Herbert Gottschalk
DER ABERGLAUBE
– Wesen und Unwesen –
1. ABERGLAUBE – STIEFKIND DER VERNUNFT
Obgleich wir Menschen unser Dasein mit den Maßen der Vernunft messen, geistert Aberglaube durch unser Leben. Es gab Situationen, in denen er Weltgeschichte machte. Er ist alt wie die Kulturmenschheit und groß wie die Angst unseres Herzens. Viele von uns lachen über den Aberglauben und spielen zugleich wie Kinder damit. Sie meinen vor ihm sicher zu sein, und doch sind die meisten Menschen im letzten Winkel ihrer Seele abergläubisch. Sie reden abfällig über ein Zeitungshoroskop und lesen es trotzdem. Sie klopfen dreimal gegen Holz, um das Schicksal zu berufen, hängen ein Maskottchen ins Auto, um Unfälle abzuwenden, stellen sogenannte Erdentstrahler unters Bett, um besser schlafen zu können, und bevorzugen oft den Wunderdoktor vor dem ordentlichen Arzt. Sie fürchten sich vor der schwarzen Katze, vor der Zahl 13, drücken jemandem die Daumen, wünschen ihm Hals und Beinbruch. Das vierblättrige Kleeblatt, der Schornsteinfeger und das Hufeisen sind ihnen Zeichen des Glücks. Und dabei sind das noch die harmlosesten Formen modernen Aberglaubens. Man könnte fast von konventionellen Gewohnheiten reden, käme es auf bestimmte äußerliche Verrichtungen und nicht auf die dahinterstehende seelisch geistige Haltung an.
Es genügt nicht, daß der moderne Mensch im allgemeinen zwischen Glauben und Aberglauben unterscheidet. Man wird immer wieder feststellen können, daß der Glaube des einen dem anderen als Aberglaube erscheint und umgekehrt Aberglaube für Glaube gehalten wird. Die Grenzen verschieben sich. Wo ist der gültige Maßstab zu finden? Man sollte meinen, daß er im letzten Stand wissenschaftlicher Erkenntnis liegt.
Das mag für den vernünftig Denkenden stimmen. Aber nur ein kleiner Teil der Menschen weiß trotz aller Publikationsmittel über die Wahrheit der Wissenschaft als ständiger Selbstkorrektur des Lebens Bescheid. Und auch diese richten sich in ihrem persönlichen Leben nur selten nach der Theorie wie wenig erst die anderen. Der Mensch ist eben kein reines Vernunftwesen.
Er hat unbewußt alles in sich zu verarbeiten, was die Überlieferung auf ihn gehäuft hat. Dazu gehört auch das Erbe der Seele. Aus der Psychologie wissen wir, daß die seelische Entwicklung beim einzelnen nie mit den Erkenntnissen der Vernunft Schritt hält. Das Unbekannte, Untergründige und Naturhafte der Primitivperson hält uns mit starken Stricken am Menschlich Allzumenschlichen, das sich durch die Jahrtausende stets wiederholt, mag es in noch so verschiedene Gewänder gekleidet sein. Andernfalls hätten wir kaum noch Konflikte. So aber liegt der Mensch beständig mit sich selbst im Kampf. Und je nach seiner inneren Überwindungskraft bewältigt er die Probleme.
Daraus ergeben sich die unzähligen Meinungen, die nie auf einen Nenner gebracht werden können. Darum leben unter uns längst vom Wissen überholte Standpunkte neben modernen, oft in ein und derselben Persönlichkeit verkörpert. Man könnte sagen: Vernunft schützt nicht vor Aberglauben. Sie hindert den einzelnen nicht, an das eine oder das andere zu glauben. Leider aber wirkt der Aberglaube ansteckend. Seine kritiklosen Vertreter führen die Menschen irre, machen ihr tägliches Leben von Hirngespinsten abhängig, schädigen Besitz und Gesundheit und untergraben selbst das Ansehen der Wissenschaft.
Manch einer wird solche Worte denn doch für zu hart halten. So ein bißchen Spielerei mit dem Wochenhoroskop sollte jemandem schaden? Für sich selbst hat er sogar vielleicht recht. Aber das ist nur ein harmloser Anfang. Der Weg führt uns im folgenden von den kleinen Gesellschaftsspielen bis zu den Abgründen des Wahns, die immer wieder unschuldige Menschenleben forderten.
2. Der Aberglaube im Alltag
Im allgemeinen ist es uns gar nicht bewußt, wie sehr das Alltagsleben mit alten abergläubischen Bräuchen durchsetzt ist. Wir geben ihnen trotz Vernunft und Logik fast unbewußt nach, oft ohne den ursprünglichen Sinn noch zu kennen.
Wer eine Entscheidung nicht selbst treffen möchte, bedient sich einer Münze als Orakel. Kopf oder Adler heißt es dann. Vorher wird ausgemacht, was man als Kopf und was als Adler gelten lassen will. Das Geldstück wird in die Luft geworfen, die Seite, auf die es fällt, entscheidet.
Man kann eine Entscheidung auch durch das Ziehen eines Loses herbeiführen. Schon die Gladiatoren im alten Rom bestimmten die Art ihres Kampfes durch das Los. Heute werden meistens verschieden lange Streichhölzer als Lose verwendet. Wer das längere Streichholz zieht, hat den Vortritt oder hat gewonnen.
Wenn wir jemandem Hals und Beinbruch zum Gelingen wünschen, wollen wir die neidischen Dämonen überlisten. Wer sie herbeiruft, gewinnt ihre Sympathie. Da Dämonen dumm sind, merken sie nicht, daß sie angeführt werden.
Wer mit dem linken Fuß aufsteht, setzt sich den ganzen Tag über dem Verdruß aus. Bei den frühen Völkern wurde schon immer links mit falsch und ungünstig gleichgesetzt.
Jemandem die Daumen halten bedeutet ihm Erfolg wünschen. Der Daumen als Glücksfinger beschützt die übrigen vier Finger, wenn man ihn darüber einschlägt, wie man es bei diesem Ausspruch zu tun pflegt. Den vier Fingern kann also nichts Böses geschehen.
Nach einer lobenden Äußerung muß man dreimal auf Holz klopfen, damit Unglück abgewendet wird. Denn wenn die neidischen Dämonen auf das Glück des Menschen aufmerksam werden, versuchen sie es zu verhindern. Böse Geister scheuen den Lärm, daher verscheucht sie das Klopfen. Auf diesen Dämonenaberglauben gehen auch die Böller in der Silvesternacht, der Polterabend vor den Hochzeiten und der Kanonendonner zurück, der etwa bei der Geburt eines Königssohnes üblich ist und auch bei Staatsempfängen eine Rolle spielt.
Das Stolpern hat einen bösen Beigeschmack. Wer stolpert, soll umkehren, besagt eine alte Redensart. Gemeint war das Stolpern über die Hausschwelle, unter der die Ahnen hausen. Dadurch kann der »Hausgeist« verärgert werden und sich rächen, indem er Mißerfolge herbeiführt.
Wer den bösen Blick besitzt, bringt jedem Unheil, den er ansieht. Dieser Aberglaube ist vor allem im Orient, aber auch in Italien und Frankreich weit verbreitet.
Eine Braut darf sich auf dem Weg zur Trauung nicht umblicken, da die bösen Geister hinter ihr hergehen. Ihnen ins Gesicht zu sehen, bringt Unglück.
Ein vierblättriges Kleeblatt erinnert an ein Kreuz und gilt daher als Zeichen des Glücks.
Auch der Schornsteinfeger bringt Glück, ein Aberglaube, der mit der glückbringenden Bedeutung des Herdes zusammenhängt.
Wer einem Hasen eine Pfote abschneidet und sie in sein Haus hängt, der ist vor Unglück und Unfruchtbarkeit sicher. Denn der Hase als heiliges Tier der Venus wehrt vor allem Unfruchtbarkeit ab.
Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen, heißt es im Volksmund. Dabei ist der Ausspruch nicht auf die Spinne bezogen, sondern auf das Spinnen. Wer schon am Morgen am Spinnrad sitzen muß, dem geht es nicht gut. Später wurde dieser Spruch auf Spinnen im Sinne von Spintisieren bezogen. Wer schon am Morgen grübelt, darf keinen guten Tag erwarten. Spinnen am Abend dagegen, zumal im geselligen Kreise, verspricht Freude und Entspannung.
Maikäfer bringen Glück, erzählen noch heute die Eltern ihren Kindern. Marienkäfer tragen auf ihrem Rücken sieben Punkte, die sich zur heiligen und glückbringenden Zahl Sieben vereinigen. Sie sind daher Vorboten des Gelingens.
Wenn ein Käuzchen schreit, ist’s zum Sterben nicht mehr weit, besagt ein alter Volksspruch. Er entstand zu einer Zeit, als die Menschen mit den Hühnern zu Bett gingen und nur diejenigen wachten, die etwa einen Kranken zu pflegen hatten oder selbst krank waren. Daß Käuzchen vom Licht angezogen werden, wußte man damals noch nicht.
Salz verschütten bringt Unglück. Da in alten Zeiten das Salz wegen seiner Seltenheit als etwas Besonderes galt, mußte damit sparsam umgegangen werden. Im Orient wird es noch heute als heilig angesehen.
Eine Schere darf man nicht verschenken, denn sie zerschneidet die Freundschaft. Sie ist ein Werkzeug der Hexen.
Glück im Spiel, Unglück in der Liebe, prophezeit ein oft zitierter Ausspruch. Er wird verständlich, wenn man bedenkt, dag derjenige, der sich dem Spiel hingibt, wohl nur wenig Zeit für die Liebe haben dürfte.
Wer einen Spiegel zerschlägt, hat sieben Jahre Pech. Denn er hat seine »zweite Erscheinungsform« vernichtet. Die Glückszahl Sieben hebt sein Pech wieder auf. Befindet sich ein Toter im Hause, müssen Spiegel verhängt werden, da der Tod, der durch das Spiegelbild doppelt anwesend ist, sonst noch ein zweites Opfer fordern könnte.
Scherben bringen Glück, denn das Klirren vertreibt die Dämonen und Kobolde.
Glück bringen auch Hufeisen. Sie werden mit Vorliebe vor dem Eingang eines Hauses und selbst auf der Kühlerhaube eines Autos angebracht. Die Glücksindustrie unserer Tage liefert solche Hufeisen in jeder gewünschten Größe. Ihre Bedeutung ist alt. Sie geht auf die Zeiten zurück, als den Germanen das Pferd noch heilig war. Außerdem symbolisiert Eisen Kraft und die Form des Hufeisens das Mondhorn.
Maskottchen in unseren Autos ersetzen die einstigen Teufelsfratzen, die den Dämonen Angst machen sollten.
Wenn Bilder von der Wand fallen, die Personen darstellen, ist es gefährlich, in dem Hause zu bleiben. Denn der Tod geht um. Bei manchen Völkern glaubt man daran, dag die Toten in die Bilder einziehen oder dag Bilder von Todesbringern bevölkert werden.
Perlen bedeuten Tränen, weil sie den Tränen so ähnlich sehen,
Der Speichel galt von jeher als Gegenzauber. Auch das »Toi, toi, toi! « gehört hierher. Es gilt als die Lautnachahmung des Spuckens. Wer etwa schon vom Unheil betroffen ist, kann es damit wieder ausstoßen. Im Allgäu soll es Bäuerinnen geben, die aus diesem Grund auf alles spucken, was sie weggeben, auch auf ihr Obst, das sie auf den Markt bringen. Selbst Briefe, die Erfolg bringen sollen, werden vor ihrem Absenden bespuckt.
Das Kaffeesatzorakel wird noch oft von sogenannten »sachverständigen« Frauen ausgeübt und zum Geschäft gemacht. Wenn der Kaffee ausgetrunken ist, wird die Tasse mit dem Kaffeesatz langsam gedreht und für einige Minuten umgekehrt, damit sich Formen bilden können. In den so entstandenen Gebilden werden Zeichen und Figuren gesehen und zur Deutung der Zukunft verwendet. In den Balkanländern und im Orient eignet sich der türkische Kaffee wegen seiner großen Reste besonders für diese Prozedur. Das Kaffeeorakel ist in diesen Ländern sehr beliebt. Das suggestive Moment spielt dabei die Hauptrolle.
So glauben die suchenden und irrenden Menschen einen Blick in ihre Zukunft tun zu können und ihr Dasein durch Wahrsagerei magisch abzusichern.
Der Volksaberglaube
Schauen wir uns zur Verdeutlichung die Volksmeinungen in und um Worms aus dem 18. Jahrhundert an, die zumindest noch 1916 lebendig waren, als G. Lehnert in den »Hessischen Blättern für Volkskunde« darüber berichtet hat. Auf Befragen stellten wir fest, daß von diesen Gebräuchen noch heute in weiten Schichten der Bevölkerung manches weiterwirkt. Kurz gefaßt, ergibt sich folgende Übersicht:
1. Wenn das Feuer mit Prasseln auflodert, so bedeutet das Streit.
2. Wenn Salz verschüttet wird, ebenfalls.
3. Wenn gelbe Flecken an den Fingern entstehen, desgleichen. Sind die Flecken so groß, dag man sie mit einem Finger nicht bedecken kann, so wird der Streit groß, im anderen Falle ist er nicht von Belang.
4. Wenn das linke Ohr gellt, so wird übel von einem gesprochen, gellt aber das rechte Ohr, so ist das Gespräch gut und angenehm.
5. Aus dem Hause, wo sich eine Wöchnerin befindet, darf kein Feuer, kein Salz und Brot abgegeben werden, damit sie nicht behext werde.
6. Wer den Nagel einer Egge, der auf der Straße gefunden wird, bei sich trägt, der kennt alle Hexen.
7. Die rote Milch einer verhexten Kuh muß kochend mit Ruten gepeitscht werden, dann wird die Hexe durch Schmerzen gezwungen, sich zu melden und die Kuh zu heilen,
8. Wer sein Wasser lägt und nicht dabei dreimal ausspeit und gegen Hexereien schändet, der wird behext, wenn eine Hexe am Urin vorbeikommt.
9. Wer ungewaschen aus dem Hause geht, steht in Gefahr, behext zu werden.
10. Wenn in der Walpurgisnacht mit geweihten Glocken geläutet wird, so können die Hexen, die auf den Kreuzstraßen in Gegenwart des Teufels ihre Tänze halten, nicht schaden.
11. Beim Sterben eines Menschen müssen die Fenster geöffnet werden, damit die Seele hinausfliegen kann.
12. Wenn bei der Beerdigung eines Toten der Sarg beim Verschließen einen hohl dumpfen Ton von sich gibt, stirbt bald jemand aus der Familie.
13. Wenn es unter dem Totengeläute schlägt, so stirbt bald jemand aus der Gemeinde.
14. Wenn die Kinder der Wöchnerinnen nicht zu gewissen Zeiten gesegnet werden, können sie mit Wechselbälgen vertauscht werden.
15. Wer ungesunde oder mit Wasser gemischte Milch verkauft, dessen Vieh wird behext.
16. Wenn man von Läusen, von Eiern, von gelbem Obst, von großem Gewässer und von Blumen träumt, so bedeutet es Unglück.
17. Wer im Traume Fische fängt, hat Hader und Streit zu erwarten. Sind die Fische faul, so schlägt der Streit bös aus, sind sie aber frisch, günstig.
18. Wer traurige Dinge träumt, der hat einen fröhlichen Tag, wer aber das Gegenteil träumt, der hat einen schlimmen Tag zu erwarten.
