Menschheitsgericht (E.Sauer)

Erich Sauer

Das babylonische Menschheitsgericht

Auszug:
Kapitel 7 aus DAS MORGENROT DER WELTGESCHICHTE, Seiten 91-99.

Über der Menschheit lastet das babylonische Gericht. Alle Geistes- und Kulturgeschichte steht unter dem Zeichen dieser zerschmetternden Urkatastrophe. Vergeblich ringt die Welt gegen sie, ihren Bann mit eigener Kraft zu überwinden.

I. Die urgeschichtliche Menschheitszersplitterung

Drei Beweggründe führten nach der Heiligen Schrift zum babylonischen Turmbau: Trotz, Vereinigungswille und Ruhmsucht.

Dreifach ist darum auch das göttliche Gericht: Der nach „oben“ stürmende Trotz wurde durch das „Hernieder“fahren des HErrn (Vers 4, 5), der Wille zur Vereinigung durch die Zerstreuung und Zersplitterung und der ruhmsüchtige Ehrgeiz durch den Namen der Schande gerichtet.
Fortan ist gerade die Stadt, durch die man sich einen „Namen“ machen wollte (1. Mose 11, 4) gerade in ihrem Namen ‑ ein Symbol der Niederlage;
und Babel, die „Wirrstadt“, die Stadt der „Zermengung“, ist schon als bloßer Ortsname ein Beweis für die Ohnmacht des Sünders und die Zwecklosigkeit aller Rebellion gegen Gott.

II. Die sprachgeschichtliche Bewußtseinsverwirrung

Die Verwirrung der Sprachen ist zunächst etwas Vierfaches: eine Verwirrung von Wörterbuch, Grammatik, Aussprache und Ausdrucksweise („Phraseologie“), und in diesem Sinne gibt es heute ungefähr eintausend Sprachen und Hauptdialekte. Aber sie ist doch noch mehr.

Ganz gleich, welches die Ursprache gewesen sein mag, ob ‑ wie die Rabbinen und Kirchenväter meinten ‑ das Hebräische oder das Syrische oder ‑ was wohl das allein Richtige ist ‑ keine der uns überlieferten alten Sprachen: In jedem Fall ist die Gemeinsamkeit der Sprache mit einer starken Einheitlichkeit des Geisteslebens verbunden gewesen. Denn da die Sprache die lautliche Versinnlichung des Geistigen ist, muß auch das Geistige aller Menschen so lange in besonderem Sinne einheitlich gewesen sein, als noch der Ausdruck dieses Geistigen, die Sprache, einheitlich war.
Die Sprachenverwirrung war also zugleich eine Verwirrung der geistigen Grundanschauungen der Menschheit, indem durch eine Machtwirkung Gottes auf den menschlichen Geist, an Stelle der ursprünglichen Einheit, eine vielfache Zersplitterung des Denkens, Empfindens und Vorstellens eingesetzt wurde. So aber wird die Sprachenverwirrung zugleich eine Verwirrung des Bewußtseins.

„Die ursprüngliche Sprache, in der Adam im Paradiese alle Tiere benannte (1. Mose 2, 20), war gleichsam ein großer Spiegel gewesen, in dem sich die ganze Natur getreulich widergespiegelt hatte. Nun aber zerbrach Gott diesen Spiegel, und jedes Volk erhielt nur eine Scherbe davon, das eine eine größere, das andere eine kleinere, und nun sieht jedes Volk nur ein Etwas von dem Ganzen, nimmermehr aber das Ganze selbst. Deshalb weichen auch die Auffassungen der Nationen hinsichtlich Religion und Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Geschichte so stark voneinander ab, ja steigern sich oft bis zu gegenseitigem Widerspruch.

Dies alles mußte jedoch noch mehr Folgen nach sich ziehen. Mit der Zerrüttung des Weltbewußtseins verband sich eine weitere Zerrüttung des Gottesbewußtseins.

III. Die religionsgeschichtliche Glaubensentartung

Am Anfang der Menschheit steht der Glaube an den einen Gott da, der sich in dreifacher Weise offenbart:
in Natur (Röm. 1, 19; 20), Gewissen (Röm. 2, 12‑15) und Geschichte (1. Mose 1‑11).

Das spätere Heidentum ist dann eine Verkehrung dieses seines dreifachen Ursprungs:
Verzerrung der Erinnerung an die Uroffenbarung, Mißdeutung der Naturoffenbarung (Röm. 1, 23) und unklarer Seelenkonflikt mit der Gewissensoffenbarung ‑ das sind die drei Grundelemente außerheidnischen Religion.

