Charakterwäsche. Auszug: Antigermanismus (Schrenck-Notzing)

Caspar von Schrenck – Notzing

CHARAKTERWÄSCHE

Die Re-education der Deutschen und ihre bleibenden Auswirkungen

Inhalt
Die Verschwörung der Deutschen

Die Stunde Morgenthaus
Von Jalta nach Potsdam

Die Psychoanalyse wird politisiert

Der autoritäre Charakter

Psychologische Kriegführung

Entnazifizierung mit Strick

Dass Dilemma des Liberalismus

– Der nachfolgend angebotene Text ist ein Auszug aus dem Buch Charakterwäsche. Dabei geht es mir im Besonderen um den Aspekt eines amerikanischen sog. Antigermanismus, als Teil des gezielten Strebens der USA nach der Führungsrolle unter den Weltmächten. Da ein enger Zusammenhang zur Geschichte Deutschlands des vergangenen Jahrhunderts und besonders der beiden Weltkriege besteht, ist unsere gegenwärtige politische und allg. Situation nur vor diesem Hintergrund verstehbar.
Kürzungen und die Hervorhebungen sind von mir. Horst Koch, Herborn, Dezember 2008

Vorwort

Die Szene, die sich Mitte der 60er Jahre in einer norddeutschen Buchhandlung abspielte, war bezeichnend. Eine ältere Dame kommt herein, verlangt hinter vorgehaltener Hand flüsternd „das verbotene Buch“, die ratlose Verkäuferin ruft den Buchhändler, und nach einigem Hin und Her verläßt die Kundin wieder den Laden, in der Einkaufstasche das gewünschte Buch mit dem Titel „Charakterwäsche.  . . .

Die Charakterwäsche hatte schon ihren Leserkreis, als nach einem Vierteljahr die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit einer umfangreichen Rezension (1965) Aufsehen erregte. Die angesehene Journalistin Margret Boveri verriet, ihr sei dringend geraten worden, „die Charakterwäsche dürfe nicht einmal verrissen, sie müsse totgeschwiegen werden.“
Dieser Rat empörte Margret Boveri so sehr, daß sie schrieb: „Das wäre dieselbe totalitäre Methode, mit der im Dritten Reich eine Figur wie Thomas Mann aus dem Bewußtsein der Deutschen gelöscht werden sollte. Solche Methoden rächen sich früher oder später an denen, die sie anwandten.“
Margret Boveris Rezension . . .
Ad 1: Das Totschweigen, amerikanisch „silent treatment“ genannt, war eines unter mehreren Mitteln einer neuen Zensur, die sich dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (J. Habermas) angepaßt hatte.  . . .
Ad 2: Margret Boveri ordnete den Totalitarismus‑Begriff nicht mehr ausschließlich dem Kommunismus und dem Faschismus bzw. Nationalsozialismus zu, sondern beging den Tabubruch, totalitäre Tendenzen auch bei liberal‑demokratischen Institutionen für möglich zu halten.
Ad 3: Margret Boveri warnte, daß ein rücksichtsloser Umgang mit vermeintlich Andersdenkenden auf denjenigen zurückschlägt, der seine Machtstellung mißbraucht.  . . .
Die Besatzungszeit und ihre Folgen waren für die damaligen Zeitgeschichtler eine terra incognita. Zehn Jahre nach dem formalen Ende der Besatzung wirkte wohl noch nach, daß jede Kritik der Alliierten unter Strafe gestellt worden war.  . . .  

Einleitung

Daß die Besatzungsgeschichte den weißen Fleck auf der Landkarte der deutschen Zeitgeschichte bildet, ist keinesfalls auf die Unzulänglichkeit der Quellen zurückzuführen. Die Akten der amerikanischen Militärregierung liegen im World War II Records Center in Alexandria (Va.), einem Vorort von Washington. Noch im Februar 1964 wurde dort dem Verfasser von den Archivaren versichert, daß sie bisher keinen Deutschen zu Gesicht bekommen hätten.  . . .

Der entschiedene Widerstand gegen die Erforschung der Besatzungsgeschichte bedient sich gerne des besatzungsapologetischen Arguments, daß Theorie und Praxis der Besatzung »nur« eine Reaktion auf Theorie und Praxis des »Dritten Reichs« gewesen sei. Doch ist, wie so oft in der Weltgeschichte, die »Reaktion« ungleich wichtiger geworden als das, worauf sie reagierte. . . .  Sie ist mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur alleinbestimmenden Kraft geworden und hat für Deutschland unter anderem die territoriale Verstümmelung, die Teilung des Rumpfgebietes und dessen Anschluß an verschiedene Besatzungskulturen mit sich gebracht.
Die Lehre von den Chancen der »Stunde Null» gehört wohl zu den sakrosanktesten aller liberalen Dogmen.  . . .

Washington und Lenin sind ungleich mehr Gestalten der Geschichte des heutigen Deutschlands als Bismarck und Friedrich der Große.
Die besatzungsgeschichtlichen Ursprünge unserer Gegenwart sind tabu, und in den von Bonn und Ostberlin aus verwalteten Teilen Deutschlands wird mit gleichem Eifer an der Legende der autonomen Entstehung deutscher Nachkriegsstaaten gearbeitet.  . . .

Man malte in zahlreichen Schriften über die Entstehung der politischen Parteien nach 1945 das anheimelnde Bild politischer Biedermänner, die frei versammelt – wie weiland die Eidgenossen auf dem Rütli – schworen, die heimatlichen Fluren zu säubern und eine alt junge Demokratie zu errichten.   . . .

Margret Boveri hat ein mal festgestellt, daß sich in der amerikanischen Geschichte Perioden von etwa einem halben Menschenalter Dauer ablösen, in denen jeweils ein (übersteigerter) Liberalismus oder ein (übersteigerter) Konservativismus tonangebend sei. Auf die Epoche des Liberalismus unter Roosevelt (1933-1945) folgte die des Konservativismus vom republikanischen Wahlsieg im November 1946 bis zum demokratisch-liberalen Wahlsieg im November 1958. Seither ist Amerika in einen neuen Abschnitt des Liberalismus eingetreten, der bis etwa 1970 dauern müßte. Da es das höchste Glück der Deutschen geworden ist, aus zweiter Hand leben zu dürfen, ist mit einer Übernahme des amerikanischen Rhythmus bei uns zu rechnen.

Teil 1 Von der democracy zur Demokratie

Künder des neuen Menschen

Soldaten waren noch immer die besten Missionare. Die arabischen Reiter brachten den Koran, die spanischen Tercios das Christentum und die Rotarmisten den Sozialismus. Auch die amerikanischen G.I.’s mühten sich redlich mit einer Mission ab.  . . .  Sie begannen zu spüren, daß es weniger der Inhalt einer Botschaft ist, der zählt, als die Machtstellung, die der Missionar einnimmt.
Und die Machtstellung der amerikanischen Besatzung war recht augenfällig. Der Berichterstatter des »Army Talk«, Julian Bach, schrieb: »In Amerikas Deutschland geschieht, was uns paßt . . .« . . .
Wenn die amerikanischen Soldaten von »democracy« sprachen, beriefen sie sich weniger auf den alliierten Demokratiebegriff des Potsdamer Abkommens als auf den amerikanischen »way of life«, der auch der »democratic way of life« sei.  . . .

Die »Schlacht um Amerika«

. . . Die »Schlacht um Amerika« – die Umstimmung der amerikanischen Öffentlichkeit zugunsten eines Kriegseintritts – war Roosevelts größte Stunde. Der Präsident hatte gelernt, Öffentlichkeit im Kongreß zu vermeiden. Er brachte jeweils nur jene interventionistischen Vorlagen im Kongreß ein, die nach dem augenblicklichen Stand der Debatte für und wider die Intervention Aussicht auf Annahme hatten. . . .
Roosevelt bediente sich der neuen Methoden der Massenbeeinflussung, die der Regierung ermöglichen, mit den Bürgern so umzugehen wie große Firmen mit ihren Kunden. 1935 hatte Dr. George Gallup die Techniken der Meinungsbefragung entwickelt, auf die Roosevelt jetzt sein Vorgehen ausrichtete. Das neuartige Medium des Rundfunks wurde von ihm ebenso als Führungsmittel ausgebaut, wie die regelmäßigen Pressekonferenzen.
Roosevelt, der noch 1936 die Mehrheit der Presse gegen sich gehabt hatte, hatte gelernt, daß er durch Liefern oder Vorenthalten von Informationen den beruflichen Werdegang der einzelnen Journalisten bestimmen konnte – ganz gleich, wie der Kurs der Zeitung war.  . . .

Den Interventionisten standen die Isolationisten gegenüber, die sich um das Komitee »America First« scharten.  . . . In ihnen verkörperte sich das Mißtrauen des Mittleren Westens gegen den Mißbrauch der wirtschaftlichen und militärischen Kraft der Vereinigten Staaten für Ziele, die mehr internationalen als national-amerikanischen Einstellungen entsprangen.  . . . Der Punkt, an dem sich Isolationisten und Interventionisten schieden, war die Frage, ob die Politik der Errichtung einer moralischen Weltordnung dienen oder nur nationale Interessen verteidigen sollte.

Eine einflußreiche Gruppe unter Expräsident Hoover trat zwar für eine begrenzte Hilfe an England und Frankreich ein, um so das aus den Fugen geratene Gleichgewicht in Europa wiederherzustellen und einen Ausgleichsfrieden zu ermöglichen. Aber gerade der Frieden war es ja, den Roosevelt unter allen Umständen zu verhindern suchte. Denn der Frieden stand der einen Welt und ihrer moralischen Ordnung im Wege.  . . .

Nach einer Wahl sieht in der repräsentativen Demokratie alles anders aus als vor ihr, und dem Wahlsieg Roosevelts folgte nicht die Erfüllung des Wahlversprechens des Präsidenten, daß er Amerika aus dem Krieg heraushalten wolle, sondern jene Radikalisierung des Interventionismus.
Die dramatische Darbietung der europäischen Kriegsereignisse lief auf hohen Touren. »Nazi-Germany« wurde allgemein durch einen alles zermalmenden Schaftstiefel repräsentiert.
Selig Adler schreibt in seiner Geschichte des Isolationismus: »1940 war es für die Amerikaner schwierig geworden, Augen und Ohren gegen die Opfer Hitlers zu verschließen, die von den Anschlagsäulen und aus Zeitungsanzeigen blickten, die der Postbote in das Haus trug, die im Kino auf die Leinwand projiziert wurden und im Rundfunk an die Stelle der Reklamesendungen traten. Amerika sang: >There will be bluebirds over the white cliffs of Dover!<«

Doch nicht allein aus Europa dräuten Gefahren, auch Amerika sollte von einer Fünften Kolonne von Naziagenten durchsetzt sein. In der zunehmenden Radikalisierung der interventionistischen Bewegung wurden die Isolationisten als »Transmissionsriemen« des Nazismus und Agenten der Fünften Kolonne hingestellt. In dieser Rufmord-Kampagne traten Elemente in den Vordergrund, die den radikalen Interventionisten kaum große Freude machten  . . .

In die Interventionsbewegung flossen kräftige Ströme europäischer Ideologien ein. Eine bezeichnende Rolle spielte hierbei das »Committee on Europe«, aus dem 1940 der Ausschuß der 15 hervorging. Die 15, von denen ein jeder eine Art intellektueller Berühmtheit war, hielten vom 24.-26. Mai 1940 in Atlantic City einen Kongreß ab, dessen Manifest unter dem Titel »The City of Man« veröffentlicht wurde.

Die Errichtung der Weltdemokratie die die 15 planten, war ein offen chiliastisches Unternehmen. »In einer Epoche der Apokalypse fordern wir ein Millenium.« Die 15 vertraten alle möglichen geistigen Traditionen, außer jenen, die in der »Hauptströmung« des amerikanischen Denkens standen. Unter ihnen befanden sich Ideologen, die den Faschismus schon vorweggenommen hatten und dann bei dessen massenhaftem Auftreten abgefallen waren, wie Thomas Mann und sein Schwiegersohn Giuseppe Borgese, ein ehemaliger italienischer Propagandachef im Ersten Weltkrieg, Van Wyck Brooks, der führende amerikanische Literaturhistoriker und Sozialist, Gaetano Salvemini, die italienische »Schwiegermutter der Revolution«, Reinhold Niebuhr, der Herausgeber des Organs der amerikanischen Sozialisten »The World Tomorrow« und fŭhrende lutherische Theologe, der »nicht nur radikal, sondern auch tief religiös war« und Lewis Mumford, der Prophet des heraufdämmernden, von den Fesseln der neurotischen Stadt befreiten Übermenschen.
Für diese Männer war Adolf Hitler ein heilsgeschichtliches Ereignis (wenn auch in säkularisierter Form). Wie der Antichrist am Vorabend der Wiederkehr Christi und der Aufrichtung der endgültigen Gottesherrschaft alle Übel der Welt noch einmal in sich zusammenfaßt, so war Adolf Hitler für sie eine Verkörperung alles Bösen, nach dessen Überwindung nicht die Rückkehr zur gestörten alten Ordnung stehen konnte, sondern nur die endgültige Errichtung des (säkularisierten) Reiches Gottes, der City of Man.

Die apokalyptische Deutung der Zeitgeschichte hätte geringe Resonanz gefunden, wenn sie sich auf die Einwandererquartiere von New York und den Kreis der 15 beschränkt hätte. Strebte sie das amerikanische Indigenat (Heimatrecht) an, mußte sie aus dem biblischen »Fundamentalismus« des Getreidegürtels aufsteigen. So wurde denn der amerikanische Vizepräsident (1940-44) Henry Agard Wallace (geb. 1888) aus Iowa zum Propheten des »Jahrhunderts des Kleinen Mannes« gekürt.  . . .

Am 8. Mai 1942 hielt Wallace vor dem Verein Freie Welt in New York eine Rede, die von »PM« zur Gettysburg-Adresse des Liberalismus hochgelobt wurde. »Das Volk auf seinem chiliastischen und revolutionären Marsch zur Manifestation der Würde, die in der menschlichen Seele liegt . . .  Die Revolution des Volkes ist auf dem Marsch, und der Teufel und alle seine Engel können sie nicht überwinden, denn auf der Seite des Volkes steht der Herr.«

Als Wallace in der Rede Hitler siebenmal als den Satan bezeichnete, glaubten die PM-Liberalen, mitten in der Volkstradition des Bibelgürtels zu stehen. Der mißglückte Anlauf jedoch, den Wallace auf die amerikanische Präsidentschaft nahm, erwies, daß die Anhängerschaft, die sich um ihn scharte, sich auf eben jene liberalen Kreise beschränkte, die mit seiner Hilfe ins Volk vorstoßen wollten.

F.D.R.

Der Konflikt, der auf Amerika zuzukommen schien, war Roosevelt wie auf den Leib geschrieben. Er schwankte keinen Moment und war jederzeit fest überzeugt, für die Erhaltung der moralischen Weltordnung zu kämpfen.  . . . Er war für frischfröhliche Aggression in Mexiko, Japan und anderswo, empfahl wärmstens den von seinem Onkel Theodore Roosevelt in die Requisitenkammer der amerikanischen Außenpolitik aufgenommenen »großen Stock« . . .

 . . . Er glaubte nun, daß es eine einheitliche, allgemeingültige Moral gebe, nach der sich die Einzelmenschen ebenso wie die Staaten zu richten hätten. Gut sei, wer die Moralgesetze befolge, böse, wer sie in den Wind schlage. Das Verhältnis von Gut und Böse bestimmte sich für Roosevelt nach der Formel »90 : 10«.

90 % der Völker waren für den Frieden, 10 % für den Krieg. . . .
90 % der Menschen sind gut. Richtig angeleitet, handeln sie gut. Sie zum Fortschritt der Zivilisation zu führen, ist ein pädagogisches Problem, »denn die hervorragendste Aufgabe des Staatsmanns ist zu erziehen«.
10 % hingegen sind verstockt. Für sie ist der »große Stock« da.

Wenn Roosevelt Deutschland, Italien und Japan vorwarf, »von der gottlosen Verachtung des Menschengeschlechtes« beherrscht zu sein, so warf er ihnen die absichtliche Verletzung der allgemein gültigen Moralgesetze vor. Diese absichtliche Verletzung war böse. Und mit dem Bösen gibt es kein Paktieren. Das Kriegsziel stand für Roosevelt fest, noch ehe ein Krieg begonnen hatte. »Wir kämpfen, um die Welt von den alten Übeln, von den alten Krankheiten zu säubern.«

Die Bundesgenossen, die Schulter an Schulter mit den Vereinigten Staaten einer neuen Welt entgegenmarschierten, konnten nicht böse sein. Roosevelt hielt sie, auch wenn er an ihnen noch den einen oder anderen Makel erblickte, für erziehbar und beeinflußbar. Man konnte mit Geduld und Gottvertrauen dem Augenblick entgegensehen, in dem Churchill seine Kolonien und Stalin seine kämpferischen Gottlosen fahren lassen werde. Denn im Grunde ihrer Seelen waren sie beide gut und nicht verstockt.

Roosevelt war der festen Überzeugung, daß Wandlung durch Annäherung erfolge. Sicher sah er anfangs die moralische Weltordnung in Volk und Regierung von Großbritannien und USA verkörpert.

Die moralische Weltordnung war somit auch eine christliche und angelsächsische. Die Erweiterung der Kriegskoalition durch die Sowjetunion und China war für Roosevelt eine Herausforderung, aus den neuen und weniger christlichen Bundesgenossen Mitträger der moralischen Weltordnung zu machen. Roosevelt erkannte sehr wohl die Grenzen, die einer Bevormundung der Sowjetunion gesetzt waren. Als Realpolitiker, der an das Prinzip des Gebens und Nehmens glaubte, entwickelte er Rußland gegenüber die Politik des »Noblesse oblige«, die das ideale Ziel der Erstellung der neuen Weltordnung mit dem realen Prinzip des Interessenausgleichs verband.
Roosevelt glaubte durch Konzessionen auf der Ebene der Interessen in Stalin jenes Vertrauen zu erwecken, das ihn auf der Ebene der moralischen Weltordnung zur Zusammenarbeit verpflichten mußte. Stalin ging auch auf diese Politik ein. Die Auflösung der Komintern (Juni 1943) und die Erlaubnis zur Wahl eines Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche (September 1943) gab er, um territorialen Gewinn und Förderung sowjetischer Interessen zu nehmen.

