Christen + Revolution (G.H.)

Georg Huntemann

DIE POLITISCHE HERAUSFORDERUNG DES CHRISTEN

 

Inhalt

1. Die Verpolitisierung des Christentums
2. Der Kampf um das Eigentum
3. Im Schatten der Gewalt
4. Machen Christen Revolution?
5. Der Christ im neuheidnischen Staat

 – Hier als Auszug das 4. Kapitel. Horst Koch, Herborn, im Februar 2012 –

Vorwort

Christen werden heute immer wieder gefragt, wie sie sich zu den politischen Ereignissen unserer Zeit verhalten wollen. Wie steht es um das Verhältnis „Christentum und Politik“, das heute immer mehr in den Vordergrund der theologischen Diskussion rückt? Ich kenne keine allgemeinverständliche und gleichzeitig an Bibel und Bekenntnis gebundene Darstellung dieses Problems. Dieses Buch will dem Leser die politische Entscheidung nicht abnehmen, es entwickelt auch kein politisches Programm. Ich sehe meine Aufgabe vornehmlich darin, aus der Bibel selbst die Grundsätze zu entwickeln, die Voraussetzung für eine christliche Meinungsbildung über politische Fragen sind.

Bremen, im April 1972 Georg Huntemann

 

4. Kapitel  Machen Christen Revolution?

Luther auf der Anklagebank

Zu den ganz wenigen erfolgreichen und die Theatersaison 1970/71 überlebenden Bühnenstücken gehört das „historische Drama“ „Martin Luther und Thomas Münzer oder die Einführung der Buchhaltung“ von Dieter Forte. Die Regie für die letzte Szene: „Fugger kniet in seinem Betstuhl. Schwarz legt die Buchhaltung geöffnet auf den Betstuhl und zündet zwei Kerzen an, die rechts und links neben der Buchhaltung stehen.“

Zu dieser Szenerie wird dann eine Art „Schwarzer Litanei“ gesprochen, das heißt, so wie in einer schwarzen Messe das Sakrament des Abendmahls verhöhnt und geschändet wird, so wird in dieser letzten Szene die Anbetung Gottes zu einer Anbetung des Kapitals umfunktioniert: „O Kapital … erbarme dich unser … du Anfang und Ende aller Dinge . . .
Das du warst und bist und sein wirst. Aus dem durch das und in dem alles ist.“

Nachdem Fugger diese „Litanei“ mit den Worten

„O Kapital, welches du hinwegnimmst die Sünden der Welt. Gib uns ewige Ruhe.“

beendet hat, wird das Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“ auf der Bühne gesungen. Während dieses Gesanges ertönen die Schmerzensschreie Thomas Münzers, der hingerichtet und dessen Kopf dann aufgespießt auf einer langen Stange hinter dem Rücken der Singenden und Betenden gezeigt wird. Dann fällt der Vorhang.

Die Reaktionen des Publikums: Klatschen und Gelächter über die Entlarvung „christlicher Frömmigkeit“, Vergnügen darüber, daß wieder ein Held (diesmal Luther) vom Sockel gestoßen wurde.  –  Helden fallen, Helden kommen.

Luther wird auf der Bühne propagandistisch hingerichtet. Thomas Münzer wird als Held der Revolution und des Fortschritts verherrlicht.

Die Revolution im Theater geht weiter. Angeklagt wird das System. Angeklagt werden die Christen, die man nun auch für dieses „System der Ausbeutung“ verantwortlich machen will. Katholiken und Protestanten, Pius der XII. und Billy Graham, Lutheraner und „Jesus‑People“ ‑ allen wird vorgeworfen, zuviel vom Himmel gepredigt und zu wenig für diese Gesellschaft getan zu haben.

Doch zurück zu Luther und der Buchhaltung Luther: Das ist Frömmigkeit, Himmel, Gottesglaube, Fürstenknechtschaft, gutes Leben im Establishment, Haß gegen die Revolution und Gleichgültigkeit gegenüber Unterdrückten und Geschundenen.

Thomas Münzer hingegen ist die Revolution, die neue Gesellschaft, er kämpft gegen das „System“ auch mit Gewalt, sein Christentum der Revolution steht auf der Seite der Unterdrückten und Gequälten.

Ist also nun Luthers Gott ein Gott der Ausbeuter und Münzers Gott ein Gott der Unterdrückten?

Ist der Gott der Kirchenchristen und der Reformation der „böse“ Gott?

Ist der Gott der Revolution „der gute Gott“?

Luther wird heutzutage nicht nur auf der Bühne geohrfeigt. Die Lutherkritik unserer Tage, die anknüpfen kann an eine lange Tradition sozialistischer Lutherkritik, will ein  revolutionäres Christentum, das weniger einen Gott im Himmel, als die himmlische Gesellschaft auf dieser Erde bezeugt.

Luther wird angeklagt, weil er die Theologie der Revolution verurteilt hat. Das Reich der Welt, der Gerechtigkeit und Ordnung Gottes war für ihn die eine, der Friede mit Gott als Erfüllung des Daseins, Gnade und Vergebung, waren für ihn die andere Wirklichkeit des Lebens. Luther hat beide Bereiche auseinandergehalten, weil er ‑ gegründet auf die Aussage der Bibel ‑ davon überzeugt war, daß man durch politische Macht niemals den Frieden und die Gnade Gottes und damit das Heil des Menschen „herstellen“ kann.

Daß aber jede Politik, also auch das Tun im weltlichen Reich, in der Verantwortung vor den Geboten Gottes steht, hat Luther immer wieder bekannt. Daß eine Gesellschaft ohne Gerechtigkeit nicht existieren kann, bezeugte Luther. Daß aber christlicher Glaube mehr ist, als man in Politik umsetzen kann, daß der Friede mit Gott im Glauben an die Gnade, die in Christus geoffenbart worden ist, in einer ganz anderen Dimension steht, als Staatsmänner, Fürsten und Politiker „machen“ können ‑für diese Unterscheidung zwischen Gottesreich und Menschenreich ‑ dafür kämpfte und litt Luther.

