Alexander Seibel
Beginn der charismatischen Bewegung
Nicht aus Freude am Kritisieren, sondern aus tiefer Sorge um die zu beobachtende rasante Entwicklung in Richtung spiritueller Umfassung der Gemeinden, möchte ich hier auf eine jüngste Veröffentlichung von Arnold Bittlinger hinweisen.
Arnold Bittlinger kann man als den Vater der charismatischen Bewegung auf deutschem Boden bezeichnen. Er war es, der Larry Christenson in die Bundesrepublik eingeladen hat und man nennt die 1963 stattgefundene Enkenbacher Tagung den Anfang der Charismatischen Bewegung. In Sachen Ausbreitung und Verbreitung dieser Strömung nimmt Arnold Bittlinger zweifellos eine Schlüsselrolle ein.
Sein Einfluß ist dementsprechend. Kein geringerer als Wolfram Kopfermann schreibt zu Bittlingers Veröffentlichungen:
„Ein eigenes Schrifttum der evangelischen Gemeinde-Erneuerung ist noch im Entstehen begriffen. Hinzuweisen ist bisher auf einige Veröffentlichungen von Arnold Bittlinger, vor allem zum Gesamtgebiet der Charismen, speziell auch zum Thema Sprachengebet, die als Standardwerke gelten. Überhaupt kommt Bittlinger das Verdienst zu, schon in den sechziger Jahren die Anliegen der charismatischen Bewegung theologisch so reflektiert und dargelegt zu haben, daß sie von vielen sonst kritischen deutschen Zuhörern bzw. Lesern aufgenommen werden konnten.“ 1
So erklärt Arnold Bittlinger beispielsweise: „Glossolalie ist sehr häufig das Phänomen, durch das Menschen Zugang zur Dimension des Charismatischen finden… Im Privatgebet spielt die Glossolalie innerhalb der Charismatischen Bewegung eine bedeutende Rolle. Millionen von Christen, darunter viele Pfarrer, Priester und Bischöfe, haben durch die Glossolalie Zugang zu einem verinnerlichten Beten gefunden – ohne daß sie diese Gabe in einem öffentlichen Gottesdienst praktizieren. Man kann deshalb zweitens sagen: ‚Ohne Glossolalie gäbe es keine Charismatische Erneuerung’“ 2
Nun aber möchte ich auf die oben angedeutete jüngste Veröffentlichung eingehen. Arnold Bittlinger, Vater des bekannten Liedermachers Clemens Bittlinger, befaßt sich mit dem Thema Integration anderer religiöser Traditionen in die Christenheit des Westens. Der Originalartikel ist in Englisch geschrieben und trägt die Überschrift Integrating Other Religious Traditions into Western Christianity.
Aus dieser relativ kurzen Abhandlung, die in dem Buch Spirituality in Interfaith Dialogue 3 erschienen ist, sollen hier nun einige besonders aufschlußreiche Passagen zitiert werden:
„In Verbindung mit meiner Forschung im Bereich der Charismatischen Erneuerung, der ökumenischen Spiritualität und der Tiefenpsychologie, bin ich allmählich in Verbindung mit nicht-christlichen geistlichen Erfahrungen und Praktiken gekommen.
Seit 1962 habe ich Forschungen über die Charismatische Erneuerung angestellt. Ich war ein Mitglied des inneren Teams im Dialog zwischen der römisch-katholischen Kirche und der pfingstlich/charismatischen Erneuerungsbewegung. Ich war auch als Berater für die charismatische Erneuerung beim Weltkirchenrat tätig.