Aus der einen Moral angelsächsisch-christlicher Wurzel ging die moralische Einheit der Welt hervor, deren organisatorisches Spiegelbild auf der zwischenstaatlichen Ebene den Namen der Kriegskoalition der Vereinten Nationen (United Nations) übernahm. Roosevelt war überzeugt, daß die Sonderrolle der Vereinigten Staaten darin bestünde, daß ihnen die moralische Führung der Welt zustehe, die durch die wirtschaftliche und militärische nur ergänzt werde. Seien die Vereinigten Staaten nicht die einzige Nation, die eine territorialen Ambitionen und keine alten Feindschaften habe? Würden sich ihnen nicht die übrigen Staaten voller Vertrauen anschließen?  . . .

Wenn Amerika sich für die moralische Einheit der Welt verantwortlich fühle, so müsse es sich auch vor Augen führen, daß deren organisatorische Verwirklichung unter den gegebenen Machtverhältnissen nur durch die Zusammenarbeit der vier Großmächte zu erreichen sei. Die konkrete Vertretung der Moralgesetze forderte den Zusammenhalt der Großmächte, für den Opfer zu bringen durchaus moralisch war.

Den Böswilligen (10 %) gegenüber war jedoch, was den Großmächten gegenüber moralisch war, eindeutig unmoralisch. Ihnen gegenüber hätten die vier Großmächte die Rolle eines »Sheriff« zu übernehmen, der dafür zu sorgen habe, daß kein Staat das Recht in die eigene Faust nehme. Alle Staaten außer Großbritannien, den USA, der Sowjetunion und China seien zu entwaffnen. Würde einer der entwaffneten Staaten Ansätze der Böswilligkeit zeigen, so solle er vorerst blockiert werden. Helfe das nicht, so wäre die Bombardierung durch die Luftstreitkräfte der Großmächte einzuleiten.  . . .

Die Verschwörung der Deutschen

In der »Schlacht um Amеrika« hatte sich eine neue politische Nomenklatur durchgesetzt. Waren die Liberalen der alten Tage die Progressiven der Agrarstaaten gewesen, die den Kampf des alten Amerika der Vorbürgerkriegszeit gegen Wall-Street, europäische Einflüsse und die industrielle Ostküste führten, so speisten sich die neuen Liberalen gerade aus diesen europäischen Einflüssen.

Der Kernmythos der Fortschrittlichen etwa, der der Verschwörung (conspiracy), wanderte über die Fronten.  . . .

. . .  Um so üppiger wuchsen die Verschwörungstheorien, in denen die Nationalsozialisten als braune Marionetten, die an Fäden tanzten, welche von hintergründigen Mächten gezogen wurden.

Die wichtigsten Verschwörungslehren waren die über die Junker, die Industriellen, den Generalstab, die Geopolitiker und die deutschen Philosophen:

1. »The Junkers« als Verschwörer waren beim Durchschnittsamerikaner besonders populär, da dieser sich unter ihnen durch die Assoziation mit junk – Müll etwas Konkretes vorstellen konnte. Die Junker hätten in Deutschland die Regierungen gestellt, die Verwaltungen kontrolliert, die Weimarer Republik sabotiert, Freikorps gebildet und endlich Hitler in den Sattel gesetzt. In den Samurai, den »Junkern des Ostens«, fanden sie ihr gleich kriegerisches Pendant. Preußen galt als der Junkerstaat, wobei es niemanden interessiere, daß es in der Weimarer Zeit die Hausmacht der Sozialdemokraten gewesen war. Die Verschwörung der Junker sollte durch die Auflösung Preußens (Kontrollratsgesetz Nr. 46: »Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus in Deutschland gewesen ist …«) und die von den Amerikanern geplante und den Russen durchgeführte Bodenreform beendet werden.

2. Auch die »Verschwörung des deutschen Generalstabs ist ein Evergreen aus der Kriegspropaganda des Ersten Weltkrieges. Nach dem stellvertretenden amerikanischen Außenminister und Vertrauten Roosevelts Sumner Welles sei der Generalstab »ein nur halb sichtbarer Orden«, der sich der langfristigen Vorausplanung von Kriegen weihe  . . . Der Generalstab habe zwar den »Hitlerismus als sein Werkzeug benützt«  . . .

3. War die Junker-Verschwörung eine Marotte, so hatte die weitverbreitete Lehre von der Verschwörung der Industriellen eine sehr brisante innenpolitische Note. Wurden die deutschen Kartelle »entlarvt«, so stellte sich unmittelbar die Frage: »Was ist mit den amerikanischen Trusts?« Damit diese Frage auch richtig verstanden wurde, war das Zusammenspiel amerikanischer und deutscher Industrieller eines der Lieblingsthemen der Liberalen vor, während und nach dem Kriege. War in den 30er Jahren argumentiert worden, daß die Industrie um der Rüstungsgewinne willen Amerika in den ersten Weltkrieg verwickelt habe, so wurde in den 40er Jahren mit gleicher Überzeugung behauptet, daß die Industrie aufgrund ihrer Kartellabsprachen das Entstehen des für Kriegszwecke nötigen Produktionsvolumens verhindert habe. Überall dort, wo vor Kriegsbeginn ein Kartell gewesen sei, sei nach Kriegsbeginn eine Produktionslücke aufgetreten.
Im Glauben, daß das Dritte Reich ein Kind der industriellen Monopole sei, trafen sich Kommunisten und radikalliberale Trustbuster. In den Konsequenzen, die man aus dieser wichtigsten Verschwörungstheorie zog, spiegelt sich darum auch der jeweilige Stand des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses. Die Dekartellisierung, die Industriellenprozesse (Krupp, Flick, IG-Farben) und die Wirtschaftspolitik der Direktive JCS 1067 waren Ölzweige, die der Sowjetunion entgegengehalten wurden.  . . .

5. Von geringerer aktueller Bedeutung war die Lehre von der Verschwörung der deutschen Philosophen. Zur Bewältigung der Gegenwart gehört, daß man politisches Mißgeschick auf geistige Fehleinstellungen zurückführt. Schon für die französische Revolution waren die enzyklopädistischen Philosophen oder die bayerischen Illuminaten haftbar gemacht worden. Die Lehre von der Verschwörung des aufklärerischen Ordens der Illuminaten, der vom Ingolstädter Prof. Weißhaupt und dem bekannten Herrn von Knigge gelenkt wurde, war bis nach Neu-England gewandert.  . . .
Da der Beitrag der Deutschen zur Philosophiegeschichte nicht gering ist, so war auch die Suche nach deutscher philosophischer Kriminalität besonders ergiebig. Schon im Ersten Weltkrieg hatte der Kriegsbeitrag der alliierten und assoziierten Philosophen in der systematischen Belastung beinahe sämtlicher deutschen Philosophen seit Kant bestanden. John Dewey, Amerikas nationaler Philosoph, war 1915 mit seinem Buch »German Philosophy and German Politics« vorangeschritten. Er brauchte 1942 die Schrift für die Neuauflage kaum mehr zu aktualisieren.
Andere dehnten den Radius aus, indem sie Luther oder Leibniz auf die Anklagebank setzten. Neben diesen saß eine bunte Schar alldeutscher und völkischer Autoren der Jahrhundertwende, die in keinem Lexikon zu finden sind. Selbst dem Spezialkenner fällt es schwer, diese Gewährsleute der philosophischen Verschwörung ausfindig zu machen  . . .

Wenn so viele Verschwörungen zwischen den Grenzpfählen eines Landes ausgebrütet wurden, das kleiner war als Texas, mußte der Schluß gezogen werden, daß alle diese Verschwörungen nur Teilaspekte einer großen Verschwörung seien, die mit dem Volk gegeben war.
Das deutsche Volk verschwöre sich seit Jahrhunderten gegen die Zivilisation. Bauer und Junker, Bürger und Fürst seien alle in diese Verschwörung verstrickt.  . . .

In dem wohl meistgelesenen Buch über Deutschland, Louis Nizers »What to do with Germany?« (Harry S. Truman: »Jeder Amerikaner sollte es lesen«) erfährt die deutsche Geschichte folgende bündige Darstellung:
»Die Deutschen zerschlugen die lateinische Zivilisation in der Schlacht von Adrianopel (378) . . . Sie machten Krieg zu ihrem Beruf. Wo sie hintraten, starb die Kultur ab. Sie plünderten Paris, Arras, Reims, Amiens, Tours, Bordeaux und Dutzende anderer Städte, die in späteren Generationen von ihren kriminellen Nachfahren wiederholt heimgesucht wurden . . . Vier Jahrhunderte nach Adrianopel setzte Karl der Große die deutsche Tradition fort . . . Er versuchte, die Welt zu erobern, ein Refrain, der seitdem mit wahnsinniger und zerstörender Ausdauer durch die deutsche Existenz lief. Er führte jedes Jahr einen Krieg . . . die Deutschen folgten ihm mit der fanatischen Ergebenheit für die gleichen Prinzipien, die sie anleiteten, in unserer Generation dem Kaiser oder Hitler zu folgen  . . .  Der Nazismus ist keine neue Theorie, die aus den Ungerechtigkeiten des Versailler Vertrags entstanden ist. Er ist ein Ausdruck der deutschen Aspirationen, die in allen Jahrhunderten ihren Ausdruck fanden.«

Nizers Buch machte also die deutsche Frage mit einem Schlage klar. Der Leser Präsident Roosevelt verteilte es an seine Kabinettsmitglieder; General Eisenhower versandte 100 000 Exemplare und ließ alle Offiziere seines Stabes Aufsätze über das Buch schreiben.  . . .

Des Kleinholzmachens war kein Ende.  . . .

Der Grundton, auf den das Deutschlandbild der Kriegspropagandisten gestimmt war, war die Annahme, daß die Deutschen eine negative Sonderrolle in der Weltgeschichte spielten, die sich in ihrer Philosophie und in ihrem Volkscharakter Ausdruck verschaffe. Wenn Deutschland der Träger einer Abirrung vom Hauptstrom der Weltzivilisation ist, dann muß es weltanschauungslogisch auch eine solche Weltzivilisation geben.
Der Antigermanismus , der da glaubt, daß der deutsche Charakter negative Besonderheiten besitzt, bedingt weltanschauungslogisch den Panhumanismus, der eine Formel für die ideologische Zusammenfassung aller Völker in einem Weltstaat anbietet.

Auf die Diagnose folgte die Therapie. War der Nationalsozialismus nur der zeitgemäße Ausdruck dauernder Aspirationen des deutschen Volkes, so mußte dafür gesorgt werden, daß diesem Volk für alle Zeiten die Möglichkeit genommen wurde, den Gang der Weltgeschichte zu beeinflussen – es mußte ausgeschaltet werden.

Diese Ausschaltung konnte auf verschiedene Weise vorgenommen werden. Unter anderem ist die biologische Ausschaltung des deutschen Volkes vorgeschlagen worden. In seinem noch vor dem amerikanische Kriegseintritt verfaßten Buch »Germany must perish« fordert Theodore N. Kaufman die Sterilisierung aller Deutschen in zeugungsfähigem Alter. Die sterilisierten Deutschen sollten dann auf die Nachbarvölker verteilt werden und bis zu ihrem Tode deren Sprachen sprechen.
Ein anderer Weg der biologischen Ausschaltung wurde in Harvard ausgearbeitet. Die deutschen Männer sollten als Zwangsarbeiter auf die Nachbarvölker verteilt werden und in ihrer Freizeit diese Völker biologisch auffrischen und mit den martialischen Eigenschaften der Deutschen versehen.

Eine weitere Form der Ausschaltung war die militärische. Durch eine vollkommene Entwaffnung, wie sie sämtliche Deutschland-Pläne vorsahen, sollten die Deutschen daran gehindert werden, eine Machtrolle in der Weltpolitik zu spielen. Neben der militärischen Entwaffnung spielte die wirtschaftliche Entwaffnung die entscheidende Rolle.  . . . Es sei vor allem die deutsche Forschung auszuschalten. Aneignung der deutschen Patente, Fortführung der Wissenschaftler, Verbot oder Kontrolle von Laboratorien sowie die Kulturhoheit der Länder waren mögliche Wege zur Ausschaltung der Wissenschaft.

Neben der militärischen war vor allem auch die politische Ausschaltung Deutschlands durch seine Aufteilung in verschiedene Einzelstaaten im Gespräch. In unbestimmter Form waren alle Alliierten für die Teilung Deutschlands eingetreten. 
Zu konkreten Beschlüssen kam es in der Teilungsfrage jedoch nicht, da über die Form der Teilung keine Einigkeit erzielt werden konnte. Churchill und der amerikanische Außenminister Hull dachten daran, im Süden des zu teilenden Reiches ein neues lebensfähiges Staatsgebilde entstehen zu lassen, etwa in Gestalt einer Donaukonföderation (Bayern + Österreich + Ungarn mit Südtirol und einem Zugang zur Adria). Stalin dagegen war mehr an einem Machtvakuum im russischen Vorfeld interessiert und hatte zudem für Ungarn ganz andere Pläne. Strittig unter den Befürwortern der Teilung war auch die Frage, wie man ein späteres Wiederzusammenwachsen der Teile verhindern konnte.  . . .
Das sicherste Mittel zur Ausschaltung Deutschlands war die Errichtung der Weltgesellschaft, die die Machtmittel dieser Erde bei den verbündeten Großmächten monopolisierte. . . .«

Der die Öffentlichkeit in den letzten Kriegsjahren stark beschäftigende Streit, ob man Deutschland einen »harten« oder einen »weichen« Frieden verschreiben sollte, war im wesentlichen ein Streit der antigermanischen Richtung mit den Vertretern der Lehre von den »zwei Deutschland«. Das Regime der Nazi sei, behaupteten die letzteren, die Diktatur des einen (schlechten) über das andere (gute) Deutschland. Ein Karthago aus Deutschland zu machen, würde dem anderen »guten« Deutschland jede Chance nehmen. Die Sprecher der »Zwei-Deutschland-Theorie«, die sich unter der Leitung des Theologen Reinhold Niebuhr sich vereinten, waren meist emigrierte Sozialisten . . .

Durch Strukturreformen sei das schlechte Deutschland zu entmachten – durch Bodenreform die Junker, durch Besitzreform die Industriellen, durch Universitätsreform die falschen Philosophen, durch Verwaltungsreform die reaktionäre Bürokratie und der deutschnationale Richterstand -, dann werde sich das andere Deutschland schon von selbst in der richtigen Richtung entwickeln.
Die Sozialisten, die für das andere Deutschland fochten, hatten dem alten demokratischen Glauben an das Volk noch nicht abgeschworen. Das Volk – die überwältigende Mehrheit – sei gegen Hitler, die Emigranten die freien Sprecher der zeitweise am Sprechen verhinderten Deutschen. Ein Volksaufstand könne jeden Tag den Beweis erbringen, daß dem so sei. Als der 20. Juli einen größeren Umsturzversuch brachte, war es jedoch – leider – der falsche Aufstand, und man wartete weiter auf den richtigen.  . . .

What to do with Germany?

Die Geschichte der amerikanischen Deutschlandplanung im Zweiten Weltkrieg ist die traurige Geschichte, wie Sachverstand und politische Verantwortung die Waffen strecken gegenüber dem ideologischen Fanatismus einer kleinen Gruppe, die sich gedeckt vom Sperrfeuer der »öffentlichen Meinung« frei zu entfalten vermag.  . . .

Roosevelt entzog die Außenpolitik dem Einflußbereich des Kongresses, indem er Protokolle unterzeichnete, Verwaltungsabkommen schloß und so völkerrechtliche Verträge, die der Genehmigung des Kongresses bedurft hätten, vermied.
Eine dieser Erklärungen ist die der Vereinten Nationen, die am Neujahrstag 1942 von Roosevelt, Churchill, Litwinow und Sung unterzeichnet wurde. Die Unterzeichner stellten fest, daß sie in gemeinsamem Kampf gegen einen brutalen Feind stünden, dessen vollständige Niederlage für die Bewahrung der Menschenrechte grundlegend sei. Sie verpflichteten sich, ihre ganze Kraft in diesem Kampf einzusetzen und keinen Separatfrieden zu schließen.
Im übrigen beriefen sie sich auf die vielstrapazierte Atlantic-Charta.  . . .

Einen Tag nach der Unterzeichnung im Weißen Haus durch die vier Großmächte, durften die übrigen neugebackenen Vereinten Nationen ihre Unterschriften im Außenministerium abliefern. Es war ein wenig ansehnlicher Troß, der sich aus den britischen Dominien, 8 Exilregierungen und 9 mittelamerikanischen Satelliten der Vereinigten Staaten zusammensetzte.  . . .


Für den ersten »Tag der Vereinten Nationen« sprach Roosevelt demnach über den Rundfunk das folgende Gebet: 

»Gott der Freien, wir geloben heute unser Herz und unser Leben der Sache der gesamten Freien Menschheit. Unsere Erde ist nur ein kleiner Stern im großen Universum. Aber wir können, so wir wollen, aus ihr einen Planeten machen, der unbelästigt ist vom Kriege, verschont ist von Hunger und Furcht, ungespalten ist durch die sinnlosen Unterscheidungen von Rasse, Hautfarbe und Theorie. Der Geist des Menschen ist erwacht, und die Seele des Menschen ist vorangeschritten. Gib uns das Geschick und den Mut, die Welt von der Unterdrückung und der alten gemeinen Lehre, daß die Starken die Schwachen aufessen müssen, weil sie stark sind, zu säubern. Schenke uns einen gemeinsamen Glauben, daß der Mensch Brot und Frieden, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit, Freiheit und Sicherheit, Gelegenheit und die gleiche Chance, sein Bestes zu tun, nicht nur in unserem Land, sondern in der ganzen Welt, kennenlernen wird. Und in diesem Glauben laßt uns marschieren, auf die saubere Welt zu, die unsere Hände schaffen können. Amen.«  . . .

. . .  Die in deutschen Fragen treibende Kraft der Abteilung war der Oberst David Marcus. Marcus war der »starke Mann« der extrem liberalen und Roosevelt persönlich treu ergebenen Stadtverwaltung der »Fusionisten« von New York. Marcus‘ Tätigkeit ist in Dunkel gehüllt.  Er begleitete Roosevelt später nach Jalta und Teheran und war mit Truman in Potsdam . . . Er löste einige der wichtigsten Aufgaben hinter verschlossenen Türen, wobei er häufig direkt an das Weiße Haus berichtete. Er half mit, die Kapitulationsurkunden zu entwerfen, die Italiener und Deutsche unterzeichneten. Er arbeitete das Programm für die Militärregierung in den besetzten Gebieten aus und ging selbst an Ort und Stelle, um zu sehen, daß es auch ausgeführt wurde.«

Marcus, der bei Kriegsende die Planungsabteilung der Civil Affairs Division leitete, war in der Nachkriegszeit erst im Stab des Militärgouverneurs in Deutschland, dann im Stab von MacArthur in Japan, ab Juni 1946 wieder in Washington, diesmal als Leiter der Abteilung für Kriegsverbrechen. Im April 1947, als das Ende der liberalen Phase der amerikanischen Politik sich deutlich abzeichnete, trat er aus der Armee aus und eröffnete ein Anwaltsbüro in der Fifth Avenue. Aber auch hier hielt es den ruhelosen Geist nicht lange. Er trat unter einem falschen Namen in die israelische Armee ein und fiel am 11. Juni 1948 vor den Toren Jerusalems.
Die Planung des Vorgehens der Armee bei der Besatzung war Sache der Civil Affairs Division in Washington.  . . .