Zum Gedenken an den Wormser Reichstag von 1521 sagte der Bundespräsident Gustav W. Heinemann am 17. 4. 1971 im Städtischen Festspielhaus zu Worms:

„Was bei Luther noch eine Hilfskonstruktion gewesen war, die Unterscheidung der Kirche als dem eigentlichen Reich Gottes und dem Staat als einem Reich zur Linken, das wurde für die lutherische Orthodoxie mit ihrer bis in unsere Zeit weiter wirkenden Trennung von Innerlichkeit, Frömmigkeit und Glauben einerseits und weltlichem Treiben und Handeln andererseits zum tragenden Selbstverständnis evangelischer Christen.
Ein falsches, weil viel zu starres Verständnis der Lehre von beiden Reichen, hat nicht nur die politische Entwicklung in Deutschland gehemmt. Sie hat auch auf sozialem Gebiet den Blick für das verstellt, was zur Aufgabe einer christlichen Kirche gehört: Sich auf die Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu stellen.“

Die Unterdrückten und Ausgebeuteten! Davon reden wir in diesem Kapitel. Was haben lutherische Christen für sie getan? Man hätte die Frage erweitern können: Was haben die Orthodoxen, die römischen Katholiken, die Anglikaner, die Methodisten, die Baptisten und die Presbyterianer für die Ausgebeuteten getan, wenn sie den Himmel doch nicht auf die Erde holen konnten?

Thomas Münzer wollte den Himmel auf die Erde bringen. Er meinte, daß Gott nicht nur durch die Bibel zu uns redet, sondern unmittelbar durch die Erleuchtung des menschlichen Geistes. Thomas Münzer dachte dabei vor allem an seinen eigenen Geist und an seine eigenen Erleuchtungen. Und aus diesen Erleuchtungen heraus sagte der Revolutionär, daß die Rechtfertigungslehre, nach der wir allein durch den Glauben an Christus Frieden mit Gott finden, den Christen faul und träge mache. Für ihn war Luther das „sanft lebende Fleisch zu Wittenberg“.

Der „prophetische Geist“ sagte auch zu Thomas Münzer, daß man etwas tun müsse, um das Reich Gottes auf dieser Erde zu verwirklichen. Also ging er zu den gequälten und zum Aufstand bereiten Bauern und stachelte ihre revolutionäre Lust an: „Dran, dran, dieweil das Feuer heiß ist! Laßt Euer Schwert nicht kalt werden. Es ist Zeit!“ Der Weg der Liebe war für Münzer zu Ende gelaufen, die Stunde der Gewalt war gekommen. Das tausendjährige Reich ‑ sagte der „Prophet“ ‑ stünde unmittelbar bevor. Vorher aber müßten die Ungläubigen und Gottlosen vernichtet werden, denn der Geist hatte ihm eingegeben, was kein Kirchenchrist zu denken gewagt hätte, nämlich daß der gottlose Mensch kein Recht zum Leben habe. Wer gottlos war und wer nicht, das wußte Thomas Münzer am besten. So kam aus seinem Geist der Revolution eine neue Einteilung zwischen Herrschenden und Unterdrückten. Die Herrschenden waren so wie Münzer selbst, von Gott unmittelbar erleuchtet und fromm bis zur Perfektion. Die anderen, die es auszurotten galt, waren die, die nicht so fromm waren wie die ganz Frommen. Auf welcher Seite sich nach diesem Modell diejenigen wiedergefunden hätten, die heute als Politiker, Journalisten und Revolutionäre Thomas Münzer verherrlichen, ist leicht auszudenken. Sie hätten in dem Traumreich des frommen Propheten nichts zu lachen gehabt.

Das revolutionäre Christentum, das politische Ordnung und geistliches Leben aus Gott miteinander verketten wollte, schaffte – das zeigt das Beispiel der schwärmerischen Revolutionen des 16. Jahrhunderts eine Welt des Terrors und totalitärer Diktatur.

Der heute angegriffene Luther hingegen steht stellvertretend für die Christenheit, die zu unterscheiden weiß, daß der Himmel nicht die Erde ist und daß man nicht mit Gewalt den Himmel auf die Erde holen kann und daß man keinen Kreuzzug gegen Ungläubige führen darf. Ein Mensch kann nicht mit Gewalt zum Glauben gebracht werden, weil er von Gott frei erschaffen ist. Anders und einfacher ausgedrückt: Wenn wir für die Ausgebeuteten und Entrechteten kämpfen wollen, dann können wir sie nicht vorher mit Gewalt fromm machen! Denn die Gerechtigkeit in einer menschlichen Gesellschaft gilt für alle Menschen: Hindus, Buddhisten, Moslems, Atheisten, Christen und Juden.

Ist diese Unterscheidung Luthers denn so schwer zu begreifen? Versteht man nicht, daß das Reich Gottes und das Reich der Welt, die Gemeinde der Gläubigen und die menschliche Gesellschaft, die Kirche und der Staat niemals dasselbe sein können, wenn man auf geistigen Terror wirklich verzichten will?

Oder will man nicht verstehen, weil die zu betreibende Revolution von heute einen neuen Menschentyp schaffen soll, der ein neues, von totalitären Mächten geformtes Bewußtsein haben muß? Will man mit Gewalt alle Menschen zu dem Glück zwingen, das sich Ideologen heute für sie ausgedacht haben?

Für den Kampf um die Gerechtigkeit in Freiheit in der Gesellschaft steht der Christ bereit – auch wenn dieser Kampf sich Revolution nennt.

Wenn man jedoch Revolution betreibt, um ein Paradies nach ideologischem Maß, nach dem Bilde des Menschen zu bauen und dabei sogar bereit ist, über Leichen zu gehen, dann können die Christen nicht mitmachen.

Um diese Entscheidung geht es heute. Martin Luther hat an der Schwelle der Neuzeit schon damals diese Spannung durchlitten und ‑ wie ich meine ‑ im Geiste der Bibel beantwortet.

Sind alle Menschen gleich?