19. Wenn man träumt, daß jemand gestorben sei, dem bedeutet es ein langes Leben.
20. Ein großes Feuer, eine grüne Wiese und grünes Obst im Trau¬me vorgestellt, bedeutet Glück.
21. Wenn Pferde von Hexen geritten und Kühe gemolken werden, so braucht man Streichmittel.
22. Wer Warzen hat, der läute einen Toten zum Grabe, dann wasche er sicl t am fließenden Wasser, und sie werden von selbst abfallen.
23. Wer große Ängste hat, der berühre einen Toten an der großen Zehe, und er wird auf immer von Ängsten befreit sein.
24. Wer unheilbare Geschwüre an sich hat, der wische sich mit der Hand eines Toten dreimal darüber her, dann heilt das Geschwür.
25. Wenn jemand Tränen über einen Toten fallen läßt, dann kann der Tote nicht ruhen. Ein klägliches Gewimmer über einen schon lange begrabenen Toten stört denselben in seiner Ruhe.
26. Die Toten müssen mit den Gesichtern gegen Morgen gekehrt werden, sonst werden sie von den Winsel immer in Schrecken gesetzt, die von Abend her schwärmen.
27. Kämme, Rasiermesser, Waschtücher, die bei einem Toten gebraucht werden, müssen in den Sarg gelegt und mit dem Toten verscharrt werden.
28. Wenn eine schwangere Frau ein Kind aus der Taufe hebt, so muß entweder das ihrige oder das aus der Taufe gehobene Kind sterben.
29. Wenn ein Laib Brot auf die braune Seite gelegt wird, so können Hexen in das Haus.
30. Wenn eine Henne mit gelben Füßen über einen Gelbsüchtigen fliegt, so wird er unheilbar.
31. Um unter Eheleuten Trennung zu stiften, wird ein Hakschloß zugedrückt, wenn sie vom Priester zusammengegeben werden.
32. Wer ein weichgesottenes Ei ißt und die Schalen nicht zusammendrückt, der ist den nachteiligen Folgen der Hexerei ausgesetzt.
33. Wenn dem Verstorbenen ein Kleidungsstück vor den Mund kommt, so muß jemand aus der Familie sterben.
34. Wenn ein Kind gelobt wird, so glaubt man, es sei beschrien. Um aber das Beschreien zu verhindern, wird es auf die Kirchweihe geladen.
35. Wenn ein Toter im Hause ist, so muß man an alle Weinfässer anklopfen, damit der Wein nicht absteht.
36. Wenn zwei Leute ehelich zusammengegeben werden, so sieht man auf die brennenden Lichter. Derjenige muß zuerst sterben, dessen Licht am schwächsten brennt.
37. Eine Wöchnerin darf vor sechs Wochen an keinen Brunnen gehen, sonst wachsen rote Würmer in demselben.
38. Wenn dreizehn Personen an einer Tafel speisen, so muß einer davon sterben.
39. Die Wirbelwinde auf den Straßen sind Wirkungen der Hexen. Wer ein Messer mit drei Kreuzen hineinwirft, der erkennt die Hexe, die diesen Wirbel verursacht hat.
40. Stößt ein Maulwurf in einem Hause oder zirpt eine Grille oder Heuschrecke, so muß jemand im Hause sterben.
41. Kräht eine Henne, so stirbt jemand in der Familie, schreit ein Käuzchen auf dem Hause, ebenfalls.
42. Wenn jemand bei Regenwetter stiehlt und der Fußstapfen wird herausgeschnitten und in den Schornstein gehängt, so welkt der Dieb nach und nach wie sein Fugstapfen im Schornstein.
43. Wenn zwei Kinder, die noch nicht reden können, einander küssen, so muß eines davon sterben.
44. Um bei der Nacht alle Anfälle von Hexereien von sich abzuwenden, muß man beim Schlafengehen die Schuhe wechseln.
45. Kein ausgekämmtes Haar darf auf die Straße geworfen werden, wenn man vor Hexereien sicher sein will.
Die schwarze Katz.
Bestimmte Menschen und Tiere, die unseren Weg kreuzen, wurden schon immer mit Glück und Unglück in Beziehung gebracht Die Katze ist neben dem Kanarienvogel und Hund das beliebteste Haustier. In der ägyptischen und fernöstlichen Mythologie fungiert sie als Orakel und gilt als heiliges Tier. Viele Götter wie Osiris und Ra werden mit Katzenkopf dargestellt. Germanen und Slawen sahen in der Katze einen Unglücksboten. Das gilt besonders für Rußland, wo man der Katze dämonische Eigenschaften zuschreibt. In vielen alten Prozeßakten, wie sie etwa noch im Stadtarchiv von Lemgo aufbewahrt werden, wird sie die Begleiterin der Hexen und des Teufels genannt. Im späten Mittelalter wurden Katzen daher oft auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Denn hundertjährige Hexen, meinte man, verwandeln sich in Katzen und neunjährige Katzen in Hexen. Der schleichende Gang, die funkelnden Augen und ihr elektrisch geladenes Fell verleihen der Katze etwas Unheimlicnes. Der Volksmund spricht von der falschen Katze, und in der Schweiz heißt es: »Die schwarze Katz, das schwarze Huhn soll kein Bauer aus dem Hause tun.« Putzt sie sich unter dem Fenster eines Kranken, muß dieser sterben. Miaut sie vor einem Haus, bedeutet es Unglück. Wenn ein Mann seine Frau betrügt, hat die Frau ihre Katze schlecht behandelt. Läuft die Katze mit einem krummen Buckel herum, ist Besuch zu erwarten. Dreifarbige Katzen sollen das Haus am ehesten vor Unglück und Feuer schützen. Vielfach besteht die Meinung, dag das Töten von Katzen Unglück bringe. Nur beim Bau eines Hauses durften sie in vergangenen Zeiten als Opfertier getötet und im Johannisfeuer verbrannt werden.
Bräuche dieser Art wurden aus dem Harz und dem Teufelsmoor noch zu Beginn unseres Jahrhunderts berichtet.
Der Katzenaberglaube ist noch heute so groß, dag viele Menschen, denen morgens eine schwarze Katze über den Weg läuft, umkehren oder sich bekreuzigen. Von einem berühmten Sänger aus London wird erzählt, er sei beim Verlassen des Hauses umgekehrt, nachdem eine schwarze Katze seinen Weg gekreuzt hatte, und habe sein Konzert abgesagt.
Von einem Landarzt aus Oberschlesien heißt es, daß er bei seinen Krankenbesuchen stets ein Gewehr bei sich trug. Er schoß auf alle schwarzen Katzen, die ihm unterwegs begegneten, um das Böse aus der Umgebung seiner Patienten zu verbannen.
Neujahrsaberglaube
Bei den vielen Neujahrsbräuchen spielt das Blei seit dem frühen Mittelalter eine große Rolle. Es wurde auch als Mittel zur Hexenerkennung verwendet. Das Bleigießen ist heute zu Neujahr eine beliebte Belustigung. In den Geschäften werden allerorten Bleitalismane mit einem Löffel zum Einschmelzen verkauft. Das geschmolzene Blei wird in ein Gefäß mit kaltem Wasser geschüttet. Aus den Formen der zersplitterten Bleiteile wird die Zukunft gedeutet.
Viele Menschen befragen in der Silvesternacht das Hutorakel. Unter neun Hüten werden verschiedene Gegenstände versteckt. Wenn die Uhr zwölf schlägt und das neue Jahr ankündigt, darf der Fragende einen Hut wählen. Wenn er darunter einen Ring findet, wird er im kommenden Jahr heiraten. Findet er eine Puppe, wird er Kinder bekommen. Eine Tasche deutet auf Reisen, ein Kamm auf Glück, ein Stück Kohle kündet Unheil an, eine Schüssel Häuslichkeit und ein Messer Streit. Ein Gebetbuch ist das Symbol für Zufriedenheit und ein Knopf für Geld.
Das heiratslustige Mädchen wirft in der Silvesternacht vor dem Zubettgehen ihren Schuh über ihre nackte Schulter. Wenn die Spitze des Schuhes der Tür zugekehrt ist, wird das Mädchen im kommenden Jahr heiraten.
In manchen Landesteilen geht das Mädchen in der Silvesternacht vor dem Schlafengehen durch den Hühnerstall. Wenn der Hahn sich bei ihrem Eintreten als erster bewegt, bekommt sie im folgenden Jahr einen Mann. Wenn es die Hennen sind, muß sie mit dem Heiraten noch warten.
Die Kristallkugel
Eine besondere Form der Wahrsagerei ist das Kristallsehen. Seit dreitausend Jahren wird es in Indien, China, Japan und den Südseeinseln ausgeübt. Dabei werden nicht nur Kristallkugeln verwendet, sondern auch Spiegel, polierte Hölzer, Fingernägel und blanke Wasserflächen. Bei uns spielte es im Mittelalter eine große Rolle und ist auch heute noch ein sehr einträgliches Gewerbe. Katharina von Medici (1519 -1589) war eine Anhängerin dieser Wahrsagekunst. Der 1527 in London geborene John Dee galt darin als großer Meister. Graf Cagliostro (1743 – 1795) bediente sich in seiner »Ägyptischen Loge« unschuldiger Knaben und Mädchen zur Kristallschau. Er ließ sie eine mit klarem Wasser gefüllte Kristallflasche oder auch ihre mit Öl eingeriebenen Hände anstarren, um bunte, magische Visionen zu erzeugen. Vor Jahren zog ein vielgefeierter Zauberer mit seiner hübschen Assistentin Miß Moi Yo Miller aus Melbourne durch die europäischen Varietes. Die Assistentin hielt auf der Bühne eine Kristallkugel in ihren Händen und weissagte daraus mit verblüffender Überzeugung.
Heute bedienen sich die Zauberkünstler zum Kristallsehen fast nur noch richtiger Kristalle. Durch die Lichtreflexe des Kristalls und durch die starke Vertiefung in sein Inneres treten bei Menschen, die zur Bilderschau veranlagt sind (Eidetiker), Bildvorstellungen auf, die bis zu Visionen gesteigert werden können. Beim Spiegelsehen und Wassersehen vollzieht sich der Vorgang ähnlich. Das Kristallsehen ist wiederholt von der psychologischen Wissenschaft untersucht worden, und es gibt darüber zahlreiche Publikationen. Sie gleichen sich in der Annahme, daß es sich um Nachbilder der Wirklichkeit oder um Erinnerungen handelt, die durch das Fixieren des Kristalls aus dem Unbewußten gelöst werden. Auf diese Weise können innere Bilder und Ideen zu Objekten der Anschauung werden. Es wird aber auch nicht bestritten, daß solche Visionen auf telepathischem Wege übertragen werden können. Denn durch die Fixierung erfolgt bei sensiblen Menschen eine Art Trancezustand, der Inneres nach außen kehrt und offen macht für Gedankenübertragungen. Diesen Aspekt der Kristallschau wollen wir aber der Parapsychologie überlassen und hier lediglich auf den abergläubischen Mißbrauch hinweisen, der in den meisten Fällen zutreffen dürfte.
Traumorakel
Träume sind Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung und für das Leben des Menschen ebenso wichtig wie sein gesundes Tagesdasein. Sie sind aber auch Inbegriff eines weitverbreiteten Orakelaberglaubens. Und nur um ihn geht es hier.
Der Mensch träumt, damit die Nacht das am Tage strapazierte Gleichgewicht zwischen inneren und äußeren Kräften wiederherstellt. Er muß mit vielem fertig werden, was er verdrängt oder nicht verarbeitet hat. Es wird in seinem persönlichen Unbewußten gespeichert und wartet auf Bewältigung. Unsere Träume nehmen sich dieser am Tage nicht zum Zuge gekommenen Reize und Erlebnisse an und kleiden sie in die symbolischen Traumbilder des Fliegens, des Alpdrucks oder der Verfolgung. Das Traumleben wird somit zum Spiegelbild unseres ganzen Daseins, unserer Person, zu der neben dem Tag auch die Nachtseite gehört. Der Mensch lebt nicht allein. Er wird in eine Mitwelt hineingeboren, die ihn von Kindheit an formt und mit der er mit zunehmendem Selbstbewugtsein fertig werden muß. Und sie ist nicht immer freundlich und bejahend, sondern auch feindlich und trostlos. Sie spielt in den Träumen die größte Rolle. So kommen die vielen Schattierungen und Stufungen der Wunsch-¬und Furchtträume zustande. Sie werden durch das Erbe unserer Väter und Ahnen, das wir alle in uns, in unserem kollektiven Unbewußten tragen, weiter kompliziert. Wir leiden, hoffen und arbeiten weiter an den Erfahrungen der gesamten Menschheit, und wenn es nur in den verborgenen Schächten der Seele geschieht.
Und schließlich ist zu bedenken, daß der Mensch nicht von dieser Welt ist. Er kennt weder das Woher noch das Wohin. Aber er ahnt aus der Selbstgewißheit seines Erlebens und Glaubens, daß es ein Vorher gab und ein Nachher geben wird. Sonst wären Geburt und Tod nicht da und das Dasein gegenstandslos. Erst durch diese Aktualität des Ewigen bekommt es seinen Sinn. Das Ahnen dieses Ursprungs befähigt den Menschen zu Wahrträumen und zu Traumbildern mit Offenbarungsgehalt.
Träume sind verschlüsselt, sind Chiffren unseres Innenlebens. Nur der Kundige kann sie lösen. Früher wurden sie von Priestern gedeutet. Heute übernimmt der Seelenarzt im Bedarfsfall diese Aufgabe. Dem Uneingeweihten fällt es schwer, damit etwas anzufangen. Deshalb sagt der Volksmund, Träume sind Schäume.
Den Menschen trieb schon immer die Neugierde zur Enträtselung des Unbekannten, besonders dann wenn er vom abergläubischen Drang nach Beeinflussung seines Schicksals geleitet wurde. Dem kam der Traumdeuter auf den Jahrmärkten entgegen. Ohne zureichende Kenntnis sagte er gegen Bezahlung die Zukunft voraus. Oft machte er die Deutung von der Höhe des Honorars abhängig.
Mit dieser Zunft der Traumdeuter kamen Traumlexika in Gebrauch, die als sogenannte Volkstraumbücher noch heute verbreitet werden. Wir kennen sie etwa als das »Große arabische Traumbuch«, das »Goldene ägyptische Traumbuch« oder auch als das »Echte Zigeuner Traumbuch«. Danach bedeutet ein schönes Kleid tragen, in behagliche Verhältnisse kommen; ein Kloster sehen, Ruhe und Frieden; Kohlen sehen, Reichtum und Glück; Krähen fliegen sehen, einen nahen Tod usw.
Solche Deutungen arten meistens zum abergläubischen Gesellschaftsspiel aus, das sich der eigenen Traumbilder zur Unterhaltung bedient.
Gewiß gibt es Traumsymbole. Sie wurden von zahlreichen psychologischen Schulen erforscht. Aber sie werden zu Wahrsagezwecken mißbraucht. Jedes Traumdeuten ist von großen Schwierigkeiten begleitet, die nur ein Seelenarzt und Therapeut meistern kann. Es hängt auch von der weltanschaulichen Haltung des Deutenden ab. Eine Beschäftigung damit setzt ein zureichendes Wissen um die Beziehungen zwischen Körper, Geist, Seele, Gemeinschaft und Erbe voraus. Es kann nie durch Leichtgläubigkeit und Simplifizierung ersetzt werden. Einer unserer führenden Religionsforscher bemerkte zu Recht, es sei kein besonderes Zeichen würdiger Haltung, wenn ein Mensch um jeden Preis das Geheimnisvolle, Besondere und Außerordentliche sucht. Traumdeuten als therapeutischer Weg zur Selbsterkenntnis kann nur bejaht werden. Als Wahrsageorakel ist es vom Übel.
