Deutschland – Ende d. chr. Äons (Rohrmoser)

Günter Rohrmoser

Das Ende des christlichen Geschichtsäons und die Aktualität Luthers

– Kapitel 9 des Buches DER ERNSTFALL, leicht gekürzt von Horst Koch, Herborn, im Jahre 2010 –

In unserem Lande haben Ereignisse stattgefunden, die der Frage nach dem Ende des christlichen Geschichtsäons eine so nicht erwartete Aktualität verliehen haben. Im Kontext der Betrachtung des Abtreibungsproblems haben wir dieses Phänomen bereits angedeutet. Aber der Entchristlichungsprozeß zieht noch viel größere Kreise. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus bedeutet, daß nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus 1945 der zweite große weltgeschichtliche Versuch, den Atheismus mit allen Mitteln eines modernen Staates zu verwirklichen und das Christentum mit seinen Wurzeln auszurotten, gescheitert ist. Was folgt daraus?

Wenn wir heute von den Vorfällen in Rußland und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sprechen, beschäftigen uns Finanz-, Sozial- und Nationalitätenprobleme sowie die Probleme bestimmter politischer Persönlichkeiten. Der Umbruch von 1989 wird so gedeutet, als habe hier nur ein sozioökonomisches System versagt. Die neue Frage wäre dann, ob man nicht durch einen Transfer von organisatorischen Hilfen und Finanzmitteln ein anders organisiertes Modell an die Stelle des alten setzen kann.

Weshalb entspricht diese Sicht nicht der wirklichen Herausforderung? Weil viel mehr gescheitert ist: Gescheitert ist der Versuch, das Christentum durch eine neue Welt und einen neuen Menschen zu ersetzen. Für dieses quasireligiöse Projekt waren die Machthaber der früheren Sowjetunion bereit, viele Millionen Menschen zu opfern. Die Zahl der Menschenleben, die  abgesehen von den Kriegseinwirkungen für dieses Experiment eines radikal verwirklichten Atheismus geopfert wurden, wird heute auf 40 bis 60 Millionen geschätzt.

Nachdem dieses atheistische Imperium zusammengebrochen ist, wird etwas kaum für möglich Gehaltenes sichtbar, denn es stellt sich heraus, daß die Kräfte der Geschichte, der Nation und der alten christlich-orthodoxen Tradition Rußlands zu machtbestimmenden Faktoren werden. Sie konnten auch durch einen 70-jährigen Terror nicht vernichtet werden, und Rußland besinnt sich heute auf seine historischen und christlichen Quellen zurück.

Nach den Zusammenbrüchen sowohl des nationalsozialistischen als auch des kommunistischen Atheismus stellt sich die Frage, welche Folgen denn unser liberaler Atheismus haben wird. Wo ist die Volkskirche in Deutschland geblieben? Haben wir denn noch das Recht, von einem christlichen Volk, gar von einem christlichen Deutschland und damit von der Volkskirche zu sprechen? Hat nicht diese Rede ebenso ihren Anhalt in der Wirklichkeit verloren wie die Ansprüche des Nationalsozialismus und Kommunismus?

Ich hatte nach 1945 persönlich den Eindruck, daß die Deutschen wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit der Reformation im Begriff waren, zu verstehen, wie sehr sie sich von ihrem eigenen christlichen Ursprung getrennt hatten. Der Nationalsozialismus mit seiner terroristischen Vernichtung von Millionen von Menschen war nur als der Endpunkt eines Prozesses der Entchristlichung Deutschlands und des deutschen Volkes zu begreifen. Nie seit der Reformation waren wir so sehr bereit, zu erkennen, daß der Glaube nicht nur den einzelnen in seiner Innerlichkeit betrifft, sondern daß es sich hier um die größte Macht der Geschichte handelt, an der sich das Los der Völker entscheidet. Es ist nicht nur eine Frage nach christlichen Minderheiten, nach den letzten treuen Christen, die noch dem Zeitgeist standhalten. Wenn es nur um den Kampf gegen den Zeitgeist ginge, wäre die Gefahr weniger groß. Es geht aber um das Schicksal, um das Sein oder Nichtsein von Völkern und Kulturen!

Es schien mir 1945, daß ein Bewußtsein von dieser schicksalhaften Bedeutung des Verhältnisses des deutschen Volkes zu seiner christlichen Herkunft erwacht wäre. Erst mit der Währungsreform 1949 trat nach meinem Eindruck ein fast schlagartiges Vergessen, eine nahezu vollständige Ablenkung aller Kräfte durch den wirtschaftlichen Wiederaufbau ein.

Ein zweites wichtiges Zeichen der Zeit fand damals statt. Die Erfahrung des Nationalsozialismus führte zum ersten Mal überhaupt zum Zusammenschluß von Christen aller Konfessionen in einer politischen Partei, der CDU. Der tragende Wille dieser einzigartigen politischen Neuschöpfung war, einen Rückfall in die atheistische Barbarei des Nationalsozialismus zu verhindern. Es sollte dafür gesorgt werden, daß es in Deutschland nie wieder zu einer solchen Vernichtung aller Grundlagen elementarer Sittlichkeit kommen würde.

Wie steht es im Lichte dieses Anfangs heute mit uns? Was ist die Wirklichkeit des christlichen Glaubens in unserer Gegenwart? Wenn ich das öffentliche Leben, die Diskussionen, Talkshows, Darstellungen der öffentlichen Kultur verfolge, habe ich den Eindruck, daß wir im deutschen Volk gegenwärtig einen Grad der Entchristlichung erreicht haben, der möglicherweise über das hinausgeht, was die Nationalsozialisten in zwölf Jahren bewirken konnten. Woran liegt das?

Heute beruft man sich auf den »Zeitgeist«, wenn erklärt werden soll, weshalb der Geist des Liberalismus eine totale Herrschaft über unsere Gesellschaft errungen hat. Immer wieder wird dieser merkwürdige, aufdringliche, anonyme Bursche »Zeitgeist« zitiert. Es wird behauptet, daß der Zeitgeist darüber entscheidet, was Inhalt christlicher Lehre sein darf und was nicht. Ich weiß nicht, was der »Zeitgeist« ist; vielleicht ist er ein Teil der Dämonen und Gewalten, von denen Paulus sagte, daß ihnen der Mensch unterworfen sei, daß diese ihn verfinstern und daran hindern, den klaren Blick für die Wirklichkeit zu behalten.

Was bedeutet aber in Wirklichkeit die unumschränkte Herrschaft des Liberalismus im gesellschaftlichen Leben?
Der durch keine Gegenkraft begrenzte Liberalismus läßt die Frage nach den Prinzipien und nach der Einheit des Lebens nicht mehr zu. Der Liberalismus hat zu einer vollständigen Pluralisierung der Lebensstile, der Glaubensüberzeugungen und selbst der sogenannten »Werte« geführt. Mit der Pluralisierung ergab sich notwendigerweise auch die Individualisierung der menschlichen Lebensformen, was sowohl Egoismus als auch Vereinsamung bedeuten kann. Jede Form von Einheit, geschweige denn von Gemeinschaft über das bloße wirtschaftliche Interesse hinaus, wurde einem Prozeß der konsequenten Auflösung unterworfen. Gerade diejenigen Politiker, die diese radikale Pluralisierung und Individualisierung gefördert haben, stellen heute voller Entsetzen die Frage, woher die schreckliche Entsolidarisierung und der Geist des Egoismus kommen; dies in einer Situation, in der wir, wie noch nie seit 1945, vor Aufgaben stehen, die nur gemeinsam durch die solidarische Kraft der ganzen Nation bewältigt werden können.

