zuvor seine Ordensbrüder in unbestimmten Ausdrücken nach der sittlichen Berechtigung einer derartigen Tat gefragt und die Auskunft erhalten habe: »Wenn der Mörder Heinrichs von Valois aus persönlichen Gründen und Rachedurst tötet, ist es eine schwere Sünde. Wenn er aber bei seiner Tat das Wohl des Landes und der Kirche im Auge hat, besteht kein Zweifel, dass er dadurch sein ewiges Seelenheil verdient hat.«

Nach dem Tod Heinrichs III. schreibt der spanische Jesuit Mariana, Erzieher des Sohnes Philipps II. (des zukünftigen Königs Philipps III. von Spanien) ein Traktat »Vom König und vom königlichen Amte«, in welchem die Ideen des Jesuitengenerals Lainez bis zur letzten Konsequenz fortgeführt werden, nämlich: »Wenn anstatt eines rechtschaffenen Fürsten ein Tyrann regiert und seine Macht mißbraucht, ist das Volk berechtigt, sich seiner, wenn nötig auch mit Gewalt, zu entledigen.« Unter diesem Gesichtspunkt wird zugleich das Attentat des Mönches Clément für lobenswert erklärt.

Als Antwort stellen die Pariser Rechtslehrer die Ermordung Heinrichs III. sowie die später folgenden Anschläge auf Heinrich IV. als eigentliches Werk des Jesuitenordens hin. Châtel, der nach dem Leben Heinrichs IV. getrachtet hatte, war zudem Zögling eines Jesuitenseminars gewesen. Die beiden Lehrer Châtels werden gehenkt, und in Paris wird eine Schandsäule gegen den Orden öffentlich aufgerichtet. Das Parlament verfügt die Ausweisung der Patres aus Paris und setzt die Austreibung der Jesuiten aus ganz Frankreich durch. Auf das Ganze gesehen erweist sich das mächtig ansteigende Nationalgefühl des Volkes, das im Königtum seine eigentliche Verkörperung sieht, stärker als alle Versuche von beiden Seiten, die Idee der absoluten Krongewalt zu untergraben. Es ist schließlich das Werk Richelieus, jede weitere Sabotierung der fürstlichen Autorität durch Calvinisten wie durch Jesuiten zu lähmen und zu unterbinden und so dem Absolutismus Ludwigs XIV. den Weg zu ebnen.

Die Betrachtung der direkten und indirekten Folgen der Bartholomäusnacht hat es weiter zu tun mit der höchst wirksamen inneren Veränderung, die sich im Anschluss an die Katastrophen der Religionskriege in der Geistesstruktur des französischen Volkes und in der kulturellen Einstellung des Landes vollzieht.

So unvollkommen jeder Schematismus sein mag, könnte man einmal zur Aufhellung dieser Zusammenhänge die Mentalität des französischen Volkstums darstellen als eine Ellipse mit zwei Brennpunkten, die einander ergänzen und sich im Gleichgewicht halten. Der eine Brennpunkt der Ellipse würde das rationale Denken des Franzosen sein. Der andere Brennpunkt würde heißen: Charme und Leichtlebigkeit bis zur Frivolität. Mit den Religionskriegen und der Bartholomäusnacht beginnt nun ein Prozess, der eine fortschreitende Abdrängung des protestantischen Einflusses vom Volksganzen bedeutet. Anders ausgedrückt: Das Evangelium, das ein halbes Jahrhundert lang ein nachhaltiges Korrektiv für die gesamt-nationale Eigenart und ihre Gefahren gewesen war, wirkt immer weniger als Salz der französischen Erde. Genau in demselben Verhältnis verändert sich die Funktion der beiden Brennpunkte in der Ellipse. Das rationale Denken, von wirklichem Christentum immer schwächer befruchtet, entartet rapide zur Weltanschauung des Rationalismus. Die Frivolität bemächtigt sich der Religion in der Form der Bigotterie.

Wir beginnen mit der ersten Veränderung. Das rationale Denken des Franzosen emanzipiert sich von den metaphysischen Gesichtspunkten und Bindungen des christlichen Glaubens, dessen Vertreter in beiden Parteien der Religionskriege an ihren Idealen jammervollen Verrat üben. Der Typus des religionslosen vernünftigen Lebenskünstlers tritt in Erscheinung.

Schon Rabelais, der aufsässige Geist der Renaissance in Frankreich, war mit den Worten gestorben: »Ich gehe, das große Vielleicht zu suchen, das im Krähennest haust«. Jetzt erhebt sich immer vernehmlicher in deutlichem und gewolltem Abstand von den Scheiterhaufen, Bürgerkriegen, Gräueln und Rechtsbrüchen der Zeit die kühl-verständige Stimme der Essays von Montaigne und verkündet ihre Weisheit dem französischen, ja, dem europäischen Menschen. An die Stelle der geistigen Hingabe des Einzelnen an Kirche und Religion tritt das individualistische Denken des weltklugen Moralphilosophen. Die Sittlichkeit wird von Gott abgespalten. Gott verblaßt, man geht an Ihm vorüber. Die Moral schrumpft zur Nützlichkeitserwägung zusammen – und zu einer Summe von Anleitungen, das Leben vernünftig zu formen.

Diese Linie wird im siebzehnten Jahrhundert von La Rochefoucauld fortgesetzt durch seine kalten Seelenanalysen, welche die Selbstsucht als Beweggrund aller und jeder Gedanken und Handlungen erweisen. Die Pensées von Pascal mit ihrem Versuch, die Selbsterkenntnis und das praktische Handeln wieder am Ewigen zu orientieren und zu erlösen, können die weitere Fortsetzung dieser Linie in der Richtung auf platteste Freigeisterei nicht aufhalten. So folgt im achtzehnten Jahrhundert das zynische Schrifttum Voltaires und die letzte Emanzipation des französischen Geistes vom christlichen Glauben in den Enzyklopädisten.

Die Umformung des anderen Brennpunkts der Ellipse, der französischen Leichtlebigkeit und Frivolität in Bigotterie hat ihr erstes Schulbeispiel an dem Nachfolger Karls IX., an Heinrich III. Schon unter Karl IX. hören wir eine höhnische Bemerkung über einen Ritter, dessen üble Liebesabenteuer zahlenmäßig den gottesdienstlichen Übungen am Hof genau die Waage halten.

Heinrich III. ist es als Erstem vorbehalten, diesen Typus bis zum Zerrbild den Augen seines Volkes vorzustellen. Zuerst Saisonkönig von Polen, tritt er 1573 als Zwanzigjähriger die Regierung an: ein Lebemann und ein Stutzer. Mit herrlichen Kleidern angetan, mit Edelsteinen und Perlen behängt, in weibische Unterwäsche gehüllt, in den Ohren auffällige Ringe tragend, reist er, von einem Schwarm aufgeputzter süßlicher junger Männer umgeben, durch das Land. Er ehelicht Luise von Lothringen, die ein Liebesverhältnis mit Franz von Luxemburg gehabt hatte, und schlägt dem Luxemburger erfolglos vor, sich dafür mit seiner eigenen Mätresse, Fräulein von Châteauneuf, zu vermählen. Einem Ritter, der ihm ein Lyoner Rassehündchen überläßt, gewährt er den großen Hausorden vom Heiligen Geist. Letzter Leichtsinn und Gebärde der Frömmigkeit haben sich bei ihm zu einer neuen Einheit gefunden. Im Gewitter verbirgt er sich zitternd in den Kellern des Louvre, weil ihn Tod und Hölle schrecken. In Avignon sieht man ihn als Glied einer Bußbruderschaft mit den Flagellanten durch die Straßen ziehen, barfüßig, barhäuptig, ein Kreuz in der Hand und das eigene Fleisch geißelnd. Durch das Stöhnen der Büßer hindurch vernimmt man Gelächter und Witzworte. Bevor er den gefährlichen Heinrich von Guise, der als sein Gast im Schloss Blois weilt, heimtückisch ermorden lässt, trägt er seinem Hauskaplan auf, zu Gunsten »eines Unternehmens für das Glück Frankreichs« einen Gottesdienst halten zu lassen.

Von der Wandlung des leichtsinnigen Ludwigs XIV. in den bigotten Ludwig XIV. wird später die Rede sein. Eine letzte Vollendung findet der Typus der frivolen Bigotterie nach ihm in dem Ekel erregenden Bild Ludwigs XV., der sich unschuldige Kinder fangen lässt, mit ihnen Andacht hält und betet, um sie dann zu missbrauchen.  

 

KAPITEL V

ZWISCHENSPIEL: HEINRICH IV.

»Ma fidélité peult dire encore ung mot, Sire: Dieu veult estre escouté quand il parle.«
»In Treue darf ich noch ein Wort hinzufügen, Sire: Wenn Gott spricht, will Er, dass man auf Ihn höre!«
(Philippe du Plessis-Mornay in einem Brief an Heinrich IV. nach dem Attentat von Châtel).


»Le Roi est mort, vive le Roi!« Heinrich III.
, der allerchristlichste König von Frankreich, ist tot; ein katholischer Fanatiker hat ihn ermordet. Die Führer der katholischen Liga, Heinrich von Guise und sein Bruder, der Kardinal, sind tot; ein bigotter König hat sie ermordet. Die intrigante Königin-Mutter liegt in einem vulgären Grab am Schloss Blois begraben – »wie eine tote Ziege geachtet«; sie, die Landesmutter, von der man im Volk sagte, dass die Hunde der Isebel ihr Fleisch nicht anrühren würden. Der letzte Prinz von Valois, Franz, ist tot; das Leiden seines Bruders Karl, die Schwindsucht, hat ihn weggerafft. Margarete, die letzte Prinzessin von Valois, ist, mit der Heiligen Schrift zu reden, lebendig tot; nach kurzer Ehe mit Heinrich von Navarra ist sie zur Dirne von jedermann herabgesunken: »Margot en haut – Margot en bas«, singt von ihr der Pöbel auf der Gasse.

Der neue König, Heinrich IV. von Bourbon, der wunderlicherweise durch das Blut Ludwigs des Heiligen von eisgrauen Zeiten mit dem verrotteten Geschlecht der Valois’ verbunden war und der mehr Franzose ist als sie alle, mit seinem klaren rationalen Kopf und seinem liebenswürdigen frivolen Herzen, tritt in unser Gesichtsfeld. Man könnte seine Regierung in das Kapitel »Gegenreformation« einbeziehen, im Blick auf die erneute Tätigkeit der Jesuiten und das Aufblühen der katholischen Liebestätigkeit. Aber seine Ära ist so deutlich ein Bruch mit den Protestantenverfolgungen der Vergangenheit und zugleich so deutlich ein verzögerndes Moment gegenüber der heraufziehenden letzten Entscheidung zwischen Ideologie des Königtums und Reich Gottes, dass sie besser gesondert betrachtet wird.

Die Mutter Heinrichs, Jeanne d’Albret, lebt als eine der herrlichsten Erscheinungen im Gedächtnis der evangelischen Protestanten Frankreichs.
Während ihr Gemahl König Anton von Navarra sich dem Evangelium rasch öffnet und dann zum Schmerz Calvins sich als unbeständig und untreu erweist, hält seine später gewonnene Gemahlin in unverbrüchlicher Treue und mit unbeugsamem Willen die Fahne des Evangeliums in ihrem kleinen Ländchen hoch, »n’ayant de femme que le sexe, l’âme entière ès choses viriles, l’esprit puissant aux grandes affaires, le cœur invincible ès adversités« – »von einer Frau hatte sie nur das Geschlecht, ihre ganze Seele gehörte Männergeschäften, ihr mächtiger Geist großen Dingen, ihr Herz war unbesiegbar in Widrigkeiten« –, wie d’Aubigné in seiner »Histoire universelle« schreibt. Als die Führer des Protestantismus ihr nahe legen, die Einwilligung zur Vermählung Heinrichs mit Margarete von Valois zu geben, antwortet sie: »Wenn mein Gewissen salviert ist, gibt es keine Bedingung, die ich nicht anzunehmen bereit wäre, bei dem Gedanken, damit dem König zu gefallen und der Königin, und um die Ruhe des Staates zu sichern, für welche ich das Liebste in der Welt opfern würde, ja mein Leben selbst … aber ich würde lieber auf das Lebensniveau des geringsten Fräuleins in Frankreich hinabsteigen, als meine Seele und die Seele meines Sohnes der Zukunft meiner Familie zu opfern.« Endlich erreichen die inständigen Bitten ihrer treuesten Freunde und die Versprechungen des Königs, dass sie ihre Zustimmung zur Hochzeit gibt. Sie begibt sich von ihrem Schloss in Nérac nach dem Schloss Blois, um dort, von den Künsten Katharinas und Karls umgarnt, in Ängste der Seele und Krankheit des Leibes zu fallen und bald darauf, wahrscheinlich infolge von Gift, kurz vor der Vermählung ihres Sohnes, in Paris zu sterben.

Heinrich IV. ist der erste König Frankreichs, von dem jeder Deutsche etwas weiß, wenn es auch nur ein einziges Wort ist: »Paris ist wohl eine Messe wert« Dies ist die fixierte Übereinkunft über das Problem dieses Lebens und seine Lösung durch den Träger dieses Namens. Es lohnt vielleicht, bei dieser Gelegenheit ein Wort über konventionelles Denken zu sagen, das sich immer wieder und wieder einer verständnisvollen Geschichtsdarstellung störend in den Weg stellt. Konventionelle Geschichtsauffassung könnte man mit Friedrich Nietzsche zunächst nennen eine »historische Sammlung der Effekte-an-sich«. Man schaut interessierende Geschichte, wie ein Höhenwanderer über den Talnebeln von den zusammenhängenden Bergketten nur einzelne herausragende Gipfel erspäht und als das Wesen des Gebirges im Gedächtnis behält. Dann werden im popularisierenden Geschichtsunterricht die der objektiven Geschichte entnommenen Höhepunkte vereinfacht, schematisch vergröbert und dem Durchschnittsverstand angepasst. Eine so geartete Geschichtskonvention schafft zwar Annäherungswerte an die vergangene Wirklichkeit, sie bedeutet aber einen Verzicht auf sorgfältig abwägendes Urteil, eine Einbuße an selbstständigem Nachdenken und an feinem Gefühl für die Nuance.  . . .

Dementsprechend hat ein jedes Zeitalter seinen besonderen Schlüssel zum Charakter Heinrichs IV., des Mannes, dem »Paris eine Messe wert war« – des Mannes, der im Sattel des Protestantismus, danach aber auch im Sattel des Katholizismus zu reiten wusste. Das 18. Jahrhundert der Aufklärung preist ihn als Bahnbrecher der Freigeisterei, Voltaire beschreibt ihn in seiner Dichtung »Über den Tod des Dauphin« als den Monarchen, »dem gleichermaßen Rom und Genf im tiefsten Busen Lachen weckt«.   . . .

Die Übereinkunft unserer eigenen Zeit über das Wort Heinrichs IV.: »Paris ist wohl eine Messe wert!« ist der zusammenfassende Gedanke, dass Heinrich, das Haupt der Protestanten, zur Gewinnung der Hauptstadt und Erringung der Macht seinen evangelischen Glauben dem Vorteil opferte – ein klassisches Exempel des kirchlichen Opportunismus, der Typus eines protestantischen Verräters an der einmal erkannten und angeeigneten evangelischen Wahrheit.

Heinrich IV. war alles das und war es nicht. Heinrich von Navarra war nicht wirklich Haupt und noch weniger Exponent des französischen Protestantismus, so gewiss seine Mutter ihres Landes treueste geistliche Mutter gewesen war. Sein Leben wusste nichts von dem Heiligungsgehorsam der Calvinisten. Von seiner Jugend an bis in sein Todesjahr war es eine hässliche Folge sittlicher Hemmungslosigkeiten; nur der schwankenden Haltung der protestantischen Synoden seiner Zeit hatte er es zu danken, dass er nicht ernster in Kirchenzucht genommen und aus den Reihen der Gemeindeglieder gestrichen wurde. Von der Frömmigkeit der Mutter stehen nur einzelne Bruchstücke in seinem inneren Leben ungeordnet herum, die er für schwere Tage gebraucht. Vor der Schlacht hält er Andachten und Gebete und weiß auch hinterher von Danksagung und dem Psalmenlobpreis Gottes, der seine Jugend umklungen hatte. Auch erinnert er sich der einst gelernten Bibelverse, die es gegen die katholische Irrlehre anzuführen gilt. Im Übrigen ist er Hugenotte als Glied der protestantischen Partei. Einst hatte ihn seine Mutter geradezu mit der Kraft eines Mannes auf die protestantische Linie eingestellt, und der Jüngling hatte damals im Béarn seiner Mutter und den versammelten hugenottischen Notabeln geschworen, »bei meiner Seele, Ehre und Leben niemals die Sache des Evangeliums preiszugeben«. Aber schon angesichts der blutenden Leiche Heinrichs III. versprach er, sich wenigstens über den katholischen Glauben instruieren zu lassen. Wiederum beteuerte er vor einer evangelischen Pfarrerversammlung in Saumur: »Wenn man Ihnen sagt, dass ich mich von der wahren Religion abgewendet habe, dann glauben Sie es nicht. Ich werde in ihr sterben!«

Drei Monate später schwört er ab. Was er abschwört und verlässt, ist freilich nicht evangelischer Heilsstand und Heilsglaube, sondern im Grunde die Zugehörigkeit zur protestantischen Partei, deren Glaubenssätze er sich in einigen Punkten zu Eigen gemacht hat. Der katholische Aberglaube ist ihm widerwärtig, als er wider besseres Wissen seine Zustimmung zur katholischen Lehre unterzeichnet. Er opfert mit seiner Unterschrift kein protestantisches Gewissen, das sein Leben von innen heraus bestimmt hätte, denn man kann nicht opfern, was man nicht hat. . . . Er handelt erst recht als ein Politiker, der bewusst auf die Karte der Nützlichkeit setzt, als ein einfallsreicher Schauspieler, der im zweiten Teil des Stücks eine andere Rolle übernimmt und sie noch besser und überzeugender darstellt als seine Rolle im ersten Akt.

Äußerlich betrachtet steht die Abschwörung Heinrichs IV. in Beziehung zu einem Aufstand in der Hauptstadt. Paris ist von Rebellen besetzt, die sogar den Spaniern erlauben, dort eine Garnison zu halten. Philipp II. von Spanien hat nicht wenig Lust, seine Tochter Isabella zur Königin von Frankreich auszurufen. Die noch bestehenden Reste der katholischen Liga spalten sich vor diesem bedenklichen Anspruch des Auslands. Im selben Augenblick teilt Heinrich dem Erzbischof von Bourges mit, dass er katholisch werden wolle, um das Land und die Dynastie zu retten. Das geschieht im Jahre 1594.

Vor dem Frontwechsel Heinrichs steht wie ein treuer Erzengel mit flammendem Schwert sein alter Freund du Plessis-Mornay, neben Agrippa d’Aubigné die schönste und klarste Erscheinung aus der Welt des französischen Protestantismus um diese Jahrhundertwende. Genial begabt, vielsprachig, hatte er Mathematik und Jurisprudenz studiert, ganz Europa bereist, Deutschland gesehen, Venedig besucht und in England festen Fuß gefaßt, wo er dann Gesandter werden sollte. Nach der Pariser Bluthochzeit sträubt er sich, die Waffen gegen den König zu ergreifen. Seinem Freund Heinrich von Navarra sagt er unverhohlen seine Meinung über sein ungezügeltes Leben und »den schlechten Ruf, den diese Dinge Ihnen einbringen«. Die Beanstandung seiner »Abhandlung über die Eucharistie«, in der er Tausende von Kirchenväter-Worten gegen die Transsubstantiation gesammelt hatte, durch den König lehnt er mit dem klassischen Wort ab: »Ich habe meine Dienste jederzeit so geordnet: zuerst Dienst Gottes, dann Dienst meines Königs, dann Dienst an meinen Freunden, und ich kann an dieser Reihenfolge mit gutem Gewissen nichts ändern.«

Als Heinrich im Jahre 1588 zum ersten Mal die Möglichkeit erwägt, zur Sicherung seiner Nachfolge dem Glauben abzuschwören, leistet du Plessis-Mornay schroffen Widerstand und spricht ihm von dem Argwohn, der unter den Protestanten gegen ihn das Haupt erhebt. »Wenn Ihre Majestät nicht diesen Verdacht beheben«, sagt er ihm ins Gesicht, »werden Ihre Majestät überaus erstaunt sein, sich eines Tages allein gelassen zu sehen.«

Bei einem Versuch des Königs, das störrische Paris zu nehmen, hört Heinrich vor seiner Tür Schritte und ruft: »Wer ist da?« Als Mornay eintritt, sagt er ihm brüsk: »Sie sehen die Auflösung im Heer. Wird mich Gott verlassen?« Mornay antwortet als Hugenotte: »Wir wollen, Sire, lieber daran denken, ob wir Ihn nicht ganz und gar verlassen haben, an all das anstößige und ausschweifende Leben, das wir während dieser Belagerung geführt haben.« Worauf der König in sich gekehrt den Psalter zur Hand nimmt, den 91. Psalm liest, gute Vorsätze faßt und zu beten beginnt.

Als der Abfall Heinrichs in greifbare Nähe rückt, kann Mornay nicht glauben, dass dergleichen geschehen könne. Der König sagt ihm noch in einer letzten Auseinandersetzung über seine Entscheidung: »Ich bin genötigt gewesen, mich für meine Untertanen zu opfern, auch um den Reformierten besser Ruhe schaffen zu können.« Mornay antwortet: »Es gäbe bessere Mittel dazu, wenn es Eurer Majestät gefallen hätte, sie zu gebrauchen. Uns wäre es köstlich gewesen, unser Leben für Ihr Heil zu opfern.«

Unterdessen gehen die letzten häßlichen Zänkereien des Königs mit der katholischen Priesterschaft über seine Abschwörung ihren Gang. Heinrich marktet über den Wortlaut seines Widerrufs, er besteht auf Abschwächung oder Streichung des Abschnitts über Anerkennung des Fegefeuers, jedoch unterzeichnet er schließlich auch den Satz: »Ich bekenne, dass es ein Fegefeuer gibt, wo die dortselbst gehaltenen Seelen durch die guten Werke der Gläubigen Linderung finden können.« So erwirbt sich Heinrich IV. aus Gründen der Staatsräson Paris und die Anerkennung der Katholiken Frankreichs.

Gründe der Räson und Mittel der Räson sind der Weg dieses klaren Kopfes zur Erreichung aller seiner Ziele. Er sucht die katholische Kirche zu überwinden und die Dolche der jesuitischen Agenten abzustumpfen, indem er Rom Vorrechte über seine Seele gewährt. Er überwindet seine politischen Feinde, indem er ihnen Vorrechte über das Vermögen des Landes gibt. Statt seine Feinde zu vergewaltigen, besticht er sie in angenehmer Form.

Statt neue Truppen gegen die katholische Liga anzuwerben, gebraucht er klüglich die verfügbaren Summen, um seinen Feinden die Unterwerfung zu erleichtern. Der Gouverneur von Paris, Brissac, wird bewogen, die Tore von Paris zu öffnen, indem ihm Heinrich eine sofortige Zahlung von 200.000 Talern, eine Pension von 20.000 Livres und das Gouvernement zweier Städte garantiert. Der Herzog von Lothringen, Karl von Guise, kann dem Anerbieten von 900.000 Talern nicht widerstehen; der liguistische Generalissimus Charles de Mayenne unterliegt demselben Entgegenkommen des liebenswürdigen Königs. Die neue Methode der rationalen Unterwerfung in ihrer Anwendung auf das ganze Land kosten Heinrich mehr als 30 Millionen Livres an Handgeldern und Entschädigungen, eine Ausgabe, die sich auf die Dauer reichlich verzinst.
Später, nach seinem Übertritt zum Katholizismus, wird der König sich nicht entblöden, schwache protestantische Pfarrer durch reichliche Geldmittel zur Aufgabe ihres evangelischen Glaubens zu veranlassen oder aber sie in den Dienst der königlichen Kirchenspionage zu stellen. Die leidige Tatsache, dass die »infidélité monnayée« auch protestantische Synoden innerlich zu schwächen beginnt, erfüllt den unbeugsamen Agrippa d’Aubigné mit Ekel und Wut: »Musste er nicht« – wie er von sich selbst schreibt – »bei der Synodalversammlung von Thouars von einigen Pastoren der neuen Sorte hören, dass sie die Handlungsweise gewisser untreuer Statthalter mit den Worten guthießen: ›Sie sind weit ausschauend und halten auf gutes Einvernehmen‹«. Der althugenottische Radikalismus d’Aubignés zieht einer weiteren Mitarbeit auf sumpfig gewordenem Gelände den jähen Bruch vor: »Als Antwort auf diese neue Farce trat d’Aubigné (aus der kirchlichen Vertretung) aus der Bemerkung, er wäre mit den öffentlichen Kirchenversammlungen fertig, die zu feilen Dirnen geworden seien.«

Die andauernde ungeheure Spannung im Land, die sich aus den realen Kräften eines verbitterten und im Stich gelassenen Protestantismus ergibt, behebt Heinrich IV. durch vermittelnde Gewährung zahlreicher Teilvorrechte auf dem Kompromisswege eines Toleranzedikts, durch das zugleich die anklagenden Stimmen seines Gewissens beschwichtigt werden sollen. Das geschieht durch das Edikt von Nantes aus dem Jahr 1598. Den nicht enden wollenden Religionskriegen, die dem vergangenen Geschlecht fast eine Million Menschen gekostet hatten, soll jetzt ein Ende gemacht sein, und der Souverän lässt die Urkunde mit dem Siegel aus grünem Wachs versehen, das nur einem unwiderruflichen und ewig gültigen Königsgesetz angeheftet wurde. Alle Unklarheiten sollen beseitigt werden, die Evangelischen sollen eine erträgliche Existenz in Kultus und Kirche erhalten, unbeschadet der wichtigsten Privilegien und des Erstgeburtsrechts der katholischen Kirche.

Grundsätzlich betrachtet, wird durch das Edikt von Nantes zum ersten Mal in der europäischen Geschichte, lange vor den Ideen der Aufklärung, das Prinzip der Toleranz in Sachen der Religion ausgesprochen, obzwar weniger aus humanitären, als vielmehr aus Gründen politischer Nützlichkeit; Länder wie Spanien und Italien haben in ihrer Geschichte dergleichen niemals gesehen. In Deutschland folgt der etwa entsprechende Westfälische Friede erst genau 50 Jahre später.

Das Edikt von Nantes verfügt die Wiederherstellung des katholischen Kultus, wo er durch Übermacht oder Übergriffe der Protestanten aufgehoben war. Den Protestanten gibt es Kultusfreiheit dort, wo der evangelische Gottesdienst 1596/97 bereits ausgeübt wurde, weiter in jedem Kreis an einem bestimmten Ort. Ausgenommen sind Paris und der Hof des Königs, sowie alle bischöflichen und erzbischöflichen Städte. Dort dürfen die Evangelischen nur in einer Entfernung von fünf Meilen von der Stadtgrenze zusammenkommen. Da es sich aber in Paris als unmöglich erweist, die Massen der Gottesdienstbesucher des Sonntags auf fünf Meilen Entfernung hinauszubringen, gestattet Heinrich den Bau der später berühmten Kirche von Charenton, die nur drei Meilen von der Hauptstadt abgelegen ist. Auf die Beschwerden der Katholiken antwortet er als echter Sohn der Gascogne: »Dann muss man eben jetzt von Paris bis Charenton fünf Meilen rechnen!«

Das Edikt verfügt weiter die Ungültigmachung erzwungener Abschwörungen und die Freilassung protestantischer Galeerensträflinge. Die Protestanten erhalten Gleichheit in Rechtsprechung und Ämtern mit den Katholiken; paritätische Parlamente und Gerichtshöfe werden gegründet. Einhundert feste Plätze werden dem protestantischen Adel für die Dauer von acht Jahren gewährt – eine verhältnismäßige Anerkennung des Protestantismus als Macht im Staat, aus der sich bald der erste Gegenschlag des Staates ergibt.

Nach dem Edikt von Nantes, das sich sehr langsam durchsetzt, das von den Parlamentsgerichten in der Provinz nur zögernd anerkannt wird und dessen Durchführung viel zu wünschen übrig lässt, verbleiben den Evangelischen Frankreichs etwa 800 Kirchen und 62 Kreissynoden. Diese günstige Bilanz und der protestantenfreundliche Ton des Edikts verstärken die alten Bedenken der Katholiken gegen Heinrich: Man glaubt nicht recht an die Echtheit seiner Rückkehr zur katholischen Religion; noch zwölf Jahre nach seinem Widerruf findet sich in einem katholischen Formular eine Fürbitte für ihn als verlorenen Sohn der Kirche.

Die Gesamtlage der Evangelischen erscheint nach dem Edikt von Nantes konsolidiert. Das große Zittern, das während der Verfolgungswellen immer wieder durch die Gemeinden ging, ist einem Gefühl der Gesichertheit gewichen. Die Verstörungen der Bürgerkriege werden bald vergessen, und ein ruhiger Weiteraufbau der Kirche kann sich anbahnen. Die Bibel in guten Übersetzungen ist jedermann zugänglich, die Psalmen sind Gemeingut. Zur protestantischen Sittlichkeit kann sich protestantische Sitte gesellen, die das Leben des Einzelnen umfasst, das Familienleben durchwirkt und dem Leben der Gemeinde einen einheitlichen, ruhenden Typus verleiht. Bewegung zeigt sich vornehmlich an der Peripherie des christlichen Glaubens, in gelegentlichen öffentlichen Auseinandersetzungen und Selbstbehauptungskämpfen leichterer Art, die wieder durchwachsen sind mit Interessenfragen des Standes oder des Berufs.

Alles das ist nicht jetzt erst geschaffen, sondern eine Auswirkung vergangener geistlicher Hoch-Zeit. Grundlegend für das neue christliche Leben in der Heiligung und im Gehorsam waren die Erweckungszeiten bis etwa 1562 gewesen. Aus diesem Jahr berichtet uns Nicolas Pithou aus Troyes: »Man gewahrte in der Jugend, die durch die Predigt des Wortes Gottes berührt wurde und die vorher schlimm entartet gewesen war, eine derartige plötzliche und seltsame Veränderung, dass die Katholiken selbst sich vor Verwunderung nicht zu lassen wussten. Denn diese jungen Leute, die bisher ihren Leidenschaften gelebt hatten … und deren Leben in übermäßigem Essen und Trinken und Hazardspielen bestanden hatte … ließen ihr bisheriges Leben hinter sich und verabscheuten es, seit sie Glieder einer (protestantischen)¬ Kirche geworden waren, indem sie sich mit aller Freudigkeit in die kirchliche Zucht einfügten und sich ihr unterwarfen.« Was Gottes Geist in diesen Zeiten durch einen einzigen Prediger vermochte, lesen wir bei Palissy in seinem Bericht über die seelsorgerliche Frucht des Pastors Claude Boissière: »… man hörte kaum noch etwas von Zoten oder Totschlag. Die Zahl der Prozesse wurde immer geringer, denn sobald sich zwei gläubige Männer in Prozessstreitigkeiten befanden, gelang es, Frieden zwischen ihnen zu stiften … Es war den Gastwirten verboten, Spielsäle zu unterhalten oder den Leuten mit eigenem Heim Essen und Trinken zu verabreichen, damit unordentliche Männer wieder in ihre Familien zurückkehrten. In jenen Tagen konnte man am Sonntag das schöne Schauspiel sehen, wie Innungsgenossen in den Wiesen, Wäldern oder sonst wo in der schönen Landschaft lustwandelten, Psalmen, Choräle und geistliche Volkslieder singend, lesend und einander belehrend. Man konnte auch gewahren, wie die Töchter und Jungfrauen in Gruppen in den Gärten und anderswo zusammensaßen und mit Freuden edlen Gesang pflegten.«

Dem geistlichen Frühling der Erweckungszeit ist nun nach den Stürmen der Religionskriege der Sommer des evangelischen Lebens gefolgt. Die, welche einst von den geistesmächtigen Zeugnissen sterbender Märtyrer berührt als Jünglinge und kaum erblühte Jungfrauen auf den Fluren inbrünstig beteten und sangen, sind nun gereifte Männer und Frauen geworden, die den Christenstand ihrer Kinder und Kindeskinder in verantwortlichen Händen tragen sollen. Wir sehen allenthalben im reformierten Ausland, dass der Aufbau der christlichen Familie als Sonderthema des Evangeliums überaus ernst genommen wird, von dem Ehebuch des Deutsch-Schweizers Bullinger 1541 ab; im puritanischen England in Daniel Rogers’ Schrift »Matrimonial Honour«, in Gouges »Domestical Duties« und Griffiths »Bethel or Form for Families« in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. So sind auch die protestantischen Familienhäupter zur Zeit Heinrichs IV. von ihrer Jugend an gewiesen, in der christlichen Ehe die Keimzelle der Gemeinde und in der jungen christlichen Mutter die Trägerin der Sitte zu sehen. Also waren sie von Baduel gelehrt worden: »Die Ehe ist eine besondere Gabe der göttlichen Güte. Unter die Augen der jungen Gattin darf nur kommen, was ehrbar und keusch ist. Sie soll vielmehr tugendhaft als reich sein. Im Übrigen ist Reichtum, wenn er mit Schamhaftigkeit vereint ist, nicht zu verachten, denn Reichtum garantiert die Unabhängigkeit.« (Dieser letztere, mehr kluge als geistliche Gedanke findet sich nicht von ungefähr auch bei Rogers, welcher die Verächter aller Mitgift »arme Grünschnäbel« nennt.)
»Die erwählte Gattin«, fährt Baduel fort, »hat fleißig in der Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten zu sein, ihrem Gatten treu ergeben, in welchem sie zu gleicher Zeit einen ›supérieur‹ und einen ihr gleichen Menschen sehen wird; einfach in ihrer Kleidung, fromm und dem Gebet zugetan. Jeden Tag wird sie mit ihrem Gemahl gemeinsam Gott anrufen.«

Ansätze zu eigentlicher christlicher Erziehungslehre finden sich erst erheblich später, aber dieser einstweilige Mangel an Theorie wird durch die Vorbilder an praktischer Charakterschulung mehr als wettgemacht. Dazu liefert uns die Kindheit Agrippa d’Aubignés eine Miniatüre von besonderer Schönheit und feinem Charme:
Matthieu Béroalde in Paris, ein Präzeptor begabter Knaben aus reformierten Familien der Provinz, muss mit seinen Zöglingen in der Richtung auf Orléans fliehen. Dem kleinen Agrippa d’Aubigné, damals ein Kind von 10 Jahren, kommen beim Abschied von seinen geliebten Büchern die Tränen. Béroalde nimmt ihn bei der Hand und sagt zu ihm: »Mein Freund, fühlst du nicht, was die Stunde bedeutet, in der du in deinem jugendlichen Alter schon etwas für Den verlieren kannst, der dir alles gegeben hat?«

Beim Flecken Courances umzingelt eine Abteilung Reiter die Flüchtlinge und nimmt sie gefangen. Der Knabe Agrippa muss sehen, dass man ihm seinen kleinen Degen fortnimmt, »seinen schönen silberverzierten kleinen Degen«, auf den er so stolz war! Man wirft das Kind in ein Gefängnis. Dann, weil das Gewand aus weißem Satin es als Spross einer vornehmen Familie kennzeichnet, zieht man es wieder heraus, um sich an seinem Entsetzen zu weiden, indem man es mit dem Henker und mit dem Scheiterhaufen bedroht. Der Knabe antwortet ungestüm, »dass es ihm vor der Messe mehr graue als vor dem Feuer«. Der berüchtigte Inquisitor Démocharès verhört ihn unter vier Augen und gerät bei jeder Antwort des Kinds mehr in Zorn. Achon, der Kommandant, lässt nun einige Geiger kommen und fordert den kleinen Verurteilten auf, einen lustigen Volkstanz (une gaillarde) zum Besten zu geben, »was er so allerliebst machte, dass ihn alle bewunderten«. Démocharès, darüber bass erzürnt, lässt sogleich die Knaben ins Verlies zurückbringen. Béroalde rüstet jetzt seine jungen Pflegebefohlenen zum Todesgang. Der Henker ist bereits da: Morgen soll es sein. So sind sie verloren? Nein, sie werden gerettet. Ihr Kerkermeister, ein Edelmann, der vordem Mönch gewesen war und der von Mitleid und Bewunderung bewegt ist, stellt sich ihnen zur Verfügung, um ihnen zu helfen, »weil er das Kind so lieb gewonnen hatte«. Er besticht die Wachabteilung, nimmt den kleinen Jungen an die Hand und verhilft der ganzen Schar zum Entweichen durch Scheunen und über Getreidefelder, bis hin nach Montargis.

Während die Phase des christlichen Glaubens sich dergestalt bei den Protestanten vom Stadium der Erweckung in das Stadium des Aufbaus und Ausbaus verschiebt, steht zur Zeit Heinrichs IV. die katholische Kirche im Stadium einer Neuerweckung. In Rom regieren Päpste von einwandfreiem, ja strengem Lebenswandel. Das sittliche Niveau der ewigen Stadt hebt sich, eine ungeahnte Kirchenzucht wird eingeführt. In Frankreich erleben die Dominikaner, die Franziskaner, die Benediktiner eine Wiedergeburt ihres alten Ernstes und merzen die schädlichsten Bestandteile ihrer Kongregationen aus. Ihnen folgen die weiblichen Orden bis zu einem derartigen Übermaß von Eifer und Kasteiungen, dass von Rom her Einhalt geboten werden muss. Die Ursulinerinnen fügen zu den drei Ordensgelübden Armut, Keuschheit und Gehorsam als viertes die Verpflichtung zum Unterricht junger Mädchen hinzu und widmen sich diesem Werk mit beispiellosem Erfolg. Romillon, ein protestantischer Konvertit, stiftet die »Väter der christlichen Lehre« für den Elementarunterricht der Jugend im katholischen Glauben. Der führende Jesuitenprediger in Paris stellt durch seine Leistungen oratorisch die evangelischen Pastoren des Landes in den Schatten. Vinzenz von Paul gründet den Orden barmherziger Schwestern und die Congregatio missionis, die den kleinen Leuten die katholische Botschaft vom Heil bringt. Diese Neuschöpfungen fallen teilweise bereits in die Regierungszeit Ludwigs XIII. hinein.

So entfalten die früheren protestantischen Glaubensgenossen Heinrichs IV. die Anstöße der Heiligen Schrift und des Geistes Gottes in den ihnen befohlenen Kreisen, so besinnen sich die ernstesten Glieder der katholischen Kirche auf Gottes Ruf zum Dienst der Barmherzigkeit und des Glaubens. Unterdessen hat sich der Lebensstern dessen, der aus der einen Konfession in die andere hinübergewechselt war, Heinrichs IV., immer rascher gesenkt und ist in trübem Dunst und allerlei Schande untergegangen. Um die Wende des Jahrhunderts wird es deutlich, dass der König sich der Gewissensweite der jesuitischen Moral immer mehr nähert und den letzten Rest persönlicher Frömmigkeit durch allgenugsame, billige kirchliche Zeremonien ersetzt. Gleichzeitig damit sinkt das Niveau seines sittlichen Lebens noch weiter abwärts. Während er als halber Knabe in Navarra nur den Bauernmädchen nachgestellt hatte, wird sein Leben jetzt auch in der Öffentlichkeit völlig schamlos. Seine Feinde zählen ihm 56 Mätressen nach; zu seinen Geliebten gehören unter anderen auch die Äbtissin von Montmartre und die Oberin des Klosters von Poissy, die von ihm Kinder zur Welt bringen. Seine vornehmste Mätresse, Gabrielle d’Estrées, steht in ständigem Machtkampf mit seiner zweiten Gemahlin Maria von Medici. Als Gabrielle 1599 nach einer Totgeburt stirbt, wird sie nach einigen Wochen durch die kalt-raffinierte Henriette d’Entragues ersetzt, deren erstes Entgegenkommen der Bestechungen gewohnte König mit 100.000 Talern bezahlt, vielmehr bezahlen muss. Selbst der Papst spricht damals dem jungen Richelieu, der sich vorübergehend in Rom aufhält, sein Bedenken aus, ob ein derartig hemmungsloser Mann ein zuverlässiger Sohn der Kirche genannt werden dürfe. Den letzten Tiefpunkt erreicht der königliche Renegat in einer Ehebruchsaffäre, die ihn in ganz Europa lächerlich und verächtlich macht und seinen letzten Lebensjahren eine besonders hässliche Note gibt. Die von ihm begehrte schöne fünfzehnjährige Tochter des alten Montmorency verheiratet er pro forma an den schiefgewachsenen Prinzen von Condé. Als er jedoch selbst die Hand an die junge Frau legen will, entzieht sich ihm das junge Paar durch Flucht ins Ausland, zunächst nach Flandern, nach Brüssel und dann, um vor Nachstellungen sicherer zu sein, nach Mailand. Der König versucht ohne Erfolg, den alten Vater zu veranlassen, dass er seine Tochter kraft väterlicher Autorität nach Frankreich zurückbeordere. Der alte Edelmann antwortet, es werde dergleichen nur geschehen, wenn das junge Paar geschieden oder wenn seine Tochter sonst frei wäre.

Zeitlich parallel mit der Angelegenheit Montmorency betreibt Heinrich IV. ein politisches Unternehmen allergrößten Formats, das gegen Spanien und gegen das Haus Habsburg gerichtet ist und im Anschluss an den jülisch-clevischen Erbfolgestreit Frankreich mit England, den Niederlanden, Skandinavien, den deutschen Protestanten, den ungarischen Protestanten und den Schweizern zusammenfassen soll. Heinrich ist nun 54 Jahre alt, abgelebt und vorzeitig gealtert. Beängstigungen und Verfolgungsideen treiben ihn um. Vielleicht auch, dass die alte düstere Prophezeiung Agrippa d’Aubignés wie ein schwarzer Vogel Kreise um sein Haupt zieht. Das war vor etwa 15 Jahren gewesen: Der Dolch des Jesuitenschülers Châtel hatte des Königs Kehle verfehlt, aber seine Lippen zerrissen. Und dies war des gewaltigen Agrippa Orakelspruch gewesen in Gegenwart der königlichen Geliebten Gabrielle d’Estrées: »Sire, Sie haben bisher Gott mit den Lippen verleugnet, und Er hat Ihre Lippen getroffen. Wenn Sie Ihn mit dem Herzen verleugnen, wird Er Ihr Herz zu finden wissen.«

Jetzt hört man den schwermütig umhergehenden König sagen, er fühle einen Dolch zwischen seinen Rippen. Merkwürdige Stimmen werden laut; die Astrologen munkeln: »Er wird im Wagen sterben!« Aber Wagen und Karossen und Öffentlichkeit der königlichen Person gehören nun einmal zu einer großen Festlichkeit, wie es die bevorstehende Nachkrönung seiner Gemahlin Maria ist. Der König sagt: »Sonntag wird meine Frau einziehen, Montag wird meine Tochter sich vermählen, Dienstag ist Festmahl, und Mittwoch reiten wir in den Krieg.« In diesen Tagen, am 14. Mai 1610, trifft ihn der Dolchstoß eines überspannten Fanatikers ins Herz, als die Staatskarosse, die in einer engen Straße zwischen anderen Wagen stecken geblieben ist, einen Augenblick anhält. Die Gründe der Tat, soweit sie das Gericht durch das Verhör des Mörders herausfinden kann, werden geheim gehalten oder vertuscht. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass allein zwischen 1590 und 1607 von den Jesuiten zwölf Abhandlungen über erlaubte Gewalttat gegen anstößige Monarchen geschrieben worden waren.
Die Beurteilung des Mannes, den manche als den bedeutendsten französischen König bezeichnen, des Mannes, der durch sein Toleranzedikt die Vernichtung der evangelischen Kirche um 100 Jahre hinausschob, und die Einwertung seiner Regierung schwankt auch in unseren Tagen noch stark. Der Biograf Richelieus, Carl Burckhardt, feiert Heinrich als einen wahrhaft großen Mann und Politiker. Charles Seignobos in seiner grämlichen »Histoire sincère de la Nation Française« beschränkt Heinrichs Verdienste auf die verhältnismäßige Wiederherstellung des königlichen Prestiges, spricht ihm aber jeden Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung seines Volkes durchaus ab. Vermutlich beruht die Wertschätzung dieses Herrschers auf der Erinnerung an die Volkstümlichkeit, die seine umgängliche Persönlichkeit genoss, und auf der unwillkürlichen Vergleichung seiner unbestreitbaren Begabung und Leistung mit der Unfähigkeit seines Vorgängers Heinrich III. und mit der Schwäche seines Sohnes Ludwig XIII.

