Anna Katterfeld
MARIA – die Mutter des Herrn
„Da die Zeit erfüllet war”, das ist die unverrückbare Überschrift, die über allem Tun unseres Gottes steht.
Nie hat diese Überschrift eine tiefere Bedeutung gehabt als damals, wo es hieß: „Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetzt getan” (Gal.4,4). An heiligste, unfassbare Geheimnisse, die das Schicksal der Menschenwelt, ja der gesamten Schöpfung für Zeit und Ewigkeit bestimmen, rühren diese Worte.
,,Da sollte man jeden Buchstaben so groß schreiben, wie einen Kirchturm”, so etwa sagt Luther von diesem Geheimnis. Und doch ist auch das mir ein Stammeln, und alle menschlichen Worte reichen nicht aus, um die Größe dieses Wunders aller Wunder zu schildern, dessen Ruhm in alle Ewigkeit nicht verklingen wird.
Und sie, die die Trägerin dieses Wunders geworden ist, die zu einem Mutterdienst auserwählt worden ist wie nie ein Weib vor ihr und nach ihr, einem Dienst, der für alle Zeiten dem Muttertum den höchsten Adel verleiht — wer war sie ? — wie war sie ? — warum ist gerade sie zu diesem heiligen Dienst erkoren?
Wir wissen wenig von ihr. Es ist, als sollte der Blick auf die Mutter nicht die Augen von ihrem ewigen Sohn ablenken. Aber doch wissen wir genug, um die Antwort auf unsere Fragen zu haben. Und diese Antwort lautet: Gerade sie ist erwählt, weil sie vor anderen glaubte und vertraute; weil sie vor anderen selbst nichts sein wollte und nur Gott Raum in sich ließ: „Siehe, er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen”, das ist das einzige, was sie von sich zu rühmen weiß.
So soll denn auch dies Büchlein nicht sie rühmen, sondern den, der sich in unendlichem Erbarmen zu uns armen Menschen herabgeneigt hat. Vielleicht darf es helfen, daß manches für uns Gegenwart wird und sich in unserer Seele spiegelt, worüber wir sonst um des gar zu vertrauten Klanges willen achtlos hinweglesen.
Die Verfasserin will es wie der Maler heiliger Geschichten machen, der seinen Pinsel in die Farbe taucht, um dem Gestalt und Ausdruck zu geben, was er erlesen und erlebt, geglaubt und geschaut hat. Ein Bild aber ist nicht ohne äußeren Rahmen. Die hier gezeichnete Umrahmung heiligen Geschehens darf nicht als Phantasie gewertet werden, sondern ist ein Versuch lebendiger Veranschaulichung. Schilderungen von Männern und Frauen, denen Land und Leute in der einstigen Erdenheimat Jesu und seiner Mutter bekannt und vertraut sind, liegen ihm zugrunde.
Die Botschaft
Es ist Abend geworden über dem einsamen Bergstädtchen Nazareth in Galiläa. Die Frauen, die an der sprudelnden Quelle im Osten der Stadt ihren Wasservorrat geschöpft haben, heben den schwarzen Tonkrug auf den Kopf und steigen, die Hände an die Hüften gestützt, leichtfüßig den schmalen Pfad zum Städtchen hinan. Die letzten Abendstrahlen tauchen die weißen Mauern der Häuser, die sich am Hügel entlangziehen, an dessen Abhang das Städtchen liegt, in ein rötlich goldenes Licht. Die fernen Karmelberge aber nehmen die blaue träumerische Farbe an, die dem Dunkel der Nacht vorausgeht. (Nach Ludwig Schneller: Kennst du das Land?)
Es ist stille geworden an der Quelle. Nur ein junges Mädchen sitzt noch auf der gemauerten Umrandung und schaut sinnend ins murmelnde Wasser. Es ist ihm heute so eigen sehnsuchtsvoll zumute. Es muß noch ein wenig Stille, ein wenig Einsamkeit haben … Droben im kleinen Elternhaus findet sich kaum ein stilles Winkelchen. Wie die meisten Häuser hat es wohl nur einen einzigen Raum, in dem sich das gesamte Leben der Familie abspielt. Aber hier unter dem dunklen Himmel, wo das lebendige Wasser in seinen nimmer ruhenden Strömen gleichsam auf die Ewigkeit deutet, wo der Abendwind leise in den Blättern der Olivenbäume säuselt, die die Quelle umschatten, da scheint einem jene Welt der Ewigkeit nahegerückt, da verscheucht nichts die heiligen Bilder, die sich in der Seele der Jungfrau spiegeln.