Diese Individualisierung und das mit ihr verbundene Freiheitsprinzip sind Ausdruck einer geschichtlichen Entwicklung, die Max Stirner, ein Philosoph des 19. Jahrhunderts, in seinem Buch »Der Einzige und sein Eigentum« charakterisiert hat. Es ist die Tendenz, daß jeder einzelne sich mit seinen Bedürfnissen, seinen Interessen und Ansprüchen selbst zum Absoluten erklärt und jede Beschränkung seines Willens zur Erfüllung der eigenen Ansprüche als eine unerträgliche Einschränkung seiner Freiheit versteht. Nietzsche hat diese Tendenz die »atomistische Revolution« genannt, das heißt die Auflösung aller innerlich zusammenhaltenden, Gemeinschaft schaffenden Kräfte.

Man könnte aufgrund der öffentlichen Selbstdarstellung der Kirchen in Deutschland den Eindruck gewinnen, daß sie zum überwiegenden Teil vor diesem Trend antizipierend kapituliert haben. Nur teilweise reagieren sie noch reflexartig dagegen, häufiger sieht man sie öffentlich zur Verwirklichung dieser Grundbewegung der Geschichte an der Spitze voranschreiten, einer Grundbewegung, welche die tiefsten Denker des 19. Jahrhunderts darauf zurückführten, daß wir nunmehr in ein nachchristliches Zeitalter eingetreten seien.

In der liberalen Bundesrepublik ist der Prozeß der faktischen Ausscheidung des Christentums aus allen entscheidenden kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Bereichen unseres Lebens mittlerweile so weit fortgeschritten, daß vom Ende des Volkskirchentums in unserem Lande gesprochen werden muß.

Die Frage nach dem Ende des christlichen Geschichtsäons bedeutet zwar nicht das Ende der Kirche Jesu Christi  von der wissen wir, daß die Mächte und die Gewalten der Hölle sie nicht überwinden können; über die Zukunft der Kirche Jesu Christi brauchen wir uns in diesem Sinne keine Sorgen zu machen, denn wenn die Menschen abgefallen sind, wird Gott auch aus den Steinen die Zeugen seiner Wahrheit machen, mit der Frage nach dem Ende des christlichen Geschichtsäons ist vielmehr die Frage gemeint, ob der christliche Glaube die Kraft verloren hat, die Geschichte und damit das Schicksal der Menschheit noch mitzugestalten. Es gibt viele Symptome, die dafür sprechen. Es gibt auch immer wieder die Frage nach den Verantwortlichen, die daran schuld sein sollen. Auch Christen haben immer wieder die Neigung, die böse Welt und die böse Gesellschaft anzuklagen. Dieses Klagelied zu wiederholen ist allerdings sinnlos. Man muß sich die Zustände in der Christenheit selbst, ja, sogar die Lehre der Kirchen ansehen. Dazu möchte ich zwei Thesen formulieren:

Was sich nach dem Kriege in Deutschland entwickelt hat, ist eine Gesellschaft, die dabei ist, alles zu revidieren, was als Grundlage für ihren Aufbau von Bedeutung war. Die zunehmend postmodern sich verfassende Gesellschaft ist die Konsequenz eines seit langem andauernden Prozesses der Individualisierung. Das ist das Zeitalter Max Stirners: Jedes Individuum ist im Verhältnis zu sich selbst das Absolute. Wenn dieser Prozeß der Individualisierung und des Hedonismus sich weiter durchsetzt, muß das zwangsläufig zur inneren Auflösung der Gesellschaft führen. Nietzsche sah, daß aus dem Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft, aus der Selbstzersetzung der bürgerlichen Kultur die atomistische Revolution hervorgehen und die Gesellschaft sich in Anarchie auflösen werde. Die Individuen sind nicht mehr bereit, irgendeine durch die Geschichte gewordene Autorität anzuerkennen.

Aber die Frage nach dem möglichen Ende des christlichen Geschichtsäons ist nicht eine Frage, die sich erst unter dem Eindruck der totalitären Experimente des Nationalsozialismus, des Kommunismus und in gewisser Weise auch dieser individualistischhedonistischen Gesellschaft stellt. Die These vom Ende des christlichen Geschichtsäons wurde schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zwischen 1840 und 1850, thematisiert. Also zu einem Zeitpunkt, an dem die realgeschichtlichen Auswirkungen der Französischen Revolution auch außerhalb Frankreichs sichtbar wurden. Philosophen aus ganz Europa stellten damals unabhängig voneinander, aber geschichtsphilosophisch fast gleichzeitig  fest, daß das christliche Weltalter in die Vergangenheit zurücksinkt. Sie alle sahen in der Französischen Revolution die entscheidende Zäsur. Das christliche Weltalter ginge mit der Französischen Revolution zu Ende.

Und was tritt an die Stelle des untergehenden christlichen Weltalters? Tocqueville spicht von einem Sieg der Demokratie. Die neue Gefahr, die mit dieser vordringenden Demokratie verbunden ist, liege darin, daß die Freiheit des einzelnen in der Gleichheit der Demokratie verschwinden könnte. Wenn die Freiheit unter den Bedingungen demokratischer Gleichheit ihre Wurzeln nicht im christlichen V erständnis von Freiheit haben werde, das heißt sich nicht auf das christliche Verständnis der Person stützt, dann werde der Sieg der Demokratie das Ende der Freiheit bedeuten.

Dostojewskij prophezeite den Siegeszug des Sozialismus für die Zeit nach dem Untergang des christlichen Weltalters. Was er mit Sozialismus meinte, das war die Herrschaft der Wissenschaft über die Gesellschaft. Die Wissenschaft wird das Interpretationsmonopol übernehmen, das einst das Christentum innehatte. Dostojewskij sah aber auch schon die Selbstzerstörung dieses Sozialismus voraus.
Und für Kierkegaard bedeutete das Ende des Christentums, daß es morgen keine moralische und auch keine politische Autorität mehr geben werde. Wenn es keine Autorität mehr gibt, dann wird sich für diese aus dem Zerfall des Christentums herausbewegende Gesellschaft die Frage stellen, ob sie noch regierbar ist. Die unregierbare Gesellschaft müsse sich dann retten in ihr einziges Prinzip, das noch um der Integration der Gesellschaft willen übrigbleibt, nämlich das Prinzip der Organisation.
Die Organisation wird dann an die Stelle der geschichtlichen Autoritäten treten. Organisation, so Kierkegaard, bedeute zwar numerisch eine Stärkung des Menschen, aber seelisch seine Demoralisierung, möglicherweise seine Vernichtung. Denn in der nach der Zahl sich organisierenden Welt wird der einzelne das absolut Nichtige sein, weil jede Organisation den einzelnen nach dem Prinzip seiner völligen Ersetzbarkeit und Substituierbarkeit wahrnimmt. Kierkegaard hat als erster die tiefe Inhumanität einer Welt erkannt, in der jeder einzelne nichtig, weil ersetzbar ist. Deshalb war er der Meinung, daß er an den einzelnen erinnern sollte. Die einzige Wirklichkeit des Menschen sei der einzelne, alles andere sei eine Abstraktion. Die Kierkegaardsche These war, daß die moderne Welt das Opfer ihrer eigenen Abstraktion sein werde.