Dennoch aber blieb die göttliche Einwirkung auf die Menschheit durch die a l l g e m e i n e Offenbarung bestehen. Gott hält den Menschen wie ein gewaltiger, starker Magnet. „Fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns“ (Apg. 17, 27). Gott sucht den Menschen, um in ihm selber ein Suchen zu wecken, ein Suchen nach ihm, wie die Mutter die Seele ihres Kindes sucht, damit es sie wieder suche, „daß sie den HErrn suchen sollten, ob sie ihn fühlen und finden möchten“ (Apg. 17, 27).

Daher ‑ von Gott selbst gewirkt ‑ das auffallend große Fragen und Suchen in der Völkerwelt, auch unter den Heiden. Aber das ist das Tragische, daß dies Suchen der Menschen von Satan, dem großen Betrüger, auf eine falsche Spur abgelenkt wird. Fortan ist der Mensch auf der Suche nach Gott und doch zugleich auf der Flucht vor ihm. Er will ihn haben und stößt ihn von sich; er sucht seine Segnungen und meidet seine Nähe; er will nichts von ihm wissen und kann doch nicht los von ihm (Bracker).

Die menschliche Urwurzel dieser ganzen religiösen Zwiespältigkeit und Entartung ist, nach der Belehrung von Paulus, die U n d a n k b a r k e i t.
Denn „obwohl sie wußten, daß ein Gott ist, haben sie ihn nicht gepriesen als einen Gott, noch ihm gedankt, sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert“ (Röm. 1, 21).

Im einzelnen aber sind es besonders die folgenden Elemente, die ‑ unter dämonischer Irreführung ‑ diese Umwertung aller Werte auf dem Gebiet des religiösen Lebens hervorgebracht haben.

Zunächst die Beobachtung des T r a u m e s. Denn da handelt ein Etwas, das sich „bewegte“, ,.hörte“ und „sah“, auch wenn alle Glieder des Leibes in Untätigkeit warenl Da „erschienen“ auch Tote, ebenfalls „handelnd“, und „bewiesen“ damit ihre „geist“‑artige Weiterexistenz.

Dann ferner die Beobachtung des T o d e s. Denn war es nicht hier diese „Seele“, dieses Unsichtbare, Innere, das nun mit dem letzten Hauch atemartig, luftartig den Körper verließ? Und dann wurde der Tote so still! Ist dies nicht ein Beweis, daß es keine Bewegung gibt, ohne das Wollen eines inneren Ich, einer innewohnenden wirksamen Atemseele?

In der N a t u r aber draußen ist alles v o l l  Bewegung: in den Pflanzen und Tieren, im Lauf der Gestirne, im majestätischen Gewitter, im Dahinbrausen der Ströme, im geheimnisvollen Magneten und im Feuerfunken des angeschlagenen Steines! Ist dies alles nicht ein deutliches, überwältigendes Zeugnis von dem Dasein und Innewohnen gewaltiger Wesen, die in allen diesen Bewegungen um uns herum wirksam sind? ‑ So aber wird die Natur von Geistern beseelt gedacht, und die animistische Weltanschauung ist entstanden.

Da aber der Mensch keine andere „Seele“ kannte als nur die seine, ist die Ausstattung dieser Naturgeister mit den Eigenschaften der Menschenseele nur das durchaus Folgerichtige, und da es sich ferner bei den Naturgeistern ‑ entsprechend der Wucht ihrer Elemente ‑ nur um Wesen gesteigerter Lebensform handeln konnte, mußten ihnen auch diese menschlichen Eigenschaften in gesteigertem Maße zugeschrieben werden. Dadurch jedoch entstand notwendig eine Verbindung von  D ä m o n  u n d  H e l d,  wobei das Dämonische durch das Menschliche ins Personhafte und das Heldische durch das Dämonische ins Übermenschliche gesteigert wurde. Dies ist aber das Wesen des heidnischen Gottbegriffes.

Hier nun setzt die religionsbildende Kraft der menschlichen  S p r a c h e  ein. Denn es ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes, unwillkürlich und oft unbewußt das Stoffliche und Geistige nebeneinander zu stellen und beide gegenseitig ineinander hineinzutragen. So „vermenschlicht“ die Sprache das Außermenschliche und redet von einer „lachenden“ Sonne, einem „freundlichen“ Zimmer, einem „munteren“ Bach; und umgekehrt überträgt sie das Außermenschliche in das Menschliche und spricht von einer „kalten“ Lieblosigkeit, einem „sonnigen“ Charakter oder einer „strahlenden“ Freude. Noch phantasiereicher spricht sie von den „Pfeilen“ der Sonne (den Sonnenstrahlen), dem „Stechen“ des Mondes (vgl. Ps. 121, 6), den „Fenstern des Himmels“ (Mal. 3, 10), den „Wimpern“ der Morgenröte (Hiob 3, 9).