Im Zuge meiner Nachforschungen begann ich mich für die afrikanischen unabhängigen Kirchen zu interessieren, wo ich eine harmonische Vermischung von traditionellen afrikanischen und christlichen Elementen vorfand. Als ich entdeckte, daß viele charismatische Elemente dieser Kirchen ihre Wurzel in vorchristlichen Traditionen hatten, begann ich auch nach charismatischen Elementen in anderen Religionen Ausschau zu halten. Ich entdeckte, daß vor allem die Charismata der „Heilung“ und der „Prophezeiung“ in solchen Religionen manchmal überzeugender waren als in der charismatischen Erneuerungsbewegung – wenigstens soweit sie von der nordamerikanischen Art des Christentums beeinflußt ist. Im Schamanismus fand ich faszinierende Parallelen zu dem Dienst Jesu, den ich immer mehr als einen Archetypus des Schamanen erkannte. Bezüglich „Heilung“ war ich besonders beeindruckt durch den ganzheitlichen Zugang zur Heilung, den ich unter den Indianern fand. Das hat mich motiviert, solch einen Zugang auch für unsere christlichen Heilungsdienste zu ermöglichen.
Bezüglich ‚Prophetie’ bin ich beeindruckt von Erfahrungen im Hinduismus. Einige unserer europäischen ‚Propheten’ entdeckten und entfalteten ihre prophetische Gabe unter dem Einfluß von indischen Gurus. Auch andere charismatische Erfahrungen haben ihre manchmal eindrücklichen Entsprechungen in anderen religiösen Traditionen (z.B. ‚Beten im Geist’ im Japa Yoga). Ich bin davon überzeugt, daß die charismatische Erneuerungsbewegung noch bedeutender wird – besonders für die Mission der Kirche – wenn sie auch die charismatischen Gaben von anderen Religionen ernst nimmt.
Seit 1966 habe ich in der Arbeit einer ökumenischen Akademie mitgewirkt, die auch mit einer ökumenischen Kommunität verbunden ist. Ein Hauptanliegen dieser Arbeit besteht darin, eine ökumenische Spiritualität zu entwickeln. Aber wir waren auch an der Spiritualität anderer Religionen interessiert. So hatten wir beispielsweise eine Konferenz zu dem Thema der Bedeutung von Abraham als eine Wurzel des Glaubens im Judaismus, Christentum und Islam und auch eine Konferenz über afrikanische, indische und jüdische Spiritualität mit Referenten dieser Traditionen.
Wir hatten auch Konferenzen über das chinesische I Ging und das Tibetanische Bardo Gödol (Tibetanische Totenbuch, Anm.). Aber unser Hauptanliegen ist, zu unserer eigenen keltischen und alemannischen Traditionen zurückzugehen und sie wiederum zu beleben, um sie in unseren christlichen Glauben integrieren zu können.“ 4
Soweit Arnold Bittlinger.
Im weiteren Verlauf des Artikels beschäftigt sich der Autor mit der esoterischen Vorstellung eines „Kosmischen Christus“, den er mit den vorchristlichen Wurzeln unserer religiösen Erfahrung verbindet. 5 Hinter der Vorstellung eines „Kosmischen Christus“ steht die Überzeugung von der Innewohnung des universalen Geistes in allen Menschen. Diese Auffassung, die nichts mit der biblischen Christologie zu tun hat, wurde durch die New-Age-Bewegung in ihren Details entfaltet. 6
Soweit zu diesem Artikel.
Nun werden sich zweifellos die meisten Charismatiker von solchen Aussagen distanzieren. Dennoch ist die Entwicklung Bittlingers fast ein Paradebeispiel für eine allmähliche Öffnung zu immer bibelfremderen Quellen. Erst sind die charismatischen Erfahrungen im evangelikal-protestantischen Lager scheinbar bibeltreu verpackt. Dann entdeckt man auf einmal bereichernde spirituelle Elemente in der katholischen Kirche, danach in der Liturgie der orthodoxen Kirche und letztlich findet man ähnliche oder identische „Spiritualität“ in anderen Religionen und heidnischen Kulten über die gemeinsame religiöse Erfahrung. Über charismatische Aufbrüche geht es in den ökumenischen Dialog, zurück zur katholischen Kirche und danach ins reine Heidentum.
Arnold Bittlinger ist nicht der einzige, der solche „esoterischen“ Pfade erklimmt. Eigentlich die meisten Schlüsselleute für die Einführung der charismatischen Bewegung und ihre Ausbreitung haben sich in ähnlicher Weise entfaltet. Wilhard Becker empfahl auch Akupressur und Zen Meditation in seinem gemischten Angebot von Gruppendynamik, Tiefenpsychologie, Traumdeutung im Rahmen seiner Seelsorgeseminare. 7 Er war ganz entscheidend für die Ausbreitung der charismatischen Bewegung innerhalb der Freikirchen und da besonders im Baptismus verantwortlich.