Eine weitere These Kierkegaards lautet – und diese These ist bis heute aktuell- , daß die Christenheit bestehe, aber das Christentum verschwunden sei.
Die Form bestehe noch, aber der Geist und die Substanz seien verschwunden. Nietzsche versucht auf diesen Skandal aufmerksam zu machen, daß nämlich das Christentum sich nur noch durch den Schein am Leben hält, den es von sich selbst erzeugt. Wie macht man auf diesen Skandal aufmerksam? Für Kierkegaard ist dieses Übel nicht durch eine Reform zu beheben. Der Mensch müsse begreifen, daß er Mensch und nicht Gott ist.
Dieses ist eine uralte Wahrheit, und es kommt nur darauf an, sie wieder zu erkennen und uns in sie einzuüben. Die Kierkegaardsche Philosophie ist keine Theologie, sondern eine Kunst der Einübung in die Aneignung der Wahrheit, die bekannt ist, aber durch die Subjektivität noch nicht angenommen wurde. Das Problem ist, aus dieser modernen, alles auflösenden, die Fundamente zersetzenden Reflexion wieder zurückzufinden zu einer religiösen Leidenschaft als dem allein Rettenden. Daß etwa das Leben heilig und das ungeborene Leben unantastbar ist, ist keine durch moderne, rationale Reflexion einem Menschen anzudemonstrierende Wahrheit. Aber es ist eine der Wahrheiten, mit der das Christentum, aber auch eine humane Gesellschaft, steht und fällt.

Wenn man unsere Lage theologisch charakterisieren sollte, dann muß man mit dem Kulturtheologen Troeltsch sagen: »Alles wackelt.«
Nach Troeltsch sind wir in eine Phase der Christentumsgeschichte eingetreten, die er das Ende des dogmatischen Zeitalters nennt. Selbst die Kirchen und Theologen geben in Anpassung an den Zeitgeist mehr und mehr die christlichen Dogmen preis. Heute gibt es keine Diskussion mehr über das Christentum, sondern es gibt nur noch Meinungen. Jeder kann sich nach seiner subjektiven Erfahrung aus der Konkursmasse der aufgelösten Dogmatik des Christentums das heraussuchen, was ihm einleuchtet.  . . .

Was 2000 Jahre für die Christen, bei allen konfessionellen Unterschieden, das gemeinsam Verbindliche war und als die Wahrheit angesehen wurde, ist heute nahezu verschwunden. Gott ist nur noch ein Postulat, damit der Mensch mit seiner Angst fertig werden kann. Mit einem solchen Gott, dem keine Wirklichkeit mehr zugesprochen wird, kann keiner leben und noch weniger sterben. Alle christlichen Wahrheiten – Schöpfung, Erlösung, Auferstehung – sind in Frage gestellt.
Die Kraft, aus der Christen einst gelebt haben und gestorben sind, hängt aber an diesem Auferstehungsglauben. Wir meinen heute, die Realität der Auferstehung negieren zu müssen, weil die Naturwissenschaften von keiner Auferstehung berichten können. Noch fataler ist, daß das Christentum sich selbst nicht mehr als eine wirkliche Erlösungsreligion versteht. Wenn aber das Christentum keine Erlösungsreligion mehr ist, dann ist es eine Ideologie.

Das Christentum steht und fällt damit, daß es um die Erlösung geht. Ende des dogmatischen Zeitalters bedeutet, daß das Kernstück des christlichen Glaubens in der theologischen Reflexion, nämlich die sogenannte Lehre von der Rechtfertigung, jede Plausibilität verloren hat. Alle die um diese Lehre herum gebildeten zentralen theologischen Kategorien – Sünde, Gesetz, Erlösung – sind unverständlich geworden. Hinter dem Ende des dogmatischen Zeitalters des Christentums verbirgt sich das Ende einer Gestalt des Christentums, das sich von Paulus und Luther herleitet. Die eindringlichste Manifestation dieses Endes des paulinischen Zeitalters ist, daß aus unserem Christentumsverständnis das Gesetz entfernt ist.
Wir können nicht mehr sagen, was theologisch mit Gesetz gemeint ist. Luther war es, der uns einen Begriff von Evangelium und Gesetz überlieferte. Um Gesetz und Evangelium, ja, um überhaupt den Geist des Christentums verstehen zu können, kommen wir nicht umhin, uns Luther zuzuwenden.
Was würde Luther in dieser Lage tun? Wir können diese Frage nicht beantworten, weil wir Luther selbst nicht fragen können. Wir können uns aber vergegenwärtigen, was die tiefsten Wurzeln für das Wirken dieses Mannes waren und was dem deutschen Volk aus dem Entschluß dieses Mannes zur Tat für ein unendlicher Segen erwachsen ist. Auch in den Deutschen hat sich der Gott der Bibel nicht unbezeugt gelassen, und die Verachtung der deutschen Geschichte, als sei sie von Anfang an vom Geiste Nietzsches bestimmt worden, lästert dieses Wirken Gottes. Größe und Elend der Deutschen hängen nicht in erster Linie mit dem Wirken Luthers selbst zusammen, sondern mit dem, was Deutsche aus seinem Werk gemacht und wie sie es verstanden haben.

Was ist der uns heute angehende Kern dieses Werkes? Es ist die von ihm wiederentdeckte Wahrheit der frohen Botschaft, es ist das Evangelium selbst. Luther wußte, daß die Kirche, die eigene Kirche und Gemeinde, immer die schwerste Form der Anfechtung für den Christen bedeutet. Wir haben diese tiefe Einsicht im allgemeinen vergessen und durch eine modische Friedlichkeit ersetzt. Luther hätte sich über Zustände wie die heutigen gar nicht gewundert, denn er hat vielfältig zum Ausdruck gebracht, daß der Antichrist die Neigung hat, seine Herrschaft gerade in der Mitte der Kirche zu errichten. Wir dürfen nicht vergessen, daß Luther den Kampf gegen die damalige Gestalt der Kirche als den Kampf gegen die Herrschaft des Antichristen in der Kirche geführt hat.

Luther wußte auch, daß die damalige politische und soziale Situation verzweifelt war. In dieser Lage hat er nicht überlegt, welche Kirchenreform vielleicht geeignet sei, er hat keine politischen Programme entworfen oder soziale Hilfswerke organisiert, sondern hat sich dem Wort zugewandt. Er hat wochenlang in einem ihn innerlich zerreißenden Kampf um das Verständnis eines einzigen Bibelwortes gerungen und damit um die Frage der Wahrheit.

Um die Wahrheit muß gekämpft und gerungen werden, und zwar in einem geistigen Kampf, denn die Heilige Schrift bezeugt, daß die Wahrheit allein frei macht.
Die Zukunft in unserer Welt wird jenen Mächten gehören, die von ihrer Wahrheit am überzeugtesten sind. Wenn das Christentum aus dem deutschen Volk weichen sollte, eine öffentlich wirksame, ja, politische Kraft zu sein, wird dieses Vakuum nicht leer bleiben.
Wir werden die liberalen Champagnerarien nicht noch weitere Jahrzehnte singen können, sondern werden Missionsland außereuropäischer Religionen werden, zuletzt wahrscheinlich Jünger Allahs.
Wenn die Kirchenleitungen heute meinen, den Begriff Mission streichen zu müssen,
werden wir von anderen erfolgreich missioniert werden. Wenn wir meinen, unsere Freiheit sei nicht mehr mit der Furcht Gottes zu vereinbaren, werden andere uns wieder zur Gottesfurcht zurückführen. Die Furcht Gottes ist aller Weisheit Anfang. Wenn sie nicht am Anfang steht, werden wir alle kleine Götter. Hitler und Stalin waren solche menschlichen Götter, die sich anmaßten, über Leben und Tod von vielen Millionen Mitmenschen zu entscheiden.
Woher nahmen sie die Gewißheit, dieses Recht zu haben? Es ist das Recht, das übrigbleibt, wenn die Furcht vor dem Herrn stirbt und das Volk gottlos wird. Das ist eine Botschaft, die sich durch die ganze biblische Tradition zieht, und es ist kein Glaube, sondern die harte Realität der Geschichte. Wir haben diese Realität erlebt, aber tun so, als hätten wir sie vergessen.

