CHRISTUS IST MEIN LEBEN
Das Lebensbild des messianischen Juden Aladar Ungar
VORWORT
vom Verfasser Arpad Kovacs
Glaubensbrüder aus Süddeutschland baten mich eine Kurz-Biographie von Aladar Ungar zu schreiben. Das war mir deshalb möglich, weil ich in den letzten zehn Jahren seines Lebens Andi‘s engster Mitarbeiter war.
Seit meiner Bekehrung (Herbst 1952) kannte ich Bruder Ungar als einen Evangelisten und Mitältesten der Budapester Brüdergemeinde. Bis zu meiner Flucht aus Ungarn im Nov. 1956 (nach dem Oktober-Aufstand) habe ich als junger Student in Budapest viele seiner Vorträge gehört und geschätzt.
Wegen seines mutigen Auftretens und der klaren Verkündigung des Evangeliums wurde Bruder Ungar oft bedrängt. 1958 wollte ihn die Geheimpolizei sogar verhaften. Inzwischen bekam er zu seinen sonstigen Krankheiten (mit 18 verlor er eine Niere und bekam Diabetes) nun noch Darmkrebs. Die Ärzte gaben ihm noch sechs Monate Lebenszeit. Da er eine deutsche Frau aus Tuttlingen hatte, beantragte er die Aussiedlung nach Deutschland. Wenn er sterben würde, sollte seine Frau bei Verwandten leben und versorgt werden. Deshalb hat ihm die Geheimpolizei 1959 die Umsiedlung genehmigt. (Frau Ungar starb am 13. August 2000 in Tuttlingen).
Von da ab hatte ich intensiven Kontakt mit ihm. Wir trafen uns bei verschiedenen Anlässen. Er wurde mir ein väterlicher Freund. Ab 1960 wurde er auch Mitarbeiter in der Ungarischen Schriftenmission, einem Zweig der Mission für Süd-Ost-Europa (MSOE) in Siegen. Gemeinsam hielten wir Freizeiten unter Flüchtlingen aus Ungarn: in Deutschland, der Schweiz, Holland, Belgien und Italien. Als ich 1966 meine Mitarbeiterin Charlotte L. heiratete, war es uns ein Geschenk, dass er und ein Bruder aus dem Vorstand der MSOE, Pastor H. Mühle, uns trauten.
Zu manchen seiner deutschen Verkündigungsdienste konnte ich ihn mit meinem Wagen fahren, so auch zu den deutschen Brüder-Konferenzen in Dillenburg, Rehe usw. Dieser Fahrdienst war auch deshalb nötig, weil man ihm wegen Diabetes 1961 das rechte Bein amputiert hatte. Seit diese Zeit mußte er Krücken und einen Rollstuhl benutzen. 1970, acht Monate vor seinem Heimgang, wurde ihm auch das zweite Bein amputiert. Doch der Geist Gottes wirkte trotz aller Schwachheit mächtig in ihm.
Ab Herbst 1962 begannen wir gemeinsam das Missions-Blatt “Saat und Ernte“ in Ungarisch herauszugeben. Die MSOE war bereit, die Druckkosten zu tragen. Weil Andi Ungar auch schon in Budapest als christlicher Verleger tätig war, fragten wir ihn, ob er der verantwortliche Redakteur sein könnte; ich würde sein Lehrling sein. So durfte ich sieben Jahre lang bis zu seinem Todestag (23.11.1970) an seiner Seite die Zeitschrift mitredigieren, (in weiteren 30 Jahren dann leider ohne ihn).
Anläßlich Bruder Ungars Heimgang hatten wir eine Sondernummer des Blattes “Vetés és Aratás“ (Saat und Ernte) verlegt, in dem wir seine Kurzbiographie und manche seiner Zeugnisse veröffentlichten, alles in Ungarisch. Aus diesem Blatt kann ich hier nur einige Eckdaten herausgreifen.
Stuttgart, Sommer 2006
(Vilma Lukátsi, eine ungarische Schriftstellerin, hat 1993 eine Biographie mit einigen seiner Predigten auf 284 Seiten mit dem Titel: “Igen, Atyám !“ (Ja, Vater!) in Ungarisch geschrieben. Verlegt durch Evangèliumi Kiadó in Budapest.)
ANDI UNGAR
(1905-1970)
Aladar Ungar (so sein Name in ungarischen Dokumenten) war ungarischer Jude aus dem Stamm Levi. Er wurde am 2. Juli 1905 in Budapest geboren. Als er gerade 10 Jahre alt war, starb seine Mutter. Er und seine jüngere Schwester litten sehr darunter. Nach der Beerdigung umarmte er sie und sagte: „Nun werde ich für dich die Mutter sein.“ Diese Gemütsart kennzeichnete sein ganzes weiteres Leben.
Das Lernen in der Handelsschule gefiel ihm nicht. Darum ging er lieber bei einem Textilhändler in die Lehre. Als junger Mensch genoß er alle Freuden dieser Welt.
Da verlor er plötzlich durch einen schweren Betriebsunfall eine seiner Nieren. Der Gedanke an den Tod war ihm unerträglich. Nach einer wilden Party-Nacht wurde es ihm klar, wie sinnlos sein Leben ist.
Noch in derselben Woche traf er einen jungen Mann, der ihn in eine Veranstaltung der Heilsarmee einlud. Dort wurde Andi Ungar der immer versucht hatte, sein Jude-Sein zu verbergen zum ersten Mal mit Jesus dem Messias konfrontiert. Nach einem mehrstündigen Kampf erkannte er sein Verloren-Sein vor Gott und nahm Jesus Christus als seinen Heiland und Messias an; er lieferte ihm sein Leben aus. Damit begann ein neues Leben. Doch wurde er aus seinem jüdischem Familienverband rausgeworfen.
Ungar trat der Heilsarmee bei und diente dort sieben Jahre. Seine geistliche Entwicklung führte ihn stetig auf neue Höhen. Er wurde ein außergewöhnlich kluger Bibelstudent, lernte und sprach fließend Deutsch und Englisch. Heißhungrig wollte er sich mehr ins Wort Gottes vertiefen. Durch Selbststudium ging er allen Fragen nach, forschte, fragte alle Bibellehrer, die er erreichen konnte. So hatte er sich eine große Bibelkenntnis angeeignet und erkannte die heilsgeschichtlichen Zusammenhänge. Durch seine Sprachkenntnisse standen ihm gute Bücher auch in Deutsch und Englisch zur Verfügung, für deren Kauf er kein Geld scheute. Seine Erkenntnisse wurden hauptsächlich durch die Bücher von C. H. Mackintosh, C. I. Scofield, E. Sauer und W. Nee geprägt. Dies war auch der Grund, warum man ihn in späteren Jahren zu verschiedenen Konferenzen nach Deutschland, England (Keswick), nach Dänemark und in die Schweiz eingeladen hat.