Der gewaltsame Tod Heinrichs IV. durch Ravaillac erinnert an eine Lücke, die noch ausgefüllt werden muss, bevor wir zum Zeitalter Richelieus übergehen. Wie schon ausgeführt, hatte die erste Periode der jesuitischen Tätigkeit in Frankreich infolge ihrer zersetzenden Staatsrechtslehre kurz nach dem Tod Heinrichs III. mit der Ausweisung der Patres geendet. Die Stimmung in Paris war damals so gereizt, dass Etienne Pasquier von der Sorbonne sich nicht scheute, die Jünger Loyolas mit den Schülern Luthers zu vergleichen. Jetzt, nach der Abschwörung Heinrichs IV., verstehen die Jesuiten sich dem König zu nähern, indem sie durch die Tätigkeit Possevinos und Bellarmins in Rom die Kurie zur Aufhebung der Exkommunikation des Königs bewegen. Im Jahre 1603 ruft sie Heinrich nach Frankreich zurück mit der Verpflichtung zu loyalem Gehorsam und außerdem mit der Sonderverpflichtung, einen verantwortlichen und kontrollierten Ordensbruder gleichsam als Geisel an den Hof zu entsenden. Der weltgewandte Jesuit Cotton, zu diesem Posten ausersehen, wird bald aus dem Objekt der höfischen Kontrolle das Subjekt der klerikalen Machination. Seine Ernennung zum Beichtvater des Königs gibt ihm steigenden Einfluss über diesen – »Le coton lui bouche l’oreille« war der Wortwitz des grimmigen Agrippa d’Aubigné. Mit der Tätigkeit Cottons wird die neue Machtepoche des Ordens in Frankreich eingeleitet. Die Jesuiten helfen, die Scheidung des Königs von Margarete zu Gunsten der neuen erzkatholischen Maria von Medici durchzusetzen. Ihre Macht im Todesjahr Heinrichs zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Königsmörder Ravaillac vor seiner Tat bei dem Jesuitenpater d’Aubigny beichten geht. Erst die eiserne Hand Richelieus, des geschworenen Feindes Spaniens, zwingt die Macht des Jesuitismus äußerlich zu Boden.

Mit der Beschneidung der allgemein-politischen Bedeutung des Jesuitismus unter Ludwig XIII. wird freilich die Wurzel seines inneren Einflusses nicht getroffen. Von Cotton ab sind sämtliche Beichtväter der französischen Könige Jesuiten. Vor allem bleibt von der politischen Zurückdrängung unberührt das jesuitische Prinzip, geistlichen Dingen wirksam durch die ihnen verwandten geistigen Kräfte zu begegnen; es ist dieser Grundsatz zugleich geniale Einfühlung in die französische Wesensart, die Ideen nur preisgibt, wenn sie durch Gründe der Vernunft geschlagen werden. So wird die geistige Formung und Beschlagnahme der vornehmen Jugend in zahlreichen Erziehungsanstalten, so wird die Besetzung der Lehrstühle, die wissenschaftliche Diskussion, die weltliche Forschung, die Überwindung des Ketzers durch einleuchtende Gründe die Hauptwaffe des Jesuitismus im anbrechenden Jahrhundert. 

 

KAPITEL VI

»ES GEHT EINE DUNKLE WOLK’ HEREIN« (RICHELIEU-MAZARIN)

»Ich versprach Eurer Majestät allen Fleiß zu tun und alle Autorität einzusetzen, die mir zu übertragen Ihnen gefiele, um die hugenottische Partei zu zerstören, den Hochmut der Großen zu dämpfen, alle Untertanen zu ihrer Pflicht zurückzuführen …«
Richelieu, »Testament politique«, I/I.

Ludwig XIII., der Vorläufer Ludwigs XIV., – so muss seine Regierungszeit vorwärts blickend verstanden werden – wird im Alter von 9 Jahren König. Die Königin-Mutter Maria v. Medici ist jetzt 36 Jahre alt, eine wankelmütige und zugleich eigensinnige, herrschsüchtig-eitle Frau. Sie übernimmt zunächst selbst die Regentschaft für ihren Sohn, wie einst Katharina von Medici für den unmündigen Karl IX., aber im Gegensatz zu ihr hilflos-unbeständig hin- und hergetrieben. Die Mitarbeit der Großen im Reich erkauft sie nach der Methode ihres verstorbenen Gemahls mit ungeheuren Summen aus dem von Sully mühsam gesammelten Kronschatz; der alte Finanzminister selbst muss bald sein Amt niederlegen. Der königliche Knabe erscheint bei seinem ersten Auftreten vor den Generalständen in wenig günstigem Licht: unvernünftig ernährt, schlecht erzogen, künstlich von allen Einflüssen fern gehalten, die ihn von seiner Mutter unabhängig machen konnten; ein Gefühl der Minderwertigkeit lastet auf ihm, das ihn mürrisch und zur Rachsucht geneigt macht.

Die ersten sieben Jahre der Regentschaft ist die Königin-Mutter in der Hand des italienischen Abenteurers Concini; nach dessen Ermordung wird sie durch den bisherigen Falkonier und Freund ihres Sohnes, Luynes, und dessen Clique gegängelt, bis 1624 Richelieu die Macht an sich reißt, die Leitung des schwachen Königs übernimmt und auch die Königin-Mutter rücksichtslos ausschaltet.

Armand von Richelieu, der bedeutendste Staatsmann, den Frankreich je besaß, stammt aus dem Herzen des calvinistischen Poitou nicht weit von der hugenottischen Seefestung La Rochelle. Dort ist er am 9. September 1585 als Sohn eines katholischen Landedelmannes geboren. Das schwache Kind verspricht nicht viel für das Leben. Richelieu ist bis zu seinem Tod niemals frei von schweren Kopfschmerzen, immer wieder von Fieber geschüttelt und nach Zeiten großer Spannung von nervösen Krisen gepackt, die an Epilepsie erinnern. Zwei seiner Geschwister sind Psychopathen; eins stirbt geisteskrank, das andere leidet zeitweise an religiösen Wahnideen.

Der Knabe Armand erfaßt alle Dinge spielend und fieberhaft schnell; der Jüngling ist während seines römischen Aufenthalts imstande, eine vor mehreren Tagen gehörte Predigt wörtlich aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Körperlich unfähig, sich der militärischen Laufbahn zuzuwenden, widmet er sich der Theologie und geht nach Rom, um seine Ernennung zum Bischof von Luçon zu beschleunigen. Dort erregt er durch seine ungewöhnliche Begabung Aufsehen und erlangt vom Papst das Plazet für den erwünschten Posten auf Grund einer, wie seine Gegner sagen, gefälschten Angabe über sein Alter.

Die nun sichtbar werdende Entwicklung Richelieus weist in ihrer Kurve einen merkwürdigen Knick auf: Zunächst bewegt er sich in der Ebene des Schmeichlers und kleinen Höflings, dann erhebt er sich unerwartet zu einem weitblickenden und unerhört starken Staatsmann größten Formats.

Das Charakterbild des jungen Bischofs von Luçon ist schranzenhaft hässlich. Als er kurz vor der Ermordung Heinrichs IV. sich anschickt, an den Hof zu gehen, verfasst er für sich privatim »Instruktionen und Maximen, die ich mir für meine Führung am Hof aufgestellt habe« – Richtlinien, die den Lebensregeln Chesterfields an seinen Sohn peinlich ähnlich sehen:

»Er will dem König die Cour machen, ohne seine Pflichten gegenüber Gott zu verletzen. Er wird sich eine Wohnung suchen, die weder weit vom Hause Gottes, noch weit vom Haus des Königs ist. Einmal am Hof angelangt, wird er mehrfach und so lange dem König begegnen, bis er bemerkt worden ist. Er wird an seiner Tafel teilnehmen und sich so postieren, dass er gesehen wird. Wenn er von Heinrich IV. spricht, wird er sich erinnern, dass die einem König am schönsten klingenden Worte diejenigen sind, welche die Tugenden der Könige erheben. Er wird die großen Herren besuchen, vornehmlich die, welche Kredit und Gunst beim königlichen Herrn besitzen; er nennt sie ›les Dieux‹. Man muss ihnen Opfer bringen, – den gnädigen unter ihnen, damit sie ihm helfen, den schädlichen, damit sie ihm nichts antun.«

Im Interesse seiner Karriere siedelt Richelieu ganz an den Hof über. Der Kapuziner-Provinzial Père Joseph protegiert ihn, die allmächtige Kamarilla der beiden Concini findet an ihm einen ergebenen Diener, die Launen der Königin-Mutter begegnen in ihm einem jederzeit verständnisvollen Hofmann. Was er ihrer Beschränktheit bieten zu können glaubt, ersieht man aus einem Brief an Maria von Medici, in dem er schreibt: »Ich bete zu Gott, dass Er meine Lebenszeit abkürze, um meine Tage denen Eurer Majestät hinzuzufügen und mich mit allen Übeln – außer dem Verlust Eurer Gnade – zu bestrafen, damit mein Leiden sich in Glück für Eure Majestät wandele.«

Auf der Ständeversammlung des Landes redet Richelieu aalglatte Worte und stellt sorgsam die Segel nach dem Wind. Im Jahre 1616 ist er mit 31 Jahren bereits Kriegs- und Außenminister.
In der mit diesem Jahr anbrechenden Ära seiner Macht wird ruhige, kühle Selbstbeherrschung, verhaltene Kraft das Kennzeichen seines Wesens. Überzeugter Katholik, ja ernster Katholik, geht er in den Entscheidungen der großen Politik den Weg der kalten Zweckmäßigkeit, auf lange Sicht vorarbeitend, in großen Zügen denkend und handelnd. Er weiß, dass gegen Intrigen nichts wirksamer ist als Terror, und er handelt danach. Er bedient sich des Prozesswegs, der Geheimverfahren, der Todesstrafe, ohne sich irgendwie um die öffentliche Meinung zu kümmern, einzig geleitet von der Staatsräson, vom Interesse des Königtums nach seiner persönlichen Auffassung. Er unterdrückt die Protestanten, wenn sie die Einheit des Staates gefährden. Er verbündet sich mit ihnen, wenn es ihm für außenpolitische Zwecke richtig scheint. In diesem Sinne ist er niemals in erster Linie katholischer Fanatiker wie sein klerikaler Zeitgenosse, der rastlos aufpeitschende und angreifende Père Joseph, sondern Politiker strengen Stils. Die Freunde, die ihn förderten, werden später von ihm fallen gelassen; er ist stark, rücksichtslos und undankbar genug, auch seine Avantgarde zu vernachlässigen, wenn es dienlich ist. Falls seine Pläne für den Staat es verlangen, wird er sie preisgeben, verbannen oder auch töten.

Die Lage der Protestanten gegenüber Richelieu ist eine völlig andere als die Situation der außerfranzösischen evangelischen Kirchen gegenüber den Machtfaktoren ihrer Länder, aus dem einfachen Grund, weil dort die Fürsten, welche ihre Gegner sind, vielfach untereinander und mit dem Papst Streit haben. Dagegen stellt in Frankreich das durch Richelieu geführte Königtum einen einzigen, homogenen Gegner dar, eine Einheitsfront, ja immer mehr ein einziges Kraftzentrum, das andere nebengeordnete oder auch nur untergeordnete eigengesetzliche Machtgruppen oder Machtzusammenballungen nicht dulden kann. Daher ist der Protestantismus als Stand, wie er in der Überlassung eigener Festungen durch das Edikt von Nantes anerkannt war, für Richelieus Betrachtungsweise nichts als ein Staat im Staate, der vernichtet werden muss.

In der Tat ist die Position der Evangelischen in Frankreich um 1625 mehr die eines Vasallenstaats als die einer kirchlichen Gruppe. Sie haben ihre Kammern in Paris, Castres, Grenoble und Bordeaux. Sie halten regelmäßig Provinzialstände ab und alle drei Jahre eine zusammenfassende Generalversammlung – Einrichtungen, die entfernt an eine politische Konstitution mit repräsentativem demokratischem Charakter erinnern. Im Falle der Gefahr suchen und finden sie Schutz hinter den Mauern ihrer festen Städte und Burgen. Ihre Kraft ruht nicht mehr in erster Linie im Glauben, sondern immer mehr in ihrer Organisation und in der Summe der von ihnen vertretenen diesseitigen Quantitäts- und Qualitätsfaktoren. Die Überzeugung, dass die Sache des Evangeliums und des Protestantismus mit dem Besitz von Festungen und Stützpunkten stehe und falle, wirkt sich in fortschreitender Vernachlässigung der innersten Kraftquellen aus. Der Einsiedlerkrebs, der sich in der sicheren Schneckenschale einnistet, fährt wohl fort, mit seinen Scheren und Freßwerkzeugen zu kämpfen und zu arbeiten, aber eigentlich liegt seine Sicherheit in dem fremden Haus, das er bezogen hat, und er bezahlt seinen halben Parasitismus mit dem Verlust seiner tiefer liegenden Gliedmaßen, die weich und widerstandslos werden und verkümmern. So kämpfen und arbeiten die Protestanten, in ihren Festungen eingewurzelt, an der Front, während gleichzeitig, bei aller verhältnismäßigen Sicherheit gegenüber der Außenwelt, die tiefsten, inneren Organe des Glaubens verkümmern.

Rechtlich-formell betrachtet hatte das Edikt von Nantes mit seinen Schutzbestimmungen einen Zustand geschaffen, in welchem die Hugenotten in Gewissensfreiheit das Dasein einer geachteten Minorität führen konnten. Den seit Beginn der sechziger Jahre eingerissenen politischen Individualismen, der politischen Verwilderung des Protestantismus und den neuen aufsässigen politischen Theorien hatte es keinen wirksamen Riegel vorzuschieben vermocht. Für die Hugenotten gilt das Wort Nietzsches in »Jenseits von Gut und Böse«: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein«. Einzelne Vorkommnisse des kirchlichen Lebens zeugen erschreckend von dem durch die neuerliche äußere Kampfstellung veranlassten Eindringen der Peripherie in den eigentlichen Bereich der Gemeinde. Als die Ermordung des verhassten Abenteurers Concini durch den Bruder des ihn ersetzenden Strebers Luynes im Languedoc, in der Gemeinde Anduze, bekannt wird, beschließt das Presbyterium, am nächsten Tag einen öffentlichen Dankgottesdienst zu veranstalten. Noch bedenklicher ist ein anderes Vorkommnis. Gelegentlich eines Zusammenschlusses der Hugenotten in Südfrankreich zu Zwecken der politischen Opposition werden die Gemeindeglieder aufgefordert, im Namen der neu gegründeten »kirchlichen Union« zu den Waffen zu greifen. Die Synode von Lunel rügt nicht nur diejenigen, welche gegen diese gemeinsame Aktion auftreten, und verpflichtet nicht nur die protestantischen Kommandanten der festen Plätze zum Widerstand, sondern schließt die Ungehorsamen vom Heiligen Abendmahl aus.

So geschieht es, dass in Nîmes, – es ist Weihnachten 1616 – der Prediger Chambrun eine Gruppe von opponierenden Gemeindegliedern mit dem Kriminalrat de Calvières an der Spitze vom Abendmahlstisch wegweist und sich von diesem sagen lassen muss, dass die Entscheidung des Consistoire nichts als ein grober Unfug (abus) sei. Hier wird tragisch deutlich, dass das wundervolle französische Paradoxon: »C’est l‘âme qui enveloppe le corps«, »Es ist die Seele, die den Körper einhüllt«, von der protestantischen Gemeinde folgenschwer vernachlässigt wird, so gewiss auch in diesen Jahrzehnten die 400.000 sittenstrengen, in Gebet und Arbeit beharrenden Hugenotten in ihrem unablässigen Kampf, in ihrer ständigen Leidensbereitschaft uns menschliche Bewunderung abnötigen.

Im Jahre 1621 beginnt die erste Großaktion des unermüdlichen Kapuziner-Provinzials Père Joseph. An einem Kreuzzug gegen die Türken verhindert, predigt er stattdessen den Kreuzzug der Nation gegen das französische Genf, gegen die Seefestung La Rochelle. Zuvor unternimmt er, den Pariser Hof für die Wiedergewinnung des Béarn in der Südwestecke des Landes mobil zu machen. Trotz der königlichen Zusage, die dort bestehenden Rechte zu respektieren, wird das Ländchen mit Truppen besetzt, konfessionell vergewaltigt und die Bevölkerung den Übergriffen der katholischen Truppen ausgeliefert. Es folgt die brutale Besetzung von Saumur, mitsamt der Vertreibung des ehrwürdigen und hochverdienten du Plessis-Mornay von seiner Burg.

Im Süden widersteht Montauban siegreich einer militärischen Unternehmung, obwohl sein erster Pfarrer mit der Pionieraxt in der Hand im Kampf fällt; die Angreifer müssen unrühmlich abziehen. Luynes, der königliche Günstling und Exekutor der neuen katholischen Initiative, sucht zum Ausgleich dieses Misserfolgs in der Belagerung einer anderen, kleinen Hugenottenstadt Ruhmeslorbeeren, geht aber an einer Seuche zu Grunde – auf dem Sarg des verachteten Höflings sieht man seine eigenen Lakaien Karten spielen anstelle betender Priester, die die Totenmesse halten. Im folgenden Jahr, 1622, unternimmt die Regierung die Entwaffnung von Montpellier und fährt in der Abbröckelung der protestantischen Stützpunkte fort.

Immer geschlossener erhebt sich jetzt das streitbare Hugenottenvolk besonders im Südosten und Süden Frankreichs. Dagegen zeigen sich die höheren protestantischen Stände, vor allem des Nordens, kampfmüde und von der nationalen Welle erfasst, bereit, dem Königtum ihre Unterwerfung anzubieten. Die Führung der widerspenstigen Protestanten geht in die Hände der Herzöge von Rohan und Soubise über, unter Beihilfe des alten Sully und des tapferen Herzogs von Bouillon. Die festen Plätze werden wiederum instand gesetzt und vermehrt. Geradezu revolutionäre Unternehmungen werden sichtbar: Es gibt nun wieder hugenottische Heerführer wie zur Zeit der Religionskriege, es gibt ein protestantisches Oberkommando, es gibt beinahe eine eigene Regierung. Man siegt, man wird besiegt, man schließt Verträge, und beide Seiten brechen wiederum die unterzeichneten Verträge. Der Herzog von Rohan sucht seinerseits die Fanatiker der protestantischen Front zu mäßigen und führt einen mühseligen Kampf gegen die streitsüchtigen und politisierten Pfarrer. Er herrscht sie an: »Ihr seid alle Republikaner! Ich wollte lieber einer Versammlung von Wölfen präsidieren als einer Versammlung von Predigern!«

Eine abermalige teilweise Erhebung der Protestanten folgt 1625; sie sind von neuem alarmiert, sowohl durch die politische Wühlarbeit des Père Joseph, als auch durch die Errichtung des königlichen Fort Louis gegenüber der protestantischen Hauptfeste La Rochelle. Im Mai des Jahres gelangt eine hugenottische Denkschrift an den König. Er antwortet mit den Argumenten Richelieus: Solange die Hugenotten in Frankreich ein Staat im Staate sein würden, könne der König in seinem Land nicht Herr sein und auch nach außen hin keine großen Taten vollbringen.

Ludwig XIII. hat insofern recht, als der evangelische Glaube nicht nur Form und Wesen eines weltlichen Standes angenommen hat, sondern geradezu zu einer geschichtlichen Macht geworden ist. Und Friedrich Nietzsche schenkt auch hierzu eine bittere Wahrheit ein: »Die reinsten und wahrhaftigsten Anhänger des Christentums haben seinen weltlichen Erfolg, seine sogenannte ›historische Macht‹ immer eher in Frage gestellt als gefördert … Christlich ausgedrückt: So ist der Teufel der Regent der Welt und der Meister der Erfolge und des Fortschritts; er ist in allen historischen Mächten die eigentliche Macht, und dabei wird es im Wesentlichen bleiben – ob es gleich einer Zeit recht peinlich in den Ohren klingen mag, die an die Vergötterung des Erfolgs und der historischen Macht gewöhnt ist. Sie hat sich nämlich gerade darin geübt, die Dinge neu zu benennen und selbst den Teufel umzutaufen.« (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Kap. IX.).

Die Entscheidung des nun zwischen Richelieu und dem Protestantismus als politischem Gegenspieler der Krone einsetzenden Endkampfes muss fallen und fällt mit dem Schicksal der Seefestung La Rochelle. Sie liegt nördlich von Bordeaux; die Inseln Rê mit ihrem Fort St. Martin und Oléron sind ihr vorgelagert. La Rochelle ist eine Stadt zum historischen Träumen geschaffen, ähnlich wie die alte Kreuzritterstadt auf der Insel Rhodos: Man muss sich in diesem klassischen Ort mittelalterlicher Kirchengeschichte allein und versonnen umhertreiben, vielmehr sich durch die Erinnerungen an jene große Zeit umhertreiben lassen, an den alten Türmen und Mauerresten vorbei, am Hafen entlang, durch die alten Gassen hindurch, hinüber auch zu den halbverfallenen Kasematten der Insel Rê.

Diese Stadt hanseatischen Gepräges handelt mit England, Schottland, Flandern, Spanien, Portugal, mit den Niederlanden. Sie ist fest und schön gebaut, mit Renaissance-Palästen geschmückt, und über den Portalen ihrer alten Häuser stehen in Stein gehauene Bibelsprüche. Das Rathaus, der Justizpalast, sind der Stolz ihrer trotzig-selbstständigen Bürger. Im Westen sichert sie das Meer. Im Norden, Osten und Süden erstreckten sich damals unpassierbare salzige Sümpfe, die nur durch wenige Zufahrtsstraßen unterbrochen waren. Wie in Genf ist jeder Bürger zugleich Soldat und der Bürgermeister zugleich Militärgouverneur. Soubise, der Bruder Rohans, hat vorübergehend die Inseln Rê und Oléron besetzt, während der Herzog von Rohan im tiefsten Süden Frankreichs das Languedoc durchzieht, um, als Gegengewicht zu den Plänen Richelieus gegen La Rochelle, dort Truppen aufzubringen; er lässt die Heilige Schrift vor sich her tragen und auf öffentlichen Plätzen Gebetsversammlungen halten.

Eine Belagerungsarmee in der für die damalige Zeit ungeheuren Zahl von 30.000 Mann versammelt jetzt Richelieu auf der Landseite von La Rochelle, um dem protestantischen Widerstand das Rückgrat zu brechen. Der Père Joseph, die »graue Eminenz«, begleitet ihn mit einem endlosen Zug von Mönchen. Bald wird auch der König veranlasst, seine Jagdleidenschaft dem großen Unternehmen zu opfern, zum Belagerungsheer zu stoßen und durch seine Gegenwart der Aktion einen besonderen Nachdruck zu verleihen. Es ist kennzeichnend, dass sich in dem Lager vor La Rochelle auch Protestanten befinden, ein Beweis, dass in den hugenottischen Reihen der vaterländische Gedanke bereits den religiösen Gedanken zu überwiegen beginnt oder vielmehr seinerseits die Vermischung mit der Religion ablehnt. Die Politisierung des Glaubens hat sich in dieser Gruppe überschlagen, ist als Nationalismus eigengesetzlich geworden und bekämpft die Grundlage, welche zu retten man sich vordem auf das politische Gebiet begeben hatte.

Die Bedingungen Richelieus sind die Schleifung der neueren äußeren Befestigungswerke, die Anerkennung eines königlichen Intendanten und damit die Aberkennung der Stadtfreiheit, sowie des Rechts auf eigene Kriegsschiffe.

In der Zwischenzeit verhandelt Soubise mit den Engländern, die durch den eitlen und prahlerischen Buckingham den vollen Einsatz ihrer Macht zusagen. Vom Süden her erwartet man Hilfe und Entsatz durch die freien Truppen Rohans, der königliche Gelder zum Unterhalt seiner Soldaten beschlagnahmt hat.

Buckingham selbst als Kommissar Englands trifft mit einer Flotte von einigen hundert Schiffen vor La Rochelle ein. Seine Verhandlungen mit den Bürgern scheitern, da sich die Stadt in alter Königstreue weigert, von der Anerkennung ihres rechtmäßigen Herrschers zu lassen oder sich den Engländern auszuliefern. Gleichwohl schreitet Buckingham zum Angriff gegen die Insel Rê, deren Fort St. Martin durch den königlichen Marschall Toiras besetzt ist und heldenhaft verteidigt wird. Die eigentlichen Feindseligkeiten zwischen La Rochelle und der Belagerungsarmee werden durch eine Zufälligkeit ausgelöst: Die Verteidiger beobachten Befestigungsarbeiten an dem königlichen Gegenfort Louis auf der Landseite und beschießen es mit Artillerie. Etwa in denselben Tagen kommt ein Verteidigungsvertrag mit den Engländern zustande. Daraufhin treibt Richelieu seine Rüstungsvorbereitungen bis zum Letzten vorwärts und setzt alles auf eine Karte. Auch sein Privatvermögen, seine Kostbarkeiten gibt er dafür hin, so dass scherzend gesagt wird, es sei schon gut, dass er nicht mehr als Kardinal amtiere, da er keine Ringe mehr an seiner Hand trage, welche die Gläubigen küssen könnten.

Der Ansturm der Engländer auf das Fort St. Martin mißlingt. Toiras wirft sie von der Insel ins Meer und vernichtet ihre Formationen. Damit ist das Schicksal von La Rochelle fast besiegelt, doch gibt die Stadt sich noch nicht besiegt.

Angesichts der steigenden Not und des Mangels an Lebensmitteln – die Königlichen haben den Hafen durch Sperrdämme und Sperrketten geschlossen und die Nahrungsmittelzufuhr unterbunden –, angesichts der Erkrankungen an Skorbut und der jetzt völligen Isolierung der Festung wird Ende April 1628 der frühere Admiral der städtischen Flotte Jean Guiton zum Gouverneur gewählt: ein stämmiger, untersetzter Seemann mit einem Charakter aus einem einzigen Stück Erz gegossen, sittenrein und gebetseifrig, gütig und hart, furchtlos und erbarmungslos. Er stößt seinen Dolch in die Marmortischplatte des Rathauses, so dass der Stein splittert, und erklärt, dass er mit diesem Messer jeden niederstoßen werde, der ein Wort von Übergabe spreche. Diese Drohung macht er wahr durch eine Unerbittlichkeit im Durchhalten, die ihn geradezu zum Übermenschen des Hugenottentums stempelt. In der nun folgenden Zeit des um sich greifenden Hungertodes zeigt man ihm einen Freund, der aus Entkräftung in den letzten Zügen liegt. Guiton antwortet dem Fragenden: »Wunderst du dich darüber? Mit uns beiden muss es auch noch so weit kommen!« Als der andere einwendet, dass bald alle zugrunde gehen werden, antwortet er kurz: »Wenn nur einer übrig bleibt, um das Tor geschlossen zu halten, so ist das genug!«

Erschreckend deutlich wird an dem Bild dieses Mannes das Verhängnis der politischen Wandlung im französischen Protestantismus. Die geistliche Schönheit und Herrlichkeit der Märtyrerzeiten ist verloren und wird durch die andere Schönheit natürlichen Heldentums ersetzt. Es gilt nicht mehr das alte Wort: »… voire mêmes toutes les gouttes de notre sang annonceront encore les louanges de Dieu après notre mort« – »sogar jeder einzelne unserer Blutstropfen wird noch nach unserem Tod den Lobpreis Gottes verkündigen«. In der Entscheidung von La Rochelle wird verherrlicht – und wird zerbrochen – menschliches Vermögen und menschliche Willenskraft.

Ein neues Unternehmen Buckinghams, der letzte Versuch der englischen Flotte, die Stadt zu entsetzen, misslingt. Das Sterben in ihren Mauern nimmt zu. Zu Hunderten, zu Tausenden verhungern die Einwohner. An einem einzigen Tag, am 18. Oktober, werden 800 Tote gezählt. Man kann aus Schwäche die Leichen nicht mehr zum Friedhof tragen, man schleppt sie an Seilen über das Pflaster, dessen Gras zwischen den Steinen man gierig ausrauft und verschlingt; zuletzt lässt man die Menschen liegen, wo sie hinfallen. Die Wachen auf den Türmen brechen unter dem Gewicht ihrer Rüstungen zusammen; die Patrouillen zwischen den Festungsmauern wanken auf Stöcken umher. Einzelne Frauen – eine schauerliche Parallele zu den letzten Monaten der Wiedertäufer in dem belagerten Münster – machen sich zu den Belagerungstruppen hinaus, um ihre Ehre für ein Stück Brot preiszugeben; der Kardinal bedroht jeden Soldaten, der ihre Notlage missbraucht, mit dem Tod auf dem Rad.

Schließlich beginnt man im Delirium des Hungers die Leichen auszugraben, um sie zu essen. Eine Frau stirbt, nachdem sie versucht hatte, ihren eigenen Arm vom Körper abzukauen. Manche lassen sich auf eigene Kosten eine Grube herrichten, bezahlen die Rechnung, und wenn sie sich dann zum Friedhof hinausgeschleppt haben, um einem toten Freund das letzte Geleit zu geben, bleiben sie nach der Feier still zurück und rollen sich in das eigene bereitstehende Grab.

In all diesen Monaten wird wöchentlich, wenn nicht täglich, für das Wohl des Königs gebetet, der die Stadt dem Hungertod überliefert hat: nicht für den König als Feind, sondern für den König als angestammten Herrscher. Als man von einer Verwundung des Monarchen durch die Folgen eines von der Stadt abgegebenen Kanonenschusses hört, verdoppelt man die Fürbitte für ihn aus treuem Herzen.

Guiton, der während einer Predigt zweimal bewusstlos zusammenbricht, will immer noch im Einvernehmen mit sämtlichen Pfarrern durchhalten. Man geht dazu über, das Leder der Sättel zu kochen und hinunterzuwürgen, aber die Zahl der Verteidiger nimmt so schnell ab, dass jetzt nur noch 150 Soldaten zur Verfügung stehen. Allein in den letzten Wochen sind abermals 2.000 Einwohner verendet. Kurz vor Beginn des November versammelt Guiton die überlebenden Ratsherren zu einer Sitzung, die nur kurz ist wegen der Erschöpfung der Teilnehmer.
Die Übergabe wird beschlossen, bedingungslos wird La Rochelle dem König geöffnet; es ist dasselbe Jahr 1628, in welchem die Festung Stralsund erfolglos von Wallenstein belagert wird. Von 25.000 Einwohnern der Stadt La Rochelle sind noch 5.000 am Leben. Richelieu erwirkt beim König Gnade und macht ihm deutlich, dass er die Herrlichkeit seines Amts durch Güte und Nachsicht gegenüber der schwer geprüften Stadt noch vermehre. Die katholische Armee, schon vorher in beinahe hugenottischer Zucht geschult, zieht in die Festung ein, die Einwohner werden menschlich behandelt und mit Nahrungsmitteln versehen. Doch die Mauern werden geschleift, die Verwaltung der Stadt von der Krone übernommen. Die Kultusfreiheit wird ihr belassen. Jean Guiton wird verbannt, später aber wieder von Richelieu mit einer Kommandantur betraut. Am Allerheiligentag zelebriert der Kardinal, nun wieder als Priester, die erste Messe in der Stadt. Ganz kurz darauf, in den Tagen vom 6. bis 8. November, zerreißt ein ungeheurer Sturm den Sperrdamm vor dem Hafen – hätten die Verteidiger noch 14 Tage auszuhalten vermocht, so wäre die Stadt von den Proviantschiffen Englands neu versorgt worden.

Im Großen und Ganzen zeigt sich Richelieu, wie auch später im Vertrag von Alais, milde und abgewogen, jenseits von Gut und Böse wie immer in seiner Liebe zum Staat. Sein Maßhalten gegenüber den politischen Protestanten ist zugleich ein Ausdruck der Überlegenheit und Kraft im Gegensatz zu der Toleranz des Edikts von Nantes, das aus klugem Kompromiss geboren war, und ist auch nicht vergleichbar dem Leisetreten des Nachfolgers Richelieus, Mazarin, der behutsam auf den unheimlichen englischen Protestantenführer Cromwell und andere auswärtige Faktoren der Politik Rücksicht nimmt.

Nach dem Fall von La Rochelle und nach einem kurzen Feldzug in Italien wendet sich Richelieu gegen den edlen und unermüdlich tätigen Herzog von Rohan. Jacob Burckhardt überschreibt diesen Abschluss und die nächste Zukunft der Protestanten mit dem schönen Wort: »Die Kraft Rohans und seiner Hugenotten wird auch dann noch, wenn sie besiegt sein werden, genauso groß sein, als die Tiefe ihres Glaubens reicht.« Das königliche Heer, von Italien heimkehrend, bricht etwa westlich von Montélimar in das protestantische Hauptgebiet ein und erobert zuerst in hartem Kampf Privas. Die Angriffe geteilter katholischer Heerhaufen auf die einzelnen Städte der Provence vollziehen sich im Gegensatz zu dem disziplinierten Verhalten gegenüber La Rochelle in schauerlichen Szenen. Als der katholische Führer Condé 50 Offiziere der gefangen genommenen Garnison von Gallargues öffentlich aufhängen lässt, erwidert Rohan diese Tat am nächsten Tag mit der öffentlichen Aufknüpfung von 64 katholischen Gefangenen aus der Stadt Monts; weiter greift er in einer Verzweiflungsanwandlung nach dem hochverräterischen Mittel einer – übrigens erfolglosen – Verhandlung mit Spanien. Als auch die Stadt Alais kapituliert, zieht Rohan vor, einen vorteilhaften Generalfrieden mit Richelieu abzuschließen, in welchem der Kardinal die Gültigkeit des Toleranzedikts von Nantes bestätigt, jedoch die Schleifung aller protestantischen Stadtbefestigungen und Burgen fordert und erhält. Mit diesem Frieden von Alais ist der französische Protestantismus als weltliche Partei und als Stand für alle Zeiten vernichtet. Das Edikt von Nantes ist auch jetzt erst wirklich durchgeführt, sofern es den Protestanten feste Plätze nur für eine kurze Übergangszeit zugebilligt hatte.

Gerade im Blick auf den erzwungenen Verlust äußerer Stützen schuldet die evangelische Kirche Frankreichs Richelieu Dank für eine freilich unbeabsichtigte Wohltat: Sie ist vom Irrweg politischer Existenz vertrieben und zurückgeworfen auf ihre Eigenart und Berufung, Gemeinde Jesu Christi zu sein. Doch der Prozess der protestantischen Rückbesinnung auf die geistlichen Wurzeln kirchlicher Kraft wird noch lange währen und nur stufenweise fortschreiten. Es wird durch eine Übergangsperiode des Leidens und unaufhaltsamen äußeren Absterbens gehen mit dem letzten politischen Krampf der Cevennenkriege 1702-1704, bis zur geistlichen Neuschöpfung, nach dem Zerbrechen auch aller menschlichen Stützen, durch die berufene Hand Antoine Courts auf der Basis einer rein biblisch eingestellten Gemeinschaft des Glaubens und des Wortes.

Bevor aber die Protestanten Frankreichs in langer und schmerzensreicher Schule die geistliche Instinktsicherheit wiedergewinnen, erleben sie zunächst in den letzten Jahren Richelieus und dann unter Mazarin, sei es halb unbewusst, sei es mit einem immer deutlicheren Gefühl des Grauens, wie die Ideologie der autokratischen Krone – der Gegenbegriff ist die mystische »Volonté Générale« des Volkes bei Rousseau und Robespierre – alles überwuchert, alles zurückdrängt und erstickt, was ihr zuwider ist. Richelieu steigert bereits die Regierungsgewalt derartig, dass nicht nur den König, sondern auch seinen Ministern vorbehaltloser Gehorsam geleistet werden muss, also auch der Königsgewalt, die durch einen Stellvertreter ausgeführt wird. Unter seinem Nachfolger Mazarin erscheint die Autorität der Krone schon fast abstrahiert als der »Inbegriff einer absoluten Monarchie in unpersönlicher Gestalt« (Seignobos) – gleichsam ein Daimonion, für das der Kron-Inhaber nur Versichtbarung, Aktualisierung, Organ ist.

Die protestantische Kirche bückt sich äußerlich, ja auch in der Umstellung ihres lehrhaften Denkens, unter diese Entfaltung eines grandiosen Systems. Sie gibt dem Gedanken einer persönlichen Verantwortlichkeit des Königs vor dem Volk den Abschied. Sie gibt dem Gedanken einer Vollmacht des Volkes, am Königtum etwas zu ändern oder es zu bessern, den Abschied. Sie nimmt alle gerechten oder ungerechten Verordnungen, Loyalität oder Illoyalität des Königtums als Ausdruck der Schickung Gottes, der zur gegebenen Zeit, welche Seine Weisheit vorherbestimmt, gewisslich Seine Gerichtsrute erheben wird. Aus der einstigen Leidensbereitschaft in Besinnung auf das Kreuz Jesu und das ewige Erbe der Heiligen ist weithin eine apologetische Frage geworden. Der Schlüssel zum Problem des christlichen Martyriums heißt nicht mehr Macht der Sünde, Geist dieser Welt, Antichrist und Satan. Die bange Frage lautet: »Warum lässt Gott alles dieses zu?« Die Antwort lautet: »Für unsere Sünden züchtigt Er uns.« Das Resultat dieser Seelenstellung ist eine neuartige Bereitschaft des Ansichgeschehenlassens, der psychologische Gegenwert gegen das aufgegebene Sichdurchsetzenwollen. Das Wort des Herrn: »Weil ihr nicht von dieser Welt seid, darum hasset euch die Welt!« wird teilweise nicht mehr verstanden. Doch wird es noch verkündigt, gerade von den Predigern, die der Gemeinde ernsteste Worte über ihre Erschlaffung und Verflachung nicht vorenthalten. Von beidem rede der alte Pierre du Moulin zu uns, der 22 Jahre Pfarrer in Paris war und nach einem überaus reichen Leben – er verfasste 75 Bände Predigten und christliche Schriften – 1658 als rüstiger Greis von 90 Jahren starb:

»Wie der sanfte Regen, der das Getreide wachsen lässt, je und je auch Unkraut in Masse hervorbringt, und wie die Sonne im Frühling mitsamt den lieblichen Blumen auch allerhand hässliches Gewürm erzeugt, so hat auch der Friede, der der Kirche nach der Verfolgungszeit wiedergeschenkt wurde, uns mit der Predigt Seines Wortes der Sünden genug gebracht … Da uns nun nichts mehr fehlte, haben wir es an uns selbst fehlen lassen und haben die Zeit unserer Heimsuchung nicht erkannt. Denn wenige haben sich darum gesorgt, die Ruinen des Hauses Gottes wieder aufzubauen, doch hat ein jeder Fleiß getan, sein eigenes Heim zu errichten … Jene freigebige Großherzigkeit, die zu den Zeiten unserer Väter in den Herzen brannte und Stütze und Schmuck der Kirche des Gottes gewesen ist, dessen Kraft bis heute unser Leben erhält, – die nüchtern und rechtschaffen und tapfer war, die den Verlust für Jesus Christus für Schaden erachtete, ebenso verschwenderisch mit ihrem Blut als ängstlich besorgt um die Ehre Gottes, – sie hat eine Nachkommenschaft zurückgelassen, deren Herz zumeist für sinnliche Vergnügungen brennt, die allein tapfer ist, wenn es zu streiten gilt, aber feige und nachgiebig gegenüber der Sünde, voll überheblicher Unwissenheit, bereit, ihre Brüder für eine kleine Geldsumme preiszugeben und für ein Stück Brot Gott den Rücken zu kehren. Der unselige geistige Einfluss (hantise) der Gegner hatte unsere Sitten verdorben, und wir waren von ihnen kaum noch anders als durch die äußere Konfession unterschieden, als ob der Satan zur Nacht die Grenzpfähle ausgerissen hätte, die uns von den anderen trennten, oder als ob wir den Verfolgungen nur entronnen wären, um in den Weg der Sünde einzubiegen. Die Mahnungen der treuen Pfarrer wurden übel aufgenommen, und man hat sich gegen sie empört, wie wenn eine missgestaltete Person den Spiegel zerschlägt, in dem sie ihre Hässlichkeit geschaut hat. Und das Wort Gottes ist nicht mehr mächtig gewesen wie einst, als ob dieses geistliche Schwert seine Schneide verloren hätte oder stumpf geworden wäre an der Härte der Herzen!« (Buch II, Kap. 3, Bezug nehmend auf die Jahrzehnte nach Nantes).

Und dennoch gilt für die Berufenen und die Gemeinde des Herrn: »Die Verfolger können uns aus unserem Heimatland vertreiben, aber sie können uns nicht unser Bürgerrecht im Himmel nehmen. Sie können unsere Kirchen zerstören, aber trotz all ihres Wütens bleiben unsere Herzen Tempel des Heiligen Geistes. Sie können uns unser Geld nehmen, aber sie können uns nicht unseren Reichtum rauben. Sie können uns aller weltlichen Ehren entkleiden, aber nicht der Ehre, Kinder Gottes zu sein. Sie können uns das Leben nehmen, aber nicht das Heil. Und der Scharfrichter, der Sankt Paulo das Haupt abschlug, hat ihm wahrlich damit nicht die ewige Krone genommen. Gott hält den Teufel an der Kette Seiner Vorsehung, und wenn Er will, lässt Er die Kette ein Stücklein locker: Zu Zeiten erlaubt Er diesem Löwen, mit seinen Krallen unsere Kleider zu erreichen, ja manchmal unsere Leiber, aber es ist ihm verboten, unsere Seele zu berühren. So werden unsere Feinde nichts vermögen, es sei denn mit der Zulassung Gottes, der uns liebt: Sie bewegen sich ja nur und atmen nur durch den Beistand unseres himmlischen Vaters. Und wenn sie alles Unheil angerichtet haben, was sie konnten, dann ist Gott mächtig, alles zu unserem Besten zu wenden, und gütig, alles zu unserem Heil wenden zu wollen« (Buch II, Kap. 8).