Die Wünschelrute zeigte Moses die Wasserstelle
Bekanntlich wird das Wünschelrutengehen heutzutage vielfach als Beruf ausgeübt. Der Rutengänger wird engagiert, um eine Wasserader oder Bodenschätze aufzuspüren. Die Rute, meist ein gegabelter Zweig vom Haselnußstrauch, schlägt über der gesuchten Stelle mit der Spitze nach unten aus. Neben manchen Mißerfolgen haben die Rutengänger nach eigenen Angaben auch viele Erfolge zu verzeichnen. Die Theorien über das Funktionieren der Rute sind noch widersprüchlich, die häufigste Erklärung besteht in der Annahme, daß gewisse Strahlen aufgefangen werden. Skeptische Stimmen gegen die Wünschelrute fehlen nicht, aber unbestreitbar war sie in vielen Fällen hilfreich. Die Wissenschaft vermochte dieses Phänomen noch nicht zu enträtseln. Den Bedürfnissen der Zeit entsprechend, setzt man häufig den Rutengänger als Helfer für Industrie und Bauwesen ein. Sind solche Auftraggeber abergläubisch?
Die Rute soll schon Moses in der Wüste auf das Wasser aufmerksam gemacht haben, und die Überlieferung weist sie in vielen Kulturen des Altertums, darunter auch in China, nach. Ende des 15. Jahrhunderts widmete man ihr in Deutschland ein Buch, in dem sie als göttlich gepriesen wurde. Ihr geheimnisvolles Wirken bewegte die Jahrhunderte und nährte den Aberglauben. So glaubte man im 18. Jahrhundert mit ihrer Hilfe alles erfahren und finden zu können, was der Mensch nicht enträtseln konnte. Sie identifizierte angeblich den Dieb, verriet geheimnisvolle Schätze, fand verirrte Kinder und wußte sogar, ob ein Planet bewohnt sei oder nicht. Es bedarf wohl keines Kommentars, daß solche Annahmen reiner Unsinn sind und daß davon echtes Rutengängertum als Versuch zur Entdeckung einer möglichen Kausalität zwischen Mensch, Erde und Wasser unterschieden werden muß.
Weiß das Pendel die letzten Dinge?
Der erste überlieferte Versuch mit dem siderischen Pendel stammt aus dem alten Rom. Zur Zeit des Kaisers Valens (364 – 378 n. Chr.) waren einige Höflinge neugierig, wer wohl sein Nachfolger werden würde. Sie nahmen einen an einem Bande hängenden Ring und ließen ihn über einem Kübel schwingen, an dessen Rand das Alphabet eingraviert war. Als Ergebnis erhielten sie den Namen THEO. Dieser Versuch wurde bekannt und die Höflinge wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Die geschworenen Pendler werden sagen, das Pendel hatte recht, aber es ist doch wohl eher als eine Kuriosität der Weltgeschichte zu betrachten, daß ausgerechnet der Gote Theodosius Nachfolger des Kaisers wurde. Anderthalb Jahrtausende vergingen, ehe das Pendel im 18. Jahrhundert wieder erwähnt wurde. In Goethes »Wahlverwandtschaften« pendeln Charlotte und Ottilie. Auch das 19. Jahrhundert weiß von einigen Pendlern zu berichten, darunter einem Mann namens Ritter, der ein Pendel aus Schwefelkies verwendete. Aufsehen erregte 1913 das Buch von Friedrich Kallenberg über »Offenbarungen des siderischen Pendels«, in dem er dem Pendel jene Bedeutung zuschrieb, die ihm bis heute nachgesagt wird. Seiner Meinung nach gab es Auskunft über alle erfahrenswerten Dinge, gleich, ob man es über Fotografien, Handschriften oder Gebrauchsgegenständen schwingen ließ. Kallenberg glaubte, daß er eine revolutionäre Entdeckung gemacht habe und mit Hilfe des Pendels auch die Letzten Dinge zu entschleiern seien. So verraten angeblich Kreiskurven das männliche Geschlecht, Ellipsen dagegen das weibliche. Auch der Gesundheitszustand und das Temperament der dem Versuch zugrunde liegenden Person bleiben dem Pendel nicht verborgen.
Abbe Mermet findet Wasser in 10 000 km Entfernung
Das Funktionieren des Pendels bringt man in Zusammenhang mit sogenannten Erdstrahlen oder auch Todesstrahlen und mit den Ausstrahlungen bestimmter Personen. Das gilt auch für das Rutengehen, aber das Pendeln ist weitaus bequemer. Kann man es doch auch in sitzendem Zustande und auf weite Entfernung ausführen. Die Pendler und Rutler haben sich gegenwärtig sogar in einem eingetragenen Verein zusammengeschlossen und geben eine Zeitschrift für Radiaesthesie heraus. Daß gewisse Einflüsse von Mensch zu Mensch ausgeben, die man als Strahlungen bezeichnen kann, gilt als erwiesen. ob solche Strahlungen aber auch auf organische Stoffe übergehen können, bleibt noch ein großes Frage¬zeichen. Die Pendler jedenfalls behaupten, daß Fingernägel, Haare, ja selbst Fotografien dieselben Strahlen aussenden wie ihr Besitzer und vom Pendel empfangen werden. Auch das Pendeln über Landkarten soll genügen, um Bodenschätze ausfindig zu machen. Manche Pendler haben wirklich die Aura der Glaubwürdigkeit um sich geschaffen. Berühmt wurde der Abbe Mermet aus der Schweiz, der nicht nur an Ort und Stelle mit seinem Pendel Wasser und Bodenschätze fand, sondern auch betonte, daß seine Pendelkunst bis zu 10.000 km Entfernung Quellen ausfindig machen und sogar verlorene Goldstücke zum Vorschein bringen könne. Die von den Rutlern und Pendlern vorausgesetzten Erdstrahlen oder Reizstreifen sind bisher nicht wissenschaftlich entdeckt worden. Man behauptet, daß Tiere diese Erdstrahlenzonen meiden. Denn die Wirkung der Strahlen soll schädlich sein und Krankheiten verursachen, darunter Tuberkulose, Rheuma, Gemütskrankheiten und sogar den Krebs. Sterben in einem Haus mehrere Personen an Krebs, so soll es sich um ein »Krebshaus« handeln, das über den diese Krankheit verursachenden Strahlen gebaut wurde.
Die hellsehende Kraft des Pendels über Fotografien, Haaren, Fingernägeln führt man auf die sogenannten Od Strahlen zurück, die dem menschlichen Körper, ähnlich dem Heiligenschein, entströmen sollen und auch allen Dingen zugeschrieben werden, die mit dem Körper in irgendeiner Beziehung stehen oder gestanden haben. Auf dieser abergläubischen Grundlage meint man nun alles Lebendige und Tote, auch Vergangenes und Zukünftiges, mit Hilfe des Pendels enträtseln zu können. Die britische Admiralität soll während des Zweiten Weltkriegs, als die Seeschlacht um England ihren Höhepunkt erreicht hatte, einen Pendler zur Ermittlung feindlicher Schiffe erfolgreich beschäftigt haben.
Zehn Mark für einmal pendeln
Abgesehen von vielen ernsthaften Bemühungen um das Geheimnis des Pendelausschlags, haben die Gefilde des Aberglaubens hier einen willkommenen Zuwachs gewonnen. Groß ist die Zahl derer, die kritiklos aus der Pendelei über das bloße Gesellschaftsspiel hinaus ein einbringendes Geschäft gemacht haben.
So berichtet Professor Urbach, daß ein Bekannter sich zu einem Pendler begab, um die Krankheit seiner Mutter feststellen zu lassen. Die alte Dame könne wegen ihrer Gebrechlichkeit nicht selbst kommen. Dem Pendler genügte ein Stückchen Papier, das die Mutter berührt hatte. Als ihm das gebracht wurde, pendelte er darüber mit seinem Metallring und nannte drei Krankheiten, zwei, die bei Altersschwäche stets eintreten, und eine dritte, die nur durch eine Röntgenaufnahme festzustellen war. Für diese Gefälligkeit nahm der Pendler zehn Mark. Ein anderer Fall: Bei dem Pendler erschien ein Mann an Krücken, und der Pendler stellte Gelenkkrankheiten fest. Da warf der Mann die Krücken fort und vollführte ein paar akrobatische Kunststücke. Er war kerngesund. Der Pendler ließ sich nicht verblüffen. Er sagte, bei der vorigen verkrampften Haltung hätten sich Blutstauungen eingestellt, die das Pendel anzeigte.
Um Ausreden beim Versagen des Pendels sind solche Pendler nicht verlegen. Auch der Arzt könne sich irren, sagen sie, nur daß bei seinem Versagen nicht so viel Geschrei gemacht würde. Wenn sich das erpendelte Geschlecht eines ungeborenen Kindes später als falsch herausstellt und statt eines Mädchens ein Knabe geboren wird, heißt es, daß der weibliche Einfluß der Mutter eben so stark gewesen sei. Falls im Beisein von Publikum Fehlaussagen vorkommen, meint der Pendler, die negative Einstellung der Anwesenden sei daran schuld.
Auch hier wieder ist es die Angst vor der Krankheit, die Abergläubische zum Pendler treibt. Viele lassen sich Krankheiten aufschwatzen, die sie überhaupt nicht haben. Noch schlimmer ist es, wenn sie Behandlungsmethoden erpendeln lassen. Daraus ergeben sich, wie bei jedem abergläubischen Vertrauen, Ausweglosigkeit und Not. Die verantwortungslosen Pendler aber nutzen die Angst ihrer Mitmenschen finanziell aus. Leider erfaßt das Gesetz auch in diesem Falle nur einen winzigen Bruchteil der Schuldigen.
Schützt das Entstrahlungsgerät vor Krankheit?
Auch aus dem Glauben an Erdstrahlen läßt sich Kapital schlagen. So kam ein Mann auf die Idee, eine Anzahl billiger Metallringe an seine abergläubischen Kunden für einen ansehnlichen Preis zu verkaufen. Wenn sie am Körper getragen wurden, sollten sie die schädlichen, krankheitsbringenden Erdstrahlen abhalten. Die Vorschrift besagte, daß man die Ringe alle fünf Minuten mit Wasser begießen mußte. Das war den Patienten doch wohl zu lästig, daher ging das vielversprechende Geschäft allmählich ein.
Das bekannteste und allerorten viel verbreitete Mittel gegen Erdstrahlen erfanden geschäftstüchtige Fabrikanten. Sie stellten Entstrahlungsgeräte her. Man braucht diese nur unters Bett zu stellen oder unter die Matratze zu legen, dann schirmen sie den Besitzer vor allen Krankheiten ab. Man schaltet das Entstrahlungsgerät ein und schläft behütet und sorglos.
Wer sich ein solches Gerät nicht leisten kann, soll sich einfach, wie die menschenfreundlichen Erdstrahlenverfechter empfehlen, auf eine Matratze aus Farnkraut legen. Denn dieses hält die Strahlen garantiert ab.
Von den vielen Entstrahlungsgeräten nennt Dr. Paul Bauer die »Schweizer Weber Platte«, die aus zwei Streifen Metallfolien besteht. Spannt man diese unter das Bett, kann man beruhigt einschlafen. Der »Nord-Süd Gleichrichter« soll sogar das ganze Haus vor schädlicher Strahlung bewahren. Man braucht ihn nicht elektrisch anzuschließen, weil er ein eigenes, konstantes Kraftfeld in sich birgt. Man kann ihn für 80 DM erwerben.
Auch Ärzte, die sich ernsthaft mit Strahlenforschung beschäftigen, preisen Entstrahler an. Bauer nennt den Arzt und Medizinalrat Dr. Mannlicher aus Salzburg, der empfiehlt, zwei Spiegel im Abstand von 5 Zentimetern einander gegenüberzustellen. Die Spiegel irritieren die Strahlen und machen sie unschädlich.
Gemeinsam mit einem Diplomphysiker hat Bauer den bekanntesten Apparat gegen Erdstrahlen, den »Phylax«, untersucht. »Der Physiker konnte nur gequält lächeln. Ein paar Drahtspiralen, dazu noch kurzgeschlossen, so daß die äußere Markierung >Aus< >Ein< gar nichts bezweckte.« Den Wert des Kästchens mit dem Inneren schätzt er auf vielleicht 3,50 DM. Das Gerät aber brachte dem Fabrikanten Dannert, einem überzeugten Rutenmeister, zwischen 80 und 120 DM ein. Die Abschirmung soll 20 Meter im Umkreis betragen. Welch ein Durcheinander von Strahlen muß es ergeben, wenn in mehreren eng nebeneinanderliegenden Häusern dieses Gerät aufgestellt wird! Unserem Hausarzt wurde von einem dankbaren Patienten ein Entstrahlungsgerät geschenkt. Es war eine leere, zugelötete Blechbüchse, die der Arzt unter sein Bett stellen sollte, um Unheil abzuwenden.
Welche Suggestivkraft das Kästchen auf Abergläubische ausübt, geht aus dem frommen Betrug hervor, den ein Ehemann vornahm. Die Frau glaubte fest an die Wirkung des Phylax. Ihr Mann vertauschte den Apparat gegen eine ähnlich aussehende Holzkiste. In dem Glauben, dass es sich um den “Phylax” handelte, schlief die Frau genauso tief und unbesorgt wie vorher. Ohne den Apparat hatte sie stetes über Herzklopfen und Beklemmungen geklagt. Aber auch der Ersatz befreite sie davon.
3. Was ist Aberglaube?
Dieser bunte Streifzug durch die Welt des Aberglaubens will keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Bei einigen Erscheinungsformen haben wir nur kurz Station gemacht, anderen sind wir ausführlicher durch die Geschichte gefolgt, um ihre gefährlichen Auswüchse aufzuzeigen. Die sensationellen, manchmal krassen und unschönen Beispiele sollten dazu dienen, das Bild einer Macht möglichst eindrücklich zu veranschaulichen, die seit den Anfängen die Seele der Menschen ergriffen hat und sie, wie eine Spinne ihr Opfer, im Netz hält. Dieses Netz umspannt auch heute noch die ganze Welt. Es hat feine Maschen, denen kaum jemand entschlüpfen kann, und es läßt sich nur sehr schwer durchschneiden.
Das hat vor allem der Hamburger Johann Kruse in seinem Kampf gegen den gefährlichen Hexenaberglauben erlebt. Kruse fand bisher in Deutschland keine wirksame Unterstützung und hat daher sein Lebenswerk mit allen Unterlagen hilfesuchend an die UNESCO geschickt. Nun hofft er auf »Entwicklungshilfe in Einsicht«. Die ernsthaften Sorgen solcher Männer mögen Gleichgültige wenig rühren. Doch ist der Aberglaube, statt abzuklingen, in den Jahren nach dem Kriege unwahrscheinlich angewachsen. Die Selbsttests und Horoskope sind nur ein harmloses Aushängeschild einer oft dämonischen Macht, die sich kriminell, gesundheitsschädigend oder in menschlicher Tragik äußert.