Als Heilsarmee-Offizier lernte er seine Frau, Emma Kroll, eine deutsche Kadettin der Heilsarmee, kennen. Die beiden erkannten Gottes Führung für ihren gemeinsamen Weg und heirateten bald. Ihre Ehe blieb kinderlos, doch wurden sie für viele Menschen zu geistlichen Eltern.
Ehepaar Ungar schloss sich 1932 der Budapester Brüder-Versammlung an, wo sie sich taufen ließen. Zu der Gemeinde gehörten auch viele an Jesus gläubige Juden. Zeitweise bildeten diese ein Viertel der ca. 200 Teilnehmer. Hervorragende Ärzte, Rechtsanwälte und Lehrer wurden aktive Mitarbeiter in dieser liebevollen, warmen christlichen Versammlung. Ungar wurde ein geschätzter Verkündiger und eine Säule der Gemeinde, zusammen mit Hugo Berliner und dem Gründer der Gemeinde, dem weltbekannten Prof. der Anatomie, Dr. Ferenc Kiss.
Weil es in der Versammlung weder Mitgliederlisten noch formale Mitgliedschaft gab, war es Bruder Ungar möglich sein Jüdisch-Sein deutlich vor den Rabbis von Budapest zu erklären, ohne seine Zugehörigkeit zu Jesus Christus zu verstecken. Er zahlte auch weiterhin seine jährlichen Beiträge an die Synagoge.
1935 eröffnete Aladar Ungar in Budapest in der Hársfa Str. 33 eine kleine Evangeliums-Buchhandlung und gab auch etliche Bücher heraus. Das Ehepaar Ungar kannte kein sog. “Privatleben“. Ihre kleine Zweizimmerwohnung war allezeit offen für Leute, die entweder nach geistlichen Antworten hungrig waren, materielle Hilfe oder ehrliche menschliche Wärme suchten. Viele konnten die wöchentlichen Begegnungen in ihrer Wohnung nicht vergessen, wenn etwa 30 Leute in dem kleinen Raum zusammengepreßt saßen, um Bruder Ungar’s Antworten auf ihre biblischen Fragen oder persönlichen Probleme zu hören. Viele von ihnen waren Juden. Die Buchhandlung wurde 1953 von den Kommunisten geschlossen.
James Stewart (deutsche Biographie von Wolfgang Zöller: »Nicht zu Bremsen«, Telos Verlag-SJD / Lahr, 1986), ein wiedergeborener schottischer Fußballspieler, kam in die Tschechoslowakei und ab 1936 nach Ungarn, um zu evangelisieren. Bald wurde Bruder Ungar sein Übersetzer. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Da Stewart ein weltbekannter Fußballspieler war, wurde er von verschiedenen Denominationen oft wochenlang zu evangelistischen Vorträgen eingeladen. Dadurch wurde auch sein Übersetzer, Andi Ungar, schlagartig im ganzen Land bekannt, so dass auch er später als begehrter Konferenz-reiner von vielen Gemeinden, protestantischen Kirchen und Gemeinschaftskreisen eingeladen wurde.
Er war ein echter Allianzmann nach den damaligen klaren Richtlinien dieser Organisation. So war er jahrzehntelang leitender Mitarbeiter der Ungarischen Evangelischen Allianz, zuletzt auch Geschäftsführer des Rates der Freikirchen Ungarns.
Während des Holocausts in Ungarn war er viermal am Rande des Todes. Wiederholt verhaftete man ihn, zuerst 1943 kurz nach einer zweiten Nierenoperation. Er wurde in verschiedene Arbeitslager gesteckt, wo er jeweils den jüdischen Häftlingen das Evangelium bezeugte. Sein Gesicht strahlte vor Freude, als er später erzählte: „Was für eine herrliche Gelegenheit! Stellt Euch vor, da waren mehr als zehn Rabbis und Hunderte von Juden, und ich konnte ihnen jeden Tag vom Herrn Jesus erzählen! “
1944 kam er wieder in ein Arbeitslager, wo er den vielen Niedergeschlagenen half und freimütig das Evangelium bezeugte. Die Liebe Gottes hörte nie auf, sich durch ihn auszudrücken. Sein Lieblingsgleichnis war: „Wenn Du ein Glas voll Essig hast und zertrümmerst es mit einem Stock, wird nichts anderes herauskommen, als Essig. Aber wenn das Glass voll Honig ist, wird nur Honig herausfließen, wenn Du es zerbrichst, niemals Essig.“
Am Schluß, als die Sowjetarmee das Lager auflöste, sagte der deutsche Kommandant zu ihm: „Ungar, geh‘ nach Haus zu Deiner Frau, Du gehörst nicht hierher!“ So kam er rechtzeitig vor der Belagerung von Budapest nach Haus. Durch die Freundlichkeit des Herrn durch seine deutsche Frau wurde er immer wieder befreit und durfte diese Zeit überleben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schenkte Gott in Ungarn eine große geistliche Erweckung, in welcher ihn der Herr in vielen Gemeinden, aber auch im Leben einzelner Menschen zum Segen gesetzt hat. Er wurde Sekretär der Freikirchen Ungarns.
1959 emigrierten er und seine Frau nach Deutschland und übernahmen ein tägliches ungarisches Evangeliumsprogramm über »Radio Luxemburg« und über den »Evangeliums-Rundfunk«, die Frohe Botschaft in Deutsch und Ungarisch. Viele Brüderkreise nahmen seine Dienste in Anspruch. Er führte eine umfangreiche seelsorgerliche Korrespondenz und schrieb Rundbriefe für seine Freunde.
Da er oft im Krankenhaus behandelt werden mußte, glich sein Krankenzimmer einem Arbeitszimmer und diente manchmal auch als Seelsorgezimmer für Ärzte und Krankenschwestern. Trotz schwerer Krankheiten und Operationen, wurde Ungar niemals langsamer. Sogar im Rollstuhl blieb er ein helles Leuchtfeuer und ein Beweis der Macht Gottes, die über die Schwachheit des Fleisches triumphiert. Seine Wohnung war zu jeder Zeit für alle Menschen offen. Etliche fanden dort den Weg zum rettenden Glauben an Jesus Christus.