Wie aber ist Larry Christenson, die eigentliche Ursprungsgestalt, zu seinen charismatischen Erfahrungen gekommen? Seine ersten Impulse zum Thema Heilung erfuhr er durch Agnes Sanfords Buch „The Healing Light“ (Heilendes Licht). Man kann diese Frau als die Schlüsselgestalt der modernen Heilungsbewegung bezeichnen. In diesem ihrem Bestseller „Heilendes Licht“ schreibt sie ganz offen, wie die Geister der Verstorbenen durch sie wirken, man dadurch auch besondere Kräfte zur Heilung Kranker empfangen könne (Heilendes Licht, Oekumenischer Verlag Edel, S. 150-151). Auch erklärte sie unumwunden, wie sie beim Zungenreden mit dem Bewußtsein von Menschen Verbindung hat, die schon gestorben sind, aber auch mit Menschen, die derzeit leben und selbst mit Personen, die angeblich noch geboren werden sollen (The Healing Gifts of the Spirit, Revell, S. 152)
Doch seine Erfahrung mit der Geistestaufe und dem Erlebnis des Zungenredens machte Larry Christenson 1961 in einer Gemeinde der extremen Pfingstrichtung der „Four Square Gospel“ (Dictionary of the Pentecostal and Charismatic Movement, S.163). Die Gründerin dieser Strömung, Aimee Semple McPherson, war mehrmals verheiratet (auch die dritte Ehe wurde bald geschieden), mehrmals in der Psychiatrie, „Ja, Aimee beschrieb selbst ihre Liebesaffären und ihre göttlichen Führungen in einer Artikelserie, die sie in einer auflagestarken Tageszeitung veröffentlichte“ (Hutten: Seher, Grübler, Enthusiasten, Quell Verlag Stuttgart, 1982, S. 307).
Vor einiger Zeit hat McConnell, Absolvent der Oral Roberts Universität und Befürworter der charismatischen Bewegung, darauf hingewiesen, daß sich keine Bewegung so vielen Irrlehren geöffnet hat, wie gerade die Charismatische.
In seinem Buch „Ein anderes Evangelium?“ schreibt er: ,,Von ihren Anfängen bis in die Gegenwart hat die charismatische Bewegung eine fehlerhafte Offenbarungslehre vertreten … Solange wir uns nicht ernsthaft dem Prinzip verpflichten, daß Lehre und Praxis einer hermeneutisch sauberen Auslegung des Wortes Gottes entstammen muß, wird unsere Bewegung für eine endlose Serie prophetischer Offenbarer und ihrer bizarren Lehren ein willfähriges Opfer sein.“ D.R. McConell, Ein anderes Evangelium?, Verlag C.M. Fliß, S. 236-237.
Walter Hollenweger erklärt ganz frei und offen in idea-Spektrum 49/2004, daß in der Dritten Welt „Kirchen mit Geistheilern zusammenarbeiten. Es sei dort für Christen selbstverständlich, ihre vorchristliche Heiltraditionen in ihr Glaubensleben einzubauen.“
Hollenweger kann folglich keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den Begabungen der philippinischen Geistheiler und christlichen Charismatikern in ihrem Heilungsauftrag sehen. 8
Es wird eigentlich hier schwarz auf weiß zum Ausdruck gebracht: Die Vermischung von Geistheilern, Heidentum bzw. Spiritismus mit Christentum ergibt „charismatische Phänomene“.
Nun ist Hollenweger keine Randfigur. Sein Buch Enthusiastisches Christentum – Die Pfingstbewegung in Geschichte und Gegenwart, Wuppertal (Brockhaus) 1969, gilt als theologisches Standardwerk, das die Verbindung der Pfingstgemeinden zur offiziellen Theologie erst ermöglichte; galten bis dahin doch die Pfingstler als theologische Außenseiter. Auf seine Initiative bzw. gedankliche Konzeption hin formierte sich die Ökumenische Akademie von Schloß Craheim 1969 zur Zentralisierung der charismatischen Bewegung mit dem Ziel, sie in alle Kreise und Gemeinden hineinzutragen. Dies ist außerordentlich effektiv gelungen.