Wer kennt in Nazareth nicht die liebliche Maria? Sie ist eine von ihnen, teilt ihre Arbeit und ihre Freude; aber sie ist doch anders als sie alle. Es ist, als sei sie von einer Wolke der Reinheit umgeben, als könne kein hässliches Wort, kein unreiner Gedanke sich an sie heranwagen. Und wie ist sie in der Schrift, vor allem in den großen Verheißungen, die Gott den Vätern gegeben hat, daheim! Sie sind ihr nicht Vergangenheit. Sie sind ihr Gegenwart, sind ihr Zukunft, in der sie lebt, auf die sie hofft.
„Woher weiß sie das alles?” fragt wohl eine der Gefährtinnen die andere. „Sie hat doch nicht mehr gelernt als wir.” Trotz dieses größeren inneren Besitzes können Neid und Mißgunst nicht an Maria heran. Ihr ganzes Wesen ist so lauter und so kristallklar, so demütig und so freundlich, daß alle sie liebhaben müssen.
Nun ist sie seit kurzem mit dem Baumeister Joseph aus Bethlehem, einem Nachkommen Davids, verlobt. Der Königssproß, aus dem Geschlecht auf dem Gottes Verheißung ruht, war schlichter Handwerker geworden. Wie viele Bauleute aus dem gewerbefleißigen Bethlehem hatte er auswärts Arbeit gesucht. So war er nach Nazareth gekommen. Hier hatte er nicht nur Arbeit, sondern auch die liebliche junge Braut gefunden (Nach Schneller). O was wird das für ein köstlicher Brautstand gewesen sein! Zwei Menschen verbunden, nicht nur in einer Liebe und einem Glauben, sondern auch in einer Erwartung der endlichen Erfüllung von Gottes herrlichen Verheißungen! Es war kein Zweifel, die Zeit war nahe, wo der kommen sollte, von dem Moses und die Propheten geweissagt hatten, der Held Gottes, der König und Gesalbte aus Davids Stamm, der Recht und Gerechtigkeit auf Erden anrichten sollte (Jer.23,5). Wie groß war die Not! Wie wurde Gottes Volk von außen gedrückt, und wie hatte es sich innerlich verloren! Wie klein war das Häuflein der Suchenden, der Glaubenden, der Wartenden! Ach, er muß ja bald kommen, damit der Glaube nicht völlig unterginge!
Das Herz der jungen Maria ist heute so besonders weit und sehnsuchtsvoll, sie muß es vor ihrem Gott ausschütten. Sie faltet die Hände und bewegt die Lippen und redet mit ihrem Gott, wie die Kinder mit ihrem Vater reden, von dem sie Hilfe erhoffen.
Und da kommt der Augenblick, in dem Maria, dies schlichte Bürgerkind aus dem unansehnlichen Landstädtchen, die größte Botschaft erhält, die je einem sterblichen Menschenkinde geworden ist, und das Größte erlebt, was je ein Mensch erlebt hat.
Wie mag es gewesen sein? . . . Wir können uns wohl denken, daß sie innerlich die feste Zusicherung erhalten hat, daß ihr Gebet erhört sei, ein seliges Antwortfinden, wie es je und dann dem Beter wird. Und dann merkt sie, daß sie auch äußerlich nicht allein ist. Eine Stimme klingt an ihr Ohr. Sie hebt den Kopf. Ein Mann steht vor ihr. Er redet zu ihr. Die Worte, die er spricht, lassen sie bis ins tiefste Herz erschauern. „Du Hochbegnadete” nennt er sie. „Der Herr ist mit dir, du Gebenedeite unter den Weibern.” Wie soll sie da nicht erschrecken und sich erstaunt fragen, was dieser seltsame Gruß wohl zu bedeuten habe (Luk.1,29). Und nun darf sie als erste aller Menschen auf Erden die unfaßbar große Botschaft hören von dem König, der kommen soll, um ein Königreich, das in alle Ewigkeit kein Ende haben wird, aufzurichten. Und sie soll selbst die Mutter dieses Königs werden, soll ihn unter dem Herzen tragen und ihm das Leben geben.