Man soll die Krankheit immer an der Wurzel bekämpfen. Der Aberglaube besitzt die Merkmale einer Neurose, die Mensch um Mensch ergreift. Gerade darum gilt es, die Widerstandskraft im einzelnen zu stärken. Der Verantwortliche kann dem Angefochtenen nur Hilfe geben, wenn er sich zuerst einmal selber über die dem Aberglauben günstige Seelenlage klar wird und von dort aus zu begreifen sucht, worin Aberglaube eigentlich besteht. Doch fragt man sich berechtigterweise, was wohl solche theoretischen Erörterungen nützen könnten? Sie werden nur fruchtbar in der Weitergabe von Bildungsstand zu Bildungsstand, von Staat zu Bürger, vom Seelsorger zum Laien, von Mensch zu Mensch, und zwar in jener Übersetzung, die vom einzelnen verstanden wird. Theorie muß immer mit dem Risiko der Isolierung rechnen, trotzdem liegt in ihr der Grund allen praktischen Wirkens. Darum suchen wir uns getrost zu vergewissern, was Aberglaube, wissenschaftlich betrachtet, eigentlich ist.
Kleine Etymologie
Seit dem 15. Jahrhundert wird in unseren Wörterbüchern das Wort »Aberglaube« verzeichnet. Einige Autoren behaupten sogar, es wäre schon im 12. Jahrhundert nachweisbar. Jedenfalls versuchte man damit den lateinischen Begriff »superstitio« ins Deutsche zu übersetzen. Friedrich Wilhelm Weitershaus weist uns darauf hin, daß die Bezeichnung »aberglaub« 1482 hinter dem Stichwort »superstitio« eines Straßburger lateinischen Wörterbuchs auftaucht. Damals hatte man noch eine ängstliche Scheu vor dem, was über den gewohnten Glauben des Volkes hinausging. Gemeint war eine unrichtige Verehrung der Gottheit, eine Abgötterei.
Martin Luther bevorzugte dann die Bezeichnungen »Mißglaube« und »Afterglaube«. Sie spielen sogar in der Philosophie des strengen Königsberger Denkers Immanuel Kant eine Rolle und leben bis in unsere Tage fort. In Krugs »Enzyklopädisch philosophischem Lexikon« von 1838 heißt es dazu: »Aus dem Begriff des Nachfolgenden oder Hintern, welches dem Vorhergehenden oder Vordern entgegensteht, hat sich dann sehr natürlich der Begriff des Schlechten entwickelt. Und daher kommt es wohl auch, daß After als Substantiv schlechtweg den Hintern (gleichsam das abwärts gekehrte Gegengesicht, das man als etwas Schlechtes oder Unziemliches verbirgt) bedeutet.«
Nach Hoffman Krayer umschließt das Wort Aberglaube den Glauben an die Wirkung und Wahrnehmung naturgesetzlich unerklärter Kräfte. Sein Bereich wird scharf von dem der anerkannten Religionssysteme abgegrenzt. Und der bereits zitierte Krug schrieb, die Herleitung des Wortes »Aberglaube« von »superstitio« entspräche auch dem griechischen Wort »deisidaimonia« (Dämonen oder Götterfurcht).
Über die landschaftliche Herkunft der Bezeichnung »Aberglaube« sind sich die Etymologen nicht einig geworden. Viele Forscher streiten sich noch immer um eine befriedigende Definition und Ableitung. Das Wortelement deckt sich im Mittelhochdeutschen mit »Unklugheit«, im Neuhochdeutschen mit »Abergunst« (Mißgunst), mit »Abername« (Spottname) und mit »Aberwitz«.
Der dänische Forscher Alfred Lehmann, Verfasser eines 1925 in 3. Auflage erschienenen umfangreichen Werkes über den Aberglauben, formulierte: »Aberglaube ist jede allgemeine Annahme, die entweder keine Berechtigung in einer bestimmten Religion hat oder im Widerstreit steht mit der wissenschaftlichen Auffassung einer bestimmten Zeit von der Natur.«
Und die Verfasser des Werks »Handbuch des deutschen Aberglaubens« vollzogen 1927 die zaghafte Definition: »Aberglaube ist der Glaube an die Wirkung und Wahrnehmung naturgesetzlich unerklärter Kräfte, soweit diese nicht in der Religionslehre selbst begründet sind.«
Viele Begriffe, ja die meisten, werden durch ihre Geschichte erhellt. Beim Begriff »Aberglaube« ist das leider nur bedingt der Fall. Die Etymologie betreibt nur eine Verwandtschafts und Entwicklungsforschung der Sprachen und Wörter. Was sie zur Erklärung des Aberglaubens in die Hand gibt, ist das »Aber«. Es besagt dem Sinn nach soviel wie »verkehrt«. Die Geschichte des Aberglaubens berichtet über geschehene Fälle, Phänomene, Inhalte. Der Mensch unserer Tage möchte aber darüber hinaus wissen, was Aberglaube an sich ist. Er interessiert sich für den Vorgang, den Akt. Er weiß, daß jede Beurteilung von außen hinkt, da jeder seinen Standpunkt vertritt. Fragen wir also bei der Geschichte des Menschen an, der so sehr seinen Verführungen ausgesetzt ist.
Das Erbe der Urahnen
Der Mensch lebte in einem archaischen, einem magischen und einem mythischen Dasein, wie der Schweizer Kulturforscher Jean Gebser in seinem Werk »Ursprung und Gegenwart« so überzeugend dargelegt hat. Der unbewußte Geist der Menschheit mußte allmählich zum Naturerleben, zur Befreiung der Seele und zur Entdeckung des Raumes und der Welt heranreifen. Dem Ahnenerleben wuchs die Fähigkeit des magischen Zaubers und des mythischen Erlebens zu, aus dem schließlich und immer mehr beschleunigt das heutige rationale Bewußtsein wurde. Es ist eine Entwicklung, die nach Gebser weit in die Zukunft zu einer neuen integralen Bewußtseinsstruktur führt, die frei sein wird von Angst und Aberglauben.
Sehen wir uns den noch ganz im magischen Tun verstrickten Vorfahren an. In seinem unbewußt genannten Seelenbereich schlummerte der Dämonen und Geisterglaube. Die Menschen dieses Daseins pflegten sich durch eine kultische, religionsähnliche Praxis Kräfte und die Zuneigung der Götter zu sichern, um deren Zorn und Neid zu entgehen. Soweit wir dieses vergangene vorhistorische Leben archäologisch und psychologisch rekonstruieren können, zeigt es sich als gebunden an die Mächte der Natur und des Kosmos. Daher hatte alles Tun und Treiben dieser mit Vorliebe heidnisch genannten Vorfahren einen religiösen Bezug. Es war eine Art »religio«, eine Rückbindung an den Ursprung. Ihnen fehlte die einfache Liebe und Bitte zu Gott dem Vater mit dem freien Eingehen in seinen Willen. Sie lebten in Götterfurcht und Götterangst. Diese Wirklichkeit war für sie überwältigend. Es war eine naturmagische Seelenverf assung, die aus den kosmischen Lebenszentren unmittelbar die eigenen Pflichten ablesen konnte, um daraus eine naturhafte Sicherheit des Tuns und Lassens zu gewinnen. Ihr magisches Treiben umfaßte alle Handlungen, die auf eine Beeinflussung der sinnlichen und übersinnlichen Welt gerichtet waren und durch die man eine zwingende Macht auf die Götter ausüben konnte.
Die magischen Praktiken der Beschwörung und Zauberei mußten richtig angewandt werden, um einen wirksamen Götterdienst zu ermöglichen. Die dazu nötigen Geheimnisse und Fähigkeiten waren nicht jedermann zugänglich. Sie wurden stellvertretend durch den Medizinmann, Priester oder Stammesältesten ausgeübt. Der einzelne war Glied einer magisch verbundenen Gemeinschaft. Er war nicht abergläubisch, wenn er mit seinen Genossen vor Aufgang der Sonne eine in den Sand gezeichnete Antilope umtanzte, damit ihm das Jägerglück hold sei. Abergläubisch werden erst wir, die wir jene Furcht und Angst übernommen haben, ohne die alte Naturverbundenheit und Magie als Kraftquelle noch zu besitzen. Sie bot dem primitiv genannten Naturmenschen Schutz und Ordnung. In diesem Sinne gedeutet, kann man es verstehen, wenn die Anthropologie vom abergläubischen Menschen unserer Tage sagt, er lebe zwar unter uns, sein Geist sei aber in der Vorzeit bei den Primitiven geblieben.
Zauberei und Sitte
Der 1955 in Heidelberg verstorbene Forscher Willy Hellpach formulierte so treffend, Religion entstehe und bestehe, wo sich eine Vorstellungswelt von magischen Kräften und mythischen Mächten um den Sinn einer sittlichen Ordnung gruppiert. Die Folgen sind dann sittliche Verpflichtungen des Lebens.
Eine Lehre mythischen und magischen Inhalts kann allein niemals Religion sein. Es gibt genug Geheimlehren, Mysterien und Zauberpraktiken, die keine Religion sind. Eine reine Morallehre ohne magische und mythische Elemente vermag ebensowenig die Bezeichnung Religion für sich zu beanspruchen.
In den zauberischen Praktiken wird der Mytheninhalt wirksam und gefestigt. Die Beachtung der magischen Vorschriften führt zum praktischen Einleben in die Unterscheidung von Gut und Böse. Die förderlichen und schädlichen Mächte werden vom Menschen erlebt. In ihm bildet sich ein Verhältnis zum Urguten und zum Urbösen heraus. Hilfsbereitschaft und Schadenfreude, Beistand und Ausbeutung sind Urerfahrungen, die in den Kreis der magischen Verrichtungen einbezogen wurden. So entsteht und geht durch die gesamte Geschichte eine sittliche Verpflichtung. Noch heute flößen uns geweihte oder gesegnete Dinge oder Symbole Ehrfurcht ein. Der einfach empfindende Mensch sieht darin nicht Sinnbilder, sondern durchaus im alten, vorhistorischen Sinne lebendige Wirkungsträger. Das geht bis zur Grußformel im Alltag, die wie auch etwa Gesinnungsgleichheit oder Gesinnungsfremdheit zu dem Urbestand moralischer Bindungen zählt. Wenn wir uns heute unter uns umsehen, stellen wir allerorten übereinstimmend fest, daß unser Tun und Lassen oder, anders ausgedrückt, unser moralisches Verhalten von einer Urtriebgüte und von einer Furcht vor Buße abhängig ist. Diese Akte spielen schon in der Kindererziehung eine große Rolle. Der Rest ist weitgehend mechanische Gewohnheit und eine nur noch unbewußt vorhandene Berechnung, um für das eigene Tun eine günstige Gegenleistung zu empfangen. Stark ist natürlich der Glaube an die übersinnlich wirksamen Kräfte. Als Verbindung zwischen Zauberkräften und bestimmten charakterlichen Bösartigkeiten besteht er heute wie vor Jahrtausenden. Er formt das moralische Verhalten stets mit.
Das magisch mythische Gefühl
Die Vorstellungen von Himmel und Hölle haben das Menschengemüt mehr beeinflußt als die gelebte Wirklichkeit des praktischen Alltags. Auch in unserer Zeit der Aufklärung und der Naturwissenschaften lebt der Mensch sehr stark aus diesem vorhistorischen, imaginären, magisch mythischen Gefühl. Er sehnt sich auch privat in seiner ganz intimen Sphäre nach dem Feierlichen, das er ja schon mit dem Handschlag ausübt. Würde man ihm diesen magisch zeremoniellen Grund des Feierlichen nehmen, müßte er auf Symbole, Auszeichnungen, Anerkennungen verzichten, würde ihm sein Dasein sinnlos erscheinen.
Selbst im alten Recht spiegelt sich diese Wahrheit. Wir finden sie in den Gottesurteilen ebenso wie in der Magie der Flamme. In Bremen haben bis1923 Versteigerungen »bei der Kerze« stattgefunden. Die Brennzeit der Kerze entschied über die Gültigkeit der Zuschläge. Das gleiche galt für die Rechtsgültigkeit von Testamenten, deren Niederschrift mit der Brenndauer einer Kerze zusammenfiel. Eide wurden bei brennender Kerze geleistet. Grenzen von Grundstücken ermittelte man in alten Zeiten durch Kerzenbräuche.
Es gab eine fast unübersehbare Fülle von Bräuchen mit gleicher Funktion. Urkunden legte man, damit sie rechtsgültig wurden, auf die Erde. Das Abschwören eines Schwures, den die rechte Hand geschworen hatte, geschah mit der rückwärts nach unten gestreckten linken Hand. Damit wurde der Eid moralisch ungültig gemacht.
Die Volksmedizin zeigt viele Verknüpfungen zwischen dem Bösen, einer Schuld und der Krankheit. Auf diesen Beziehungen wurde im Mittelalter die Behandlung von Geisteskranken aufgebaut. Böse Gesinnung leistet Zauberei, kann verhexen, krank machen. Der Besitz von bestimmten Zauberkräften erzeugt gute Gesinnung, kann Feen, Schutzgeister und Heinzelmännchen einsetzen.
Ein Arzt, der mit Magie zu tun hat, muß einen gegenwärtigen Zauber fortzaubern können. Er bewegt sich immer zwischen Gut und Böse im heidnischen Sinne. Unsere erfahrenen Landärzte wissen viel darüber zu berichten. Bestimmte Landstriche Bayerns, des Allgäus und auch Westfalens sollen ganz besonders zu einem solchen vorhistorischen magischen Erleben neigen.
Auch mit dem Geschriebenen, der Schrift, wurde eine besondere Wirksamkeit verbunden. Es kam darauf an, wie, mit welchem Ritus Verträge, Satzungen, Liebesbriefe verfaßt wurden. Vorsichtshalber setzte man noch oben, unten, links und rechts kleine Schutzkreuze, um die Wirksamkeit zu erhöhen.
Ein Forschungsbereich für sich ist das Brauchtum der magischen Gifte. Seit Jahrtausenden wird solchen Drogen reinigende Kraft zugeschrieben. Mit gleichförmiger Übereinstimmung wird durch die Jahrhunderte hindurch berichtet, daß solche magischen Gifte das sittliche Gefühl des Menschen zu heben vermögen. Noch 1911 konnte im amerikanischen Staat Oklahoma auf diesem Glauben die »Peyotl Kirche« gegründet werden, die Tausende in ergebener Gläubigkeit um sich scharte. Die zentralamerikanische Kakteenwurzel Peyotl ergibt das Meskalinrauschmittel. Darüber wird berichtet, daß es den Menschen in eine andere Welt des visionären Erlebens führt und ihm außerdem ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Menschen gibt, die wie er diese Kaktusfrucht verehren. Die mystischen Fähigkeiten in der menschlichen Natur werden angeregt, die Verbindung mit der göttlichen Natur der Dinge wird gegenwärtig.
In den heidnischen Frühkulturen wird die Haltung zu den Mitmenschen durch das Totem, die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Tierahnen, geregelt. Das damit zusammenhängende Ritual ordnet alle Haltungen und Handlungen der Mitmenschen auf der Ebene des Stammes oder Klans. Die Moral ist hier sichtbar magisch vorgeordnet. Das gilt gleichermaßen für alle magischen Völker unserer Gegenwart. Je höher ein Volk und eine Religion steigen, um so mehr verlegen sie das magische Zaubergeschehen in eine jenseitige Sphäre. Am Ende bleibt nur noch der »Eigenzauber der Gottheit«, das Wunder, übrig.
Wo diese Magie gebannt im Dienste eines Höheren steht, kann nicht von Aberglaube gesprochen werden. Wo sie sich aber von der Religion und vom verbindlichen religiösen Hintergrund löst, entfaltet sich ihre Macht zu profaner, gewöhnlicher Wirksamkeit, die das weite Feld abergläubischer Möglichkeiten ergibt.