Seine letzte größere Reise 1969 brachte ihn und seine Frau nach Ungarn und Rumänien / Siebenbürgen. Alle seine Dienste führte er bis zu seinem Todestag aus. Er bereitete sich gerade für eine ungarische Freizeit in Wiesbaden vor; dann am Sonntag einen Tag vor seinem Heimgang leitete er noch eine Kindersegnung bei der Heilsarmee in Tuttlingen und feierte nachmittags ein Verlobungsfest mit zwei jungen Ungarn. Am nächsten Morgen fiel er in ein Koma, aus dem er in der Ewigkeit aufwachen durfte.
Andi Ungar wurde am 27. Nov. 1970 unter sehr großer Anteilnahme in Tuttlingen beerdigt und von seinem alten Freund, dem method. Superintendent Adam Hecker aus Budapest (mit 1.Kor.15,54-57), sowie von Hermann Birkenfeld seitens der Deutschen Brüderversammlungen (mit Dan.12,1-3) verabschiedet.
Die Vertreter der Brüderversammlungen Ungarns bekamen keine Ausreisegenehmigung!
Der Liebenzeller Schwesternchor des Tuttlinger Krankenhauses rahmte die Verkündigung ein. Auch die große Nachversammlung im Haus der Altpietisten war eine Dankesstunde für ein Leben, das durch Christus verändert und im großen Segen gebraucht wurde. Durch seine gedruckten Schriften, Kassetten und CDs dient Andy Ungar im Reich Gottes noch heute.
Soli Deo Gloria! Auf seinem Grabstein stand:
Christus ist mein Leben!
„Igen, Atyám!“
( = Ja, Vater!)
NACHRUF Ein Leben unter Gottes Gnade
Zum Heimgang von Bruder Andi Ungar
Bruder Andi Ungar ist heimgegangen. Diese Nachricht bewegte viele Leser der »Botschaft«. Es ist erstaunlich, dass so viele Geschwister in den knapp zwölf Jahren, in denen er bei uns in Deutschland lebte, ein persönliches Verhältnis zu diesem Bruder aus Ungarn bekommen haben. Wie war das möglich? Auch dass er von wohl allen geliebt und anerkannt wurde? Darüber sollten wir uns nach seinem Heimgang einmal Rechenschaft geben, um von seinem Vorbild her einen Segen in unserm Leben zu behalten.
Als lebensfroher junger Mann gab Andi Ungar sich den sogenannten “Freuden des Lebens“ hin. Im Alter von 19 ½ Jahren weckte plötzlich ein Einladungsschild der Heilsarmee in Budapest merkwürdiges Interesse bei ihm. Es kam dann zu einer 4 ½ stündigen Unterredung mit dem dortigen Obersten der Heils-Armee, Rothstein. Alles was der junge Mann aus dem Stamm Levi da zum ersten Mal hörte, packte ihn ungemein. Als Bruder Rothstein mit ihm niederkniete, zeigte Gott ihm seine ganze Schuld so klar, dass er über seine Sünden weinte und eindeutig Buße tat. Gleich darauf durfte er erkennen, dass dieser Jesus von Nazareth nicht nur sein Messias war, sondern auch sein Heiland, und eine durchgreifende Wiedergeburt erleben. Er ging zwar am selben Abend noch harmlos zu einer bereits vorher vorgesehenen Tanzveranstaltung, erzählte dort aber offen, was in der Begegnung mit Jesus an ihm geschehen war.
Bei dieser Entschiedenheit in der Übergabe an Jesus Christus blieb er; auch als seine Nächsten ihm das Elternhaus verboten. Eifrig arbeitete er in der Heilsarmee als Zeuge für seinen Herrn. Dabei lernte er seine Frau kennen, die im Dienst der Heilsarmee inzwischen nach Budapest gekommen war. In seinem schriftlichen Antrag an sie machte er gleich die Rangfolge klar: An erster Stelle sein Herr, dann die Geschwister, denen er dienen sollte, dann erst seine Braut.
Einige Jahre später kam er durch Bruder Berliner, der als erster an Jesus glaubender Jude in die Budapester Versammlung aufgenommen wurde, zu den Brüdern. Diese Versammlung war durch den Dienst von Bruder Professor F. Kiss vor kurzem entstanden und erlebte eine erstaunliche Entwicklung. Die Brüder hatten die gläubigen Juden mit der freudigen Feststellung aufgenommen, dass ihre Versammlung nun eine echte urchristliche Gemeinde wäre, zu der “Juden und Heiden“ gehörten. Darauf lag offensichtlich der Segen Gottes. Nach einigen Jahren umfasste diese Versammlung mehr als 200 Gläubige. Davon waren ein Viertel Juden und die anderen kamen „aus den Nationen“.
Andi Ungar wuchs durch eifriges Bibelstudium in seiner Schriftkenntnis, wobei ihm die Schriften und Bücher von Johannes Warns sehr zum Segen waren. Er hielt Bibelwochen, die von allen Seiten besucht wurden. Auch kirchliche Theologen hörten zu und suchten seinen Rat. Während einer Erweckung, die ab 1936 in Ungarn durch den evangelistischen Dienst von Bruder James Stewart geschah, wurde Andi Ungar weit bekannt unter Gläubigen aller Prägungen in Ungarn und in anderen Ländern; denn er übersetzte diesen Evangelisten. In der kommunistischen Ära unterhielt er eine evangelische Buchhandlung und half in der Vertretung der freikirchlichen Gläubigen vor der Regierung, der er schließlich durch sein kompromißloses Eintreten für seine Brüder unbequem wurde.
So kam er 1959 endgültig zu uns nach West-Deutschland. Von hier aus diente er, zusammen mit seiner Frau, seinen Brüdern in Ungarn und den nach dem Aufstand 1956 Geflohenen. Seine Ansprachen über den Evangeliums-Rundfunk und die von ihm redigierte ungarische Schrift »Vetés és Aratás« (Saat und Ernte), die in einer Auflage von 18 000 Exemplaren in alle Welt versandt wird, wurden vielen zum Segen.