Anfang 1944 waren die Absolventen der Schulen von Charlottesville und Fort Custer in England eingetroffen. 2000 künftige Angehörige der Militärregierung wurden in der neuerbauten Kadettenanstalt von Shrivenham zusammengefaßt. Über die Grundsätze der Besatzungspolitik gab es kaum Vorschriften, und einige mehr naive Offiziere gingen sogar so weit, diese aus dem Text der Atlantic‑Charta zu entwickeln. Das zusammenfassende »Handbook for Military Government« lag im August 1944 nach drei Umarbeitungen druckfertig vor, als Henry Morgenthau als liberaler Deus ex machina in London erschien, die geleistete Arbeit annullierte und dafür sorgte, daß die Besatzungsplanung an die antigermanischen Ideologie angeschlossen wurde.  . . .

. . .  forderte Roosevelt zum Abschluß der Konferenz von Casablanca vor der Presse am 24. Januar 1943 die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, Italiens und Japans.  . . .

Die Erklärung von Casablanca war eine Erklärung des totalen Krieges bis zum totalen Sieg, die alle Brücken abbrach und das diplomatische Spiel zum Erliegen brachte.  . . .

Was nach der bedingungslosen Kapitulation mit Deutschland zu geschehen habe, interessierte die amerikanische Öffentlichkeit mehr als die Regierung. Diese hielt dafür, daß die Zukunft Deutschlands im Rahmen der Nachkriegsordnung zu sehen sei. Ein Kriegsziel war die militärische Ausschaltung Deutschlands durch seine vollständige Entwaffnung. Roosevelt und Molotow hatten am 1. 1. 1942 ihr Einvernehmen in diesem Punkte festgestellt. Aus der Entwaffnung, die Roosevelt ja für alle Staaten außer den vier Großmächten vorgesehen hatte, folgte die Vernichtung der politischen Existenz Deutschlands.  . . . Molotow berichtete, daß Stalin »begeistert« sei.   . . .

So begann das Spiel um das Tranchieren des deutschen Bratens, dessen erste Moskauer Scheiben mit der Abtrennung Ostpreußens auf den sowjetischen Teller und mit der Abtrennung Österreichs und dessen Behandlung als »befreites Gebiet« zwischen die Teller fielen.

Was mit Restdeutschland zu geschehen habe . . .
. . . Das Ergebnis der anderthalbjährigen Sitzungen waren mehrere Kapitulationsurkunden, die Zoneneinteilung und die Errichtung des Kontrollrats für Deutschland. Die Kapitulationsurkunde sollte eine juristische Fassung der Erklärung von Casablanca sein. Es stellte sich heraus, daß eine Rooseveltsche Erklärung in juristische Terminologie zu fassen, gar nicht so einfach war, da der »neue« Geist schlecht in das »alte« Völkerrecht paßte. Die Engländer als die Fußkranken der neuen Weltordnung wollten eine genaue Abgrenzung der Rechte der Besatzungsmächte, die Amerikaner forderten ein generelles »mandate for change«, während die Russen vor allem an der Zerschlagung der deutschen Wehrmacht und der Überführung der gesamten deutschen Armee in die Gefangenschaft interessiert waren. Alles andere würde man schon späterhin regeln.  . . .

Es kam zu einem Kompromißdokument  . . . In dieser »Erklärung über die Niederlage Deutschlands und die Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland« sollten die vier Oberkommandierenden von sich aus die Kapitulation Deutschlands erklären. Doch die Zeit hatte gedrängt und Eisenhower nicht länger gewartet. Er ließ nach Abstimmung mit den Russen eine militärische Kapitulationsurkunde ausarbeiten, der auf Drängen Winants noch ein allgemeiner Ermächtigungsparagraph eingefügt wurde. Eisenhowers Urkunde wurde am 7. und 8. Mai in Reims und Berlin von den Vertretern der Wehrmacht unterzeichnet, während die Erklärung des Londoner Viermächteausschusses am 5. Juni 1945 im sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst von den vier Oberkommandierenden unterfertigt wurde.

Die anderen Londoner Ergebnisse waren nicht viel glückhafter. In der Zoneneinteilung (September 1944) wurde (unbeabsichtigt) die Magna Charta der Teilung Deutschlands erarbeitet, und was aus dem Kontrollrat geworden ist (November 1944), ist allgemein bekannt. Der amerikanische Botschafter in London, John Winant, war eine zeitgemäße Kopie seines Meisters Roosevelt, mit dem er über den Marine‑Code unter Umgehung des Außenministeriums direkte Verbindung hielt. Er glaubte mit Roosevelt, daß man sich auf menschlicher Basis mit den Russen verständigen müsse. Als Botschafter Murphy ihn darauf hinwies, daß die westlichen Zugangsrechte nach Berlin vertraglich gesichert werden sollten, sagte er, daß das Zonenabkommen nicht umgestoßen werden dürfe, da es nur zustande gekommen sei, weil er und Botschafter Gusew so gute Freunde geworden seien. Er glaubte daran, daß man in Berlin und anderswo sein Geschick in die Hände der Russen legen sollte, diese würden sich durch Annäherung wandeln. Sie würden das ihnen erwiesene Vertrauen und die nach dem Ende des diplomatischen Zeitalters herrschende Arglosigkeit zu schätzen wissen und sich ‑ noblesse oblige ‑ bei dem Aufbau der neuen Weltordnung kooperativ erweisen. Winant überlebte den Zusammenbruch dieser neuen Ordnung nicht. Er setzte 1947 seinem Leben ein Ende.

Die Stunde Morgenthaus

Der Rahmen der so folgereichen Londoner Vereinbarungen mußte so oder so mit einem Inhalt gefüllt werden. Die Zonen waren festgelegt, wobei der Streit zwischen den Engländern und Amerikanern bis zum September 1944 darum gegangen war, wer die südliche und wer die nördliche Zone in Westdeutschland erhalten sollte. Was in der Zone getan und welche Politik im Kontrollrat verfolgt werden solle, war damit aber noch nicht ausgemacht. Die Londoner Planung der anglo‑amerikanischen German Country Unit in Eisenhowers Hauptquartier konnte die Beendigung der Richtungskämpfe in Washington nicht abwarten. Sie brauchte handliche Richtlinien für die einmarschierenden Truppen. Im Sommer 1944 lag ein zusammenfassendes Handbuch über die Besetzung Deutschlands druckfertig vor. 
Da traf in London der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau jr. ein. Auf dem Flug nach London hatte ihm (nach Morgenthaus eigener Darstellung) sein engster Mitarbeiter Harry Dexter White ein Memorandum des Außenministeriums zur Frage deutscher Reparationen als Reiselektüre vorgelegt. Morgenthau schrieb: »Ich lehnte mich zurück, um es zu lesen, erst mit Interesse, dann mit Zweifel, schließlich mit entschiedenstem Widerspruch.« Und Morgenthau beschloß, sich in die deutsche Frage einzuschalten.

Die Einschaltung Morgenthaus war nicht so zufällig, wie er es darstellte. Er selbst war von Anfang an für einen scharfen Kurs in der Deutschlandpolitik empfänglich gewesen. Das Netz jedoch, auf dem von nun an die unter seinem Namen laufende Endlösung der deutschen Frage vertreten werden sollte, war von Harry Dexter White aufgebaut worden. Ob White ein Agent der Sowjetunion war oder nicht, ist nie eindeutig geklärt worden. Außer jedem Zweifel steht jedoch, daß White im Ministerium ein Netz von persönlichen Vertrauten und Zuträgern aufbaute, das ihm zur Verfolgung seiner persönlichen Politik diente. Zwei dieser Vertrauten waren Oberst Bernard Bernstein, der White über die Planungen in Eisenhowers Hauptquartier, und L. C. Aarons, Finanzberater von Botschafter Winant, der ihn über die Arbeiten der Europäischen Beratungskommission auf dem Laufenden hielt.

Morgenthau will nach einem Besuch bei Eisenhower auf die Idee gekommen sein:
»Warum sollte man Deutschland nicht überwiegend zu einer Nation von Kleinbauern machen?«.

Als langjähriger Herausgeber einer landwirtschaftlichen Fachzeitschrift glaubte er zu wissen, »daß Menschen, die dem Boden nahe sind, dazu tendieren, ein ruhiges und friedvolles Leben zu führen.«

Doch Morgenthaus Deutschlandpolitik war kaum so plötzlich entstanden, wie er glauben machen wollte. Denn schon fünf Tage nach dem Besuch bei Eisenhower konnten er und Harry Dexter White vor einem englischen Landhaus Winant, dessen Mitarbeitern Penrose und Mosely, sowie dem ungebeten anwesenden Oberst Bernstein einen detaillierten Deutschlandplan vortragen. Mosely widersprach heftig und wies nach, daß das Ergebnis von Morgenthaus Plan die Kontrolle Europas durch die Sowjetunion sein würde. . . .
Doch dieses Argument wirkte bei Morgenthau nicht so durchschlagend. Moselys Einwurf, daß die Vereinigten Staaten nicht zwei Weltkriege geführt hätten, um Deutschland und mit ihm Europa den Sowjetrussen zu unterwerfen, galt ihnen vielmehr als ein Beweis des machtpolitischen Unverständnisses für die sich anbahnende moralische Weltordnung.

Morgenthau informierte sich weiter. Eden zeigte ihm das Protokoll der Teheraner Konferenz (1943) der großen Drei, aus dem hervorging, daß Roosevelt an eine deutsche Teilung dachte, während Stalin umfangreiche Reparationen und die Entindustrialisierung Deutschlands befürwortete. Am 17. August flog Morgenthau nach Washington zurück. Er vergewisserte sich erst, was der Außenminister Hull über die Deutschlandfrage dachte. Dieser erzählte, daß er niemals die Protokolle der Teheraner Konferenz gesehen habe, daß man ihm nicht mitteile, was in der Spitzenplanung vorgehe und daß ihm bedeutet worden sei, die Deutschlandplanung sei Sache der Armee, nicht des Außenministeriums.  . . .

Als Morgenthau eine Woche später, am 25. August, wieder Roosevelt aufsuchte, zog er das »Handbook for Military Government in Germany«, das wie andere amtliche Dokumente von Whites Vertrauensmännern Bernstein und Aarons nach Washington gebracht worden war, hervor. Morgenthau hatte einen Auszug dabei.  . . . Der Morgenthau‑Plan ist die Grundlage aller weiteren Deutschlandplanung. . . . er war die ausgereifte Deutschland‑Konzeption des New‑Deal-Liberalismus.  . . . während Morgenthau den reinen Antigermanismus vertrat. . . . Roosevelt meinte jetzt, es sei das erste Mal, daß jemand behaupte, die Zerstörung der deutschen Wirtschaft nütze Europa. »Alle Wirtschaftler leugnen es. Ich aber stimme zu«, soll er laut Morgenthau gesagt haben.

Roosevelt fuhr nach Quebec, wo er am 12. September Churchill traf. Kaum angekommen, schickte er Morgenthau ein Telegramm, er solle kommen. Morgenthau kam und hatte am 15. September Roosevelts und Churchills Unterschrift auf einem Plan mit 14 Punkten erlangt. Die an Wilsons 14 Punkte erinnernden 14 Punkte des Morgenthau‑Planes (»Program to prevent Germany from starting a World War III«) sehen den baldigen Abzug der amerikanischen und britischen Truppen aus Deutschland und die Durchführung der geplanten Maßnahmen durch russische, französische und sonstige kontinentaleuropäische Truppen vor. Deutschland sei nach dem Verlust einiger Gebiete im Osten und Westen in einen süddeutschen und norddeutschen Staat zu teilen. Ein großer Teil Westdeutschlands, mit dem Ruhrgebiet als Kern, sei einer den Vereinten Nationen zu unterstellenden Zone einzuverleiben, in der sämtliche industriellen Ausrüstungen zu zerstören oder zu demontieren seien.

. . . Es ist der Grundgedanke der auf diesem Programm fußenden »Chaos‑Schule«, daß die Alliierten ihre Sicherungsmaßnahmen ergreifen sollten, daß aber die Folgen für die deutsche Bevölkerung sie nichts angingen. Daher sieht der Morgenthau‑Plan auch keine Reparationen aus der laufenden Produktion oder durch Geldzahlungen vor, da diese Leistungen ja eine funktionierende Wirtschaft voraussetzen würden. Doch der Morgenthau‑Plan hat noch eine andere Seite: die Nichtintervention in die deutsche Wirtschaft (Punkt 8 und 9) soll begleitet werden durch die Intervention in das Bildungswesen, die Presse, den Rundfunk (Punkt 6). Der (negative) Verzicht auf wirtschaftliche Lenkung, der zur völligen Verelendung führen mußte, sollte durch die (positive) seelische Lenkung ergänzt werden, die auch noch Elend vergoldet.  . . .

Der Morgenthau‑Plan wurde von Roosevelt und Churchill nicht in einem Zeitpunkt unterzeichnet, der ein ruhiges Ausreifen gestattet hätte. Er fiel vielmehr in die große politische Krise des Zweiten Weltkriegs, die Entscheidungen von dauernder Wirkung herbeiführte.

Die Alliierten unter der Führung Eisenhowers standen vor Aachen. Montgomery war der Ansicht, daß bei einem energischen Durchstoß die Besetzung des Ruhrgebietes und evtl. der Durchbruch nach Berlin glücken konnten. Eisenhower bremste ab, und niemand hat je bestritten, daß er ein guter Interpret des in Washington herrschenden Meinungsgleichgewichts war.
Die Rote Armee überschwemmte im Osten Teile von Finnland, Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien. . . . Der Rausch der Hoffnung auf das Entstehen einer neuen Welt ebbte ab. Die antigermanischen und panhumanistischen Konstrukteure der neuen Welt begannen zu spüren, daß ihre Herrschaft nicht ewig dauern würde.

Als der Zusammenbruch des Großdeutschen Reiches täglich erfolgen konnte, gelang es dem Finanzministerium, einen vorläufigen Deutschlandplan im Dreiministerienausschuß durchzusetzen, der den Ideen Morgenthaus folgte. Da Roosevelt und Churchill den Plan des Finanzministeriums in Quebec unterzeichnet hatten, schien den übrigen Ministerien ein weiterer Widerstand sinnlos. Oberst David Marcus von der Civil Affairs Division des Kriegsministeriums setzte den Morgenthau‑Plan in eine Direktive für den Oberkommandierenden der amerikanischen Besatzungstruppen um. Die Vertreter des Finanzministeriums stimmten begeistert zu. Am 22. September, nur eine Woche nach der Unterzeichnung von Quebec, fand eine ganztägige Sitzung im Amtszimmer von McCloy im Pentagon statt. Die Vertreter des Finanzminieriums erklärten, daß der vorliegende Entwurf die Zustimmung Roosevelts habe. Die übrigen Minister gaben ihren Widerstand auf und unterzeichneten. Es war die erste Fassung jener Direktive JCS 1067, die in ihrer sechsten Fassung die Grundlage der amerikanischen Deutschlandpolitik bis zum Sommer 1947 war, die in ergänzter Form im Potsdamer Abkommen der drei Mächte Sowjetunion, Großbritannien und USA als Basis der gemeinsamen Deutschlandpolitik anerkannt wurde und die für diejenigen, die behaupten, daß das Potsdamer Abkommen noch gültig ist, die Grundlage für den heutigen Status Deutschlands bildet.

Während Morgenthau versuchte, seinen Plan durch englische Unterstützung zu untermauern, war das Ganze in die Öffentlichkeit gedrungen. Jemand hatte am 21. September dem liberalen Journalisten Drew Pearson wöchentlich Indiskretionen einem auf Kulissenblicke wartenden Publikum zu bieten, eingeweiht.  . . .

1. für die Zerstörung der deutschen Schwerindustrie und Kontrollen gegen eine Reindustrialisierung,
2. territoriale Abtrennungen vom Reich, besonders die des Ruhrgebiets,

3. Teilung Deutschlands,

4. Dezentralisierung,
5. Wiedergutmachung und Reparationen,

6. Aufbau des deutschen Erziehungswesens,

7. Bodenreform,
8. Bestrafung der Kriegsverbrecher enthielt.



Aus dem Morgenthau‑Plan wurde das Schlagwort »Ackerbau und Weideland« herausgepickt und eine eifrige Diskussion begonnen, bei der die Gegner dieses Schlagwortes überwogen.
Roosevelt, der vor den Wahlen stand, nahm an, daß die Vertreter maximaler Schärfe in der Deutschlandpolitik auf jeden Fall für ihn stimmen würden, während die Stimmen derjenigen, die von geringeren Hassgefühlen geleitet waren, von beiden Kandidaten umstritten sein würden. Er begann, sich aus der Sache herauszuziehen. Seinem Kriegsminister erklärte er, er wisse nicht, wie seine Unterschrift unter den Morgenthau‑Plan gekommen sei, er müsse ohne viel Nachdenken unterzeichnet haben.
Morgenthau hatte ihm schon immer dazu gedient, Projekte probeweise zu vertreten, von denen und deren Urheber Roosevelt sich im Ernstfalle distanzieren konnte.

Bernstein flog im Januar 1945 nach Washington, um die Deutschlandplanung (im Morgenthauschen Sinne) nach dem Stillstand der Wintermonate wieder anzukurbeln. Am 23. März 1945 wurde als letzte Zusammenfassung der amerikanischen Deutschlandpolitik vor Potsdam ein Policy-Memorandum vom interministeriellen Ausschuß mit den Unterschriften von Morgenthau und White (Finanzen), McCloy und Hilldring (Krieg), Grew, Clayton und Matthews (Äußeres) und Coe (Foreign Economic Administration) Roosevelt überreicht, der es mit seiner Unterschrift versah. Das Memorandum, Roosevelts Testament in der Deutschland-Politik, trägt alle Kennzeichen der Morgenthau‑Schule:
»Deutschlands rücksichtslose Kriegführung und der fanatische Widerstand der Nazis haben Deutschlands Wirtschaft zerstört und Chaos und Leiden unvermeidlich gemacht.«

Diesem Chaos solle von der Besatzungsmacht nicht Einhalt geboten werden. Sie solle sich nur mit dem Zweck einmischen, Hungersnöte und solche Epidemien und Unruhen zu verhindern, die die Besatzungsstreitkräfte gefährden würden. Auch die Zahlung von Reparationen sei kein Grund für die Aufrechterhaltung der deutschen Wirtschaft und dürfe keinesfalls als Entschuldigung für die Erhaltung einer Schwerindustrie oder die Gewährung von Krediten an Deutschland verwendet werden.