Was hat Luther in seinem Kampf um die Wahrheit hervorgeholt? Die rettende, befreiende, segensreiche Botschaft, das Evangelium selbst. Nicht das geschriebene Wort der Bibel hat er hervorgeholt, sondern, wie er sagt, die »viva vox«, das lebendige Wort, das »Geschrei des Evangeliums« nennt er es sogar. Es wird, wenn freigesetzt, wie lebensbringendes Wasser auf ein dürstendes Land fallen, wie lebendiges Wasser in den verdorrten Seelen aufgehen, selbst und gerade dann, wenn die Leiber übersättigt sind.

Warum lag Luther an diesem lebendigen Geschrei? Warum dürfen wir keine Fundamentalisten sein, die wie die Moslems die Schriftform verehren? Weil das lebendige, heilende, befreiende Wort Gottes aus der Gabe des Heiligen Geistes fließt. Das lebendige Wort ist nicht mit dem geschriebenen Buchstaben identisch und ist nicht ohne die Gegenwart des Geistes selbst zu haben. Das lebendige Wort ist der Durchbruch des Geistes, und die Christen sollten die Träger der Vollmacht des Geistes sein. Geistesvollmacht ist die einzige Kraft, die eine Zukunft des Christentums für unser Volk verbürgen kann.

Was lag Luther am Evangelium? Er wußte, daß es die Wurzel der Freiheit ist! Es ist die Gabe und Kraft Gottes, die den Menschen befreit, ja, die Freiheit des Menschen selbst erst befreit. Nur das Evangelium kann die natürlichen, intellektuellen, bürgerlichen Freiheiten des Menschen freisetzen und zur wirklichen Freiheit für den Menschen machen. Die ganze moderne Welt steht und fällt damit, ob sie begreift, was Luther mit dieser Freiheit gemeint hat. Er hat nichts anderes gemeint, als daß die lebendige Kraft des Evangeliums die Menschen von Sünde, Tod und Teufel frei macht.

Das ganze Problem besteht darin, daß wir diese Sprache nicht mehr verstehen. Es ist kein Problem der Sache. Die Geistmächtigkeit unserer Theologen müßte sich darin erweisen, daß sie diese Mächte – Sünde, Tod und Teufel – heute als reale und uns versklavende Mächte unter uns aufdeckten. Das Christentum hat sich in der antiken Welt durchgesetzt und deren absterbende Kultur überwunden, weil seine Mitte die Botschaft der Auferstehung war. Auferstehung heißt, daß die Christen von einer Macht herkommen, die den Tod überwunden hat! »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?« Unter den Christen ist heute dieser Lebensmut erstorben, der damals die niedergehende Kultur erneuerte. Das ganze orthodoxe Christentum ist bis heute, wo es lebendig ist, eine einzige Siegesfeier auf den Ruf »Christ ist erstanden!«. Aus dieser Kraft hat das russische Volk letztlich auch die grauenhaften Jahre des Sozialismus überstanden.

Luther geht noch einen Schritt weiter. Warum ist es denn so wichtig, daß es in dieser Welt Christen gibt?
Weil der Welt das Heil zu ihrer Rettung verkündigt werden muß! Weil die Christen, wie Luther in Übereinstimmung mit Paulus sagt, durch ihre Freiheit an der Kraft Gottes Anteil gewinnen. Sie gewinnen Anteil an der alles tragenden Kraft, die das Sein aus dem Nichts hervorgerufen hat! Diese Kraft wird die Zeugen von Gottes Heilswort auch aus den Steinen erwecken, wenn sie sie nicht lebendig unter uns findet.

Die Kraft des Gebets hängt davon ab, ob wir Gott etwas zutrauen. In den zweitausend Jahren Geschichte des Christentums haben die Menschen einzig deshalb für den Glauben nicht nur gelebt, sondern sind auch für ihn gestorben, weil sie Gott etwas zutrauten. »Gott handelt!« lautet die erste Grundaussage der ganzen biblischen Tradition. Gott ist kein Gähnemaul. Gott ist kein »jenseitiges Gespenst«, wie Hegel in der Einleitung zu seiner Rechtsphilosophie die Sicht der modernen Welt treffend kritisierte. Er ist mit seiner alles umgreifenden und erfüllenden Wirksamkeit da. Christ sein bedeutet, an diesem Gott und seinem Willen zum Heil Anteil zu gewinnen. Luther hatte begriffen, daß an der Kraft des Gebets auch das Heil der Welt hängt, und je weniger Menschen beten, desto mehr hängt das Heil an den wenigen, die beten. Es ist so, wie Reinhold Schneider angesichts des Nationalsozialismus sagte: Nur die Beter könnten es noch wenden.  . . .

Nach Luther ist der »Christenmensch ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan«. Er ist aber auch »ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan«. Das heißt, daß sich diese Freiheit nicht in der Willkür, der Tyrannei und der Gängelung anderer, sondern im Dienst bewährt. Damit hat die Reformation Kräfte der Sittlichkeit entbunden, aus denen alle besseren Zeiten  und alle Kulturleistungen hervorgegangen sind, welche die Deutschen seitdem für die Menschheit hervorgebracht haben. Das 20. Jahrhundert hat uns gelehrt, wie die Deutschen sich durch die Abwendung von dieser Sittlichkeit ihre großen Katastrophen selbst bereitet haben.

Die Frage, die mich heute bewegt, ist, ob wir nicht dabei sind, uns erneut eine Katastrophe zu bereiten. Diesmal wird die real existierende, organisierte Kirche kein Licht in der Nacht und kein Widerstand sein. Das Neue der Situation besteht darin, daß die Erosion der Substanz christlichen Lebens und christlicher Lehre in den Kirchen fast vollständig ist.

Wer heute die Diskussionen über die Geschichte der Kirche und des Christentums hört, könnte den Eindruck gewinnen, daß all diese zweitausend Jahre eine einzige Folge des Verbrechens, der Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen gewesen seien. Vor allem die Frau müsse sich jetzt befreien, müsse in einen neuen Kampf um die Macht eintreten, um sich den gerechten, ihr zweitausend Jahre lang vorenthaltenen Anteil zurückzuerobern.
Jeder Kulturhistoriker weiß dagegen, daß es keine Kultur und keine Kirche gibt, die soviel für die Würde der Frau getan hat wie die christliche. Sicher ist, wie zu allen Zeiten, die Dienstwilligkeit und Bereitschaft von Frauen auch von Christen ausgenutzt worden. Aber welcher Segen hätte aus dem gegenwärtigen geistigen Aufbruch der Frauen hervorgehen können, wenn er sich nicht in die abgestandenen Gewässer überholter Ideologien und vorchristlicher Naturreligiosität hätte abdrängen lassen. Der Feminismus geht heute in seiner verbohrten Feindschaft teilweise so weit, daß er bereit ist, sogar die Stellung der Frau im Islam gegenüber dem Christentum als eine ernstzunehmende Würdigung ihres Geschlechts zu empfinden.  . . .

Zum Glück ist es so, daß die Diskussion über die historische Bedeutung Martin Luthers ja nicht erst seit 1945 in Deutschland geführt wird, sondern, daß die Geschichte der Reformation und ihrer Auswirkungen seit ihren Anfängen, über die Orthodoxie, die Aufklärung, den deutschen Idealismus auch im 19. Jahrhundert, bestimmt gewesen ist durch eine ständige Auseinandersetzung mit Luther. Alle Epochen der deutschen Geschichte haben Entscheidendes über ihr Selbstverständnis ausgesagt in dem Bild, das sie von Luther gehabt, und der Interpretation, die sie ihm gegeben haben.  . . .