Im letzten Jahr nationalsozialistischer Herrschaft sagte zu mir der Kommandant eines „Wehrertüchtigungslagers „, der christliche Grundsatz, daß vor Gott alle Menschen gleich seien, sei der Anfang des Bolschewismus. Es sei nur ein kleiner Gedankensprung von der Gleichheit vor Gott zu der Weltanschauung, daß alle Menschen überhaupt gleich seien. …

Es gibt keine Über‑ oder Untermenschen, sondern nur den einen, nach dem Bilde Gottes geschaffenen Menschen. Deswegen darf die Person des Menschen im Gericht nicht angesehen werden (Sprüche 24,23). „Denn“ ‑ so sagt der Apostel Paulus ‑ „es ist kein Ansehen der Person bei Gott“ (Röm. 2,11). Und der Apostel Petrus bekennt: „In Wahrheit begreife ich, daß Gott die Person nicht ansieht, sondern in jeder Nation, wer ihn fürchtet und in Gerechtigkeit wirkt, ist ihm angenehm“ (Apostelgeschichte 10,34).

In diesem Satz des Apostels Petrus liegt allerdings schon eine Einschränkung: Weil der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen ist, ist er frei geschaffen. Der Mensch ist so frei, daß er zu Gott Nein sagen kann. Wer aber zu Gott Nein sagt, ist ‑ mit den Worten des Apostels Petrus ‑ Gott nicht angenehm. Aber deswegen hört er nicht auf, vor Gott, der seine Sonne über die Guten und Bösen aufgehen läßt, ein Mensch zu sein ‑ ein Mensch mit der Freiheit, auch wieder zu Gott Ja zu sagen.

Die Bibel wertet die Stellung des Menschen nicht nach Rassen, Klassen oder Nationen. Sie unterscheidet allerdings zwischen denen, die Gott fürchten, lieben und vertrauen und jenen, die Gott nicht die Ehre geben. Das letzte Urteil darüber gesteht die Bibel aber nicht dem Menschen, sondern ausschließlich Gott selbst und seinem Gerichte zu.

Wie aber kann es dann Unterdrückung, Sklaverei und Ausbeutung geben? Auch darauf gibt uns die Geschichte vom Sündenfall eine eindeutige Antwort: Weil der Mensch sein will wie Gott, will er auch seinen Mitmenschen ein Gott sein, er will Gott spielen und über andere Menschen herrschen. Antike Kaiser nannten sich selbst ausdrücklich „Sohn Gottes“ oder ganz einfach „Gott“. Daß ein Mensch sich selbst für Gott hält, ist der Bibel ein Greuel. Aber Aufruhr gegen Gott ist eben die letztlich religiöse Ursache der Unterdrückung. Herrschaftsstrukturen werden aber nur aufhören, wenn alle Menschen ihr Verhältnis zu Gott in Ordnung bringen.

Dieses wollen wir festhalten: Nicht weil es Gott gibt, gibt es Herrschaftsstrukturen in der Welt, sondern umgekehrt, weil es für den Menschen keinen Gott geben soll, deswegen will er selbst Gott sein. „Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, schreibt der Apostel Paulus nach Korinth (2. Kor. 3,17). Das Leben unter den Göttern ist Versklavung unter die Ideologie, unter das (dem Wortsinne Ideologie gemäß) „Eingebildete“, unter jene Gewalten, die der Mensch nach seinem Bilde geschaffen hat. Die Religion der Götter und die Ideologien geben Unterdrückung. Der Glaube an Gott schenkt Freiheit.

Das große heilsgeschichtliche Ereignis des Alten Testamentes ist der Weg des alttestamentlichen Gottesvolkes aus der Sklaverei des Herrschaftssystems Ägyptens in die Freiheit. Wie heißt es in der Ein­leitung zu den zehn Geboten?
„Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich herausgeführt habe aus dem Lande Ägypten, aus dem Hause der Knechtschaft, du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (5. Mose 5,6).

Es darf deswegen innerhalb dieses Gottesvolkes keine Herrschaft des Menschen über den Menschen geben. Ausdrücklich wird das Verbot der Sklaverei (3. Mos. 25,39) damit begründet, daß der Israelit, der von Gott in die Freiheit geführt wurde, sich selbst keine Knechte halten darf. Wer durch Verschuldung in sklavenähnliche Abhängigkeit gerät, der muß zum Jubeljahr wieder freigelassen werden, denn „sie sind meine Knechte, die ich aus dem Lande Ägypten herausgeführt habe, sie sollen nicht verkauft werden, wie man Sklaven verkauft.“ Auch während der Zeit, in der ein Israelit in dieser Abhängigkeit lebt, ist er ein „Bruder“, der ‑ so wird ausdrücklich geboten ‑ (3. Mos. 25,39 u. 40) nicht Sklavendienste tun soll, denn: „über eure Brüder, die Kinder Israel, sollt ihr nicht einer über den anderen herrschen mit Härte“ (3. Mos. 25,46).

Die Menschen des israelitischen Gottesvolkes bekennen sich zu Gott, dem Vater, vor dem sie sich alle als Brüder wissen. Die Bruderschaft vor dem Vatergott schließt Unterdrückung aus!

Die Einschränkung allerdings ist diese: Wo die Abgötter walten, kann es Freiheit und Brüderlichkeit kaum geben. So gilt alles, was im Alten Testament über die Freiheit und die Unterwerfung der Unterdrückten (auch wenn sie in Israel lebten) gesagt wird, nur für die, die den geoffenbarten Gott verehren und die Abgötter verachten. Das ist eine Einschränkung, die wir heute nicht teilen. Sinn dieser alttestamentlichen Unterscheidung ist aber doch: Freiheit kann es nur geben, wo die Revolution, die Rückbewegung (also die Umkehr zu Gott) wirklich vollzogen wurde. In diesem Sinne war der Auszug des alttestamentlichen Gottesvolkes aus Ägypten eine echte Revolution, die zwei unbedingte Werte setzte: die Ehrfurcht vor Gott und die Gerechtigkeit.