Von Jalta nach Potsdam

In Jalta mußte die Entscheidung fallen. Viel Zeit war im Februar 1945 nicht mehr zu verlieren, da der Krieg sich dem Ende zuneigte. Sollte die Kriegskoalition zum Fundament der neuen Weltordnung gemacht werden, dann war der letzte Moment gekommen, abzuschließen. Roosevelt war entschlossen, sein Lebenswerk zu retten. Stalin sparte nicht mit freundlichen Trinksprüchen. Er verlieh Roosevelt nicht zu Unrecht den Ehrentitel eines »Schmieds der Anti‑Hitler-Koalition.«  . . .

Roosevelt wollte unverzüglich eine Weltordnung errichten, während er über deutsche oder polnische Fragen jedes Abkommen zu vermeiden suchte. Er stand nicht nur vor der Aufgabe, Stalin, sondern auch den amerikanischen Kongreß zum Beitritt zur Weltorganisation zu überreden. Stalin wiederum legte Wert darauf, daß seine künftige Politik nicht durch die Weltorganisation präjudiziert wurde. Es ging ihm um die Sicherung seines Herrschaftsbestandes. Die Konferenz von Jalta war ein Erfolg.
Roosevelt und Stalin erreichten, was sie wollten ‑ Roosevelt hatte die Hindernisse aus dem Weg geräumt, die der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen im Wege standen, denn Stalin verzichtete großmütig auf die von ihm geforderten 16 Sitze in der Vollversammlung der Vereinten Nationen für die 16 Gliedstaaten der Sowjetunion und begnügte sich mit zwei zusätzlichen Sitzen für die Ukraine und Weißrussland, die besondere Verdienste im Kampf mit Deutschland erworben hätten.  . . .

Der heikelste Gegenstand der Jalta‑Konferenz war nicht die deutsche, sondern die polnische Frage. Diese zehrte an den Nerven des Zukunftsplaners wie des Parteipolitikers Roosevelt. Der Parteipolitiker mußte mit der Stimmung der polnischen Minderheit in Amerika, die ihn bisher unterstützt hatte, rechnen. Dem Zukunftsplaner bereitete es Kopfzerbrechen, daß die Art und Weise, in der die Sowjets mit Rumänien umsprangen, zwar als gerechte Strafe für faschistische Missetaten interpretiert werden konnte, daß aber Polen nicht zu den zu bestrafenden Missetätern zu zählen war. Daß sich die Sowjetunion mehr nach geographischen als nach moralischen Gesichtspunkten richtete, konnte dem Amateurgeographen Roosevelt nicht entgehen.  . . .

Die Deutschlandfrage war, wie Stalin bald feststellte, in Jalta noch nicht spruchreif. Das Verrücken der polnischen Grenzen auf der einen Seite mußte ein Verrücken auf der anderen Seite nach sich ziehen. Mit Ostpreußen war nicht mehr gedient. Nun war Roosevelt bereit, bis zur Oder zu gehen. Stalin nahm dankend, was er bekam ‑ um den Rest würde er das nächste Mal bitten. Stalin legte die alten Aufteilungspläne auf den Konferenztisch. Churchill und Roosevelt trugen jedoch zur Diskussion nur ein schlechtes Gewissen bei.  . . .

Jubilierend verließen die Amerikaner die Konferenz von Jalta. Hopkins schrieb: »Wir glaubten im Herzen wirklich, ein neuer Tag sei angebrochen. Wir waren absolut überzeugt, den ersten großen Friedenssieg gewonnen zu haben.« In der Tat, die weitere Zusammenarbeit mit den Russen war gesichert, zu welchen Bedingungen, war da nicht so wichtig. In Jalta wurden die Weichen gestellt, in Potsdam fuhr der Zug.

Vom 17. Juli bis zum 1. August 1945 fand in dem dem deutschen Kronprinzen gehörenden Schloß Cäcilienhof ohne Einwilligung des Besitzers die »Berliner Konferenz« statt. Es war ein eigenartiger Triumph Stalins, in der deutschen Hauptstadt als Gastgeber auftreten zu können.  . . .

Truman hatte das Zustandekommen der Konferenz nicht billig erkauft. Gegen den Willen Churchills ordnete er den Rückzug der amerikanischen Truppen aus Thüringen, Sachsen, Sachsen‑Anhalt an. Churchill klang das wie ein »Totengeläut«. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als in Mecklenburg nachzuziehen. Die höfliche Vorlieferung für die Potsdamer Konferenz war die Freimachung eines Territoriums, auf dem die Russen ihre Deutsche Demokratische Republik errichten lassen konnten. Denn ein Blick auf die Karte zeigt, daß der Frontverlauf vom Juni 1945 die russische Besatzungszone halbiert hatte.  . . .  . . .

Teil 2: Die Charakterwäsche


Im psychologischen Zeitalter

Die Psychoanalyse war in Wien konzipiert, in Zürich klinisch erprobt worden, in den Vereinigten Staaten setzte sie sich in Herz und Hirn von Millionen fest. Wenn eine einzelne Geistesströmung für die amerikanische Kultur repräsentativ ist, so ist es die psychoanalytische. In Europa wurde die Psychoanalyse nach einigen Ausbruchsversuchen in den (deshalb?) »Goldenen Zwanziger Jahren« von den Psychiatern unter festen Verschluß genommen. In Amerika hat sie längst alle Zunftschranken durchbrochen und sich in Wissenschaft und Leben als erste Kulturmacht etabliert. Wenn kürzlich eine UNESCO‑Schrift lehrte:
»Die Psychoanalyse ist nicht nur eine Therapie für Menschen, die an seelischen Störungen leiden, sondern auch eine umfassende allgemeine Theorie der Persönlichkeit, die sich auf den gesunden und kranken Geist gleichermaßen anwenden läßt« (Marie Jahoda), so gilt dergleichen in Amerika als Selbstverständlichkeit. Der Psychoanalytiker schaut der amerikanischen Mutter über die Schulter, er wird alarmiert, wenn bei einem Kind schulische Leistung und I. Q. voneinander abweichen, er regelt den sexuellen Haushalt der Teenager und die Berufswahl der Twens.  . . .

Die Psychoanalyse hätte in Amerika kaum mit so viel Begeisterung rechnen können, wäre der Boden nicht durch eine Bewegung vorbereitet worden, die das Interesse für geistige Krankheit und geistige Gesundheit in die weitesten Kreise trug. Die Mental‑Health‑Bewegung.  . . . 

Das psychoanalytische Zeitalter begann in Pearl Harbour. »Während der Depression«, heißt es in einer 1964 zusammengestellten Anthologie über Psychoanalyse und gegenwärtige amerikanische Kultur, »glaubten wir nicht, aus irgendeiner Form der Psychoanalyse ernstliche soziale Folgerungen ziehen zu müssen. Wir taten sie als Spielzeug reicher Leute ab.« Der Aufstieg der Psychoanalyse von einem Luxusartikel der High Society zur bestimmenden Sozialmacht hinterließ in der Lehre Freuds ihre Spuren.

Von den Neo‑Freudianern wurde zwischen einem Kern allen Menschen gemeinsamer Bedürfnisse, etwa Hunger, und den übrigen von der kulturellen Umwelt abhängigen Trieben unterschieden. »Jene Triebe«, so lehrte Erich Fromm, »welche die Unterschiede im Charakter der Menschen ausmachen, wie Liebe, Haß, Machtgier, Unterwürfigkeitsdrang, Sinnenfreude und Sinnenfurcht, sind dem Gesellschaftsprozeß unterworfen und resultieren aus ihm.«  . . .

Unter den Wortführern der neofreudianischen Richtung, die in Amerika die Stationen der Entwicklung des Dritten Reiches beantworteten, waren Erich Fromm (geb. 1900), der wandlungsreiche Modephilosoph, Karen Horney (1885-1952), die Mutter der Schauspielerin Brigitte Horney, und Harry Stack Sullivan (1892‑1949), der in psychiatrischen Fachkreisen angesehene Praktiker. Die neofreudianische Gruppe begann um 1936 mit der kulturanthropologischen Schule des Ethnologen Franz Boas (1858‑1942), Ruth Benedict (1887 bis 1948) und Margaret Mead (geb. 1901) – zusammenzuarbeiten.  . . .

Die Kulturanthropologen hatten die »Verschiedenheit und die Gleichheit der kulturellen Umwelt und deren Konsequenzen für das menschliche Verhalten« zu ihrem Thema gemacht. Aus dem ethnologischen Material, das sich beim Studium primitiver Stämme ansammelte, versuchten sie, »auf den Geist einer Kultur, ihre Konfiguration, d. h. ihre Gestalt« (Franz Boas) zu schließen und umgekehrt das ethnologische Material von der Gestalt her zu deuten. Bei den Stämmen verschiedener Naturvölker suchten die Kulturanthropologen nach kontrastierenden Eigenschaften, um zu beweisen, daß diese Eigenschaften nicht aus der Rasse, sondern aus der kulturellen Umwelt zu erklären waren und sich mit dem »kulturellen Wechsel« (cultural change) auch änderten.  . . .

. . . In der Tat wandten sich die Kulturanthropologen mit Kriegsbeginn von den Primitiven ab und im amtlichen Auftrag den modernen Nationen zu, wobei Ruth Benedict die Japaner und Margaret Mead die Europäer vornahm.  . . .

Das Zusammenfließen von Kulturanthropologie, neofreudianischer Psychiatrie und der Psychohygiene führte zu einer neuen Bewegung für die Integration der Wissenschaften, die sich mit den menschlichen Beziehungen befassen. Die Bewegung wurde durch die Gründung der »Washington School of Psychiatry« institutionalisiert.  . . .  Aus der psychoanalytischen Theorie wurde in wenigen Jahren eine politische Praxis eigener Art.

Die Psychoanalyse wird politisiert

Die Politisierung der Psychoanalyse kam nicht von ungefähr, sondern aus Frankfurt am Main. Dort hatte 1930 Max Horkheimer das Institut für Sozialforschung übernommen. Das Institut war auf sozialdemokratisches Betreiben nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden. Horkheimer löste es nach Eintreten der Wirtschaftskrise vom musealen Sozialismus und machte es mit seiner sozialphilosophischen Fragestellung im Dreieck Marx-Hegel‑Freud zu dem unter den Studenten als »Marxtempel« bekannten Magneten der linksintellektuellen Jugend.

Die jungen Dozenten und Assistenten, die sich um das Institut scharten, sollten später beinahe alle bekannt werden. Es waren Friedrich Pollock (1894‑1964), Theodor Adorno (geb. 1903), Herbert Marcuse (geb. 1898), Erich Fromm (geb. 1900) und Leo Löwenthal (geb. 1900), denen auch Walter Benjamin nahe stand.

Der Ausdruck Sozialforschung wies darauf hin, daß das Objekt der Untersuchungen des Instituts zwar die Gesellschaft war, der Umfang der Untersuchungen jedoch nicht durch die Grenzen der Fachsoziologie eingeschränkt werden sollte. Die letzten Jahre des Dahinsiechens der Weimarer Republik gaben die erregende Kulisse für das Entstehen der »kritischen Theorie«, die den »historischen Verlauf der gegenwärtigen Epoche begreifen« sollte. Bildeten die Kommunisten den willensmäßigen, die Sozialdemokraten den gefühlsmäßigen Flügel der Revolution von links, so standen die Sozialforscher im verstandesmäßigen Zentrum. Das Scheitern der linken Revolution war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Flügel miteinander verstritten waren und das Zentrum so in der Luft hing. 1933 wurde das Frankfurter Institut wegen »staatsfeindlicher Umtriebe« geschlossen. Doch Horkheimer hatte vorgebaut, das Institut wurde in New York an der Columbia‑Universität weitergeführt.

Bereits im Vorwort der »Zeitschrift für Sozialforschung« wurde die Förderung der Sozialpsychologie versprochen, wobei zum ersten Male die Psychoanalyse in ein sozialpsychologisches System einzubauen sei. Vor allem Erich Fromm, ein gebürtiger Frankfurter, förderte die Synthese von Marx und Freud.  . . .

Was dem roten Frankfurt recht war, war dem roten Wien billig. . . . Einer der heute führenden amerikanischen Soziologen, Paul F. Lazarsfeld, berichtete über seinen Wiener Werdegang. … Damals sei das Wort umgegangen, daß die heraufziehende Revolution Nationalökonomen gebraucht habe, daß die siegreiche Revolution sich auf Ingenieure stütze und die gescheiterte Revolution Sozialpsychologen hervorbringe.

Auch in Wien fand eine Verschmelzung von Soziologie und Psychologie statt, einerseits im Werk des Psychoanalytikers Wilhelm Reich, andererseits im Umkreis des Psychologenehepaares Karl und Charlotte Bühler. Wilhelm Reich (geb. 1897) war in Wien Freuds erster Assistent (1922‑1928) gewesen. Sein Versuch, die Psychoanalyse mit kommunistischen klassenkämpferischen Parolen zu verschmelzen, hatte ihn jedoch Freud entfremdet, der schon bei Mussolinis »Marsch auf Rom« auf den Vorwurf, weder rot noch schwarz zu sein, geantwortet hatte: »Nein, man sollte fleischfarben sein.«

In den Jahren der deutschen Krise entwickelte Reich seine eigene »sex‑ökonomische« Lehre. Reich ordnete die politischen Hauptströmungen den drei Schichten des menschlichen Charakters zu. Die oberste Schicht sei die Schicht der Kooperation, der Vernunft, der Rücksichtnahme; die unterste Schicht sei die der schöpferischen Triebe, denen alle geistigen und künstlerischen Leistungen entsprängen, die unterste Schicht könne sich jedoch nicht mit der obersten durchdringen, da sie durch eine mittlere Schicht abgeleitet werde, in der alle Egoismen, Sadismen, Selbstsucht und Brutalität zu Hause seien. Der obersten Schicht sei der Liberalismus zuzuordnen, der untersten die revolutionäre Linke, der mittleren der Faschismus. Denn man könne die Zeitgeschichte nicht begreifen, wenn man den Faschismus für eine politische Idee halte, die mit politischen Mitteln an die Macht dränge. »Der Faschismus ist nur der politisch organisierte Ausdruck der durchschnittlichen menschlichen Charakterstruktur.«

In diesem charakterologischen Sinn ist >Faschismus< die grundlegende emotionelle Haltung des Menschen in der autoritären Gesellschaft, die die Gesellschaft der Gegenwart überhaupt sei. Es sei daher widersinnig, den Faschismus aus dem deutschen oder japanischen Volkscharakter abzuleiten. Seine charakter‑analytischen Erfahrungen hätten Reich gezeigt, »daß es heute nicht ein einziges Individuum gibt, das nicht Elemente faschistischen Fühlens und Wollens in sich trägt«. »Der Faschismus als politische Bewegung unterscheidet sich von anderen reaktionären Parteien dadurch, daß er von den Massen des Volkes unterstützt wird.« »Faschismus ist auf einer Religiosität aufgebaut, die aus einer sexuellen Perversion stammt; er ändert den masochistischen Charakter der alten patriarchalischen Religionen in eine sadistische Religion.«

Wer den Faschismus bekämpfen wolle, müsse davon ausgehen, daß die »zentrale reaktionäre Keimzelle« die Familie sei. »Da die autoritäre Gesellschaft sich durch die Familie reproduziert, folgt, daß die politische Reaktion die autoritäre Familie als Basis des Staates und der Zivilisation verteidigt«. Kern der autoritären Familie sei eine Mutter‑Fixierung. »Die Mutter ist die Heimat des Kindes und die Familie die Nation en miniature.« Daher seien »metaphysisches, individualistisches und familiäres Verhalten nur verschiedene Aspekte der Sex‑Negation«. Die autoritäre Familie lösche die Frau und die Kinder als Geschlechtswesen aus, indem sie die Frau in der Mutter‑Funktion aufgehen lasse und die Sexualität der Kinder unterdrücke. Demgegenüber sei die sexualkulturelle Revolution auch das politische Heilmittel.

Der autoritäre Charakter

Der Erfolg der Psychoanalyse beim Publikum beruhte nicht zuletzt auf den Reizen des Spiels mit analytischen Charakterlehren. Seit Freuds erster einschlägiger Studie »Charakter und Analerotik« (1918) wurden die Charaktere aus den Entwicklungsstufen der frühkindlichen Sexualität abgeleitet. Freuds Schüler Karl Abraham etwa unterschied zwischen oralen, analen, phallischen, urethralen und genitalen Charakteren. Erich Fromm machte mit der Politisierung der Charakterlehre Epoche. Die gesellschaftsgeschichtliche Gesamtschau lehrte ihn, daß sich der Mensch zunehmend auf die Freiheit hin entwickle. Die primären Bindungen, wie sie das Kind an die Mutter, den Wilden an die Natur und Sippe, den mittelalterlichen Menschen an Kirche, Stand und Zunft bänden, gingen zunehmend verloren. Der Mensch würde freier, aber auch einsamer. Der Einsamkeit versuche er in die sekundären Bindungen zu entfliehen. Er strebe die Symbiose, das Zusammenleben mit einem anderen an.
Nehme diese Symbiose die masochistische Form an, so führe sie zur Unterordnung, zum Versuch des Individuums, »Teil eines größeren, mächtigeren Ganzen außerhalb des eigenen Ichs zu werden, in ihm unterzutauchen und darin aufzugehen. Diese Macht kann ein Mensch, eine Institution, kann Gott, Volk, Gewissen oder eine Zwangsidee sein.« Nehme die Symbiose die sadistische Form an, so führe sie zum Versuch, sich etwas unterzuordnen. »Das Streben nach Macht ist die charakteristischste Äußerung des Sadismus.«  . . .

Da jedoch Sadismus und Masochismus gemeinhin als bestimmte sexuelle Perversionen und nicht als Charakterzüge (moralischer Sadismus und moralischer Masochismus) verstanden werden, sei es angezeigt, den sado-masochistischen Charakter in den »autoritären Charakter« umzutaufen. Ein sado‑masochistischer Charakter sei immer durch seine positive Einstellung zur Autorität zu erkennen. Er bewundere die Autorität und sei bestrebt, sich ihr zu unterwerfen. Gleichzeitig wolle er jedoch selber Autorität sein und andere sich gefügig machen.