Da hat der Gottesbote ihr freilich zuerst sein „Fürchte dich nicht!” zurufen müssen. Wie soll man sich nicht fürchten, wo sündige sterbliche Menschen mit dem heiligen ewigen Gott in unmittelbare Berührung kommen!
Und doch, Maria fürchtet sich nicht. Sie kennt die wunderbaren Geschichten, wie Gott an entscheidenden Wendepunkten auf dem Wege seines Volkes seine Engel gesandt hat. Sie ahnt, daß solch ein Gottesbote vor ihr steht. Aber sie empfindet als Weib, das weiß, daß nach Gottes Ordnung ein Kind nur aus der Verbindung mit dem Manne geboren werden kann. Und anscheinend liegt die Heirat mit Joseph, der vielleicht nur vorübergehend Arbeit in Nazareth gefunden hat, noch in weiterer Ferne. So stellt sie die in diesem Falle naheliegende Frage: „Wie soll das zugehen? Ich habe ja noch keinen Ehegatten.”
Und nun hört sie das wunderbare, für Menschengedanken unergründliche und unausschöpfbare Geheimnis. „Heiliger Geist wird über dich kommen, und des Höchsten Kraft wird dich überschatten. Darum soll auch das heilige Kind Sohn Gottes heißen …“ (Lukas 1, 34).
Gott will eine Ausnahme seiner Ordnung machen. Ganz unmittelbar durch sein schöpferisches Eingreifen will er das Leben des Kindes wirken … Als sein Sohn, als Träger seines Geistes soll es geboren werden. Und dann erhält Marias Glaube eine Stütze. Drüben auf dem Gebirge Juda bei der Verwandten Elisabeth, schlummert ein Kindlein dem Leben entgegen, dessen Dasein auch durch ein Wunder Gottes gewirkt ist. „Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich…” So berichtet der Gottesbote.
Und Maria? … „Es ward eine Stille von einer halben Stunde…”, heißt es in der Offenbarung Johannes, als Gott sich zu neuem großem Tun rüstet. Die ganze Schöpfung im Himmel und auf Erden hält einen Augenblick den Atem an. Hat solch eine Stille nicht auch hier geherrscht, wo ein Mensch sich ganz hingeben soll Gott zum Gefäß, damit er seinen Erlösungsplan ausführen kann!
Was wird geschehen? … Wird er das Ja hören, das die Tür für sein Wirken öffnet? … Gott vergewaltigt niemand. Wo der Mensch sich ihm weigert, da geht er vorüber und kann seine Taten nicht tun und seine Liebe nicht geben.
Gott wartet auf Marias Antwort. Und sie gibt Antwort:
„Siehe, ich bin des Herrn Magd. Mir geschehe, wie du willst …”
Noch nie, bei keinem seiner Werkzeuge, weder bei einem Abraham noch bei einem Moses, weder bei einem Jesajas noch bei einem Jeremias hat Gott ein so bedingungsloses, gehorsames, demütiges, freudiges Ja gehört, wie hier von dieser schlichten Tochter Nazareths . . .
Du, liebe Maria — weißt du auch, daß du das größte Ja gesprochen hast, das je über Menschenlippen gekommen ist ? . . . Weißt du auch, daß dein Ja Gott den Weg zur Erlösung der Welt bereitet hat? . . .
Aber, weißt du auch, was dies Ja alles in sich schließt? Weißt du, daß Leiden und Schmerzen dein Teil sein werden? Weißt du, daß du damit schon manches von der Schmach und der Bitternis auf dich nimmst, die später deinen heiligen Sohn treffen werden ? . . .
Ganz erfaßt hat dies Maria in jener Stunde wohl kaum. Aber sie war bereit, sich von Gott führen und Gott handeln zu lassen, bedingungslos bereit. So ist sie ihren Weg von Tag zu Tage gegangen und hat auch nur eines Tages Last tragen müssen, die doch längst nicht an jeden Tages Freude und Seligkeit in ihrem Mutterdienst herangereicht hat.
„Und es ward eine Stille bei einer halben Stunde.” Auch Maria ist diese Zeit der Stille geworden, ein seliges Durchleben der geschenkten Gnade, ehe sie die Schwere der Last spüren sollte.