In dieser Formulierung ist Aberglaube vom Absolutheitsanspruch der herrschenden kirchlichen Lehre her bestimmt. Wie denken die Kirchen darüber?
4. ABERGLAUBE UND CHRISTLICHER GLAUBE
Aberglaube und katholische Glaubenslehre
Nach Auffassung der katholischen Moraltheologie ist alles Aberglaube, was gegen den Kult des wahren Gottes verstößt. Dazu gehört vor allem das Gesundbeten, die mechanische Anwendung von religiösen Gegenständen, der gesamte Formelaberglaube als Wiederholung einzelner Gebetsformeln und schließlich jeder Verstoß gegen die von Christus eingesetzten Zeichen. Dieser Begriff des Aberglaubens umfaßt jede Weltanschauung, die dem geoffenbarten Gott widerspricht. Die Bekämpfung des Aberglaubens ist besonders gerichtet auf die Wahrsagerei, die Totenbeschwörung, den Sternaberglauben, das Kartenlegen, das Wahrsagen aus den Linien der Hand, das Zauberpendeln, die Zukunftsschau und die Zauberei als schwarze und weiße Magie. Aberglaube ist Sünde gegen die Tugend der Gottesverehrung.
Nach der gleichen moraltheologischen Auffassung, die Bernhard Häring in seinem Standardwerk Das Gesetz Christi dargelegt hat, hat dieser Aberglaube seine Wurzeln im angeborenen Trieb des Menschen zur Enträtselung der Zukunft. Er entspringt seinem Verlangen nach müheloser Meisterung der Naturgewalten und Lebensschwierigkeiten. Er ist immer eine Gefahr für den Glauben, für die Seele, für die Sittlichkeit und für die Gesundheit. Der Hokuspokus des Zaubers kann den Menschen davon abhalten, zum Beispiel rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Falsche Prophezeiungen können ihn zu fixen Ideen verführen. Ein Verlust der Verantwortung kann sogar den Weg zum Verbrechen ebnen. Aus manchen katholischen Gegenden wurde berichtet, es soll vorgekommen sein, daß eine gläubige Bäuerin ihre Madonnenfigur in den Kuhstall stellte, damit die Kühe mehr Milch geben sollten. Ein vom gewöhnlichen Nützlichkeitsdenken überspieltes religiöses Gefühl wird pervertiert. An diesem Beispiel sieht man deutlich, wo sich Glaube und Aberglaube trennen. Schwieriger ist es, sich in den zahlreichen Grenzfällen zurechtzufinden. Da muß die vom Glauben getragene Verantwortung entscheiden.
Aberglaube und evangelische Glaubenslehre
Auch die evangelische Kirche sieht überall dort Aberglaube, wo Abwandlungen vom religiösen Leben eintreten. Maßstab ist der sich legitim wissende Glaube. Voller Besorgnis wird von protestantischer Seite festgestellt, daß sich heute Tausende geschäftlich, ärztlich und seelsorgerisch von Hellsehern, Pendlern, Rutengehern und Astrologen beraten lassen. Besprechen, Beschwören, Liebes und Heilungszauber haben zwar gemessen an früheren Jahrhunderten abgenommen. Sie unterhöhlen aber noch immer das Selbstbewußtsein vieler Menschen in allen Volksschichten. Von den Personen, die in den verschiedenen Städten nach kirchlichen Vorträgen zur Aussprache kamen, waren 30 Prozent bis 80 Prozent abergläubig beeinflußt. Untersuchungen haben ergeben, daß in den meisten Fällen die Gesamtpersönlichkeit betroffen ist. Zunächst sinkt die Lebenslust, dann treten Depressionen auf, die tiefgehenden Neurosen Platz machen können. Eine solche Entwicklung wirkt sich natürlich auf Beruf, Ehe und Kindererziehung unheilvoll aus. Die Kirche sieht in diesen okkult Behafteten eine ihrer größten Aufgaben in dieser Zeit.
Es geht nicht darum, abergläubische Praktiken durch Verchristlichung unschädlich zu machen, sondern darum, den Menschen in die rechte Form „des vernünftigen Gottesdienstes“ hineinzuführen. Die rationale, vernunftmäßige Aufklärung durch Vorträge und Ausspracheabende mag mit Hilfe exakter naturwissenschaftlicher Beweisführungen vielleicht einige der spiritistischen Medien und der Wunderheiler entlarven. Der größte Teil des Aberglaubens ist auch nach Ansicht der protestantischen Kirche wissenschaftlich ebensowenig wegzudiskutieren wie echte Lebensnöte und Gewissensentscheidungen. Der Weg muß von der Lebensangst und der Lebensgier zu einem neugewonnenen Gottvertrauen führen. Hilfe und Geborgenheit in der christlichen Gemeinschaft spielen dabei eine große Rolle. Sie lindern das schmerzliche Gefühl des Einsamseins und können über Einzelberatung und Gruppenseelsorge zu einem neuen Lebensgefühl führen. Der Geistliche muß Psychologisches und Theologisches auseinanderhalten können und begriffen haben, daß es neben einem Zurück zu Gott, einer Anerkennung der Schuld und Vergebung auch ein Zurück des Menschen zu sich selbst gibt.
Dr. Paul Bauer hat in seinem kürzlich erschienenen Buch über den heutigen Aberglauben die Gesichtspunkte zusammengefaßt, die für die protestantische Seelsorge am Abergläubischen erforderlich erscheinen. Die Einzelseelsorge steht dabei im Mittelpunkt. Ihre Aufgabe ist es, durch geduldige Gespräche und Diskussionen die abergläubischen Widerstände abzutragen.
Es ist auch wichtig, den Abergläubischen in einen anregenden Kreis gläubiger Menschen einzubeziehen und ihn womöglich durch Gruppenarbeit anzuregen. Eine solche Arbeitstherapie mit konkreten Aufgaben in der Gemeinde pflegt die besten Erfolge zu zeitigen. Dann folgen als darüberstehend die Sakramente, in denen das Wort Gottes auf die Tiefenschichten heilend wirkt.
Schließlich betonen die evangelischen Theologen, wie wichtig es sei, die Kirche selbst und die Gemeinde im weitesten Sinne von abergläubischen Schatten zu reinigen.
Aberglaube und Volksglaube
Unmittelbar mit diesen Gedankengängen ist auch der Volksglaube verbunden. Die Volkskunde möchte den Inhalt des Aberglaubens ohne religiöse Wertung oder naturwissenschaftliche Kritik entwicklungsgeschichtlich fassen. Dabei werden häufig Volksglaube und Aberglaube zusammengeworfen. Der Begriff Volksglaube ist umfassender. Nicht jeder Aberglaube ist ins Volk gedrungen. Aber sehr vieles im Volksglauben ist reiner Aberglaube.
Wie ein Volk Volkslieder, Volkstänze und Volksbräuche hat, so besitzt es auch seinen Volksglauben. Goethe sagte – und darauf berufen sich die Volkskundler allzugern – praktisch genommen lasse sich der Glaube vom Aberglauben überhaupt nicht unterscheiden.
»Beim Glauben kommt alles darauf an, daß man glaube; was man glaube, ist völlig gleichgültig. Mit dem Wissen ist es gerade das Gegenteil; es kommt gar nicht darauf an, daß man wisse, sondern was man wisse, wie gut und wieviel man wisse.«
Der Volksglaube ist tief in der Kollektivseele verwurzelt und blüht ebenso im Gemüt der Großstadtmenschen, deren Denken von Vernunft und Logik stärker geprägt ist. Dieses Glaubensgut wirkt mit Vorliebe in der Stille, im einzelnen. Es manifestiert nicht nur ein Tun, sondern auch eine Haltung. Gerade diese Haltung, die oft gläubig ein »gesunkenes Kulturgut« verteidigt und ohne Konfrontierung mit der Gegenwart der Vergangenheit zugewandt ist, gefährdet den Menschen. Es gibt viele Praktiken auf der Grenze zwischen Volksglaube und Aberglaube, die nicht einwandfrei bestimmt werden können. Der Bereich der Volksmedizin ist mindestens zum Teil umstritten. Gleiches gilt von zahlreichen Kult und Zauberbräuchen, die vom Christentum geduldet werden.
Dort, wo im Volksgut eine Haltung entsteht, die Unzeitgemäßes rückwärts verteidigt, die, um es theologisch auszudrücken, statt der Botschaft des Heils und der Erlösung zu folgen, ein Schuldigwerden im Glauben provoziert, ist der Übergang zum Aberglauben gegeben.
Abgrenzungen zwischen Volksglaube und Aberglaube enthalten Werturteile und Vergleiche. Und doch ist Volksglaube etwas Eigenes. P. Drews hat es in den Hessischen Blättern für Volkskunde so treffend gesagt: »Wer mit dem Volke in einigermaßen enger Beziehung gestanden hat, der weiß, daß die offizielle kirchliche Anschauung, die vom Volke unwidersprochen hingenommen wird, deshalb noch lange nicht innerlich angeeignet ist. Vielmehr steht neben und unter einer breiten Gruppe christlicher Gedanken und Anschauungen beim schlichten Manne eine mindestens ebenso große Gruppe von Ideen, die das Volk sich selbst geschaffen, selbst gebildet hat und woran die nie rastende, wenn auch noch so konservative Seele des Volkes immer weiterarbeitet. In dieser Religion lebt das Volk in Wahrheit, sie hat sein Herz, sie bildet seinen Trost, in sie legt das Volk auch seine Poesie nieder. Vieles, was die kirchliche Unterweisung in das Volk hineinträgt, wurzelt schlechterdings nicht, es geht spurlos an der Volksseele vorüber; weniges wird so aufgenommen, wie es gemeint ist, trägt dann aber oft eine beschämend edle und schöne Frucht, vieles andere aber ergreift die Volksseele und macht es sich in ihrer Weise zurecht, bildet es um und schafft so etwas, das ein neues Gesicht, einen neuen Sinn und Inhalt bekommt.«
Volk und Volksglaube haben heute nicht mehr die Kraft von einst. Trotzdem muß man, wenn vom Volksglauben gesprochen wird, diese Eigenständigkeit sehen und die Unterscheidung vom Aberglauben nicht nur im Absolutheitsanspruch der christlichen Lehre, sondern auch in der Struktur des Gewissens und der Beschaffenheit des Seelengrundes suchen. Es kommt doch sehr auf den einzelnen an, ob etwas Glaube oder Aberglaube ist.
Das Glücksverlangen des Menschen
Nachdem so viel vom Glauben gesprochen wurde, beunruhigt uns immer mehr die Frage, wie der Glaube faktisch und praktisch den Aberglauben zu überwinden gedenke. Wie steht es mit der Urangst des Menschen, wie mit seinem Glücksverlangen? Es wird als eine sehr wichtige Quelle des Aberglaubens angesehen. Auch die Kirche muß dieser Realität Rechnung tragen, wenn sie eine wirkungsvolle Barriere gegen den Aberglauben schaffen und verhindern will, daß sich immer mehr Menschen vom Zeugnis des Glaubens abwenden. Der Kirche ist wiederholt der Vorwurf gemacht worden, daß sie in Urnöten des Daseins vom Glauben her nicht zu helfen vermag. Sie hat zwar vom Wort her den Aberglauben bekämpft, aber von der Tat her die Ausweglosigkeit nicht gemeistert, die zum Aberglauben führte und auch weiterhin führt. Solange es Menschen gibt, werden sie immer ein Verlangen nach Glück und Glückserfüllung in sich tragen. Das Liebendürfen und Geliebtwerden wird ihre Seelen immer bewegen. Sie werden immer der Urangst des Herzens ausgeliefert sein.
Das Glücksverlangen hat mit den Urgewalten des menschlichen Herzens, mit den Tiefenschichten des Unbewußten zu tun und mit der Existenz des Menschen als Urentwurf. Mit Verstandesweisheiten läßt sich da nichts beschwichtigen, wenn es im Menschen an der absoluten Macht des Ewigen fehlt, die uns allein vom Bann des Aberglaubens zu befreien vermag. Sie allein vermag auch die Angst zu meistern, die als Unbehagen, als Ungewißheit und als Wunsch nach übertriebener materieller Sicherung unseres Daseins immer mehr zunimmt und durch Gefährdung der Seele den Aberglauben begünstigt.
Das Erlebnis der Urangst
Wo in den Glauben Angst einbricht, formt die Angst den Glauben. Sie macht ihn zum Mittel des Verlangens nach übernatürlicher Daseinssicherung. Der alte Dämonenglaube bemächtigt sich des Menschen. Das kann durchaus auf sehr neue und moderne Weise geschehen.
Ein Mensch, der ein drohendes Übel erwartet, verliert sich in Unlustgefühlen, er hat Angst. Dieser Seelenzustand der Angst unterscheidet sich vom Schreck, der die seelische Reaktion auf ein ganz bestimmtes, zeitlich begrenztes kurzes Ereignis ist, auf einen Schock des Gemüts.
Auch mit Furcht hat Angst nichts zu tun. Furcht ist immer auf etwas Bestimmtes bezogen. Man kann befürchten, braucht aber nicht Angst zu haben. Man kann auch Ehrfurcht vor einer Sache oder einem Objekt empfinden, ein tiefes Gefühl der Verehrung haben. Darin kommt ein Sich kleiner Fühlen dem Großen gegenüber zum Ausdruck. Im Seelenvorgang »Ehrfurcht« macht sich ein dämpfender Einfluß der Scheu auf das Selbstgefühl bemerkbar, ein »frommes Schaudern«. Es ist das Ergriffensein. Es kann den Lebensprozeß fördern, während Angst ihn in jedem Falle hemmt.
Angst hat Dauer. Das Gemüt des Menschen kann sich in einem andauernden Zustand der Angst befinden. Eine ängstliche Stimmung kann das Dasein ergreifen und beherrschen. Angst meint das Bevorstehende. Sie hebt die willensmäßige und verstandesmäßige Steuerung der Persönlichkeit auf.
Angst hat mit der Sorge das Gequältsein gemeinsam. Während aber Sorge immer Sorgen um etwas ist, meint Angst immer etwas Unbestimmtes, Unbestimmbares.
Die in die Zukunft gerichtete Angst erweist sich oft als Folge einer Verirrung des Gewissens. Sie erzeugt ein allgemeines Gefühl des Unbehagens, das das ins Leere gestürzte Dasein durch Aberglauben absichern möchte.
Der Ruf des Gewissens
Unter Gewissen wollen wir durchaus im Sinne der Existenzphilosophie die Sorge verstehen, die den Menschen aus der Verlorenheit an die Welt und damit auch an den Aberglauben zurückruft in die Ordnung der ethischen Werte. Das Gewissen verschafft unserem Wertgefühl Ordnung. Wir stellen uns aus innerer Freiheit unter eine Pflicht, um das Dasein nicht nur zu bestehen, sondern auch, um es im Sinne von Gut und Böse, von Recht und Unrecht zu gestalten.