Im Alten Testament sind Staat und Gesellschaft identisch. Die zehn Gebote waren im alten Israel Staatsgesetz. Deswegen spricht man im Blick auf jene politische Wirklichkeit auch von einer Theokratie, das heißt von einer Gottesherrschaft. Anders aber stand es und steht es mit der Kirche Christi. Weder in der Urchristenheit noch heute sind Kirche und Staat identisch. Die frühchristlichen Gemeinden breiteten sich aus in einer heidnischen Welt mit einer heidnischen Gesellschaftsordnung. Auch in diesen Ordnungen war die erhaltende, das Chaos abwehrende Macht Gottes am Werke. Im Gewissen der Menschen meldete sich auch hier das Gebot Gottes, wenn auch unklar und durch Götzenglauben verstellt und verdunkelt, denn die Ordnungen Gottes werden nur voll verwirklicht, wenn das Licht des Gottesglaubens auf sie fallen kann. Also gab es in dieser zwiespältigen Welt auch Sklaverei. Und es gab viele Sklaven, die Christen wurden ‑ denn in der Gemeinde Christi gab es kein Ansehen der Person vor Gott.

Was sollte nun mit diesen Sklaven geschehen? Sollte man sie zur Geduld aufrufen, daß sie auch als Christen Sklaven bleiben? Sollten etwa gar Christen Christen als Sklaven haben? Oder sollte man die Sklaven zur Revolution aufrufen? Oder sollte man sie freikaufen?

Im Neuen Testament gibt der Brief des Paulus an Philemon uns darüber Aufschluß, wie die Urchristen dieses Problem aufgriffen.

Die Story ist diese: Dem Christen Philemon war der Sklave Onesimus entlaufen. Onesimus war wie sein Herr auch Christ und suchte Schutz bei dem Apostel Paulus. Der Apostel schickt nun den Onesimus mit einem Brief an seinen Herrn zurück. Weil dieser Herr Philemon heißt, nennt man den Brief nach seinem Adressaten den Philemonbrief. In diesem Brief bezeichnet sich der Apostel Paulus, der selbst ein freier Mann war und sogar das römische Bürgerrecht besaß, als einen Gefangenen Christi. Damit meint er, der Christ gehört nicht sich selbst, sondern er gehört seinem Herrn, er gehört Christus so sehr an, daß er sein Gefangener ist. Er ist nicht ein Gefangener an der Kette, sondern er ist gefangen durch die Liebe, durch die Gemeinschaft, durch das Einssein mit dem Herrn, der sein Leben führt und regiert.

Der Apostel spricht als Gefangener zu einem Gefangenen, denn auch Philemon ist ein Gefangener Christi. Onesimus kehrt als Sklave zurück ‑ aber der Apostel bittet ihn, er möge ihn aufnehmen als einen Bruder.

Hier ist eine neue Basis gefunden. Die Herrschaftsstruktur wird gleichsam unterwandert. Der äußere Status der Sklaverei wird zunächst gar nicht angetastet. Aber dieser Sklave (ein Gefangener Christi) ist seinem Herrn (der auch ein Gefangener Christi ist) ein Bruder. Onesimus dient ‑ aber er dient nun als Bruder!

Die alte Wirklichkeit eines Herrschaftsverhältnisses ist verwandelt. Es geschieht keine Revolution im Sinne der Anwendung der Gewalt, die ja nur eine alte durch eine neue Herrschaf tsstruktur abgelöst hätte. Die beiden Bereiche Welt und Reich Gottes heben einander nicht auf. Es muß Menschen geben, die dienen. Wir haben mancherlei Gaben, sagt der Apostel Paulus, aber es ist nur ein Geist (l. Kor. 12,4). Wir können nicht alle Minister oder Universitätsprofessoren sein. Es muß auch eine Müllabfuhr geben. Wir sind nicht alle von gleich starkem Intellekt, wir leben auch nicht alle mit den gleich kräftigen Muskeln. Gottes Schöpfung ist die Mannigfaltigkeit, nicht die monotone Uniformität. An einem Baum gleicht kein Blatt dem anderen und auch kein Mensch ist genau so wie der andere Mensch ‑ entsetzlich wenn es so wäre! Grauenhaft die Vorstellung eines einheitlich genormten Menschen nach Art der Fließbandproduktion. Also: Wir sind verschieden. Weil wir verschieden sind, gibt es auch verschiedene Aufgaben. Weil es verschiedene Aufgaben gibt, gibt es auch verschiedene Möglichkeiten der Abhängigkeit. Wenn der Arzt einen Bauch aufschneidet, um die Galle zu operieren, dann ist der Patient auf dem Operationstisch ein vom Arzt Abhängiger. Aber: Das Gefangensein auf dem Operationstisch hebt das Gefangensein durch Christus nicht auf. Wenn ich im Reiche dieser Welt abhängig bin, im Reiche Gottes bin ich es nicht.

Also lebt der Christ in zwei Welten. Einmal ist es die Ordnung dieser Welt, in der es kluge und dumme, schwache und kräftige, schöne und häßliche Menschen gibt. Er lebt in einer Welt, in der das Chaos durch Gott noch geordnet ist. In dieser Welt gibt es auch das Amt des Herrschens auf mancherlei Weise und gibt es die Abhängigkeit auf mancherlei Weise ‑ auch und gerade in unserer technokratischen Zivilisation.

Zum anderen aber lebt der Christ in einer Welt der Brüderlichkeit und Liebe, die in Christus ihren Ursprung hat. Diese Welt hebt die andere Welt nicht auf, aber es fällt Liebe von der Glaubensgemeinde in die Bürgergemeinde, so daß die Gerechtigkeit in Liebe auch dort offenbar wird, wo der Alltag am härtesten ist.

Rassismus und Klassenkampf

Das alttestamentliche Gottesvolk hat in der „Zeit der Knechtschaft“ in Agypten die brutale Sklaverei an sich selbst erfahren müssen:
„Und die Ägypter hielten die Kinder Israels mit Härte zum Dienst an. Und sie machten ihnen das Leben bitter durch harten Dienst … “ (2.Mos. 1,8).