Zwei Mütter
Frühling über dem Heiligen Lande! Der Frühregen vom Himmel über die durstende Erde gefallen, und aus der Wüste wird ein Garten Gottes. Überall bricht neues Leben hervor. Das Land hat seinen Sonntag und leuchtet in seinem Festgewand. Es ist die Zeit, von der das Hohelied jubelt: „Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen und die Turteltaube läßt sich hören in unserem Lande.” In purpurner Glut leuchten die roten Anemonen, „die Lilien auf dem Felde”, ein lachender Samtteppich von traumhafter Schöne … Es ist Frühling im Heiligen Lande, ein Stücklein Paradies auf Erden …
Durch diese Frühlingspracht schreitet eine junge Frau. In ihrem Leben ist es auch Frühling, ein Frühling voll so lichter, froher, großer Hoffnung, wie sie noch nie ein Menschenherz erfüllt hat. Sie wird vom ersten seligen Mutterahnen bewegt. Kein Mensch auf Erden weiß um dies Ahnen. Es ist ein heiliges Geheimnis zwischen ihr und ihrem Gott. Kaum wagen ihre Gedanken daran zu rühren, so groß und heilig ist dies Geheimnis. Aber ihr ganzes Wesen wird getragen, gehoben, durchsonnt, durchleuchtet von diesem aus der Ewigkeit stammenden und in die Ewigkeit mündenden wunderbaren Geheimnis.
Trotz des weiten Weges schreitet sie leichtfüßig dahin. Ein großes Verlangen treibt sie. Auf der weiten Erde gibt es eine einzige Frau, mit der sie von ihrem Geheimnis reden darf. Zu ihr zieht es sie. Ihrem mütterlichen Herzen darf sie sich anvertrauen. Und so wandert sie und wandert über Höhen und durch Täler, vorbei an murmelnden Quellen und tiefen, stillen Brunnen, wandert durch Blumenwiesen und ödes Felsgeröll, durch schattige Haine und unter der glutheißen Sonne. Das Herz geschwellt und gehoben von großer seliger Freude, spürt sie keine Müdigkeit, keine Erschlaffung.
Endlich nach drei Tagen winkt ihr Ziel. In der Ferne schimmern die weißen Mauern des Hauses des Priesters Zacharias. Bald tritt sie durch die in morgenländischer Gastfreiheit stets offene Tür. Drinnen im Hause waltet Elisabeth, die Frau des Priesters, ihres Hausmutteramtes. Die junge Reisende ruft ihr ein Grußwort zu. Elisabeth sieht sich um. Im Halbdunkel des fensterlosen Raumes erkennt sie die junge Verwandte. Ein heiliger Schauer überkommt Elisabeth. Das Kind der Verheißung unter ihrem Herzen regt sich. Der Mutter ist, als wären es Zeichen der Freude, die das Kindlein von sich gibt. Ihr ist, als würde ein Schleier von ihrem Auge fortgezogen. Sie sieht vor sich nicht mehr ihre schlichte, junge Verwandte aus dem fernen Nazareth. Mit Prophetenblick sieht sie Gottes Hand über ihr. Hier ist die, die Gott vor anderen Frauen erwählet hat, das Gefäß seiner Gnade, die Mutter seines Sohnes zu werden. Hier ist die, die ein gehorsames, gläubiges Ja zu Gottes Heilsabsicht gesprochen hat, und an der Gott sein Werk vollenden wird. Und so sind es auch Prophetenworte, die über Elisabeths Lippen kommen:
„Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist das Kindlein in deinem Schoß. Und woher kommt mir das, daß die Mutter meines Herrn zu mir kommt? … O selig bist du, die du geglaubt hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn” (Luk. 1, 42-55).
Und Maria, die junge Reisende, die hier mit einem so hohen Gruße empfangen wird? Oh, ihr mag es merkwürdig zumute gewesen sein… und doch so selig!… Zu hellem Feuer lodert ihr Glaubensflämmchen empor. Gott selbst hat ihr heiliges Geheimnis der mütterlichen Freundin offenbart. Gott selbst hat unter ihren Glauben das Siegel gesetzt.