Allgemein wird das Gewissen als ein Ruf, eine Stimme bezeichnet, die wir aus unserem Innern vernehmen. Sie wertet unser Handeln als gut oder böse. Im Verlauf der Geschichte hat man verschieden darüber gedacht. Der Philosoph Max Scheler (1874 – 1928) hat sich dann von der Phänomenologie her besonders intensiv mit der Gewissensforschung beschäftigt und vor allem das Schulderlebnis untersucht. Seiner Meinung nach ist das Gewissen unfehlbar. Zum Wesen des Gewissens gehört das Sichersein um die Schuld. Der Mensch ist häufig Gewissenstäuschungen ausgesetzt. Überall dort, wo unsere sittliche Erkenntnis oder unsere menschliche Einsicht mit unseren Wünschen und Bedürfnissen nicht übereinstimmt, kommt es zu einem Nicht Hören auf den Ruf des Gewissens. Wir versuchen dann, uns selbst zu betrügen, um der wachsenden Schuld zu entgehen. Aus diesem Grunde denken wir uns immer mehr Rechtfertigungen aus. Ein sittliches Leben, eine ständige Auseinandersetzung mit dem Gewissensruf, verfeinert unser Schuldgefühl. Beim Wachsen der Schuld stumpft dann das Gefühl für ihr Vorhandensein zunehmend ab. Daraus erklärt sich auch die Gewissenlosigkeit etwa bei vielen Berufsverbrechern.
Jede Schuld aber drängt auf eine Wiederherstellung der verletzten Ordnung. In der Seele des Menschen wird diese Funktion von der Reue ausgelöst. Reue bewirkt in diesem Sinne verstanden eine Art Selbstheilung der Seele. Sie hilft, die Schuld aus dem Lebenszentrum der Person zu entfernen, und wirkt befreiend. Von dieser Fragestellung her gesehen, müssen wir das Gewissen auch als die Einsicht in das Gute verstehen.
Wir erwähnten schon, welche Rolle das Gewissen in der Existenzphilosophie Martin Heideggers als Ruf zum Selbstseinkönnen spielt. Doch wird der Ruf nur von dem gehört, der ihn versteht, der »Gewissen haben will«. Das Gewissen ist somit als Entschlossenheit des Daseins verstanden, zum »Eigentlich Sein«, zum »Man selbst Sein« zurückzukehren. Heidegger zeigt gerade bei dieser Argumentation eine große Verwandtschaft mit dem dänischen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard (1813 bis 1855).
Die Psychoanalyse mit Sigmund Freud (1856 – 1939) hat sich besonders für den Ursprung des Gewissens interessiert und die Verbindung zur Neurose geschaffen. »Das Gewissen ist die Wahrnehmung von der Verwerfung in uns bestehender Wunscherfüllung«, formulierte Freud. Nach seiner Lehre ist das Über Ich im Menschen Träger der moralischen Forderungen und des Ich Ideals. Es formt sich am Elternbild, da in einer gesunden Familie dem Kind die Eltern als vollkommene Wesen erscheinen. Erst später löst sich das Elternbild allmählich vom eigenen Ich Ideal. Es übernimmt dann die Einflüsse der Umwelt im weiteren Sinne. Nun werden die Lehrer, andere Autoritäten oder auch Wirkungsbereiche der Kultur zu Vorbildern. So wächst das unpersönlich gewordene Ich zum allgemeinen Gewissen heran. je stärker die Bindung an die Eltern war und je schneller unter dem Einfluß elterlicher Autorität die Verdrängung erfolgte, um so strenger pflegt nach psychoanalytischer Auffassung das Über Ich als Gewissen über das Ich zu herrschen.
Ein strenges Über-Ich kann aber auch von den Eltern auf die Kinder übertragen werden. Wenn es gar zu streng ist oder aus anderen Gründen mit den übrigen seelischen Instanzen nicht harmoniert, entsteht eine anpassungsbehinderte Haltung der Außenwelt gegenüber. Es kommt zu Triebhemmungen, zu Triebangst und zu Schuldgefühlen, die das Wunscherleben unseres Ich entmutigen. Das Ich schafft sich gern Abwehrmechanismen gegen einen Einbruch der Schuldgefühle, es verdrängt das Gewissen. Das ist eine von vielen möglichen Formen der krankhaften Verirrung. Die betroffene Person wird dadurch für den Aberglauben anfällig. Die abergläubische Haltung bietet einen Ausweg.
Oft versucht daher der Mensch mit seinem Gewissen und den von ihm diktierten Schuldgefühlen dadurch fertig zu werden, daß er sie auf seine Umwelt projiziert. Er sucht sich ein Opfer und erklärt es zum Sündenbock, um dadurch das eigene Gewissen zu beschwichtigen. Die eigenen Schwierigkeiten werden auf dieses Opfer übertragen, es wird dafür verurteilt.
Solche Verirrungen gruppieren sich in der Regel um Zwangsneurosen als verdrängte sündhafte Wünsche und um die Melancholie als krankhafte Antwort auf den Verlust eines geliebten Objektes. Freud und seine Schule haben nachgewiesen und das sollte im Hinblick auf eine Deutung des Aberglaubens vor allem beachtet werden , daß alle Ich Abwehrmechanismen gegen Schuldgefühle, ganz gleich, wo und wie sie auftreten, krankhafte neurotische Verhaltensweisen der Person zur Folge haben.
Während wir bei einem zu starken Über Ich Ich Abwehrmechanismen gegen das Gewissen schaffen und damit das innere Gleichgewicht verlieren, verfallen wir bei einem zu schwach ausgeprägten Über Ich leicht der Verwahrlosung und der Kriminalität. Psychoanalytisch betrachtet ist Schuld also ein krankhaftes Phänomen, das die Entwicklung des Ich behindert, da es seine Wünsche beschneidet.
Schuldgefühle müssen zutage treten, wenn ein Zurückbleiben hinter den Forderungen der Freiheit, der Liebe, der Wahrhaftigkeit und der Opferbereitschaft vermieden werden soll. Sie führen den Menschen zu sich selbst, in seinen Mittelpunkt zurück.
Aberglaube und Fehlleistung
Als einen weiteren Gradmesser für die Beschaffenheit des inneren Menschen in unserer Zeit können die sich immer mehr ausbreitenden Fehlleistungen angesehen werden. Auch sie hängen mit der Problematik »Gewissen Verdrängung« und mit der neurotischen Grundstruktur des abergläubischen Menschen zusammen.
Wenn sich jemand verspricht, wenn er etwas vergißt, etwas verliert, sich verschreibt, sich verliest, sich vergreift oder etwas unbeabsichtigt beschädigt, sagen wir, er hätte eine Fehlleistung begangen. Und wem passiert so etwas wohl nicht täglich? Was ist eine Fehlleistung?
Die Tiefenpsychologie würde antworten, daß es sich dabei um Störungen oder Abweichungen im Vollzug an sich fehlerfrei durchführbarer Leistungen handelt. Solche Störungen können durch Abgelenktheit, Ermüdung oder Erregtheit eintreten, aber auch durch den Einfluß störender unbewußter Vorstellungen. Meistens stehen unbewußte Vorstellungen dahinter, die sich als Zwangsvorstellungen bemerkbar machen.
Bei der Ermüdung handelt es sich um einen rein funktionellen physiologischen Vorgang. Ein gutes Beispiel dafür ist etwa das Zigarettenrauchen. Ein starker Raucher, der sich das Rauchen abgewöhnen will, scheitert oft daran, daß er in Augenblicken nachlassender Bewußtseinsspannung dem eingeübten Automatismus nachgibt: Griff nach der Zigarette.
Jede Handlung beruht bekanntlich auf einer Verbindung von bewußter Absicht und ausführendem Akt. Unser Bewußtsein handelt nicht selbst, es entwirft nur das Handlungsziel. Die eigentliche Handlung wird automatisch durch körperliche Vorgänge ausgeführt. Es genügt meistens ein Bewußtseinsimpuls, um eine entsprechende Handlung auszulösen. Es genügt zu wissen, was wir schreiben wollen. Das Schreiben selbst ist ein automatischer Prozeß, aufgebaut auf einem bestimmten eingelernten Rhythmus. Bei Übermüdung und Überanstrengung ist die Leistungsfähigkeit herabgesetzt, so daß dann, wenn der automatische Prozeß einem allzu großen Tempo der Bewußtseinsimpulse ausgesetzt wird, Störungen in Form von Kreuzungen oder Hemmungen auftreten können. Dieser physiologische Teil der Fehlleistungen interessiert für unsere Fragestellung nicht. Für ein angemesseneres Verständnis des Aberglaubens als seelischem Vorgang ist der tiefenpsychologische Aspekt der Fehlleistung aufschlußreich, den wir kritisch beachten müssen.
Fehlleistungen spielen sich zwar bei vollem Bewußtsein ab, können von diesem aber nicht gesteuert werden. Es sind unnormale, krankhafte Leistungen. Bei jeder Fehlleistung ist uns etwas mißlungen. Unsere Handlung war falsch gesteuert und ist einen verkehrten Weg gegangen. Wie beim Aberglauben, der sich der Wahrheit verschließt oder als Folge einer Störung im Bereich des Glaubens zustande kommt, ist die Fehlleistung ein Irrtum des Bewußtseins.
Irgendwelche seelischen Kräfte wirken dem Bewußtsein entgegen. Der Mensch trägt einen Gegensatz in sich, der die Fehlleistung erzwingt. Sie erscheint nicht zufällig auf der Bildfläche unserer Person, sondern wird von seelischen Kräften gesteuert, die sich gegen unser Bewußtsein, gegen unser Ich, gegen unsere Vernunft richten.
In der Fehlleistung als aktivem Vorgang überschneidet sich ein unbewußter, unwillkürlicher Vorgang mit einem bewußten, willensmäßigen. Ein Redner eröffnet etwa eine Versammlung mit den Worten: » Ich erkläre die Sitzung für geschlossen. « In der passiven Fehlhaltung sperrt ein unbewußter unwillkürlicher Vorgang den bewußten willensmäßigen. Wir können uns an einen bestimmten Namen nicht erinnern, obwohl er uns auf der Zunge brennt.
Schon Sigmund Freud erkannte in der Fehlhandlung ein neurotisches Phänomen. Wenn wir bedenken, daß C. G. Jung die Neurose als ein Stoppzeichen vor einem falschen Weg und einen Mahnruf zum persönlichen Heilungsprozeß bezeichnet hat, wird die Beziehung der Fehlleistung und Fehlhandlung zum Aberglauben deutlich.
Fehlleistung und Fehlhandlung als Irrtümer des Bewußtseins und Aberglaube als Verirrung des Glaubens, des Gewissens und als Religionsersatz haben mit unbewußten Kräften zu tun.
Psychologisch betrachtet dürfte es sich um abgespaltene und unbewältigte seelische Energien handeln, die, statt dem Gesamthaushalt der Person zu dienen, ein Eigenleben gegen das Bewußtsein, gegen die Vernunft und gegen das Gewissen als Kontrollinstanz führen.
Der Aberglaube kann auch als Phänomen Fehlhandlungen der Person fördern, wenn man darunter im Sinne der Forschungen von J. H. Schultz seelische funktionelle Fehlhaltungen versteht. Gemeint sind Fehlreaktionen des beseelten Organismus, bei deren Entstehung und Fortdauer seelisch nervöse Faktoren eine groge Rolle spielen. Je größer die Störung, um so tiefer reicht sie ins Unbewußte. Die Neurose ist stereotyp. Sie neigt zur Zwangswiederholung, ist dem Erleben fremd und der Bewußtseinsverantwortung entzogen. Als mißglückte Lebensbewältigung zeigt sie im Äußeren einen lebenswidrigen Scheinsinn, birgt aber im Innern eine Tendenz zur Heilung, was beim Aberglauben der Rückkehr des verirrten Glaubens unter die Kontrolle des gesund funktionierenden Gewissens entsprechen würde.
Gefährdung des Menschen
Kehren wir zurück zum Menschen der Gegenwart, zu uns. Wir haben unsere innere Geschichte betrachtet, um dadurch ein besseres Verständnis für unser aktuelles Dasein zu gewinnen. Was ist dieses Dasein, wenn man es sozialpsychologisch sieht? Wir müssen da gleich mit einer Menge pessimistisch klingender, aber durchaus nicht pessimistisch, sondern analytisch zu verstehender Grundfeststellungen beginnen.
Pessimismus ist eine Schwarzseherei, die letzten Endes das menschliche Dasein für sinnlos hält. Der Optimismus hofft immer auf einen guten Ausgang und hält unsere Welt für die beste aller Welten, Eine psychologische Analyse der Tatsachen und Geschehnisse ist wertfrei. Sie zeigt den Zusammenhang der Dinge ohne Gemütsstimmungen.
Der Mensch von heute ist durch die Form seines Daseins gefährdet. Wir wurden zum Glied eines riesigen Apparates, den der Existenzphilosoph Karl Jaspers so treffend den Apparat der Daseins und Massenfürsorge genannt hat. Er droht die uns angestammte innere und gewohnte Daseinswelt, unsere Freiheit und Humanität zu zerstören, denn wir sind als freie Persönlichkeit durch die Herrschaft der Masse und in unserer individuellen Eigenart durch die um sich greifende Gleichschaltung, Nivellierung und Typisierung gefährdet. Unser Selbstgefühl ist in Gefahr, weil trotz aller sozialen Daseinsordnung und der zahlreichen Sicherheiten, die wir uns schon mit den Lebensversicherungen und Geldrücklagen schaffen, das Gefühl der Angst vor einem Bedroht¬sein wächst. Das ist keine lebensfremde Meinung, sondern eine Erfahrungstatsache, die medizinisch und statistisch in allen Kulturländern der Erde nachgewiesen ist. Das Ziel des Lebens, um das es sich zu leben lohnt, wird vielen von uns immer undeutlicher.
Wir sind auch in unserem leiblichen Dasein als Glied der Familie gefährdet, da die moderne Rationalisierung auch vor der Ehe und dem Sexualleben nicht zurückschreckt. Die Tiefenpsychologie hat so viel an Komplexen, Neurosen, Trieben und Minderwertigkeiten schonungslos enthüllt, daß den feinfühlenden Menschen nur noch ein Schauder über das eigene Innere und über die Entweihung der letzten Oasen des Intimen überkommen kann.
Wir sind aber auch als geistige Menschen gefährdet, wenn man bedenkt, wieviel an moderner Sophistik in unsere Umgangssprache einbricht. Wir betreiben fortgesetzt eine Verschleierung und Unehrlichkeit, wir würdigen den Geist zum bloßen Mittel der Propaganda im Dienste des rein Nützlichen und des egoistischen Fortkommens herab. Unsere heutige Welt der Technik zwingt alles, ihr zu dienen. Wir werden zum Mittel und denken statt in Qualität in Quantität. Wie sollen wir uns in einer Welt heimisch fühlen, die keinen anderen Sinn anerkennt als das Nützlichkeitsstreben brutaler Ellbogenfreiheit. Unsere moralischen, ethischen und geistigen Werte werden nicht mehr als einmalig empfunden. Wir glauben nicht mehr daran, daß sie mit dem einen Menschen oder Erleben unverkennbar und unverwechselbar geboren wurden und mit ihm zugrunde gehen. Wir bevorzugen nur noch Zweckwerte, die wir beliebig von einem Menschen auf einen anderen oder auch auf eine Sache übertragen können.
Zu den Gefährdungen des Menschen in unserer Zeit kommt zu allem Unglück das Überschütten der Bevölkerung mit abergläubischer Schmutz und Schundliteratur verschiedener Art. Ganze Industrien sind heute tätig, um das abergläubische Bedürfnis zu befriedigen, aber auch, um Leichtgläubige zu verführen. Und hierin liegt die Gefahr. Leichtgläubigkeit an sich ist noch kein Aberglaube. Sie fördert ihn aber und kann zur Wegbereiterin werden.
Der Mensch und die Lieblosigkeit
Der in Amerika praktizierende Psychotherapeut Clemens E. Benda hat unsere Gegenwart »das Zeitalter der Lieblosigkeit« genannt.