Was durfte Andi uns in West-Deutschland sein? Er war in vielen Versammlungen durch seine klare Schriftauslegung geschätzt. Die Jugend unterhielt sich gern mit ihm über aktuelle Zeitprobleme. Er sprach auf den Konferenzen und teilte aus dem reichen Schatz der ihm geschenkten Erkenntnis und seiner Erfahrungen mit dem Herrn aus. Vor allem wirkte er aber durch sein Leben als Christ dadurch, dass Wort und Tat bei ihm eine Einheit bildeten. Sein Herz brannte in der Liebe für seinen Herrn. Das bestimmte sein Leben in guten und bösen Tagen.
Wir müssen wissen, was dieser Mann an schwerem Erleben und Krankheiten hinter sich hatte und mit sich herumtrug: Im letzten Krieg litt er als Jude unter der Verfolgung der Nationalsozialisten. Siebenmal wurde er in ein Arbeitslager gebracht, blieb aber immer wieder wunderbar bewahrt. Jedes Mal nahm er Neue Testamente mit und verteilte sie. Alle wollten mit ihm gleichzeitig „Wasser pumpen“, um zu hören, was er von Jesus erzählte.
Mit 18 Jahren verlor er durch Unfall eine Niere. Mit 40 Jahren durchstand er als Folge zwei Nierenoperationen. Im Zusammenhang damit wurde schwere Zuckerkrankheit festgestellt. 1957 wurde er wegen Darmkrebs operiert. Nach dem Urteil von Professor Kiss war es ein Wunder, dass er die Operation überlebte und die Krankheit sich danach nicht mehr zeigte, obwohl er an den Folgen der Operation bis zu seinem Heimgang litt.
Die schwere Zuckerkrankheit beeinträchtigte den Kreislauf derart, dass schließlich die Beine an Gangrän erkrankten. 1960 begannen Amputationen an Zehen und Beinen, 1961 wurde ein Bein ganz amputiert. 1968 erkrankte er an Lungentuberkulose. Schließlich mußte Anfang dieses Jahres (1970) das zweite Bein nach vorausgegangenen Zehenoperationen ganz amputiert werden.
Wie hat aber Gott auf die vielen Gebete der Geschwister für diesen Mann geantwortet und trotz Not und Schmerzen seines gequälten Körpers durch ihn noch wirken können! Mit nur einem Bein reiste er ohne Prothese zu Konferenzen und zum Besuch von Geschwistern nach Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, England, in die Schweiz, nach Österreich, Italien und schließlich auch nach Ungarn. Mit zwei Beinstümpfen, ganz auf seinen Rollstuhl angewiesen, besuchte er noch Konferenzen und wirkte in Freizeiten mit bei uns in West-Deutschland. Es war ein besonderes Gnadengeschenk seines Herrn, dass er einen Tag vor seinem Heimgang mit frohem Herzen in einem Kreis von Gläubigen in Tuttlingen noch einen Dienst tun durfte.
Wir wollen dem Herrn danken für alles, was Er den Seinen durch seinen Dienst schenkte, für die vielen, die durch ihn zum Heil geführt wurden; vor allen für sein Vorbild, das wir zu unserm Segen im Gedächtnis halten dürfen. Wir gönnen ihm die Ruhe seines Herrn; besonders, wenn wir noch einmal lesen, was er nach überstandener Operation im April vorigen Jahres schrieb:
„Ich muss gestehen, es war zuerst nicht leicht, mich zurechtzufinden mit der Tatsache, dass ich es überstanden habe. Ich habe sehr gehofft und damit gerechnet, dass ich doch jetzt vielleicht heimgehen darf. Ich muss an ein Lied denken:
Am andern Ufer, da gibt es kein Leid,
am andern Ufer, da wartet nur Freud,
am andern Ufer, da weint man nicht mehr,
am andern Ufer, da wartet der Herr!
Beide Beine habe ich verloren – aber er gab mir Flügel. Ich kann mich aufschwingen, mich über meine Begrenzungen erheben. Ich brauche nicht im Staub liegen zu bleiben. Von oben sieht man alles anders.“
Otto Bastian
* * *
VOM LEIDEN
Ein Vortrag von Andi Ungar
Wenn wir über Leiden sprechen, müssen wir bedenken, dass das Leiden eigentlich zu unserem Leben gehört. Es ist un-möglich, sich ein Leben ohne Leiden vorzustellen.
Das Kind, wenn es die Welt erblickt, empfängt es mit Weinen. Und der Greis, wenn er nach einem langen mühevollen Leben sich anschickt, aus diesem Leben zu scheiden, dann geschieht das mit Schmerzen und Leiden, Weinen und Klagen.
Jemand hat es einmal so ausgedrückt: „Die Jugend ist eine Zeit der Irrtümer; das Mannesalter die Zeit des Ringens und der Kämpfe. Und wenn man alt wird, dann bleibt nur eines übrig: Die Reue.“ Viel Wahrheit liegt darin.
Nicht nur Krankheit, nicht nur Schmerzen und körperliches Leiden ist unter diesem Begriff »Leiden« zu verstehen. Oft sind die körperlichen Schmerzen und das Leiden, auch wenn es jahrelang währt, viel erträglicher als manches, was man seelisch leidet und durchmacht. Das Leiden bringt einen Segen mit sich. Es wird niemals darauf ankommen, wie viel jemand gelitten hat, wie viel Leiden er in seinem Leben hatte. Es wird immer darauf ankommen, welche Stellung man zu dem Leiden nimmt. Man kann den größten Segen daraus haben und man kann auch umsonst und vergeblich leiden, weil Gott mit uns nicht zum Ziel kommt durch das, was wir durchgemacht haben. Darum muss Er uns immer wieder heimsuchen mit weiteren Leiden, oft mit Züchtigungen. Oft findet jemand, der sehr durch Leiden gegangen ist, sich verhältnismäßig schnell wieder zurecht. Während ein anderer, der etwas ganz geringes in seinem Leben hat, wovon Gott ihn aber befreien möchte, sich nicht befreien läßt. Er muss lange Leiden, Schmerzen, Heimsuchung und Züchtigung ertragen, obwohl nur eine ganz kleine, verhältnismäßig geringe Sache vorliegt, weil er sich nicht zurechthelfen läßt.