Solange der Mensch nun an der Bildhaftigkeit dieser sprachlichen Vergleiche festhält, besteht keine Gefahr, im Gegenteil, sogar eine Bereicherung seines Geistes.

Im Augenblick aber, wo er, verfinstert durch die Sünde (Eph. 4,18; Röm. 1, 21b; 22) und irregeleitet durch dämonische Mächte, von dieser phantasievollen Umkleidung des Wirklichen mit Bildern fortschreitet zum Glauben an die Wirklichkeit dieser Bilder selbst, ist auch von dieser Seite aus eine neue Welt naturvergötternder Vorstellungen am Entstehen, und die Sprache reiht sich ein unter die Haupttriebkräfte heidnischer Religionsbildung.

Von Bedeutung ist hierbei auch das grammatische Geschlecht; denn in manchen Fällen war gerade dies das Entscheidende, ob man sich eine Gottheit männlich oder weiblich dachte.

Dies alles beweist, daß von einem eigentlichen, national gearteten Heidentum vor der Sprachenverwirrung nicht die Rede sein kann. Mögen einzelne, naturvergötternde Ideen schon vor dem babylonischen Gericht vorhanden gewesen sein: Das eigentliche Heidentum selbst hat erst mit der Beiseitesetzung der Völkerwelt und der Zersplitterung der Menschheit in getrennte Nationen seinen Anfang genommen (vgl. 5. Mose 4,19; Röm. 1,18‑32).

Dies alles aber geschah zugleich unter d ä m o n i s c h e r   M i t w i r k u n g.  Denn die Götter der Heiden sind keine leere Einbildung. Apollo und Diana, Aphrodite und Istar und wie sie alle heißen, sind, nach dem apostolischen Zeugnis des Neuen Testaments, keine bloßen, gedanklichen Personifikationen von Naturkräften oder reine Idealgebilde irrender, naturvergötternder Phantasie, sondern in ihrem Hintergrund sind irgendwie wirklich vorhandene, dämonische Geistmächte, die sich auf dem Wege okkulter Inspirationen, in national geartetem, mythologischem Gewande ‑ teils in lichtvoll‑poetischer, teils schauerlich‑düsterer Einkleidung ‑ den einzelnen Völkern offenbarten. Sonst hätte der große Völkerapostel auch nicht aus jener Wahrsagerin in Philippi einen „Python‑Geist“  unter ausdrücklicher Berufung auf den Namen des HErrn Jesu, „austreiben“ können (Apg. 16,18); und ebensowenig hätte er von den außerisraelitischen Religionen sagen können, daß „die Heiden das Opfer, das sie darbringen, den bösen Geistern darbringen“ (1. Kor. 10, 20),
So aber beruht das gesamte Heidentum nicht nur auf Irrtum und Trug, sondern zugleich mit auf spiritistischer Grundlage.

Durch dies alles wird der Heide, unter dämonischer Beeinflussung, „der Schöpfer seiner Götter. In seinen Religionen drückt sich seine Gottlosigkeit aus. Religion ist die Sünde, nämlich die Sünde gegen das erste Gebot, die Vertauschung Gottes mit den Götzen“ (P. Althaus), „der kräftigste Ausdruck des Widerspruchs des Menschen zu Gott und mit sich selber“(K. Barth).

Dies Ganze jedoch ist der Irrweg von Milliarden von Menschen! Jahrtausende hindurch hat er die Menschheit beherrscht. „Indem sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden“ (Röm. 1, 22).
Damit aber wird das babylonische Menschheitsgericht zu einem Gericht von ungeheuerster Auswirkung. Denn die mit der Zersplitterung der Menschheit und der Beiseitesetzung der Völkerwelt verbundene Bewußtseinsverwirrung hatte eine Religionsverwirrung zur Folge, die die Sprachenverwirrung an Bedeutung noch weit übertraf.

Auch politisch war er von den schwersten Folgen.

IV. Die weltgeschichtliche Völkerspannung

Von nun an ist die Weltgeschichte ein Ringen zwischen zwei Kräften: der Mittelpunktsziehkraft der Weltreiche  und der Mittelpunktsfliehkraft der einzelnen Völker,  und zwar so, daß immer wieder die Mittelpunktsziehkraft der Welteroberer zuschanden gemacht wird durch die Mittelpunktsfliehkraft der einzelnen Nationen. Die bedeutsamste .Form dieser Auseinandersetzung ist der Krieg, und darum werden Kriege und Kriegsgeschrei sein, bis daß der HErr kommt (Matth. 24, 6).