Gefährlicher als die hart schlagende Faust Richelieus wird den Protestanten nach seinem Tod die linde, diplomatische Hand Mazarins. Man könnte seine Regierungszeit auch die Übergangsperiode zwischen Richelieu und Ludwig XIV. nennen. Aber es ist ratsam, auch diese Jahre von der sie gestaltenden Persönlichkeit aus zu begreifen, nach dem Wort von St. Simon: »Geschichtsschreibung einer bestimmten Epoche muss zum Ziel haben, den Leser mitten unter die handelnden Personen – ›les acteurs‹ – zu versetzen, so dass er weniger eine Geschichte zu vernehmen glaubt, als vielmehr sich selbst eingeweiht fühlt in das, was nun gespielt wird, ja zu einem Zuschauer dessen wird, was man ihm erzählt.«

Im Jahre 1642 schlägt Richelieu, der vor kurzem den jungen Italiener Mazzarini als politischen Beamten seines Stabs nach Paris berufen hat, eine letzte Verschwörung im Land nieder und stirbt. Papst Urban VIII. bemerkt dazu, auf das skrupellose Leben des alten Kardinals zurückschauend: »Wenn es einen Gott gibt, wird er wohl büßen müssen. Wenn es keinen gibt, ist er ein braver Mann.« Im Dezember desselben Jahres beruft Ludwig XIII. kurz vor seinem Tod, in Erinnerung an den letzten Rat Richelieus, Mazarin zu seinem Nachfolger. Der junge Kardinal wird Pate des bisher ungetauften vierjährigen Dauphin, der als nachgeborenes Kind im Sakrament den Namen Louis Dieudonné erhält. Als das Knäblein, der zukünftige Sonnenkönig, nach der Taufe zu seinem kranken Vater Ludwig XIII. zurückkehrt und gefragt wird, welches nun sein Name sei, sagt es ihm das unkindliche Wort: »Ich heiße Ludwig der Vierzehnte!« Für die Dauer seiner Unmündigkeit übernimmt die Königin-Mutter, die habsburgische Anna, frühere Infantin von Spanien, die Regierung. In Wirklichkeit ist ihr Kanzler Mazarin der Regent – ihr Geliebter, vielleicht auch der ihr heimlich angetraute Gatte.

Nach dem Lebenswerk Richelieus ist es Mazarins Restaufgabe, die Selbstständigkeit auch des katholischen Adels zu beseitigen, sowie der Verantwortlichkeit des Königs vor dem Parlamentsgericht ein Ende zu bereiten, um so das Prinzip des Kronabsolutismus abschließend durchzuführen. Es geschieht dies vermittels der Niederringung der Fronde, in einer letzten scharfen Wendung, gewissermaßen im Durchschlagen eines letzten Knotens im Geschichtsfaden, aus dem dann ein glattes, gleichartiges Gewebe gesponnen wird.

Die Hintergründe der Fronde sind Misswirtschaft und Not, die sich mit dem Groll der alten Adelsfamilien gegen den italienischen Eindringling verbinden. Während in Paris herrliche Bauten entstehen, Theater und Oper blühen und das Geld mit vollen Händen ausgegeben wird, lasten die Steuern unbarmherzig auf dem Volk in der Provinz. Der Generaladvokat Talon sagt 1648 in einer Ansprache an die Königin von den Bauern auf dem Land: »Außer ihren Seelen haben sie nichts mehr, und die nur, weil man sie nicht versteigern kann. Um den Luxus von Paris zu ermöglichen, müssen Millionen Unschuldige von Kleie und Haferbrot leben. Gedenken Sie, gnädige Frau, an das allgemeine Elend in der Einsamkeit Ihrer Gebete!« Das arme Volk draußen isst schließlich Baumrinde und noch ekelhaftere Dinge. Tausende sterben jährlich in Schuldgefängnissen. Von der Grundsteuer waren, wie es ironisch heißt, »fast alle diejenigen befreit, die sie zahlen konnten«. Ein Drittel aller Galeerensträflinge büßen Vergehen gegen die Salzsteuer, die »gabelle«.

Eben in dieser Zeit erhebt das Pariser Parlamentsgericht Forderungen betreffend Kontrolle und Sanierung der Staatsfinanzen. Der Hof leistet Widerstand, eine Revolte bricht in den Straßen der Hauptstadt aus. Die Regierung gibt nach, muss aber doch aus der Stadt fliehen, und das Parlament mit der Bürgerschaft organisiert den Widerstand gegen Mazarin »im Namen des Königs«. Er wird durch Parlamentsbeschluss zum Reichsfeind erklärt ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass es eben seiner gewandten Diplomatie und der Kunst seines Gesandten gelungen war, den Westfälischen Frieden zu Gunsten Frankreichs zu wenden.

Daraufhin flieht Mazarin aus Paris nach Deutschland. In Frankreich scheint alles für ihn verloren. Paris hallt wider von den »Mazarinaden«, witzigen und bösartigen Couplets, die seine Ehre herunterreißen und dem Volk in Satire und Spott ein Ventil bilden für alle Beklemmungen der Zeit: »La France est une monarchie absolue, tempérée par des chansons« – »Frankreich ist eine durch Gassenhauer erträglich gemachte absolute Monarchie« –, heißt es jetzt.

Binnen kurzem gelingt es den tausendfachen und von jedem Gewissensbedenken freien Intrigen Mazarins, vom Ausland her die adligen Führer der Fronde miteinander zu entzweien; er bringt es fertig, das Söldnerheer Turennes zu kaufen. Eines Tages geben die in sich gespaltenen Pariser Frondisten nach. Mazarin rächt sich an keinem von ihnen und gewinnt sie alle für sich. Die militärischen Führer des aufsässigen Adels in der Provinz unterwerfen sich ohne Ausnahme. Sie werden ihre Erniedrigung weniger fühlen, wenn sie den neuen Hofstaat des Königs bilden und mithelfen, die absolute Monarchie bis zum letzten Giebelstein zu bauen.

Das Verhältnis Mazarins zu den Protestanten ist ein doppeltes. Einerseits bereitet er als Schrittmacher eines allfordernden Prinzips indirekt für sie eine Leidenszeit von fünfzig Jahren vor. Andererseits erweist er sich direkt den Hugenotten seiner Regierungszeit als nachsichtiger Gebieter. Es verlohnt, zur Erklärung dieses Lobs an die meisterhafte Charakteristik Mazarins zu erinnern, die wir Karl Federns Biografie verdanken:

»Mazarins Milde war nicht Schwäche und war nicht Güte, denn der Mann war weder schwach noch gut. Kein noch so leises Zeichen warmer Menschenliebe erscheint in seinen Taten oder seinen Worten. Seine Seele war karg und kühl. Seine Liebenswürdigkeit, seine verzeihende Sanftmut waren Manier und Mittel. Im Hause und in seiner Familie, gegen alle, die er nicht fürchtete, die von ihm abhingen, war er trocken und rau, als müsste er sich von der Mühe erholen und erleichtern, die die stete Maske ihm schuf. Seine Milde war nicht Christentum, das bei ihm höchst äußerlich war. Vielleicht war seine große Kälte die Ursache seiner Milde. Er tat das Schlimme nur, wenn es nötig war. Er war nicht böse noch blutgierig, so wie er nicht gütig und nicht liebevoll war. Er kannte nur Ärger, nicht Zorn; und sein Strafen, wenn er strafte, war, wie sein Verzeihen, eine von keinem Affekt getrübte Berechnung. Er musste rechnen, weil er ein Landfremder war und weil er wusste, dass man ihm Exekutionen französischer Menschen noch viel weniger verziehen hätte und keine Versöhnung mit dem Volk, das er regieren wollte, übrig geblieben wäre. Der starre Stolz und der rasche Griff zum Schwert lagen nicht in seinem Wesen. Er war ein Intellektueller und ein Rechner, ein Diplomat und ein Geschäftsmann, kein Aristokrat oder Krieger. Und weil alle im Grunde dieser seiner Milde Furcht und Berechnung lasen, fand das heiße, kriegerische Volk sie würdelos und dankte sie ihm nicht. Und alle sahen auch, dass er viel nahm und dass er schwer und wenig gab; dass er Versprechungen nicht hielt, dass man Belohnungen für geleistete Dienste ihm entreißen musste. Man fühlte durch die Ämter und Leistungen, durch die Eleganz des Auftretens, durch die nur beim ersten Mal gewinnende Rede immer die gemeine Seele hindurch.«

In diesem Sinne ist Mazarin milde gegen die Protestanten. Er ist milde, weil er, wie schon erwähnt, auf Cromwell, den mächtigsten Mann des Nordens, Rücksicht nehmen muss und weil er mit dem englischen Lord-Protektor, dem Beschützer der Protestanten Europas, einen Handelsvertrag schließen will. Er ist milde, weil er die Hugenotten im Land braucht. Die hervorragendsten hugenottischen Pfarrer waren loyal, vertrauensvoll und königstreu, ja entschlossene Anhänger des königlichen Absolutismus geworden. Die Machthaber unter dem protestantischen Adel nehmen an der Erhebung der Fronde nicht teil, im Gegenteil verteidigen sie die Stadt Montauban gegen die Frondeure. Damals sagt, wie Ruilhière überliefert, Mazarin über die Protestanten:
»Ich habe mich nicht über die ›kleine Herde‹ zu beklagen. Wenn sie sich auch von Unkraut nährt, läuft sie mir wenigstens nicht davon!« Und in der Erklärung von St. Germain lässt Mazarin den jungen König sagen: »Umso mehr, als unsere Untertanen von der ›religion prétendue réformée‹ uns gewisse Beweise ihrer Zuneigung und Treue gegeben haben, besonders in den jetzigen Umständen, mit denen Wir sehr zufrieden sind, tun Wir kund, dass sie aus diesen Gründen gehalten und gehegt werden sollen im vollen und restlosen Genuss des Gnadenedikts von Nantes.«

Dieser politisch begründeten Langmut der Regierung kommt auf Seiten der Protestanten eine Erweichung ihrer totalen Glaubensansprüche entgegen, eine neue façon de vivre, die man Neuhumanismus nennen könnte. Ein Abgleiten von den strengen, unbeugsamen, herben Linien Calvins wird deutlich. Der typische Vertreter dieser Richtung war schon zur Zeit Richelieus Valentin Conrart gewesen, Kirchenältester des berühmten Temple de Charenton vor Paris, der Begründer und ständige Sekretär der Académie Française. Im Jahre 1626 hatte er einen intellektuellliterarischen Zirkel in seinem Haus gegründet. Bald ersteht aus diesem als oberstes Landesinstitut für die Reinheit und Fortbildung der Sprache und der Literatur die eigentliche Académie unter der Protektion Richelieus. Der Gelehrte, dessen ausdrucksvolle Augen, dessen feine Hand uns noch heute ein Porträt von Le Feure lebendig macht, mag nicht »Hugenotte« sein, sondern nennt sich Protestant. Sein Haus gilt als ein »Seminar rechtschaffener Menschen«, und man nennt ihn wegen seiner humanen Gesinnung gerne »Philandre«. Den schöngeistigen Salon des katholischen Paris, das Hôtel de Rambouillet und Fräulein von Scudérie besucht er ebenso wie den entsprechenden protestantischen Kreis im Haus der Madame des Loges.

Diese Bewegung, welche vom protestantischen zum katholischen Lager Brücken allgemeiner Kultur und geisteswissenschaftlicher Studien schlägt, wird auch in der Provinz wirksam. Segrais schreibt von der Académie de Caen: »Vor der Aufhebung des Edikts von Nantes war es so, dass die Katholiken und die Hugenotten hier in vorzüglichem Einvernehmen lebten, dass sie gemeinsam aßen, tranken, spielten, sich vergnügten und dann in völliger Freiheit auseinander gingen, die einen, um die Messe zu besuchen, die anderen zur protestantischen Predigt, ohne dass einer am anderen den geringsten Anstoß genommen hätte.« Über dieselbe Académie de Caen urteilt Galland: »Vor der Schwelle der Akademie machte jeder Konfessionsunterschied Halt.«

Von Amyraut, dem bekannten Professor der protestantischen Fakultät von Saumur, wird berichtet, dass er beim Bischof von Chartres zu Mittag speiste, mit ihm über die Lehre von der Prädestination disputierte und danach auch die Schroffheit seiner diesbezüglichen Lehre milderte. Eine aufrichtige Philanthropie bildete den gemeinsamen Nenner aller dieser Persönlichkeiten, wie denn der Theologe Amyraut die letzten 10 Jahre seines Lebens sein Einkommen den Armen, und zwar katholischen und evangelischen Armen ohne Unterschied, überwies.

Zuletzt sei noch David Blondel erwähnt, als Protestant der bedeutendste kritische Kirchenhistoriker seiner Zeit. Als man seine besondere Begabung herausfindet, wird er von seinem Pfarramt freigemacht. Blondel ist der Forscher, der die Fälschung der pseudoisidorischen Dekretalen entdeckt; seine unparteiische Gerechtigkeit veranlasst ihn aber auch, festzustellen, dass die Überlieferung von der Päpstin Johanna – bisher ein wirkungsvolles Argument der Protestanten gegen die katholische Kirche – eine Legende ist.

Die Zuneigung Mazarins zu diesem liberalen und umgänglichen Flügel der Evangelischen in Frankreich bemisst sich nach seinen praktischen Bedürfnissen. Als er Amyraut und dessen Freunde nicht mehr gegen die Fronde braucht, verbietet er die evangelische Nationalsynode. Gerade angesichts seiner Allianzen mit protestantischen Mächten des Auslands muss er zu Zeiten umso eifriger auf die Einsprüche des katholischen Klerus im Inland hören.

Während ein freigeistiges Allerwelts-Christentum die hugenottischen Waffen rostig werden lässt, schleift die katholische Kirche ihre Waffen zu. Die einzelnen Antriebe in ihr verbinden sich zu Tatgemeinschaften, die Stimmen des in ihrem Schoß neu erwachenden Lebens klingen zu Chören zusammen. Der Herzog von Vantadour, Freund des königlichen Prinzen Gaston von Orléans, gründet als kirchlichen Geheimbund die »Compagnie du St. Sacrement de l’autel«, deren vornehmste Mitglieder in Paris wohnen und die sich bald allenthalben ausbreitet. Das Ziel der Compagnie ist, alles mögliche Gute zu tun und alles mögliche Übel zu bekämpfen, insbesondere dem sozialen Elend, dem Hunger und der Not der unteren Bevölkerungsschichten entgegenzusteuern. Weiter liegt es dem Geheimbund am Herzen, die Laster zu dämpfen und die Ketzerei, das ist den evangelischen Glauben, zu zerstören.

Eine »Congrégation de la Propagation de la Foi« hatte bereits 1632 der Pater Hyacinthe ins Leben gerufen. Man eröffnet Sammelhäuser zur Bekehrung von Kindern. Ihre Insassen kommen nicht immer freiwillig aus den protestantischen Familien. In diesen Zwangsanstalten werden sie so nachhaltig in den Horizont Roms eingetaucht, dass die evangelischen Eindrücke und Bilder aus dem protestantischen Elternhaus bald in ihnen verblasst sind.

Man entwickelt Methoden der Sabotage, um die evangelischen Schulen der Hugenotten abzubauen und um die Protestanten aus den Zünften herauszudrängen oder in ihren Berufen unmöglich zu machen. Beispielshalber vergisst die »Compagnie du St. Sacrement« von Paris nicht, den Wäscherinnen für die Statuten ihrer Organisation einen Paragraphen aufzulegen, nach welchem protestantische Zunftgenossinnen nicht aufgenommen werden – so dass z.B. die Inhaberin eines Wäscherinnen-Meisterbriefs, die Hugenottin Michelle Regnauld, nicht erreichen kann, dass ihre Firma eingeschrieben wird. Wir haben einen Bericht über die Irrfahrt des Aktenbündels, mit dem die Antragstellerin jeweils in Zeitabständen von drei Monaten bei einem anderen Stadtrat erscheint, welcher seinerseits weislich davon Abstand nimmt, sich mit der Sache zu befassen. Die Antragsreise der Michelle Regnauld durch Paris dauert sieben Jahre; endlich wird sie müde und zieht ihren Antrag zurück. In jeder Stadt befindet sich eine Gruppe von Agenten dieser katholischen Propaganda-Gesellschaften, die rastlos und skrupellos spionieren und anzeigen. Ein ungeheures Netz wird so über ganz Frankreich gespannt, dessen – wie es Allier ausdrückt – »lebendige Maschen von Tag zu Tag enger werden« und dem die einzelne Existenz kaum noch entschlüpfen kann. Es ist die Methode der »étroites limites«, der fortschreitenden Einengung, die Methode, welche umschließt, dann den Atem abdrosselt und erstickt.
Die theologische Begründung aller dieser Maßnahmen gibt später Bossuet mit dem Satz, dass es seit der Eroberung von La Rochelle, das heißt seit dem Ende der politischen Unabhängigkeit der Protestanten, für sie keine »verruchte Freiheit, im Irrtum zu verharren« mehr geben dürfe – eine überaus bittere Quittung auf die Verdammung der Gewissensfreiheit durch Beza.

Im Jahre 1661 stirbt Mazarin. In rastloser Tätigkeit sind seine Kräfte verbraucht, sein letzter Erfolg ist die Vermählung seines jungen königlichen Herrn mit der Infantin von Spanien. Nach dem Tode Cromwells 1658 ist Mazarin durch das neue Bundesverhältnis zu Spanien der mächtigste Mann Europas geworden. Auch der reichste Mann Europas ist er in der Zwischenzeit geworden; in den Jahren seit seiner Rückberufung nach Paris bis zu seinem Todesjahr hat er eine Drittelmilliarde aus dem Land gesogen und an sich gerafft. Er besitzt die 18 größten Diamanten Europas, ungeheure Massen von edelsten Perlen, Gold und Silber, die er in seinem Schloss in Vincennes zwischen Löwen, Tigern und Wölfen als Wachhunden aufgestapelt hat, ganz zu schweigen von Schlössern, Ländereien, Kunstsammlungen, Gemälden und Teppichen.

Bis zum vorletzten Abend seines Lebens lässt er sich die Spieltische ins Zimmer bringen, spielt und wägt die Goldstücke in seiner Hand, um die leichteren einzusetzen und die schwereren zurückzuhalten. Der jüngere Brienne, Sohn des Staatssekretärs Brienne, der sich hinter einem Gobelin versteckt hatte, beobachtete Mazarin, wie er kurz vor seinem Ende auf schlürfenden Pantoffeln, sich mühsam auf Tische und Stühle stützend, weiterschritt und seine Kostbarkeiten betrachtete, und er hörte ihn flüstern: »Das alles muss ich lassen … das alles werde ich nicht mehr sehen!« Bis zuletzt lässt sich Mazarin ankleiden, frisieren und schminken und so weit wie möglich in der Sänfte umhertragen. Als der spanische Gesandte Graf Fuensaldana den angemalten und zurechtgemachten Todkranken durch die Säle tragen sieht, bemerkt er boshaft: »Dieser Herr stellt den abgeschiedenen Kardinal von Mazarin vortrefflich dar.«

Nach der Ordnung des Nachlasses – einen Teil seiner Reichtümer vermacht Mazarin dem König, einen anderen seinen italienischen Verwandten – beordert er den Priester Joly, dass er ihn auf die letzte Stunde vorbereite. Er gesteht ihm, er könne eine eigentliche Reue über seine Sünde nicht empfinden. Dazwischen hinein wird er unruhig, packt ihn an und ruft: »Sprechen Sie mir von Gott, von Gott!« Joly muss ihm den Sinn des Messopfers erläutern, da Mazarin, wie er ihm sagt, die Messe vielleicht nie in der rechten Verfassung gehört habe. Um Mitternacht zwischen dem 8. und 9. März verscheidet der Kardinal, mit dem Namen Jesu auf den Lippen. 

 

KAPITEL VII

DAS STERBEN DES FRANZÖSISCHEN PROTESTANTISMUS

(LOUIS XIV.)

»Ein ungeheuerlicher Parasit, eine nicht vom Menschen selbst stammende und völlig proportionslose Idee lebt in ihm, entwickelt sich und erzeugt in ihm die unheilvollen Antriebe, mit denen sie schwanger geht. Er, der Besessene, sieht nicht voraus, dass er diese Entschließungen fassen würde, er wusste nicht, was sein Dogma eigentlich enthielt, noch welche vergifteten und mörderischen Folgerungen sich aus ihm ergeben werden.«
Hippolyte Taine, »Les Origines de la France contemporaine«. Bd. VII, S. 86.

Unmittelbar nach Mazarins Tod ergreift Ludwig XIV., seiner Vokation bewusst, trotz seiner Jugend schon jetzt formvollendet und sicher, die Regierung, ohne dem verstorbenen Kanzler einen Nachfolger zu bestellen. Mazarin, der der neuen Epoche Ludwigs XIV. die letzten Hemmnisse aus dem Weg geräumt und seinem jungen Souverän ein völlig entmündigtes Frankreich zu Füßen gelegt hat, hatte bereits das absolute Herrscherprinzip auf eine drastische Rechtsformel gebracht: »Wenn der König nicht wollte, dass man Quasten oder Zierknöpfe am Kragen trüge, so dürfte man keine haben: Denn es ist nicht die Verworfenheit einer Sache, die das Verbrechen statuiert, sondern ihre Verbotenheit.« Bossuet, der theologische Erzieher Ludwigs, fügt in seiner »Politique tirée des Saintes Ecritures« hinzu: »Das gesamte Staatswesen ist im König beschlossen. In Ihm ist die Macht, in Ihm ist der Wille des Volkes. Dem Fürsten allein gehört die gesetzliche Befehlsgewalt, Ihm allein das Eingriffsrecht (la force corrective)¬, dem Fürsten allein obliegt die Wohlfahrt (le soin général) des Volkes.

Jede Macht hängt von der Seinen ab, keine Zusammenkunft (assemblée) besteht zu Recht außer durch Seine Autorität.« Nicht von ungefähr entdecken jetzt die juristischen Räte des Hofs im Römischen Recht den Satz:
»Die Entscheidung des Fürsten hat Gesetzeskraft.« Sie folgern daraus, dass der Fürst seinen Willen zum Gesetz erheben kann und dass solches aus der königlichen Vollmacht fließt: Durch eine »ordonnance« kann er den Brauch, kann er das Gewohnheitsrecht ändern. Daher erlässt jetzt der König als solcher gültige Verordnungen und Edikte. Nicht von ungefähr kleidet auch der protestantische Prediger Chamier einen seelsorgerlichen Rat in das Gewand derselben Idee: »Diejenigen, welche die Monarchien regieren, sind in einem Zwischenzustand zwischen Gott und den Menschen und müssen sich oft zum Himmel erheben, um in den Schätzen der Weisheit Gottes die Idee des wahren Guten zu erfassen, und müssen dann wiederum zur Erde zurückkehren, um sie ihren Völkern mitzuteilen.«

Damit ist von einer Verantwortung des Regenten vor den Parlamentsgerichten nicht mehr die Rede. Die Berufung der Generalstände vom Jahre 1614, an deren Versammlung Richelieu als Anfänger in der großen Diplomatie teilgenommen hatte, blieb die letzte auf annähernd zwei Jahrhunderte hinaus. Der Souverän ist jetzt niemandem mehr verantwortlich als Gott, das heißt dem göttlichen Willen, so wie er ihn versteht …

Ein allerletzter Einspruch gegen die Hypostasierung des Königtums erhebt sich noch von Seiten Roms, weil sie unverträglich ist mit der Theorie Gregors VII. von der universellen Herrschaft des Papsttums, der Vollmacht des Papstes über das geistliche und zeitliche Wohl aller Königreiche und Völker; weil sie ferner unvereinbar ist mit der Theorie Bonifaz’ VIII., die in zwei Schwertern die Macht der Welt abbildet: Das weltliche Schwert ist wohl den Königen der Erde anvertraut, aber es steht unter der Hoheit des Nachfolgers Petri. Im Zurückgreifen auf die gallikanischen Traditionen und Ansprüche Frankreichs und im Bewusstsein starker politischer Überlegenheit wird es Ludwig nicht schwer sein, gegenüber den Ansprüchen des Papsttums die alten kirchlichen Ansprüche Frankreichs von neuem zu erheben und feierlich festzustellen, dass das französische Königtum als solches de jure divino, auf Grund göttlichen Rechts, bestehe.

Ein ernsthafter Einspruch von Seiten der protestantischen Kirche Frankreichs wird kaum erhoben. Die wenigsten unter den Reformierten ahnen, was die folgerichtige Auswirkung dieses unersättlichen Prinzips für sie bedeuten wird. Einzelne, wie der bald verbannte Prediger Jurieu, erinnern sich an die warnenden Gedanken Hotmans. Jurieu ist es auch, der, als nun die Saat für die Protestanten reif ist, im Jahr des Ausrottungsedikts von Fontainebleau erschütternde Worte der Gebetsklage findet:

»O Herr, Du bist der Gott der Götter; so nennst Du Dich ja auch in der Heiligen Schrift. Du bist Gott, und also bete ich Dich an und gebe Dir alle Ehre in meinem Herzen, das Dein Tempel ist, und im Weltall, das Dein herrlicher Palast ist. Aber lass mich heute zu Dir nicht als zu Gott, dem einzigen Gott sprechen, sondern als zu meinem König und meinem einzigen König!

Du lässt es zu, dass man einige Menschen Könige nennt, wie Du Selbst sie ja auch ›Götter‹ nennst, obgleich sie an Deiner königlichen Majestät so wenig teilhaben wie an Deiner göttlichen Majestät. Gleichwohl handeln sie, als ob sie mit allen Deinen Rechten bekleidet wären, als ob wir nichts für Dich bedeuteten und als ob Du nichts für uns bedeutetest; als ob wir ihre Geschöpfe und das Werk ihrer Hand wären, unterfangen sie sich, uns zu vernichten; als ob sie uns aus dem Nichts hervorgebracht hätten, wollen sie uns dorthin zurücksenden. Ihre Herrschaft erstreckt sich nicht nur auf Fleisch und Blut, sondern sie wollen über unsere Seelen herrschen, sie wollen König sein über die Herzen und über die Gewissen, und wir vernehmen mit Zittern die schrecklichen Worte: ›Der König befiehlt euch, eure Religion zu verlassen und eine andere anzunehmen‹, von unserem Gott zu lassen und nur seinem Gott zu dienen. Hast Du denn, Herr, aufgehört, unser König zu sein? Hast Du Dir nur noch die Göttlichkeit vorbehalten, und hast Du auf die Königsherrschaft verzichtet? Und verlangst Du von uns die Unterwerfung unter das Joch dieser Menschen, die nicht mehr wie Könige, sondern wie Götter handeln?

Deine göttliche Majestät schaut eine Menge gemeiner Kreaturen, die sich vor menschlichem Staub in den Staub werfen und die einem Sterblichen – ja einem Menschen, der sterben wird, – tausendmal eifriger und inbrünstiger Anbetung zollen als Dir, der Du ebensowohl unser Gott bist wie unser König. Du siehst, o König der Könige, ein Volk von Schmeichlern, das in einem neuen Götzendienst die Namen ›der Große‹, ›der Unbesiegbare‹, ›der Erhabene‹, ›der immer Siegreiche‹, ›der Hochweise‹, ›der Allgerechte‹, ›der Allgütige‹ einem Menschen zuteilt, der sich eines Tages wegen seines Wandels auf Erden vor Deinem gerechten Gerichtshof verantworten muss. O König des Weltalls, wo bleibt Deine Eifersucht? Wo sind die Zeiten geblieben, da Du vor den Augen der Völker die menschlichen Götzen zerbrachst, denen man zugerufen hatte: ›Es ist die Stimme Gottes und nicht eines Menschen!‹ Es jammert mein Herz, welches um Deine Ehre eifert, wenn ich bedenke, dass man von den Lobpreisungen zu Ehren eines Menschen, der doch nur einer Deiner Schatten ist, tausendmal mehr Bände schreiben könnte, als die zu Deiner Ehre geschriebenen Lobpreisungen in der Heiligen Schrift, auch wenn man zu ihr alle die göttlichen Lobgesänge hinzufügte, welche die Seraphim, die Erzengel, die Engel und die Seligen zu Deiner Ehre im Himmel singen.

Ich werde schamrot, wenn ich sehe, dass diejenigen, die sich die Diener Deiner göttlichen Majestät nennen, mit vollen Händen einem König aus Staub und Asche Weihrauch streuen. Ich zittere, wenn ich daran denke, dass auf den Kanzeln, die bestimmt sind, die Menschen zur Buße zu rufen, sie zunichte zu machen und allein Deine Herrlichkeit zu verkündigen – dass man auf diesen Kanzeln immerdar einen Menschen feiert, indem man von seinen Tugenden spricht, vom Glanz seiner Taten, von den Wundern seiner Siege, von der hohen Weisheit seines Wandels und ihn zum Schiedsrichter über das Geschick aller Menschen macht, als den, der Glück und Unglück, Frieden und Krieg, Heil und Unheil der menschlichen Wesen schafft.« (Réflexions sur la cruelle persécution que souffre l‘Eglise réformée de France, 1685.)

Neben den unbegrenzten Ansprüchen der Regierung Ludwigs XIV. an die Seele der Nation und den Gehorsam der Untertanen steht, ihr verbündet, die katholische Kirche. Sie ist ihrerseits in ihrem starken Zentrum, das eine widerstandsfähige Legierung von christlichem Feinmetall und weltlichem Grobmetall darstellt, als Kirche dem Staat untertan; sein wertvollster Vertreter ist Bossuet. Der rechte Flügel der katholischen Kirche, der Neu-Augustinismus der Jansenisten, ist ein edles, feingoldhaltiges Gebilde, welchem feindliche Einflüsse viel Schaden getan haben. Sein Gegenfaktor, der linke, jesuitische Flügel der katholischen Kirche Frankreichs, der immerdar etwas von dem elastischen, diamantharten und spitzen Stahl der spanischen Klingen von Toledo an sich hat, wird nicht ruhen, bis die Segensspuren jener frommen Männer und Frauen aus dem Bewusstsein des Volkes getilgt sind. Er wird nur den Namen des Mannes nicht zerstören können, der einen noch feineren Geist hatte als sie alle, und anders als sie eine völlig lautere Seele, und noch mehr: der den Geist Gottes in sich trug – den gesegneten Namen Blaise Pascals.

Es ist die doppelte Tragik des Protestantismus in den Jahrzehnten vor der Katastrophe von 1685, dass der genialste Christ des damaligen Frankreichs, Pascal, nicht aus seinen Reihen hervorgegangen war und nie in seine Reihen eingetreten ist, und zum anderen, dass er keinen kirchlichen Führer aufzuweisen vermochte, der an Bedeutung dem großen und auch innerlich wertvollen Bossuet gleichgekommen wäre. So scheint es wenigstens menschlichen Gedanken, doch war es Gottes Ratschluss, dass das Werk einer verachteten und immer mehr verachteten reformierten Kirche ein halbes Jahrhundert lang durch schlichte und unbekannte Soldaten Seines Reiches getan werden sollte, welche ihrem Herrn die Treue hielten, litten und starben, und deren verklungenes Glaubenszeugnis die Voraussetzung für den Neuanfang des Protestantismus schuf.

Die katholische Kirche zur Zeit Ludwigs XIV. kann man dahingegen beschreiben als die Kirche der bekannten und der brillanten Namen: Bossuet, Bourdaloue, Fénelon, Fléchier, Massillon. Um ihr gerecht zu werden, soll wenigstens hier ein Bild Bossuets gezeichnet werden, weil er ihr größter Vertreter ist, weil er als solcher ein gefährlicher Feind des Protestantismus wurde und weil die ernste Verkündigung dieses Hofpredigers dazu beiträgt, Ludwig XIV. gerecht zu belasten, entgegen der Sucht mancher Geschichtsschreiber, für jeden Großverbrecher der Weltgeschichte entlastende, aber niemals belastende Momente herauszustellen. Nebenbei bemerkt, kann in die Erwägung der Verantwortlichkeit des Königs teilweise auch Bossuets Nachfolger, Bourdaloue, mit einbezogen werden, sofern Frau von Sévigné offenbar ernsthaft von seiner Wortverkündigung berichtet: »Der Pater Bourdaloue hielt am Notre-Dame-Tag eine Predigt, die jedermann fortriss. Er sprach so mächtig, dass die Höflinge zitterten, und niemals hat ein evangelischer (sic!) Prediger die christlichen Wahrheiten so vernehmlich und großzügig (hautement et généreusement) verkündet. Es handelte sich aber darum, aufzuzeigen, dass jede irdische Macht dem Gesetz Gottes untertan sein muss, nach dem Vorbild unseres Herrn Jesus Christus … « (Brief an ihre Tochter vom 5. Febr. 1674).

Bossuet ist im Jahre 1627 in Dijon als Kind eines höheren Beamten geboren. Nachdem sein Vater nach Metz als Ratsdekan des dortigen Parlamentsgerichts berufen ist, bleibt sein Sohn, ein frühreifer Knabe mit schwarzen, sanften Augen, in der Obhut seines Bruders daheim zurück und besucht das Collège der dortigen Jesuiten; mit 8 Jahren erhält er als dem geistlichen Stande geweiht die Tonsur. Schon früh fällt sein außerordentliches Gedächtnis auf: Bald weiß er den ganzen Virgil, dann den Homer auswendig. Später entdeckt er die Bibel, die ihm eine persönliche Offenbarung wird und aus der er sich geradezu nährt. Als er dem Vater nach Metz gefolgt ist, wird er im Alter von 13 Jahren zum Kanonikus der Kathedrale von Metz ernannt. Die Fehler anderer Jünglinge seines Alters weist er nicht auf, an ihren leichtsinnigen Unternehmungen nimmt er nicht teil. Frühzeitig beherrscht ihn eine Leidenschaft für alles Wahre, Gute und Schöne. Nach dem Aufenthalt in Metz studiert er Philosophie im alten Collège de Navarre zu Paris und leuchtet dort als Stern und Vorbild. Mit 25 Jahren wird Bossuet Diakonus, dann Archidiakonus, dann Priester in Metz, eifrig predigend und mit allen Kräften die dortigen zahlreichen Protestanten bekämpfend.

Auf dem Höhepunkt seines Wirkens aber finden wir ihn nach dieser zweiten Metzer Zeit in Paris als gefeierten Prediger. Er wirkt in der Hauptstadt etwa bis 1669; die Massivitäten und derb-volks-tümlichen Ausdrücke seiner bisherigen Kanzelsprache fallen hier wie welke Blätter von ihm ab. Zuerst von der Königin-Regentin Anna als klassischer christlicher Redner hoch geschätzt, wird er auch von dem jungen König Ludwig XIV. ausgezeichnet, der seinen Vater ob eines solchen Sohnes beglückwünscht. Von 1670 bis 1679 wird ihm mit einigen anderen die Erziehung und Unterweisung des geistig stumpfen Dauphin, der nie König werden wird, anvertraut. Für den königlichen Zögling schreibt Bossuet eine Reihe von Abhandlungen und Büchern, darunter neben der schon angeführten »Politique des Saintes Ecritures« die »Abhandlung über die Erkenntnis Gottes und seiner selbst«, sowie den »Abriss der Universalgeschichte«.

Nachdem die Erziehung des Kronprinzen beendigt ist, erhält Bossuet das Bistum Meaux, in dem einst Briçonnet, der Reformkatholik mit dem halben Herzen, amtierte und in dem die erste evangelische Gemeinde erstand. Er bleibt auch dort der Vertreter der gesamten katholischen Kirche des Landes: ihr Vater, ihr Orakel und Mund, der anerkannte Prediger in großen Feierstunden, der bei besonderen Festlichkeiten und Trauerfällen immer wieder in Erscheinung tritt. Gelegentlich der Reichsversammlung des französischen Klerus im Jahre 1681 figuriert er als geistliches Haupt der Versammlung. Gegen die Übergriffe des päpstlichen Rom verfasst er die gallikanische Erklärung von 1682, welche proklamiert:

1.     die Unabhängigkeit des französischen Königs in weltlichen Angelegenheiten;
2.     die Unfehlbarkeit der Kirche (nicht des Papstes);
3.     den Primat des Papstes, jedoch neben ihm die Gleichordnung der Bischöfe als seiner Pairs und als direkte Nachfolger der Apostel.

Außerdem setzt er noch 1700, also kurz vor seinem Tod, eine Verdammung der Kasuisten, das heißt der Jesuitenmoral, durch, obwohl er weder Jansenist ist, noch die Kritik des Jesuitismus durch Pascals »Lettres à un Provincial« unterstützt.

Als er einige Jahre später den Pfarrer von Vareddes an sein Sterbebett kommen lässt und dieser seiner Beschämung Ausdruck gibt, einem so begnadigten Mann etwas sagen zu sollen, antwortet er demütig: »Täuschen Sie sich nicht! Gott gibt wohl dem einzelnen Menschen Gaben für die anderen, doch lässt Er ihn selbst oft genug in der Dunkelheit!«

Die Wortverkündigung Bossuets an die Gemeinde trägt weithin evangelische Züge in ihrer tiefen Abhängigkeit von Gott und Gottes Wort. Schon in Metz schließt er die »Predigt vom neunten Sonntag nach Pfingsten« mit den Worten:… »selon que Dieu me l’a inspiré«. In solcher Abhängigkeit von Gottes Geist will er jederzeit der Prediger der Heiligen Schrift sein, die er über alles liebt, in ihr besonders Jesaja, überhaupt die Propheten und die Psalmen. Er predigt im Stil eines Propheten, als ein Jesaja des Neuen Bundes. Er erschreckt die Zuhörer und erzeugt in ihnen Gewissensbisse, um sie zur Einkehr zu bringen. »Alle seine Reden sind Kämpfe auf Tod und Leben«, berichtet Madame de Sévigné.

Die seinen Predigten zu Grunde liegende Glaubensauffassung ist sehr einfach und genuin französisch gedacht. Die Religion schafft Klarheit und Gewissheit. Ohne sie ist alles dunkel, zweifelhaft und anfällig, durch den rechten Glauben wird alles erst »verständlich«, die Welt sowohl wie das menschliche Leben. Auch sein Lieblingsthema, das Glück, behandelt er rational, indem er es beschreibt als die »raison toujours attentive et toujours contente«, »die allezeit achtsame und allezeit genugsame Vernunft«.

Sein Sekretär in Meaux, der Abbé Le Dieu, skizziert einmal die Predigtvorbereitung seines Vorgesetzten. »Eines Tages, es war in der Fastenzeit, als er sich anschickte, in die Kirche St. Saintin zu gehen, um über die Zehn Gebote zu sprechen, sah ich ihn seine Bibel nehmen und barhäuptig und auf den Knien daraus die Kapitel XIX und XX des Exodus lesen, um sich die Blitze und den Donner und den Ton der Posaunen einzuprägen, mitsamt dem rauchenden Berg und all den Schrecken ringsum in Gegenwart der göttlichen Majestät – zuerst selbst erzitternd, um dann in seiner Rede die Herzen zum Erzittern zu bringen und sie schließlich für die Botschaft der Liebe zu öffnen. Dann, nach seiner Predigt, und wie um sich vor dem Beifall zu retten, kehrte er sogleich zu seiner Wohnung zurück und hielt sich dort verborgen, indem er Gott die Ehre gab für alle Gaben und für alle Barmherzigkeit – ohne zu Hause das geringste Wort verlautbaren zu lassen über die vollbrachte Leistung oder über den Erfolg, den er davongetragen hatte.«

Die Dogmatik Bossuets ist nichts als die orthodoxe katholische Glaubenslehre, in einfachen Linien mit dem Prinzip des absoluten Königtums zusammengefasst: »Ein Gott, ein Christus, ein Bischof, ein König«. In seinem Lehrgebäude spricht alles vom »juste milieu« eines französischen Normalkatholiken. »Il voit juste.« Er kennt keine Schwärmerei oder Gedankentollheiten, ja nicht einmal in seiner Ethik Exzesse der Tugend. Bestimmend für ihn ist die »Exaktheit in den Grenzen des Wahren, des Möglichen, des Nützlichen: Er ist gar zu weise, gar zu verständig« (Lanson)¬. Gerade hierin ist er ein Gegenstück zu Pascal, der in seinen »Pensées« sich selbst Einwendungen macht, der diese Einwendungen überwindet auf dem Wege innerer Auseinandersetzungen und innerer Selbstbezwingung. Bossuet scheint sich niemals dergleichen Fragen, nicht einmal die erste Frage nach dem Seligwerden, gestellt zu haben.

Im Schatten der Kirche erzogen, ist er schlicht zu ihrer Ehre und zu ihrer Verteidigung aufgewachsen, ohne sich je von ihr zu entfernen, allewege unerschütterlich und niemals kirchlich aus der Fassung zu bringen. Die bereits zu seiner Zeit einsetzende philologische Literarkritik der Heiligen Schrift, zum Beispiel in Sachen der mosaischen Tradition, gleitet von ihm ab. Wenn textkritische Schwierigkeiten oder Auslegungsprobleme entstehen, schlägt er die Knoten durch, sucht und findet Gewaltlösungen und geht dann den geraden Weg des einfachen Glaubens unbeirrt weiter. Einen Textkritiker der Schrift wie Richard Simon bekämpft er als Gefahr für die Kirche. Alle seine Gewissheit setzt er in den Himmel, aber, und hier liegt der wunde Punkt seines Lebens, er »verdoppelt die Akzente der Kraft und Autorität, sobald seine Füße besonders fest auf der Erde Frankreichs stehen«. Hier öffnet sich ein Abgrund zwischen dem christlichen Glaubenszeugnis der Bekenner, das in Angst und Not und über tiefen Klüften ausgesprochen wird, und der natürlich-fortreißenden Rede des Genius. Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass Bossuet in seinen »Oraisons funèbres« und bei anderen sonderlichen Amtshandlungen von der Art der biblischen Wahrheitszeugen sich weit unterschied.

Gegen die Evangelischen hat Bossuet sein langes Leben hindurch einen Krieg geführt, der keinen Waffenstillstand kannte. Er sieht im reformierten Glauben einen zügellosen Subjektivismus, der notwendig und unausweichlich entweder in der Aufklärung oder in der Schwärmerei (illuminisme) enden muss. Der Protestantismus ist ihm »la révolte du sens individuel contre l‘Eglise«. Einmal, es ist in Paris, gerät Bossuet in eine öffentliche Kontroverse mit dem hugenottischen Pfarrer Jean Claude. Er bekennt davon später, dass er bei den vorzüglichen Ausführungen des Protestanten für die Seelen der Zuhörer gezittert habe. Literarisch tritt er in seinem »Abriss der Universalgeschichte«, und zwar in Übereinstimmung mit seiner theologischen Verfechtung des königlichen Absolutismus, ein für die daraus folgende Verpflichtung der Krone, den rechten Glauben gegenüber den Ketzern zu verteidigen. »Wenn der König, euer Herr Vater,« so redet er den Dauphin an, »die Ketzerei mit so zahlreichen Mitteln bekämpft und dies noch mehr tut, als bis anjetzt seine Vorgänger, so geschieht das nicht, weil er für seinen Thron fürchtet. Denn alles ist still zu seinen Füßen, und seine Waffen sind auf der ganzen Erde gefürchtet. Aber er tut es, weil er seine Völker liebt, und weil er, der er sich durch die Hand Gottes zu einer unvergleichlichen Macht im Universum berufen sieht, von seiner Gewalt keinen schöneren Gebrauch machen könnte, als sie in den Dienst der Kirche zu stellen, dass er ihre Wunden heile.«

Als Ludwig XIV. das Gnadenedikt von Nantes aufhebt, teilt Bossuet, noch päpstlicher als der Papst, die Meinung des Mitunterzeichners der neuen Verfügung, Le Tellier, dass die Weisheit und Frömmigkeit dieser königlichen Tat zu preisen sei. Die Ausrottungsparagraphen wendet er ohne irgendeinen Begriff von grundsätzlicher Toleranz gemäßigt an, insbesondere aus der Furcht heraus, durch erzwungene und falsche Bekehrungen die Sakramente entheiligt zu sehen.