Es kann keinen Zweifel geben, daß Luther für die Bewegung des deutschen Idealismus, von Lessing über Fichte bis zu Hegel, der große Begründer der Neuzeit war, der den eigentlichen Durchbruch zur Freiheit geschaffen hat.

In der Tat macht das durch Luther religiös und christlich errungene Verständnis der Freiheit die geistige und ethische Substanz all dessen aus, was mit Recht ein Fortschritt in der Geschichte genannt zu werden verdient. Selbst bei Karl Marx, in seiner berühmten Schrift über die Judenfrage, gibt es noch Elemente der Gemeinsamkeit mit dieser von den großen deutschen Philosophen geteilten Einschätzung Luthers, wenn er sagt, daß mit Luther die Revolution begonnen habe, um deren Vollendung es in der proletarischen Weltrevolution gehe. In der Tat ist auch in dem, was heute als die Verwirklichung der Freiheit in der gesellschaftlichen, sozialen und politischen Revolution weltgeschichtlich auf der Tagesordnung der Geschichte steht, . . . noch ein Funke von dem im Spiel, was Luther mit seinem Freiheitsverständnis geschaffen hat. Im Unterschied zu vielen anderen hat Hegel klar und deutlich die Differenz hervorgehoben, die zwischen dem Freiheits- und Autonomiebegriff der Aufklärung und dem Lutherischen Freiheitsbegriff besteht, der die Gewissensfreiheit an den objektiv verbindlichen Anspruch der Wahrheit des Evangeliums bindet. Hegel hat es sich darum an jedem Gedenktag der Reformation nicht nehmen lassen, persönlich als Rektor der Universität in Berlin ein Referat zu halten über die substantielle Bedeutung Luthers für den großen Durchbruch zu einer sittlichen, in der Gebundenheit des Gewissens der Wahrheit verpflichteten Freiheit.

Dieser eindeutigen, positiven Einschätzung der Bedeutung Luthers im deutschen Idealismus, insbesondere bei Hegel, steht ein tief zwiespältiges bis feindschaftlichesverhältnis zu Luther in allen modernen emanzipatorischen und sozialistischen Theorien gegenüber. Im Gegensatz zu Hegel haben die Vertreter der Aufklärung die Neigung, den Lutherischen Freiheitsbegriff mit dem Autonomiepostulat der Aufklärung gleichzusetzen und zu verwechseln.
Kein Geringerer als Herbert Marcuse, einer der entscheidenden Inauguratoren der Studentenrevolte, hat dem spezifisch deutschen Verständnis der Freiheit eine sehr subtile und differenzierte Untersuchung gewidmet, in der er dieses schizophrene Verhältnis der Deutschen zur Freiheit auf Luther selbst zurückführt. Luther hat zwar für Marcuse den Menschen in seiner subjektiven Innerlichkeit befreit, ihn aber zugleich wiederum verpflichtet, die ganzen autoritären, ihn in der Realität unterdrückenden Herrschaftsstrukturen als gottgewollt zu akzeptieren. Die Schizophrenie besteht somit für Mareuse in der Spaltung der Freiheit in eine auf die Innerlichkeit des Menschen beschränkte Befreiung seines Gewissens und seine äußere Unfreiheit, seine Versklavung im Verhältnis zur politischen, sozialen Realität, die die Deutschen zugleich unfähig zur Revolution gemacht hat, das heißt zur revolutionären Beseitigung aller Verhältnisse, die einer uneingeschränkten Verwirklichung der von Luther für die Innerlichkeit gewonnenen Freiheit noch im Wege stehen.

Diese Deutung des im lutherischen Sinne christlichen Freiheitsverständnisses als eines halbierten, eines auf die bloße innerliche Subjektivität reduzierten, ermöglicht dann Marcuse die Rede vom verhängnisvollen Weg der deutschen Geschichte, die, aufgrund der durch Luther vorbereiteten Mentalitätsstrukturen – Obrigkeitshörigkeit, Staatsbesessenheit, Untertanenseligkeit – , konsequent in Auschwitz kulminieren mußte. Die Reformation sei die Schwindsucht der Freiheit gewesen und Luther deren Totengräber, so lautet das allgemeine Urteil über Luther.

Im Blick auf die zu beantwortende Frage nach der Aktualität Luthers stehen wir vor der Alternative, in Luther entweder den Totengräber der sozialen, politischen und revolutionären Freiheit zu sehen oder den großen Gegenspieler des Freiheitsverständnisses unserer Zeit, das in seinen extremen Konsequenzen auf die Etablierung des Anarchismus hinausläuft. Wenn heute nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kirchen mit den Fluten einer Emanzipation der Freiheit von der Wahrheit konfrontiert werden, werden sie dieser Flut erliegen, oder sie werden sich auf Luther erneut zurückbesinnen müssen.
Blickt man zurück auf die die gesamte Neuzeit bestimmende Auseinandersetzung mit Luther, insbesondere in der Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, dann ist es keineswegs ein von allen Theologen einhellig geteiltes Urteil, in Luther den Anfang, den Durchbruch der Neuzeit zu sehen. Ich darf daran erinnern, daß vor bald einer Generation Ernst Troeltsch, der größte theologische Sozialtheoretiker des 20. Jahrhunderts, das Werk Luthers als Restauration des Mittelalters begriffen hat. Für Troeltsch ist Luther ein mittelalterlicher Mensch gewesen, der in seinem Kampf gegen den erasmischen, modernen, humanistischen Freiheitsbegriff die Flut der Moderne noch einmal aufzuhalten versuchte. . . .

Dieser Streit, ob Luther noch Mittelalter oder schon Neuzeit ist, geht meines Erachtens an dem eigentlichen Problem vorbei. Erst wenn Luther in der ganzen Radikalität seines Ringens um die Wahrheit als Ausdruck des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit als ein Mann zwischen den Zeiten verstanden wird, kann der Versuch unternommen werden, nach seiner Aktualität in unserer Zeit zu fragen, deren Signatur ebenso auf einen tiefen epochalen Umbruch, auf eine Zeitenwende verweist. Es ist ja nicht zu übersehen, daß die damalige Zeitenwende im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit viele irritierende Züge mit dem gemeinsam hat, was wir heute als das Ende der Moderne erleben. Wenn man unsere Gegenwart geschichtlich in Beziehung setzen will zu vergleichbaren Epochen der Geschichte, dann ist an den Verfall der antiken Kultur oder an den schon genannten Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zu erinnern, das heißt an Zeiten, in denen die Fundamente aller Lebensordnungen sich auflösen, ein das sittliche Leben bestimmender Zerfall einsetzt, alles, was gegolten hat, nicht mehr gilt und die Welt ins Fugen und Bodenlose gerät.

Ausdruck dieser Erosion, dieses Verlustes an Boden, der die Lebensordnungen der Menschen trug, war immer schon die Angst, von der die Menschen in einer verfallenden Kultur zunehmend ergriffen und beherrscht wurden. Nur scheinbar sind wir die ersten, die in einem mit der Geschichte nicht vergleichbaren Sinn von der Angst bestimmt werden. Ist nicht schon die deutsche Katastrophe am Ende der Weimarer Republik aus der politischen Ausbeutung der Angst hervorgegangen? Die Ängste, die die Menschen in den angesprochenen Epochenwechseln heimsuchten, bleiben in ihrer Tiefe und Radikalität, in der Fülle ihrer irrationalen Reaktionen, zu der die kollektiv gewordene Angst verführt, nicht hinter dem zurück, was wir heute als die die Gesellschaft bestimmende Angst vor der atomaren Bedrohung erleben.