Die Lehre vom autoritären Charakter bot den Schlüssel zur »Psychologie des Nazismus«. Fromm lehrte, ökonomische und psychologische Ursachen seien bei der Entstehung des Nationalsozialismus verbunden gewesen wie Kette und Schuß. Das deutsche Kleinbürgertum habe schon immer einen sadomasochistischen Charakter gehabt, der durch »Verehrung des Starken, Haß auf den Schwachen, Engherzigkeit, Feindseligkeit, Sparsamkeit bis zum Geiz« gekennzeichnet sei. Solange Thron und Altar jedoch noch unerschüttert waren, »genügte die Unterwerfung und Untertänigkeit unter die vorhandenen Autoritäten für seinen masochistischen Bedarf«.
Der Sturz der alten Ordnung 1918 habe es seelisch, die Inflation ökonomisch entwurzelt.
Aber »anstatt seine wirtschaftliche und soziale Lage klar ins Auge zu fassen, begann der Mittelstand, sein Schicksal in dem der Nation zu spiegeln«. Er projizierte seine eigene Inferiorität auf die Nation und begann den Kampf gegen Versailles«.  . . .

Als der American Jewish Congress die Lehre vom autoritären Charakter übernahm, wuchs dieser beträchtliche Resonanz zu. Im Mai 1944 hatte der American Jewish Congress eine Tagung einberufen, die eine wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen des rassischen Vorurteils ausarbeiten sollte. Aus der Tagung entstand eine Abteilung des American Jewish Congress für wissenschaftliche Forschung, deren Leitung Max Horkheimer übertragen wurde. Auf die Frage, warum in der Arbeit die Aspekte des Vorurteils betont würden, gab es folgende Antwort: »Unser Ziel ist, das Vorurteil zu erklären, um bei seiner Ausrottung zu helfen. Ausrottung meint Umerziehung, die wissenschaftlich geplant wird«.

Ziel der mit großem Aufwand betriebenen Untersuchung war die Aufdeckung »potentiell-faschistischer Individuen«. In ihrer Jugend werden die autoritären Persönlichkeiten häufig »durch einen strengen Vater oder durch Mangel an Liebe überhaupt gebrochen und wiederholen, um überhaupt seelisch weiterleben zu können, ihrerseits, was ihnen selbst einmal widerfuhr«. So klar der autoritäre Charakter beschrieben ist, so unklar ist der nichtautoritäre Charakter, der schillert wie die große Koalition der Alliierten des Zweiten Weltkrieges.

Der nichtautoritäre Charakter ist durch die Negation gekennzeichnet. »Wirklich freie Menschen wären demnach bloß die, welche vorweg den Einflüssen Widerstand leisten, die zum Vorurteil prädisponieren.« Durch stetige Anstrengungen müsse man sich aus dem Sumpf des Vorurteils in die lichten Höhen der Vorurteilslosigkeit erheben und andere durch »sachlich aufklärende Broschüren, die Mitwirkung von Funk und Film, die Bearbeitung der wissenschaftlichen Resultate für den Schulgebrauch nachziehen.« Wo die Frankfurter Geschichte zu machen begannen, konnten die Wiener nicht zurückbleiben.  . . .

Wie die Lehre von der deutschen Verschwörung zur Praxis der (biologischen, militärischen, wirtschaftlichen oder politischen) Ausschaltung Deutschlands führte, so führte die Lehre von der »autoritären Persönlichkeit« zur Praxis der Umerziehung der Deutschen.

Kurt Lewin (1890‑1947), ein ehemals Berliner Gestaltpsychologe, hat den Prozeß der Umerziehung folgendermaßen dargestellt: Man müsse, wenn man den einen oder anderen Aspekt einer Kultur ändern wolle, beachten, daß alle Aspekte einer Kultur miteinander verbunden seien. »Um stabil zu sein, muß ein Kulturwechsel alle Aspekte des nationalen Lebens durchdringen«.  . . .

Man habe entdeckt, daß das Denken innerhalb einer Gruppe mit der Form der Machtverteilung in dieser Gruppe zusammenhänge. Nach dem Ersten Weltkrieg hätte man das übersehen und eine unblutige Revolution gemacht, die alsbald den reaktionären Kräften ein Comeback ermöglicht habe. Daher sei die »restlose Zerstörung« der Kräfte, die das alte Gleichgewicht aufrechterhielten, die erste Aufgabe der Umerziehung. Wer Mord und Totschlag ablehne, weil er »Chaos« vermeiden wolle, der werde die Wiederherstellung des alten Gleichgewichts mitverschulden. Doch »Hand in Hand mit der Zerstörung der Kräfte, die das alte Gleichgewicht aufrechterhielten, muß die Einrichtung (oder Befreiung) der Kräfte zu einem neuen Gleichgewicht einhergehen«. Es komme dann darauf an, das neue Gleichgewicht durch Selbstregulierung permanent zu machen. Die Phase der Umerziehung (re‑education) müsse in der Phase der Selbstumerziehung (self re‑education) fortgesetzt werden.

Der gesamte Umerziehungsprozeß durchlaufe demnach drei Phasen. Erst müsse die »fluidity« (Flüssigkeit der Verhältnisse) hergestellt werden, die den Wechsel ermögliche. Dann müsse der Wechsel selbst durchgeführt werden. Schließlich müsse das neue Gleichgewicht durch Selbstregulierung permanent gemacht werden. Für die erste Phase lagen Pläne vor, wie der von James Warburg, daß alliierte Truppen einen Ring um Deutschland legen, eine künstliche Inflation in Gang setzen und abwarten sollten, bis durch Mord und Totschlag die »Fluidität« hergestellt sei. Die Kernthese der Morgenthauschule, daß die Alliierten keine Verantwortung für die deutsche Wirtschaft übernehmen dürften, wird erst durch die Fluiditätslehre voll verständlich.

Wie aber soll der Wechsel selbst durchgeführt werden? Hier glaubt Lewin, daß ein »ständiger Wechsel der Methoden der Führung wahrscheinlich der schnellste Weg ist, die kulturelle Atmosphäre in der Gruppe zu ändern . . .«.

Woher aber solle man die neue Führungsschicht nehmen? Die Reaktionäre (»Gestapo und Junker«) würde man liquidieren. Die laissez‑faire‑Demokraten von Weimar seien völlig unbrauchbar. Aber sozialpsychologische Experimente hätten ja gezeigt, daß sich autokratische Führer in demokratische verwandeln ließen. Der bevorstehende deutsche Zusammenbruch werde einen guten Teil der autokratischen Führungsschicht zum Verzweifeln bringen und ihre Abkehr bewirken. Das wäre der richtige Augenblick, denn »es ist leichter, autokratische Führer zu demokratischen zu machen als laissez‑faire‑Demokraten und saturierte Halbdemokraten«.  . . . Der chancenreichste Weg der Umerziehung sei aber, das Individuum dort zu erfassen, wo es am leichtesten zu formen sei, nämlich »das Individuum als Mitglied der Gruppe«.

Wo die Psychologie ihren Kriegsbeitrag leistete, konnte die Psychiatrie nicht zurückbleiben. 1943 vertrat der New Yorker Professor Richard M. Brickner unter dem Titel »Ist Deutschland unheilbar?« den psychiatrischen Gesichtspunkt. Der Schlüssel zur deutschen Frage, meint Brickner, liege nicht im Büro der politischen Experten, sondern im Sprechzimmer des Arztes. Deutschland sei ein Patient. Es leide an Paranoia, der Wahnkrankheit. Das heiße nicht, daß jeder Deutsche paranoid sei, sondern nur, daß die vorherrschende Richtung paranoid sei und den nichtparanoiden Zeitgenossen zwinge, sich anzupassen. Aus der Diagnose folge die Therapie. Man müsse einen unbegrenzten Zeitraum verstreichen zu lassen, ohne einen Friedensvertrag zu unterzeichnen. In diesem Zeitraum könne der Patient Deutschland einer Behandlung unterzogen werden. Der geeignetste Zeitpunkt für den Beginn der Behandlung sei der Tag nach dem Zusammenbruch, da dann die deutsche Seele am empfänglichsten sei.  . . .

Die Theorie der Umerziehung (re‑education) steht der Theorie der Ausschaltung gegenüber. Während die Ausschaltungstheorien einen gleichartigen deutschen Volkscharakter annehmen, der nicht geändert, aber durch geeignete Maßnahmen (biologische, militärische, wirtschaftliche und psychologische Entwaffnung) gehindert werden könne, Schaden zu stiften, nimmt die Umerziehungstheorie die Möglichkeit einer Änderung an. Die Umerziehungslehre steht etwa in der Mitte zwischen den Lehren der Strukturreform und der Ausschaltung. Mit den Strukturreformern glauben die Umerzieher nicht an die ewige Sonderrolle der Deutschen .  . . .


Psychologische Kriegsführung

. . .  Da es Aufgabe der psychologischen Kriegführung ist, die Kampfmoral des Gegners zu schwächen und in seinen Reihen Uneinigkeit zu stiften, ließ sich der antigermanische Slogan »alle Deutschen sind gleich« als Arbeitshypothese nicht verwenden. Vielmehr mußten die Deutschen, um einen Teil von ihnen gegen den anderen auszuspielen, in Kategorien unterteilt werden. Die grundlegende Einteilung, die von dem amerikanischen Soziologen Edward A. Shils ausgearbeitet wurde, war die nach dem Grade des Nazismus.  . . .
Der Einmarsch in Deutschland hätte eigentlich das Ende der psychologischen Kriegführung bringen müssen. Doch die Psycho-Krieger waren (wie die Wirtschaftskrieger) der Ansicht, daß der psychologische Krieg (wie der wirtschaftliche) nie zuende geht.

Die Abteilung für psychologische Kriegführung wurde in Abteilung für Informationskontrolle umgetauft und nahm (weiterhin unter General McClure) ihren Sitz in Bad Homburg, von wo sie im Frühjahr 1946 nach Berlin verlagert wurde. Die Abteilung für Informationskontrolle war eine der Abteilungen der Militärregierung, und die Übernahme der psychologischen Kriegführung in den Apparat der Militärregierung ging nicht ohne Reibungen vor sich, da General McClure der Meinung war, daß die Militärregierung den Deutschen sagen solle, was sie zu tun hätten, während der stellvertretende Militärgouverneur General Clay der Meinung war, daß die Militärregierung den Deutschen sagen solle, was sie nicht zu tun hätten, und ihnen das übrige selbst überlassen könne.  . . .

Chaos – Strukturreform – Charakterreform

Nach der Ausschaltung der Armee aus der Deutschandpolitik waren alle Zufälligkeiten, die aus der Einstellung einzelner Kommandeure entsprangen, beseitigt.  . . . Unter den Reformern lassen sich drei Gruppen unterscheiden.

Die erste Gruppe wurde allgemein mit Morgenthau in Verbindung gebracht. Mit mehr Recht könnte sie nach Harry Dexter White genannt werden, der die Gedanken, die dem Morgenthauplan zugrunde lagen, ausgearbeitet hatte. Der Grundgedanke war, daß für ein schwaches Deutschland in einem starken Europa gesorgt werden müsse. Die industrielle Ausschaltung Deutschlands würde dessen Nachbarn nicht hemmen, sondern fördern. Von der deutschen wirtschaftlichen Dominanz befreit, würden diese wirtschaftlich aufblühen und die ausgefallene deutsche Produktion schnell wettmachen. Die Demontage der deutschen Industrie und ihre Wiederaufstellung in den Nachbarländern werde diesen Prozeß fördern. Was aus Deutschland werden sollte, war den Vertretern dieser Schule gleichgültig. Ihr Ziel war die Stärkung der Nachbarn Deutschlands.  . . .

Die zweite Gruppe war die der Strukturreformer. Sie wollte nicht die konsequente Schwächung Deutschlands, sondern die soziale Umwälzung. Diese Politik war in amerikanischen Denktraditionen weniger verankert als die Richtung der „Chaosboys“. Schon in der Kriegspropaganda war die „Zwei‑Deutschland‑Theorie“ vornehmlich von deutschen Immigranten vertreten worden.   . . .

Diese Charakterreformer hatten nichts anderes im Sinne als den langfristigen Umbau des deutschen Charakters.  . . .  Einerseits war für die Entwicklung des gewünschten Charakters ein gewisser Wohlstand willkommen, andererseits mußte sichergestellt werden, daß eine Erholung Deutschlands nicht seine Remilitarisierung bedeutete.   . . .

Entnazifizierung mit Strick

Die beiden Aufgaben, die Molotow in Paris für die zukünftige deutsche Regierung gestellt hatte, die Ausrottung der Reste des Faschismus und die Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber den Alliierten, waren auch die Ziele der amerikanischen Politik. Die Ausrottung der Reste des Faschismus sollte durch eine Beseitigung nationalsozialistischer Symbole, Gesetze und Literatur, sowie durch die Aburteilung von Personen, die als Träger der nationalsozialistischen Politik betrachtet wurden, bewerkstelligt werden.  . . .

Die Kriegsverbrecherprozesse stützten sich auf eine Reihe alliierter Deklarationen. Schon vor Kriegseintritt hatte Roosevelt eine Deklaration gegen die Hinrichtung von Geiseln erlassen. Churchill unterstützte diese Deklaration und nannte die Vergeltung für solche Vergehen gegen das Kriegsrecht ein erstrangiges Kriegsziel. Im Januar 1942 tagten Vertreter von neun Exilregierungen in London in Anwesenheit des damaligen amerikanischen Botschafters (und späteren Nürnberger Richters) Biddle und forderten die Abteilung von Kriegsverbrechen noch mit dem Argument, daß „um Racheakte der Bevölkerung als Reaktion gegen die Gewaltakte zu vermeiden und um den Gerechtigkeitssinn der zivilisierten Welt zu befriedigen“, ordnungsgemäße Verfahren notwendig seien.

1943 kam es dann zur Moskauer Deklaration, die von Stalin, Roosevelt und Churchill unterzeichnet wurde und festlegte, wer Kriegsverbrechen ahnden würde, aber nicht wie Kriegsverbrechen geahndet würden. Hitler, Mussolini, Tojo und ihre „Erzkomplizen“ sollten nach einem kurzen standrechtlichen Verfahren hingerichtet werden. Ein Prozeß würde ihnen nur noch eine Propagandamöglichkeit geben. Auch von englischer Seite wurde noch bis zum Sommer 1945 vertreten, daß die Achsenführer ‑ in Analogie zum Verfahren gegen Napoleon ‑ durch eine gemeinsame politische Entscheidung (joint decision) der Alliierten gerichtet würden und nicht nach einem juristischen Verfahren.  . . .

Das neue Recht war eine interessante Mischung sowjetischer und angelsächsischer Rechtsauffassungen. Die Sowjets traten dafür ein, daß die verbrecherische Tätigkeit der Angeklagten schon erwiesen sei und nur noch das Ausmaß der Beteiligung jedes einzelnen zu beurteilen bliebe. Es sollten die Verbrechen der Deutschen verfolgt werden und nicht Verbrechen allgemein, die andere auch begehen konnten.

Hier setzte sich die amerikanische Auffassung durch, daß für Nürnberg ein neues Recht zu schaffen sei, das künftig auch auf andere als deutsche Verbrechen angewendet werden könnte. Ein weiterer amerikanischer Rechtsbeitrag bestand darin, den ursprünglichen Kern einer Anklage wegen Vergehen gegen das Kriegsrecht durch die Anklage von Verbrechen gegen die „Menschlichkeit“ zu erweitern. Vor allem sollten aber auch Verbrechen gegen den Frieden geahndet werden. Der Angriffskrieg wurde für verbrecherisch erklärt.  . . .

Das Londoner Abkommen führte vier Gruppen von Verbrechen auf.
1. Verschwörung gegen den Frieden

2. Verbrechen gegen den Frieden
3. Kriegsverbrechen

4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Sinn und Ziel des in London geschaffenen und in Nürnberg praktizierten Rechtes wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß es sich um New‑Deal‑Recht handelt.  . . .

Zu den Neuschöpfungen des Londoner Abkommens gehörte der Begriff der verbrecherischen Organisation.
Das Gericht konnte eine Organisation für verbrecherisch erklären, worauf jeder Staat, der das Londoner Abkommen unterzeichnete, das Recht besaß, Mitglieder der betreffenden Organisation vor Gericht zu stellen und mit allen Strafen (einschließlich Todesstrafe) zu belegen, wobei das zu bestrafende Verbrechen die Mitgliedschaft in der verbrecherischen Organisation sein sollte. Das Gericht erklärte: „Eine kriminelle Organisation ist analog einer kriminellen Verschwörung, insofern das Wesen beider die Zusammenarbeit zu kriminellen Zwecken ist.“
Zu verbrecherischen Organisationen wurden das Führungskorps der NSDAP von den Mitgliedern der Reichsleitung bis herunter zu den Mitgliedern der Ortsgruppenleitungen, SD und SS erklärt. Die Organisationsverbrechen waren Verbrechen einer Verschwörung, daher wurde nicht die bloße Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation für strafbar erklärt, sondern der freiwillige Eintritt und das Verbleiben in ihr bei Wissen um den verbrecherischen Zweck. Diesen Zweck, nicht jedoch einzelne Vergehen gekannt zu haben, stellte ein Verbrechen dar.  . . .

Neben den Organisationsverbrechen waren die „Verbrechen gegen den Frieden“ zu verfolgen.
Aufschlußreich wirkt schon die Liste der wegen Verbrechen gegen den Frieden Angeklagten. Es waren alle Angeklagten des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses, 12 Direktoren der Firma Krupp, 23 Direktoren der IG Farben, 17 Diplomaten, 14 Mitglieder des Oberkommandos der Wehrmacht und Hermann Röchling (in der französischen Zone).

Industrielle, Generalstäbler und Diplomaten hatten sich gegen den Frieden verschworen, ganz wie es der New‑Deal‑Mythologie entsprach. Es ist klar, daß sich Urteile über Verbrechen gegen den Frieden auf erschöpfende historische Untersuchungen der Ursachen des Krieges hätte stützen müssen, Untersuchungen, die methodologische Schwierigkeiten ohne Zahl aufgeworfen hätten. Aus der verschwörungstheoretischen Literatur hatte die amerikanische Anklage, die in Nürnberg für die Verbrechen gegen den Frieden zuständig war, jedoch die entschlüsselnde Geschichtsschreibung mitgebracht. Einzelne Ereignisse wurden im Lichte der großen Pläne und Absichten der Verschwörer gesehen und dienten zugleich als Beweis für deren Absichten und Verschwörungen.  . . .

. . .  Am 11. April 1949 wurde das letzte Urteil in Nürnberg im Wilhelmstraßen‑Prozeß gegen die Angehörigen des Auswärtigen Amtes gesprochen. Es war höchste Zeit, da sich die Hohe Kommission bald Gedanken machen mußte, wie sie die Verurteilten wieder los werden könne. 1951 wurde von McCloy eine weitgehende Amnestie erlassen. Seither schläft das Nürnberger Recht, wie das Potsdamer Abkommen, einen Dornröschenschlaf und harrt des Tages, da ein roter Prinz kommen wird, um es wachzuküssen.    . . .  . . .