Unter dem Eindruck des Gesamtbilds Bossuets als der anerkannten Verkörperung des französischen Katholizismus seiner Zeit wirkt das bald alles andere verdrängende Bild des neu gekrönten, überaus katholischen Allherrschers Ludwig XIV. fremd und anders geartet, fast noch mehr anders geartet in seinen späteren bigotten Jahren als in seiner weltlichen Jugendperiode – wie denn Anderssein überhaupt für Ludwig XIV. kennzeichnend ist.

»Ludwig mag als Inbegriff der Größe Frankreichs erscheinen: Das eigentliche französische Wesen findet in ihm nicht seine Verkörperung« (Seignobos). Er hat nichts von Franz I., den das Volk liebte, weil es in ihm seine Art, seinen Geist und seine Schwächen erkannte. Er hat nichts von dem quicklebendigen, einfallsreichen, witzigen Heinrich IV., seinem Großvater. Er hat nichts vom Geist der französischen Renaissance; um das zu sehen, genügt es, Schloss Chambord mit Ludwigs Schloss in Versailles zu vergleichen. Er ist anders als seine schwache Mutter und anders als sein zerfahrener Vater, wenn nämlich Ludwig XIII. sein Vater war. Und wenn Mazarin sein natürlicher Vater gewesen ist, dann war Ludwig auch anders als der geschmeidige Sizilianer.

Äußerlich ähnlich ist Ludwig der spanischen Lebensart. Als Sohn einer spanischen Habsburgerin und als Gatte einer spanischen Infantin bringt er viel von spanischem Formenwesen nach Frankreich: spanische Glanzentfaltung, höfische Repräsentation und Etikette. Steife Feierlichkeit zieht mit ihm in Paris ein und bahnt den Prozess einer fortschreitenden glänzenden Erstarrung an. Alles ist korrekt und wird immer korrekter. Das spätere Wort Ludwigs XVIII.: »L’exactitude est la politesse des rois« ist vielleicht eine unwillkürliche Erinnerung an den Schlossherrn von Versailles. Der König lebt nicht mehr wie ein ungebundener großer Edelmann, sondern arbeitet als der höchste Beamte Frankreichs, richtiger als der Amtsträger Frankreichs beinahe bürokratisch in ewig festgelegten Geleisen.

Als Bausteine für sein Werk nimmt er die Werte der Gegenwart, wo er sie findet, und braucht sie auf. Er lässt die Talente der Provinz in Erscheinung treten, indem er aus der gehobenen Bourgeoisie den Briefadel schafft, der seinerseits ihn erhebt und ihm dient. Noch mehr aber versteht er die Kräfte und Anstöße der kulturell überreichen letzten Generation »wie in einem Brennglas zu sammeln und sie zusammengefasst zu einer ungeheuren Lichtwirkung zu bringen, in der sie sich teils langsam erschöpfen, teils auch vorzeitig trübe werden und verlöschen«.

Sonderlich die Kunst, die bisher vornehmlich der Religion diente, stellt Ludwig in den Dienst der Staatsherrlichkeit, die in ihm seine Verkörperung hat. In der Architektur verbietet sich ihm der von den Gegebenheiten dieser Erde fortweisende gotische Kirchenbaustil von selbst. Die Baukunst hat die Glorie seiner Herrschaft zu erhöhen und wird in römisch-cäsaristischem Klassizismus und in prunkvollem Barock mit flächenhaften Ornamenten die Wucht, den Glanz und die Flächenhaftigkeit seines Lebens vollendet wiedergeben.

Wenn die Geschichte der bourbonischen Dynastie einmal in einer Kurve gedacht wird, so ist die Ära Ludwigs XIV. als Phase dieser Kurve ihr Höhepunkt, das heißt also der Punkt, von dem ab sie sich, und zwar schon während seines langen Lebens, zu senken beginnt; im Rahmen eines rechtwinkligen Koordinatensystems, dessen Abszisse den Zeitverlauf darstellt und dessen Ordinate den höchsten Punkt der Machtkurve trägt, würde die Abszisse etwa im Jahre 1670 geschnitten werden. Eben darum prangt die Kultur Ludwigs XIV. im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts in allen satten Farben des Spätsommers, und der Duft, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch die zahllosen Säle von Versailles zieht, erinnert je länger je mehr an den würzig-müden Geruch goldbrauner, fermentierender Blätter im Herbst. Auch die hoch begabten Geschlechter des vergangenen Jahrhunderts sind dann abgewelkt, und eine Komparserie von Menschen kleinen Kalibers und unzähliges byzantinisches Geschmeiß treibt im kalten Rampenlicht des Hofs sein Spiel um den alt gewordenen Monarchen.

Für das Verhältnis von Religion und Staat bringt die Zeit und das System Ludwigs XIV. die letzte Entscheidung. Geometrisch gedacht könnte man sich den christlichen Glauben und die königliche Staatsgewalt vorstellen als zwei auf verschiedenen Ebenen liegende Wirklichkeiten. Mit dem Prozess der Verweltlichung der Kirche wird gleichsam das Kraftfeld des Kreuzes so geneigt, dass es schließlich mit dem der Krone annähernd auf die gleiche Ebene zu liegen kommt. Diese ebene Fläche hat die Form einer Ellipse, deren beide Brennpunkte Kreuz und Krone sind, und jetzt beginnt im weiteren Verlauf der kirchlichen Säkularisierung eine unheimliche Macht, die Ellipse so zusammenzupressen, dass sie zu einem Kreis mit einem einzigen Brennpunkt wird. Kreuz und Krone fallen zusammen, entweder so, dass das Kreuz die Krone überdeckt – das ist das Bild der Herrschaft Philipps II. von Spanien – oder so, dass die Krone das Kreuz verschlingt – das ist die Herrschaft Ludwigs XIV.

So wird Ludwig XIV., aktuell auf dem Grund des absoluten Königtums lebend, monomaner Vollstrecker seines Staatsaxioms. So wird Philipp II. von Spanien, auf dem zeitlosen Fundament unveränderlichen Glaubens lebend, folgerichtiger Exekutor des kirchlichen Dogmas. In diesem Sinne schreibt Philipp in Sachen seines scheinbaren Nachgebens gegenüber der niederländischen Regentin nach Rom: »… so könnt Ihr Seiner Heiligkeit versichern, dass ich, ehe ich den geringsten Bruch in der Religion und im Dienst an Gott geschehen lasse, eher alle meine Staaten verlieren will und hundertmal mein Leben, wenn ich es hätte …« In diesem Sinne setzt Rudolf Schneider vor seine Charakterbeschreibung des spanischen Königs das Wort Fichtes vom Regenten: »Auf diese Weise ergreift und durchdringt ihn die Idee ganz, durchaus und ohne Rückhalt, und es bleibt nichts übrig von seiner Person und seinem Lebenslauf, das nicht ihr als ein immer währendes Opfer fortbrenne.«

Ludwig XIV. ist durchaus anders orientiert als Philipp II. Er verliert sich nicht in seinem Amt, sondern spiegelt sich in ihm. Man glaubt an diesen König als an die Inkarnation der gottgesetzten irdischen Zentralautorität – auch die Reformierten glauben so an ihn – weil man sieht, dass er an sich glaubt, besser, dass er unverbrüchlich an die göttliche Würde glaubt, deren Erscheinungsform er ist. Sein natürliches Ich ist eine Verwirklichung seines königlichen Ichs. Dieses Denksystem hat den Vorteil einer unübertrefflichen Geschlossenheit für seinen Träger, der in untrennbarer Personalunion mit seinem Amt steht und der mit dem spanischen Shakespeare, mit Lope de Vega, von sich sagen kann: »Yo me sucedo a mi mismo«, »Ich bin der Fortsetzer meiner selbst.« Die persönlichen Eigentümlichkeiten oder Lebensäußerungen oder Anwandlungen sind dann nur Begleitumstände, den Wellen auf dem grenzenlos tiefen Meer gleich, deren Gekräusel am Ozean nichts verändert. Es verschlägt letztlich nichts, ob der Souverän ein großer Mann ist, gemessen an der schwindelnden Höhe des Postaments, auf den ihn die neue Ideologie gestellt hat.

Der letzte Widerstand, der sich diesem Prinzip in Frankreich entgegenstemmt, ist der Protestantismus mit seinem Zeugnis vom ganzen Anspruch Gottes an die Seele: ein erratischer Block, ein gewaltiger Meteorstein vor dem Endziel der Rennbahn, den man zur Seite wirft oder sprengt – den man zur Seite wirft, oder, wenn das nicht genügt, den man sprengt: Das ist im Bild der Abriss des protestantischen Schicksals in Frankreich innerhalb der Regierung Ludwigs XIV. in seinen beiden Abschnitten der Jahre 1661-1684, und abermals von 1685 bis gegen 1715. Inwieweit Ludwig XIV. sein Vernichtungswerk in klarem Erfassen, in reflektiertem Bewusstsein dieser inneren Spannungen tut, oder inwieweit er in seiner Verfolgung der reformierten Kirche mit der dumpfen Instinktsicherheit eines Besessenen handelt, steht dahin. Für das Letztere sprechen besonders die Auskünfte St. Simons, die auch geeignet sind, das grauenhafte Schuldkonto Ludwigs um ein weniges zu verringern.

Zuvor ist daran zu erinnern, dass ihm als Katholiken von vornherein die Religion sehr vielmehr eine Summe von magischen Handlungen mit religiöser Bedeutung ist, denn eine Lehre und Botschaft. Infolgedessen muss ihm die reformierte Kirche Frankreichs, als aller Zeremonien entbehrend und auf das rechte Evangelium sich berufend, unverständlich, fremdartig, ja verdächtig erscheinen. Über die wahren Qualitäten, Anliegen und Nöte seiner protestantischen Untertanen hält ihn seine Umgebung geflissentlich in Unwissenheit. »Ich möchte wünschen, dass der König einsähe, wie weit er davon entfernt ist, jemals die Wahrheit zu erfahren«, schreibt Frau von Sévigné 1664 an den Marquis von Pomponne. St. Simon, der bedeutendste zeitgenössische Chronist, spricht in scharfen Ausdrücken von der »massivsten Unwissenheit in jeder Beziehung, in der man den König mit Vorbedacht erzogen hatte«.

Er fährt fort: »Die Königin-Mutter, und der König noch viel mehr als sie in der Folge, hatten sich, verführt durch die Jesuiten, durch jene von dem exakten und präzisen Gegenteil der Wahrheit überzeugen lassen, nämlich dass jede andere Richtung als die ihrige wider die königliche Autorität sei und schlechterdings einen Geist der Unabhängigkeit und des republikanischen Denkens habe. Über alle diese Dinge, wie über viele andere, wusste der König nicht mehr als ein Kind, … und war in Sachen seiner Autorität empfindlich bis zur Sinnlosigkeit…. (Später) war der König fromm geworden, und zwar fromm im Sinne einer allerletzten Unwissenheit. Mit der Frömmigkeit verband sich ihm die Politik. Man wollte ihm gefallen, indem man an die Punkte rührte, in denen er am empfindlichsten war, an die Fragen der Frömmigkeit und des Machtanspruchs. Man malte ihm die Hugenotten in den schwärzesten Farben: ein Staatswesen im Staatswesen, zu dieser Zügellosigkeit (der Prätension) emporgestiegen durch Aufruhr, Aufstand, Bürgerkriege, Verbindung mit dem Ausland, offenen Widerstand gegen die Könige seiner Vorgänger, und er selbst (der König) dazu gezwungen, mit ihnen in gütlichem Vertragsverhältnis zu leben«.

Es ist kaum anzunehmen, dass das Bild eines so scharfen Beobachters stark verzeichnet ist. Die Tatsache, dass gelegentlich die Stimmen der reformierten Gemeinden, wie einmal in der Person des Pariser Predigers Jean Claude, bis in die Ohren des Königs drangen, ohne seine vorgefasste Meinung im Geringsten zu erschüttern, bestätigt nur die gezeichnete Linie. Auch das, was Ludwig auf ein treues Schreiben des großen Kurfürsten von Brandenburg mit herzlicher Fürbitte für dessen bedrängte französische Glaubensgenossen antwortet, zeugt von der gleichen Ahnungslosigkeit des Königs über seine Unwissenheit in Sachen der evangelischen Gemeinden und ihres traurigen Geschickes – wenn nicht von einem Gewissen, das schon zu viel von jesuitischen Methoden weiß. So nämlich schreibt Ludwig XIV. am 10. September 1666 an den reformierten Brandenburger: »Es gibt in meinem Königreich keinerlei kleine oder große Angelegenheiten der Art, von welcher hier die Rede ist (nämlich der religiösen Bedrückungen), die mir nicht völlig bekannt wären, ja, die ohne meine Befehle geschähen … Eine meiner vornehmsten Praktiken (applications) ist: gewissenhaft dafür zu sorgen, dass meinen Untertanen von der genannten Religion alles zuteil wird, was ihnen durch die Konzessionen der Könige, meiner Vorgänger, zusteht, sowie auch durch die meinigen kraft meiner Edikte, ohne dass ich eine Zuwiderhandlung gegen diese Erlasse dulde.«

Die um das Jahr 1680 in Erscheinung tretende Bekehrung des Königs zu einem sittlich geordneten Leben steht unverkennbar im innigsten Zusammenhang mit seiner Einwilligung zur Ausmerzung des reformierten Glaubens. Es ist notwendig, zum Verständnis dieses Umschwungs ein wenig zurückzugreifen. Die Jugend Ludwigs, beherrscht von der jünglingshaften und reinen Liebe zu der stolzen Nichte Mazarins, Maria Mancini, erlebt, dass die kalte Hand des allmächtigen Kanzlers die junge Knospe seiner Neigung knickt. Aus politischen Gründen wird Ludwig mit der spanischen Infantin vermählt, die ihm zuerst gefällt, aber deren gleichmütiges Temperament ihn bald langweilt. Neben sie tritt nun eine Reihe von Mätressen und Liebesverhältnissen, unter denen der Doppelehebruch mit Frau von Montespan ihn am schwersten belastet, obgleich sein jesuitischer Beichtvater Père Lachaise nicht wagt, ihn wegen dieser, kirchlich gesprochen, Todsünde von den Sakramenten auszuschließen. In der Mitte der vierziger Jahre seines Lebens nimmt der Einfluss der katholisch-orthodoxen Madame Scarron – diese abtrünnige Tochter aus dem wundervollen hugenottischen Geschlecht der d’Aubigné sollte die Mutter des zweiten großen Hugenottenmordens in Frankreich werden – derartig zu, dass der König den Aufforderungen seines jesuitischen Beichtvaters zur Überprüfung und zur Wiedergutmachung seines Lebens auf anderem Wege ein immer willigeres Ohr schenkt.

Die Bekehrung des Königs und die Bekehrung der Ketzer als Sühne für seinen bisherigen ausschweifenden Wandel in ihrem vorgegebenen Verhältnis von Ursache und Wirkung und in ihrer praktischen Auswirkung erweisen sich für ihn und für sein Land als so schwerwiegend, dass Henri Martin in seiner umfassenden Darstellung der Zeit geradezu schreibt: »Die Bekehrung Ludwigs sollte für Frankreich unheilvoller werden als seine vergangene sittliche Zügellosigkeit (désordres).« Zugleich gibt der Weg der Abtragung der Sündenschuld durch das zusätzliche gute Werk der Protestantenvernichtung dem König den erwünschten moralischen Vorwand zur Ausscheidung des letzten grundsätzlichen Widerstands gegen seinen All-Anspruch; schon Jacob Burckhardt hat darauf aufmerksam gemacht, dass hier religiöser Anlass und politischer Grund zu unterscheiden sind.

Über die Entwicklung, die zur brutalen Auslösung des latenten Konflikts zwischen der Menschenvergötterung von Versailles und der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit führen sollte, berichtet Madame Scarron, die zur Marquise von Maintenon und später zur Gemahlin des Königs erhoben wurde, in einem Brief vom 28. Oktober 1679: »Der König gesteht seine Schwächen. Er erkennt seine Fehler an. Er denkt ernsthaft an die Bekehrung der Häretiker, und in kurzer Zeit wird man im Ernst an diese Sache herangehen können (on y travaillera tout de bon).« Am 24. August 1681 schreibt sie bereits: »Der König beginnt ernstlich an das Heil seiner Seele und an das Heil seiner Untertanen zu denken. Wenn Gott ihn uns erhält, werden wir nur noch eine Religion im Land haben.«

Von den angegebenen Tatbeständen aus gesehen ist das Schicksal der Hugenotten Frankreichs von jetzt ab nichts anderes als ein automatischer Ablauf. Der Generalvertreter der evangelischen Kirchen bei der Regierung war bisher Ruvigny gewesen; 1635 war er zum Landesdeputierten der reformierten Kirchen ernannt worden. Seine Loyalität gegenüber der Regierung, welche ihn sogar gelegentlich mit politischen Aufträgen bei Auslandsprotestanten gebraucht hatte, sowie seine Geschicklichkeit hatten ihm einige bescheidene Erfolge eingebracht. Vom Regierungsantritt Ludwigs im Jahre 1661 an erreicht er nichts mehr, denn jetzt schon beginnt »le grand dessein« – der Plan, die Hugenotten zu vertilgen – sich am Horizont abzuschatten. Bereits zur Zeit Richelieus hatte Codurc, ein protestantischer Renegat, empfohlen, zur Schwächung der Protestanten vorerst ihre Nationalsynoden zu verbieten. Jetzt verschwindet auch jede letzte Rücksichtnahme. Nach der Vermählung des Königs mit der spanischen Infantin beantragt der Bischof von Lavaur formell die Beseitigung der »R.P.R.«, der »Religion Prétendue Réformée«. Als Vorbereitung zur Erreichung dieses Ziels sendet man Kommissare aus, welche der Anwendung des Toleranzedikts von Nantes auf die Protestanten ein neues Verständnis erschließen sollen.

Die evangelische Kirche Frankreichs ist Anfang der sechziger Jahre noch verhältnismäßig fest gefügt in Provinzial- und Kreissynoden und aufgebaut durch gesunde Wortverkündigung, Gemeindezucht, Studium der Heiligen Schrift und Psalmengesang. Dass auch der Geist Gottes noch erweckend, noch belebend wirkt und weht, ergibt sich aus dem in den königlichen Verboten auftretenden Begriff der »Relaps«, das heißt der vom evangelischen Glauben abtrünnig gewordenen Personen, die gleichwohl immer wieder die hugenottischen Gottesdienste aufsuchen, weil Gewissensbisse sie peinigen, die immer wieder in die Gefahren hineinlaufen, denen sie eben durch ihre Abschwörung entronnen sind. Ja, bis in die sechziger Jahre hinein wissen wir aus protestantischen Synodalprotokollen von Katholiken, die allem politischen und wirtschaftlichen Druck zum Trotz in feierlichem Akt vor der Gemeinde ihren Irrtum bekennen und ihren Glauben an den einzigen Erlöser und Versöhner ihrer Seele bezeugen. Ein Aktenstück des Consistoire von Dangeau vom 20. November 1661 beschreibt uns zusammenhängend einen solchen Fall:

»Jehan von Vatetot, Stallmeister, Edelmann aus genanntem Ort, zur Zeit wohnhaft in unserem Sprengel bei Herrn von Margontier, seinem Onkel, hat sich vordem zu verschiedenen Malen dem Consistoire unserer Kirche vorgestellt und Zeugnis abgegeben von der Erkenntnis, die Gott ihm über die Irrtümer der katholischen Kirche geschenkt hat, in der er bisher geistig ernährt und aufgezogen worden ist, und von dem Verlangen, das Gott ihm ins Herz gegeben habe, die Wahrheit Seines heiligen Evangeliums anzunehmen und sich offen und öffentlich zur Reinheit der Religion zu bekennen, wie sie durch die reformierten Kirchen dieses Königreichs bezeugt wird.

Er ist ernsthaft ermahnt worden, die Tragweite einer solchen Entscheidung zu überschlagen und sein Gewissen so reiflich zu prüfen, dass er sich völlig klar wird, durch keinerlei menschliche Erwägung geleitet zu werden, sondern einzig und allein durch heiligen Eifer zur Ehre Gottes und inbrünstige Bekümmertheit um sein Seelenheil; – weiter, dass er beharre bei der schon abgegebenen Erklärung, dass er sich zum Austritt aus der Gemeinschaft mit Rom nur veranlasst fühle durch den inneren Trieb des Heiligen Geistes – (mouvement du Saint Esprit) – und dass, um hinfort der Stimme des großen Hirten und Bischofs unserer Seelen, unseres Herrn Jesu Christi zu folgen, welche Stimme er in Seinem Worte vernommen hat und die er alle Tage in den Kirchen unseres Bekenntnisses erklingen hört, während ihm solche in der römischen Kirche verborgen war und verhüllt durch den Schleier einer fremden Sprache und durch die Anbetung sterblicher Menschen – also hat er öffentlich vor der gesamten Gemeinde Zeugnis abgelegt (protesté), dass er aus freiem Herzen, ohne Zwang und mit Freudigkeit, und wohl wissend um seine Verpflichtungen gegenüber der großen Barmherzigkeit Gottes, der katholischen Kirche entsage, welcher er bisher aus Unwissenheit gefolgt sei; dass er insbesondere absage dem angeblichen Messopfer, der Lehre von der Wandlung, der Anrufung der Heiligen, der Bilderanbetung, dem Glauben an ein angebliches Fegefeuer und ganz allgemein allen Irrtümern und Lehren, die in der römischen Kirche bekannt werden und die im Gegensatz zu Gottes Wort stehen. Er hat versprochen, dass er von ganzem Herzen und ganzem Gemüt bis zum letzten Seufzer anhangen wolle der Reinheit der evangelischen Religion, so wie sie in den reformierten Kirchen dieses Königreichs bekannt wird, und hat also um Aufnahme in die Gemeinde ersucht. Danach ist er (formell) aufgenommen worden durch Monsieur Testard, Pastor dieser unserer Kirche von Dangeau.

Wovon wir dieses Protokoll aufgenommen haben, damit es zu seiner Zeit und an seinem Ort diene und gelte. (Gezeichnet:) Jehan de Vatetot; Testard, (pasteur); Durand, Poirier, Poirier, (anciens).«
Gegen diese reformierten Gemeinden richtet sich das jetzt neu erarbeitete Verfahren der königlichen Kommissare. Es gilt, das Gnadenedikt von Nantes mit dem Schein des Rechts abzubauen, so nämlich, dass es durch perfide Ausführungsbestimmungen gegen diejenigen gewandt wird, zu deren Schutz es verfasst war. Weiter gilt es, mit Geschick Verfügungen des Edikts von Nantes, welche unangreifbare Garantien darstellen, Satz um Satz zu lockern und dann unversehens fallen zu lassen.

Wenn zum Beispiel im Gnadenedikt von Nantes den Protestanten garantiert war, ihre Toten auf den ihnen zugehörigen Friedhöfen bestatten zu dürfen, wird zunächst einmal das Recht der Friedhofsbenutzung nach Möglichkeit angefochten. Sodann werden Einengungsbestimmungen darüber getroffen, wann die Beerdigung stattfinden darf, nämlich nur des Nachts oder vor Sonnenaufgang, sowie über die begrenzte Zahl derer, die dem Sarg folgen dürfen. Schließlich ist aus dem garantierten und somit ordnungsgemäßen kultischen evangelischen Begräbnis die nächtliche, ehrlose Einscharrung eines Paria geworden.

Letzte Reste protestantischer Selbstständigkeit auf dem Land werden bis in das kleinste Dorf hinein auf dem Umweg zerstört, dass man jedweder Zivilgemeinde die politische Selbstverwaltung nimmt, und zwar verleiht eine königliche Verfügung von 1664 den entmündigten Gemeinden zwangsweise katholischen Charakter. Damit ist die katholische Schule die einzige kommunale und nationale Unterrichtsanstalt geworden; anders ausgedrückt: Der Glaube des absoluten Fürsten bestimmt endgültig die geistige und kulturelle Bildung der Jugend. In dem protestantischen Languedoc setzt der Kommissar für die »Prüfung der missbräuchlichen Auslegung des Edikts von Nantes«, wie der heuchlerische Ausdruck heißt, binnen 15 Jahren durch, dass kein Evangelischer mehr ein öffentliches Amt bekleidet. Im Jahre 1679 sind alle Inhaber der so genannten Konsulate Katholiken. Eingegangene katholische Kirchen werden zwangsweise wieder hergerichtet. Die protestantischen Krankenhäuser werden abgebaut, und die hugenottischen Erziehungsanstalten und höheren Lehranstalten werden geschlossen.

Das System der Kinderbekehrung wird immer stärker entwickelt. Ein Kind, das sich überreden lässt, ein Kreuz zu schlagen, oder das mit einem einzigen Satz zugibt, dass die katholische Messe doch schöner sei als der reformierte Kultus, gilt als bekehrt und wird den Eltern genommen. Im Juni 1681 proklamiert der König, dass die protestantischen Kinder sich bereits mit sieben Jahren dem wahren katholischen Glauben zuwenden können. Den Widerstrebenden hilft man durch Drohungen nach. In einem Ort zündet man um ein Kind ein Feuer an, zwischen dessen Flammen es jammervoll schreit: »Mein Gott, hilf mir!« In Loudun ist ein kleines Mädchen von sieben Jahren in die Hände einiger Damen von der »Propagation de la Foi« gefallen, die es drei Tage lang quälen, um seine Zustimmung zum katholischen Glauben zu erlangen. Als alles vergeblich ist, legt man es quer über eiserne Feuerböcke und kündigt ihm an, man werde ein Feuer unter ihm anzünden, wenn es nicht nachgäbe.

Die Zerstörung einer evangelischen Kirche wird ohne weiteres verfügt, sofern an einem in ihr abgehaltenen Gottesdienst auch nur ein einziger Relaps teilgenommen hat. Unterdessen geben die Hugenotten für Kultus und Abendmahlsfeiern geprägte Münzen als Erkennungsmarken aus, die »méreaux«, die nur Gemeindegliedern zur Verfügung stehen. Es ist der Mühe wert, eine solche sinnige Prägung zu beschreiben. Die Vorderseite zeigt im Bild die kleine Herde Christi. Der gute Hirte hält in der rechten Hand einen Speer, mit der linken hebt er sein Horn an den Mund, um seinen Tierlein das Warnungssignal zu geben. Über ihm flattert die Kreuzesfahne. Die Rückseite stellt unter einem Strahlenherzen ein geöffnetes Buch dar, dessen linke Seite den Trostspruch trägt: »Fürchte dich nicht, du kleine Herde«, und rechts: »St. Luc. ch. 12. vt 32«. In dem Maße, als immer mehr Kirchen geschlossen oder niedergelegt werden, hält man schon seit 1663 gottesdienstliche Zusammenkünfte an wüsten Orten, im »désert« ab.

Unter dem Druck der fortschreitenden Entrechtung beginnen die Hugenotten in Massen auszuwandern; um ihres Glaubens halber finden sie sich bereit, auch das von ihnen über alles geliebte »pays de France« daranzugeben. Im Jahre 1681 lädt sie König Karl II. von England ein und verheißt ihnen zahlreiche Rechte. Sein Nachfolger, Jacob II., bringt es über sich, die für die Vertriebenen in England gesammelte eine Million Franken zurückzuhalten mit der Bemerkung, dass kein Reformierter einen Heller davon sehen werde, der sich nicht zuvor der anglikanischen Kirche angeschlossen habe. Der lutherische König von Dänemark heißt die Flüchtlinge in seinem Land willkommen und sagt ihnen freie Ausübung ihres Bekenntnisses zu. Die Stadt Amsterdam verspricht ihnen Bürgerrechte und lässt tausend Siedlungshäuser für sie bauen. Als Antwort der französischen Krone folgt im Jahre 1682 das erste Emigrationsverbot, weil die Regierung mit Schrecken wahrnimmt, welche Einbuße an bestem Menschenmaterial diese Auswanderungen für das Land bedeuten.

Diese Erkenntnis vermag nicht, sie an der zwangsläufigen Fortsetzung des eingeschlagenen Kurses zu hindern. Als dogmatischer Unterbau der Gewaltmaßnahmen erscheint in Paris eine theologische Schrift, welche die staatspolitische Anwendung des Gleichniswortes »Nötige sie hereinzukommen!« des Kirchenvaters Augustin in Erinnerung bringt. Für die Exekution des »großen Plans« wird ein neues System der militärischen Erpressung ausgebaut, eine Erfindung Louvois’, die »Conversions par logements«. Anfangs wird es gelegentlich angewandt, wie zur Sühnung eines Streits zwischen den protestantischen und katholischen Zöglingen einer höheren Lehranstalt in Montauban; man lässt 5.000 Mann Soldateska einrücken und bei den Evangelischen Quartier beziehen. Später, im Béarn, gebraucht man es systematisch, um ganze protestantische Landstriche, Städte und Gemeinden zur Massenbekehrung zu bringen. Selbst ehrenwerte Katholiken, wie Bossuet, lassen die entmenschten Horden in ihrem Bezirk wüten. Durch Ausplündern, Misshandeln und Martern werden die Evangelischen dazu gebracht, wenigstens die drei Worte: »Je me réunis«, »Ich schließe mich wieder an«, auszusprechen, die neue Formel der erleichterten Abschwörung.

Die dunkelste Seite dieser so genannten Dragonaden ist nicht die Plünderung und Gewalttat, ja nicht einmal die Folterung, sondern das Hinabquälen der Hugenotten in einen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit, in dem sie ihr christliches Gewissen auf immer schwer belasten. Das ist die Methode der »Veilles forcées«, der erzwungenen Schlaflosigkeit. Eine Reihe von Tagen und Nächten werden die Opfer am Einschlafen gehindert. Man zwingt sie, hin- und herzugehen, man schüttelt sie, man schlägt sie mit scharfen Ruten, kitzelt sie oder sticht sie mit Nadeln, vielleicht auch unter gleichzeitiger Entziehung aller Getränke und Speisen. Die Folge ist eine langsam eintretende Unzurechnungsfähigkeit, Betäubung oder Raserei, in der der Delinquent alles Verlangte erklärt oder unterschreibt, ohne recht zu wissen, was er tut. Dann lässt man ihn ausschlafen, und wenn er erwacht, erkennt er sich mit Entsetzen als einen vom Glauben Abgefallenen wieder. So hatte man in Nîmes einem alten Mann namens Lacassagne 50 Soldaten ins Haus gelegt, welche, als die gebräuchlichen Mittel der Brutalität nicht fruchteten, ihn nächtelang am Schlaf hinderten. Dazwischen hinein ließ man ihn gegen eine Bezahlung von 10 Talern je eine Stunde schlummern, um außerdem bares Geld aus ihm herauszupressen. Endlich erklärte er sich zum Nachgeben bereit und wird nun dem katholischen Bischof Séguier vorgeführt, um seinen Widerruf formell zu unterzeichnen. Dieser Oberhirte sagt zu ihm: »Jetzt wirst du Ruhe haben!« Der alte Mann antwortet verzweifelt: »Ruhe erwarte ich nur im Himmel, und Gott gebe, dass meine Tat mir nicht den Himmel auf ewig verschließt.«

So wird Protestant um Protestant, Familie um Familie, Gemeinde um Gemeinde auf mannigfaltige Weise »expediert«, wie es der Statthalter des Languedoc ausdrückt, der die Bekehrung von 240.000 Hugenotten durch den bestialischen St. Ruth in kürzester Zeit erledigen lässt. Schließlich fällt noch die Pariser Kirche von Charenton trotz des moralischen Schutzes, den die ausländischen Gesandtschaften protestantischer Höfe ihr bisher hatten gewähren können, nach einem erschütternden Abschiedsgottesdienst ihres Predigers. Auch der letzte Zeuge evangelischen Glaubenslebens in dem unterworfenen La Rochelle, die protestantische Kirche in dieser alten Hugenottenfestung, wird niedergerissen. Ihre Glocke, die zu Gebet und Gottes Wort gerufen hatte, wird symbolisch ausgepeitscht und in die Erde versenkt. Dann wird sie wieder ausgegraben: Eine katholische Hebamme wird ihr gestellt zur Wiedergeburt, auch eine Amme für das neugeborene Kind, ihm zum Wachstum im neuen Leben zu verhelfen. Diese tolle Farce verdeutlicht aufs Beste, was Rückblick, Gegenwartsgedanke und Ausblick der Aktion gegen die Protestanten war: Die »R.P.R.«, die »angeblich reformierte Religion« ist schuldig gesprochen, der Bestrafung anheim gegeben, ins Grab der Zeiten gesenkt, und der Aufstieg der ihr verfallen gewesenen Volksteile zum Licht des rechten Glaubens steht bevor und wird mit zureichenden Mitteln bewirkt werden.

Eine letzte Bittschrift des Predigers Jean Claude an Ludwig XIV. bleibt unbeantwortet. Er hatte in ihr noch einmal dem König vorgestellt: »Zwei der unverletzlichen Grundsätze der Protestanten sind, Gott zu fürchten und Eure Majestät zu ehren, nicht nur aus Gründen der Furcht, sondern gewissenshalber, wie es das Wort Gottes vorschreibt.« In dem großen Vertrauen »in die königliche Autorität unseres erhabenen Monarchen«, das ihn und viele seiner Brüder im Amt bis zur Zurücknahme des Edikts von Nantes beseelte, fügt er hinzu: »Die Bittsteller sind überzeugt, dass Eure Majestät niemals seine Macht gebrauchen werde, um eigenhändig die Schranken des Rechts zu durchbrechen und die Schranken Ihrer Zusage niederzulegen.«

Unterdessen war Ludwig XIV. mit den notwendigen Vorbereitungen beschäftigt, das »ewige und unwiderrufliche« Edikt seines Großvaters aus der Geschichte seines Volkes zu streichen. In einem Brief des Spätsommers 1685 hatte Frau von Maintenon von ihrer Mitarbeit gesagt: »Ich werde nicht überflüssig sein!« Sie will nicht die Vergewaltigung der Ketzer, aber ihre Bekehrung, und sie macht dem König klar, dass Gottes Wille mit der Stimme seines eigenen Machtanspruchs gleichbedeutend sei und dass den eigenen Gedanken gehorchen in diesem Fall vor Gott verdienstlich genannt werden müsse. Völlig deutlich wird jetzt dem König, dass, wie er an den Pariser Bischof Harlay schreibt: »… Gott zu Seiner Ehre das Werk vollenden wird, das Er Mir inspiriert hat.« Dieses Werk und Ziel wird später, gegen Ende des Jahrhunderts, durch den abtrünnigen Hugenottenpfarrer von Nîmes in seinem »Discours sur l’ancienne discipline« abermals formuliert: »Un Roi, une loi, une foi dans le royaume«.

Über die peinliche Frage, mit welchem Recht ein unwiderrufliches Königsedikt mit dem grünen Siegel, wie das von Nantes, widerrufen werden kann, berät sich der König mit einigen gefälligen Hofjuristen. Er sucht bei ihnen eigentlich nicht Beratung, sondern Billigung, wie ihm denn schon einst in seiner Jugendzeit von Kardinal Mazarin das italienische Wortspiel vom »Niente« – vom »Nichts« – des Nantes-Edikts versuchlich vorgesagt worden war. Ludwig XIV. kann nicht geltend machen und hat 1685 nicht geltend gemacht, wie irrig angegeben wird, dass es keine Evangelischen im Lande mehr gäbe und dass demzufolge jenes Toleranzedikt als gegenstandslos bezeichnet werden könne. Immerhin glaubt er annehmen zu sollen, dass die große Überzahl der Protestanten den rechten Glauben angenommen hat und dass daher jene Gnadenverfügung verhältnismäßig überholt sei. Je unsicherer diese Rechtslage bleibt, umso mehr legt er Wert darauf, dass in der Textausarbeitung der vollständige Widerruf des »immer währenden und unwiderruflichen« Edikts von Nantes wiederum – objektivierte Gewalt ist immer grotesk – als »immer während und unwiderruflich« festgestellt wird. Der sichere Ton in den Ausführungen des neuen Schriftstücks stammt dabei sichtlich aus der Überzeugung, es seien auf Grund völlig abgelagerter, völlig gefestigter Verhältnisse nur noch Reste einer überjährten, ungeordneten Denkweise auszulöschen.

Am 17. Oktober des Jahres 1685 unterschreibt Ludwig den Widerruf des Gnadenedikts von Nantes auf dem zierlichen Barocktisch der Frau von Maintenon in deren Salon zu Fontainebleau. Die geschwungenen, graziösen Bronzeornamente des Möbelstücks umrahmen stilvoll das neue Edikt, welches das führende Land Europas in einen Abgrund von Blut und Tränen versenken wird. Als die makellose Perücke des Königs sich zur Signatur über das Schriftstück beugt, gedenkt vielleicht die anwesende Frau von Maintenon wider Willen des grauenhaften Fluchwortes ihres hugenottischen Großvaters Agrippa d’Aubigné, der einst als Flüchtling von Genf her der französischen Krone zugerufen hatte: »Wir sehen auf den Schultern und auf der Perücke unseres Königs die schändlichen und stinkenden Füße des Antichristen, der mit seiner Tatze die bourbonische Lilie befleckt und das fürstliche Diadem zu seinem Fußschemel macht.«

Das Edikt trägt drei Unterschriften. In der Mitte die Unterschrift des Königs; ganz ähnlich malte schon der Knabe seinen Namen in zeremoniellen und steifen Zügen, doch sind seither die Linien seiner Unterschrift noch hoffärtiger geworden und merkwürdig leer und sprechen von der Geordnetheit, die in seinem Leben das Surrogat fehlender Gerechtigkeit ist.

Einer der beiden jüngeren Colbert vollzieht die Gegenzeichnung mit der unsicheren und hohlen Signatur des Mannes, der seine Gewissensbedenken vom Vorjahr mit Mühe unter die Füße tritt. Auf der rechten Seite fügt der alte Le Tellier seine Unterschrift an in hässlichen, kriechenden Schnörkeln. Er ist schon sehr krank, doch bleibt er sich selber bis zu seinem Ende treu in fanatischer Dienstbereitschaft und in der Unbedenklichkeit, alle Mittel durch den Zweck heiligen zu lassen. Seine Feinde hatte er unbedenklich ruiniert, zum Krieg gegen Holland hatte er getrieben, die burgundischen Stände hatte er betrogen und den großen Colbert verleugnet. Jetzt wird er sterben müssen und alle diese Last vor Gott bringen. Doch noch vor seinem Tod erhebt er die Hand, die das unheilvolle Edikt redigiert hatte, zum Himmel, und sein Mund missbraucht den Lobgesang des Simeon zum Preise seines Gottfürsten.

Eine dritte Gegenzeichnung fehlt unter dem Dekret, aber die Geschichte schreibt sie unsichtbar und doch sichtbar unter den Namen des Königs: den Namen Louvois’, des Sohnes Le Telliers, der wieder und wieder seine Regimenter auf die Evangelischen gehetzt hat, und dessen Ruf mit diesem Edikt steht und fällt, und auch der Schatten des jesuitischen Beichtvaters des Königs, des Père Lachaise, liegt über dem Dokument, denn er gilt irgendwie als Teilhaber an dem »großen Plan«.

Ein anderer Mann steht beiseite, dessen Gestalt wir im Hintergrund der Szene vom 17. Oktober zu sehen erwartet hätten: Papst Innozenz Odescalchi, nicht nur als Gegner des Gallikanismus, sondern in Abneigung gegen eine unwürdige Aktion, die er nicht billigt, da, wie er es ausdrückt: »… sich Christus dieser Methode nicht bedient hat«.

Der Wortlaut des Dokuments verfügt in Artikel I und II die Zerstörung der Gotteshäuser der falschen Religion und die Auflösung aller Art von Versammlungen, samt einem (III) Verbot häuslicher Gottesdienste bei schwersten Strafen. Artikel IV verfügt die Landesverweisung aller Prediger binnen 14 Tagen, mit dem Angebot besonderer Vorteile, wenn sie abschwören wollen (V und VI). Alle evangelischen Schulen werden verboten in Artikel VII; Artikel VIII fügt den Zwang hinzu, alle Kinder in die katholischen Lehranstalten zu schicken. Artikel IX enthält die Einladung früherer Flüchtlinge, die sich bekehren, zur Rückkehr mit bestimmter Frist. Artikel X bringt das strengste Verbot, das Land zu verlassen oder Gut und Geld über die Grenze zu bringen, bei Strafe der Galeeren für die Männer, Verlust der Freiheit und des Eigentums für die Frauen.

Den Schluss bildet in Artikel XI wie ein grausamer Hohn die Zusage, dass der innere Bekenntnisstand der einzelnen Evangelischen bis auf weiteres unangetastet bleiben solle: »Übrigens sollen die Besagten von der so genannten reformierten Religion – bis es Gott gefällt, sie zu erleuchten wie die anderen – in den Städten und Ländern unserer Oberhoheit wohnen können, dort ihr Gewerbe fortsetzen und ihre Güter nutzen, ohne unter dem Vorwand dieser Religion gestört oder gehindert werden zu dürfen, unter der Bedingung, wie gesagt, dass sie keine Ausübung ihres Glaubens treiben, noch sich versammeln unter dem Vorwand von Gebeten oder Gottesdienst der genannten Religion, welcher Art es auch sei, unter oben gesagten Strafen an Leib und Besitztum.«

Zur Erklärung des strengen Verbots von Gebeten am Schluss des Edikts ist noch hinzuzufügen, dass bis gegen 1750 privates Gebet als ein Vergehen gilt. So wird kurz nach 1685 im Languedoc, in der Stadt Beaucaire, der Prediger Rey erhängt, der unter das Verhandlungsprotokoll schreibt: »Rey qui n’a fait que prier Dieu« – »Rey, dessen einzige Schuld ist, zu Gott gebetet zu haben.« Und noch in den Akten des letzten großen Hugenottenkerkers in Aigues Mortes lesen wir etwa ein halbes Jahrhundert später als Vermerk über den Einlieferungsgrund einer Insassin: »Elle a prié Dieu dans sa chambre«, »Sie hat in ihrer Kammer zu Gott gebetet.«

Entsetzlich ist die Bilanz, die St. Simon als Augenzeuge der Auswirkung des Edikts von Fontainebleau vom katholisch-nationalen Standpunkt aus zieht: »Die Aufhebung des Edikts von Nantes, die ohne den geringsten gültigen Anlass geschah und in keiner Weise notwendig war, und die (königlichen) Verfügungen, richtiger gesagt die Ächtungen, die ihr folgten, waren die Früchte dieses schauerlichen Komplotts, das ein Viertel des Königreichs entvölkerte, seinen Handel ruinierte, es allenthalben schwächte, es für so lange Zeit den öffentlichen und unbestrittenen Plünderungen der Dragoner aussetzte – dieses Komplott, das all den Folterungen und Qualen eine rechtliche Grundlage gab, durch die man so viele Unschuldige beider Geschlechter zu Tausenden dem Tod überlieferte –, das eine so volkreiche Nation ruinierte, das unzählige Familien zerriss, Verwandten gegen Verwandte Waffen gab, um ihre Habe an sich zu reißen und sie unterdessen hungers sterben zu lassen – dieses Komplott, das unsere Industrien ins Ausland abwandern ließ und die Blüte und den Überfluss anderer Staaten auf Kosten des unseren verursachte, so dass dort ganz neue Städte entstanden; welches den anderen Völkern das Schauspiel bot eines so herrlichen Menschenmaterials, das verbannt, nackt, flüchtig, schuldlos umherirrend, fern vom eigenen Vaterland eine Zuflucht suchte – dieses Komplott, welches Edelleute, begüterte Greise, Leute, die in vielen Fällen wegen ihrer Frömmigkeit, ihres Wissens, ihrer Tugend hoch geachtet waren, welches wohl situierte Leute, Schwache, Anfällige an die Galeeren schmieden ließ, und solches unter dem unablässigen Druck des (Exekutiv-) Komitees, einzig und allein um der Religion halber – endlich das Komplott, das, um die Greuel voll zu machen, alle Provinzen des Reichs mit Meineiden und Heiligtumsentweihungen erfüllte, so dass die Luft von dem Schmerzgebrüll der unglücklichen Opfer des Irrtums erfüllt war, während andere ihr Gewissen zu Gunsten ihres Besitzes oder ihrer Ruhe darangaben und sich beides durch geheuchelte Abschwörungen erkauften und in endlosem Zug sich in die Kirchen schleppen ließen, um anzubeten, woran sie nicht glaubten, um den göttlichen Leib des Heiligen der Heiligen zu empfangen, während sie doch überzeugt waren, nur Brot zu essen, Brot, das ihnen auch noch widerlich sein musste – alles das war in einem Wort (als Folge der Aufhebung des Edikts von Nantes) die allgemeine Greuelhaftigkeit (abomination), die erzeugt war durch (höfische)¬Schmeichelei und durch Grausamkeit« (Cour de Louis XIV., Kap. 47).