Zugleich aber wird all dieser Widerstreit der Geschichtskräfte von dem obersten Geschichtsherrn überwaltet (Am. 9, 7; Jes. 45, 1‑3), und dadurch wird die Völkergeschichte ein Völkergericht.
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk; aber die Sünde ist Schande der Nationen“ (Spr. 14, 34). „Alle Epochen, in denen der Glaube herrscht, sind glänzend und fruchtbar“ (Goethe); aber sittlich morsche Kulturen gehen unfehlbar zugrunde.

Das Maß des Gesegnetwerdens der Völker hängt zu großem Teil  ab von dem Grad ihrer Beachtung der göttlichen Schöpfungs‑ und Geschichtsordnungen (Jer. 18, 7‑9). Völker sind Organismen (Hos. 11, 1) und werden darum als Einheit zur Verantwortung gezogen. Sie leben ein einheitliches Leben durch Generationen hindurch. Darum werden auch die Nachkommen zu Trägern des Gerichts oder des Segens der Taten ihrer Vorfahren (z. B. Hes. 35, 5; 6).
Nur durch dies alles erklärt sich die dramatische Spannung des Ganzen und das Auf und Nieder der Kulturen im Wirbel der Reiche und Rassen.

V. Das heilsgeschichtliche Erlösungsziel

Dennoch bedeutet die Sprachenverwirrung nicht, daß Gott etwa gegen j e d e Vereinigung des Menschengeschlechts sei. Im Gegenteil, die innigste, geistliche, umfassendste Gemeinschaft der Menschen ist geradezu sein Ziel (Micha 4, 1‑4).

Aber die Einheit, die Er will, hat ihn selber zum Mittelpunkt, ist „in Christo“ seinem Sohne (Eph. 1, 10; Joh. 10, 16; 17, 21, 22), den er zum König bestimmt hat (Ps. 2, 6; Sach. 14, 9).

Der Mensch aber wollte eine Entthronung des Schöpfers, um selber die Regierung in die Hand zu nehmen; und gerade diese Zusammenballung der fleischlichen Kraft war ein Bollwerk gegen die Durchführung der Erlösung.

Darum mußte sie fallen und der „zerstreuende Arm Gottes“ sich offenbaren. Auf dem Wege der Zerstörung der dämonischen, fleischlichen Einheit sollte die wahre, göttliche, geistliche Einheit bewirkt werden. Die Aufhebung des Universalismus der Uroffenbarung hatte darum die desto sicherere Erreichung des End ‑ Universalismus zum Ziel, und deshalb ist auch das babylonische Gericht ‑ eine Gnade.

VI. Der endgeschichtliche Gottestriumph

Aber die Menschheit kämpft dauernd gegen den göttlichen Plan. Der Geist des besiegten, rebellischen Babel wirkt auch in den folgenden Jahrtausenden fort; ja am Ende der Zeit wird er sogar scheinbar sein Ziel erreicht haben und triumphieren, und der Antichrist wird das Werk Nimrods vollenden (Off. 13, 7; 8).

Die Geschichte der Stadt Babel hat
ihr Vorzeichen ‑ in der Stadt Kains (1. Mose 4, 17),
ihr Sinnbild ‑ im Turmbau (1. Mose 11),
ihren Hauptanfang ‑ in Nebukadnezar (Dan. 2, 38),
ihren Fortgang ‑ in der Weltgeschichte (Dan. 2 u. Kap. 7),
ihre Vollendung ‑ im Antichristentum (Off. 13 u. Kap. 17),
ihr Ende ‑ im Triumph Christi (Off. 18 u. 19).

Denn nach dem Antichristen wird Christus erscheinen und den Sieg gewinnen (Off. 19, 11‑21);
und über die „Hure“ (Off. 14, 8; 17,1‑18), das gen Himmel hinaufstürmende Babylon, wird die „Braut“ triumphieren (Off. 21, 9), die vom Himmel herabgekommene Gottesstadt, das neue Jerusalem.

Aus E. Sauer: DAS MORGENROT DER WELTERLÖSUNG, Teil 2: Biblische Offenbarungsgeschichte – Zusammengestellt von Horst Koch, Herborn, im Februar 2006

Ergänzende Beiträge in meiner Homepage:

1. E. Sauer – Der Triumph des Gekreuzigten
2. E. Sauer – Das Reich des Antichristen
3. E. Sauer – Satan – der Fürst dieser Welt
4. E. Sauer – Das kommende Gottesreich
5. E. Sauer – Die Bibel-das Buch der Heilsgeschichte

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