Die Geschichte der Menschheit kann furchtbare Kommentare dafür liefern, wie Menschen gequält und entwürdigt wurden. Die These von Karl Marx, daß die Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, könnte akzeptiert werden, wenn sie aus der Einseitigkeit der Betrachtungsweise gelöst wird. Zumindest ist die Geschichte der Menschheit auch eine Geschichte des Machtkampfes zwischen den Klassen, zwischen Unterdrückern und Unterdrückten gewesen.

Heute gelten Rassismus und wirtschaftliche Ausbeutung im industriellen Zeitalter als die Elemente menschlicher Unterdrückung. Die Schilderungen von Friedrich Engels über das Proletarierelend im frühkapitalistischen England lesen sich wie Höllenschilderungen. Männer, Frauen und Kinder wurden als billige Ware gehandelte Arbeitskraft wie Maschinen behandelt. Der ausgebeutete Proletarier wurde der Welt, ihrer Schönheit und ihren Ordnungen entfremdet. Er sah und er erlebte Welt nur noch in den grauenhaften Wüsten der Industrielandschaft, in den Bergwerken, Fabriken und in der Stein gewordenen Hoffnungslosigkeit englischer Arbeitersiedlungen, die noch heute jeden Betrachter mit Entsetzen erfüllen. In der gottverlassenen Welt vegetierte der gottverlorene Arbeiter, dessen Kinder oft, wenn sie gefragt wurden, wer Jesus war, antworteten: Jesus ist ein Fluchwort.

Unlängst hat James Pope‑Hennessy einen sachlichen, aber deswegen keineswegs weniger erschütternden Bericht über den Rassismus des 17. und 18. Jahrhunderts, der zu den Quälereien des Sklavenhandels mit Menschen schwarzer Hautfarbe führte, gegeben. Man rechnet, daß durch die Sklaverei etwa 25‑50 Millionen Neger unter grauenhaften Bedingungen verschleppt wurden. Man schätzt weiter, daß 30 % der Sklaven die Fahrt auf den Schiffen (die 1,5 m hohen Laderäume der Sklavenschiffe waren noch einmal horizontal unterteilt, so daß die gequälten Menschen ‑ jeweils zwei aneinander gekettet ‑ gleichsam acht Wochen lang in Fächern vegetieren mußten) nicht überlebten. Die Ausfallquote wurde vorher einkalkuliert. In den zehn Geboten der Bibel heißt es, daß Gott die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied. Das bedeutet, daß unsere Generation die Sünden ihrer sich christlich und zivilisiert nennenden Vorväter ausbaden muß. Die „weiße, christliche Zivilisation“ sitzt auf der Anklagebank. Aber es sind nicht nur die Sünden von gestern , die uns heute beschäftigen. Rassismus feiert auch im 20. Jahrhundert Triumphe: Die Vernichtung Menschen jüdischer Rasse, die Deportation und Entrechtung slawischer Volksgruppen (Polen, Russen, Ukrainer während des 2. Weltkrieges) sind bittere Zeichen eines modernen Rassismus. Gegenwärtig bezeugen die Rassenkämpfe in den USA und in Südafrika, daß der Rassismus immer noch nicht überwunden ist. Das literarische Werk des russischen Dichters Solschenyzin ist eine bittere Klage gegen Menschenschindcrei in der sogenannten östlichen Welt und über die Opfer des Stalinismus, dessen Zahl keiner kennt. Wir können wohl nicht sagen, daß das 20. Jahrhundert humaner sei als frühere Jahrhunderte ‑ die so gern und so oft angeklagt werden.

Allerdings hat sich eines geändert: Die Entrechteten und Ausgebeuteten stehen auf. Eine Revolution bahnt sich an. Dieser Revolution geht eine Anklage voraus, die ich in folgenden Punkten zusammenfassen möchte.

1.Die Situation in Südafrika, insbesondere die Rassentrennung (Apartheid) in der Südafrikanischen Union muß für jeden farbigen Menschen eine nicht hinnehmbare Erniedrigung seines Menschseins bedeuten. Das Verbot der Heirat zwischen einem Weißen und einem Neger ist gegen die von Gott gesetzte natürliche Ordnung. Der Rassismus in Südafrika läuft hinaus auf eine Trennung zwischen Mensch und Untermensch, da ja der Neger praletisch durch Gesetze von der Geburt bis zum Tod einer minderen Kaste angehört.

2. Der vergleichsweise hohe Lebensstandard des südafrikanischen Staates beruht auf der Ausbeutung der farbigen Völkerschaften, die nicht einmal das Recht zum Streik haben.

3. Es ist primitive, frühkapitalistische Ausbeutung, wenn zum Beispiel die Farbigen in der Südafrikanischen Union in ihrer Berufswahl eingeschränkt werden, ihr Lohn nur 10‑40 % des Lohnes beträgt, den Weiße für die gleiche Arbeit erhalten, und wenn sie kein eigenes Land besitzen dürfen, außer in kleinen wirtschaftlich schwer funktionierenden Ghettos, die ihnen von Weißen zugeteilt wurden (die Farbigen bilden 70,0/o der Bevölkerung, aber sie haben nur Anteil an 16 % des Bodens, ohne Hafen, Stadt und Industrie).

4. Es verstößt gegen das Gebot Gottes, wenn die Familien der Schwarzen durch die Apartheid auseinandergerissen werden, wenn z. B. eine Frau eine Sondergenehmigung (Antrag muß begründet werden) braucht, um ihren Mann zu besuchen, der mit ihr nicht in der gleichen Stadt arbeiten kann. (Über tausend Neger ‑ so schätzt man ‑ werden täglich wegen des Paßgesetzes verhaftet. Der Paß setzt den Aufenthaltsraum fest.)

5. Es gibt keine gleichen Bildungschancen (Schulzwang existiert nur für Weiße) und damit praktisch keine Möglichkeit des Aufstiegs für alle. Die Unterdrückten sollen Unterdrückte bleiben.