Das Revokations-Edikt von Fontainebleau trifft vor allem den Südosten Frankreichs, nachdem der Norden längst, der Westen in den letzten Jahrzehnten von Protestanten verhältnismäßig befreit ist. Seit dem Beginn der Religionskriege um 1560 ist der nördliche, der germanische und weithin feudale Bestandteil des Protestantismus seiner Selbst-Politisierung fortschreitend erlegen. Seit dem Regierungsantritt Ludwigs XIV. hat der geografisch-süd-östliche, der romanisch-keltische Teil der Nation im Languedoc, in der Provence das Vorrecht des Streitens, vielmehr des Leidens und des Sterbens überkommen; hier auch wird über die Totenfelder der Gemeinde Gottes der Auferweckungsruf des lebendigen Herrn zuerst erschallen.

Es mögen damals im Ganzen, statistisch ausgedrückt und auf die Jahre 1680 bis 1695 etwa bezogen, 400.000 Menschen bis 700.000 Menschen gewesen sein, die Frankreich fluchtartig verließen und nach der Schweiz, England, Deutschland, Nordamerika auswanderten. Von allen diesen schwankenden Schätzungen gilt, dass in »Frankreich alle Statistiken falsch, aber alle Maße richtig sind«. Nicht gezählt, sondern maßstabhaft eingewertet müssen die Ereignisse dieser Zeit sein und zur ganzen Nation in organische Beziehung gebracht. Wir fügen hinzu: Auch das Einladungsedikt des Großen Kurfürsten von Brandenburg vom 29. Oktober 1685, in dem er die französischen Glaubensgenossen in seinem einfachen und jungfräulichen Land willkommen heißt, ist nicht nur eine Tat politischer Klugheit, durch die er viele oder wenige Menschen gewinnt, sondern eine Tat der Glaubenstreue und der Barmherzigkeit, gemessen an den göttlichen Maßstäben wahrer fürstlicher Verantwortung.

Doch wir gedenken des Loses der Zurückbleibenden. Während ein Teil der Protestanten, begierig, noch irgendeinen Lichtstrahl zu sehen, den jesuitischen Schlusspassus des Edikts betreffend die Existenzberechtigung verborgener Privatreligion als Abschwächungsklausel des Vorhergegangenen betrachten, wird von der katholischen Seite geltend gemacht, dass dieser Nachsatz keineswegs irgendeinen Duldungsanspruch begründe. Obwohl der König seinerseits verfügt, dass jeder bei Protestanten plündernde Soldat erhängt werden sollte, verschärft Louvois kaltblütig seine militärischen Maßnahmen; im November 1685 schreibt er in einem Brief betreffend Anweisungen an die Bekehrungsregimenter: » … man soll die Soldaten erst recht zügellos hausen lassen.«

Schon die ersten Ausführungen zum Revokationsedikt verschärfen die Unbarmherzigkeit seiner Paragraphen: Zu dem Befehl, dass die reformierten Pfarrer Frankreich zu verlassen haben, tritt die Sonderverfügung, dass sie weder ihre Kinder im Alter von über sieben Jahren, noch ihren Besitz mitnehmen dürfen. Der betäubende Schlag der neuen Wendung lässt viele Prediger den Halt verlieren, umso mehr, als sie sich bisher in blindem Vertrauen zur Loyalität des Königs immer wieder in trügerischer Sicherheit gewiegt hatten. Von 600 Geistlichen insgesamt geben 140 ihrem Glauben den Abschied und empfangen dafür vom König eine Pension. In den Laienkreisen der Gemeinde beweisen sich im Durchschnitt die Frauen tapferer als die Männer und werden zur Überwindung ihres Starrsinns in Klöstern interniert. Den Widerstand der Kranken, welche die Absolution durch den römischen Priester verweigern, sucht man durch den Hinweis auf das Gericht zu brechen, das ihres Leichnams wartet: Die Leiche des Renitenten wird, um sie für die Bestrafung zu konservieren, in Salz oder Chemikalien gelegt und dann, nach Abschluss des öffentlichen Prozesses und nach gefälltem Urteil, auf Brettern schimpflich über die Straßen geschleift und auf den Schindanger zu den Resten der Verbrecher und Selbstmörder geworfen.
Zur Ergänzung der äußeren Gewaltmethoden wird als linderes Überredungsmittel das Geld gebraucht. Die Bestechung zu religiösen Zwecken als System ist die Erfindung eines Renegaten, des Sohnes einer prostestantischen Beamtenfamilie, Pellisson, der ursprünglich ein Student der Rechte war und später Schöngeist wurde. Bereits 1670 tritt er zur katholischen Kirche über.

Die letzten 15 Jahre seines Lebens widmet er hauptamtlich, als Generaldirektor der königlichen Bekehrungskasse (Caisse des conversions), dieser Spezialarbeit. Er zahlt nach festen Tarifen, zuerst 6 Livres für die Einzelbekehrung eines Landbewohners, dann 10 bis 30 und allerhöchstens 100 Livres. Angehörige des Bürgerstands erhalten ihrem Lebensniveau entsprechend 1.000, 10.000, 20.000 Livres und mehr je nach dem Fall. Der Adel wird in entsprechender Umrechnung mit Ländereien, Titeln und Graden bei der Armee entschädigt. Für sich selbst vereinnahmt Pellisson während der 15 Jahre seiner hauptamtlichen Tätigkeit 75.000 Livres. Die Einzelhandhabung des Verfahrens liegt in den Händen der örtlichen Bischöfe entsprechend den Instruktionen Pellissons; dazu berichtet der Bischof von Grenoble, dass er mit 2.000 Talern 800 Personen gekauft habe. In Sachen der Gewinnung der Armee wird als vom König gebilligte Taxe angegeben: 3 Pistolen für jeden Kavalleristen und 2 Pistolen für jeden Infanteristen, weiter 4 Pistolen für die Sergeanten und 6 Pistolen für die Quartiermeister. Den zahlreichen fremden Söldnern aus protestantischen Ländern, aus schweizerischen Kantonen oder aus deutschen Staaten werden je zwei Pistolen offeriert, die sie mit Vergnügen unter Leistung jeder gewünschten Unterschrift einstecken, um dann, in ihre Heimat zurückgekehrt, wieder als Protestanten zu leben. Daher liest man bald: »Seine Majestät haben beschlossen, solchen nicht mehr die besagte Gratifikation auszahlen zu lassen.«

Die Erfolge des Systems Pellissons sind, verglichen mit den Erfolgen der Dragonaden, im Durchschnitt nur gering, umso mehr, als das Heer seine zuverlässigsten Soldaten und seinen besten Offiziersnachwuchs an den Protestanten hat, die auch die Exekutionen nur widerwillig ausführen oder sabotieren, wenn sie nicht gar ihren Glaubensgenossen unter der Hand zur Flucht verhelfen.

Anders steht es mit der Strafe der Versklavung, sowohl mit der Deportation nach den Fieber-Kolonien, als besonders mit dem Galeerendienst.

Über die Deportation gibt der früher angeführte Pfarrer Jurieu in seinen Pastoralbriefen den eindrucksvollen Bericht eines Offiziers aus den Cevennen. Dieser trifft im Mittelmeer ein Schiff aus Marseille auf dem Weg nach den Antillen, beladen mit Kindern, jungen Mädchen, Frauen, einigen Männern und Greisen. Von 250 Deportierten sind bereits nach vierzehntägiger verzögerter Schifffahrt 18 Personen verstorben. Auf die erste Frage, um was es sich bei diesem Transport handle, sagen ihm die jungen Mädchen: »Wir sind hier, weil wir das Tier (der Offenbarung Johannes’)¬nicht anbeten wollen, noch die Heiligenbilder verehren. Voilà notre crime – das ist unser ganzes Verbrechen!« Als er erschüttert in das Innere des Schiffs hinabsteigt, gewahrt er 80 Kranke, die dort liegen. Aber statt dass er ihr Tröster werden muss, trösten sie selbst ihn mit Worten des Glaubens und antworten: »Wir legen still den Finger auf unsere Lippen und sagen nur, dass alles von Dem kommt, welcher der König aller Könige ist. Auf Ihn setzen wir unsere Hoffnung.«

Die eigentliche Neuerfindung für die Durchführung des Edikts von 1685 ist jedoch die Galeerenpraxis. Man hatte schon früher im Einzelfall, zwischen 1659 und 1661, Hugenotten zu Rudersklaven gemacht. Jetzt wird diese Strafe in weitem Umfang angewendet. Man verurteilt die Landeskinder zur Galeere, erstens, weil sie einer religiösen Versammlung beigewohnt haben, zweitens, weil sie aus Religionsgründen versucht haben, auszuwandern oder eine solche Flucht über die Grenze begünstigt haben, drittens, weil sie ihre evangelischen Kinder ins Ausland verheiratet haben, viertens, wenn katholische Priester Ketzer milde behandelt oder wenn sie Scheinbekehrte getraut haben. Die Verurteilung zur Galeere wird fast immer auf Lebenszeit ausgesprochen; auf diesen Schiffen findet man Halbwüchsige, reife Männer, alte Leute, sowohl bürgerliche als auch adlige Personen.

Die Verurteilten werden zunächst vor ihrer Einschiffung in einen engen Kerker geworfen, wo sie zusammengepfercht bis zu drei Wochen verbringen. Jedoch genießen sie während dieser Zeit die geistliche Zusprache eines Bekehrungspriesters. Wer abschwört oder auch nur die drei Worte: »Je me réunis« ausspricht, wird sofort freigelassen. Dann werden die zukünftigen Galeerensklaven durch die Landschaften und Städte zum Hafen transportiert. Die anderen, ihre schwach gewordenen Brüder, die »N. C.« (Les Nou-veaux-Convertis)¬, werfen sich bitterlich weinend und reuevoll vor die Füße ihrer treu gebliebenen gefesselten Glaubensgenossen, die sie um ihre Festigkeit beneiden. Es wird nicht lange dauern, bis sie sich selbst zu den Gerichten drängen werden, um ihre Bekehrung zum katholischen Glauben als Scheinhandlung zu brandmarken; für die Galeeren und Kerker werden sie sich bereit machen, damit ihre Untreue gebüßt sei.

Die in Eisen gelegten Sträflinge, Mann neben Mann auf den Ruderbänken zusammengeschmiedet, rudern täglich bis zu 20 Stunden nach dem Takt des Rudermeisters. Als ihre Hauptnahrung wird Brot und in Wasser gekochte Bohnen angegeben. Zur Messe auf dem Schiff sollen sie ihr Haupt entblößen, was sie niemals tun. Dafür erwartet sie, wenn es schlimm kommt, ein riesiger Türke, der sie auf dem Mittelgang entblößt ausspannt und mit dem nassen oder geteerten Schiffstau prügelt. Nachdem sie ihre 50, ja 100 und mehr Schläge erhalten haben, reibt man die zerfetzten Rücken mit Salz und Essig ein, um eine Eiterung zu verhindern.

Die arbeitsunfähigen Personen, die Krüppel und Kranken, müssen gleichwohl auf dem Schiff verbleiben und werden in ein Loch gesperrt, durch das der Unrat der Mannschaft fließt. Das Los der »galériens« im Sturm, bei Schiffbruch und beim Seegefecht während einer wirksamen Kanonade des Feindes bedarf nicht der Ausmalung.
Aus dieser Hölle kann sich der Galeerensklave durch ein einziges Wort des Widerrufs befreien. Um ihm die letzte seelische Widerstandsquelle zu nehmen, werden die »religionnaires« von den Schiffspriestern bis auf das Hemd untersucht und ihrer Bibelteile, Katechismen oder reformierten Schriften beraubt. Trotzdem sind die Abfallsziffern gering. Benoist nennt unter 373 Namen 85 »Bußfertige«, von denen die meisten vielleicht nur die Absicht haben, nach ihrer Freilassung ins Ausland abzuwandern und dort ungehindert evangelisch zu leben. Umgekehrt bringt aber das Vorbild der hugenottischen Sträflinge gelegentlich ein Wunder zuwege, wie das Beispiel des Schiffskaplans Jean Bion zeigt, der, tief bewegt durch die Geduld und Seelengröße der Rudersklaven, sich zum Evangelium bekennt und nun seinerseits als Galeerensträfling die Kette trägt.

Das Geheimnis der – menschlich geredet – unerhörten Festigkeit dieser Männer ist ihr brennender Glaube, die Erstursache ihres Martyriums, aber auch die enge Gemeinschaft, die sie mit ihren Schicksalsgenossen unter dem Kreuz verbindet. Die geringe Beweglichkeit, die man ihnen gewährt, schon um sie am Leben zu erhalten, – sie dürfen für einen Groschen je einmal aus den Ketten heraus, sie dürfen in Hafenstädten etwas herumgehen, man kann ihnen Geld oder Gaben schicken, und sie können Briefe schreiben oder empfangen, soweit das die Schifffahrt zulässt – erleichtert ihre gegenseitigen Beziehungen.

Einige von ihnen, deren Namen wir noch kennen, stellen 1699 eine Art Statut für einen Bund glaubenstreuer Galeerensträflinge zusammen, dessen Wortlaut sie den hilfreichen Kirchen von Genf und den protestantischen Kantonen der Schweiz zukommen lassen. In Artikel I verpflichten sie sich, einander rechte Seelsorger zu sein. Artikel II schließt die Feiglinge aus. Artikel III verbietet, während des Messopfers die Kappe abzunehmen. Artikel IV erklärt, dass jeder, welcher Anstoß gibt, welcher den Sonntag nicht heiligt, in einem Wort: der dem göttlichen Gebot nicht gehorcht, zuerst vermahnt und dann aus dem Kreis des Bundes ausgeschlossen wird. Artikel V verpflichtet, unwissende Brüder im Glauben zu »katechisieren«. Artikel VI schreibt vor, sich der Kranken anzunehmen. Artikel VII empfiehlt, Lebensbeschreibungen der Glaubenszeugen auf den Galeeren zu verfassen. Artikel VIII und folgende ernennen Diakone, welche Hilfeleistungen vermitteln, ernennen ein Kontrollkomitee und Sekretäre, die von irgendeiner Hafenstelle aus mit den Glaubensbrüdern im Ausland in Verbindung stehen und die Briefsachen weiterleiten. Artikel XV behandelt den Fall der Untreue eines Beauftragten, und Artikel XVI gibt Anweisungen für den Fall, dass eine zu starke Verfolgungswelle den Bund zerstört.

Ein besonderes Wort ist noch über den Rückschlag zu sagen, den die Entscheidung Ludwigs für die Waldenser bedeutete. Ein Teil dieser Stillen im Lande lebt, trotz der Massakers in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der französischen Dauphiné um Briançon und Pignerol. Unter dem Schrecken der Revokation fliehen sie über die Grenze in den Piémont; ihre weitere Geschichte verläuft dann in Oberitalien.

Äußerlich betrachtet, hat Ludwig XIV. auf der ganzen Linie gesiegt. Auch der Papst, der zuerst unwillig gewesen war, lässt etwa ein halbes Jahr nach dem Erlass des Edikts in Rom ein Tedeum singen, schon um den Schein einer dauernden Missbilligung klüglich zu vermeiden. Beim Tod Le Telliers, der das Edikt verfasst hat, preist Bossuet in seiner Grabrede den König: »Unsere Herzen mögen sich ergießen über der Frömmigkeit des großen Ludwig, bis zum Himmel soll unser Beifall steigen und dem neuen Constantin, dem neuen Theodosius, dem neuen Karl dem Großen sagen: ›Du hast den Glauben gestärkt, Du hast die Ketzer ausgerottet, dieses Werk ist würdig Deines Königtums, durch Dich ist der Häresie ein Ende gemacht. Gott allein hat dieses Werk tun können.‹« Der König selbst, berauscht von den zahllosen Glückwünschen und Beifallsbezeugungen, die ihm als Verteidiger des Glaubens aus allen Teilen des Landes zuströmen, drückt die Hoffnung aus, dass sein Enkel, der eben dreijährige so genannte Herzog von Burgund, bei seinem Heranwachsen »nur noch durch die Historie erfahren wird, dass es Reformierte gegeben hat«. Ludwig ahnt nicht, dass derselbe spätere Dauphin, der niemals den Thron besteigt, im Alter von 20 Jahren als erschreckter Zeitgenosse den Verzweiflungstrotz der hugenottischen Cevennenkrieger noch miterleben wird.

Während die Auswandererströme der Evangelischen sich ohne Unterbrechung über die Gebirge, auf Land- und Wasserwegen ins Ausland ergießen, wie das dunkle schwere Blut einer durchschnittenen Pulsader unaufhaltsam aus dem Körper strömt, erstehen die Glaubens- und Willenskräfte der zurückgebliebenen Hugenotten zu neuem Leben. Die falschen Gewänder der unter den Schrecken der Verfolgung angenommenen katholischen Frömmigkeit werden mit Abscheu abgeworfen. Bisher hießen die angeblich Bekehrten »N. C.«, »Nouveaux Convertis«. Jetzt durchschaut sie der enttäuschte Klerus und der König als »M. C.«, als »Mauvais Convertis«, deren zäher Widerstand den Jubel über die Vernichtung der evangelischen Kirche immer stärker beeinträchtigt. Eine Wolke von katholischen Predigermönchen und Propagandapriestern zieht durch Frankreich, unter ihnen Männer wie Fénelon und Fléchier, ohne wirklichen Eindruck zu machen. Vielmehr erscheinen die »Relaps« jetzt in Scharen bei ihren alten Gemeinden, in der »Eglise du désert«, in den Gottesdiensten der Wüste.

Die Antwort der Regierung auf die völlig unerwartete Gegenbewegung sind neue verschärfende Edikte. Ein Zusatzerlass von 1686 verfügt, dass die Kinder von 5-16 Jahren ihren Eltern weggenommen und Katholiken zur Erziehung übergeben werden sollen. Eine zweite Ergänzungsverfügung vom 1. Juli 1686 verhängt über heimlich zurückgekehrte Prediger die Todesstrafe, im Allgemeinen den Galgen, wenn nicht das Rad, da die Zeiten human geworden sind und man Menschen nicht mehr lebendig verbrennt. Wer einen zurückgekehrten Pfarrer aufnimmt, hat Verschickung auf die Galeere zu erwarten. Ferner hat jeder Untertan, der persönlich einen evangelischen Gottesdienst besucht, mit Todesstrafe zu rechnen. Die praktische Bedeutung dieses Edikts wird von den Truppen Louvois’ schnell erfasst: Gottesdienstliche Versammlungen in der öden Steppe oder im Gebirge werden überraschend angegriffen, die Teilnehmer zusammengeschossen, der Rest erhängt oder auf die Galeeren und in die Gefängnisse gebracht.

Ein drittes Dekret vom 12. Oktober 1687 verfügt Todesstrafe für Helfershelfer der Auswanderer. Von jetzt an wird es immer deutlicher, dass das rastlose Weiterdrehen der Verfügungs- und Terrorschraube nachgerade doch versagt. Irgendwie wird deutlich, dass ihre Spitze in der Tiefe auf unsichtbaren Stahl stößt, gegen den sie machtlos ist, weil sie sich an ihm verbiegt; auf die Dauer überdreht sich ihr Gewinde, und am Ende beginnt die Hand der Regierung, die den Schraubenzieher führt, lahm zu werden. Das Volk wird von dem Schauspiel der geschändeten Leichen ehrenhafter Mitbürger angeekelt und beginnt zu murren. Frau von Maintenon schreibt, von den Nachrichten aus der Provinz angewidert, an den Marquis von Valette, dass sie »keine Lust habe, sich vor Gott und vor dem König mit diesen Bekehrungen zu belasten«. Im Ausland wächst das Misstrauen und die Feindschaft gegen das unmenschliche Regime Ludwigs. Wenn der Gedanke Rudolf Kassners in seiner Schrift über den »Ruhm in der Geschichte« richtig ist, dass in der französischen Historie immer Gloire und Raison zusammengehen, wie denn auch Bonaparte auf der französischen »Gloire« das »Empire de la Raison« gründen wollte, dann hat Ludwig XIV., wie es grell offenbar wird, seinen höchsten Ruhm als allmächtiger König und Glaubensbeschützer durch eine nie wieder gutzumachende politische Unvernunft gesucht und auch hier wieder seinen Abstand vom wahren französischen Wesen aufgezeigt. Ludwig merkt es ein Jahr nach dem Edikt von Fontainebleau schon selbst, – in dem Sinne der sehr weltlichen Bemerkung, die später der Polizeiminister Fouché über die Ermordung des Herzogs von Enghien durch Napoleon gemacht haben soll: »Das ist schlimmer als ein Verbrechen, das ist ein Fehler.«

Der König wird unsicher. Schon am 8. Oktober 1686 hatte er einen Befehl ausgegeben, der die größten Härten unterband; die Wachen wurden von den Grenzen zurückgezogen. Die natürliche Folge war ein vermehrtes Hinausströmen der jetzt mit ihrem König gänzlich zerfallenen Protestanten. Dann werden die Wachen wieder aufgestellt und die Strafen verschärft: Sogleich beginnen im Inneren des Landes die verbotenen Gottesdienste in neuer Fülle aufzuleben.

Die Gegenkräfte, die allenthalben aufbrechen, lassen sich in zwei Gruppen teilen: Die eine kann man umschreiben mit den Worten: Eschatologie, Ekstase und Prophetie; die andere ist die ungeordnete Wortverkündigung als Notstandsamt einer ihrer Seelsorger beraubten Kirche.

Den ersten eschatologischen Gedanken finden wir bei Jurieu, der aus der Offenbarung des Johannes das Ende der Verfolgung auf das Jahr 1689 irrig berechnet. Er ist es auch, der uns in seinen Pastoralbriefen jenes merkwürdige Dokument erhalten hat, das im Gegensatz zu den »Stimmen«, die einst zu dem einsamen Hirtenkind Johanna von Domremy kamen, von den himmlischen Stimmen berichtet, die nun ganzen Volksgruppen im alten Navarra und in den Cevennen von der höheren Gotteswirklichkeit der evangelischen Wahrheit Kunde gaben:

»Ich, die Unterzeichnete, U. von Formalaguès, erkläre vor Gott dem Herrn:
Als ich in Orthez im Béarn, meinem Wohnort, war, hörte ich deutlich zu drei verschiedenen Malen im vergangenen Oktober das Folgende: Es war ein Freitag im Monat Oktober, ungefähr 8 oder 9 Uhr abends, und ich befand mich in meinem Zimmer, als einige Nachbarinnen mich eilig hinausriefen, indem sie mir sagten, ich müsse kommen, um die Engel zu hören, welche Psalmen sängen. Ich verließ sogleich das Haus …
Ich fand eine große Anzahl von Menschen, die von allen Seiten zusammenliefen, um die himmlische Harmonie zu vernehmen. Und augenblicklich wurden meine Ohren von einer so herrlichen Melodie getroffen, dass ich niemals etwas Ähnliches gehört habe. Ich konnte sehr wohl die Weise unserer Psalmen unterscheiden, die wundervoll gesungen wurden. Einige Personen sagten mir, sie hätten genau den ersten Vers des Psalms ›Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser‹ vernommen. Es waren andere da, die dasselbe bestätigten und die versicherten, sie hätten den ganzen Psalm singen hören. Was mich angeht, so gestehe ich, dass ich niemals die einzelnen Worte habe genau unterscheiden können. Ich hörte nur eine entzückende Musik, die sich mir als eine große Zahl sehr schön-harmonischer Stimmen vorstellte …

(Nachdem sie an demselben Freitag einige Stunden später und am darauf folgenden Dienstag dieselben Stimmen gehört hatte)… da lief ich in die Wohnung eines katholischen Arztes, der in meinem Haus logierte … damit er dieselbe wunderbare Melodie höre…
Als ich darauf bestand, dass er mir sage, ob er diesen Gesang vernehme, konnte der Mann die Wahrheit nicht mehr abstreiten. ›Es ist wahr‹, sagte er vor allen Leuten, ›ich höre einen schönen Gesang, es scheint mir, dass ich die Stimme von diesem oder jenem vernehme‹, indem er gewisse Personen im Ort aufzählte, die sehr gut sangen. Auf diese Antwort sagte ich ihm: ›Mein Herr, wenn die Menschen schweigen, werden selbst die Steine reden.‹ Aber er, als ob es ihm Leid täte, so viel zugegeben zu haben, begann sich zu beklagen: ›Leider sehe ich, dass das nur ein Betrug des Satans ist … um die Welt im Irrtum zu erhalten und um dieses arme Volk zu hindern, katholisch zu werden!‹ Worauf ich ihn fragte, ob er jemals vom Teufel gehört habe, dass er das Lob Gottes sänge?
Indessen priesen wir Gott über Seiner Gnade, die Er uns zuteil werden ließ, indem Er uns durch diese himmlischen Stimmen an unsere Pflicht mahnte …
Welche Aussagen ich hiermit durch meine Unterschrift bekräftige. Gegeben zu Amsterdam, den 4. September 1686 – U. de Formalaguès.«

Hin und her, besonders im Südosten des Landes, erhebt freie, ja schwärmerische und wilde Prophetie ihren Mund. Das mit furchtbaren Spannungen beladene Unterbewusstsein der gequälten und gehetzten Cevennenbewohner äußert sich in Trancezuständen Einzelner; Weissagungen klingen auf, Bußrufe erschüttern das Volk. In der keltischen Heimat Farels, im jetzigen Département de la Drôme, prophezeit eine junge Hirtin. Im Rhônetal geht die heilige Raserei auf Kinder über. Im Vivarais, nördlich von der Provence, steht der Prophet Astié auf, bis schließlich eine große Schar sich unverwundbar wähnender angeblich Inspirierter niedergemacht wird. Die von der geistigen Epidemie angesteckten Männer und Frauen eifern gegen das »neue Babylon« und die »Baalspriester« und werden als so genannte »Phanatiques« von den Königlichen verfolgt. Ein Massaker der Heiligengeistleute folgt in Serre de la Pale beim Bouchet. Auch der Vater der hehrsten Frauengestalt aus dem kommenden Jahrhundert, Marie Durand, Etienne Durand, wird eingekerkert mit der Anklage, es sei »in seinem Keller öfters Prophetie getrieben worden«.

Aus den Reihen der Inspirierten gehen aber auch Prediger hervor, die teils biblisch im Sinne geistlich bewegter Zeugen, teils zudem in äußerlich geordneter Weise die Reste der Protestanten um sich versammeln.

Der Mann, der diese Verkündigungsweise fruchtbar zu machen sich bemühte, ja welcher der Schöpfer des »extraordinären Predigtamts« wurde, war der Jurist Claude Brousson, gebürtig aus Nîmes, Doktor der Rechte und Advokat. Der Minister Châteauneuf schreibt über ihn an Bégon, den Intendanten von Rochefort, am 16. Juni 1696: » … der genannte Brousson, der ein äußerst gefährlicher Mensch ist, durchzieht die Provinzen des Königreichs, um immer dasselbe zu treiben, ohne dass man weiß, welchen Weg er eingeschlagen hat oder wo er vorbeigekommen ist … Daher Seine Majestät mich beauftragt hat, Ihnen eine Personalbeschreibung zu übersenden, wie ich sie von Bâville erhalten habe, damit man diesen Menschen ausfindig macht, wenn er in Ihrem Gebiet ist oder wenn er dort durchkommt, ihn dann verhaftet und in sicheren Gewahrsam bringt. Er ist von mehr als mittelmäßiger Statur, hat eine hohe Stirn, kastanienbraune Haare, ein ovales Gesicht, kleine Augen, eine große Nase, einen breiten Mund, einen ziemlich stolzen Schritt und hält das Haupt hoch, wenn er geht; er schiebt dabei seinen Körper nach vorn. Er ist 45 Jahre alt, trägt den Hut tief im Gesicht und sieht sehr bescheiden aus. Sein Gesicht ist überaus mager, oft trägt er eine Perücke.«

Brousson ermahnt – er ist zu Beginn seiner evangelistischen Tätigkeit als protestantischer Flüchtling in Lausanne – flüchtig gewordene ordinierte Prediger der reformierten Kirche Frankreichs, in die Heimat zurückzukehren. Eine Anzahl von ihnen folgt seinen Beschwörungen. Sechs von ihnen, welche wagen, sogar im Norden Frankreichs zu arbeiten, werden 1689-1693 in Paris verhaftet und auf der Insel Sainte Marguerite bei Cannes eingekerkert. Fünf von ihnen sterben dort; zwei, nachdem sie in der Einzelhaft irrsinnig geworden waren. Als letzter wird Mathurin nach 24 Jahren Gefangenschaft von Holland her befreit.

Brousson, obwohl selbst kein Pfarrer, zögert nicht, dem Beispiel der zurückgekehrten Seelsorger zu folgen. Er lässt sich nach kirchlichem Notrecht in Holland (oder von dem schwärmerischen Prädikanten Vivent?) ordinieren und bildet selbst Prediger aus, von denen die Mehrzahl der Hinrichtung verfallen. Seine Tätigkeit in Frankreich muss er mehrfach unterbrechen. Einmal flieht er nach der Schweiz, zweimal nach Holland; immer wieder kehrt er nach Frankreich zurück. Er spreche selbst zu uns in einem Brief, den er am 10. Juli 1693 an den Statthalter Lamoignon de Bâville schreibt:

»Gnädiger Herr,
ich habe einen Ihrer Befehle, datiert vom 26. Juni 1693, gelesen, den Sie im Land Languedoc haben anschlagen lassen und in welchem Sie sagen, Sie seien informiert, dass ich fortlaufend einen Geist der Aufsässigkeit unter den Leuten verbreite, und dass ich sie, so viel es mir möglich ist, veranlasse, die Befehle des Königs zu übertreten. Ich verdiente daher als Verstörer der öffentlichen Ruhe bestraft zu werden, und Sie versprechen, die Summe von 5.000 Livres jedem auszuzahlen, der meinen Aufenthalt ihrer Hoheit anzeigt und Ihnen die Möglichkeit gibt, mich verhaften zu lassen. Aber erlauben Sie mir, gnädiger Herr, Ihrer Hoheit zu erklären, und das in tiefer Ehrfurcht, aber in der Notlage einer legitimen Verteidigung, dass ich Sie nicht als meinen Richter anerkennen kann. Sei es, weil – nach der Außerkraftsetzung der Edikte und Befriedungsverträge, die ewig und unwiderruflich waren – wir des Schutzes unserer gesetzlichen Richter entbehren, und nicht als freie Menschen, sondern als Sklaven behandelt werden: so wie man auch über unser Hab und Gut verfügt, über unsere Kinder und über unser Leben, als ob wir nichts anderes als Sklaven wären, wiewohl wir doch nicht Kopfsteuern und andere Steuern zahlen, um derartig behandelt zu werden. Und darum können wir all das Elend, das man uns erleiden lässt, nicht anders ansehen denn als Gewalttat und Unterdrückung. Oder sei es, weil das Unglück, das eine große Zahl unserer Brüder unter Ihrer Intendantur im Poitou, im Vivarais, in den Cevennen, im Nieder- und Hochlanguedoc erlitten hat, – da sie sich im Namen des Herrn Jesus versammelt hatten, um Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten, Seinen heiligen Namen anzurufen und Seine Herrlichkeit durch den Gesang ewigen Lobpreises zu rühmen – weil dieses Unglück der ganzen Welt aufzeigt, dass Sie bis zum Letzten voreingenommen sind gegen ein armes Volk, das niemandem ein Leid tut und das nichts begehrt als die Freiheit, Gott nach Seinen Geboten zu dienen …
Wollte Gott, es hätte dem König gefallen, in etwa die aufrichtigen Ratschläge in Erwägung zu ziehen, die ich mir vor zehn Jahren und länger die Freiheit genommen habe, an den Hof zu senden. Der König befände sich dann nicht in der Lage von heute … Denn nun ist es so weit gekommen, gnädiger Herr, dass Gott den Staat mit schrecklichen Übeln heimsucht, und man müsste schon völlig blind sein, um das nicht zu sehen. Aber alles das ist nichts im Vergleich zu den Folgen, die man logischerweise (raisonnablement) fürchten muss. Der Staat setzt sich noch äußerlich durch, weil er alle seine Kräfte einsetzt; aber indem er sie einsetzt, verbraucht er sie. Das Königreich befindet sich in einem Zustand der Gewaltherrschaft, jedoch sind gewalttätige Dinge nicht von Dauer …
Man kann schlechterdings nicht sagen, gnädiger Herr, dass wir nicht wahre Gläubige seien. Wir dienen nicht den Kreaturen, sondern dem Ewigen, dem lebendigen und wahren Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Wir setzen unser ganzes Vertrauen in die Barmherzigkeit Gottes des Vaters, in die Gnade Jesu Christi Seines Sohnes und in die heilsame Hilfe des Heiligen Geistes. Dieser große Gott ist es, dessen ich ohne Unterlass in heiliger Furcht gedenke, dessen Wort ich allezeit seit meiner Kindheit in meinem Herzen bewege, der mich gewürdigt hat, Anteil zu haben an Seinem großen Licht …
Darum flehe ich Ihre Hoheit an, endlich von der Verfolgung eines unschuldigen und treuen Dieners Gottes abzulassen, der es nicht lassen kann, die Pflichten seines Amts zu erfüllen. Im anderen Fall erkläre ich, dass ich gegen Ihren Haftbefehl vor dem Tribunal Gottes Berufung einlege, der der König der Könige ist, der höchste Richter der Welt. Der Herr, dem ich diene und für den ich so lange schon so viel leide, der mich bis zum heutigen Tag inmitten der Glut dieser schrecklichen Verfolgung bewahrt hat, wird mich auch in der Zukunft nicht verlassen, wenn es Ihm gefällt, und wird Sich zu mir bekennen.« –  Claude Brousson, serviteur de Jésus Christ.

Fünf Jahre nach diesem Schreiben wird Brousson in Oléron verhaftet, nach Montpellier im Languedoc gebracht und dort auf Befehl desselben Statthalters Bâville gerädert und erdrosselt. Dem Volk bleibt seine Hinrichtung unvergesslich, von der uns ein Brief sagt:
»… zwanzig Soldaten begannen ihre Trommeln zu schlagen, bis die Exekution vorüber war. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, mit welcher Festigkeit er zur Hinrichtung ging: Es schien, als begäbe er sich zu einem Festmahl. Seine Augen waren unverwandt zum Himmel gerichtet, so dass er, schien es, keinen Menschen auf dem ganzen Weg sah oder bemerkte. Jedermann brach in Tränen aus, diesen großen Glaubenszeugen vorbeischreiten zu sehen, der mit seinem Blut die Wahrheit zu besiegeln ging, die er gepredigt hatte.«

Broussons Lebenswerk ist ein typisches Beispiel dafür, dass man eine geschichtliche Erscheinung mit einem gleichen Schein von Recht entgegengesetzt deuten kann. Mit gutem Grund könnte man die Tätigkeit Broussons als ein nur retardierendes Moment bezeichnen gegenüber dem unaufhaltsam sich nahenden Sterben des Protestantismus. Mit mindestens demselben Recht kann und soll diesem Blutzeugen dafür gedankt werden, dass er durch sein Werk der Seele seines Volkes in ihren Tiefen die Kontinuität des Glaubens gesichert hat in dunkler Nacht bis zum Licht des neuen Tages.

Angesichts der unerwarteten Zähigkeit der reformierten Bekenner nimmt die taktische Unsicherheit des Königs, der mit Kriegen ohne Ende belastet ist, weiter zu. Seit 1693 stellt die Regierung weitere Verordnungen ein. Der wenig befriedigende Verlauf des pfälzischen Erbfolgekriegs bedrückt Ludwig, obwohl er im Frieden von Ryswyk tückisch durchgesetzt hat, dass den vergewaltigt gewesenen Grenzbezirken die Religionsfreiheit nicht wiedergegeben wird. Ein Jahr später, 1698, kommt eine Erklärung des Königs heraus, in der er in gemäßigten Ausdrücken anordnet, die Ketzer nicht mehr zu zwingen, sondern zu ermahnen (exhorter).

Mittlerweile erheben zwei andere Mächte ihr Haupt, die der König schon jetzt nicht mehr zu bezwingen vermag, die zu beschwören er schon jetzt nicht mehr imstande ist: der Hunger im Land, der Herold und Vorläufer des Wirtschaftsruins, und der Atheismus am Hof.

In dem reichsten und vielleicht fruchtbarsten Land Europas hat Seine Majestät der Hunger seine Residenz aufgeschlagen, nachdem Seine Majestät der König von Frankreich sich sein Residenzschloss in Versailles hat 400 Millionen Mark deutschen Geldes kosten lassen; nachdem (wenn es erlaubt ist, nach der Sonne auch einen ihrer Satelliten zu erwähnen)¬beispielshalber der Herzog von Chevreuse nur in den Enteignungs- und Elendsjahren um das Edikt von Fontainebleau 1683-1688 für seinen privaten Schlossbau in Dampierre die Summe von 267.800 Livres verausgabt hat, wie man den Rechnungen im Schlossarchiv entnehmen kann. Ein Jahr später, 1689, lesen wir, geschrieben von der Hand La Bruyères, eine andere Abrechnung, die Schlussbilanz all jener königlichen und fürstlichen und herzoglichen und gräflichen Unternehmungen und Rechnungen: »Man gewahrt hin und her auf dem Land gewisse unheimliche Lebewesen männlichen und weiblichen Geschlechts, schmutzig, von fahler Hautfarbe, sonnenversengt, in die Erde verkrampft, in der sie herumwühlen und herumgraben, ohne sich irgendwie darin beirren zu lassen. Sie haben so etwas wie eine artikulierte Stimme, und wenn sie sich aufrichten, sieht man ein menschliches Gesicht an ihnen. Und wirklich, es sind Menschen! Nachts verkriechen sie sich in ihre Höhlen, wo sie sich von schwarzem Brot, von Wasser und von Wurzeln ernähren. Sie sind dazu da, damit andere Menschen keine Mühe haben mit Säen, Feldbestellen und Ernten, um davon zu leben. Sie haben daher ein gewisses Anrecht auf das Brot, dessen Getreide sie gesät haben.« Und Taine fügt im ersten Band seiner zeitgenössischen Geschichte Frankreichs hinzu: »Eben dieses Brot bekommen sie nicht während der folgenden 25 Jahre und sterben herdenweise. Ich schätze, dass im Jahre 1715 (dem Todesjahr des Sonnenkönigs)¬etwa ein Drittel der Nation, sechs Millionen, an Elend und Hunger zugrunde gegangen ist.« Arthur Young, ein reisender Engländer, der sich mit einer Bäuerin in der Champagne unterhalten hat, sagt in seinen Erinnerungen: »Auch beim näheren Zusehen hätte man sie auf 60 bis 70 Jahre geschätzt, so gebeugt war ihr Rücken, so verrunzelt war ihr Gesicht und verbraucht durch die Arbeit. Sie sagte mir aber, sie sei 28 Jahre alt. Diese Frau, ihr Mann und ihr Haushalt sind das Durchschnittsbild des damaligen Kleinbauern. Sie besitzen ein Stück Land, eine Kuh und ein armseliges kleines Pferd. Ihre sieben Kinder verbrauchen die gesamte Milch der Kuh. Ihrem Grundherrn müssen sie jährlich 42 Livres Weizen und 3 Hühner abliefern, einem anderen Lehnsherrn 146 Livres Hafer, 1 Huhn und einen Sous (das Letztere offenbar als Symbol der wirtschaftlichen Hörigkeit), wozu noch die gewöhnliche Kopfsteuer – die »taille«, von denen der Adel und die Geistlichkeit befreit sind – und andere Steuern kommen.«

Alle diejenigen, die Steuern wirklich zahlen könnten, wissen sich der Steuern zu entziehen. Alle diejenigen, welche so gut wie nichts haben, werden unbarmherzig von den Staatssteuerpächtern erfasst. Ein Straßenkehrer, ein Lumpensammler muss seine Kopfsteuer entrichten, sobald er nur eine Schlafstelle hat. Sein Vermieter ist für diese Zahlung verantwortlich; wird die Steuer nicht aufgebracht, so legt man dem Schlafstelleninhaber einen Soldaten ins Quartier, der von ihm lebt und ihn entsprechend belästigt. Eine besondere Erscheinung der Zeit sind die massenhaften »collecteurs«, die, zu dieser Arbeit gepresst und aus ihrem Beruf herausgenommen, von Dorf zu Dorf gehen, von Haus zu Haus, um rückständige Abgaben und Steuern einzunehmen. Wehe ihnen, wenn ihr ruheloses Wandern nicht den genügenden Erfolg hat – wehe den anderen, wenn sie nicht zahlen!

Von allen diesen Dingen weiß man in Paris nichts oder will nichts wissen. Draußen, in der Provinz, liegt ein Drittel des Landes brach, weil die großen Grundbesitzer in der Hauptstadt leben, ohne sich um die Bewirtschaftung ihrer Territorien zu bekümmern. Wenn sie einmal durch die Provinz reisen oder ihr Schloss aufsuchen, gehen sie auf die Jagd. Das Wild, das von den Bauern nicht abgeschossen werden darf, verwüstet und verzehrt die Erträge der wenigen Äcker, soweit sie nicht schon vom Heidekraut überwuchert sind. Im Übrigen ist »Provinz« gleichbedeutend mit Verbannung. »Sire«, sagt M. de Vardes zu Ludwig XIV., »wenn man fern von Eurer Majestät weilt, ist man nicht nur unglücklich, sondern man ist lächerlich«. Wie sehr die Landstraßen der Provinz veröden, beschreibt uns eine Schilderung des genannten Engländers Young (Zitate bei Taine), der 1689 zwischen Orléans und Paris auf zehn Meilen keine einzige Schnellpost gesehen hat, auf der Landstraße von Narbonne auf 23 Meilen kein einziges Kabriolett, während die Straße zwischen Paris und Versailles in den beiden Fahrtrichtungen nur aus einer ununterbrochenen Kette von Wagen bestand. Versailles und Paris sind nicht nur Zentrum des Landes, sondern sind Frankreich.