Ich habe in meinem Leben viel leiden dürfen, aber noch nicht genug. Das letzte Mal, als ich ein schweres Leiden hatte, eine Operation, die viereinhalb Stunden lang dauerte, war mein bester Freund, ein Universitäts-Professor, zugegen. Er war später der Meinung, dass es gar nicht sicher war, ob ich die Operation überstehen würde. Dann besuchten mich Geschwister, die sagten: „Ja, du bist uns noch erhalten geblieben, denn wir haben noch deine Dienste nötig.“ Da hab‘ ich ihnen gesagt: „Nein, nicht deshalb hat Gott mich am Leben erhalten, weil Er mich noch braucht. Die Antwort ist einfach: Das Maß meiner Leiden ist noch nicht voll.“ Es ist etwas Wunderbares, sich in das Unveränderliche einzufügen und zu sagen: „Ich habe nichts gegen Gott. Ich will mich hineinschmiegen in die Hand Gottes, die alles wohlweislich einem jeden zuteilt.“ Das Weinen hatte einen Segen. Ich weiß nicht, ob wir es beobachtet haben: Selbst ein Fluch Gottes ist uns zum Segen gedacht!
Wir haben in den verschiedenen freikirchlichen Gemeinden in Budapest achtundzwanzig gläubige Ärzte. Das soll was heißen. Gerade von diesen Brüdern habe ich einmal gehört, dass selbst der Fluch beim dem Sündenfall, wo Gott gesagt hat: „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen,“ eigentlich ein Segen ist. Denn, wenn man schwitzt, dann scheidet unser Körper Gift aus, was dem Körper schädlich ist. Wer nicht genügend physische Arbeit verrichtet, findet es nötig Sport zu treiben. Warum? Für die Bewegung und manchmal Schweiß zu treiben, was für die Gesundheit nötig ist.
Luther hat einmal ein merkwürdiges Wort geprägt: „Die Gerichte Gottes sind fremde Werke Gottes, aber man kann auch in den Gerichten seine segnenden Absichten erkennen.“
Ich sage: Nicht nur körperliche Krankheiten zählen zu den Leiden. Es gibt auch Zusammenstöße in unserem Leben, die man schwer klären kann, aber ertragen muss. Da sind auch unerfüllte Wünsche und Träume des Lebens. Wie kann doch ein Mensch darunter leiden, wenn sich der verborgene Wunsch des Herzens nicht erfüllt. Jemand will einen Beruf erwählen, fühlt sich dazu wirklich berufen, aber er kann ihn nicht ausführen.
Wir haben einmal in einer Studentenversammlung festgestellt, dass viele Menschen arbeiten, aber nur wenigen ist es geschenkt worden, dass sie den Beruf ausüben können, wozu sie Fähigkeit und Liebe, Zuneigung und Berufung haben.
Auch gibt es bereits begrabene Hoffnungen. Wenn einmal die Geheimnisse des Herzens offenbar werden könnten und wie ein Film vorgespielt würden, wie viele Friedhöfe fänden sich dann in einem Leben begrabene Hoffnungen. Und wie kann man darunter leiden. Man wollte heiraten natürlich den man liebt. Und dann hat man doch einen anderen geheiratet. Oder man konnte überhaupt nicht heiraten. Ein Problem für sich ist eine mißglückte Ehe, ungeratene Kinder. Oder ein Verlust: Der Mann ist verunglückt, die Frau oder ein geliebtes Kind ist gestorben.
Ich muss an etwas Furchtbares denken, was ich noch in Budapest erlebt habe. Da war eine alte Dame aus einer adeligen Familie. Irgendwann haben sie durch den Umsturz alles verloren: Haus und Hof und Möbel. Sie standen plötzlich ohne alles da. Dann wurden sie deportiert, kamen aber wieder zurück. Die alte Dame fand Aufnahme bei einer sehr lieben Enkelin, einer jungen Frau von dreißig Jahren. Die alte Frau kam immer wieder in unsere Versammlung. Sie hatte einen Zug nach Gott. Ich denke aber nicht, dass sie wiedergeboren war. Denn sie hatte nur ein Gebet, betete jeden Tag: „Gott, du hast mir so vieles weggenommen. Diese eine Enkelin, die laß‘ mir!“ Sie hing an diesem Kind. Die junge Frau war so lieb zu der Großmutter. Sie versuchte ihre Wünsche von den Augen abzulesen, um alles ihr zum Besten zu gestalten. Und was geschah? Die junge Frau ging mit ihrem Mann zum Plattensee. Sie hatten ein kleines Segelboot. Da brach unerwartet ein Sturm aus. Sie fiel ins Wasser. Der Mann sprang ihr nach. Das Boot kippte um. Sie konnten nicht wieder ins Boot kommen. Wohl konnten sie schwimmen und der Mann versuchte sie zu retten. Aber es war solch ein Sturm auf dem See. Er versuchte sie aufrecht zu halten. Immer wieder griff er nach ihr, wenn der Sturm und die Wellen sie auseinander rissen. Auf einmal war die Frau von ihm weggerissen und er sah sie nicht mehr. Nach drei Tagen hat man die Leiche gefunden.
Man wagte gar nicht, es der alten Frau zu sagen. Und als sie es dann erfuhr, da hat sie sich gegen Gott aufgebäumt, haderte mit Gott und sagte: „Gott ich habe von dir nur das Eine verlangt, nur diesen einen Wunsch hatte ich und gerade diesen einen hast du mir nicht erfüllt!“ Sie wurde ganz irre an Gott und hat verschiedentlich Selbstmord versucht. Zuletzt kam der Pfarrer. Die Familie war katholisch. Und der Pfarrer gab ihr einen ganz komischen Trost, wodurch sie noch mehr irre wurde. Er sagte: „Ja, denken Sie an das viele Leiden, das das ungarische Volk jetzt zu dieser Zeit zu leiden hat!“ Das war sein Trost!
Da erinnerte sie sich an die Stunden in der Versammlung. Ich wurde gerufen und durfte sie besuchen. Wir sprachen. Ich habe sie sprechen lassen. Den ganzen Schmerz des Herzens hat sie ausgeschüttet. Dann habe ich ihr etwas gesagt, da fuhr sie auf und sagte: „Nein, das ist unmöglich!“ Ich sagte ihr: „Sie müssen so weit kommen, auch dafür dem Herrn zu danken.“ Nein, das würde sie nicht tun! Und dann am Ende, wo wir miteinander beteten, auf einmal brach es aus ihrem Herzen hervor: „Danke, Herr!“ Das ist Sieg! Selbst, wenn man die Führungen Gottes gar nicht versteht, wenn gerade das Gegenteil von dem geschieht, was man erbittet, was man hofft und wünscht.