Luther hat sicher nicht gewußt, daß nach ihm die Neuzeit kommt, er kann von daher auch nicht mit den selbsternannten Propheten unserer Zeit verglichen werden, die die Epoche der Moderne für beendet erklären und eine neue auszurufen beginnen. Vielmehr war das bevorstehende Ende der Welt und der Dinge, das Nahen des Jüngsten Tages in der Apokalypse jenes Luther bestimmende Grund und Daseinsgefühl, das sein Selbstverständnis prägte. Ohne diesen Hintergrund kann die Luther existentiell bestimmende Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? nicht verstanden werden.

Ist aber der Mensch der Gegenwart durch diese Frage Luthers noch erreichbar, wird er von ihr noch betroffen, oder entzieht sie sich völlig seinem Begreifen? Was bleibt von dem Kernstück des ganzen Protestantismus, der Rechtfertigungslehre, wenn diese Frage nicht mehr das sie bewegende Zentrum bildet? Wird nicht die Lehre von der Rechtfertigung ohne diese Frage gegenstands- und sinnlos, und wird nicht dann die evangelische Kirche und auch die protestantische Theologie gezwungen, sich die Fragen, die die Menschen noch erreichen, durch Umfragen, soziale Trends und politische Bewegungen vorgeben zu lassen, weil sie meinen, diese eigentliche Frage als eine historisch erledigte und vergangene erkannt zu haben?

Um der Beantwortung dieser Fragen willen will ich den Versuch unternehmen, deutlich zu machen, was eigentlich hinter dieser lutherischen Frage steht: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Nicht die Reformation der Kirche, auch nicht die Reform des politischen Gemeinwesens der Deutschen, sondern die Lösung dieser existentiell ihn umtreibenden Frage war das Grundanliegen Luthers. Von zwei Voraussetzungen her mußte Luther diese Frage stellen:

Die erste Voraussetzung ist, daß Luther zur Lösung dieser Frage den Weg des Gesetzes gegangen ist. Luther ist zweifellos zunächst ein Mann des Gesetzes gewesen, das heißt, er hat versucht, in der Erfüllung des Gesetzes sich seines Heils zu versichern.

Die zweite Voraussetzung ist die, daß Luther und mit ihm viele seiner Zeitgenossen vom Gedanken Gottes als des Richters, vom Gedanken des bevorstehenden Gerichts umgetrieben wurden. Nicht der physische Tod war das Problem, sondern die Frage: Wie kann ich im zu erwartenden Gericht, in dem das definitive Urteil über Tod oder ewiges Leben fällt, vor Gott bestehen? Die Luther umtreibende Sorge war von daher: Hast du das Gesetz so erfüllt, daß du gewiß sein kannst, so viel zustande gebracht zu haben, daß du bestehen kannst in diesem Gericht, in dem es um ewiges, todloses Leben oder um ewigen Tod und ewige Verdammnis geht.

Luthers Frage nach dem ewigen, den Tod überwindenden Leben darf nicht in dem Sinne mißverstanden werden, in dem die heutige Kirche, getragen von machtvollen Bewegungen, von Leben redet. Physisches Leben, bloßes Überleben war für Luther kein wahres Leben, sondern unter wahrem Leben verstand er Tod überdauerndes oder nach dem Tod neu erwecktes, ewiges Leben. Es war ein Leben in der Freude der Anschauung, der Nähe der Unmittelbarkeit zum Schöpfer, von dem er wußte, daß er der Schöpfer ist, weil er alles Lebendige aus dem Tod hervorrufen kann. Nicht im Rückzug auf eine private Offenbarung, nicht, wie viele unserer katholischen Brüder noch immer wieder voller Klage feststellen, aus seiner Subjektivität heraus ist Luther zu der Antwort gekommen, sondern im Vollzug seines Auftrages als theologischer Lehrer der Kirche, der das Wort auszulegen und es in einem mitunter monatelangen Ringen zu begreifen hatte.

Aus diesem Umgang mit der Schrift, aus dem Kampf um die Erkenntnis des wahren Sinnes und des wahrhaft von der Schrift Gemeinten kam dann die rettende und erlösende Antwort: Der Gerechte wird aus dem Glauben leben. Das ist der Punkt, an dem die evangelische Christenheit auf den Weg der verantwortlichen Erkenntnis verwiesen wird und es sich nicht gestatten kann, auf unzugängliche Geheimoffenbarungen oder Sondererleuchtungen zu rekurrieren (Bezug nehmen).  . . .

In seiner Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« hat Luther nicht, wie Marcuse falsch interpretiert, den Menschen aufgeteilt in einen äußerlichen und in einen innerlichen Menschen, in einen Menschen als Weltperson und einen Menschen als geistige oder geistliche Person. Er hat nicht den einen Teil des Menschen der Welt, den anderen Gott zugeordnet, vielmehr geht Luther von der »unio personalis« aus, von der Einheit und Ganzheit der menschlichen Person, ihrer Einheit als Leib, Seele und Geist, und sagt von dieser »unio personalis«, daß der Mensch bestimmt sei von einer doppelten Natur.

Wenn Luther von der doppelten Natur des Menschen redet, dann ist unter Natur das konstitutive Bewegungsprinzip zu verstehen, aus dem heraus der Mensch die Totalität und die Ganzheit seiner Person realisiert. Die Alternative lautet dann nicht Leib, Fleisch oder Geist und Seele, sondern, bezogen auf das die Person organisierende Zentrum: aus Gott oder aus sich selbst heraus. Das heißt, wir dürfen diese Rede Luthers von den zwei Naturen der einen christlichen Person nicht verdinglichen, sondern wir müssen sie als Vollzugsweisen, als Aktualisierungsweisen verstehen, die unterschieden werden hinsichtlich des Kriteriums: aus sich selbst oder aus Gott? Wir müssen begreifen, daß Luther, wenn er von der Freiheit redet, von der theologischen Freiheit und nicht von moralischen, politischen oder sozialen Freiheitsformen redet, daß er als christlicher Theologe dem Menschen etwas über sein Verhältnis in und zur Freiheit sagen will, das sich der Mensch selbst nicht zu sagen vermag.

Indem Luther die Freiheit und Unfreiheit des Menschen nicht als eine Oualifikation seines Willens deutet, sondern in dem Selbstwollen des Menschen die selbstgesetzte Schranke der Freiheit sieht, steht er konträr zu dem entscheidend durch Rousseau geprägten neuzeitlichen Freiheitsverständnis, in dessen Zentrum der Mensch als das sich selbst wollende und selbst realisierende Wesen bestimmt wird. Paradox paulinisch formuliert, lautet dann Luthers Einsicht: Die Freiheit bedarf selbst der Befreiung.

Die an die Selbstsetzung des Selbst verlorene Freiheit muß zuallererst aus der Verknechtung durch das Selbst herausgelöst werden, damit wahre Freiheit möglich wird. Das Evangelium ist dann für Luther die Kraft der Befreiung der Freiheit.  . . . Wenn man etwas von der ungeheuren, weltüberwindenden Macht der Reformation verstehen will, dann ist es diese Überzeugung Luthers, daß der Mensch im Glauben Anteil gewinnt an der göttlichen »dynamis«, an der in Christus offenbar gewordenen Macht Gottes. Der Christus Präsens ist für Luther die Gegenwärtigkeit des Anteils an dieser Macht Gottes, von der es heißt, daß sie das Seiende aus dem Nichts gerufen hat.  . . .