In Versailles zeigt man sich,
drängt man sich, amüsiert man sich, unterhält man sich, ist man im Brennpunkt aller Neuigkeiten, aller Geschäfte, allen Geschehens. In Versailles berührt man sich mit der Elite des Königreichs und allen in Sachen der Eleganz und des Geschmacks tonangebenden Leuten. Versailles, der Hof Ludwigs XIV., zählt damals 70.000 Ansässige und 10.000 vorübergehend Anwesende. Um den eigentlichen Hof des Königs, an dem man alles an Ehre, Geld oder Vorteil erhält, wenn man dem Herrscher nur zu nahen versteht, gruppieren sich die Höfe der Großen: So hat der Herzog von Orléans 274 Hofbeamte, der Graf von Artois deren 239. Der König selbst verfügt, um nur einen kleinen Ausschnitt herauszugreifen, für seine Privatkapelle über 75 Priester, Kleriker und Kirchenbeamte. Für seine Gesundheit stehen 48 Ärzte, Apotheker und Hygieniker bereit. Sein Hausorchester zählt 128 Musiker und Sänger, seine Privatbibliothek wird von 43 Beamten betreut. Geld spielt in Versailles keine Rolle: Als der Graf von Conti an die von ihm begehrte Frau von B. schreibt, unterstreicht er das Anliegen seines Briefs durch die Notiz, dass er als Streusand für dieses Schreiben einen zu diesem Zweck pulverisierten großen Diamanten im Wert von 4.000 Livres verbraucht habe.

Die katholische Kirche gibt dem Ganzen in wohl abgewogener Mischung von glänzenden Zeremonien, tönenden moralischen Ermahnungen und weitgehendem Mittun die gewünschte Weihe und Verheißung des göttlichen Segens. Friedrich Nietzsche, der Fénelon loben wollte, hat in seiner »Morgenröte« den Typus des damaligen katholischen Hofpredigers, ohne es zu wissen, grausam genug gegeißelt: »Fénelon war der vollkommene und bezaubernde Ausdruck der kirchlichen Kultur in allen ihren Kräften: eine goldene Mitte, die man als Historiker geneigt sein könnte, als unmöglich zu beweisen, während sie nur etwas unsäglich Schwieriges und Unwahrscheinliches gewesen ist.«

Die normale Folgeerscheinung dieses Hofkatholizismus und dieser vollendeten Weltlichkeit, gefasst in dezente, geschmackvolle Form, ist die Freigeistigkeit und der Atheismus, der in genauem Verhältnis zur Austreibung hugenottischen Glaubensernstes zunächst in Paris und Versailles die Oberhand bekommt. Im Jahre 1698 schreibt die Pfalzgräfin-Regentin-Mutter über ihre Eindrücke: »Man sieht fast keinen jungen Mann mehr, der nicht Atheist sein will.« Sieben Jahre nach dem Tod Ludwigs XIV. fügt sie hinzu: »Ich glaube nicht, dass es unter den Geistlichen oder Laien in Paris noch 100 Menschen gibt, die die wahre Religion haben oder auch nur an unseren Herrn Jesus Christus glauben. Cela fait frémir – ich zittere, wenn ich daran denke.«

Ludwig XIV. ahnt nichts von dieser Götzendämmerung, welche ein Jahrhundert des Unglaubens einleitet. Von dem Elend des hungernden Volkes weiß er nur so viel oder nur so wenig, als man ihn wissen lässt. Gelegentliche Einblicke in den Jammer der vergewaltigten Gewissen und der zerstörten Familien seiner evangelischen Untertanen stören nur die Harmonie seines Machtbewusstseins und verletzen seinen formvollendeten Ordnungssinn – als es eines Tages einer armen Hugenottenfrau gelingt, zu ihm hindurchzudringen, sich ihm zu Füßen zu werfen und ihn mit Geschrei und Tränen um die Wiedergabe ihrer beiden geraubten Kinder anzuflehen, wirkt die gesamte Szene äußerst peinlich und unästhetisch auf ihn und seine Umgebung.

Der König weiß auch monatelang nichts davon, dass im Süden seines Reichs eine Revolte ausgebrochen ist, ja, freche Zungen würden sagen ein Religionskrieg, entfesselt durch seine eigenen Beamten und durch den Klerus in dem protestantischen Volk seines Reichs, von dem er nicht wissen will, dass es noch da sei. Broglio, der Befehlshaber drunten im Languedoc und Frau von Maintenon haben die leidige Affäre des Cevennenkrieges dem allwissenden und unfehlbaren Monarchen so lange vorenthalten, bis die religiöse Feuersbrunst im Süden sich schlechterdings nicht mehr verschweigen lässt.

Der Cevennenkrieg, »La Guerre des Camisards«, 1702-1704, ist ein Religionskrieg in sehr viel strengerem Sinne des Wortes als die Religionskriege des protestantischen Adels und seiner Gefolgschaft in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in denen Notwehr bedrängter christlicher Gewissen, Standesinteressen und politische Gesichtspunkte undeutlich gemischt waren. Der Camisardenkrieg zeigt die beiden Merkmale des echten Religionskriegs auf: Er wird um einer Glaubensüberzeugung halber geführt, und er wird vom Volk getragen, und von was für einem Volk!

»Dans quel granit, ô mes Cévennes,
Fut taillé ce peuple vainqueur?«

Wie berichtet, war der Predigerführer Brousson im Jahre 1698 durch den Statthalter Bâville hingerichtet worden. Nach ihm wird als Letzter der Reihe der Prädikant Roman, von einer Gemeindeversammlung zurückkehrend, durch einen Elenden namens Arnaud verraten und zur Verurteilung ins Gefängnis gebracht. Eine Gruppe energischer junger Hugenotten befreien ihn durch Gewalt, so dass er fliehen kann; er wirkt später als Waldenser Pfarrer bei Frankfurt am Main. Sein Leben ist teuer erkauft, die Rache des Statthalters ist grauenhaft. Zwölf der Befreier werden lebendig gerädert; einunddreißig kommen an den Galgen, siebzehn ins Gefängnis – die Zahlen schwanken.

Das geschieht im Jahre 1699, eben in dem Jahr, in welchem die Bewegung des Cevennenvolkes zuerst sichtbar wird in der singenden Jugenderweckung von Monteils – wie denn erweckte, einsatzbereite Jugend und der Tag und Nacht das Gebirge durchhallende Psalmengesang der Erhebung dieser Jahre einen unauslöschlichen Stempel aufdrückt.

Jean Cavalier berichtet darüber im ersten Kapitel seiner Memoiren über den Cevennenkrieg:
»… Gegen das Ende des Jahres 1699 erschienen Knaben, etwa 20 an Zahl – der älteste unter ihnen war nicht mehr als 15 oder 16 Jahre alt – vor dem Portal der Kirche von Monteils bei Alais, um dort Psalmen zu singen. Der Ortspriester ließ sie verjagen und begab sich missgestimmt zu ihren Eltern, um diesen klarzumachen, dass er im Wiederholungsfall sich an sie halten werde. Die Väter und Mütter antworteten, sie seien nicht als verantwortlich anzusehen und verboten ihrerseits den Kindern die Wiederholung solches Tuns. Die Angelegenheit hatte im Übrigen keine weiteren Folgen, denn dieser Priester war ein anständiger Mensch, und die Einwohner dieses Dorfes, zur Hälfte katholisch und zur Hälfte protestantisch, lebten im besten Einvernehmen miteinander.

Jedoch ereignete es sich, dass vierzehn Tage später dieselben Jugendlichen sich (abermals) vor der Kirche versammelten und von neuem anhoben, Psalmen zu singen. Als der Priester es vernahm, wurde er derartig gereizt, dass er die Katholiken des Dorfes sich bewaffnen ließ und anordnete, Eltern und Kinder einzusperren, um dadurch diejenigen herauszufinden, welche zu einer so leichtfertigen Handlung geraten hätten. ›Denn‹, sagte er, ›ihre Kinder würden niemals ein so schweres Vergehen begangen haben, wenn man sie nicht dazu aufgehetzt hätte.‹ Und es half den Eltern nichts, dass sie sich entschuldigen wollten und diese Anklage zurückwiesen und den Priester baten, doch wenigstens die Kinder selbst zu befragen.

Schließlich ließ der Priester denn die Kinder kommen und fragte sie, wer sie so unverschämt gemacht habe, ohne Respekt vor ihm Psalmen auf dem Kirchplatz zu singen, und befahl ihnen, die Namen derer zu nennen, die ihnen das beigebracht hätten. Die Kinder antworteten, dass man gar niemand anklagen könnte und dass auch ihre Eltern nicht in ihre Absicht eingeweiht gewesen seien. Sie hätten nur beten wollen und Gottes Ehre preisen, und sie würden das so lange tun, als sie lebten. Diese Antwort erstaunte den Priester und versetzte ihn in einen solchen Zorn, dass er ohne weiteres verschiedene dieser Kinder ins Gefängnis abführen ließ, überzeugt, dass sie alle unter einer Decke steckten. Einigen gelang es zu entwischen: Diese schlossen sich mit anderen Jugendlichen zusammen, gingen in einen Flecken namens Brignon am Gardonfluss, drangen in die Kirche ein und verbrannten dann vor der Kirchtür die Heiligenbilder und Kreuze, die sie gefunden hatten. Von da begaben sie sich in das nächste Dorf Baron, wo sie dasselbe taten, doch nicht, ohne dass einige unter ihnen verhaftet oder getötet wurden, da die Miliz hinter ihnen her war. Der Rest floh in den nächsten Wald und fuhr dort fort, zu beten und Psalmen zu singen …

Dann schloss sich ihnen ein junger Mann mit Namen Daniel an, der etwa 25 Jahre alt war, ein herrlicher Beter und von einem ungemeinen Eifer für Gottes Ehre beseelt. Nun strömten sie von allen Seiten zusammen; die einen aus Neugierde, die anderen, um Zeugen seiner eindringlichen Ermahnungen zu sein. Aber das Erstaunlichste war, dass dieser junge Mensch niemals andere Bücher gelesen hatte als die Heilige Schrift und einige Predigten von Claude Brousson.«

Nach dem späteren sorgfältigen Bericht von Antoine Court, dem geistlichen Nachfolger Cavaliers, in seiner Geschichte der Cevennen-Aufstände stammte dieser unbekannte Daniel, aufgewachsen ohne Geschwister und ohne jede Schulbildung, aus dem Dorf Roux. Er drückte sich so klar aus, er predigte so gewaltig und betete so glühend, dass man sagte, er sei ein Prophet. Court fügt hinzu: »Er sprach so übermächtig, dass seine Zuhörer, erschüttert und in Tränen ausbrechend, aus einem Munde riefen: ›Gnade, o Gott, und vergib uns armen Sündern!‹«

Dieser geistgesalbte Bußprediger und unbekannte Soldat Christi wird binnen kurzem verhaftet und öffentlich erhängt. Der seit dieser Zeit wieder wirksame Geist Gottes beginnt so stark zu wehen, dass, wie Cavalier von diesen Jahren (bis 1702) schreibt, die Gefängnisse und die Galeeren mit Protestanten gefüllt waren, welche nur das eine Verlangen hatten, ihre Schwäche und die Preisgabe ihrer Religion zu sühnen.

Der eigentliche Cevennenaufstand 1702-1704 wird um evangelisches Glaubensleben, um reformiertes Bekenntnis, um Gewissensfreiheit geführt von den Abkommen der alten Albigenser und vielleicht auch cisalpiner Waldenser, denen ihre Familie, ihr Heim, ihre angestammten Besitzungen, ihre Weingärten und Olivenhaine genommen werden sollen. Bauern, Landarbeiter, kleine Handwerker kämpfen mit den primitiven Waffen, die ihnen zur Hand sind, mit Sensen, Hellebarden und alten Feuerbüchsen, bald auch besser bewaffnet, gegen die Schergen, Henker und Exekutoren des Edikts von Fontainebleau, doch nicht gegen den König, wie sie meinen. Noch gegen Ende dieses Kriegs schreibt Cavalier an Montrevel: »Wenn man uns (nur)¬die Freiheit lassen will, Gott in der Reinheit des Evangeliums zu dienen, ist der Krieg sogleich beendet.«

Der äußere Ausbruch der Revolte gleicht der Explosion eines überheizten Kessels. Die »Nouveaux Convertis«, die »Mussbekehrten« leiden bitter unter den Demütigungen der Pariser Dekrete. Den treu gebliebenen Evangelischen wird eröffnet – und man handelt dementsprechend –, dass auf jede christliche Versammlung mit mehr als sechs Teilnehmern ohne weiteres gefeuert werden wird, in praktischer Anwendung der Zusatzverfügung von 1686, nach welcher Teilnahme an evangelischen Gottesdiensten mit dem Tod zu bestrafen ist. Die geistliche Neubelebung des Glaubens hat mittlerweile die innere Widerstandskraft gesteigert. Die Auslösung des Entschlusses zur Kampfhandlung und zum verzweifelten Einsatz aller natürlichen Hilfsmittel erfolgt durch die Katastrophe von Pont de Monvert.

Ein Augenzeuge (camisardische Darstellung)¬beschreibt uns, wie am 23. Juli 1702 eine große Anzahl protestantischer Männer durch einen gewissen Pierre Séguier, zubenannt »Esprit«, einen 50jährigen Wollkämmer, in die Einöde zusammengerufen werden. Esprit hält eine überaus lange Predigt und spricht ihnen dann von den Gefangenen im Keller des Abbé du Chayla, eines Erzpriesters und Missionsinspektors der katholischen Aktion, der gerade als Inquisitor an seinen hugenottischen Opfern eine neue von ihm ersonnene Tortur des Knochenbrechens erprobt. Sechzig Männer melden sich freiwillig zur Befreiungstat, von welcher der in der Versammlung anwesende kaum 20-jährige Cavalier wegen seiner Jugend ausgeschlossen wird.

Die Freischärler ziehen mit dem hallenden Schlachtgesang des 68. Psalms in den Marktflecken ein, mit Pistolen und einigen Flinten bewaffnet, umzingeln das Haus des Ketzermeisters, verlangen die Auslieferung seiner Opfer und versprechen, bei Erfüllung ihrer gerechten Forderung wieder abzurücken. Der römische Priester lässt seine Leute aus dem Haus feuern; zwei Protestanten stürzen tot zur Erde, und einige andere werden verwundet. Die Übrigen, vor Wut völlig außer sich geraten, überwältigen die katholische Wache des Pfarrhauses, brechen die Tür des Kellergefängnisses auf und dringen zu den verstümmelten Glaubensbrüdern hindurch, nehmen sie auf und tragen sie fort. Der Abbé selbst wird durch einen Schuss in den Schenkel verwundet, versucht durch ein Fenster zu entfliehen, wird gepackt und vor seinem Haus verhört und gefragt, warum er alle solche Grausamkeiten an den Evangelischen verübt habe. Er fleht um Gnade und um sein Leben. Man gibt ihm eine Viertelstunde Zeit, um sich im Gebet auf den ewigen Richter vorzubereiten, dann erschießt man ihn und brennt sein Haus nieder. Nach einer anderen, besser beglaubigten Version stirbt er von Stichen zerfetzt auf der Brücke. Cavalier bemerkt dazu in seinen Memoiren, laut Zeugenaussagen seiner Bekannten habe genau ein Jahr und sechs Tage vor dem schrecklichen Ende des Priester-Inquisitors ein junges Mädchen, das auf dessen Anordnung gehenkt wurde, diesem prophetisch gesagt: »Zähle, dass du heute in einem Jahr und sechs Tagen an derselben Stelle sterben wirst, wo du mich ermorden lässt, und eines grausameren Todes, als der ist, den ich sterbe.«

Nach der Befreiung der Gefangenen begibt sich Esprit zu einem Helfershelfer des Abbé du Chayla, lässt ihn ergreifen, erschießen und sein Haus anzünden. Dann, nach der Exekution eines weiteren Priesters, ziehen sie zum Schloss La Devèze und verlangen Waffen. Als man, statt ihnen das Gewünschte zu geben, auf sie schießt, setzen sie das Schloss in Brand. In dem katholischen Gegenbericht Bâvilles ist zudem die Niedermetzelung der Schlossfamilie vermerkt, die unter angeblich lautem Protest der besonnenen protestantischen Umwohner des Herrensitzes erfolgt. Kurz darauf wird Esprit verhaftet, verstümmelt und lebendig verbrannt; die Mittäter kommen an den Galgen. Eine Schreckenswelle der Verfolgung ergießt sich über die Gegend und mobilisiert die verzweifelten Gebirgsbewohner zur bewaffneten Gegenwehr. Die sprichwörtliche hugenottische Geduld hat ihr Ende erreicht.

Der Jüngling, der dem Cevennenkrieg seinen Stempel aufdrückt – derselbe, welchen eben der fanatische Séguier-Esprit von dem Unternehmen gegen den Abbé du Chayla seiner Jugend halber ausschloss – Jean Cavalier, ist ein Bauernkind aus der Gemeinde Ribaute. Er sieht sehr unbedeutend aus, hat »kastanienbraune Haare« und ist seinem Äußeren und seinem Wuchs nach ein großer Knabe. Heimlich von seiner Mutter im evangelischen Glauben unterrichtet, war er unauffällig seinen Weg in der Dorfjugend gegangen, hatte die katholische Schule besucht und sich dem Ortspfarrer als »bon Romain« empfohlen, indem er seinen Katechismus fehlerlos aufsagte. Von der Messe hielt er sich fern, so viel er konnte, und überwand schließlich nur noch mit äußerster Mühe seinen Abscheu gegen den römischen Aberglauben. Nachdem er in verschiedenen Dorfschulen gelernt hatte, was es dort zu lernen gab, bot ihm der Bischof des Bezirks eine Freistelle in einem Jesuitenkollegium an. Der Knabe verbeugt sich höflich, aber entschwindet kurz darauf dem misstrauischen Blick der katholischen Obrigkeit. Eine Weile arbeitet er anderswo bei entfernten katholischen Verwandten, dann geht er über die Grenze und sucht sich in Genf, der Zufluchtsstätte seiner Glaubensbrüder, eine Stelle als Bäckerlehrling. Nur der Geldmangel hindert ihn, bis nach Berlin weiterzuwandern, wo ein Verwandter, der Kavallerieoffizier Jean Cavalier, später in den Kirchenbüchern geführt ist.

In Genf erreicht ihn die Alarmnachricht, dass man sowohl seinen Vater als auch seine Mutter als Geiseln für den der katholischen Kirche verloren gegangenen Sohn fortgeführt hat, und zwar seinen Vater in das Gefängnis der Festungsstadt Carcassonne, seine Mutter in den Kerkerturm von Aigues Mortes im Rhônedelta. Der kaum Zwanzigjährige kehrt sofort zurück, um seine Eltern zu befreien, wenn es möglich wäre. Auf dem Rückweg trifft ihn die zweite Hiobsbotschaft: Seine Eltern haben ihrem Glauben abgeschworen, um die Freiheit wiederzuerlangen, und befinden sich als Abtrünnige wieder zu Hause. Es war also sein Vater zum zweiten Mal vom Evangelium abgefallen, denn er hatte bereits am 25. November 1686 mit den übrigen Einwohnern des Dorfes eine kirchliche und zivile Absage seines Glaubens unterschrieben, nach welcher er sich bereit erklärte: » … alle die, welche ihre (katholischen) Pflichten versäumen würden … als geschworene Feinde der Religion und des Staates zu betrachten.«

Gleichwohl sucht der Jüngling das väterliche Haus auf. Er erreicht es eines Sonntags früh und gewahrt die Eltern, wie sie, das römische Gebetbuch in der Hand, zur Messe aufbrechen. Er spricht mit ihnen, er beschwört sie: (Mémoires sur la Guerre des Cévennes, Kapitel I):
»›Wo sind‹, sagte ich ihnen, ›eure Gelöbnisse, die ihr so oft wiederholt habt in mancher Versammlung, vor Gott und vor den Menschen, lieber zu sterben als zur Messe zu gehen?‹ Dann wandte ich mich meiner Mutter zu und sagte zu ihr: ›Soll ich am Jüngsten Gericht gezwungen sein, gegen dich zu zeugen? Sollte es möglich sein, dass du im Fleisch endest, nachdem du im Geist begonnen hast? Die du mir ein Vorbild im Durchhalten gewesen bist, solltest du einer so unwürdigen Tat fähig sein? Wo sind alle die schönen Worte, die du mir so oft gesagt und wieder gesagt hast: Sei getreu bis an den Tod, so will Ich dir die Krone des Lebens geben!‹ – So sprach ich mit ihnen eine ganze Stunde lang, und sie weinten bitterlich und fassten den Entschluss, eher alles zu leiden, was es Gott gefallen würde, ihnen aufzuerlegen, als zur Messe zu gehen und sich wieder in die Götzendienerei einzutauchen.«

Beide Eltern bleiben ihrer Buße treu und stellen die Echtheit ihres Glaubens unter Beweis. Noch im selben Jahr werden sie als »Relaps« in das Fort von Alais gebracht. Seine Mutter geht im folgenden Jahr beim Heimweg zugrunde. Sein Vater und sein älterer Bruder befinden sich nach einer Briefnotiz des Generals La Lande noch im Mai 1704 im Gefängnis. Unterdessen begibt sich Cavalier, statt nach Genf zurückzugehen, zu seinen Glaubensbrüdern, tritt aber bald, nach Erweis einer ungewöhnlichen Kühnheit und Umsicht von den jungen Männern der Gegend gerufen, an die Spitze der Insurrektion im Nieder-Languedoc. Zur Bedingung macht er die Anerkennung seiner absoluten Führerschaft und obersten Gerichtsbarkeit über Leben und Tod in Sachen der Manneszucht und Mannschaftstreue und antwortet zwei Jahre später dem erstaunten Marschall von Villars, er habe niemals die geringste Schwierigkeit gefunden, eine sofortige Todesstrafe an schuldigen Elementen vollziehen zu lassen. Von jetzt an führt er seine Tausendschaft, zusammengestellt aus allergröbstem Menschenmaterial und einfachsten Kindern des Volkes, ohne jede erlernte Kenntnis der Strategie und Kriegswissenschaft mit der angeborenen Genialität, die später wieder in den jungen Generälen der französischen Revolution in Erscheinung tritt.

Er selbst will allein durch den Heiligen Geist geleitet werden, dessen Weisungen er in unablässigem Gebet sucht, der ihn von gewalttätigen Plünderungen zurückhält und in jeder einzelnen Situation erleuchtet. Die empfangenen, die geahnten Direktiven des Heiligen Geistes übersetzt dann der Jüngling mit der ganzen rationalen Klarheit seiner französischen Mentalität – wer dächte nicht an Jeanne d’Arc? – in die bestmögliche Disposition und in die zweckangepassteste Kampfhandlung, die Raum, Zeit und Materialien gestatten.

Als Führer in den Cevennen kommandiert neben ihm Pierre Laporte mit dem Zunamen Roland, ein früherer Soldat, dann Schweinehändler aus Mas Soubeyran – sein Häuschen ist trefflich erhalten und heute mit einem kleinen Museum verbunden –, umsichtig und zähe, weniger geschmeidig als sein jüngerer Kampfgenosse, aber geradliniger und noch unbeugsamer als er. Der so genannte katholische König des Languedoc, Bâville, beschreibt Roland in einem Brief an den Kriegsminister Chamillart: »Er ist eine Art wildes Tier, aus dem man nur Extravaganzen herausbekommt. Er sagt nämlich, dass man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen, und dass er die Gabe des Heiligen Geistes habe, der ihn lehre, was er tun müsse. Er ist ein vollkommen brutales Tier und kann nicht logisch denken (il ne raisonne pas)¬.« Der letzte Satz ist eine echt französische Kritik und ein Tadel, den man Cavalier nicht erteilen konnte.

In den beiden folgenden Jahren setzt die königliche Regierung ihre besten Generäle in den Cevennen ein, nach Broglios Niederlagen zuerst Montrevel, endlich den berühmten Marschall Villars, und wirft gegen die armseligen Camisarden, deren Zahl niemals mehr als höchstens 2.500 Mann betrug, im Ganzen 20.000 Mann reguläres Militär, 52 Bataillone Milizen und zahlreiche Freikorps in das Land. Zugleich stützt sie sich weithin auf die katholische Bevölkerung in den Cevennen und südlich des Gebirges, die mit 340.000 Seelen den 340.000 Protestanten der Gegend genau die Waage hält.

Die camisardische Kampfweise selbst schildert uns Cavalier höchst lebendig in seinen Lebenserinnerungen: »In dem Augenblick, da wir gegen den Feind gingen, oder da der Feind seinerseits uns angriff, betete einer unserer Pastoren, an der Spitze der Abteilung stehend, mit uns und ermahnte uns, mutvoll zu kämpfen. Dann stimmten wir einen Psalm an und schwärmten talwärts in das niedere Hügelland unter uns zum Angriff aus – ja, wir sangen so, dass unser Lied, durch die Echostimmen der umliegenden Berge wiederholt und vervielfacht, unsere Feinde glauben machte, wir seien zahlreicher, als wir in Wirklichkeit waren, was sie mit Grauen erfüllte.« Der unbekannte Verfasser der »Histoire des Camisards« erwähnt dazu die Äußerung eines (katholischen) Offiziers, der während des Cevennenkriegs Dienst getan hatte: »Wenn diese Satanskerle anfingen, ihr verdammtes Lied zu singen: ›Que Dieu se montre seulement‹ (Psalm 68)¬, waren wir nicht mehr Herr unserer Leute. Sie flohen, als ob alle Teufel ihnen auf den Hacken säßen.«

Gelegentlich stürmen selbst zwölfjährige Knaben mit. Die Wucht der Angriffe ist so außerordentlich, dass noch im Dezember 1703 sechzig armselige Rekruten Cavaliers, die ohne Waffen sind, zwei Kompanien des Königs nur mit Steinwürfen angreifen und in die Flucht treiben. Nach errungenem Sieg folgt abermals Dankpsalm, Gebet, Ansprache und auch Austeilung des heiligen Abendmahls. Die Zahl der täglichen Gebetsversammlungen ist von zwei aus der Zeit der alten Generation auf drei erhöht. Fluchen, zweideutige Reden und andere Soldatensünden sind streng verpönt.

Die Beteiligung der Jugend gibt dem Cevennenkrieg die charakteristische Note. Man hatte seinerzeit gehofft, durch die Bestimmungen des Revokations-Edikts über Kindererziehung den evangelischen Glauben gleichsam in der Geschlechter-Vertikale auszuhungern, und um 1685 hatte Frau von Maintenon geschrieben: »Wenigstens die Kinder werden Katholiken sein, wenn auch die Väter Scheinbekehrte (hypocrites) sind.« Genau das Umgekehrte ist der Fall. Mehrfach finden sich in den Briefwechseln der königlichen Machthaber in den Jahren 1702 bis 1704, dass die Kinder, wie es heißt, noch »hugenottischer« seien als die Eltern.

Schon 1698 schrieb Fléchier als Bischof von Nîmes: »Die religiöse Unterweisung der hugenottischen Häuser löscht binnen kurzem die Wirkungen des katholischen Schulunterrichts aus, und die Väter und Mütter als natürliche Religionslehrer zerstören am Abend alles, was Schullehrer oder Religionslehrer der römischen Kirche während des Tages in die Kinder gesät haben.« Inmitten der Camisardenkämpfe, im Mai 1703, äußert sich der Brigadeführer Julien dem Kriegsminister gegenüber folgendermaßen schriftlich:
»… Nur ganz nebenbei möchte ich Ihnen etwas bemerken, nämlich: dass alle die Kinder, die zur Zeit der Zwangsbekehrung der Eltern zur katholischen Kirche noch in der Wiege lagen, und nicht anders die, welche damals vier Jahre, fünf, sechs, sieben, acht, zehn und zwölf und fünfzehn Jahre alt waren, zur Stunde noch schlimmer hugenottisch sind als jemals ihre Väter und Mütter. Und ich füge hinzu: Eine große Zahl derer, die jetzt zusammengerottet sind, erinnern sich dabei nicht einmal, je in ihrem Leben einen Pastor gesehen zu haben. Wie in aller Welt ist es möglich, dass sie so hugenottisch geworden sind? Es kommt (aber)¬nur daher, weil ihre Väter und ihre Mütter Fleiß getan haben, sie insgeheim in dieser Gemütsrichtung (sentiments)¬zu erziehen, während äußerlich die meisten von ihnen zur Messe gingen und sich wie echte Katholiken gebärdeten. So hintergehen diese Menschen Gott und die Herren Bischöfe, Priester und andere kirchliche Würdenträger, und Sie dürfen sich darauf verlassen, dass diese Dinge noch Menschenalter dauern werden, es sei denn, dass Gott in Seiner Gnade eingreife und Seiner Majestät dem König die rechten Gedanken eingebe, was er tun muss, um diese Missstände zu verhindern.«

Und die religiöse Glut und geistliche Stoßkraft dieses jungen Geschlechts ist so stark, dass der Kriegsminister Chamillart seinerseits an Bâville schreibt: »Ich glaube nicht, dass Seine Majestät der Meinung sei, man solle diese Aufständischen in die Kolonien deportieren, weil sie ja nur jene Länder mit ihrem Starrsinn infizieren würden.«

Neben den geschilderten Lichtseiten dürfen die Schattenseiten des Camisardenkriegs nicht verschwiegen werden, die sich naturnotwendig aus dem Gebrauch weltlicher Mittel und weltlicher Waffen ergeben. In der französischen Nationalbibliothek befindet sich ein politischer Bilderbogen aus jener Zeit, der stark an die englischen Darstellungen der angeblichen deutschen Greuel in Belgien 1914 erinnert, mit der Überschrift: »Le Fanatisme renouvellé«, aus Einzelbildchen bestehend, welche die Untaten der Hugenotten darstellen und mit Stichworten versehen sind wie: »Brandstiftung«, »Lästerung«, »Grausamkeit«, »Mordtaten«, »Waffengewalt«, »Rebellion«, »Plünderung«.

Auch einmal abgesehen von diesen Verzerrungen des Tatbestands hat naturgemäß im Camisardenkrieg die Methodik des rein weltlichen Kriegs, Gewalt und List, eine wenn auch begrenzte Rolle gespielt. Die List wird hier, wie überall in weltlichen Zusammenhängen, zur Waffe der Schwachen gegen die Stärkeren. Man kleidet sich in die erbeuteten farbigen Uniformen der Königlichen, um den Feind zu täuschen; man geht sogar so weit, irgendwo Scheingottesdienste zu veranstalten, damit man den Feind dorthin ziehe und anderswo freie Hand zur Aktion bekomme. Auch die letzten Verhandlungen Cavaliers mit Villars sind ein Doppelspiel. Während Cavalier verhandelt und sich verpflichtet, hält sich in den Nieder-Cevennen Roland die Hände frei in Erwartung der noch immer erhofften englischen Hilfe, die zeitweise von drüben zugesagt war. »Wer das Schwert der List nimmt, der wird durch das Schwert der List umkommen« – diese Anwendung des Jesuswortes erweist sich sogleich dadurch, dass Cavalier selbst wiederum von Villars überlistet und betrogen wird, ohne die Früchte seiner eigenen List einheimsen zu können.

Gewalttat wird von Cavalier nach Möglichkeit vermieden, obgleich er nach der scheußlichen Ausstellung des Kopfes seines Glaubens- und Waffenbruders Gédéon Laporte auf der Brücke von Anduze Ende Oktober 1702 seine Truppen anweist, im Kampf mit dem Feind keinen Pardon mehr zu geben; zudem wäre es ihm auch unmöglich gewesen, Gefangene unterzubringen oder zu ernähren. Man verbrennt zahlreiche katholische Kirchen, doch nicht in Bilderstürmerei, sondern weil die damalige katholische Dorfkirche zugleich Waffenarsenal und militärischer Stützpunkt war. Es ist auch wahr, dass Cavalier einmal zwei katholische Dörfer vernichten lässt, aber dabei darf nicht vergessen werden, dass auf Befehl des königlichen Oberkommandos 470 – vierhundertsiebzig – Dörfer und Weiler verbrannt worden sind.
Besonders belastet wird Cavalier durch den Gewaltstreich gegen Sauve schon im Dezember 1702. »Ich höre, dass diese Verbrecher mit Trommelwirbel in die Stadt Sauve einmarschiert sind, indem sie behaupteten, eine königliche Abteilung zu sein, die auf meinen Befehl dort Quartier machen wolle. Dann gaben sie sich aber zu erkennen durch ihr übliches Manöver: Sie verbrannten die Kirche und töteten drei Priester, ohne dass auch nur einer der Ansässigen, die alle Zwangsbekehrte sind, sich während dieser Aktion oder nach ihrem Abmarsch geregt hätten, woraus man erkennen kann, dass sie diesem Unternehmen zustimmen.« So schreibt Marschall Broglio an Chamillart den Tag darauf. Leider muss später Antoine Court diesen dreifachen Mord bestätigen; für den gesamten Cevennenkrieg registriert er 19 erschlagene Priester, die allerdings nicht als Geistliche, sondern als Tyrannen des Volkes und Helfershelfer der Strafexekutionen angetastet werden.

Fast immer bleiben diese Gewalttaten, ja gelegentlich schweren Exzesse im Rahmen eines ernstlichen, wenn auch manches Mal verzerrten christlichen Willens und evangelischen Glaubens, wie denn am Ende des Kriegs Marschall Villars an den Marquis von Puysieulx schreibt: »Diese Unglücksmenschen besitzen die natürlichen Vorzüge unserer Nation und haben das durch eine erstaunliche Todesverachtung nur zu sehr bewiesen. Es steht außer jedem Zweifel, dass sie Gottes Lobpreis singend zur Hinrichtung eilten. Und wenn sie im Kampf besiegt waren, – statt dass sie um Pardon baten, was auch nicht einer getan hat, – dankten sie denen, die sie töteten, ohne dass die grausamsten Torturen ihnen jemals das geringste Geheimnis entwinden konnte.«

 Anfang 1704 ist der Camisardenkrieg in mehrfacher Beziehung ein Erschöpfungskrieg geworden. Auf der protestantischen Seite gehen die Materialreserven zu Ende, auf der katholischen Seite lässt die Spannkraft nach; die Peitsche, die Bâville erbarmungslos, sengend und mordend über den Cevennen schwingt, verbraucht sich.

Die Camisarden haben durch mehrere schwere Niederlagen wertvolles Menschenmaterial verloren; die ihnen zur Verfügung stehenden Getreidefelder, Scheunen, Mühlen, Backöfen und Pulvermühlen sind zerstört, und ihre wichtigsten Höhlenvorräte an Lebensmitteln und Munition sind ausgeraubt. Auf der anderen Seite erkennt man je länger desto deutlicher, wie wenig die Methoden der Einschüchterung und der Grausamkeit zum gewünschten Ziel führen. Daher entscheidet sich der 1704 ins Languedoc berufene Feldmarschall Villars zur Zurückstellung der Peitsche und klüglichen Darreichung von Zuckerbrot. Während die Peitsche sich an die Angst gewendet hatte, von der die Camisardenjugend nichts wusste, weil ihre Schläge immer neue Erbitterung und Widerstand schufen, appellierte das Zuckerbrot an die Treuherzigkeit und Vertrauensseligkeit der einfachen Menschen und verfeindete zugleich die Harmloseren unter ihnen mit den Vorsichtigen und Misstrauischen, so dass die bisher geschlossene Reihe auf der anderen Seite sich lockerte. Diesen Weg ging Villars, der vornehme Herr mit der eindrucksvollen Perücke, den hoheitsvollen Augenbrauen, den etwas öligen Augen und den weichen, sanften Wangenpartien um den schönen Mund.

Mildere Saiten werden aufgezogen, die Galgen und Räder in Nîmes werden abgebrochen. Ja, der neue Marschall lässt es geschehen, dass in Calvisson 12.000 Protestanten einen Gottesdienst unter freiem Himmel halten, ohne dass das Militär auf die Feiernden schießt. Villars geht noch weiter. Er macht Cavalier positive Versprechungen versöhnlicher Art: Die Truppen sollen das Volk schonen, die Religionsverfolgungen werden irgendwie beendigt werden, die Galeerensträflinge sollen die Freiheit bekommen. Cavalier lässt sich umgarnen, obgleich er von Ravanel, dem instinktsicheren und jedem Kompromiss abgeneigten Waffengefährten leidenschaftlich gewarnt wird. Im Hintergrund steht vielleicht die Hoffnung auf eine Hilfe beim König, von dem Cavalier, wie er im vierten Abschnitt seiner Memoiren sagt, überzeugt war, »dass er nichts von den großen Leiden wusste, die wir erlitten hatten, noch vielleicht überhaupt etwas von dem Vertrag (mit Villars)«. Am 17. Mai unterschreibt Cavalier das Abkommen mit der königlichen Provinzialregierung. Er wird mit seinen Leuten die Waffen niederlegen, bekommt diese und jene Zusicherung, ohne irgendeiner Verpflichtung abzuschwören. Die nun folgenden Wochen bringen ihm eine Reihe bitterer Demütigungen. Er muss über sich ergehen lassen, vom Bischof als wieder gefundenes Schäflein begrüßt zu werden, das verloren war, obwohl Cavalier auch nicht einen einzigen Schritt zur katholischen Kirche zurückgetan hatte. Er muss sich gefallen lassen, dass Bâville ihm einen Beutel voll Geld für seine zerlumpten Soldaten schenkt, obwohl er weiß, dass kein Goldstück darunter ist, das er mit gutem Gewissen annehmen kann. Er erhält vom Generalkommando die Ernennung zum königlichen Oberst, obwohl er nicht weiß, was er antworten soll, wenn seine alten Freunde ihn nun einen bestochenen Verräter heißen.

Inzwischen wird Villars, der für die Fanatiker der katholischen Partei im Gebrauch einer toleranten Taktik schon viel zu weit gegangen ist, beim König als unzuverlässig verdächtigt und kann nicht umhin, die Pflöcke wieder vorzustecken und auf den alten Kurs umzulenken. Nachdem Cavalier eine Zeit lang umsonst auf die verabredete Freilassung der Gefangenen gewartet hatte, entschließt er sich zu einem letzten verzweifelten Schritt. Er schlägt sich bis nach Paris durch und erreicht eine Audienz beim König, der ihn ermahnt, sich zum katholischen Glauben zu bekehren. Cavalier versucht, ihn über die schrecklichen Geschehnisse der vergangenen Jahre zu unterrichten, und antwortet auf die kaltherzige Frage des Monarchen, ob er abschwören wolle: »Mein Leben ist in der Hand Seiner Majestät, und ich bin bereit, es in seinem Dienst hinzugeben. Aber was meine Religion anbetrifft, so bin ich entschlossen, sie nicht zu wechseln, auch nicht für alle Königreiche der Welt« (Cavalier, Mémoires IV).

Nach dieser ergebnislosen Aussprache macht ihm der Kriegsminister Chamillart in seinem Versailler Kabinett die heftigsten Vorwürfe, so offen zum König gesprochen zu haben, »aber hauptsächlich, weil ich die Ehre verweigert hatte, ein Bekehrter des Königs zu sein. … Ich konnte nicht umhin zu lächeln, als er mir weiter sagte, dass, auch wenn ich nicht alle Lehren der Kirche glauben könnte, ich (wenigstens) den Schein erwecken müsste, wie man tut, wenn man ins Theater geht, ohne viel auf das zu achten, was gespielt wird. ›Wenn Sie in der Messe sind‹, fügte er hinzu, ›können Sie dann meinetwegen zum Teufel beten. Wenn Sie nur der König dort zwei- oder dreimal sieht, ist Ihr Glück gemacht. Dann bekommen Sie eine Pension von 1.500 Livres im Jahr und Ihr Vater dasselbe, und Sie darüber hinaus eine Bestallung als Brigadier in der Armee.‹ Ich antwortete ihm, dass Mose, als er in reiferem Alter war, bei weitem vorzog, mit dem Volk Gottes Unglück zu leiden, als die Freuden des Hofs für kurze Zeit zu kosten. Darauf lachte er und sagte zu mir: ›Wo haben Sie diese Altweibergeschichten her? Glauben Sie, dass Gott den König gesegnet hätte und ihm alles hätte gelingen lassen, wie Er es getan hat, wenn die (katholische)¬Religion des Königs falsch wäre?‹ ›Mit Verlaub, mein Herr‹, sagte ich, ›soviel ich weiß, ist es auch dem Islam und seinen Anhängern gelungen, sich einen großen Teil der Erde zu unterwerfen. Da wir aber die Ratschlüsse Gottes nicht beurteilen können, darf man aus Erfolg und Glück und dergleichen anderen Dingen keinen Beweisgrund ziehen.‹ Das Gespräch wird schließlich durch Chamillart abgebrochen mit den Worten: ›Ich habe es nur gut mit Ihnen gemeint, aber ich sehe, dass Sie ein starrsinniger Hugenotte sind; machen sie also, was Sie wollen‹« (Cavalier, Mémoires, IV ).

Als Cavalier wieder heimkommt, wird er zunächst mit seinen Kerntruppen interniert. Es sind hundert Mann, deren Liste mitsamt ihren genauen Signalements wir noch besitzen. Das Schriftstück ist unterzeichnet »Cavalier«. Ohne sein Wissen werden dann die »schlechtesten und gefährlichsten« Subjekte mit einem Kreuz versehen: vierunddreißig Mann sind so gebrandmarkt unter Hinzufügungen von Stichworten wie: »Fanatiker«, »Prädikant«, »Verbrecher«, »gefährlich«. Der Name von »Antoine Tront, aus La Salle am Gardon, 30 Jahre alt, schwarze frisierte Haare, schön gewachsen« trägt den merkwürdigen Vermerk: »(alter Soldat und hat Geist +)«.

Cavalier beginnt nun doch zu ahnen, auf was und mit wem er sich eingelassen hat. Angeblich sollten er und seine Leute ehrenhafte Kriegsdienste für ihren König auf dem spanischen Kriegsschauplatz tun dürfen, aber zuvor will man sie alle in die Festung Alt-Breisach überführen. Kurz entschlossen entweicht Cavalier über die östliche Grenze. Er bemerkt später schriftlich: »Ich zweifle nicht, dass, wenn ich nach Breisach gegangen wäre, man mich dort eines gewaltsamen Todes hätte sterben lassen; sodann hätte man veröffentlicht, ich sei eines natürlichen Todes gestorben.« So begibt er sich nach Neuchâtel, später nach England, wo er in die Armee eintritt und nach langjährigen Diensten im Rang eines Generalmajors stirbt.

Nicht lange nach Cavaliers Flucht wird der vereinsamte Roland im Hof des Schlosses Castelnau überrascht und erschossen. Ravanel, Bonbonnoux und einige andere ungebeugte Männer ziehen sich in unwegsame Schluchten und Höhlen der nördlichen Cevennen, vielleicht auch des Vivarais, zurück, leben dort wie gehetzte wilde Tiere und werden zehn Jahre später, als Antoine Court auf den Plan tritt, mit der bärbeißig-grimmigen Treue narbenbedeckter alter Krieger daran gehen, lesen und schreiben zu lernen und die alten Psalmen, Bibelverse und Predigtstücke auf ihre sehr massive Weise der auferstehenden Kirche in das Herz zu singen und zu sagen.