Der moderne Mensch spürt, daß ihn sein Wissen und die besonderen technisierten Formen unseres Daseins um den Glauben gebracht haben. Er verfällt einer »Luxusverwahrlosung«, wenn man darunter die gesundheitsschädigenden Auswirkungen des technischen Komforts versteht, der die natürliche Lebensweise nachteilig verändert? Darüber gibt es zahlreiche Untersuchungen, vor allem von seiten der Soziologie.
Wir haben Jahrhundertelang einer Entwicklung gedient, die uns die perfekte Maschine brachte, uns aber zugleich zu den Maschinen gemacht hat, die wir täglich erfinden. Nun müssen wir schmerzlich erkennen, daß die menschlichen Beziehungen nicht von der Verstandeslogik geregelt werden, sondern vom Herzen und von der Seele.
Benda sagt treffend, Lieblosigkeit sei mehr als nur Verlust der Liebe. Er definiert diesen Begriff als positiven Zustand der Gefühlskälte und der Rücksichtslosigkeit, der Feindseligkeit und des Argwohns. Auch diese Atmosphäre ist ein günstiges Sprungbrett in den Aberglauben hinein. Der einzelne sucht wenigstens sein eigenes Glück zu sichern, um in der kalten Umwelt eine Zuflucht zu finden. Er glaubt an allerlei Hokuspokus als einen Kompaß, der ihn ganz persönlich vor Bösem warnt und ihn mit seinen guten Voraussagen innerlich wärmt. Er findet etwa im Spiritismus eine seinen menschlichen Wünschen entsprechende Ersatzreligion und verfällt den Mitteln der Quacksalberei, um jung, schön und begehrenswert zu bleiben. Dahinter steht oft die große Einsamkeit, die nach Geborgenheit und Liebe schreit.
Unsere geistige Situation
Die geistige Situation unserer Zeit ist wiederholt und immer wieder anders gedeutet worden. In einem Punkt sind sich jedoch alle Kritiker einig. Sie werfen unserer Epoche zunehmenden Autoritätsverlust vor.
Was ist Autorität? Man besitzt sie nie für sich selbst, sondern immer für andere. Sie bedeutet eine Beziehung zu anderen Menschen, in denen die Autorität ihr Ziel hat. Sie kann dem einzelnen, der ihr Träger ist, Würde geben. Sie bleibt aber auch dort bestehen, wo ihr diese Würde fehlt, mit der sie verbunden sein sollte.
Wo der Autorität Würde fehlt, scheint sie uns eine rein äußere Macht zu sein oder rohe Gewalt. Und doch müssen wir scharf zwischen Machtstellung und Autorität unterscheiden. Wenn man mit ihrer Hilfe Gehorsam erzwingt oder wo sie dem persönlichen Vorteil des Übergeordneten in seinem Verhältnis zum Untergeordneten dient, ist sie ein reines Instrument der Macht. Wo sich die Persönlichkeit einer sittlichen Haltung und Ordnung verbunden weiß, bleibt sie auch dann noch Autorität, wenn ihr ihre äußere Macht genommen wird. Das Sittengesetz in Würde und Ordnung verwirklichen, durch höhere innere Ordnung zum Sachwalter der menschlichen Ordnung werden heißt Autorität als inneren Besitz gewinnen. Sie wird in ihrer Kraft durch die Einschränkung auf einen bestimmten Amtsbereich oder auf Teilgebiete nicht gemindert. Sie überzeugt durch Wahrhaftigkeit.
Was sollen aber die Menschen unserer Tage, insbesondere die Jugendlichen, von der Autorität halten, wenn das, was sie jetzt verkündet, morgen schon unwahr geworden ist oder widerrufen wird? Wenn das, woran ich glaube, in Frage gestellt wird, verfalle ich einem Aberglauben, einem Ersatz.
Welche Therapie ist zu empfehlen? Es wäre zugleich eine Therapie des Aberglaubens. Die Tiefenpsychologie hat die Antwort bereits gegeben. Bei allem, was wir Menschen tun, sollten wir mit dem Urgrund, aus dem heraus wir es tun, verbunden sein. Von diesem Urgrund nimmt alle Erneuerung ihren Ausgang.
Kräfte der Umwelt
Der Mensch ist als Persönlichkeit für das verantwortlich, was er glaubt oder ablehnt. Uns können aber auch Glaubensformen wie Fehlhaltungen und Neurosen von der Umwelt zugefügt werden. Unsere Haltung wird mitbestimmt von frühkindlichen Einflüssen der Umgebung, von der Art der außerfamiliären Erziehung mit ihren Problemen, von der Arbeitswelt, in die wir eingefügt sind. Viele Quellen können zusammenwirken und Charakteranomalien hervorrufen, die eine abergläubische Haltung begünstigen. Sie können mit unangepaßten mitmenschlichen Beziehungen, mit einem belastenden Betriebsklima oder auch mit falschem Arbeitseinsatz zu tun haben. In allen Fällen liegt ein Mißverhältnis zur Um und Mitwelt vor, das eine seelisch krankhafte, also neurotische Haltung zur Folge hat.
Viele Handlungen des Menschen werden von sogenannten Massenpsychologie beeinflußt. Wo gemeinsame soziale, ideologische oder durch Not und Erregung gezeichnete Voraussetzungen zur Aktivierung der niederen Schichten im Menschen, der Triebe, Affekte und Instinkte führen, entsteht nach Auffassung der Massenpsychologie der hypnoseähnliche Vorgang der Massenpsychosen. Wenn die Unzufriedenheit und Erregbarkeit der Masse einen bestimmten Grad erreicht hat, gehorcht sie blindlings einem Anführer.
Eckart Wiesenhütter hat den Fall eines Geistlichen untersucht, der im Dritten Reich nach reiflicher Abwägung der Vor- und Nachteile zu einer Ablehnung Hitlers gekommen war. »Als Mensch, der alles gründlich zu tun oder zu erledigen bemüht war, nahm er sich vor, Hitler auch von Angesicht zu Angesicht zu sehen und zu beurteilen. Die Gelegenheit bot sich bei einer Massenversammlung. In dieser wuchs seine Abneigung gegen die Theatralik, die billige Argumentation und Massensuggestion Hitlers ganz enorm. Zu seinem großen Erstaunen verhinderte diese Abneigung keineswegs, daß er in der zweiten Hälfte der Rede, von den Massen mitgerissen, auch >Heil< und >Bravo< brüllte und mitklatschte. Er konzentrierte seinen Willen darauf, sich diesem Zwang zu entziehen, jedoch umsonst. Noch nach Wochen mußte er über sich und sein Verhalten den Kopf schütteln und konsultierte einen Psychiater, um eine Erklärung zu erhalten. Dieser versäumte nicht, in den Träumen nachzuforschen, ob vielleicht der bewußten Ablehnung eine um so stärkere unterbewußte Befürwortung und Erhöhung Hitlers entspräche, was dann die Reaktion erklären könnte. Die Nachforschungen blieben vergeblich. Der Geistliche war auch kein Fanatiker, kein Streiter wider Hitler. Seinem abwägenden und humorvollen Wesen entsprechend war er vielmehr geneigt, jedem Menschen irgendwie gerecht zu werden, auch den Abgelehnten als Kind und Geschöpf Gottes zu betrachten, das einen Sinn im Leben zu erfüllen habe.«
Die Forschung ist sich darüber einig, daß ein Mensch in seiner Ganzheit trotz individueller Neigungen ein soziales Wesen ist und bleibt, daß er von Störungen, Tendenzen, Anschauungen beeinflußt wird, die er in ihren Bestandteilen und Ursprüngen weder übersieht noch sich bewußt machen kann. Von der Masse ist er immer nur in Teilaspekten seiner Person isolierbar. Schon Sprache, Kultur, Wirtschaft und Politik sind solche allgemeinen Verbindungen. Deshalb sprechen wir vom Menschen der Gotik, der Renaissance, des Barock, der Moderne. In jedem Kollektiv oder jeder Sozietät gibt es Dinge, die über den einzelnen hinausgehen und ihn regieren, auch wenn er sich anders entscheiden möchte. Der westliche Mensch neigt wesentlich zur Isolierung und Individualisierung. Er kann Fehlhaltungen im Kollektiv entgehen und damit Neurosen vermeiden, wenn er sich ein festes Ordnungssystem schafft. Der östliche Mensch geht viel mehr im Kollektiv auf. Ihm erwachsen daraus Nöte, die immer stärker nach individualisierung und Isolierung rufen.
Heute werden von der sozialen Umwelt des Menschen sein Geist, seine persönliche Verantwortung, seine individuelle Lebensplanung kollektiviert. Der Kultursoziologe Hans Freyer hat in seinen Untersuchungen wiederholt darauf hingewiesen, daß der heutige Mensch einem Kleinbetrieb in der Familie einen anonymen Arbeitsplatz in der Fabrik vorzieht, Er lägt sich gern bis in seinen Lebensstandard hinein verwalten und nimmt auf dem Weg des leichtesten Widerstandes die Nöte, die Hysterie und die Zerrissenheit der Masse in sich auf. Er ist seelischen Erkrankungen von außen, Sozialneurosen ausgesetzt, zu denen der Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl, auch die provisorische Daseinshaltung, die fatalistische Lebenseinstellung und das kollektivistische Denken zählt. Viele leben in einer Atomkriegserwartung. Andere lassen sich bequem schieben, sind lieber untergeordnet als selbst verantwortlich und übertragen alle Schuld auf die allgemeine Wirtschaftslage oder die Politik. Das wirtschaftliche, politische, militärische, kulturelle oder religiöse Gebiet kann Fehlhaltungen, Spannungen, Störungen, Entgleisungen in Form von Kollektivneurosen oder Sozialneurosen in das Leben des einzelnen hineinprojizieren und ihm damit den Weg in den Aberglauben ebnen.
Der entwurzelte Mensch
Nach dem Zusammenbruch von 1945 spielte die Fehlhaltung durch Entwurzelung eine große Rolle, die bei Millionen von Menschen in der Bundesrepublik noch nicht überwunden ist.
Hierzu ein therapeutisch untersuchter Fall, den uns Eckart Wiesenhütter berichtet:
Ein Graf mußte in seinen besten Jahren seine ausgedehnten Besitzungen im Osten 1945 verlassen. »Er war ein sehr gesunder, sportlicher, erfolgreicher Mann, war im Krieg in wenigen Jahren zum Oberstleutnant d.R. aufgestiegen und hatte alle Strapazen des Krieges, Verwundungen und Wechselfälle des Lebens gut überstanden. Sein gesunder Instinkt hatte ihn dazu geführt, entgegen dem Rat und der Tradition der Familie eine bürgerliche Frau zu heiraten. Nun nach der Flucht mußte er mit drei Kindern nach Jahren einer bedrückenden Existenz in einem Flüchtlingslager in eine Zweizimmerwohnung eines Flüchtlingswohnblocks umziehen und verdiente sein Brot durch eine Bürotätigkeit. Nach außen und in seiner Haltung blieb er gerade, offen, umgänglich, freundlich. Aber die Enge und die Subalternität ließen ihn doch innerlich keine Verwurzelung in dem neuen Leben finden. Immer wieder explodierte er in unkontrollierten Affektentladungen daheim, die sogar einige Male dazu führten, daß er für wenige Tage in eine Heil und Pflegeanstalt eingeliefert werden mußte, bis die Tobsucht abgeklungen war. Bald kam ein labiler Hochdruck hinzu, und noch nicht 45jährig starb er an einem Schlaganfall. Die Ehefrau wies alle Zeichen einer Neurasthenie auf, die sich erst nach dem Kriegsende entwickelt hatte. Auch die Kinder zeigten psychische Beeinträchtigungen. Der älteste Sohn kämpfte mit unbewußten und teils bewußten Haß und Racheimpulsen gegen den Vater, die ihn trotz guter Begabung in der Schule scheitern ließen. Die zweite Tochter war ein höchst sensibles, blasses, kränkliches, eingeschüchtertes Wesen von hoher Intelligenz, die aber nicht die geringste Durchsetzungskraft in der Schule und im Leben aufwies; die kleinste Schwester ging den Weg einer über die Grenzen von Moralität und guter Erziehung hinausgehenden Raffinesse und Schmeichelhaftigkeit. Die ganze Familie kann so typisch für eine Abstiegsneurose, vor allem beim Vater und von diesem ausgehend, angesehen werden. Er konnte die Entwurzelung innerlich nicht überwinden.«
Die Frage muß immer wieder lauten: Wo sind die Wurzeln des Aberglaubens, die ihn zu allen Zeiten und bei allen Völkern auf den verschiedensten Zivilisationsstufen trotz aller Aufklärung wuchern lassen? Unser Graf ging zugrunde, weil er mit seiner Neurose der Entwurzelung und seinem »affektiven Feld« nicht fertig wurde. Hätte er bei weniger bekenntnishafter Ehrlichkeit seine innere Ausweglosigkeit durch eine Ersatzbefriedigung zu lindern vermocht? Wo in ähnlichen Fällen eine solche wesensfremde Situation auf dem Wege der Ersatzbefriedigung angenommen wurde – nach 1945 wurden Tausende solcher Fälle untersucht -, zeigten sich bald kompensatorische Bestrebungen. Seelisch geistige Kompensationen dieses Ursprungs sind zwar noch kein Aberglaube. Sie schaffen aber eine innere Voraussetzung dafür. Sie schaffen sie sogar bei den übrigen Familienmitgliedern. Und das ist das Wesentliche an unserer Fragestellung und an unserem Problem.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß jeder Mensch, vor allem aber der seelisch Kranke, der Neurotiker, in der Spannung zwischen individuellem und sozialem Dasein steht. Er kann, je nach Veranlagung, in seinem Kollektiv untertauchen oder sich ihm weitmöglichst entziehen. Viele seiner Krankheitsursachen müssen im Verhalten des Kollektivs gesucht werden. Wie der einzelne seine Störungen und Neurosen in die Kollektivvorgänge hineingibt, so nimmt er an diesem Kollektiv als Summe menschheitsgeschichtlicher und individueller Prozesse teil. Die Psychotherapie hat hierzu den generellen Satz formuliert:
»Die Neurosen der Einzelmenschen und Gruppen stehen in Wechselbeziehung zu jeweils übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Reaktionen, Wandlungen und Krisen.«
Daraus ergibt sich eine gegenseitige Verantwortung. Die Seelenwissenschaft ist sich darüber einig, daß bei einem Nachlassen der kulturellen und religiösen Bindungen das Kollektiv zum Anlaß von Fehlhaltungen und Neurosen wird, die die Anfälligkeit ebenso für den Aberglauben wie für Asozialität, Kriminalität, Prostitution, Selbstmord und Alkoholismus fördern. Von der Umwelt her gesehen ist Aberglaube heute vielfach als ein Prozeß der Entwurzelung und der Heimatlosigkeit zu verstehen. Enttäuschungen im Kollektiv werfen den Menschen auf sich selbst zurück. Darauf folgt Vereinsamung und Isolierung, die ihn wieder in das Kollektiv zurücktreiben, diesmal in die Anonymität des Kollektivs, die sich mit Vorliebe dunkler Wege und Hintertüren bedient.
Aber auch hier folgt die Therapie auf dem Fuße. Wenn der Mensch mit metaphysischer Blickrichtung begreift, daß eine restlose Verwurzelung in einer auf ständigen Fortgang bedachten Welt doch nicht möglich ist und daß es auf ein über das Dasein hinaus Wachsen ankommt, werden in ihm auch gegen den Aberglauben abwehrende Mechanismen wachsen.