Wenn wir uns nüchtern die Frage nach der Wurzel dessen stellen, was uns heute so bedrängt, dann ist es unser fehlendes Vertrauen in das Handeln und die Mächtigkeit dieses Gottes. Im Gegensatz zu Luther trauen wir diesem Gott nichts mehr zu. Für uns hängt vielmehr heute das Schicksal der Menschheit von dem Gebrauch der Freiheit ab, den vielleicht mehr oder weniger zufällig die Politiker von ihr machen. Wir haben schon darauf verwiesen, daß in Luthers Rede von dem zu königlicher und priesterlicher Freiheit befreiten Christen eine der tiefsten Wurzeln der deutschen Freiheitsgeschichte liegt.
Wenn nun aber diese überschwengliche, nur theologisch zu deutende Dimension der Freiheit aus ihrer theologischen Verwurzelung herausgenommen wird und der Mensch diese Freiheit in Anspruch nimmt und ausübt, dann führt das für Luther zu Formen der wahnwitzigen Schwärmerei, der nur die Vernichtung und Zerstörung der Welt folgen kann. Wenn die Christen ihren Auftrag vergessen, wenn sie vergessen, daß sie leidend dieser Welt ausgesetzt sind, und sie sich statt dessen in die Autonomie hineinretten, um in aller Selbstgerechtigkeit sich diese Welt verfügbar zu machen, dann ist für Luther das große Unglück unabwendbar.

Einen weiteren Gedanken Luthers müssen wir in unsere Überlegungen mit aufnehmen. Für den im Glauben befreiten Christen ist das Gesetz nicht abgetan, denn Gott führt für Luther diese Welt nicht in einem Eintakt, sondern in einem Zweitakt. Er geht mit der Welt um im Evangelium, und er geht mit der Welt um im Gesetz. Dieser Entzweiung entgeht der Christ auch als der im Glauben Befreite nicht. Man darf im Blick auf Luthers Kampf um die Befreiung des Evangeliums, den er in aller Härte mit der damaligen römischen Papstkirche geführt hat, nicht vergessen, daß er noch viel radikaler gegen die Schwärmerei gekämpft hat. In diesem Zwei-FrontenKrieg geht es Luther um ein und dasselbe. Der römischen Papstkirche wirft er die Indienstnahme des Gesetzes vor. Das Evangelium hat dann für Luther nur noch eine bloße Vehikelfunktion in der Ermöglichung der Gesetzeserfüllung, und der durch die Gnade in Gang gekommene Christ vollendet durch seine dem Evangelium entsprechenden Werke den Weg ganz.

Durch diese Funktionalisierung des Evangeliums im Gesetz und durch das Gesetz geht aber für Luther das Evangelium verloren, und zwar aus dem einfachen Grund, weil der Mensch, für den also der Heilsgewinn von dem Ausmaß seiner Gesetzeserfüllung abhängt, sich der Wahrheit des Evangeliums nie gewiß und sicher werden wird. Der Mensch wird für Luther nie wissen, ob er, populär gefaßt, das nötige Quantum an Gesetzeserfüllung schon geleistet hat. Er vermag aus dieser ihn existentiell umtreibenden Bekümmerung um sich selbst nie herauszukommen. Erst von hier aus kann LuthersVerständnis von »peccatum« deutlich werden.

»Peccatum« heißt im lutherischen Kontext, daß der Mensch selbst die Freiheit verwirkt hat, die ihm von Gott her zugedacht war. Dann muß für Luther das Evangelium aus der überfremdenden Herrschaft des Gesetzes befreit werden, damit es seine lebenschaffende, seine befreiende Macht zur Geltung zu bringen vermag. In der Anknüpfung an die genuine Gestalt des neutestamentlichen Christentums begreift somit Luther jenen Vorgang, bei dem es darum geht, einen neuen Menschen hervorzubringen. Denn die Frucht des Glaubens ist für Luther, daß der Mensch wieder, daß er neu geboren, daß er in den Ursprungsstand des Paradieses  das heißt, mythologisch gesprochen, in den Zustand vor seinem Anheimfall an die Macht von »peccatum«  wiedereingesetzt wird.
Luther hat aber genauso radikal, ja, vielleicht noch entschiedener gegen die Schwärmerei gekämpft. Im Gegensatz zur römischen Papstkirche, die das Gesetz über das Evangelium stellt, ist für die Schwarmgeister nach Luther durch das Evangelium das Gesetz abgetan und erledigt. In dieser Verkehrung wird das Evangelium für Luther zu einem neuen Gesetz, dem der Liebe Christi, nach dem die Welt erneuert und verwandelt werden soll. Es gibt also nicht nur eine marxistische, sondern auch eine christliche, mehr von Calvin hergeleitete, fundamentale Kritik an Luther, eine Kritik, die uns in der Form der Barthschen dialektischen Theologie heute tiefer bestimmt, als es die meisten wissen. Karl Barth hat Luther den Verrat an dem Gesetz Christi vorgeworfen, weil Luther durch die von ihm zur Aufrechterhaltung der Ordnung vollzogene Umkehr von Evangelium und Gesetz in Gesetz und Evangelium die Christen daran gehindert hätte, die Herrschaft Christi über diese Welt als Christen und Aufrechte verwirklichen zu können.

Luthers Deutung des Zusammenhangs von Evangelium und Gesetz tritt am prägnantesten in seiner Auseinandersetzung mit den Bauern hervor. Luther hat nie an dem Recht der Bauern gezweifelt, und er hat, solange die Bauern nicht mit Terror und Mord versuchten, ihr weltliches Recht durchzusetzen, nicht nur entschieden für das Recht der Bauern gekämpft, sondern er hat mit Mut die deutschen Fürsten herausgefordert, sie angegriffen. Luther hat aber in diesem Punkt eine Wende vollzogen.

Nachdem seine friedlichen Ermahnungen der Bauern, nicht den Weg des gewalttätigen Ausbruchs zu gehen, ungehört blieben, hat er sich von ihnen abgewandt. Was aber war der Grund für diese Trennung? Hier muß man sehen, daß Luther um der Wahrheit willen seine ungeheure Popularität bei den Bauern aufs Spiel gesetzt hat. Für Luther kann und darf das Evangelium nicht zur Legitimation von Terror und Mord an unschuldigen Menschen dienen, und er hat die Folgen des Versuchs der Schwärmer, aus der Unmittelbarkeit des Verhältnisses zu Gott das Gesetz der Liebe an dieser Welt zu vollstrecken, für prinzipiell vergleichbar mit denen der katholischen Position angesehen. In der Subsumtion (Zusammenfassung) des Evangeliums unter das Gesetz verschwindet aber das Evangelium, die frohe Botschaft, die den Menschen vor dem im Terror endenden Zwang befreit, an und durch sich selbst jenes Reich Gottes herzustellen, von dem es heißt, daß es schon bereitet ist.

Ein besonders anschauliches Beispiel zur Exemplifikation des hier bei Luther Gemeinten bietet das Buch von Franz Alt: »Frieden ist möglich«. Wie geht Franz Alt mit der Bergpredigt um? Er nimmt aus dem Ganzen der Bibel einige passende Sätze heraus, in diesem Fall die Anweisungen der Bergpredigt, und interpretiert diese als Zusagen der eschatologischen Nähe Gottes gemeinten indikativischen Sätze um in einen Imperativ: Wir sollen nach den Anweisungen der Bergpredigt nicht nur leben, sondern nach diesen von Alt gedeuteten Maximen auch Politik treiben. Und die politische Folge dieser so realisierten Imperative ist dann für Alt die Herstellung eines universalen Friedens.