So weit die Anklage derer, die sich entrechtet fühlen.

Hören wir die Antwort derer, die als die sogenannten Herrschenden in diesen Räumen die Verantwortung für dieangeklagten Verhältnisse haben.

 

1. Die Afrikaner sind von Natur primitiv, gewalttätig, zügellos und seelisch chaotisch struktuiert. Die Schwarzen haben noch nicht den seelischen Prozeß der Bewußtseinsreife und zweckgebundenen, organisationsfähigen Rationalität erreicht, um mit dem komplizierten Mechanismus einer industriellen Gesellschaft fertigzuwerden. Ohne die weiße Elite wäre der südliche Teil des Kontinents verloren, er würde im Chaos und im Blutbad nicht nur für die Weißen, sondern auch für die Schwarzen, die sich im Kampf widereinander zerfleischen würden, untergehen. Der Schwarze ist ein Bruder, aber der Weiße, gereift durch die Erfahrung im Umgang mit dem komplizierten Mechanismus der Technik, ist der ältere Bruder. Er hat die Aufgabe des Führens.

2. Die farbigen Stämme im südlichen Afrika (Südafrikanische Union, Rhodesien, Angola, Mozambique) haben unter der Führung der weißen Minderheit einen höheren Lebensstandard als in allen anderen Teilen Afrikas, ihre hygienische und medizinische Betreuung ist im übrigen Afrika unerreicht. Es ist darauf zu verweisen, daß Hunderttausende von schwarzen Arbeitern in diese von Weißen geführten Ländern strömen, um in ihnen Arbeit und Brot zu finden, und daß die Südafrikanische Union zu den höchstentwickelten Ländern nicht nur Afrikas, sondern der ganzen Welt gehört.

3. Man muß befürchten, daß im Falle der Aufhebung der Apartheid eine Revolution nicht zu vermeiden wäre und es zur Selbstzerstörung dieses Zivilisationsbereiches kommt, wie etwa im Kongo‑Katanga oder NigeriaBiafra. Schon jetzt zeigen einige Beispiele revolutionärer Erhebungen, wohin eine gewaltsame Erhebung führen könnte. Man schätzt, daß bei dem Aufstand in Angola 1961 20 000 Schwarze, die sich nicht den Rebellen anschließen wollten, ermordet wurden. Die Zahl der ermordeten Weißen wird allein bei diesem Aufstand mit 2000 angegeben. Grausamkeit und Terror sind bekannte Methoden südafrikanischer Guerilla‑Verbände.

4. Nur das stetige Nebeneinander bei getrennter Entwicklung der jeweils verschiedenartigen Eigentümlichkeiten der Rassen kann zu einer friedlichen Koexistenz auf die Dauer führen. Erst dann, wenn die sich heute noch im Entwicklungs‑ und Lernprozeß befindlichen farbigen Völker die hinlängliche Fähigkeit der Selbstverwaltung und des Umgangs mit technischer Zivilisation erlernt haben, können sie die Gleichberechtigung erhalten. Gleiches Recht setzt die Erfüllung gleicher Pflichten voraus.

So stehen einander zwei Auffassungen und zwei Praktiken gegenüber: Auf der einen Seite der Kampf für die Gleichberechtigung aller Rassen und Klassen und auf der anderen Seite die nur durch Macht garantierte Erhaltung einer Herrschaftsstruktur, die man allerdings für lebensnotwendig hält.

Wir müssen es uns hier versagen, die einander gegenüberstehenden Argumente bis zuletzt durchzudenken. Wir können angesichts dieser Kontroverse auch kein Programm und schon lange kein die Probleme lösendes politisches System entwickeln. Das kann nur die Aufgabe der Politiker in vielen kleinen Schritten sein.

Bedeutsam für uns ist nur dieses ‑ Christen gibt es auf beiden Seiten der Fronten ‑ besonders auffällig im südafrikanischen Raum. Für welche Position sollen sich nun die Christen entscheiden? Sollen sie für die Erhaltung der Herrschaftsstruktur votieren oder für die Revolution? Soll es zu einer Glaubensspaltung unter den Christen kommen, den Revolutionären einerseits und den Etablierten andererseits? Wird der Klassenkampf die Christen auseinanderbringen?

Buße ist besser als Revolution

Die Frage nach dem Recht der Revolution in der Misere unserer Gesellschaft heute ist in der Theologie unserer Tage zum Thema Nr. 1 geworden. Die offiziellen Thesen, Stellungnahmen und „Verlautbarungen“ drehen sich heute weitgehend um das Problem, wie es zu einer neuen Gesellschaftsordnung kommen kann. Hierzu nur eine kleine Skizze:

1968 wurde auf der Konferenz für „Kirche und Gesellschaft „ in Genf der Begriff „Theologie der Revolution“ zum Leitwort. Auch wenn viele auf dieser Konferenz gefallenen Formulierungen durch tendenziöse Presseberichte und durch versimplifizierende Fernsehsendungen entstellt wurden, darf nicht verkannt werden, daß seit Genf 1968 eine allerdings schon lange in der Christenheit schwelende Glut zum offenen Feuer entfacht wurde. Nicht nur der einzelne, sondern die ganze Gesellschaft soll sich bekehren, soll verwandelt und geändert werden. Die Christenheit soll sich zu den Umwälzungen auf dieser Erde ‑ auch wenn sie revolutionär sind ‑ positiv einstellen. Christus ist nicht ein Zuschauer des Weltgetriebes im Himmel ‑ so wird argumentiert ‑, sondern der Motor im Umbruch zu einer neuen Wirklichkeit. Christus ist gleichsam ein die Welt veränderndes, zum Reiche Gottes auf dieser Erde führendes Prinzip der Geschichte.