Auch anderes Leiden gibt es: wenn man verkannt wird und nicht verstanden wird, vielleicht von den Nächsten; wenn man nicht beachtet und nicht geschätzt wird. Wie kann jemand daran fast zugrunde gehen, wie andere ihn behandeln.
Da haben wir alle wie ich glaube Schuld, weil wir so achtlos sind. Jemand hat einmal in der Versammlung gesagt: „Geschwister reichen sich die Hand und sagen: Wie geht es dir?
Aber sie wollen es gar nicht hören. Sie gehen gleich weiter.“ Ja, man fragt: Wie geht es? aber man hat kein Herz und kein Verständnis. Manchmal müßte man das gar nicht fragen. Man dürfte nur in die Augen des anderen schauen und man würde entdecken, dass da die Seele schreit nach Verständnis.
In einer Großstadt-Versammlung kann jemand mutterseelenallein stehen, von niemandem beachtet und von niemandem gegrüßt. Auch das sind Leiden und Schmerzen. Es gibt unzählig viele Situationen, Umstände, Verhältnisse, wo man leidet und keinen Menschen hat, dem man einmal das Herz öffnen kann.
Ich habe einmal in einer Zeitung gelesen: In Paris lag eine Frau sechsundvierzig Tage lang tot in ihrer Wohnung und niemand hat die Tür aufgemacht. Die Tür war nicht zugeschlossen.
Und ich dachte: „Ja, der Nächste, der uns am nächsten wohnt, was wissen wir von ihm? Haben wir ein Herz, ein Verständnis für die unzähligen vielen Leiden, die der Eine und Andere durchmachen muss?“
Herr zu werden und zu siegen über das, was ich aufgezählt habe, gelingt nicht immer sofort. Da kann irgendetwas auf uns hereinstürzen, unerwartet und mit einer Wucht, dass wir einfach erliegen. Man ist nicht immer gefaßt auf das, was kommt. Aber Gnade in Anspruch zu nehmen, sich an Ihn zu klammern ist dann gefordert. Und worauf es eigentlich ankommt, ist unsere Stellungnahme zu den Leiden, Schmerzen und inneren Qualen. Dann ist es wichtig, dass wir JA sagen und danken können.
Darf ich hier ganz persönlich sein: Vor neunzehn Jahren hatte ich eine schwere Operation, nicht die erste in meinem Leben. Ich hatte furchtbare Schmerzen sechsundfünfzig Stunden lang. Durch einen Nierenstein hatte ich Nierenverstopfung, ein Anfangsstadium von Blutvergiftung. Seit meinem achtzehnten Jahr habe ich nur eine Niere. Nun standen mir die Schwestern bei und ich wurde durch Injektionen halb betäubt. Morgens um acht Uhr, gerade ehe ich in den Operationssaal geführt wurde, kam meine Frau. Sie sagte: „Wir beten für dich!“ Und so unklar, wie ich in meinem Bewußtsein war, sagte ich ihr: „Weißt Du, ich kann nicht beten! Ich kann nur eines tun: »JA VATER!« das kann ich sagen und auch: »DANKE VATER!«
Wenn wir daran denken, in welch einer Situation der Herr in Matthäus 11 dieses Wort gesagt hat „Ja, Vater!“ Wie schwer lastete auf ihm etwas, und er konnte JA sagen. Wenn wir JA sagen können und danken können, dann haben wir schon das Schwerste überstanden.
Man kann ganz getrost von einem Rätsel des Leidens sprechen. Niemand von uns kann sagen: „Ich habe dieses Rätsel gelöst. Ich habe die Tiefen des Leidens ergründet.“ Im letzten Grund bleibt es ein Geheimnis, ein Rätsel. Aber die Schrift sagt uns so manches. Im Hebräerbrief Kapitel 2 Vers 10 lesen wir, dass es notwendig war, »den Urheber unserer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen«. Und im selben Brief Kapitel 5 Vers 8 lesen wir, dass Er »obwohl er Sohn war, an dem, was er gelitten hat, den Gehorsam lernte«. Gottes Sohn mußte durch Leiden vollkommen gemacht werden. Und Gottes Sohn mußte durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam lernen.
Sagt das nicht auch uns etwas über das Ziel, den Zweck und die Bedeutung des Leidens? Darf ich hier jeden bitten, sich nicht darüber zu täuschen. Vielleicht ist da jemand von unseren jungen Schwestern oder Brüdern, die sagen müssen: „Ja, ich habe noch nicht gelitten.“ Aber es kommt. Petrus ermahnt uns in seinem ersten Brief Kapitel 4 : Wir sollen uns waffnen mit dem Gedanken, dass weil Jesus im Fleische gelitten hat ein jeder, der leidet, loskommt von der Sünde. Ja, das ist auch ein Weg, eine Fügung Gottes in unserm Leben. Wir sind doch befreit und gereinigt durch das Blut. Ich kann mir vorstellen, dass jemand etwas festhält oder an irgendetwas hängt, was nicht erlaubt ist. Dann läßt Gott ein Leiden zu, damit man loskommt von dem Hang zu dieser Sünde, diesem Unerlaubten. Und ohne Zweifel sollen Leiden uns loslösen und befreien vom Selbstvertrauen. Es war nicht gerade ein Leiden aber ein Versagen, durch welches Petrus lernen mußte, sein Selbstvertrauen aufzugeben.
Oder es soll uns lösen von Selbstsucht. Welch ein Übel ist es, wenn wir an uns selbst gebunden sind. Ich weiß nicht, ob der Name Nightingale hier bekannt ist. Sie war eine sehr reiche Frau und hatte eine einzige Tochter. Diese Tochter ist irgendwie im Haus gefallen, gestrauchelt und die Treppe heruntergestürzt. Sie war tot. Die Mutter konnte sich nicht trösten oder trösten lassen, bis ihr Gott eines Tages zeigte: „Ich hab‘ dir die Tochter genommen, damit du dich der verlorenen Töchter auf der Straße annehmen kannst.“ Sie hat dann ein Haus eröffnet für solche gestrandeten Leben und wurde ein Segen für unzählig viele. Leiden soll uns lösen vom Egoismus. Ohne Zweifel soll uns Leiden, Schmerzen und alles, was wir zu erdulden haben, zur Selbsterkenntnis bringen und demütigen. Wir sollen dadurch mitfühlend werden für den anderen. Leiden kann einen mürbe machen und empfänglich auch für das Leiden der Anderen.