Menschlich geredet ist Ende 1704 in dem zertretenen Süden, der noch die letzten lebendigen Gemeinden besessen hatte, alles für das Evangelium verloren. Äußerlich gesehen ist dieses arme Volk – Volk ohne Seelsorger, Volk ohne Einweisung in Gottes Wort, Volk ohne Gottesdienst und Sakrament, Volk ohne Kirche – des Erbes der Reformation verlustig gegangen. Die fratzenhaften Gestalten überspannter, halb geisteskranker Prophetinnen, die noch heimlich etliche Zuhörer finden, bestätigen auf ihre Weise den Untergang des Evangeliums in seiner letzten Zufluchtsstätte des Reiches. Die unbarmherzig durchgeführte Bestimmung, nach welcher die Kinder nichtkatholisch getrauter Paare nur als Bastarde zu rechnen sind und jedes Familienrechts, jedes Erbrechts sowie des staatlichen Rechtsschutzes verlustig gehen, scheint die letzten Ausblicke auf ein Fortbestehen der Gemeinde wenigstens im Rahmen der christlichen Familie mit Schwarz zu verhängen und die letzten Sterne der Hoffnung auszulöschen.

Unterdessen beginnen auch im fernen Versailles Lichter allgemach zu verblassen, Lichter menschlicher Lebensfreude, Lichter gesunden Lebensmutes, und schließlich auch das ganz große Licht mitten inne, das am Ende ein kleines und sehr trübseliges Licht geworden ist, aber dessen Docht noch beim einsamen und elenden Verlöschen sehr majestätisch flackert und sehr feierlich umsinkt.

Einst, in sehr ferner Zeit, hatte die Jungfrau von Orléans in Chinon zum französischen Thronfolger gesagt: »Ihr werdet Statthalter des Himmelskönigs sein, der König über Frankreich ist.« Jene alte politische Heilsidee war in Ludwig XIV. zur Endform gereift und überreif geworden. Das französische Königtum hatte sich von der Lotterwirtschaft eines Heinrich III. zur Präzisionsmaschinerie der Verwaltung, zum Musterbild höfischer Etikette des Versailler Hofs entwickelt. Die Kulturwerte des Landes waren so vollkommen in den heilspolitischen Gesamtrahmen des Königtums einbegriffen worden, dass keine neue Idee mehr aufkommen konnte, die diesem organischen Rahmen nicht angehörte oder nicht von ihm beansprucht wurde oder sich nicht von ihm assimilieren ließ. Alles das gilt als erworbener Besitz der Krone und Frucht der letzten Vergangenheit, auf die der alternde König zurückblickt. Es bewahrheitet sich aber für diese weltlichen Zusammenhänge das weltliche Wort Graf Keyserlings: »Keiner, dessen Zustand Vergangenes ausdrückt, kann Zukunft weisen. Dies vermag nur der, in dem die Zukunft als Wirklichkeit schon lebt.«

In den Jahren, die auf das Vernichtungswerk in den Cevennen folgen, schwindet die mystische Aureole um das Haupt des Königs, man weiß nicht recht, wie und warum. Die spanische Grandezza des Hofs wandelt sich sachte in Schäbigkeit, und das Leben in Versailles, das schon eintönig und langweilig genug war, wird trivial. Die zunehmende Bigotterie in ihrer inneren Unwahrhaftigkeit vermag die seelische Aushöhlung, die Verödung nicht aufzuhalten. Zuerst wird eine Vernachlässigung der Etikette fühlbar, dann reißt eine solche Würdelosigkeit ein, dass man an den Spieltischen des Schlosses ordinäre Kammerfrauen mit dem Adel um Geld pokern sieht.

Der entsetzliche Eiswinter 1708/09 wirft über das zerfrorene Land und seine ruinierten Fluren so tiefe und schwarze Unglücksschatten, dass sie selbst vom Licht der zehntausend Kerzen in den Sälen von Versailles nicht mehr aufgehellt werden können. In diesem Jahr schreibt Frau von Maintenon an die Prinzessin von Ursins über das Leben am Hof: »Die Schauspiele sind aufgehoben, die höheren Lehranstalten sind geschlossen, die Handwerker arbeiten nicht mehr, und die Folge ist ein großer Jammer. Sie wissen ja, wie es mit den großen Staatsgeschäften steht, also dass, kurz gesagt, man hier nichts hört als Klage und nichts sieht als Traurigkeit.«

Immerhin wird die Monotonie des Hoflebens am Schluss des Winters durch ein Zwischenspiel unterbrochen. Die Heringsweiber von Paris marschieren mit bösen Augen und bösen Worten auf Versailles, um dem König die Not des Volkes in die Ohren zu schreien, damit er den Brotpreis heruntersetze und dem schlimmsten Elend entgegensteuere. Sie dringen zwar nicht bis zu Ludwig selbst hindurch, denn sie werden von der Wache zurückgehalten. Aber keine königliche Wache und keine Macht der Welt wird einst ihre Urenkel hindern, am Morgen nach der nächtlichen Flucht des sechzehnten Ludwig nach Varennes die Büsten seines erhabenen Vorfahren an den Straßenecken von Paris zu zerschmettern. Und drei Jahre später werden dieselben Urenkel, von der kalten Hand eines Advokatensohns aus der Provinz beherrscht und geführt, auf der Place de la Victoire mit wüstem Gröhlen das Standbild eben dieses Sonnenkönigs von seinem hohen Postament auf das Pflaster stürzen – dasselbe Standbild, das man ein Jahr nach dem Schreckensedikt von Fontainebleau mit Weihrauch und Kniefällen geweiht hatte und das in goldenen Buchstaben auf seinem Sockel die Inschrift trug: »Viro immortali«, »Dem Unsterblichen«.

Der König, der sonst alles weiß, weiß von diesen Zukunftsbildern nichts. Das Uhrwerk des eintönigen, immer äußerlicheren Zeremoniells und der täglichen Empfänge dreht sich automatisch weiter, jetzt schon wie eine Uhr, deren schleppender Gang nicht mehr aufgezogen zu werden braucht, weil er schon von den geringen Schwankungen der Atmosphäre geschlossener Räume genug Impulse empfängt, um sich weiterzubewegen. Man hat von dem Genf Calvins gesagt: »Eine Welt wie diese bildet sich nur um innere Glut.« Eine Welt wie diese Welt, die Versailles heißt und Frankreich zu sein vorgibt, welche in der allerletzten Konsequenz und in der Unbedingtheit einer zum Riesen-Eiskristall gewordenen Idee steht, umgibt einen Mann, dessen Herz nie ein Vulkan war und dem jetzt lähmende Kälte das Herz umfriert.

Seit kurzem ist die neue steinerne Schlosskapelle mit der vornehmen Flucht heidnischer korinthischer Säulen vollendet, und man sieht den gotterkorenen Herrscher samt seinem Gefolge dorthin zum Hochamt ziehen und mit seinem unbeweglichen, jetzt fast erstarrten Gesicht denselben unveränderlichen Platz auf der Tribüne einnehmen. Er selbst ist als Einziger dem Altar zugewandt. Seine Höflinge sitzen im Kirchenschiff, dem Allerheiligsten den Rücken zukehrend, um nur Den zu betrachten, der im Land Frankreich sich selbst nun auch zum Herrn über Gottes Reich und Gottes Wort machte. Der König, der die Kirchenväter niemals gelesen hat, weiß nicht, dass in alten Zeiten Sankt Augustinus den Satan den Affen Gottes nannte, und es ist für seine Seelenruhe gut so, sonst könnte er erschrockene Betrachtungen darüber anstellen, wie sehr ein Mensch, der zum Affen Gottes wird, dadurch dem bösen Feind gleicht.

Nach dem Hochamt wird Ludwig XIV. mit denselben ebenmäßigen Schritten in die prunkvolle Öde seiner Privatgemächer zurückwandern. Immer größer wird die Einsamkeit sein, die ihn erwartet, denn Glied um Glied reißt jetzt der Tod aus den Reihen seiner Kinder und Kindeskinder, und draußen sind die Provinzen leer geworden von wahrhaft ergebenen, wahrhaft selbstlosen, wahrhaft gottesfürchtigen Dienern des Staates. Die Hiobsbotschaften von nah und fern erträgt der König mit einer Selbstbeherrschung und einer stoischen Gelassenheit, die seine Umgebung, ja, ganz Europa nur als einen Triumph der Form bewundern kann. Wenige wissen von der Wehmut, die in seinem Herzen immer stärker aufklingt, wenige fühlen, wie sehr er innerlich zerrissen und gebeugt ist, wenige vernehmen den Unterton des leisen Wimmerns in seinen kargen, gemessenen Worten; doch haben einige gehört, dass ihm das Wort entfuhr: »… du temps que j’étais roi«, » … damals, als ich König war.« Er sucht um jeden Preis Ruhe für seine Seele und äußert gegenüber etlichen Herren des Parlamentsgerichts: »Ich habe mir meine Ruhe erkaufen müssen« und übergibt ihnen sein Testament mit der Bemerkung, man habe es ihm abgepresst und man habe ihn schreiben lassen, was er nicht wolle und was er nach seiner Meinung niemals tun dürfe. Dieses Testament, ein Jahr vor seinem Tod verfasst, schärft dem kommenden Regentschaftsrat die strikte Befolgung der Schreckensedikte gegen die Protestanten ein.

Im letzten Jahr seines Lebens, 1715, gibt Ludwig, ein 77-jähriger Greis und in die aufstachelnde Jesuitenhand des jüngeren Le Tellier gegeben, am 15. März eine anti-evangelische Sonderorder mit unmenschlichen Verschärfungen heraus. Sie enthält die ausdrückliche Feststellung, dass in seinem Reich kein unbekehrter Protestant mehr leben könne, mehr lebe. In den folgenden Sommermonaten wird der unaufhaltsame finanzielle Ruin des Staates offenbar. Die Felder draußen stehen verödeter als je, Meutereien gehen durch die Massen, und unheimliche Gewitterwolken lasten über der Zukunft der sterbenden Dynastie. Es ist – wenn das geschehen kann – noch stiller um den König geworden, und man hört, wie einzelne Tropfen, die in einem leeren Raum fallen, die traurigen Worte, die der Sterbensmatte an seinen Urenkel richtet, einen schönen Knaben von fünf Jahren – denselben, der später durch ein Leben wüster Sittlichkeitsverbrechen das Maß der Bourbonen voll machen sollte –: »Du wirst bald König eines großen Reiches sein. Vergiss niemals die Verpflichtungen, die du Gott gegenüber hast. Gedenke daran, dass du Ihm alles verdankst, was du bist. Halte Frieden mit deinen Nachbarn; ich habe den Krieg zu sehr geliebt. Sei mir darin unähnlich, und sei mir nicht gleich in den Luxusausgaben, die ich gemacht habe. Lass dir in allen Dingen raten. Schaffe deinen Völkern Erleichterung, sobald du kannst, und hole nach, was ich zu meinem Unglück selbst nicht habe tun können.« Er versammelt seine Minister und Würdenträger und sagt zu ihnen: »Verzeihen Sie mir das schlechte Beispiel, welches ich Ihnen gegeben habe!« Und er fügt hinzu, sich auf das Gebot der vollendeten Selbstbeherrschung besinnend: »Ich fühle, dass ich gerührt werde und dass ich Sie veranlasse, gerührt zu werden, und bitte Sie auch deshalb um Verzeihung.«

In den ersten Stunden des ersten Septembers löscht der König aus, mit Sterbegebeten, dem Ave-Maria und dem Credo auf seinen Lippen, von der Maintenon und seinem Beichtvater, der nichts mehr von ihm zu erwarten hat, in der Todesstunde allein gelassen. Ludwig XIV. wird still beerdigt – inmitten der Stille, die das schreckliche Wort des Abbé von St. Gervais an der Bahre Ludwigs XV. meinte: »Le silence du peuple est la leçon des rois« – »Das Schweigen des Volkes ist seine Botschaft an die Könige«.

Elf Tage vor dem Abschluss dieses langen und unheilsträchtigen Lebens eröffnet Antoine Court, ein unbekannter Jüngling aus den Gebirgen Süd-Frankreichs, in einem Steinbruch des Languedoc die erste Predigersynode der kommenden evangelischen Kirche des Königreichs. Er stammt aus dem zergangenen alten hugenottischen Gottesvolk; das Salz der Erde war aufgelöst gewesen im feindlichen Wasser der Welt: Nun führt Gott durch ihn den Stoß gegen das Gefäß seines Volkstums. An diesem unvergesslichen Tag, am 21. August 1715, formt sich auf den Anruf des neuen Predigers in der Wüste der Kern der neuen Gemeinde Christi. An das Wort Gottes als alleinige Richtschnur soll sie gebunden sein, Schwärmerei und Schwert soll nicht unter ihr gefunden werden, und dem König aller Könige, der ihr bald über das ganze Land hinweg durch Seinen Heiligen Geist ein großes Auferstehen schenkt, wird alle Ehre gehören.

 

 KAPITEL VIII

DAS AUFERSTEHEN DES FRANZÖSISCHEN PROTESTANTISMUS

»Diéu en ligno premièiro.« – »Gott an erster Stelle!«  –  »… Wenden Sie etwa ein: ›Dann riskiere ich etwas!‹? Nun, Sie haben auch sonst immer riskiert, und alle, die unter dem Kreuz leben, wissen von nichts anderem als von Gefahr.«  –  Isabeau Corteiz, Gattin des Cevennenpredigers Pierre Corteiz, in einem Brief vom 10. Juni 1730 an einen hugenottischen Pfarrer.

»Le peuple du Languedoc est affamé« – der große Hunger nach Gottes Wort ist über das Volk des Languedoc gekommen – mit diesem Argument begründet Antoine Court in seinen Lebenserinnerungen sein Fortlaufen von der einsamen Mutter hinaus in alle Gefahren einer heimatlosen Zeugenschaft. Aber wir müssen vorerst einige Jahre zurückgreifen. Irgendwo im Vivarais, dem Bergland westlich von Valence, nördlich der Cevennen, steht im Marktflecken Villeneuve-de Berg eine arme Frau ganz leise auf; die Nacht ist schon hereingebrochen, und es wird kühl. Sie schlägt ein Tuch um die Schultern und verlässt das Haus. Noch leiser klettert ihr kleiner Sohn aus dem Bett und schleicht ihr nach; als sie beim ängstlichen Rückwärtsschauen durch die Dunkelheit hindurch das Kind wahrnimmt, fragt sie erschreckt: »Wohin willst du?« »Ich geh’ mit dir – ich weiß, dass du zum Beten gehst«, sagt der Junge ruhig, und seine Stimme klingt zum ersten Mal nicht mehr kindlich, sondern wie die Stimme eines zielbewussten Mannes. In einem Bauernhof treffen sie Gleichgesinnte, die den Kopf schütteln angesichts des schmächtigen Knaben, der für den langen Weg zu schwach ist und der das gefährliche Geheimnis nicht zu hüten wissen wird. Aber vielleicht erinnert man sich daran, dass Anton in seiner Dorfschule den Zunamen »le fils aîné de Calvin« trägt und wie er verstanden hat, sich mit Nägeln und Zähnen zu wehren, als man ihn in die Messe schleppen wollte. So erklären sich einige kräftige Burschen bereit, das Kind mitzunehmen, indem sie es abwechselnd tragen. Nach kurzem und todernstem Gebet bricht man auf. Irgendwo droben im steinigen Gebirge stoßen sie zu der Versammlung. Man hebt den Knaben über die Felsen hinauf, und er ist Zeuge, wie eine Prophetin, die Witwe Ransel, anstelle der verjagten und hingerichteten Pfarrer die Bibel auslegt. Sie spricht über das Wort des Herrn aus Jesaja: »Was kann ich noch mit meinem Weinberg tun, was ich noch nicht getan hätte? Warum habe ich doch erwartet, dass er gute Weinbeeren trüge, und er trägt nur wilde Beeren?«

Sie ahnt nicht, dass die nachdenklichen Kinderaugen, die mühsam im Dunkel ihre Gestalt zu erfassen suchen, die Verstörung des göttlichen Weinbergs in dieser Nacht schauen wie niemand sonst in der Zusammenkunft der versprengten letzten Hugenotten.

Wiederum einige Jahre später steht Antoine Court, jetzt ein Vierzehnjähriger, bereits als Vorleser der heiligen Zehn Gebote Gottes neben der Prophetin Marthe an der Seite des alten Camisardenführers Abraham Mazel, der aus dem Kerkertum von Aigues Mortes ausgebrochen ist und wieder umherstreift. Man liest aus der Schrift, man singt Psalmen; man betet, man hört Ermahnungen zur Buße und zum heiligen Leben. Mit 17 Jahren schließt sich Court dem heimatlosen Prädikanten Brunel an und verlässt die verwitwete Mutter in dem übermächtigen Gefühl, zur Verantwortung für den verwüsteten Weinberg Gottes berufen zu sein.

Die Weltgeschichte, so auch die Religions- und Kirchengeschichte, zeigt uns Milieus, die ihre großen Männer auslesen, prägen und dann zur Höhe tragen, und wiederum Männer, die das geschichtliche Milieu ihrer Zeit umprägen und ihm ihren Stempel, den Stempel ihres Geistes aufdrücken. Das Letztere gilt von Antoine Court, und es gilt von ihm noch mehr, weil der geistliche Einfluss, die »Ströme des Lebenswassers«, die von ihm ausgingen, noch stärker waren als die Wucht seiner Persönlichkeit. Vom Herrn der Kirche gerufen und ausgerüstet, steht er auf gegen den Tod der Kirche, und gegen ihre Vernichtung trägt er die Verheißung des Herrn: »Siehe, Ich mache alles neu« vor sich her.

Er betet viel, er betet sehr viel um Licht; er denkt nach, er denkt viel und ruhig und nüchtern nach. Drei Mittel zeigen sich ihm, die es zur Erreichung des Ziels zu gebrauchen gilt: eine unverbrüchliche Abhängigkeit von der Heiligen Schrift als erster und maßgebender Norm des Glaubens, die Wiederherstellung der Gemeindezucht und ein »nüchterner Mystizismus« als Weg des Glaubens. Sein »nüchterner Mystizismus« erinnert wiederum an die Jungfrau von Orléans, die, unbeschadet ihrer Entzückungen und Gemeinschaft mit einer anderen Welt, im gegebenen Augenblick – wie man von ihr sagte – mit »circonspection«, mit ruhiger Umsicht handelt. In diesem Sinne sind beide einander verwandt und echte Franzosen, nur dass Court gegenüber der schwärmerischen Verirrung und religiösen Psychose seiner Umwelt und aus seiner Sonderaufgabe heraus das größte Gewicht darauf legt, das unter seinen Händen wachsende echte geistliche Leben zu behüten, zu ordnen und zu klären und die Gemeinde biblisch zu formen.

Die Fragen, die sich dabei seiner sachlichen Überlegung stellen, sind die folgenden. Zum Ersten: Sollen die letzten Evangelischen auswandern, wie ihre Glaubensgenossen in den vergangenen Jahrzehnten? Zum Zweiten: Sollen sie den Weg einer abermaligen Insurrektion gehen? Zum Dritten: Sollen sich die letzten Hugenotten damit bescheiden, weiter zu leiden in der Hoffnung, dass diese stumme Resignation schließlich die Verfolger rühren wird? Die kleine Herde, die geblieben ist, teilt sich ihm in drei Klassen: in die zwangsbekehrten Scheinkatholiken, in die Exaltierten und in die wenigen Träger eines gesunden Glaubenslebens. Während er so die verschiedenen Mittel zum Ziel und die menschlichen Gegebenheiten erwägt und an Gottes Wort orientiert, ergibt sich ihm ein vierfaches Notprogramm. Es gilt, das Volk auf gleichviel welche Weise wieder zusammenzurufen und in christlicher Gemeinschaft über das Evangelium zu belehren. Es gilt, den Fanatismus und die Schwärmerei, die immer wieder wie ein unheimliches Feuer um sich fressen, zu bekämpfen und alle diejenigen zur Gesundung zu führen, die so schwach oder so unglücklich waren, sich von ungeistlicher Flamme versengen zu lassen; daher soll es auch den Frauen nicht mehr gestattet sein zu predigen. Es gilt, die Gemeindeverfassung und kirchliche Ordnung wiederherzustellen. Es gilt, junge Prediger vorzubilden, Pfarrer der Schweiz hereinzurufen und in freundlichen protestantischen Ländern die Mittel für Ausbildung und Unterhalt der Pfarrer zu erbitten.

Mit diesen Gedanken und Fragen in seinem heißen Herzen und mit diesen Plänen in seinem kühlen kritischen Kopf beruft der nunmehr Neunzehnjährige in den Sterbetagen Ludwigs XIV. die letzten heimlichen Prädikanten des Languedoc, an Zahl acht, zu einer nächtlichen Synode zwischen einsame Felsenwände zusammen. Die Geladenen erscheinen bis auf zwei, und von den sechs Erschienenen werden fünf, dem Gelöbnis dieser Nacht treu, am Galgen enden. Außer diesen Sechs sind einige Laien gekommen, zusammen neun Personen. Antoine Court wird zum Leiter und Sekretär gewählt. Der Morgen dämmert gerade. Man sucht auf den Knien des Herrn Angesicht. Antoine Court entwickelt seine Gesichtspunkte, und man stimmt ihm beschlussmäßig zu.

Immer zahlreicher besuchte Synoden folgen in den kommenden Jahren, während die Bewegung sich in rastloser Arbeit des Glaubens und der Wortverkündigung schnell und unwiderstehlich ausbreitet. Die Einzelfrage der geistlichen Versorgung der Gemeinden durch Prediger und Seelsorger ist darum so brennend, weil es ausgebildete und berufene Pfarrer nicht mehr gibt. Diesem Mangel muss abgeholfen werden, und zwar nicht, weil man hochkirchliche Gedanken über Ordination und Sukzession hat, sondern weil man sich unauflöslich mit der alten festen calvinistischen Ordnung der Kirche verbunden weiß. So geschieht es, dass der Mitarbeiter Courts, Corteiz, sich in Zürich ordinieren lässt, dann nach Frankreich zurückkehrt und seinerseits Antoine Court, der sich einer Prüfung durch eine improvisierte Synode feierlich unterzogen hat, durch Auflegen der Heiligen Schrift auf sein Haupt und Verpflichtung auf das Gemeindeamt zum »ministre« der Kirche beruft, der »Eglise sous la Croix«. Diese »Kirche unter dem Kreuz« schafft sich auch in jenen Jahrzehnten ihr sonderliches Zeichen: das Hugenottenkreuz, das alte christliche Ritterkreuz mit dem Pendant der sich niederlassenden Taube, des »Saint Esprit«, oder in seiner anderen tiefsinnigen Form mit dem Pendant der Träne, die aus dem Kreuz quillt.

Die Ausbildung der Diener dieser Kirche, soweit sie noch in Frankreich geschehen kann, vollzieht sich in vier Etappen. Der zugelassene Anwärter des Pfarramts wird zu Beginn als »élève«, als Freistudent einem der umherschweifenden Prediger beigegeben und erlernt von ihm das Notwendigste für die Arbeit. Nachdem er von diesem gleichsam das Zeugnis der Reife erhalten hat, wird er »proposant«, das heißt Anfänger im Gemeindeamt. Er beginnt zu predigen, indem er sich gemeinhin durch Auswendiglernen und Vortragen bedeutender Predigten des 17. Jahrhunderts übt. Ist er in der Wortdarbietung einigermaßen geschult, beruft man ihn zum »prédicant«, der das Evangelium selbstständig verkündigt, der unterrichtet, Seelsorge treibt und organisiert. Die letzte Stufe ist die des ordinierten Pfarrers, der auch die Sakramente verwaltet und dessen Amt ihm als »de jure divino« übertragen gilt, wie wir denn in einem Rechtfertigungsbrief von Antoine Court an die katholische Gegenseite das feierliche Wort lesen: »Je suis consacré.«

Die persönliche Tätigkeit Courts in Frankreich von 1715 bis 1729 ist eine ununterbrochene Folge von unerhörten Anstrengungen, nicht enden wollenden Lebensgefahren und immer wieder einsetzender Krankheit. Als er von schwerem Sumpffieber so weit genesen ist, dass er nur noch jeden zweiten Tag von Fieberanfällen geschüttelt wird, benutzt er jeweils die fieberfreie Zwischenpause, um weiterzuwandern und nächtlich zu predigen. Der furchtbare Druck, der auf ihm und seinen Gemeinden liegt, will nicht weichen. Nach dem Tod des Sonnenkönigs übernimmt zunächst Philippe von Orléans die Regentschaft für den fünfjährigen Thronerben, dann nach Philippes Tod 1723 Louis von Bourbon, ohne dass durch diese Wechsel eine Milderung der Strafanwendungen erfolgt. Im Gegenteil bringt die neue Regentschaft im Jahre 1724 eine Verfügung heraus, die zu den bisherigen Verboten noch eine Verschärfung enthält: Ein jeder Priester kann von sich aus bestimmen, wer als rückfälliger Neukatholik, das heißt, wer als »Relaps« zu betrachten und zu bestrafen ist. Umfassende Bestimmungen weben ein Netz, in dessen katholischen Maschen die hugenottische Jugend in den Schoß der Kirche zurückgefangen werden soll, sorgfältige Vorschriften umgeben die Kranken- und Sterbebetten wie mit einem Stacheldraht, damit die Seele nicht noch in letzter Stunde dem römisch verstandenen Heil entfliehe. Der Abschnitt betreffend den neuen protestantischen Pfarrerstand lautet:

»II. Im Besitz von Informationen, dass in unserem Königreich aufgestanden sind und täglich aufstehen eine Anzahl von Predigern, die sich einzig und allein damit beschäftigen, die Bevölkerung zur Revolte aufzureizen und sie von den Übungen der ›Alten und Königlichen Katholischen Religion‹ abzubringen, verfügen Wir, dass alle Prediger, welche in Zukunft Versammlungen einberufen, in diesen predigen oder irgendwie amtieren, mit dem Tod bestraft werden, entsprechend der Deklaration vom Monat Juli 1686 betreffend Diener der so genannten reformierten Religion, jedoch dass besagte Todesstrafe in Zukunft nicht nur eine Drohung bleiben darf. Wir verbieten allen unseren Untertanen, die genannten ›ministres‹ oder Prädikanten aufzunehmen, ihnen Zuflucht, Hilfe und Beistand zu gewähren und direkt oder indirekt irgendwelche Beziehung mit ihnen zu unterhalten; denen, die davon wissen, schärfen wir ein, sie bei den Ortsbehörden anzuzeigen, – alles das im Fall der Zuwiderhandlung unter Bestrafung bei Männern mit lebenslänglicher Galeere, und bei Frauen mit der Strafe, kahl geschoren und für den Rest ihres Lebens an von uns anzugebenden Orten interniert zu werden, samt Konfiskation der Güter im einen und im anderen Fall.«

Gleichwohl breitet sich die Erweckung mit ungemeiner Schnelligkeit über das Vivarais bis in die Dauphiné aus und springt bald auf ganz entlegene Provinzen, wie den Béarn in der Südwestecke und die Normandie an der Nordküste über. Die Mitarbeiter Courts besteigen einer nach dem anderen die Galgenleiter und sterben in der alten schlichten Weise der französischen Märtyrer des 16. Jahrhunderts, die Augen gen Himmel gerichtet, die alten Psalmen singend und Gott preisend, dass Er sie gewürdigt habe, für das Evangelium auch ihren Leib hinzugeben. Derart wird uns in einem Privatbrief der Tod von Courts Freund Alexandre Roussel beschrieben. Der Bericht vermerkt weiter: »Als die Mutter von Herrn Roussel die Nachricht erhielt, wie man ihren Sohn hingerichtet hatte und auf welche Weise er den Tod erlitten habe, gab sie, weit entfernt, davon niedergedrückt zu sein, ihrer Freude darüber Ausdruck, dass Gott ihm die Gnade habe zuteil werden lassen, über alle seine sichtbaren und unsichtbaren Feinde zu triumphieren. Herr Court besuchte sie, um sie zu trösten, aber sie antwortete ihm mit christlicher Festigkeit: ›Wenn mein Sohn irgendwelche Schwäche gezeigt hätte, würde ich mich niemals darüber trösten können. Aber, da er standhaft gestorben ist, wie muss ich nicht Gott danken, der ihn standhaft gemacht hat!‹«

Im Jahre 1729 ist die Lage für Court innerhalb der französischen Grenze unhaltbar geworden. Die Kopfprämie für seine Ergreifung ist bis auf ein Vermögen, bis auf 10.000 Livres erhöht und die Technik der behördlichen Einkreisungsmanöver gegen ihn derartig vervollkommnet, dass er nach Lausanne entweicht, um überhaupt weiterarbeiten zu können. Dort leitet er 30 Jahre lang das Predigerseminar für die Versorgung der Gemeinden in Frankreich, von dort auch lenkt er durch Abgesandte und Briefe den weiteren Kirchenaufbau in der Heimat. Zugleich widmet er sich mit Sorgfalt der Geschichtsschreibung über die Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte und sammelt wertvollstes historisches Material aus dem Munde sowohl der alten Vorkämpfer als auch der in der Gegenwart schaffenden Mitarbeiter am Reich Gottes.

Der Mantel des Elia fällt jetzt auf Elisa: Nach Courts Flucht wird sein Stellvertreter und sein Nachfolger der Prediger Paul Rabaut. Bevor wir auf die großen Zusammenhänge seines langen Lebens mit dem Fortschritt der Restauration und mit dem weltlichen Zeithintergrund unsere Aufmerksamkeit richten, muss ein Bild aus dem gesamten Zeitrahmen herausgezeichnet werden, das in der Geschichte der hugenottischen Kirche ihresgleichen nicht hat, das Bild der Märtyrergemeinde von Aigues Mortes, mit der Gestalt der Dulderin Marie Durand mitten inne.

In demselben schicksalsschweren Jahr, da Ludwig XIV. einsam starb und da Court die grundlegende Synode der neuen Kirche eröffnete, erblickte Marie Durand als Tochter eines Dorfschreibers bei Privas nördlich der Cevennen das Licht der Welt. Das noch heute erhaltene Haus trägt auf der Stirnseite seines ungeheuren Küchenkamins die 1696 von ihrem Vater in schwerer Zeit eingeritzte Inschrift: »Loué soyt Dieu.« Das Kind wächst mit seinen Geschwistern in das Doppelleben eines zwangs- und scheinbekehrten Volkes hinein. Nach außen hin besucht man die katholische Kirche und übt diesen und jenen katholischen Brauch, daheim liest man in der Stille die Bibel, soweit sie nicht beschlagnahmt ist, singt man die alten Psalmen, nährt man sich vom Katechismus Calvins und vom Glaubensbekenntnis der Kirche, studiert man die Predigten großer Wahrheitszeugen des vergangenen Jahrhunderts.

Im Keller dieses Hauses finden gelegentlich Versammlungen mit Verdacht erregenden prophetischen Verkündigungen statt, und es dauert nicht lange, so wird von der alarmierten Behörde das zweite, der Familie der Frau zugehörige Haus im Dorf dem Erdboden gleichgemacht, weil die Familie Durand an evangelischen Zusammenkünften beteiligt sei. Der damals bereits 19-jährige Bruder Maries, der schon Gottes Wort in der Gemeinde verkündigt, entweicht ins Ausland. Neun Jahre später fliegt das gesamte Hauswesen auf: Der Schwager Maries, Pastor Rouvier, wird nach Marseille gebracht und auf die Galeere geschmiedet. Die junge Frau ihres Predigerbruders Pierre muss mit ihren Kindern in die Schweiz fliehen. Ihr alter Vater wird 80-jährig in die Kasematten der Festung Brescou am Meer geschleppt. Man hatte ihm nahe gelegt, zu seiner eigenen Sicherheit seinen wieder in Frankreich predigenden Sohn zum Verlassen des Landes zu bewegen, man hatte damit zugleich Pierre Durand nahe gelegt, seine Vokation dem Leben des Vaters zu opfern.

Dieses Momentbild hellt uns blitzartig die immer währende Aufgabe, Zwangslage, Pflicht und Vorrecht der Hugenotten auf, je und je verantwortungsvoll Einzelentscheidungen zu treffen, vor die sie gestellt, zu denen sie gerufen werden, – nicht nur einfache Entscheidungen als Antwort auf die Weisung der Schrift: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen«, sondern auch die noch schwereren Entscheidungen nach dem Worte Jesu: »Wer Vater oder Mutter mehr liebet denn Mich, der ist Mein nicht wert«, und die ganz feinen und subtilen Entscheidungen, in denen der Einzelne und die Gemeinde Gottes vor der Frage steht, ob der Weg der Schlangenklugheit oder der Weg besinnungslosen Glaubens zu wählen ist.

Antoine Court selbst hatte nach dem betäubenden Schlag des neuen Edikts von 1724 auf die Bedenken zahlreicher protestantischer Auslandsfranzosen zu antworten gehabt, die auf die gefährlichen Folgen des kirchlichen Neuaufbaus in Frankreich für alle Beteiligten hinwiesen und aus Gründen der Verantwortlichkeit den Führern der neuen Bewegung die Auswanderung oder das Stillesein im Lande empfahlen. Als Court flehentlich an den bekannten Pastor Saurin schrieb, er möge nach Frankreich zurückkommen oder andere Prediger senden, antwortete Saurin zum zweiten Mal, dass die Rückkehr der Pastoren ihm gefährlich scheine. Auf dieses Ausschlagen wider die geistliche Wahrheit entgegnet der sonst so ruhige Court mit einem wahren Ausbruch der Empörung: »Wie? Die Rückkehr der Pfarrer würde die Verfolgung verdoppeln, und man müsste aus reiner Nächstenliebe dieses Unglück verhüten? Es ist nach diesem neuen und unerhörten System der Nächstenliebe also besser, sich dem Verlust des Himmels auszusetzen, des Heils, der Herrlichkeit, seiner Seele, die Strafen der Verdammten zu leiden, die ewige Qual, das Feuer, das nicht verlöscht, den Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt, … wovon die Schrift spricht, als die persönliche Freiheit zu wahren, die Ruhe, ein wenig Hab und Gut daranzusetzen, einige Monate, einige Tage zu leiden, einige Stunden in einem Gefängnis, auf einer Galeere oder den Tod am Galgen, auf dem Schafott!«

Die beiden Durands, Vater und Sohn, stehen vor einer ähnlichen Entscheidung im engen und straffen Rahmen des Familienlebens. Der Sohn ist angeklagt, als evangelischer Seelsorger »im Vivarais mehr Unheil anzustiften, als Calvin jemals in Frankreich, in England und sonst wo in Sachen der christlichen Eheschließungen angerichtet habe«. Nun bedroht man den alten Vater »mit Gefängnis, wo er bis an das Ende seines Lebens eingeschlossen sein würde«, und man fordert ihn auf, »zu versprechen, dass er sein Möglichstes tun werde, um seinen Sohn zum Verlassen des Königreichs zu bewegen«. Der alte Mann hat einen Moment wohl entschuldbarer Schwäche. Er schreibt an La Devèze, den Militärkommandanten des Bezirks, und versucht sich zu rechtfertigen. Dann teilt er seinem Sohn die Maßnahmen mit, die sie beide bedrohen. Er schließt: »Habe ein einziges Mal Barmherzigkeit mit mir, denke an mein hohes Alter und an all das Herzeleid, das über mich kommt, wie du auch an dich selbst denken sollst.« Die Entscheidung, vor der Pierre Durand steht, ist eine der vielen, der hundert, der tausend Entscheidungen, die dem hugenottischen Gewissen der Zeit gestellt werden. Soll er dem Herrn Christus zuliebe seinen alten Vater hassen, indem er ihn ins Gefängnis bringt? Soll er, abermals mit dem Evangelium zu reden, zu Gott sprechen: »Korban, dir sei gegeben, was ich meinem Vater schuldig wäre?«

Er entschließt sich, seiner Berufung treu zu bleiben und schreibt einen flammenden Brief an La Devèze:

»Mein Herr, Sie sind Kommandant für den König, unseren gemeinsamen Herrn. Als solcher werfen Sie einen Mann ins Gefängnis, nicht weil Sie ihn für verbrecherisch halten, sondern weil er einen Sohn hat, den man als einen Verbrecher ansieht, wenn man nämlich der römischen Kirche glauben will. Nehmen wir einen Augenblick an, ich sei ein Verbrecher, wie Sie glauben – ich werde vielleicht in der Folge Gelegenheit haben, mich zu rechtfertigen und zu wissen zu tun, was ich bin – darf ich Sie dann fragen, ob der König Ihnen befiehlt, einen Vater für angebliche Verbrechen seines Sohnes zu bestrafen? Wie? Einem armen alten Mann wollen Sie Strafen auflegen, ihn im Gefängnis halten, weil er einen Pastor zum Sohn hat, weil er einen Sohn hat, der Christ ist, aber der sich weigert, Dogmen zuzugeben, die er nicht für wahr hält, und den Vater eines Cartouche, eines ausgemachten Verbrechers, lassen Sie unbehelligt! Hat man jemals eine schwärzere Ungerechtigkeit gesehen? Ist es glaublich, dass dergleichen in den Staaten eines Fürsten geschieht, der es für seine größte Ehre erachtet, den erhabenen Titel eines allerchristlichsten Königs zu führen? Ein Ereignis dieser Art wird die Nachwelt in Erstaunen setzen, und, wenn ich nicht mit einem Akt Ihrer Gerechtigkeit rechnete, müsste ich kühnlich sagen, dass solchem Tun vorbehalten ist, die Schande unseres Jahrhunderts zu sein, denn es ist nicht erhört, dass dergleichen unter Christenmenschen geschehen sei …

Wie man mir versichert, glauben Sie, durch Einkerkern meines Vaters mich zum Verlassen des Königreichs zu zwingen. Aber erlauben Sie mir bitte, Ihnen zu sagen, dass dieses kluge Verfahren zwecklos sein wird; und zwar aus zwei Gründen, die ich die Ehre habe, Ihnen mitzuteilen. Dies ist der erste: Die geistliche Würde, mit der ich bekleidet bin, erlaubt mir nicht, die Herde im Stich zu lassen, die der Herr mir anvertraut hat und für deren ewiges Heil ich Rechenschaft ablegen muss. Es ist hier nicht der Ort, Ihnen die Gründe vorzustellen, die mich mit meiner Gemeinde verbinden; genug, wenn ich Ihnen sage, dass ich mich für einen Verbrecher vor Gott halten müsste, wenn ich, um mein Leben zu erhalten, diejenigen allein ließe, für deren Heilsunterweisung ich ordiniert bin …

Der zweite Grund ist dieser, dass nicht einmal die Klugheit mir dergleichen erlaubt. Wenn ich nämlich die Absicht hätte auszuwandern, würde schon die Tatsache, dass Sie meinen Vater ins Gefängnis haben werfen lassen, mich hindern, diese Absicht auszuführen. Ich denke nämlich so: Man steht mir doch auf jeden Fall nach dem Leben; die Schritte, die man getan hat und die man zur Zeit tut, erlauben mir nicht, daran zu zweifeln. Man stellt dem, der mich anzeigen wird, eine hohe Geldsumme in Aussicht. Da dieses Verfahren nicht zum Ziel führt, schlägt man einen anderen Weg ein: Man wirft meinen Vater ins Gefängnis, und man lässt ein Gerücht verbreiten, dass er niemals herauskäme, es sei denn, dass ich das Königreich verließe. Aber, mein Herr, halten Sie mich für so urteilslos? Muss ich nicht voraussehen, dass, während mein Vater im Gefängnis ist, möglicherweise die Grenzübergänge mit Wachen besetzt sind, die man mit meinem Signalement versehen hat, um mich im Falle der Grenzüberschreitung zu verhaften…

Ich sehe (nämlich) die Rhône in einer Weise besetzt, dass es sehr töricht wäre, wenn ich unternähme, sie zu passieren. Sie können daher nicht erwarten, dass ich mich dieser Gefahr aussetze …

Wenn mein Heiland mich ruft, Sein heiliges Evangelium mit meinem Blut zu besiegeln, dann geschehe Sein Wille, aber ich weiß, dass Er uns die Klugheit der Schlange ebenso anbefiehlt wie die Einfalt der Taube, und dass es nicht nur glorreich ist, für die Wahrheit zu sterben, sondern ebenso schimpflich (honteux)¬, das Opfer eines unverständigen Leichtsinns zu sein.«

Während so der Vater der Familie eine zehnjährige Gefangenschaft antritt, während der Bruder den schmalen Weg der Nachfolge Jesu weitergeht, der immer schmaler werden wird bis an sein baldiges Ende, wagt die jugendliche Schwester Marie mit einem viel älteren Protestanten namens Serre die Ehe einzugehen. Es ist, als ob die Prüfung ihrer Familie auf die Familie des Gatten überspränge: Ihre Schwiegermutter muss in den Kerker von Tournon gehen und wird bald sterben, und Serre selbst teilt für zwanzig Jahre das Schicksal des alten Durand in den Kasematten von Brescou.

Nicht lange darauf glückt es, des Predigerbruders Pierre habhaft zu werden. Er wird in Montpellier öffentlich gehenkt. Die Ereignisse vor seiner Hinrichtung tauchen ihn für ein letztes Mal in dunkelste Tiefen hinein. Der Ortspriester stellt den Verhafteten vor seiner Vernehmung zur Rede und verlangt von ihm eine geldliche Entschädigung in Sachen der ihm, dem Priester, entgangenen Sporteln für Trauungen und Taufen. Pierre Durand schreibt noch einen Abschiedsbrief, in welchem er sich vertrauensvoll auf das Ehrenwort des Kommandanten La Devèze beruft, wonach die Adressaten das Schreiben ohne Gefahr abholen dürfen. Er ahnt nicht, dass La Devèze das Postamt bewachen lässt, in welchem sein Brief für die arglosen Empfänger bereitliegt. Unterdessen harrt Durand in einem finsteren, von Ungeziefern wimmelnden Loch der Zitadelle von Montpellier auf sein Todesurteil. In schweren Gedanken an seine einsame Frau und die Kinder im Ausland, die dort in größter Dürftigkeit leben, bedrängt von einem Bekehrungspriester und von der Dunkelheit geängstigt, erlebt er einen Nervenzusammenbruch und erklärt sich nach einem Weinkrampf vorübergehend bereit, Näheres über die katholische Religion zu hören – nicht anders als Jeanne d’Arc, die, in Rouen durch Verhöre und dogmatische Vorträge erschöpft und durch die Urteilsverlesung erschreckt, ihre himmlischen Stimmen vorübergehend verleugnet.

Im Licht und in der frischen Luft des Gerichtssaals gewinnt Durand sofort seine Fassung wieder und rüstet sich fest und stolz zum letzten Gang. Die Aussagen, die er den Richtern über sich gibt, sind lautere Wahrheit; seine Aussagen über die anderen Glaubensbrüder formt er um, damit ihnen nichts Ähnliches widerfahre. Als man ihm das Todesurteil überbringt, sagen seine Lippen das alte Wort des Vaters, das über den Jahren seiner Jugend gestanden hatte: »Dieu soyt loué!« Die Soldaten, welche durch Trommelwirbel sein letztes Zeugnis übertönen sollen, können nicht verhindern, dass er allen vernehmbar den 23. Psalm und dann noch den Bußpsalm mit lauter Stimme singt, während er zum Galgen schreitet. Nach seinem Tod stellt die Synode die bittere Tatsache fest, dass man ihm seit Jahren sein kümmerliches Gehalt nicht gezahlt hat, und es gelingt kaum, die ausstehenden 2.000 Mark in unserem Geld für seine darbende Familie in der Schweiz unverkürzt zusammenzubringen. Ein ähnlicher Schatten fällt in den folgenden Jahren auf die Nordgemeinden in Vivarais, deren Christenstand seine Stärke in mutigem Bekennen, aber seine Schwäche in Dingen sozialer Hilfeleistung hat, als es nun gilt, die einfachste Notdurft der inzwischen eingekerkerten Marie Durand und ihrer Leidensgenossinnen zu stillen.