 

Teil 4 Die Wiederkehr Roosevelts


Bundesrepublik im Abstieg
. . .  . . .
Als Roosevelt nicht lange nach dem Antritt seiner vierten Präsidentschaft starb, zerfiel die innenpolitische Kräftegruppierung, die seine Politik getragen hatte und die durch Roosevelt persönlich zusammengehalten worden war. . . .
Auch Roosevelts Deutschlandpolitik mußte einer Revision unterzogen werden. Die Isolierung Deutschlands und die Verhängung von Strafe und Bewährung für Verfehlungen gegen jene Moral, die in Politik und Privatleben ein und dieselbe sei, mußte jenen, die in der Politik etwas anderes als einfach eine Unterabteilung der Moral sahen, als eine allzu kostspielige Rache erscheinen. Da sich nach Roosevelts Tod die Maßstäbe geändert hatten, schienen die alten Berechnungen nicht zu stimmen.

Und doch war Roosevelts System nicht endgültig begraben. 15 Jahre nach seinem Tode war durch die waffentechnische Entwicklung eine Situation heraufbeschworen worden, in der das Zusammenwirken der gleichen drei (oder vier oder fünf) Großmächte, die sich gemäß Roosevelts System nach Entwaffnung der übrigen Staaten in die Weltherrschaft teilen sollten, sich wegen der Gefahr der atomaren Selbstvernichtung beinahe von selbst wiederaufdrängte.  . . .

Wirkte sich das neue Klima, das in vielem das alte aus den Tagen Roosevelts war, rund um den Globus in einer Linksverschiebung aus, so glich sich die politische Stimmung in Deutschland eher den Bildern abstrakter Maler an. Die Erklärung ist nicht weit zu suchen. Hatte das Roosevelt’sche System für jede andere Nation Vorteile und Nachteile bereitgehalten, so sah es für Deutschland (und Japan) von allen Vorteilen ab.  . . .

Die Nachkriegsgeschichte wird heute zum Problem. In Westdeutschland hat man sich über Fahrtrichtung und Stationen der Nachkriegsgeschichte bewußt wenig Gedanken gemacht, da man einer geschichtlichen Einordnung (die ja auch den eigenen Sitzplatz mitumfassen müßte) auszuweichen bestrebt war. Die „Zeitgeschichte“, über die man soviel redete, blieb Geschichte des „Dritten Reiches“. Die Grausamkeiten der Nationalsozialisten waren das Alibi, das einem 20 Jahre später das Nachdenken ersparen sollte. Was gefolgt war, interessierte nicht, es hatte keinen volkspädagogischen Nutzwert. Die Periodisierung der Nachkriegsgeschichte wurde bei uns vom Volksmund vorgenommen. Er spricht von der Zeit vor und nach der „Währung“. Der Stichtag der Währungsreform vom 21. Juni 1948 ist in der Tat ein einprägsames Datum, da er alle Westdeutschen gleichmäßig erreichte. Das Kriegsende hingegen hatte sich in eine Reihe militärischer, lokaler und höchstpersönlicher Kapitulationen aufgelöst, hinter denen der 8. Mai 1945 zurücktrat. Der 21. Juni 1948 ist das einzige einprägsame Datum der Nachkriegsgeschichte geblieben.

So überdeutlich die Währungsreform ins Auge fällt, so sehr ist sie ein Glied in einer Kette von Ereignissen, die von der Schaffung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (1946), der Errichtung der Frankfurter Institutionen und Parlamente (1947), dem Auftrag zur Errichtung der Bundesrepublik (1948), der Aufnahme der Arbeit von Bundesregierung und Bundestag (1949), zur Revision des Besatzungsstaates (1951), dem Ende der Besatzung (1955), dem Beitritt der Bundesregierung zur NATO (1955) und der Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957) führt. Alle diese Ereignisse können auf einer ansteigenden Linie, die aus der Entmachtung und Diskriminierung zur Selbstbehauptung, Souveränität und Gleichberechtigung, aus der Fremdherrschaft zur Selbstherrschaft führt, eingezeichnet werden.    . . .    . . .

Die starke Festung Singapur

Voller Stolz und Vertrauen blickte das britische Weltreich auf die unbezwingbare Festung Singapur. Schwere Geschütze beherrschten den Hafen und den Sandstrand der Insel, um jeden landenden Feind zurückzuschlagen. Nach dem Ausbruch der britisch‑japanichen Feindseligkeiten 1941 konnte das britische Oberkommando verkünden, daß die Festung Singapur auf alle Eventualitäten vorbereitet sei. Am 31. Januar 1942 erschienen japanische Truppen vor der Festung, am 15. Februar kapitulierte der britische Oberbefehlshaber Generalleutnant Percival vor Generalleutnant Yamashita und ging an der Spitze von 130.000 britischen Soldaten in die japanische Gefangenschaft.

Was war geschehen. Die Japaner waren nicht ‑ wie vorgesehen ‑ am Sandstrand gelandet, sondern durch die Dschungel Malayas vorgerückt, hatten an der unbefestigten Nordseite der Insel den nur wenige hundert Meter breiten Meeresarm überschritten und die Verteidigungsstellungen der Briten von hinten aufgerollt. Es stellte sich heraus, daß die Festung Singapur gar keine Festung war, sondern lediglich ein Hafenschutz. Premierminister Churchill sagte: „Ich hätte es wissen müssen. Meine Berater hätten es wissen müssen. Man hätte es mir sagen müssen. Ich hätte fragen müssen.“

Die starke Festung Singapur der deutschen Rechtsordnung heißt „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“.
Die Väter des Grundgesetzes in Herrenchiemsee und Bonn standen noch unter dem Eindruck von Adolf Hitlers Machtergreifung. Sie versuchten, eine konstitutionelle Festung zu errichten, die einer Wiederholung dieser Machtergreifung trotzen konnte. Die Machtergreifung Adolf Hitlers war nach den Vorstellungen der ersten Nachkriegsjahre durch ein Zusammentreffen verfassungstechnischer Schwächen des Weimarer Verfassungswerkes, des „antidemokratischen“ Verhaltens bestimmter Gruppen und des irregeleiteten Volkswillens verursacht worden. Die verfassungstechnischen Schwächen von Weimar sollten eliminiert werden, indem die Regierung durch das konstruktive Mißtrauensvotum gestärkt wurde, das ihren Sturz nur nach der Erstellung einer neuen Majorität zuließ (Art. (67); indem der Bundespräsident entmachtet und ihm vor allem das nach der Weimarer Verfassung zustehende Notverordnungsrecht genommen wurde; indem einige kleinere verfassungstechnische Verbesserungen vorgenommen wurden, wie die, daß die Majorität des Bundestages ein Wahlgesetz beschließen konnte, das durch seine 5% Klausel ihr lästige Konkurrenz vom Hals schaffen sollte.

Gegen das „antidemokratische“ Verhalten bestimmter Gruppen wurde fortifiziert, indem bestimmte Grundrechte bei Mißbrauch verwirkt (Art. 18) und bestimmte Parteien verfassungswidrig sein sollten (Art. 21). Gegen den irregeleiteten Volkswillen wurden die stärksten Bastionen errichtet: kein Volksbegehren, kein Volksentscheid, keine Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk, nicht einmal die Möglichkeit der Meinungsäußerung des Volkes zum Grundgesetz selber.

Es ist anzunehmen, daß die Festung Grundgesetz jedem Angriff standhält ‑ sollte der Feind sich aus der vorgesehenen Richtung nähern. Doch das Grundgesetz hat auch eine Nordseite. So gut formuliert die Grundrechte sind, die das Individuum vor den Eingriffen des Staates schützen sollen, so schwach entwickelt sind die Grundrechte, die diesem Staat selber zukommen: das Recht auf Selbsterhaltung, innere und äußere Souveränität, das Recht auf Verteidigung, freie Entwicklung usw.
Das hat natürlich seinen Grund. Das Grundgesetz ist nicht aus einer Souveränitätserklärung des deutschen Volkes entstanden, sondern durch eine schrittweise Ablösung von Besatzungsrechten durch deren freiwillige Übertragung an deutsche Instanzen. Als das Grundgesetz in Kraft trat, wurde die Bundesrepublik nach außen durch die drei westalliierten Hohen Kommissare vertreten, die auch nach innen durch ihre Verfügung über den Notstand das letzte Wort sprachen.  . . .

Ist die Nordseite des Grundgesetzes der mangelnde Selbsterhaltungswille des Staates? Von einer Wiedergewinnung und energischen Behauptung der Souveränität ist im Grundgesetz nicht die Rede, dagegen viel vom Verzicht auf Hoheitsrechte. Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen (Art. 24). Er kann sich zur Wahrung des Friedens einem System kollektiver Sicherheit einordnen und dabei in eine Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen, um eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeizuführen und zu sichern (Art. 24). Nach Art. 25 gehen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts allem anderen Recht vor. Nach Art. 26 sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, verfassungswidrig.

Sicherlich, alle diese Artikel lassen sich im Rahmen eines westlichen Bündnisses interpretieren, sowie in den 50er Jahren dem Grundgesetz der Rang „einer grundsätzlichen Stellungnahme in einem über die ganze Welt reichenden Gegensätze“ (Ulrich Scheuner), nämlich dem zwischen „totalitären Staatsregimen“ auf der einen, „demokratischen Ländern“ auf der anderen Seite zugeschrieben wurde. Aber sie lassen sich eben nicht nur im Rahmen eines westlichen Bündnisses auslegen, sondern auch im Rahmen einer durch die Siegerkoalition auferlegten „Friedensordnung“, ja sogar im Rahmen eines russisch dominierten Systems. Was Handlungen, die das friedliche Zusammenleben der Völker stören (Art. 16) sind, darüber haben die Russen sehr bestimmte Vorstellungen. Es ist kein Zufall, daß eben jene Kommunisten, deren Partei aufgrund des Grundgesetzes verboten wurde, beinahe nur lobende Worte für das Verfassungswerk finden.

Carlo Schmid stellte fest: „Unser Grundgesetz verzichtet darauf, die Souveränität zu stabilisieren wie einen Rocher de bronze, es macht im Gegenteil die Abtretung von Hoheitsrechten an internationale Organe leichter als irgendeine andere Verfassung der Welt.“ Schmid gab als Grund an: „Unser Volk beweist, daß es entschlossen ist, mit einer Tradition, die nicht nur eine deutsche, sondern eine europäische Tradition gewesen ist, zu brechen, die in einer ungehemmten Entfaltung der Macht des Nationalstaates den eigentlichen Beweger der Geschichte sah.“ An die Stelle des Nationalstaates konnte ein westliches Bündnissystem treten, aber nicht nur ein westliches Bündnissystem.  . . .

Die außenpolitische Abhängigkeit von den Alliierten, die mit der Verfügung über den Notstand der oberste Schiedsrichter in innenpolitischen Auseinandersetzungen blieben, die Entschärfung der ideologischen Formationen von rechts und links, die unter der Besatzung gleichermaßen zur Aussichtslosigkeit verurteilt waren, und die durch die Identifikation von Parlamentsmehrheit und stärkster Schutzmacht herbeigeführte Unantastbarkeit des Regierungsblocks verstärkte die im Grundgesetz definierte Ordnung derartig, daß über ihre Tragfähigkeit nach Wegfall des westlichen Korsetts schwer Voraussagen gemacht werden konnten.  . . .  . . .

Die Demokratie hat sich im Weltmaßstab durchgesetzt, aber sie hat sich fast zu Tode gesiegt. An die Stelle des Glaubens an das Volk ist allenthalben die Überzeugung von der Notwendigkeit seiner Lenkung getreten. Die politischen Systeme unserer Tage unterscheiden sich dadurch voneinander, welche Mittel sie zur Lenkung des Volkes einsetzen. Auch in der Bundesrepublik ist das Volk nicht nur durch das Grundgesetz „mediatisiert“ (Werner Weber), sondern darüber hinaus durch die Beherrscher der Massenmedien als unzurechnungsfähig unter Kuratel gestellt worden. Die letzte Instanz, die im demokratischen Zeitalter das Volk war, ist heute eine autonome öffentliche Meinung und vor allem die „Weltöffentlichkeit“.

Das Verhältnis zur Schutzmacht Amerika bewirkte in den 50er Jahren, daß die Bundesrepublik vor den Nachstellungen der Weltöffentlichkeit geschützt blieb. Die Amerikaner bedeuteten, daß Angriffe gegen die Bundesrepublik, Angriffe auf sie selber seien. Mit der Bundesrepublik legte sich darum nur an, wer sich mit Amerika anlegen wollte. Kennedy und sein intellektueller Stab begannen zu differenzieren. Nicht jeder propagandistische Angriff gegen die Bundesrepublik war fürderhin auch ein Angriff gegen Amerika. Die Nordseite der Festung Singapur wurde für propagandistisches Feuer freigegeben.  . . .

  . . .  . . .  Der Durchbruch des Irrationalen auf breiter Front folgte in den Weihnachtstagen 1959. Anlaß war, daß zwei Burschen an die Außenmauer der Kölner Synagoge antisemitische Parolen angeschmiert hatten. Der Vorfall wäre einige Jahre früher mit Seife und Wasser bereinigt worden ‑ jetzt genügte er, um einen Gefühlssturm ohnegleichen zu entfachen. Eine Stampede von Politikern setzte ein, die sich alle von dem Vorfall als erste distanzieren wollten. Die Suche nach Hintermännern begann. Die Bundesregierung stand dem irrationalen Phänomen der antiantisemitischen Gefühlsausbrüche von Anfang 1960 hilflos gegenüber.  . . .
Als beredter Sprecher für die verstummte Hüterin der deutschen Interessen fungierte nun ein Kind der Charakterreformer, die 1949 gegründete Deutsche Presse‑Agentur (dpa). Die institutionalisierte Umerziehung konnte bei dem An‑ und Abdrehen von Publizitätskampagnen nach Belieben verfahren und der öffentlichen Interessen spotten.

Die Judenverfolgungen Hitlers hatten in den letzten Kriegsjahren eines der stärksten Argumente für die Durchführung der antigermanischen Maßnahmen gebildet. Die antisemitischen Gefühlsausbrüche weckten alte Erinnerungen und lenkten die Gedanken in die letzten Rooseveltjahre zurück. Je lauter sich die deutsche Öffentlichkeit von den beiden Kölner Schmierern distanzierte, desto weniger wurde ihr abgenommen, daß sich in Deutschland und der Welt etwas geändert habe.

Die Gefühlswelle, die vom Kölner Synagogen‑Zwischenfall ausgelöst wurde, ebbte nicht ab. Sie wurde zwar nicht von der Bundesregierung, aber von den Ländern und der Gewalt der Meinung aufgenommen und institutionalisiert.
Die „Bewältigung der Vergangenheit“, wie die Gefühlswelle nach ihrer Institutionalisierung hieß, wurde vor allem durch die Ständige Konferenz der Kultusminister gelenkt. Am 11. Februar 1960 gab die Konferenz neue Richtlinien für die Behandlung der jüngsten Vergangenheit im Geschichtsunterricht heraus.
Die politische Bildung auf allen Ebenen wurde forciert. Waren 1949 im Zuge der Ablösung der Strukturreform durch die Gesinnungsreform einige politische Lehrstühle errichtet worden, so wurden jetzt an allen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen Lehrstühle für Politische Wissenschaften errichtet. Der Gesinnungsausweis wurde zur wissenschaftlichen Qualifikation.

Mit deutscher Pünktlichkeit hatten die Länder‑Justizminister beinahe auf den Tag genau mit dem liberalen Wahlsieg in Amerika und Chruschtschows Berlin‑Ultimatum in Ludwigsburg eine Zentralstelle errichtet, die dafür sorgte, daß beinahe zehn Jahre nach dem Ende der alliierten Prozeßwelle eine neue der deutschen Länder in Gang kam. Des Rätsels Lösung für die Aktivität der Länder ist nicht weit zu suchen. Die Länder standen dem Bund nicht im Sinne der Gewaltenteilung als Länder gegenüber, sondern im Sinne des Parteienstaates als Machtzentren anderer Parteicouleur.

. . . Die Aufgabe der Prozeßwelle wurde von Fritz Bauer, dem Generalstaatsanwalt von Hessen, folgendermaßen charakterisiert: „Die Prozesse sind ein exemplarischer Teil der seit 1945 viel erörterten re‑education. Die zivilisierte Menschheit ist einige Jahrtausende alt, vorher waren wir Affen. Wenn wir uns nicht in die Luft sprengen, liegen noch Millionen Jahre vor uns. Die Naziprozesse sollen ein Meilenstein dieser Entwicklung sein, sie zeigen uns, wie nahe wir noch dem Affenstadium sind und wie dünn die Haut der Zivilisation war und ist. Sie wollen zeigen, was Menschsein in Wahrheit bedeuten sollte, und was wir zu lernen haben, wie schwer es auch fällt, den Angeklagten und vielen anderen.“  –  Wohl nie ist einer Justiz eine seltsamere Aufgabe übertragen worden.

Die Machtergreifung des neuen Liberalismus folgte in der Kampagne gegen den Bundesvertriebenenminister Oberländer, der sein Amt von 1953‑1960 bekleidet hatte. Die Kampagne begann mit der Beschuldigung der „Isvestija“, daß Oberländer als Angehöriger des Bataillons „Nachtigall“ an den kurz nach Kriegsbeginn in Lemberg verübten Morden (an denen sowohl die Russen, wie die Bevölkerung, wie die Einsatzgruppe C des SD partizipiert hatten), die Verantwortung trage. Die Kampagne wurde von dem nur in Hessen nicht verbotenen VVN (Verband der Verfolgten des Nationalsozialismus), aus dem die meisten nichtkommunistischen Mitglieder ausgeschieden waren, aufgegriffen und mit einer Anzeige an die Ludwigsburger Zentralstelle wegen Mordes an 3.000 Juden weitergegeben. Die Kampagne, die ersatzweise für die Beschuldigung der Lemberger Morde alle Aspekte von Oberländers Leben durchforschte und von der allgemeinen Beschuldigung ehemalig nationalsozialistischer Gesinnung bis zu weiteren Morden im Kaukasus fortschritt, konzentrierte sich schließlich in einem allgemeinen Charakterverdacht.
Die DDR setzte alle Mittel ein, um mit Braunbuch, Film („Mord in Lemberg“) und einem Prozeß, in dem Oberländer zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, das Feuer am Kochen zu halten.