Tatsächlich aber gibt es in der ganzen Bibel keine Offenbarung, die wir unmittelbar auf unsere Situation im Jahre 1994 beziehen könnten. Auch die Christen haben nicht mehr als ihre Vernunft zur Verfügung, und in bezug auf diese hat Luther nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Vernunft der Heiden die bessere sei. Luther hat seine Gemeinde angehalten, bei ihnen in die Schule zu gehen und sich durch sie über den rechten Umgang mit der Vernunft belehren zu lassen. Sicher wird der Christ nach Luther aus einer anderen Inspiration heraus mit seiner Vernunft umgehen und, aber ob durch das in einen gesetzlichen Imperativ uminterpretierte Evangelium der Friede sicherer oder nicht sicherer wird, darauf gibt es auch für Luther im Evangelium keine Antwort. Luther hat weder gesagt, wir sollten in der Welt nur nach dem Gesetz ohne das Evangelium, noch sollten wir nur mit dem Evangelium ohne das Gesetz handeln, sondern er hat auf der Gabe und der Fähigkeit des Theologen bestanden, zwischen Evangelium und Gesetz zu unterscheiden und das richtig Geschiedene sinnvoll aufeinander zu beziehen, ohne es miteinander zu vermengen. Die Vermengung von Gesetz und Evangelium, ihr Ineinanderrühren hat Luther als den eigentlich satanischen Einbruch in die Mitte des Evangeliums empfunden, als die Macht des diabolus, der beide durcheinanderrührt, verwechselt und vertauscht.

Was ist aber für Luther die Folge, wenn, wie bei den Schwärmern, aus dem Evangelium ein Gesetz wird? Die Folge ist zunächst die, daß es dann zwei Kategorien von Christen gibt, daß sich der Leib Christi spaltet, wenn ich die Christlichkeit von der Bereitschaft abhängig mache, einer bestimmten Politik zuzustimmen oder sie abzulehnen. Die Spaltung, der ideologische Bürgerkrieg innerhalb der Gemeinde ist dann der zu zahlende Preis, und die Gemeinde wird ihren göttlichen Auftrag nicht mehr erfüllen können, nämlich Zeugnis abzulegen von der friedenstiftenden Wahrheit des Evangeliums.

Was ist Christentum, was ist christlicher Glaube? Eine Sozialreligion, eine Legitimationsformel für terroristische oder reformistische Befreiungsbewegungen? Das Christentum ist entweder eine Erlösungsreligion, oder es ist eine beliebig auslegbare und in Dienst zu nehmende Ideologie. Wenn das Christentum eine Erlösungsreligion ist, dann muß ich sagen, wovon es befreit und erlöst. Mit der Beseitigung des Gesetzes verschwindet aber diese Möglichkeit, denn das Evangelium ist nur im Gegenüber zum Gesetz als die Macht der Befreiung vom Gesetz aussagbar. Wenn es aber selbst in eine Gesetzesforderung verfälscht wird, geht es unter und verschwindet. Das bedeutet für Luther den Verrat der Kirche Jesu Christi an ihrem Herrn, weil sie der Welt todloses Leben, Heil und Rettung, die ihnen anvertraute Gabe der Welt vorenthält und verrät. Man muß heute neu darüber nachdenken, warum der Mensch mit dem Gesetz nicht fertig wird, warum der Mensch nach Luther am Gesetz scheitert. Man muß nachdenken, warum der Wille des natürlichen Menschen ein verknechteter Wille ist, der einer »necessitas« (Luther) unterliegt, die nichts mit einer abstrakt deterministischen Kausalrelation zu tun hat, sondern die Unveränderlichkeit des Willens Gottes und seiner Macht bedeutet, mit dem er an seinem Willen festhält und ihn durchsetzt. Denn gäbe es in diesem Sinne die Unveränderlichkeit, die necessitas göttlichen Willens nicht, müßte auch der christlich Gläubige ständig zweifeln und wäre in eine tiefe Unsicherheit gestürzt über den Ausgang der Dinge dieser Welt.

Luther hat die Quellen und die Ursprünge der Angst tiefer gesehen als wir, aber er hat den Menschen keine Angst gemacht, sondern er hat den Menschen eine die Welt überwindende, unbedingte Gewißheit gegeben, um die Qualen und Heimsuchungen, um die Grausamkeit und Härte dieser Welt bestehen zu können. Aus diesem Mut heraus formulierte Luther das letzte Wort seines Lebens: tamen – dennoch. Von diesem Lebensmut hängt es ab, ob wir mit den Problemen unseres Gemeinwesens fertig werden oder nicht.

Wir können leider nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht behaupten, daß es nach dem Ende des christlichen Geschichtsäons einen neuen Äon mit einer gleichwertigen geistigen Kraft geben wird. Nein, bei der Frage nach der Zukunft des substantiellen Christentums geht es nicht um den Machtanspruch der Kirchen, sondern es geht um die Zukunft der humanen Gesellschaft, das heißt um die Frage, ob unser Volk morgen noch eine Zukunft hat. Luther kann uns an dem Wendepunkt, an dem wir uns befinden, weiterhelfen. Meine Sorge ist die, daß wir am Beginn einer Entwicklung stehen, in der wir eine neue Katastrophe vorbereiten, weil wir nichts aus der vergangenen Geschichte, möglicherweise auch nichts aus dem ungeheueren Geschehen des Zusammenbruchs des Kommunismus lernen. Meine Hoffnung geht dahin, daß sich die christlichen Kräfte in unserem Volke finden und zusammenschließen mögen. Die Wahrheit des Evangeliums kann sich nur im Dienst und in der Einheit der Christen ausdrücken. Wenn das eintritt, wird die christliche Gemeinde wieder sein, was sie für die Welt sein sollte, nämlich eine Stadt auf dem Berge, ein Fels der Zuversicht und ein Leuchtzeichen, an dem die Menschen sich orientieren können, wenn sie im Zweifel sind, was der Mensch überhaupt ist.

Die Christen sollten sich auch nicht durch den Vorwurf des Fundamentalismus entmutigen lassen. Richtig verstanden, gehören nämlich Fundamentalismus und Freiheit zusammen: Die Freiheit bedarf der sie stützenden Fundamente, und umgekehrt ist die »Freiheit eines Christenmenschen« (Luther) auch dem Christentum eigen. Der Christ ist dazu da, die »Zeichen der Zeit« zu erkennen, das Amt der Unterscheidung der Geister zu üben. Die Unterscheidung und die Einheit von Fundamentalismus und Freiheit zu denken ist in der gegenwärtigen Situation eine seiner vornehmlichsten Aufgaben.

Soweit hier Kap. 8 von Teil 3, aus dem Buch DER ERNSTFALL.

Die Hervorhebungen im Text und geringe Kürzungen sind von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im November 2010

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DER ERNSTFALL
Teil 1 Die Lage: Zusammenbruch des Sozialismus – Krise des Liberalismus?
Teil 2 Deutschland am Wendepunkt – Gefährdungen unseres politischen und ökonomischen Systems
Teil 3 Deutschland am Wendepunkt – Kultur und Glaubenskrise
Teil 4 Der Neue Konservativismus und die Gefahr des Faschismus

DER AUTOR: Günter Rohrmoser, Jahrgang 1927, studierte Philosophie, Theologie und Nationalökonomie an den Universitäten Münster und Tübingen. Habilitation 1961 in Köln. Ordinarius für Philosophie in Münster, Honorarprofessur in Köln, seit 1976 Ordinarius an der Universität Hohenheim. Lehrt Politische Philosophie an der Universität Stuttgart.