»Als wir den Kerkerturm von Aigues Mortes besuchten,
sagten mir jene Damen mit mühsam verhaltenem Schluchzen:
›Dichter, wundern Sie sich nicht, uns so weinen zu sehen:
für uns Hugenotten sind diese armen Frauen Blutzeugen ihres Glaubens‹,
unsere Heiligen Marien – es nòsti sànti Marìo.«  –  Frédéric Mistral, »Moun Espelido«.

Die Stadt Montpellier, in deren Mauern Pierre Durand, der kühne Botschafter Christi aus dem Vivarais, am Galgen hing, liegt nur einen halben Tagesmarsch weit von den Mauern des uralten Turms der Camargue, in denen seine Schwester Marie, die stille Zeugin des Vivarais, ihr Leben verbrachte.

Die Camargue, das ungeheure Rhônedelta, jene kleine Welt am Rande der großen Welt, ist ein Land für sich und scheint wiederum mit der silbernen Wasserscheibe des Vaccarès ein in Sand gerahmtes Kleinbild des Meeres zu sein, in das sie übergeht. Die Flamingos in hauchzartem rosa Gefieder stelzen dort im Rohr, die kleinen wilden weißen Pferde werfen ihre Mähnen zurück, wenn sie über die endlosen feuchten Flächen dahinstieben. Später, gegen den Herbst, stehen zwischen dem Schilf die dichten Mückenschwärme über dem fauligen Morast, und die Wasserlachen verrauchen in der sengenden Sonne, bis der gedörrte Schwemmsand unter ihnen springt und zerreißt. Dann zieht der »Roudeïroù«, der Wild- und Wasserwärter, vom Fieber geschüttelt die grobe Jacke fest um den abgezehrten Körper und sehnt die Stürme des Winters herbei, die die Miasmen vertreiben und seinem kranken Blut Ruhe verschaffen, und vor deren Übergewalt er sich besser zu schützen vermag als vor der Sommerglut. Auch die dunklen Stiere der Camargue – im nächsten Jahr schon werden sie neben der Kirche von Les Saintes Maries oder in der Arena von Arles kämpfen – wissen wohl, wie sie auf ihre Weise dem Orkan und dem peitschenden kalten Regen begegnen werden, wenn er nun vom Norden auf ihre Herde hereinbricht und sie zu blenden und ins Meer zu werfen begehrt. Sie »drehen das Horn zum Wind«, wie man dort provençalisch sagt, und tun Widerstand mit dem Stärksten, das sie haben, mit der breiten Stirn über den funkelnden Augen.

Am westlichen Rand der Camargue steht ein riesiger und klobiger Turm mit Rundverliesen in seinem Inneren, und im Steinwerk seines oberen Kerkers liest man, von unbeholfener Hugenottenhand unorthografisch eingeritzt, ein Wort, das von der trotzigen Haltung der Camargue-Stiere im Sturm genommen zu sein scheint und doch von der geheimnisvollen Kraft einer höheren Welt zeugt: »REGISTER« [so mit G; vielleicht sollte es RECISTER heißen.] – »Tut Widerstand«. Durch die schmalen Mauerschlitze brauste damals wie jetzt im Winter der eisige Mistral und die ungestüme Tramontana und drang der Gestank der Maremmen und die brauenden Sumpfnebel in das Innere des Turms, damals, als jene, »deren die Welt nicht wert war«, auf verfaulenden Strohsäcken dahinsiechend die Macht des christlichen Glaubens erwiesen.

Dieses uralte Bauwerk, das ein Heiligtum und Wallfahrtsort der Hugenotten geworden ist, die »Tour de Constance«, leitet seinen Ursprung von einem Mann her, der, menschlich gesprochen, mit Recht »der Heilige« genannt wurde. Es war Ludwig IX., der diesen Turm baute und der mit seinem Sohn das angeschlossene Rechteck der Mauern und Zinnen um die »Sumpfwasserstadt«, »Aquae mortuae«, »Aigues Mortes« aufführen ließ. Wie eine Vision steht das Gefüge der Befestigungswerke und seiner Ecktürme vor dem Wanderer, wie das Modell einer frühmittelalterlichen Stadt, das man nach einer alten Zeichnung entwarf und geheimnisvoll auf Lebensgröße brachte und dann in diese umrisslose Landschaft mit dem endlosen Himmel darüber hineingestellt hat. Man sagt, dass die Stadt Carcassonne ein Gegenstück zu Aigues Mortes sei – ich selbst habe Carcassonne nicht gesehen –, aber vielleicht reißen nur die Papstburg und die Mauern von Avignon uns Menschen der Gegenwart so stark aus dem Jetzt heraus und stellen uns so unheimlich in jene andere, verschollene Welt hinein, wie das Erlebnis von Aigues Mortes.

Hier war es, hier. In dem Eckturm der Sumpfstadt mit seinem fast unmessbar dicken Quaderbau, inmitten seiner kreisförmigen Ringmauer lebte die seltsame Sträflingsgemeinde, zu der nie ein Mann gehörte und welche nie den Trost des Sakraments genoss, in welche Marie Durand-Serre, aus ihrem Heim gerissen, um Mitte Juli 1730 eintrat, weil sie »die Schwester eines Predigers war«. Achtunddreißig Jahre lang sollte sie die Seelsorgerin und Trösterin dieser armen Bekennerinnen des Evangeliums sein.

In den Jahren vor 1725 hatte man vergebens versucht, das alte Staatsgefängnis als Verlies für hugenottische Männer zu verwenden. Im Jahre 1704 oder 1705 wurde dort Abraham Mazel, der inspirierte Camisardenführer, mit etwa dreißig seiner Glaubensgenossen eingeschlossen. Binnen kurzem empfängt er eine Offenbarung, Gott werde ihn und die anderen aus dem steinernen Grab befreien. Zuerst getraut er sich nicht, den anderen ihm teilweise Unbekannten davon Kenntnis zu geben, aber als die Erleuchtungen sich wiederholen, tut er ihnen sein Geheimnis kund. Es wäre nicht französische Art gewesen, nun auf ein Mirakel Gottes zu warten, wie einst der Wiedertäufer Matthys, der aus dem eingeschlossenen Münster auszubrechen unternahm. Mit sorgfältiger Überlegung arbeitet er einen Plan aus, um das Unmögliche möglich zu machen. Das den Gefangenen zur Bereitung ihrer Speisen erlaubte Feuer, der Besitz eines Messers, einige alte Kanonenkugeln aus einer Ecke des Gefängnisses, ein Verbindungshaken aus der ungeheuren Mauer müssen ihm zu einem kleinen Arsenal von Hilfsmitteln verhelfen, so dass er schließlich trotz der Wachen auf der Zinne und unten im Turm einen mächtigen Quaderstein aushebt, sich mit der Hälfte seiner Freunde an einem künstlich gefertigten Tuchseil herablässt und durch die Sümpfe das Weite sucht. Als psychologisches Kuriosum ist zu notieren, dass während dieses Ausbrechens die noch nicht hinabgestiegenen übrigen 14 Schicksalsgenossen einer derartigen Massenpsychose verfallen, dass sie plötzlich, statt sich zu retten, sinnlos zu schreien beginnen: »Die Gefangenen fliehen!« und durch die Alarmierung der Wachen fast die Rettung der bereits Entwichenen vereiteln.

In Ausführung der königlichen Verordnung von 1724 füllt man dann die Turmgewölbe mit Frauen, die nicht ausbrechen werden und die man als abschreckendes Beispiel für die Bevölkerung darin aufbewahrt, unter ihnen Marie Frizol, die dort 41 Jahre verbringt und erst 1767 als 76-Jährige den Kerker verlässt. Die Frauen werden eingeliefert, gleichviel ob sie jung oder alt sind, ob blind, ob schwanger; mitten darunter befindet sich ein liederliches Frauenzimmer, das zur Strafe für seinen Lebenswandel verhaftet worden ist. Im Jahre 1730 kommt die Prophetin Marie Chambon zu der kleinen Schar, und dann andere evangelische Mädchen und Frauen und wieder andere. In diesen beiden Rundverliesen werden Kinder geboren, hier sterben die Eingelieferten dahin, soweit nicht eine eiserne Gesundheit des Körpers und der Seele über alle Widrigkeit triumphiert. Einzelne wenige werden mürbe und schwören ab, unter ihnen Antoinette Gonin, gerade sie, die frühere ekstatische Prophetin. Hierher wird vom Kerker in Tournon die Schwiegermutter Maries geschafft und von ihr zu Tode gepflegt. Hier lernt sie unter ihren Mitgefangenen die junge Ehefrau Isabeau Menet kennen, die einem Kind das Leben gibt und die dann, des heranwachsenden Knaben beraubt, den Verstand verliert: »Rendue folle à son frère« – »Irrsinnig geworden und ihrem Bruder zurückgegeben«, wie es in den Akten heißt. Für die 33 Insassinnen im Jahre 1744 schreibt Major Combelles am 15. April hinter jeden Namen seiner Liste (mit Ausnahme des Namens der Isabeau Guibal)¬die stereotype Bemerkung: »Sa croyance toujours la même«, »Glaubensstand unverändert«.

Hier versammelt man sich liebevoll um die Strohlager der von Rheumatismus Gelähmten, hier erzählt man sich Legenden von angeblichen Geschehnissen draußen und klammert sich gemeinsam an den kleinsten Hoffnungsstrahl. Hier singt man die Psalmen und hält echte rechte Gottesdienste mit Gottes Wort und Gebet. Hier streitet man sich auch in trüben Stunden und macht sich Vorwürfe, wenn die Frauen aus dem Languedoc Nahrungsmittel und etliche Kleider geschickt bekommen und die armen Weiber aus dem Vivarais gar nie etwas, – darum, weil alle diese so bitter notwendigen Dinge wohl oder übel geteilt werden müssen, was ja dann auch geschieht. Von hier schreibt Marie Durand ihre Briefe an den Nachfolger Courts, den großen Prediger Paul Rabaut, und bezeugt ihre Hoffnung auf das »Höchste Wesen«, das »Être Suprême«. (Noch ist dieser Ausdruck, der sich schon in den Briefen Courts und seiner Freunde findet, nur eine formale Entlehnung aus der Sprache der Zeitphilosophie – zwei Menschenalter später wird er im Mund Robespierres eines der Schlagworte der neuen natürlichen Religion sein.) Von hier schreibt Marie ihre feinen, zarten und liebesstarken Briefe an die einzige Tochter ihres Märtyrerbruders, die indolent und träge am Genfer See ihre Jugendjahre verzettelt, bis sie erwachsen in das alte Heimatland der Familie zurückkehrt und nach einem Besuch im Aigues Mortes bei der unbeugsamen Zeugin des Evangeliums einen vermögenden katholischen Witwer heiratet, durch ihren Übertritt zur römischen Kirche den Namen ihres Vaters besudelnd und durch niedrige Selbstsucht das Herz ihrer mütterlichen Verwandten mit Gram erfüllend.

Im Jahre 1741 – es sei ihm nicht vergessen – tritt Friedrich der Große von Preußen als politischer Bundesgenosse des lasterhaften und unfähigen Ludwig XV. aus der Ferne für die Gefangenen von Aigues Mortes, wenn auch vergeblich, ein. Aber seine Fürsprache ist der Vorbote für die Welle der freigeistigen Humanität und relativisierender Toleranz, die sich zu schämen beginnt in Erinnerung daran, dass in einem Sumpfturm noch immer alte Frauen vegetieren, weil sie nicht ablassen wollen, evangelisch zu bleiben, die fortfahren zu beten, ihre Psalmen zu singen und die sich immer wieder an der lichten Gestalt ihrer geistlichen Mutter Marie Durand und ihrem Glaubenswort aufrichten.

Derweilen ist im Jahre 1754 die blinde Marie Béraud – auch sie ein Beweis der ungeheuerlichen physischen Zähigkeit ihrer Rasse – im Kerker 80 Jahre alt geworden. Von 25 überlebenden Frauen haben elf das sechzigste Jahr überschritten, schließlich sind von den letzten Überlebenden fünf über 75 Jahre alt geworden. Marie Durand hat das sechzigste Jahr noch nicht erreicht, als sie selbst, am 14. April 1768 als eine der Letzten, den Turm verlassen darf. Heimgekehrt, findet sie das väterliche Haus halb verfallen und verbringt gemeinsam mit der gleichfalls entlassenen Marie Goutète den kurzen und dunklen Abend ihres körperlich gebrochenen Lebens in mancher Not, von herzlosen Gläubigern gepeinigt, zu Zeiten durch liebevolle Glaubensfreunde in den Niederlanden unterstützt, von quälender Krankheit heimgesucht und trotz ihrer Bedürftigkeit einen 73-jährigen früheren Galeerensträfling und alten Bekenner des Glaubens, Alexandre Chambon, betreuend, der in das Dorf zurückgekehrt war. Noch ihre letzten Briefe zeugen von derselben Innigkeit, Tiefe und Schönheit einer erlösten Seele, die im Glauben eine Welt – und welch eine Welt! – überwunden hat.

Man könnte rückblickend auf die Frauen von Aigues Mortes und auf Marie Durand hier einen nachdenklichen Kleinaufsatz in den ernsthaften Großaufsatz dieses Buchs über die Geschichte des französischen Protestantismus hineinschreiben mit dem Titel: »Betrachtungen über christliches Heldentum«, wenn nicht richtiger gesagt werden müsste: »Gedanken über sonderliche Krafterweisungen Gottes an Seinen Kindern.«

Dieser kleine Aufsatz würde lauten: Ein Ding ist es, im Krieg gleichsam besinnungslos gegen feindliche Batterien anzustürmen, da es nun einmal zu Zeiten gilt, bis in den Tod zu kämpfen. Ein anderes Ding ist es, unbeweglich Monate und Jahre im Schützengraben, im Trommelfeuer und Nässe und viel Hunger durchzuhalten, weil man nicht anders kann. So ist es ein Ding, in der Entscheidungsstunde sich, wie Pierre Durand tat, auf eine Leiter führen und dann hinabstoßen zu lassen in den Tod eines schweren Augenblicks. Ein anderes Ding ist es, in einem Gefängnis, aus dem es praktisch kein Entrinnen gibt, Jahrzehnte auszuhalten, ohne mutlos zu werden. Aber es ist ein drittes Ding, Jahrzehnte, ja fast ein halbes Jahrhundert, lebendig begraben zu bleiben in Kälte und Krankheit und Not eines Schreckenskerkers und oft genug berührt von den dunklen Schwingen der Verzweiflung und des Wahnsinns, wenn die bloße Erklärung: »Ich werde mich im Sinne des Königs jeder äußeren Ausübung der protestantischen Religion enthalten« genügt, um wieder Licht und Freiheit zu atmen – und wenn diese Worte nicht gesprochen werden. Und die kleine Kirche der »grauen Büßer« in Aigues Mortes erlebte selten genug das festliche Schauspiel, dass eine Protestantin aus dem Kerkertum an der Ecke der Stadtmauer ihren Anschluss an den römischen Glauben öffentlich bekräftigte, weil sie mit ihrer seelischen Widerstandskraft zu Ende war – nicht, weil es mit Gottes Verheißung und Treue zu Ende gewesen wäre.

Prosper Mérimée spricht einmal in seinem Buch über das Zeitalter Karls IX. davon, dass oft genug eine einzige Episode für das Verständnis der Geschichte aufschlussreicher sei als ganze Bände von Material. Wenn er Recht hat, so gilt das von dem Kleinbild in der Tour de Constance. Ihre schrecklichen, feuchten und dunklen Gewölbe sind nun seit langem leer und verlassen. Dem, der in ihren Mauern sinnt und lauscht, wird nur ein einziges Wort hörbar, nicht ein Wort des stumpfen, quietistischen Ansichgeschehenlassens, noch nur ein Wort einer passiven Leidensbereitschaft, sondern ein männliches und aktives und alle göttlichen Verheißungen einbefassendes Wort, das den Geist des französischen Protestantismus so vollkommen wiedergibt, wie Johannes 3,16 den Geist des Evangeliums: das Wort, das in die steinerne Ringschwelle der Verbindungsöffnung zwischen beiden Kerkern linkisch eingeschnitten ist: »Résister!« Und wohlgemerkt: Der tiefste Gegensatz zu dieser hugenottischen Botschaft ist nicht einmal der Gleichgewichtsbruch, das Nichtmehrweiterkönnen und die jähe Kapitulation. Sondern der eigentliche Gegensatz zu diesem Wort ist das, was der Franzose unserer Tage nennt »das System d«: »Il faut se débrouiller«, »Man muss sich durchzuwinden wissen«.

Die jetzt schon lange hereingebrochene Ära Paul Rabauts war durch das Auslandsseminar unterbaut worden, das Antoine Court zur Versorgung seiner französischen Heimat in Lausanne leitete. Es ist eine gar ärmliche Fakultät der Theologie, und wie die greisen Juden, die den neuen Tempel Serubbabels nach der Verbannung sahen, sich traurigen Herzens an die entschwundene Herrlichkeit des Salomonischen Gotteshauses erinnerten, so erinnerten sich alte protestantische Theologen trauernd der zerstörten theologischen Akademien von Montauban und von Saumur. Doch jetzt brauchen die Kirchen Frankreichs vielmehr Männer einer restlosen Hingabe, als Männer tiefer Gelehrsamkeit. Sie müssen beherrscht sein und erfüllt sein vom »Esprit du désert«, vom Geist der Wüste. »Darunter verstehe ich«, schreibt Court, »einen Geist der Abtötung des eigenen Fleisches, der Heiligung, der Klugheit, der Umsicht, des Nachdenkens, großer Weisheit und erst recht des Martyriums, der uns alle Tage uns seIbst zu sterben lehrt, unsere Leidenschaften mit ihren Lüsten zu besiegen und zu überkommen, der uns zurüstet und bereitmacht, mutvoll das Leben unter Martern und am Galgen zu verlieren, wenn die Vorsehung uns dazu ruft.«

Die zukünftigen Prediger werden in einem Saal in Lausanne ordiniert. Man betet mit ihnen, man gibt ihnen den Friedenskuss, sie sagen Lebewohl. Alles das geschieht in größter Heimlichkeit, und man vermeidet ihren Namen in zugängliche Listen einzutragen, schon um des Überwachungsdienstes halber, den der französische König in der Schweiz unterhält, um sich der Prädikanten nach Möglichkeit zu bemächtigen, sobald sie die Grenze überschritten haben.

Die Abreise vollzieht sich in völliger Stille; oft reisen sie ganz allein, manchmal in kleinen Gruppen. Als Reisegeld bekommen sie je nach ihrem Bestimmungsort drei bis fünf Goldstücke. Sie passieren die Grenze unter falschem Namen mit falschen Pässen, als Kaufleute, oder irgendeine andere Person vorstellend.

Die Sendboten des Evangeliums betreten ein Land, in dem die Furcht herrscht. »Die Protestanten« schreibt Antoine Court, »wussten sich nirgendwo sicher; sie fürchteten sich allenthalben gleichermaßen. Sie fürchteten sich in ihren Häusern, auf den Straßen, auf den öffentlichen Plätzen, in den Städten und auf dem Land, in den Ödländern; sie fürchten für ihre Person, sie fürchten für die Person ihrer Freunde; sie fürchten für ihr Hab und Gut, das man ihnen auf mannigfache Weise wegnimmt; sie fürchten die Gegenwart, sie fürchten die Zukunft …« (Aus einer Vorstudie Courts zu seinem »Mémoire historique« von 1744).

Warum die Hugenotten sich fürchteten, und was sie zu fürchten hatten, erhellt aus den zahllosen Gerichtsakten der Zeit in ihrer öden Monotonie. Wir lesen etwa in der Strafliste des Herzogs von Richelieu vom 15. Dezember 1744 betreffend Verfahren gegen evangeliumsfreundliche Scheinkatholiken (Nouveaux Convertis):

»Diözese: Viviers. Name: Claude Ponton. Wohnort: Gluriaz. Bestimmungsgefängnis: Burg Beauregard. Verhaftungsgrund: Hat seine Schwester Katharine mit Gewalt aus dem Kloster St. Joseph in Chalençon entführt, wohin man sie gebracht hatte, damit sie in der katholischen Religion erzogen werde.« »Diözese: Viviers. Name: Claude genannt Roche. Wohnort: Gluriaz. Bestimmungsgefängnis: Burg Beauregard. Verhaftungsgrund: Hat geholfen, dieses oben genannte junge Mädchen zu entführen.«

»Diözese: Alaiz. Name: Jean Fauçon, Seigneur de Lavabre. Wohnort: Alaiz. Bestimmungsgefängnis: Burg Alaiz. Verhaftungsgrund: Ist seit langem wieder abgefallen; nimmt regelmäßig an den Versammlungen teil, wie auch seine Familie. Er hetzt die anderen auf, auch dorthin zu gehen und ermahnt die kranken Neukatholiken, in den Irrlehren ihrer alten Religion zu sterben!«
»Diözese: Alaiz. Name: Louis Deleuze, Seigneur de la Liquière, Rechtsanwalt. Wohnort: Alaiz. Bestimmungsgefängnis: Burg Alaiz. Verhaftungsgrund: Ist ein Doktor der R. P. R. (Religion Prétendue Réformée.) Er geht zu den Versammlungen und hält solche in seinem Haus, wo man die Neukatholiken hat Psalmen singen hören. Man hat ihn an seinem Fenster gesehen, wie er, ein Buch in der Hand, dem Sohn eines Bäckers Psalmen zeigte.«

 »Diözese: Nismes. Name: Le Seigneur Vierne, Seidenhändler. Wohnort: Nismes. Bestimmungsgefängnis: Zitadelle von Montpellier. Verhaftungsgrund: Hat eine Ölmühle vor der Stadt, wo mehrere Versammlungen ausgewählter Leute stattgefunden haben. Es sind Trauungen und Taufen bei ihm vollzogen worden.«

»Diözese: Castres. Name: André Sicard senior, Kaufmann. Wohnort: Castres. Bestimmungsgefängnis: Burg Ferrières. Verhaftungsgrund: Hat als Prädikant fungiert, speziell in der Versammlung vom 23. August 1744.«

»Diözese: Lavaur. Name: Daniel Faulière. Wohnort: Mazamet. Bestimmungsgefängnis: Burg Ferrières. Verhaftungsgrund: Hat Versammlungen einberufen, Katechismus gelehrt, den ›religionnaires‹ die Bücher geliefert und die Fremden (?) nach Genf geführt.«
»Diözese: Alby. Name: Vareilhes senior. Wohnort: Realmont. Bestimmungsgefängnis: Burg Ferrières. Verhaftungsgrund: Hat in den Versammlungen die Kollekte eingesammelt; man versichert, dass er von dem Ertrag dieser Kollekten 10.000 fr. deponiert hat, um damit die Bußgelder zu zahlen, zu welchen man die Distrikte vielleicht verurteilt.«
»Diözese: Alby. Name: Marin. Wohnort: Realmont. Bestimmungsgefängnis: Burg Ferrières. Verhaftungsgrund: Hat an den Versammlungen teilgenommen; wird für einen höchst aufrührerischen Menschen gehalten, der zu jedem Unternehmen fähig ist.« (Archives nationales, Paris, T.T. 325.)

Die Einzelanklage in der obigen Verhaftungsbegründung des Rechtsanwalts Deleuze, dass er nämlich an seinem Fenster, ein offenes Psalmenbuch in der Hand, im Gespräch mit einem Bäckerjungen gesehen worden sei, zeigt am Einzelbeispiel den Grund der hugenottischen Angst auf: Sie leben umringt von Angeberei. Edmond Hugues skizziert im zweiten Band seiner »Histoire de la restauration du Protestantisme en France« diese beklemmende Atmosphäre folgendermaßen:

»Jedes Dorf, jede Stadt hatte ihren Oberspion: den Priester, – und unter dem Priester die Menge derer, die von ihm abhingen. Wurde eine gottesdienstliche Versammlung abgehalten? Alsbald war sie beim Intendanten und beim Minister angezeigt. Wurde in der Wüste ein Paar getraut? Es erfolgte eine Beschwerde des Bischofs und eine Order des Ministers, die Ehegatten ins Gefängnis zu werfen. ›Ich habe‹, schreibt der Bischof von Poitiers, ›Kunde von dem Vollzug zweier heimlicher Eheschließungen‹. Maurepas befiehlt unverzüglich die Ehegatten in das Gefängnis von St. Maixent und die Frauen in das Hospital von Niort einzuschließen, bis dass die einen oder die anderen in den Wahrheiten der (katholischen) Religion sich haben unterweisen lassen und bis dass ihre Eheschließung kirchlich rehabilitiert ist oder aber die eheliche Gemeinschaft aufgegeben ist. Wie viele Trauerspiele, von denen niemand etwas weiß! Eine Familie steht unter Verdacht? Auf einen Befehl des königlichen Hofs nimmt man ihre Kinder und schafft sie zu den Ursulinerinnen, zur ›Christlichen Union‹, in ein beliebiges Kloster.«…

»Was die Prediger angeht, so ist es nicht nötig zu sagen, mit welcher unglaublichen Wut sie angezeigt, verfolgt und gehetzt waren. Die sogenannte ›Jagd‹ war eine Sache der Organisation. ›Unsererseits‹, schrieb der Statthalter des Languedoc, ›tun wir alles, was wir können, um Treibjagd auf sie zu machen. Man hat denen, die ihre Ergreifung vermitteln, Belohnungen versprochen; diese Entschädigungen sind exakt bezahlt worden.‹ Wie viele Spione auf der Lauer! Man wusste nicht, wem man noch vertrauen konnte. Es war ein Verwandter, der Durand verriet. Es war ein Freund, der Roger, Faure und Roland an den Galgen verkaufte. Es war ein Protestant, dessen Namen man niemals erfuhr, der das Versteck des Pastors Claris angab. Jeder Prädikant hatte einen Schweif von Spionen hinter sich, wie ein Wild seine Jäger.« »Ich habe vierzehn Tage auf einer Wiese übernachtet«, schrieb Corteiz, »und ich schreibe Ihnen unter einem Baum.«

Der größte dieser gottseligen »Galgenanwärter« ist Paul Rabaut. Drei Jahre nach dem Tode Ludwigs XIV. als Sohn eines armen Wollkämmers geboren, führt er schon als Jüngling das Leben des heimatlosen Wüstenpredigers. Mit 16 Jahren kommt der »Geist der Wüste« über ihn. Rabaut erwählt (prend) die Wüste, er wird ein »Verbrecher der Wüste« (criminel du désert) und wird Zeuge, wie die Besucher der ständig wachsenden Kirche der Wüste unter neuen Verfolgungswellen auf die Galeeren gebracht werden oder in die Gefängnisse wandern, angeklagt des »Crime d’Assemblées«, des »Verbrechens, evangelische Versammlungen besucht zu haben«.
Nachdem Antoine Court die Charakterqualitäten Rabauts erkannt hat, wird dieser von ihm mit der Erstverantwortlichkeit für das Werk in Frankreich betraut. Offiziell ist er Titularpfarrer von Nîmes, aber sein ganzes Leben ist eine ständige Flucht, ein dauernder Wechsel von Verkleidungen und Anwendung von tausend Kriegslisten, denn er lebt in dauernder Gefahr des Todes und wandert zwischen Fallstricken und wird verfolgt von einer Meute, die ihm unablässig auf den Fersen sitzt.
Dieser Mann wird nie gefangen. Er führt sieben verschiedene Personennamen; wenn er als Mädchen reist, heißt er Jeannette. Seine ungeheure Korrespondenz schreibt er in Geheimsprache: »Starkes Tuch« bedeuten seine zeugnisbereiten jungen Männer, »halbstarkes Tuch« heißen seine gläubigen jungen Mädchen, und mit den »drei Bänden für die Bibliothek von Court« bezeichnet er seine letzten drei überlebenden Kinder, die er in die Obhut des Schweizer Freundes gibt. Er kämpft mit parteiischen Amtsbrüdern und Missverständnissen und Vorwürfen und wünscht manchmal verzweifelt der reformierten Kirche Frankreichs einen Bischof, der mit dem Gezänk unverständiger Synoden aufräumt.
Was sein Verhältnis zur Krone angeht, so bleibt, mit seinem Biografen Camille Rabaud zu reden, »sein Illusionismus unverbesserlich«; er setzt unbeirrt die Linie fort, die im Gegensatz zu dem aufsässigen Geist der Camisarden der alte Corteiz zuerst wieder gezogen hatte, die Linie des blinden Vertrauens zu dem gütigen königlichen Vater in Paris, der nur das Beste auch der Nichtkatholiken will. Auf eine dementsprechende treuherzige Devotionserklärung an die Krone im Jahre 1744 antwortet die vom katholischen Klerus bestürmte königliche Regierung mit der Verfügung einer Verfolgungsaktion, die ihresgleichen sucht: Man zählt von diesem Jahr an 300 Bestrafungen mit Galeere, Schafott oder Auspeitschung, 600 Fälle von Einkerkerung und 800 anderweitige Verurteilungen; die Gesamtverurteilungen zur Galeere in den Jahren 1746-52 belaufen sich auf 1.600.

Trotzdem und vielleicht gerade infolge des neuen Kurses breitet sich unterdessen das Evangelium über ganz Frankreich aus. Antoine Court hatte, kann man fast sagen, im Jahre 1715 mit nichts begonnen. In den Jahren nach seinem Tod ist die Zahl der in Gemeinden Gesammelten auf etwa eine halbe Million gestiegen. Das Glaubensleben erbaut sich im Norden und Westen mehr in kleineren und nach außen wenig sichtbaren Kreisen, im Südosten grundsätzlich in zeugnishaften öffentlichen und großen Gemeindeversammlungen. Dies ist nämlich die Idee, die Rabaut beherrscht, die er nie preisgibt, über die er nie paktiert: seine Überzeugung von der Notwendigkeit der »Assemblées«, der Gemeindeversammlung als gebotene und mit Verheißungen gesegnete Gemeinschaft der Berufenen. Die Zahl der Teilnehmer an diesen Gottesdiensten der Wüste steigt von anfänglich 15 und 20 bis auf 10.000, ja bis auf 30.000 Menschen. Wir verdanken der Pariser Geschichtsgesellschaft des französischen Protestantismus eine besonders sorgfältige Beschreibung, gegeben durch einen deutsch-schweizerischen Pfarrer, der damals das Languedoc bereiste und in eine solche Assemblée eingeführt wurde.

»Es war am Weihnachtstag 1773. Begleitet von einem Kaufmann aus Nîmes begab ich mich aus der Stadt nach dem Ort, wo die Gemeinde sich nach ihrer Gewohnheit versammelt, um ihren Gottesdienst zu feiern. Diese Stätte befindet sich etwa eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Nachdem wir das Stadttor hinter uns gelassen hatten, schlossen wir uns der Menge an, die sich in Massen nach diesem Ort zu drängte. Auf einem steinigen, holperigen, äußerst mühseligen Weg kamen wir in eine verlassene Schlucht. Auf der einen Seite erstreckt sich ein Weinland die Abhänge hinauf, auf der anderen wird der traurige Ort durch einen wilden, steilen, mit drohenden Felsen bedeckten Berg eingerahmt. Auf dieser Seite war eine ungeheure Menge versammelt. Die Menschen waren gegeneinander gedrängt und auf den Bergwänden aufgestaffelt wie auf den Stufen eines Amphitheaters. Es war einem jeden freigestellt, sich aus einem Stein einen Sitz zu machen. Am Fuß des Berges befand sich eine kleine Tribüne oder Kanzel, die man bei jedem neuen Anlass wieder aufbaut und die man abbricht, um sie wieder mitzunehmen, sobald sie ihren Dienst getan hat. Sie ist für den Prediger bestimmt, der sein Wort an die Menge auf den Abhängen des Berges richtet.

Der Raum unmittelbar um die Kanzel heißt das Parkett. Dort hat man einen Halbkreis von Steinen aufgestellt, die den Ältesten oder fremden Gästen als Sitze dienen. Vor die Kanzel stellt man einen Tisch für das Heilige Abendmahl; auf ihn setzt man einen Zinnteller mit geschnittenem Brot und zwei hohe silberne Kelche, das Geschenk einer im Herrn entschlafenen alten Dame. – Die Gesamtzahl des versammelten Volkes belief sich (denn man zählt sie jedes Mal sorgfältig) auf 13.000.

 … Alle diejenigen, die in der Schlucht eintrafen, (die man auch Wüste nennen kann)¬knieten auf dem harten und steinigen Boden nieder, bevor sie sich der Versammlung anschlossen, und beteten. Man stimmte bald den einen Psalm an, bald den anderen. Währenddessen gingen die Ältesten mit einem Säckchen durch die Steinreihen, welche als Bänke dienten, und zogen von einem jeden Besucher drei Sous ein als festen Beitrag für die Armenkasse der Gemeinde. Die einen setzten sich auf die bloße Erde, die höher Gestellten hatten sich Kissen und Fußwärmer mitgebracht, denn es war ein kalter Tag. Außen herum sah man eine große Anzahl Esel und Pferde an die Bäume und Umfriedungen gebunden; auch Sänften waren da, auf denen man die alten Leute trug.

Während des Gesangs trafen auch die drei Pfarrer ein, die die Gemeinde bedienten. Sie waren bürgerlich gekleidet; einer von ihnen legte frei-öffentlich seinen Talar an und bestieg die Kanzel, und die beiden anderen setzten sich unter die Ältesten. Jetzt sprach der Prediger mit gefalteten und gen Himmel erhobenen Händen in Worten der tiefsten Sammlung ein herzliches Gebet; dann verlas er ein liturgisches Gebet, der alten französischen Liturgie entnommen, und hielt auf Grund eines Textes, den er vortrug, eine erhebende Predigt, die sorgfältig vorbereitet war, aber frei dargeboten wurde. Eine besondere Würde verlieh ihm dabei der große runde Hut, den er sich ins Gesicht gezogen hatte, um sich gegen die Sonne zu schützen, die ihn blendete, und die außerordentlich lebendige und freie Ausdrucksweise, die in vollkommenem Einklang mit den Worten und den persönlichsten Gedanken des Redners stand.

Nach der Predigt und einem kurzen Gebet verlas der Pfarrer von der Kanzel die Einsetzungsworte des Gedächtnismahls unseres Herrn. Unterdessen rüstete sich die Gemeinde zur Kommunion. Der Prediger und die beiden anderen Pastoren stellten sich vor den Abendmahlstisch und verlasen eine Ermahnung und ein Gebet. Dann richtete man in einiger Entfernung einen anderen Tisch auf, vor welchen ein Geistlicher und einige Älteste traten, um, wie vor dem ersten Tisch, das Brot und den Wein auszuteilen. Ein jedes Glied der Gemeinde kniete nieder, bevor es sich dem Tisch des Herrn nahte, oder bedeckte sich das Gesicht mit der Hand oder verbeugte sich dann noch, soweit es der Raum gestattete, betete still für sich oder überließ sich ehrfurchtsvollen Gedanken und empfing hierauf die Symbole (der Briefschreiber ist Zürcher Zwinglianer) des Leidens des Herrn.

Trotz der ungeheuren Menschenmenge, trotz des scheinbaren Durcheinanders der Versammlung und der Mannigfaltigkeit der religiösen Betätigung vollzog sich alles in bewundernswerter Ordnung und in auffallender Stille. Eine Reihe nach der anderen tritt hinzu, die Pastoren reichen das Brot dar und begleiten dieses Tun jedes Mal mit einer kurzen Ermahnung oder mit einer Schriftstelle. Die Ältesten teilen den Wein aus, ohne jedoch dabei mechanisch zu verfahren; sie geben den Kelch einfach dem ihnen am nächsten Stehenden, ohne jeden Unterschied. Nach der Kommunion zieht sich ein jeder in eine gewisse Entfernung von der Menge zurück, kniet nieder, dankt Gott und betet Ihn an. Manchmal bildet sich auch eine Gruppe von sechs bis zehn Fräulein oder Frauen oder ebenso vielen Männern. Sie suchen eine einsame Ecke unter einem Baum auf, knien vor dem Herrn nieder, und ein Glied der Gruppe betet halblaut für die anderen, die mit ihm die Herzen zu Gott erheben. Manchmal löst sich auch eine Einzelperson aus der Menge, stellt sich auf einen Vorsprung, stimmt ein Loblied an und reißt die Umstehenden mit sich fort, bis zu dem Augenblick, wo der Gottesdienst durch einen allgemeinen Psalmengesang beendet wird, – worauf die Versammlung auseinander ging.

Dann versperren die Ältesten oder andere Männer von Stand den Ausgang des Tales und bitten um die Schlusskollekte. Alle geben, und wer es nicht tut, macht eine unrühmliche Ausnahme. So zerstreut sich die Gemeinde. Schwache Frauen lassen sich durch ihre Diener tragen oder reiten auf Eseln zurück. Die Kanzel wird sofort abgenommen, man sammelt alle Gefäße und bringt sie in das nächste reformierte Haus. Den ganzen Weg entlang findet man Leute, die erbauliche Bücher verkaufen, Bibeln, Spruchbüchlein, Märtyrererzählungen zur Stärkung des Glaubensmutes. Auch eine gewaltige Menge katholischer Bettler trifft man auf dem Weg, welche wohl verstehen, die Mildtätigkeit der Protestanten auszunützen!«

Vom Jahre 1752 an wird ein Nachlassen der Verfolgungen erkennbar. Der Humanitätsgedanke der Aufklärung bahnt sich immer mehr seinen Weg und wird am Hof die große Mode; Gewalttätigkeit gegen die evangelische Kirche entspricht immer weniger dem Geschmack der Zeit. Vereinzelte Schreckensurteile wie die Räderung des Protestanten Calas, eines angeblichen Kindesmörders, wird von der Öffentlichkeitsgier Voltaires zum moralischen Sensationsfall aufgebauscht. Der bösartige Weise von Ferney schreibt auch ein Traktat über die Toleranz und findet herablassend wohlwollende Worte über die Calvinisten, denen man den Spaß lassen soll, »Psalmen in schlechtem Französisch zu singen«.

Der letzte König vor der Revolution, Ludwig XVI., wohlwollend, sittlich ernst, gutmütig und etwas beschränkt, wird schließlich davon überzeugt, dass Toleranz die eigentliche Meinung seines erlauchten Ahnen gewesen sei. Der Einfluss des aus den protestantischen Vereinigten Staaten und von einem Besuch bei Washington zurückkehrenden La Fayette wirkt in derselben Richtung. Zum zweiten Mal in der Geschichte Frankreichs beugen sich die Perücken der Hofjuristen über ein altes königliches Edikt mit dem grünen Siegel, und die wenig gepflegte Hand des unsicheren Königs weist auf die Worte des Textes, die das böse Edikt von Fontainebleau wie jenes abgetane Edikt von Nantes als »immer während und unwiderruflich« bezeichnen. Es findet sich aber glücklicherweise, dass man einen Bösewicht nicht in offenem Waffengang zu töten braucht – man kann ihn auch in seinem Bett durch sein eigenes Daunenkissen ersticken. Es findet sich nämlich, dass man, ausgehend von dem sanften Schönheitsparagraphen am Schluss des Revokationsedikts – (betreffend theoretisches Recht der Protestanten auf individuelle Privatfrömmigkeit) – den schlimmen Hauptkomplex seiner Ausrottungsparagraphen irgendwie erledigen oder aufrollen kann. In diesem Sinne wird das Toleranzedikt von 1787 verfasst, welches den Nichtkatholiken die staatliche Anerkennung (den »état civil«) ihrer Eheschließungen, ihrer Geburten und ihrer Todesfälle zubilligt und sie dadurch aus Parias zu vollen Bürgern macht.

Beim Ausbruch der Revolution hat der Sohn und Amtsbruder Paul Rabauts, Rabaut-St. Etienne, als Deputierter der Stadt Nîmes Sitz und Stimme in der Constituante. Ungewarnt durch die Erfahrungen der Vergangenheit über die Folgen jeder Vermengung von Religion und Politik, wohl nicht erst seit gestern einer Osmose zwischen christlicher Offenbarung und philosophischem Idealismus verfallen, unbehindert durch wirksame Korrektive einer klaren christlichen Lehre, wirft er sich in die brandende Flut der geistigen Umwälzung und berauscht sich und andere an den neuen Ideen der Freiheit. Wen dieser Sprung eines calvinistischen Predigers über den Abgrund zwischen Kirche des Herrn und Welt der natürlichen Gedanken wundert, erinnere sich daran, dass dieser Abgrund erstmalig in Frankreich durch einen calvinistischen Predigersohn, den sittenstrengen Pierre Bayle mit der Botschaft von den Rechten und Ansprüchen des freien subjektiven Gewissens und seiner Moral grundsätzlich ausgefüllt worden war, und dass eben dieser Pierre Bayle der französischen Aufklärung die Steigbügel gehalten hatte, deren Ross jetzt den apokalyptischen Reiter der Revolution trug. Er erinnere sich daran, dass wiederum ein Kind calvinistischer Heimaterde, der debile Genfer Jean Jacques Rousseau, mit der – theologisch ausgedrückt – schwärmerischen Proklamierung des missverstandenen ersten Glaubensartikels den zweiten und dritten Glaubensartikel, die Reich Gottes und Welt trennen, erfolgreich aus dem restlichen religiösen Denken der Zeit weggewischt hatte, nachdem schon einst durch den antithetischen Rationalismus Bayles alle drei Glaubensartikel dem kritischen Denken seiner Zeit verdächtig gemacht worden waren.

Am 15. März 1790 wird Rabaut-St. Etienne, der Sohn des einst verachteten Wüstenpredigers, zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt. Ein Jahr später erhält jeder französische Bürger die Kultusfreiheit zugebilligt; die Wiedererrichtung der Mutterkirche zu Nîmes 1792 ist ein besonderer Grund zur Freude für die dortige Gemeinde. Wiederum zwei Jahre danach erfasst das zermalmende Räderwerk des neuen Zeitgetriebes die Familie Rabaut.

Robespierre schreibt in Sachen verdächtiger Girondisten an Gara: »Rabaut (St. Etienne), traître comme un protestant et un philosophe qu’il est …«, – »Rabaut, ein Verräter als echter und rechter Protestant und Philosoph… «.
Nicht lange darauf schickt er ihn unter die Guillotine, nachdem die Frau des Geächteten sich ertränkt hat. Der greise Vater selbst, der als Geistlicher gegenüber dem neuen Kultus der Vernunft unbeugsam geblieben ist, wird für Monate eingekerkert und stirbt einige Wochen nach seiner Freilassung im 77. Lebensjahr; entsprechend hugenottischer Sitte wird er im Keller seines Hauses zur sicheren Ruhe bestattet.
Wiederum einige Jahre später verkündet Napoleon Bonaparte die Freiheit des protestantischen Kultus einer Kirche, die, weil sie keine Abgrenzung gegen den neuen Irrtum, das heißt keine eigene Theologie aufgebracht hat, weithin dem Moralismus und der Ideenwelt der neuen Zeit verfallen ist und ein Dritteljahrhundert brauchen wird, bis sie, heimgesucht durch große Wellen einer neuen Erweckung, wieder im Boden biblischen Glaubensstands tiefe Wurzeln schlägt. 


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