Auf der Weltkirchenkonferenz in Uppsala 1968 wurde dann öffentlich proklamiert, daß die Verkoppelung von Rassendiskriminierung mit wirtschaftlicher Ausbeutung und politischer Entmachtung ein brutales Unrecht sei. Deswegen wurde gefordert, daß die Kirche sich aktiv um das politische und wirtschaftliche Wohl der Unterdrückten zu kümmern habe. In diesem Zusammenhang ist dann auch ausdrücklich die Rede von Revolution. Im Bericht der Sektion 3. Kap. 5 heißt es: „So muß primär betont werden, daß in der gegenwärtigen Situation der dritten Welt Revolutionen unbedingt notwendig sind und daß keine christlichen Begründungen dafür vorgebracht werden können, daß Christen sich von der Teilnahme und Solidarität ausschließen müssen. Dabei bleibt die Frage der Anwendung von Gewalt eine Grenzsituation.“

Aber ‑ und das ist der Sinn der weiteren, etwas verschachtelten Ausführungen ‑ wenn die Gewalt nicht auszuschließen ist, dann sollen Christen dafür Verständnis aufbringen.

Auf einer Tagung des Zentralausschusses des Ukumenischen Rates in Canterbury 1969 wurde die Mitschuld der Kirche am weißen Rassismus ausgesprochen und gleichzeitig erwartet, daß kirchliche Mittel für solche Organisationen bereitgestellt werden, die für die Gleichberechtigung rassisch Unterdrückter kämpfen.

In Arno1dsheim 1970 wählte dann das in Canterbury eingesetzte Exekutivkomitee 19 Organisationen aus (darunter auch die Frelimos, die in Mozambique mit chinesischen Waffen und Ausbildungshilf en aus Kuba gegen die sogenannte weiße Herrschaftsstruktur ‑ bei Anwendung terroristischer Mittel ‑ kämpfen), die aus einem Sonderfond jeweils 2.000‑20.000 Dollar (Gesamtsumme für diesen Zweck: 200 000 Dollar) für zweckgebundene humanitäre Unterstützung erhalten sollten. Aufsehen erregte dieser Beschluß in der deutschen Presse erst, als die Kirche von Hessen‑Nassau am 7.12.1970 100.000 DM an Genf überwies mit dem allerdings ausdrücklichen Vermerk, daß damit kein Bekenntnis zur Gewalt ausgesprochen sein solle.

Die Diskussionen darüber, wie weit kämpfende Guerilla‑Verbände unterstützt werden dürfen und ihnen zugewandte Mittel direkt oder indirekt den Bandenkrieg unterstützen, ist lebhaft und bis heute noch nicht entschieden. Das Ergebnis ist ‑ aufs Ganze gesehen ‑ ein Einerseits und Andererseits, das der Zentralausschuß des Ökumenischen Rates 1971 in Addis Abeba so formulierte (nach dem Zentralausschuß‑Protokoll):

„Er ist der Auffassung, daß die Kirchen stets für die Befreiung der Unterdrückten und der Opfer von Gewaltmaßnahmen, die grundlegende Menschenrechte verletzen, einzutreten haben. Er weist darauf hin, daß Gewalt vielfach der Aufrechterhaltung des Status quo inhärent ist. Dennoch kann und will der ökumenische Rat der Kirchen sich nicht völlig mit einer politischen Bewegung identifizieren, noch richtet er die Opfer des Rassismus, die sich zur Gewaltanwendung als letzten Ausweg gezwungen sehen, um erlittenes Unrecht wieder gutzumachen und den Weg in eine neue, gerechte Gesellschaftsordnung zu öffnen.

Auf einer Tagung der Kommission „Programm zur Bekämpfung des Rassismus“ im August 1971wurde dann die Pflicht zur Unterstützung der Organisationen, „die sich mit den Opfern rassistischer Ungerechtigkeit solidarisch erklären“, eingeschärft.

Einerseits wird dabei allerdings wieder eingeschränkt, daß die Zuwendungen nur für humanitäre Aufgaben ausgegeben werden sollen, während andererseits dann wieder erklärt wird, daß „die Zuwendungen an keinerlei Kontrolle über den Verwendungszweck gebunden sind . . .“

Der christliche Glaube als das Ferment, das die Gesellschaft ändern soll, wird hier zu einem zur Revolution treibenden Politikum. „Die höchste Realität der Geschichte ist das Reich Gottes, das kommt und das jetzt gegenwärtig ist als eine explosive Kraft in unserer Mitte“ sagt Richard Shaul. Viele meinen, daß der Glaube den Himmel auf Erden bereiten und daß ‑ im Sinne Thomas Münzers ‑ mit Hilfe der Gewalt das von Christus verheißene Reich der Gerechtigkeit errichtet werden kann. Werden wir nunmehr moralisch dazu gezwungen, politisch und zwar gegen das System zu handeln, weil wir sonst keine Christen sind? Müssen nun die Weißen und Schwarzen in Afrika, die Etablierten und die Revolutionäre einander das Christsein absprechen?

Angesichts dieser Herausforderung wird der von der Bibel und dem reformatorischen Bekenntnis her denkende Christ eine Antwort geben, die ich in folgenden Thesen zusammenfassen möchte:

1. Die Bibel sieht die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen vor Gott. Sie sieht aber auch (vergl. Röm 12), daß alle Menschen verschiedene Gaben haben und in mannigfaltiger Weise die ihnen von Gott gegebene Freiheit gebrauchen. Es gibt intelligente und weniger intelligente, geschickte und ungeschickte, kontaktfreudige und verschlossene, verantwortungsbewußte und verantwortungsscheue Menschen. Die Gleichheit vor Gott ist eine differenzierte Gleichheit.

2. Die Ungleichheit zwischen den Menschen darf niemals zur Ausbeutung, Verknechtung oder Diskriminierung des Menschen führen. Ausbeutung und Rassismus sind Sünde. Die Forderung gleichen Rechts gilt für alle, die Erhebung von besonderen politischen Ansprüchen aber muß in einer Beziehung zur Leistung stehen. Es gibt gleiche Chancen für alle, aber es gibt nicht den gleichen Anspruch für alle.