In der Zeitschrift Charisma Nr. 124 wird nun auf drei Seiten Hollenweger vorgestellt und als einer der Gründergestalten der pfingstlich- charismatischen Strömung gewürdigt. Auch wird von seiner Geistestaufe berichtet (S. 12), doch mit keiner Silbe auf seine schlimmen Irrlehren hingewiesen. So ist er z.B. davon überzeugt, daß der Geist Gottes in allen Menschen wohnt. Wenn der Geist Gottes in allen Menschen ist, auch in den Ungetauften, auch in den türkischen Gastarbeitern, auch in den Atheisten, können wir zur kirchlichen Mitarbeit einladen, wer immer „für das gemeinsame Gute“ (1. Kor. 12,7) mit uns zusammenarbeiten will in unseren Kirchen und Gemeinden. Weder Taufe noch theologische Übereinstimmungen sind Vorbedingungen (Lutherisches Monatsheft, Nr. 8, S. 448).
Die amerikanischen „Väter“ bzw. Schlüsselleute dieser Strömung haben ähnlich sonderbare Entwicklungen durchgemacht, seien es Dennis Bennett, John Wimber 9 und auch Peter Wagner. 10
Nun erkennt man bekanntlich an der Frucht den Baum. Sind die aus solchen Quellen entspringenden Strömungen nach einigen Jahren oder Jahrzehnten der Ausbreitung nun besser oder gereinigter, nur weil schon so viele mitmachen?
Selten hätte eine Bewegung von den Lehren und „Früchten“ ihrer Gründergestalten in Deutschland, aber auch in den USA, dem Ursprungsland, so klar als ein Wirken eines fremden Geistes (2. Kor. 11,4) identifiziert werden können, wie gerade die charismatische.
Auch haben wir in der deutschsprachigen Welt in den letzten 40 Jahren statt Erweckung (jedenfalls von großflächigeren) einen systematischen Niedergang erlebt. Vor allem auf moralisch-ethischen Gebiet, die wahren Kennzeichen geistlicher Kraft übrigens, sind praktisch vor unseren Augen die Gebote Gottes bald eines nach dem anderen demontiert und zum Teil in ihr genaues Gegenteil verkehrt worden.
Fazit: Dank 40 Jahre charismatischer Infiltration könnte in fast jeder Kirche wie Freikirche die Magd mit dem Wahrsagegeist (Apg. 16,16) als „begnadete Prophetin“ angestellt werden.
Alexander Seibel
Die Textbetonungen sind von mir eingefügt. Horst Koch, im Sommer 2020
Anmerkungen:
1. Wolfram Kopfermann, Charismatische Gemeinde-Erneuerung. Eine Zwischenbilanz, Charisma und Kirche Heft 7/8, 1983, S. 32.
2. Arnold Bittlinger, …und sie beten in anderen Sprachen. Charismatische Bewegung und Glossolalie, Charisma und Kirche Heft 2, S. 5.
3. Spirituality in Interfaith Dialogue, edited by Tosh Arai and Wesley Ariarajah, Genf, World Council of Churches Publications, 1989, S. 96-100.
4. Arnold Bittlinger, Integrating Other Religious Traditions into Western Christianity, S. 96-97
5. Arnold Bittlinger, ibid., Seite 98-100.
6. David Spangler, New Age – die Geburt eines Neuen Zeitalters, Fischer Verlag, Frankfurt, 1978.
7. BTS, „Mich selbst erfahren – den eigenen Körper erfahren“, Sept. 1983.
8. idea Schweiz, Nr. 14/87, S. 3.
9. Seibel Alexander, Die sanfte Verführung der Gemeinde, Telos
10. Peter Wagner und der fromme Spiritismus, Licht + Leben, 10/89, S. 231-231.