Aberglaube und Wissenschaft
Im Verlauf der bisherigen Betrachtungen ist wiederholt die Frage angeklungen, welche Rolle die Wissenschaft bei der Eindämmung des Aberglaubens spielt beziehungsweise spielen kann. Man hat uns gelehrt, insbesondere von den Naturwissenschaften eine Klärung unserer Zukunftsfragen und Welträtsel zu erhoffen. Kann die Wissenschaft ein wirkungsvoller Bundesgenosse bei der Bekämpfung des Aberglaubens sein?
Soweit sie Naturwissenschaft ist, ordnet sie die Wirklichkeit nach den Gesetzen der Logik. Sie hat unser Dasein vom Staubsauger bis zum Düsenflugzeug, von der Rechenmaschine bis zur Mondrakete perfektioniert. Aber sie gewinnt ihre Erkenntnisse immer nur am Wirklichen. Sie berührt nirgends das Wirkliche selbst, das Wesen. Ihre Methode ist die des Erklärens, der Unterscheidung, der Ordnung, der Systematisierung, der Zahl, des Maßes, der Quantität. Sie ist eine Folge der menschlichen Vernunft, die in Ursache und Wirkung denkt.
Aberglaube aber hat mit der Seele und mit dem besonderen Grund der Seele zu tun. Am zweckmäßigsten wird er von der Neurose her zugänglich, worunter wir in diesem Zusammenhang funktionell auftretende Seelenkrankheiten mit körperlich krankhaften Folgeerscheinungen ohne nachweisbare organische Veränderung verstehen.
Die Naturwissenschaft hilft uns mit ihren Methoden, den Aberglauben zu erfassen und seine Wirkungsstätten abzugrenzen. Sie bekämpft die Rückständigkeit unserer rationalen Welt. Wenn heute jemand zum Beispiel in der Wissenschaft überwundene Anschauungen vertreten würde, wäre er rückständig, nicht abergläubisch. Und wenn jemand falsche Behauptungen aufstellt, weil er die richtigen Bedingungen nicht kennt, handelt er nicht abergläubisch, sondern in Unkenntnis.
Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften sind die Seelenwissenschaften mit der Methode des Verstehens vertraut. Es ist ein großer Unterschied, ob ich einen Vorgang erklären oder verstehen möchte. Wenn ich erkläre, leite ich immer von einem vorhandenen Prinzip ab, Wenn ich verstehe, suche ich den Sinn und die Bedeutung. Ich möchte den Sachverhalt nicht nur von außen erfassen, sondern auch in seinem Innern, nicht nur in seinem Was, sondern auch in seinem Wie und in seinem Warum.
Julius von Negerlein hat in seiner »Weltgeschichte des Aberglaubens« zu der Problematik Aberglaube und wissenschaftliches Denken den sehr treffenden Ausspruch getan:
»Man lacht ihn aus, und doch steht die ganze Welt unter seinem Bann. Man glaubt ihn klein, und doch bezwingt er die Größten; altersschwach, und doch altert und stirbt er nicht; dumm, und doch meistert er die Klügsten. Man meint, sich seiner entschlagen zu können, wenn man den Boden verläßt, den er besitzt; aber, wie das unheimliche Männchen der deutschen Sage, hockt er schon auf dem Pfahl, der die neue Hütte trägt. Er reitet auf dem Rücken Unzähliger; sie fühlen sich unfrei und wissen nicht, weshalb. Deshalb muß es die Aufgabe der Wissenschaft sein, seine Spuren, wo nicht ihn selbst, zu erkennen. Wer ihn zu beseitigen imstande wäre, würde unermeßliche Kräftemengen für die Zwecke des sittlichen Schaffens auf dieser Welt auslösen können.«
Aberglaube und Geisteskrankheiten
In diesem Zusammenhang verdient jener Zweig der medizinischen Forschung besondere Beachtung, der sich mit der Heilung von Geisteskranken befaßt, die Psychiatrie. Sie hat zum Problem des Aberglaubens einen besonderen Zugang erarbeitet und muß ihm auch praktisch gewachsen sein, wenn es darum geht, vor Gericht ein entsprechendes Gutachten abzugeben. Es handelt sich um die Veranlagung der Eidetik. Die darauf aufgebaute Methode ist die wichtigste, mit der in der Psychiatrie Aberglaube untersucht wird.
Psychiatrisch gesehen ist Aberglaube nicht generell mit seelischer Erkrankung gleichzusetzen. Er gehört nach Konrad Zucker zu den Möglichkeiten des Erlebens eines jeden Menschen. Es gibt aber innerhalb der Psychiatrie zahlreiche Erkrankungen des Geistes mit inneren Erlebnissen, die zu abergläubisch anmutenden Verhaltensweisen führen. Es wird von Fällen berichtet, wo etwa ein Patient versichert, durch seine Nachbarn unheilvoll beeinflußt zu werden. Ein anderer zelebriert ein eigenartiges magisches Ritual, geht nur links um den Tisch herum, weil rechtsherum für ihn Unheil bedeutet. Ein dritter ist überzeugt, daß der an der Wand entdeckte Fleck den Tod seiner Frau bedeutet. Manche Patienten glauben, vom Teufel besessen zu sein oder radarüberwacht zu werden. Der Kieler Psychiater Heinz Völkel meint dazu, wenn ein Patient die normalerweise als frei erlebte Fähigkeit besitzt, den vorgestellten Gegenstand des Fühlens, des Wertens, des Wollens geistig zu ergreifen, und daran scheitert, dann gerät er in einen Zustand qualvoller Ratlosigkeit. Sie suggeriert ihm die wahrhafte Erklärung, seine Gedanken würden von anderen Menschen oder bösen Geistern beeinflußt. Die Ursache der Störung wird durch eine plausibel gemachte Begründung nach außen verlegt. Die außen objektivierte innere Not wird dann als real vorhanden angesehen.
Neben diesen Fällen, wo ja nur abergläubische Inhalte durch einen geisteskranken Menschen übernommen werden, treten höchst beachtliche Phänomene auf. Bei manchen Formen von Bewußtseinsspaltung (Schizophrenie) und auch neurotischen Störungen im Sinne unserer vorhergegangenen Ausführungen ist ein Aberglaube zu beobachten, der keinerlei Verbindung mit der dem Kranken bekannten abergläubischen Tradition hat.
Aus einem Vortrag Heinz Völkels zitieren wir den folgenden Fall: »Ein 24jähriger Student, der an einer Schizophrenie erkrankt war, hörte eines Morgens im Waschraum, wie das Wort >Ekel< ausgesprochen wurde. Dieses Wort war in irgendeinem harmlosen Zusammenhang gefallen und hatte gar nicht ihm gegolten, wurde jedoch von ihm als ganz persönliche Bedrohung im magischen Sinne eines Wortzaubers erlebt. Er geriet in einen Zustand ratloser Verwirrung, lief einige Stunden unstet umher und machte sich dann daran, einen Gegenzauber zu organisieren, um dem Wort, das er offensichtlich als ihm anhaftend erlebte, seine unheilvolle Wirkung zu nehmen. Er hockte in einer Zimmerecke nieder, legte das Wort >Ekel< in Streichhölzern auf den Fußboden, betrachtete es eine Weile nachdenklich und wirbelte dann die Hölzer in einem wilden Affektsturm durcheinander. Von diesem Augenblick an war die Sache für ihn erledigt.«
Dieses Beispiel zeigt, wie leicht bei einer seelisch geistigen Störung die in jedem Menschen ruhende magische Bereitschaft durchbrechen und die Herrschaft an sich reißen kann. Es ist auch beobachtet worden, daß nach Abklingen der Defektzustände häufig die abergläubische Haltung bestehenbleibt und zur Grundlage der eigenen Überzeugungen gemacht wird. Typen dieser Art finden sich gelegentlich unter Wunderdoktoren, religiösen Schwarmgeistern und Sektengründern.
Visionäre Erlebnisse, Gespenstererscheinungen und auch das »Zweite Gesicht« erklärt die Psychiatrie mit den eidetischen Veranlagungen des Menschen. E. R. Jaensch, der diese Erscheinung beschrieben und als erster für die Psychologie fruchtbar gemacht hat, verstand darunter die Fähigkeit, ein dargebotenes Bild auch später nicht nur als Vorstellung, sondern leibhaftig und anschaulich zu reproduzieren. Es kann empfindungstreu wiedergegeben werden. Dabei kann es sich um Gesehenes, Gehörtes oder auch um Tasterlebnisse handeln. Diese nicht gerade häufige Fähigkeit verliert sich in der Regel mit zunehmendem Alter. Solche subjektiven Anschauungsbilder, die den Charakter realer Wahrnehmungen können auch eine Verbindung mit affektbesetzten Antrieben mit Wünschen und Befürchtungen eingehen.
Mit Vorsicht erwähnen wir in diesem Zusammenhang die Untersuchungen von K. Schmeing, der in dreißigjähriger Arbeit im deutschen Raum über hundert »Spökenkieker« psychologisch untersucht hat. Die Ergebnisse veröffentlichte er 1954 in seinem Buch Seher und Seherglaube. Danach sind diese Seher ausnahmslos eidetisch veranlagt. Wenn wir den von der Parapsychologie inzwischen beanstandeten Untersuchungen Schmeings folgen dürfen, formt die gesteigerte visuelle Vorstellungskraft in Situationen besonderer Erwartungsspannung unter dem Gestaltungsdruck von mächtigen Emotionen die visionären Erlebnisse. Heinz Völkel merkt hierzu an, vorausgesehen wurde nur, was irgendwie auch vorauszusehen war. Wesentliche Ereignisse, wie die Räumung ganzer Dörfer während des letzten Krieges, sind in den Vorschauerlebnissen überhaupt nicht enthalten.
Zwangsneurosen und Aberglaube
Wo Zwangsneurosen auftreten, die den Menschen zwingen, eine irrational gefühlte Verpflichtung zu erfüllen, verwirklichen sich meistens Formen des sozial gefährlichen Aberglaubens. Sie dienen der Angstbildung und Angstabwehr, was ja einen wesentlichen Aspekt des abergläubischen Vorgangs ausmacht. Wie sich Aberglaube und Zwangsneurosen verbinden, können wir an einer Patientin studieren, die R. Brun in seiner »Allgemeinen Neurosenlehre« 1954 beschrieben hat. Wenn die Dame über eine Brücke ging, mußte sie jedesmal einen bestimmten Ring, den sie von der Mutter geschenkt bekommen hatte, vom Finger ziehen, ihn dicht über dem Geländer in die Luft werfen und wieder auffangen. »Wehe, wenn er ins Wasser fallen würde, dann wäre die Mutter unbedingt verloren! In analytischer Sicht beinhaltet das Spiel mit dem Ring ebensowohl: >Ich möchte, daß der Ring ins Wasser fiele und die Mutter dadurch sterben müßte<, als das Gegenteil: >Ich muß alles, was in meiner Macht steht, tun, um der bösen Wünsche gegen die Mutter Herr zu werden! Ich darf also den Ring unter keinen Umständen ins Wasser fallen lassen!< Die Triebgefahr, die in diesem Fall eines schweren Mutterprotestes aus der Tiefe der eigenen Persönlichkeit aufstieg, wurde nach außen projiziert und nun als Schicksalsmacht >magisch< beschworen.«
Einige Psychiater sehen in der zum Aberglauben führenden Zwangsneurose vorhistorische Elemente der Magie, des Dämonenglaubens. Jedenfalls decken sich ihre Symptome und ihr Verlauf auch in psychiatrischer Sicht weitgehend mit denen des Aberglaubens. Beide versuchen durch Gegenwehr, durch Gegenzauber ein inneres Spannungspotential zu lösen, in beiden wirken heimliche und hintergründige Schuldgefühle. In beiden Fällen ist die Welt »dämonisiert«, ihres Vertrautheits und Sicherheitscharakters beraubt. Dem Menschen ist klar, etwas Unsinniges zu tun, und doch vermag er diesem Zwang nicht zu entrinnen.
Dem steht gegenüber, daß uns Aberglaube nicht nur von außen überkommt, sondern durch unsere Haltung erst ermöglicht wird. Die Sterne, die Handlinien, das Wetter sind unabhängig davon vorhanden, ob wir sie zum Anlaß abergläubischer Praktiken nehmen. Der neurotische Mensch schafft durch seine gelebte Sinnwidrigkeit, durch sein gestörtes Selbstvertrauen und vor allem durch das Nichtvorhandensein einer überindividuellen Ordnung im Sinne von Überdauern der eigenen Existenz und von Geborgenheit die abergläubische Haltung.
Für Neurosen anfällige Zeiten, wie sie sich immer wieder nach sozialen oder politischen Krisen, Revolutionen, Kriegen besonders heftig einstellen, verhelfen durch ihre Beziehungslosigkeit zu echten Werten dem Aberglauben zu seiner Blüte. Aber da solche sozialneurotischen Situationen auch von dem bewegt werden, was der einzelne an eigenen Neurosen in diesen Kollektivprozess hineingibt, bleibt der Verantwortung beim einzelnen und bei seiner Daseinsproblematik.
Aberglaube und Völkerleben
Es gibt zahlreiche Versuche, eine Geographie des Aberglaubens zu entwerfen und seine Verteilung auf die Länder der Erde zu prüfen. Wenn wir Deutschland betrachten, fällt zum Beispiel auf, daß westlich der Elbe viele mystische Erscheinungen anzutreffen sind, vor allem das Zweite Gesicht und Spukphänomene. Östlich der Elbe überwiegt eindeutig das Zaubern und der Geisterglaube. Der ausgesprochene Spökenkieker ist in Westfalen, in der Heide und in Oldenburg zu Hause.
In Island dagegen kommt innerhalb des dortigen Aberglaubens Zauber nur selten vor. Rußland ist für seinen Zauberaberglauben bekannt. Auf dem Balkan wimmelt es von Kobolden, Dämonen, Baum und Waldgeistern, Wassergeistern und Drachen. Die Besessenheit spielt dort eine beachtliche Rolle. In Nordasien wird noch heute die Magie großgeschrieben, während der Aberglaube in Polynesien, wie schon Frobenius nachgewiesen hat, mystisch orientiert ist. Im großen Erdteil Afrika kommen wiederum magische und mystische Ausprägungen nebeneinander vor. Der Italiener Ernesto Bozzano hat darüber ein reizendes Büchlein »Übersinnliche Erscheinungen bei Naturvölkern« geschrieben, das 1948 in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Dennoch reichen diese Unterscheidungen nicht aus, um die Völker psychologisch zureichend charakterisieren zu können. Hans Weinert hat schon 1943 in seinem Buch »Hellsehen und Wahrsagen« gegen die zwischen 1933 und 1945 übliche These protestiert, die sogenannte »Nordische Rasse« sei besonders zur Hellsichtigkeit befähigt. Dr. Zucker hat auf die Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse im Osten und Westen Europas aufmerksam gemacht. Der griechisch russische Bilderdienst entfaltet eher zauberisch-magische Neigungen als der Heiligenkult des katholischen Bekenntnisses oder die Gewissenserforschung der Protestanten. Es wird aber vor allem der Volksglaube der einzelnen Völker sein, der die Form ihres Aberglaubens prägt und bestimmt. Eine gewisse Rolle spielen auch der Austausch und die gegenseitige Übernahme. Im übrigen geht, bedingt durch die Gleichheit der modernen technisierten Welt, durch alle zivilisierten Völker die gleiche Sorge um die Gefährdung ihrer seelisch geistigen Mitte, so daß sich der Aberglaube der Stadtbevölkerung in den einzelnen Ländern nur unwesentlich unterscheidet.
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