Wir haben nötig, dass unser Herz zerschlagen und zerknirscht daliegt in Gottes Händen. In dem großen Metropolitan Opernhaus in New York hat man jedes Jahr Probesingen. Neue Talente sollen entdeckt werden. Da kam einmal ein junges Mädchen. Sie hat wunderbar gesungen mit einer reichen inhaltvollen Stimme. Alle meinten, dass man sie sofort anstellen würde. Aber der Direktor hat nur seinem Kopf geschüttelt und „NEIN“ gesagt. Man hat ihn gefragt: „Warum nicht?“ Er sagte: „Da fehlt etwas. Das Herz ist noch nicht zerbrochen.“ Die größten Künstler, die irgendwas geboten haben, die haben durch derartige Erfahrungen, durch ein zerbrochenes Herz, ihr Bestes geleistet.
Auch wir haben es nötig, so geläutert und geführt zu werden, sonst ist unser Dienst überhaupt nichts wert. Unser Dienst in der Gemeinde hat nur so viel wert, soweit Gott uns dazu bringen konnte. Ich kann anderen nur so viel helfen, wie Gott schon an mir gewirkt hat.
Und dann etwas Großartiges, was das Leiden bei uns erreichen soll, nämlich uns in die Abhängigkeit von Gott zu bringen.
Paulus hatte ohne Zweifel eine lange Liste der erhörten Gebete. Und hätte Gott sein Gebet erhört als er dreimal darum gebeten hat, dass der Pfahl ihm weggenommen werde , dann wäre auf dieser langen Liste noch ein Punkt, ein Gegenstand mehr, der erhört wurde. Nein, Gott sagte ihm: „Dir sei an meiner Gnade genug!“ Das war eine Erfahrung für Paulus. Sicher hätte er das nicht in seinem Leben missen wollen. Wenn man recht die Leiden als den besten Freund erkennt, dann kommt man so weit ich darf ‘s in aller Demut sagen: Ich bin so weit gekommen . Ich möchte nichts aus meinem Leben missen von all dem, was ich erlitten habe. Vielmehr möchte ich immer in Seiner Nähe bleiben und soweit kommen, wie der Psalmist sagt: „Alle meine Quellen sind in dir!“ Das ist etwas Segensreiches. Wer das nicht erlebt hat, der kennt das Beste noch nicht. Tiefe Furchen sind dazu nötig, dass der Weg für die Saat vorbereitet wird.
Der Apostel Paulus konnte im Philipperbrief 3,10 sagen: „Es dient zu unserer Umgestaltung.“ Wenn wir allen Leiden aus dem Weg gehen könnten, dann würde gerade das uns schaden. Wir wollen scheinbar nicht umgestaltet werden. Paulus aber jubelt: „Ich möchte Christus erkennen und die Kraft seiner Auferstehung dann kommt etwas und die Gemeinschaft seiner Leiden, indem ich seinem Tode gleichgestaltet werde.“ Die Gemeinschaft mit den Leiden Christi, ist das etwas, was wir ersehnen? Haben wir schon darum gebetet, dass wir würdig geachtet werden, teil zu haben an Seinem Leiden? Liebe Geschwister, die Leiden sind nötig und Gott hat mir in meinem Leben nicht ein Gramm Leiden mehr gegeben, als ich nötig hatte und ertragen konnte. Meine liebe Frau hat einen wunderbaren Wandspruch mit in die Ehe gebracht. Er war schon unzähligen zum Segen. Da stand auf Holz: „Alles, was an dich herankommt, muss an Gott vorbei!“ Und wie oft habe ich Trost daraus geschöpft. Ich habe gewußt: „Ja, wenn Gott es zuläßt und wenn es zu mir kommt und mich erreicht, dann kann es mir nur wohl tun.“ Gerade vor drei Jahren, als ich zwischen Leben und Tod schwebte und mein Bewußtsein zurückkam, da habe ich mit meinem Herzen hingehorcht: „Was will Gott mir sagen, was wird das erste Wort sein, das Er mir in Erinnerung bringt?“ Die ersten Worte, die ich erlebte, waren: „Den Kelch, den mein Vater mir reicht, soll ich den nicht trinken?“ Die Tränen standen mir in den Augen und mein Herz war mit Freude erfüllt. Meine Leiden sind kein Zufall. Mein Vater reicht mir einen Kelch und ich darf ihn aus Seiner Hand nehmen.
Hier möchte ich noch eine herzliche Warnung und eine Bitte aussprechen: „Jeder soll sich hüten vor Selbstmitleid.“ Wir können uns unendlich viel dadurch schaden, wenn wir Mitleid mit uns selbst haben. Wir sollten auch bei Menschen keinen Trost suchen, denn deren Trost ist oft so billig. Und oft ist der Trost so falsch. Ich habe schon Trostworte gehört, die eigentlich eine direkte Anklage gegen Gott gewesen sind. Als wüßte Er nicht, was Er tut oder was Er zu tun hat mit dem einen und dem andern. Ich habe gehört, wie einer jemanden so tröstete: „Ach, und gerade mit dir mußte das geschehen, mit dir, der du doch so gut bist, der doch mit allen so gut ist“ u.s.w.. Wie falsch ist das: Gift für die Seele. Es lenkt ab von der Möglichkeit, überhaupt den letzten Sinn des Leidens zu verstehen. Leiden ist ein Vorrecht. Bitte, ich betone, ich unterstreiche: Leiden ist ein Vorrecht. Nicht alle können mit dem belastet werden, was der eine oder der andere ertragen kann.
Ich habe schon als junger Mann verstanden: Gott erhört alle Gebete, auch wenn sie ganz unsinnig sind. Aber sobald jemand gerade den Weg im Glaubensleben angefangen hat und um dieses oder jenes betet, will Er die jungen Seelen noch nicht belasten. Wenn Gott einmal einem auf sein Gebet hin NEIN sagen kann, dann soll er sich dessen bewußt sein: Das ist eine besondere Achtung von Seiten Gottes. Denn Gott sieht, dass derjenige jetzt auf die Probe gestellt werden kann. Er wird nicht so leicht alles wegwerfen, denn er kann schon das Nein von Seiten Gottes ertragen. Leiden führt zur Bewährung.