Obwohl die Auseinandersetzung mit der gerichtlichen Klärung der Haltlosigkeit der Anschuldigungen und der Rehabilitierung Oberländers durch den Bundestag (auch mit den SPD‑Stimmen) endete, gelang es, den Sturz Oberländers herbeizuführen. Es war das erste Mal, daß ein einzelner Minister aus dem Kabinett „herausgeschossen“ wurde.

Der Sturz Oberländers soll, wie Ziesel unwidersprochen behauptete, dadurch herbeigeführt worden sein, daß ein namhafter SPD‑Abgeordneter Adenauer androhte, daß man eine Kampagne gegen Oberländer in Gang setzen werde, die ihn, wenn nicht des Judenmordes, so doch des Antisemitismus beschuldigte. Die Möglichkeit zu dieser Kampagne bot ein Zeitungsbericht aus dem Dritten Reich, der über einen Vortrag referierte, in dem sich Oberländer lobend über die antisemitische Haltung der Landbevölkerung geäußert habe. Die Pointe ist, daß aus dem Zusammenhang hervorgeht, daß der Journalist an Stelle von antibolschewistisch antisemitisch gesetzt hatte.
In der Tat war der Sturz Oberländers der endgültige Sturz des Antikommunismus. Der DDR‑Propagandachef Albert Norden zog mit Recht das Resümee: „Die Entwicklung des Falles Oberländer unterstreicht, daß im Kampf gegen die Verderber Deutschlands das Gesetz des Handelns an die DDR übergegangen ist.“ Der SPD‑Pressedienst formulierte etwas anders, wenn er meinte, daß es sich um einen „Sieg des Moralischen in der Politik“ gehandelt habe.

Die Ära der „Moralpolitik und politischen Moral“ (Die Zeit) begann in Deutschland zu dämmern. Moralpolitik hätte innerhalb gewisser Grenzen für Deutschland förderlich sein können, da Moral eine Waffe der Schwachen ist.

Eine Moral, wie sie sich im Heimatrecht, im Selbstbestimmungsrecht, im Recht der kleinen Staaten gegenüber den Weltmächten niederschlug, hätte innerhalb der deutschen Politik eine positive Rolle spielen und diese in eine Weltströmung hineinstellen können, die den deutschen Interessen nicht widersprach. Die Moral, die die Moralpolitiker jedoch meinten, war die des Franklin D. Roosevelt in neuem Gewande. Sie akzeptierte das Moralgefälle zwischen den guten Weltmächten und den bösen Aggressorstaaten, vor allem Deutschland. Die Moral der Vergangenheitsbewältigung führte unter Anerkennung der Ordnung von Jalta zum Versuch, den Nachweis zu erbringen, daß sich die Bundesrepublik in permanenter Selbstreinigung und Wandlung in dieses System hineinzufügen habe.

Die Kampagne gegen Oberländer wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht durch den Kölner Synagogenzwischenfall und die durch ihn hervorgerufene Bundestagsdebatte eine Gefühlswelle hervorgerufen worden wäre, die dazu führte, daß, wie eine amerikanische Dissertation über „The Nazi ’Past’ in the Communist Cause“ schreibt, „das Zusammenspiel der engagierten Kräfte einen in so groteskem Ausmaß irrationalen Charakter annahm, daß die Normen der politischen Gerechtigkeit an einigen Punkten in der Anti‑Oberländer‑Kampagne nicht mehr die Grenzen der sinnvollen Auseinandersetzung der Parteien absteckten.“
Es war die Auseinandersetzung um ein Symbol, die stets schärfere Formen annimmt als die Auseinandersetzung um eine Sache, da ein Zurückweichen und das Zugeständnis des Irrtums als Aufgabe der eigenen Gesinnung gewertet wird.

War das Jahr 1960 durch den Oberländer‑Prozeß charakterisiert, so das Jahr 1961 durch den Eichmann‑Prozeß. Er verlegte die Vergangenheitsbewältigung auf die internationale Ebene. 500 Korrespondenten aus 40 Ländern wohnten der Eröffnung im April 1961 bei. In Jerusalem tauchten die bekannten, zehn Jahre in Vergessenheit geratenen Namen der antigermanischen Periode wieder auf. Telford Taylor (Sword and Swastica) und Ira Hirschmann (The Embers Still Burn) waren unter den Korrespondenten in Jerusalem.

1960 war das Jahr, in dem der schärfste Vertreter des Antigermanismus William S. Shirer mit Massenauflagen seines Buches über den Aufstieg und Fall des Dritten Reiches wieder in das öffentliche Bewußtsein trat und Louis Nizer erneut zum Bestsellerautor wurde. Auch der aus Nürnberg bekannte Ankläger Kempner sah seine Stunde wiedergekommen. Daß die Gefühlswelle des Eichmannprozesses nicht über der Bundesrepublik (via Staatssekretär Globke) hereinbrach, konnte anscheinend nur durch geheime Waffenlieferungen an Israel, die Anfang 1965 den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den arabischen Ländern im Gefolge hatten, abgewendet werden.

Wenn der „Fall Oberländer“ sich (scheinbar) aus der zu bewältigenden Vergangenheit ergab, so fehlte auf den ersten Blick im „Fall Strauß“ die Vergangenheitskomponente völlig. Franz Josef Strauß (geb. 1915) war in keiner Weise mit dem Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen. Weder sein Studium der alten Sprachen, noch sein Kriegsdienst in der Flak lieferten einschlägige Hinweise. Nach 1945 war er auf der ersten Landesversammlung der CSU in Bamberg aufgetreten und hatte als Repräsentant der Kriegsgeneration gegen die Aufnahme von alten, aus der Weimarer Zeit stammenden Richtungsstreitigkeiten votiert.

Und doch ist der „Fall Strauß“ nur auf dem Hintergrund der durch Charakterwandlung herbeizuführenden Vergangenheitsbewältigung zu verstehen. Die Kampagne gegen Strauß begann Anfang 1959 mit einer Erklärung von Waldemar von Knöringen, die ihn zum Feind Nr. 1 der SPD abstempelte. Knöringen, der Schöngeist der SPD, war auf die Idee verfallen, die SPD‑Politik auf modernen psychologischen Erkenntnissen aufzubauen. Diese legten die Aufstellung von personifizierten Leitbildern nahe, in denen sich die zu wünschenden und die zu verdammenden Charaktereigenschaften der Deutschen verkörperten. Das positive Leitbild (Carlo Schmid) mißriet, das negative jedoch (Franz Josef Strauß) war ein voller Erfolg.

Die Kampagne kulminierte in der Spiegel‑Affäre. Die Geschäftsräume des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ wurden am 26. Oktober 1962 zu nächtlicher Stunde wegen Verdachts des vorsätzlichen Landesverrats und der aktiven Bestechung von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Einige Redakteure wurden verhaftet. Den Grund lieferte ein Artikel „Bedingt abwehrbereit“, der die NATO‑Übung Fallex 61 behandelte. Da es sich dabei um eine militärische Frage handelte und der Spiegel Strauß pausenlos persönlich attackiert hatte, vermutete man, daß der Bundesverteidigungsminister hinter der ganzen Aktion stand und einen unbequemen Gegner mundtot machen wolle. Aus dem „Fall Spiegel“ wurde unverzüglich ein „Fall Strauß“.

Die vor dem Hamburger Untersuchungsgefängnis aufziehenden Demonstranten, die „Augstein raus und hinein mit Strauß“ riefen, formulierten die Alternative zweier Leitbilder (nur daß an die Stelle Carlo Schmids Rudolf Augstein getreten war). Die Debatten über Pressefreiheit, Geheimnisverrat, parlamentarische Sitten und ministerielle Zuständigkeiten waren nur Vorwand, um die Herrschaft eines Charaktertyps über den anderen zu fordern. Der Gestalt von Franz Josef Strauß wurden jene Charakterzüge zugeschrieben, die für den „autoritären Charakter“ bezeichnend waren.
Aus Fromms Charakterlehre ist erinnerlich, daß für die sadistische Komponente dieses Charakters das Streben nach Macht, für die masochistische Komponente der mangelnde Freiheitsdrang und die mangelnde Achtung für die Freiheit anderer bezeichnend sein sollen. Beides wurde bei Strauß diagnostiziert. Ihm gegenüber traten als nicht‑autoritärer, liberaler Charakter „Der Spiegel“ und sein Herausgeber.

Es kam zur Regierungskrise. Die FDP‑Minister traten zurück‑, und das vierte Adenauer‑Kabinett war gestürzt. Gegen Strauß wurde nach intensivem Suchen ein Telephongespräch über die Fahndung nach einem in Spanien befindlichen „Spiegel“‑Redakteur als geeigneter Hebel gefunden. Er verlor sein Ministeramt. Die Spiegelkrise hat nicht nur die Auflage des Nachrichtenmagazins gewaltig gesteigert, sondern auch den Kampf der Leitbilder eindeutig entschieden. Der Liberalismus hat sich in ihr in den politischen Sattel geschwungen und versucht sich seither in den eigenartigsten Dressurkünsten.

Vergangenheitsbewältigung

Die amtliche Darstellung der Bundesregierung präzisiert: „Am 24. Dezember 1959 gegen 23 Uhr wurde auf dem in Köln am Hansaring errichteten Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus mit der Inschrift: ’Hier ruhen sieben Opfer der Gestapo. Dieses Mal erinnert an Deutschlands schandvollste Zeit 1933‑1945, der zweite Satz mit schwarzer Lackfarbe überschmiert. In derselben Nacht, am 25. Dezember 1959, gegen 2.30 Uhr wurde die Synagoge in Köln, Roonstraße, durch folgende Aufschriften besudelt: die Außenmauer des Grundstücks durch die Parolen ’Juden raus’ und ’Deutsche fordern: Juden raus‘; die Wand und ein Eingang zur Synagoge durch Hakenkreuze und durch Überschmieren der Inschrift ’Synagogengemeinde Köln’; die Innenseite des Toreingangs zur Synagoge durch ein Hakenkreuz sowie durch Überstreichen der Hausglockentafel und des Türgriffs. Zu diesen Schmierereien wurde weiße und rote Lackfarbe benutzt.“ Die beiden mitternächtlichen Täter ‑ sie waren wegen fortgesetzten Betrugs und Autodiebstahls bereits vorbestraft ‑ wurden Anfang Februar 1960 wegen „Beschädigung öffentlicher Sachen“ zu 14 bzw. 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Man hat von ihnen seither nichts mehr gehört. Die Tat jedoch löste eine weltweite Kampagne aus, die eine Identifizierung der Bundesrepublik mit dem 1945 untergegangenen „Dritten Reich“ zum Inhalt und teilweise auch zum Ziel hatte.  . . .

Am 18. Februar 1960 mußte Bundesinnenminister Schröder im Bundestag erklären: „Wir stellen uns ernsthaft die Frage, ob wir den nach 1945, insbesondere seit der Bildung der Bundesrepublik 1949 eingeschlagenen neuen Weg ohne Beeinträchtigung fortsetzen können Die Bundesregierung sah sich plötzlich für Dinge haften, die sie weder veranlaßt hatte noch irgendwie beeinflussen konnte. Mit höchst unzulänglichen Mitteln versuchte sie sich der propagandistischen Sturzflut, die über die Bundesrepublik hereinbrach, entgegenzustemmen. Schröder sagte im Bundestag: „Wir werden heute nicht von neuem vor die persönlichen Entscheidungen der Jahre 1933 bis 1945 gestellt, sondern wir haben 15 Jahre eines konsequent anderen Weges hinter uns … Unter uns kann es und darf es nicht den Maßstab wirklichen oder angeblichen Versagens gegenüber dem totalitären Nationalsozialismus geben, der alle unter sein kaudinisches Joch gezwungen hat, sondern nur einen einzigen Prüfstein: den entschlossenen Willen, den seit 15 Jahren verfolgten neuen Weg unbeirrt fortzusetzen.“

Schröder hatte natürlich seine staatspolitische Rechnung ohne den publizistischen Wirt im deutschen Hause gemacht, und seine Mahnung verhallte wie der Kommentar eines Provinzblattes. Hingegen kam die Erklärung des Bundestagsvizepräsidenten Carlo Schmid dem vom Wirt Erwünschten schon ziemlich nahe.

Zwar, meinte Schmid, habe die Pressekampagne dazu geführt, daß eine Reihe von Halbstarken ähnliche Taten wie die in Köln begangen hätten, was mancherorts bedauert würde: „Vielleicht ist dies aber gut: es gibt Lagen, in denen man die schlafenden Höllenhunde wecken muß, um an ihrem Gebell innezuwerden, wie nahe die Hölle noch ist.“

Wenn ein Mao eine „Hundert‑Blumen-Kampagne“ einleiten kann, die die Parteifeinde hervorlockt, um sie dann desto besser zerschmettern zu können, so wollte Carlo Schmid nur „innewerden“. Ihm ging es um die Demonstration, daß es „unter der Schwelle des Bewußtseins noch unaufgeräumte Unratecken gibt“. Allerdings definiert die Aufgabe der Aufräumung von Unratecken unter der Schwelle des Bewußtseins das Wesen des Staates neu, dessen nunmehriger tiefenpädagogischer Beruf sich mit dem alten der Gewährleistung der Rechtsgemeinschaft und deren Schutz gegen Angriffe, auch von außen, nicht vereinbaren läßt. Der Konflikt zwischen den Staatsaufgaben wurde von Carlo Schmid auch gesehen und einseitig entschieden, wenn er denjenigen ein „Versagen“ vorwarf, die die Vorgänge „nicht unter dem Aspekt der Moral, sondern unter dem Gesichtswinkel des möglichen Schadens betrachten, den die Bundesrepublik erlitten haben mag“. Neben den beiden diametral einander gegenüberstehenden Äußerungen, die auf eine vollkommen verschiedene Auffassung über die Aufgaben des Staatswesens zurückgehen, druckte die amtliche Publikation noch ein beinahe rührendes Zeugnis des Verkennens der Situation ab.

Bundespräsident Lübke sagte: „Wenn die Weltpresse die deutschen Gegenaktionen, die sich auf eine geschlossene Volksmeinung stützen, ebenso breit in der Öffentlichkeit behandelt hätte wie die einzelnen Schändungen, so wäre das Gesamtbild für Deutschland günstiger.“
Man konnte aus „moralischen“ Gründen bewußt politische Risiken eingehen, man konnte versuchen, diese Risiken zu begrenzen, aber man konnte nun wirklich nicht an den Gerechtigkeitssinn der „Weltpresse“ appellieren. Der Topos „Nazi Germany“ erfüllte eine ganz bestimmte, nüchtern kalkulierte Funktion bei dem Versuch, mit den Russen ins politische Geschäft zu kommen. Hitler war der Katalysator der russisch‑amerikanischen Allianz im Zweiten Weltkrieg gewesen. Warum sollte er nicht den gleichen Dienst ein zweites Mal leisten?

Interessant an der Erklärung Carlo Schmids ist, daß er sich über die Struktur der Massenmedien nicht im klaren war. Er spricht an einer Stelle von „Wochenschau“ (also Kino) und „Zeitung“, an anderer Stelle von der „Presse“, die „viel Aufhebens von diesem Schmutze“ gemacht habe, und verkennt völlig, daß zum Zeitpunkt des Kölner Ereignisses die Schwelle zum Fernsehzeitalter überschritten war. Die Erhebung des Zeigefingers begann auch mit einer Fernsehansprache des nordrhein‑westfälischen Innenministers Dufhues am ersten Weihnachtsfeiertag. Die Sendezeit konnte kaum günstiger liegen, da die Zahl der Fernsehempfänger sich gerade so vermehrt hatte, daß man von einer allgemeinen Verbreitung sprechen konnte, und der Weihnachtsfeiertag der Tag des großen Ausprobierens war. Es ist kein Zufall, daß der Durchbruch der Kampagne durch Ausnutzung eines optischen (Hakenkreuz) und nicht eines akustischen Anlasses gelang. Die Kölner Hakenkreuzschmiererei und die durch sie ausgelöste weltweite Kampagne ist das erste große telekausale politische Ereignis, dem im folgenden Jahr das noch bedeutendere der Wahl des Präsidenten John F. Kennedy folgen sollte.

Die Weihnachten 1959 anlaufende Agitation gab einer Kampagne den offiziösen Stempel, die in privaten Bereichen schon einige Jahre zuvor Fuß gefaßt hatte. Sie trug den recht kuriosen Namen „Bewältigung der Vergangenheit“.
Der Name stammt aus dem Mekka der Gesprächspilger, den Evangelischen Akademien. 1955 war er erstmals von Erich Müller‑Gangloff auf eine Einladung zu einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin gesetzt worden, im Oktober 1955 Thema einer Tagung der Grenzakademie Sankelmark, dann am 20. Juli 1956 als „Hitler oder die unbewältigte Vergangenheit“ Thema einer Tagung in Berlin. Er tauchte auf dem siebenten Evangelischen Kirchentag des gleichen Jahres in Diskussionsbeiträgen auf und verbreitete sich wie ein Buschfeuer.

Theodor W. Adorno gab im Herbst 1959 folgende Exegese: „Die narzißtischen Triebregungen der einzelnen, denen die verhärtete Welt immer weniger Befriedigung verspricht und die doch ungemindert fortbestehen, solange die Zivilisation ihnen sonst soviel versagt, finden Ersatzbefriedigung in der Identifikation mit dem Ganzen. Dieser kollektive Narzißmus ist durch den Zusammenbruch des Hitlerregimes aufs schwerste geschädigt worden. Seine Schädigung ereignete sich im Bereich der bloßen Tatsächlichkeit, ohne daß die einzelnen sie sich bewußt gemacht hätten und dadurch mit ihr fertig geworden wären. Das ist der sozialpsychologisch zutreffende Sinn der Rede von der unbewältigten Vergangenheit.“

Die Vergangenheitsbewältigung ist die Anwendung sozialpsychologischer Erkenntnisse in einer Massentherapie, die eine krankhafte Einstellung der Deutschen (Sozialpathologie) durch Bewußtmachung ihrer „Vergangenheit“ zum Verschwinden bringen will. Die Deutschen hätten den Nationalsozialismus im allgemeinen, „Hitler ‑ das gesamtdeutsche Trauma“ (Gert Kalow) im speziellen verdrängt und leisteten Widerstand, wenn man sie mit dieser Vergangenheit, also mit sich selber, konfrontierte. Hitler werde eingekapselt, mit bösen Etiketten versehen, abgelehnt. Dadurch sei die Vergangenheit aber keineswegs bewältigt, sondern eben unbewältigt, da die gebotene „Trauerarbeit“ (Alexander Mitscherlich) verhindert werde.