3. Offenkundig sind heute die Zeichen sozialer Ungerechtigkeit und rassistischer Unterdrückung. Diese Zeichen aber dürfen nicht im Sinne einer politischen oder ideologischen Selektion gesehen werden, das heißt, sie dürfen nicht nach politischen Vorurteilen ausgewählt werden. Man kann nicht über Unrecht in Afrika und Südamerika aufschreien und dabei gleiches Unrecht in anderen Teilen der Erde in anderen politischen Systemen übersehen. Ungerechtigkeit und Unterdrückung gibt es nicht nur im kapitalistischen Herrschersystem! Christen werden sich heute mit verschiedenen politischen Lebensformen abfinden müssen, aber der Grundsatz der Gerechtigkeit gilt für alle Gesellschaftsordnungen, die Menschen aufgestellt haben.

4. Der Christ soll Ungerechtigkeit und Unterdrückung anprangern und jenes Christentum als Heuchelei entlarven, das soziale Ungerechtigkeit duldet. Luther hat in dem Kapitel „An die Fürsten und Herren“ seiner „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“ harte Worte gegen jene Ausbeuter gebraucht, die Menschen, die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, zu Sklaven ihres widergöttlichen Egoismus gemacht haben.8)

5. Die Aufgabe des Christenmenschen ist die Aussöhnung und Vermittlung. Der Christ soll den Ausweg zwischen den Fronten suchen, Frieden und Ausgleich finden, indem er (wie Paulus in seinem Brief an Philemon) die verhärteten Stellungen unterwandert und den Geist der Liebe, Versöhnung und Gerechtigkeit erweckt. Auch Luther hat während der Bauernrevolution in Deutschland diesen Weg der Aussöhnung gesucht. Wo man ihm Unentschlossenheit oder Kompromißdenken vorwirft, hat er in Wirklichkeit den Versuch der Versöhnung zwischen Christenmenschen auf sich genommen. Diesen „Geist der Versöhnung“ soll man heute nicht den Fußballvereinen oder Pop‑Sängern überlassen, während Christen an ihren politischen Programmen basteln. Christen hüben und drüben sollen bekennen: Wir haben einen Vater im Himmel ‑ also laßt uns als Brüder leben und der Welt damit ein Zeichen der Hoffnung geben!

6. Die Revolution, das heißt die gesellschaftliche Umwälzung auch großen Stils, darf vom Christen als äußerste Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, wenn die Grundsätze der Freiheit und der Menschenwürde gefährdet sind und ein herrschendes System die Unmenschlichkeit zur Praxis macht. Eine Revolution aber ist sinnlos, wenn die Menschen, die diese Revolution wagen, in Egoismus und Machtgier verharren. Revolutionen setzen dann an die Stelle der alten Klasse nur eine neue herrschende Klasse, die vielleicht härter und ungerechter ist als die, die vor der Revolution die Verantwortung hatte. Christen widersprechen dem Dogma, daß neue Verhältnisse automatisch einen neuen Menschen schaff e n. Der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, also der revolutionäre Weg in die Freiheit ‚ war gleichzeitig Aufbruch des Glaubens an Gott und der Verpflichtung gegenüber der Gerechtigkeit.

7. Revolutionen, die die Gebote Gottes verachten, schaffen nur die Tradition von Blut, Tränen und Unterdrückung. Eine Revolution gegendie Gebote Gottes, gegen die von ihm gesetzten Ordnungen, also gegen die Gerechtigkeit, ist vom Teufel. Eine neue Gesellschaft, die an die Stelle der Familie das Kollektiv, an die Stelle der Wahrheit die Propaganda und an die Stelle der Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit setzt, rettet nicht, sondern zerstört die Humanität.

Über allen diesen Punkten steht folgender Grundsatz , den wir noch einmal formulieren: Revolutionen oder Gesellschaftsreformen können allenfalls drückende Ungerechtigkeit aufheben, aber niemals die Gerechtigkeit (als Grundprinzip) des Reiches Gottes herstellen. Das Heil des Menschen kommt nicht aus der politischen Aktion, sondern aus der Umkehr zu Gott im Glauben an Jesus Christus, der das Reich der Gerechtigkeit bringt. Wenn wir diese Unterscheidung aufheben ‑ und wir sind nicht zuletzt in der Christenheit im Begriff, genau das zu tun ‑ verfallen wir der Hybris der Selbsterlösung, so als ob wir es in unserer Macht hätten, alle Menschen auf dem Wege politischen Handelns glücklich zu machen. Das aber ist die gefährlichste Versuchung, die es für Christenmenschen gab, gibt und geben kann ‑ es ist die Versuchung, der Christus in der Wüste widerstand ‑ es ist die Versuchung der Macht.

Gewalt kann als äußerster Grenzfall nicht ausgeschlossen werden, wenn es um die irdischen Ordnungen Gottes geht. Um ein Recht kann man kämpfen. Man kann und man darf aber in der Kirche, im Dienst der Verkündigung, zu diesem Kampf nicht aufrufen. Die Kirche oder die Christenheit kann auch einen solchen Kampf nicht führen. Aber man kann den Christen als Bürger eines Staates auch nicht daran hindern, aus seinem sich an der Gerechtigkeit orientierenden Gewissen politisch ‑ auch mit der Anwendung der Gewalt ‑ zu handeln.

Die Kirche bezeugt den Triumph der Gnade auch für die Irrenden, schuldig gewordenen und an der Welt Verzweifelnden. Solche Menschen gibt es immer auf beiden Seiten der Fronten ‑ also muß sie über alle Fronten hinweg ihr Wort der Vergebung sprechen. Wo die Politik hüben und drüben den Menschen zerbricht und der Politiker vielleicht mit der Sinnlosigkeit seines Wirkens konfrontiert wird, bietet die Gemeinde Christi den Frieden, der höher ist als die Politik und den die Welt nicht geben kann. Dieser Friede aber, den die Welt nicht geben kann, geht über alle politischen Gruppierungen und Systeme hinaus.

Soweit dieser Auszug aus dem Buch DIE POLITISCHE HERAUSFORDERUNG DES CHRISTEN, von Prof. Dr. Georg Huntemann.

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