Seitdem ich das Wort verstehe, erfreue ich mich über den Gedanken: Leiden führen zur Bewährung. Auf jedem Goldstück ist ein Stempel, ein Prüfstempel, der anzeigt wie rein dieser Gegenstand ist oder wie gemischt mit fremden Erzen. Gott will auf unser Leben Seinen Stempel drücken: „Der ist bewährt, erprobt in Trübsalen, in Leiden, im Feuerofen!“ Das ist etwas ganz Wunderbares! Ich darf still stehen, wenn Gott mich auf Schmerzenswege führt.
Darf ich hier ein Gleichnis sagen: Ein Naturwissenschaftler hat einmal mit seiner Lupe beobachtet, wie ein kleiner Schmetterling sich den Weg herausbahnt aus der Puppe. Als er sah, wie sich dieses kleine Wesen anstrengte, wie alle Glieder in Anspruch genommen wurden, da hat ihn auf einmal Mitleid erfaßt. Er nahm sein scharfes Seziermesser und hat es ganz vorsichtig aufgeschnitten, damit der Schmetterling herauskommen konnte. Was war das Resultat? Das kleine Wesen kroch auf dem Tisch. Es konnte nicht die Flügel bewegen, konnte nicht fliegen. Da hat er erkannt, dass diese ungeheuer großen Anstrengungen, sich herauszubeißen aus der Puppe, dazu nötig sind, dass alles an sich heraus wächst, erstarkt und heranreift, damit es fliegen kann. Ja, vielleicht kann der eine oder der andere unter uns sich doch manches ersparen, aber nicht ohne Schaden. Einmal wirst du merken: Die Schwerkraft ist da, die Ohnmacht ist da. Du kannst nicht fliegen. Du kannst nicht Flügel der Morgenröte nehmen und dich hinauf schwingen. Du hast dir etwas erspart, aber nicht ohne Schaden.
Ich möchte zurückkommen zu dem Wort, das wir im Anfang gelesen haben. Wir sehen wieder, dass sich bei uns alles umgekehrt, auf den Kopf gestellt zeigt. Wir sagen: „Das Leiden währt schon so lange.“ Paulus nennt es: „Eine augenblickliche, eine leicht vorübergehende Drangsal.“ Wir sagen: „Es ist so schwer und währt schon zu lange.“ Aber der Apostel sagt: Schwer? Nein, leicht! Dagegen hat die Herrlichkeit, die an uns einmal offenbar werden wird, diese Herrlichkeit hat ein Gewicht, sie hat eine Schwere, eine Bürde. Würden wir unvorbereitet in die Herrlichkeit eingehen, wir könnten es nicht ertragen. Leiden sind dazu nötig, dass wir die Herrlichkeit einmal werden ertragen können.
Leiden reinigen, befreien uns, bereiten uns vor auf die Herrlichkeit. Ich war vor vielen Jahren einmal in England auf einer Konferenz. Da haben wir ein Lied gesungen. Als ich das Liederheft in die Hand nahm und die Worte las, stand ich da wie einer, der vom Blitz getroffen ist. Ich hatte alles um mich her vergessen. Die Worte lauteten ungefähr ins Deutsche übertragen:
O Ewigkeit, o Ewigkeit, wie rein muss die Seele einst sein, wenn sie vor deiner alles durchforschenden Feuerflamme nicht zurückschreckt, nicht bebt, nicht zittert, sondern lebt glücklich und befreit.
Meine Lieben, wenn wir uns anschauen, so wie wir sind, ein jeder kann von sich feststellen: „So wie ich jetzt hier stehe, bin ich nicht geschickt, nicht tüchtig. Gott muss noch so viel an meinem Leben arbeiten.“
Wie geschieht das? Oft redet Er zu uns sanft und leise. Wir brauchen Gnade dazu, dass wir es verstehen. Aber dann kommt Er mit einem Erdbeben. Vor vielen Wochen sprach ich mit einer Dame in der Schweiz über ihr Seelenheil. Sie bekannte, dass sie an Gott glaubt, aber an Christus zu glauben, damit konnte sie nichts anfangen. Und dann fuhr sie nach Marokko. Sie war nicht ganz 300 km entfernt von Agadir. An dem Tag, wo das furchtbare Erdbeben geschah, haben sie zwei junge Amerikanerinnen verabschiedet, die mit ihrem Wagen nach Agadir fuhren. Es war nämlich heiß geworden und sie suchten Erleichterung am Meeresstrand. Ich habe diese Dame vor zwei Wochen wieder in der Schweiz getroffen. Sie ist ganz anders geworden. Ich hatte keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen, aber warte auf eine Möglichkeit. Ich denke, Gott hat auch durch das Erdbeben ihr etwas sagen können.
Meine Lieben, was muss Gott noch in unser Leben schicken, damit wir dastehen und sagen: „Herr, ich übergebe mich Dir auf Leben und Tod. Du kannst mit mir machen, was Du willst.“ Denn das will Gott bei dem einen und anderen erreichen, dass er einmal endlich stille wird und sagt: „Herr, hier bin ich!“ Wir haben ein wunderschönes Lied: »Tu mit mir, Herr, wie Du willst; wenn Du nur mein‘ Sehnsucht stillst. Ich will Dir gehorchen gern, komme jetzt Herr Jesus!«
Möge das unser Gebet werden: „Ich will stille halten, will aufgeben meinen eigenen Weg zu suchen, will sagen: Tu mit mir, Herr, wie Du willst!“ Welch ein Segen liegt darin, welch eine überströmende Freude!
Wenn wir nach dem Sinn des Leidens suchen, wollen wir daran denken: Nichts geschieht von ungefähr. Alles hat Ziel, und Zweck. Ich habe einen Brief geschrieben an einen kranken Bruder, den ich nicht besuchen konnte, und habe ihm gesagt: „Immer, wenn man krank ist, wenn man ein leicht vorübergehendes Fieber hat oder eine kleine, leichte Erkältung, dann soll man fragen: »Herr, was willst Du mir damit sagen?« Man soll nicht fragen: »Warum hast Du mir das geschickt?« Das ist unklug gefragt. Man soll vielmehr fragen: »Wozu, Herr? Was willst Du bei mir erreichen?«“ Laßt uns darüber still werden vor dem Herrn.
Herausgeber:
Harald Fölsch, Stuttgart,