Wenn die Assimilation Hitlers und seine fortschreitende seelische Überwindung in das Zentrum einer Sozialreligion gerückt wird, ordnen sich alle Gegenstände um den Glaubenshauptgegenstand herum an. Alles und jedes ist entweder Trauerarbeit oder Flucht vor ihr. Schließlich tritt an die Stelle des Kalten Krieges der neue Ost‑West‑Konflikt der verschiedenen Aufarbeitungssysteme: „Während es für den Christen selbstverständlich ist, daß die Abkehr von diesem Gestern nur im Gegenüber zur bewußten Erinnerung erfolgen kann, ist für den Marxisten mit dem Eintritt in die Welt des Sozialismus jede Verbindlichkeit von gestern her erloschen“ (Erich Müller‑Gangloff. Dieser Gedanke kann dahingehend entwickelt werden, daß ein innerdeutscher Ost‑West‑Ausgleich, der nicht notwendig eine staatliche Wiedervereinigung bedeutet, dadurch erreicht werden kann, daß sich östlicher Marxismus und westliche Bewältigung vermählen. Mancher „Dialog“ steuert deutlich in diese Richtung. …

Für die Trauerarbeit ist Voraussetzung, daß Hitler nicht sterben darf. Für die weltpolitische Situation war er schon 1944 tot, es ging nur noch um sein Erbe. Damit öffnet sich eine Schere zwischen den vermeintlichen psychologischen und therapeutischen Erfordernissen und der sich aus der politischen Weltkonstellation ergebenden Gegenwartssituation. …

Der Bewältigung der Vergangenheit liegt ein geschlossenes System eines geistigen Kreislaufs zugrunde. Ein moralisches Postulat wird in der Gegenwart aufgestellt. Aufgrund dieses Postulats werden das „Dritte Reich“ und die deutsche Geschichte gedeutet. Aus der so gedeuteten Geschichte werden Lehren für die Gegenwart gezogen, die zu verschärften moralischen Postulaten und damit zu erneut rigoroseren Deutungen der Vergangenheit führen, und so weiter, immer im Kreis herum, bis eines Tages das auf sich selbst bezogene Gebilde am Fels der Realität zerschellt. Die moralische Eskalation kann auf Inhalte weitgehend verzichten. Die Verwendung der Geschichte des „Dritten Reiches“ in der Trauerarbeit hat eine Begegnung mit Geschichte nicht in ihrem Gefolge, im Gegenteil. Hans Buchheim, der über ein Jahrzehnt im „Institut für Zeitgeschichte“ tätig war, kommt zum Schluß: „Alles in allem muß man also leider feststellen, daß mit zunehmendem zeitlichem Abstand vom Dritten Reich die Vorstellungen über jene Zeit nicht etwa zutreffender werden, sondern vielmehr immer abwegiger.“ Es grassiere eine spekulative Betrachungsweise, die „Geschichte nur als Stoff benutzt, an dem sie ein Prinzip demonstrieren kann“.

Die Betrachtung des Dritten Reiches durch die Älteren sei völlig unreflektiert, nur durch persönliche Eindrücke bestimmt, die der jüngeren nur reflektiert. „Die Jüngeren halten eine differenzierende Betrachtungsweise von vorne herein für apologetisch und unmoralisch, weil für ihre Begriffe die Moralität des Urteils in dem Maße zunimmt, in dem alle Aspekte eines Problems auf einen Aspekt konzentriert werden“. Der Aspekt, auf den alle Aspekte des Dritten Reiches konzentriert werden, ist nach Buchheim der Aspekt des Verbrechens, zusammengefaßt im Symbolbegriff Auschwitz. Vom Aspekt des Verbrechens wird ein Dispens des politischen Denkens abgeleitet, der jede nüchterne Erwägung in der Gegenwart und jede Einbeziehung des Selbstinteresses schon als Ansatz zum Verbrechen wertet. …

Der Verfasser besitzt eine von Werner Hilgemann herausgegebene Schulwandkarte, die auf vier Quadratmetern mit Judensternen, SS‑Fähnchen, Wachtürmen und Galgen bedeckt ist, ihr Titel: „Deutschland unter der Hitlerdiktatur 1933‑1945.“ (Verlag J. Perthes, 1963). Als 1960 das propagandistische Gewitter über der Bundesrepublik losbrach, war ein Blitzableiter vonnöten. Die Schulen waren aufgrund der bestehenden staatlichen Schulhoheit der Ort, wo ohne Störung der Rechtsordnung, die bei einer zweiten Entnazifizierung unvermeidbar gewesen wäre, bewältigt werden konnte.
Schon am Januar 1960 setzten nach dem Bericht der Bundesregierung die „systematischen Belehrungen in den Schulen“ ein. Eine Flut von Anweisungen folgte. Am 29. September 1960 kam die „Rahmenvereinbarung“ der Kultusministerkonferenz in Saarbrücken zustande, die in den Oberstufen der Schulen das Fach „Gemeinschaftskunde“ einführte und den Geschichtsunterricht in ihm aufgehen ließ. An die Stelle des chronologischen Geschichtsunterrichts trat der „exemplarische“, der den Stoff benutzte, um an ihm ein Prinzip zu demonstrieren. Die demonstrationsstudentische Bewegung von 1967/68 ist nicht von ungefähr antihistorisch. In der Antifestschrift zum 150 jährigen Jubiläum der Universität Bonn, „150 Jahre Klassenuniversität“, schreibt Bernd Pauly:
„Uns scheint, es würde niemandem auffallen, wenn die Geschichtswissenschaft über Nacht abgeschafft würde. Dort, wo sie gesellschaftliche Effizienz haben soll, an den höheren Schulen, wird sie als autonomes Unterrichtsfach mehr und mehr zurückgedrängt, denn es leuchtet selbst Kultusministern ein, daß die lichtsuchende Jugend kanonisierter Plattheiten über Bismarck und andere füglich entraten kann“.

In der Einführung des Faches „Gemeinschaftskunde“ sahen seine Promotoren eine „große neue Aufgabe“, nämlich „die Erziehung des (auch) politischen Menschen, der die Erinnerung bewahrt und aus ihr handelt“ (Felix Messerschmid). Sie glaubten allen Ernstes, mit ihrem Unternehmen einen Beitrag zur geistigen Verteidigung des Westens zu leisten, zu der Karl Dietrich Erdmann auf dem Historikerkongreß von Duisburg 1962 in flammenden Worten aufrief.
Eine völlig unübersehbare Literatur über Didaktik und Systematik des politischen Unterrichts ergoß sich über die Pädagogen. Es war vorauszuberechnen, daß etwa im Jahre 1968 zum ersten Mal seit 1945 eine politisch gereifte und demokratisch gebildete Abiturientengeneration in die Universitäten einrücken würde. Tatsächlich wurde diese Generation auch als „erste hoffnungsvolle Generation unseres Volkes“ (Müller‑Gangloff) begrüßt. Wenn Messerschmid das Erziehungsziel des Bewahrens der Erinnerung und des Handelns aus ihr aufstellte, übersah er, daß die Jugend ja nicht die Messerschmidschen Erinnerungen bewahren konnte, sondern nur die ihres eigenen Erlebniskreises, und der wurde durch eiertanzende Studienräte gebildet, die als politische Doktrin eine reichlich stümperhafte Rationalisierung von Erlebnissen anderer zu verkünden hatten.

Welche Rolle konnte die „unbewältigte Vergangenheit“ als Bildungserlebnis bei einer Generation spielen, die nach dem Krieg geboren und nun z.B. von Pfarrer Franz von Hammerstein vor die Frage gestellt wurde: „Was würden wir tun, wenn man uns zum Selektieren auf die Rampe in Auschwitz‑Birkenau stellte, oder wenn wir als Soldaten die grauenhaften Geiselerschießungen beobachteten?“
Die Antwort mußte, da Auschwitz in unerreichbare Ferne gerückt war, in dem Wurf von Frischeiern auf lebende Staatsmänner, Love‑Ins in Rektoratsräumen und der Auffassung bestehen, daß die ganze Gesellschaft in Verbrechen verstrickt sei. Die bewältigende Generation glaubte, es sich schuldig zu sein, die Jugend in einen Prozeß der Sühne einzubeziehen:

„Man kann stellvertretend für die Väter sühnen, ähnlich wie die Väter oft für ihre Kinder sühnen müssen. Sühne ist nicht identisch mit Strafe verbüßen, sondern bedeutet, die Strafe als gerecht akzeptieren.
Worin besteht eigentlich die Strafe? Einzelne werden bestraft, wenn die Gesetze, die Justiz, dazu zwingen. Das deutsche Volk wurde unter anderem bestraft durch die Wegnahme von Ostpreußen, Schlesien und Pommern, durch die Vertreibung der dortigen Bevölkerung sowie durch die Teilung. Diese Strafen haben nach 1945 mehr oder wenige Schuldige ‑ von Unschuldigen sollte man für die damalige Generation nicht reden ‑ getroffen, und gerade etwa die Teilung trifft auch Unschuldige heute. Welche Strafen uns ein künftiger Friedensvertrag etwa noch auferlegt, wissen wir nicht.“

Die religiöse Aufladung der profanen Geschichte, die Ersetzung des persönlichen Gottes durch den Geschichtslenker, der sich im Zeitgeschehen offenbart und sein Gericht durch die Weltmächte vollzieht, ist in der geschichtlichen Dimension des Christentums, aus der nach Löwith die säkulare Geschichtsphilosophie hervorging, angelegt, so daß der Sühneprotestantismus ‑ auch im Katholizismus kommen Parallelen auf ‑ manchen innerkirchlichen Ansatzpunkt hatte. Politische Differenzen bekamen dadurch kirchensprengende Wirkung.

Die Vergangenheitsbewältigung hat auch Wissenschaftsgeschichte geschrieben und die Fragestellungen, Terminologien und Antworten einer ganzen Reihe von Fächern ‑ von der Psychiatrie bis zur Staatsrechtslehre ‑ beeinflußt. Als Beispiel einer Anwendungsmöglichkeit der Vergangenheitsbewältigung sei das Gebiet der Außenpolitik herausgegriffen. Die auf die Außenpolitik angewandte Vergangenheitsbewältigung hatte, wie die dritte außerparlamentarische Bewegung „Kampf dem Atomtod“, ihren Ausgangspunkt im Göttinger Memorandum der 18 Physiker. In vertraulichen Erörterungen am Dienstsitz von Bischof Hermann Kunst, Militärbischof, Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche bei der Bundesregierung und Exponent des Kirchenliberalismus, wurden weitere Aktionen nach Art des Göttinger Memorandums konzipiert. Ein „Tübinger Memorandum“ wurde im Herbst 1961 an die Abgeordneten des neuen Bundestages verschickt und mit ihnen erörtert. Unter den Unterzeichnern (Becker, Bismarck, Heisenberg, Howe, Picht, Raiser, Weizsäcker) befanden sich noch zwei Physiker. Die Federführung war jedoch eindeutig an den Tübinger Juristen Prof. Ludwig Raiser übergegangen.

Während das Göttinger Memorandum sich nicht in der Lage sah, einen politischen Rat zu erteilen, und nur die Nichtbeteiligung der Physiker an der atomaren Forschung zu militärischen Zwecken kundtat, weiß die neue Denkschrift‑Bewegung genau, was zu tun ist, und versucht, die politischen Instanzen unter Druck zu setzen, indem sie vorgibt, sie durch Aufhebung des Drucks zum Handeln zu befreien. Der Kernsatz des Memorandums lautet:
„Die deutsche Position in der gegenwärtigen Krise wurde dadurch geschwächt, daß wir an Ansprüchen festgehalten haben, die auch bei unserem Verbündeten keine Zustimmung finden. Wir sagen nichts Neues, wenn wir die Ansicht aussprechen, daß zwar Freiheit der in Berlin lebenden Menschen ein von der ganzen Welt anerkanntes Recht ist, daß aber das nationale Anliegen der Wiedervereinigung in Freiheit heute nicht durchgesetzt werden kann, und daß wir den Souveränitätsanspruch auf die Gebiete jenseits der Oder‑Neiße werden verloren geben müssen.“

Das Tübinger Memorandum brachte Anschauungen zu Papier, die an keinem Punkte über das hinausgingen, was in den Kreisen der Kennedy‑Administration umlief und was von jenen, welche die deutsche Politik den amerikanischen Vorstellungen der KennedyBerater anpassen wollten (z. B. „Die Zeit“), angestrebt wurde. …

Die eigentliche Sensation des Memorandums war jedoch sein theologischer Hintergrund. Diese Sensation steigerte sich noch, als der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands eine „Kammer für öffentliche Verantwortung“ unter dem Vorsitz von Prof. Ludwig Raiser und der Geschäftsführung von Oberkirchenrat Erwin Wilkens beauftragte, eine Ost‑Denkschrift auszuarbeiten, die den Titel trug „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“.
Die Denkschrift wurde im Oktober 1965, wieder nach der Wahl eines neuen Bundestages, veröffentlicht und führte sofort zu einer lebhaften Debatte, die nach einem halben Jahr schon 40 selbständige Schriften zutage gefördert hatte und heute noch anhält. Die Bielefelder These der Kirchlichen Bruderschaften, daß der Verzicht auf die Ostgebiete eine Erkenntnis sei, zu der „das Evangelium die politische Vernunft“ befreit habe, wurde in der Ost‑Denkschrift nicht mit diesen Worten formuliert, aber stand doch derart im Hintergrund, daß die an Verschlüsselungen gewohnten Zeitgenossen zu Recht stutzig wurden. . . .

In harten Grabenkämpfen um jeden Punkt der Denkschrift schälte sich nach und nach heraus, daß die einzelnen Punkte nur die Schale um einen theologisch‑politischen Kern waren, der als „Ja zum Gericht Gottes“, zur Konsequenz der Annahme jeder Forderung und Zumutung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs führte. . . . Die Sühnetheologen mußten in den ihnen Widersprechenden den „alt‑bösen Feind“ wittern, der ein verstocktes Nein zum Gericht Gottes sagt. Sie waren daher auch maßgeblich an einer Kampagne beteiligt, die in einer umfangreichen Literatur einem „Nationalismus“ den Garaus zu machen suchte, dem zunehmend alle satanischen Züge des Bösen angeschminkt wurden.
Der Kampf gegen Nation, Nationalgefühl, Nationalismus ist seit den Illuminaten und bis hin zum Internationalismus der Sozialdemokratie eine Unterströmung der Linken gewesen. Doch handelt es sich bei dem Bewältigungs‑Anti‑Nationalismus nicht um einfache Anknüpfung an diese Tradition, sondern um eine sehr spezifische Abwandlung. Das geht schon daraus hervor, daß die gleichen Kreise, die in Deutschland in der Bekämpfung des Begriffes der Nation den hauptsächlichen Inhalt der Politik sehen, in Österreich mit gleichem Elan diesen Begriff einführen wollen. Sie rufen diesseits von Inn und Salzach „Fort mit der Nation“ und jenseits von Inn und Salzach „Her mit der Nation“.

Umerziehung und Politische Kultur

Politische Kultur (Political Culture) ist der Name eines Ende der fünfziger Jahre an der Universität Princeton entwickelten Forschungskonzeptes amerikanischer Sozialwissenschaftler, das als Spätzünder in der Schlußphase der bundesdeutschen Teilrepublik die öffentliche Diskussion prägte. Die späte, bei „seiner ursprünglichen Rezipierung aus dem Amerikanischen kaum zu ahnende Blüte“ wurde dem Fernsehpublikum verdeutlicht, als in der viel beachteten Bundestagsdebatte über den konstruktiven Mißtrauensantrag gegen Helmut Schmidt Redner der SPD (Helmut Schmidt, Willy Brandt) wie der FDP (Gerhard R. Baum, Hildegard Hamm-Brücher) davor warnten, daß der Regierungswechsel die „Politische Kultur“ gefährde.
Politische Kultur war in Bonn auf Spielregeln, politischen Stil, ungeschriebene Gesetze im Gegen‑ und Miteinander der Berufspolitiker verkürzt worden, während in Amerika sich die Political‑Culture‑Forschung mit der Gesamtbevölkerung befaßte. Das von Gabriel A. Almond, dem „Founding Father“, seinen namhaften Jüngern Sidney Verba und Lucian W. Pye und einigen anderen entwickelte Forschungskonzept versuchte politisch relevante subjektive Faktoren wie Wertüberzeugungen, Einstellungen, Verhaltensweisen mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung zu erfassen und zu vergleichen. In Deutschland wurde daraus unter Verzicht auf die komparative Zielsetzung ein feuilletongerechter Modeartikel, der klangstark Sinnführungskompetenz belegen sollte. Wer zwischen einem normativen Gebrauch bei Politikern, Leitartiklern und Fernsehkommentatoren, die häufig den Mangel oder den Verfall der Politischen Kultur beklagen und einen „nicht von vornherein wertenden, also deskriptiven und analytischen“ Gebrauch in der Sozialwissenschaft unterscheidet, kennt anscheinend seine Pappenheimer nicht. Wir finden unter den Autoren der Politischen Kultur so manche Politikwissenschaftler, die durch normative Überzeugtheiten und entsprechenden volksmissionarischen Drall bekannt sind. Martin Greiffenhagen, Kurt Sontheimer, Wilhelm Weidenfeld, Wilfried Röhrich, Iring Fetscher, Fritz Stern, Christian Graf Krockow, Lord Ralf Dahrendorf e tutti quanti. Die politische Kultur der Bundesrepublik wird hier an der Norm eines nicht näher untersuchten westlichen (de facto) anglo‑amerikanischen Vorbilds gemessen. Das Auftauchen des Paradigmas Politische Kultur in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hilft eine Lücke zu schließen, die sich durch das Verblassen der antikapitalistischen, antiautoritären, antiimperialistischen Faszinationen der 68er Bewegung nach der Tendenzwende von 1973/74 ergeben hatte.  . . .

Deutschland war in den 60er und 70er Jahren kein Mittelpunktthema und kein Anlaß für besondere Besorgnisse. Dennoch spielt es in der Political‑Culture‑Forschung eine wichtige Rolle. Die psychopolitische Sicht war ursprünglich auf Deutschland gerichtet gewesen.  . . .

Das konzeptionelle Umfeld der Re-education der Deutschen war Ausgangspunkt der Political‑Culture‑Forschung. In ihr zeichnet sich nicht nur ein Wandel des Deutschland‑Bildes ab, sondern auch ein Wandel der deutschen Wirklichkeit, soweit sie mit einem sozialwissenschaftlichen Raster einzufangen ist. Re-education und Politische Kultur sind jedoch nicht nur durch eine psychopolitische Traditionslinie verbunden, sondern auch durch eine der empirischen Sozialforschung.  . . .

Kürzungen und die Hervorhebungen im Text wurden von mir vorgenommen. Das vollständige Buch CHARAKTERWÄSCHE ist unter Flipbooks eingestellt.. – Horst Koch, Herborn, im Dezember 2008