Und nun bricht es aus ihrem Herzen hervor das herrliche Lied zum Lob ihres Gottes, der so große und herrliche Dinge an ihr, der geringen Magd, getan hat, das Lied, das seitdem ein Kleinod der Christenheit geblieben ist.
Die schlichte Tochter aus Nazareth ist zur gottbegnadeten Dichterin geworden. Was sie vom Hoffen und Glauben der Väter und Mütter des Alten Bundes gehört und gelernt hat, das ist ihr Eigentum geworden, und das strömt jetzt, wo sie selbst in die Reihe derer gestellt ist, an denen Gott seine Wunder getan hat, als neues Lied über ihre Lippen.
So hat der Besuch Marias bei Elisabeth begonnen. Was werden das für selige drei Monate gewesen sein, die die beiden begnadeten Frauen miteinander verbracht haben! Gemeinsames Freuen und gemeinsames Hoffen, gemeinsames Glauben und gemeinsames Forschen in Gottes Verheißungen; Gemeinschaft zweier Mütter im tiefsten heiligsten Sinne; Wochen der Stärkung und Erquickung beim Beginn ihres heiligen Weges …
Und unser lieber Luther wird wohl auch recht haben, wenn er uns anschaulich schildert, wie Maria der Freundin im Hause behilflich gewesen ist und ihr auch Handreichung bei der ersten Pflege ihres Kindleins getan hat, wie sie das „liebe Täuferlein” gebadet und gewickelt hat, seine Windeln gewaschen und andere Dienste getan. So ist ihr der Besuch bei Elisabeth auch zur Mutterschule im Pflegen und Warten ihres eigenen heiligen Kindes geworden.
Die Entscheidung
Maria ist wieder in Nazareth. Sie geht ernsten Entscheidungen entgegen. Ein schwerer Weg liegt vor ihr. Da ist Joseph, der Mann, dem sie verlobt ist, unlöslich an ihn durch ihr Wort nach dem Gesetz gebunden. Er hat einen Anspruch auf sie. Sie soll nun seine Ehefrau werden. Und doch ist das Kind, das sie unter dem Herzen trägt, nicht sein Kind. Was wird er denken? . . .
Ja, Maria, ist es dir auch klar, welch einen ernsten Weg du gehst? …. Wie mag es dir zumute gewesen sein?… Ob du gebebt und gebangt hast, als die Auseinandersetzung mit deinem Verlobten vor dir lag? Ach, nein, das würde nicht zu deinem Wesen passen!… „O selig bist du, die du geglaubt hast”, so hat Elisabeth dich gegrüßt. Glauben, restloses, uneingeschränktes, kindliches Vertrauen in deinen Gott und sein Wort ist ja der Grundzug deines Wesens. Und so bist du dann gewiß auch in diesen entscheidungsreichen Tagen auf der Seite deines Gottes gestanden, und hast es gewußt, daß er Mittel und Wege hat, Joseph dein heiliges Geheimnis zu offenbaren, auch wenn du selbst davon schweigen mußt (Matth.1,19).
Gott redet mit Joseph. Nicht bei wachen Sinnen, wie Maria, empfängt er seine Offenbarung. In der Dämmerung des Traumes tut Gottes Bote ihm das heilige Geheimnis vom Ursprung des Kindleins seiner Maria kund. Und auch der Name und der Beruf des Kindes wird Joseph genannt. Jesus, Heiland, Retter! Wie hell mag in Josephs Herzen das Echo geklungen haben, als er das wunderbare Wort gehört hat: „Denn er wird sein Volk selig machen von ihren Sünden.”
Joseph fällt das Glauben nicht schwer. Gott hat es gewußt, warum er gerade diesem Manne die heilige Aufgabe übertragen hat, der Pfleger seines Sohnes zu werden und vor den Menschen als sein Vater zu gelten. Auch Joseph lebt in den Verheißungen seines Volkes. Er kennt das Jesajaswort von der Jungfrau, die den „Immanuel”, den „Gott mit uns” gebären soll. Er ahnt, daß die Zeit da ist, wo Gott sein Wort endlich einlösen will. Und nun ist ihm selbst solch eine wunderliebliche Aufgabe in diesem heiligen Geschehen zugewiesen! Was mag das für ein seliges Erwachen des Davidsohnes Joseph nach all dem Bangen und Sorgen und Fragen der letzten Tage gewesen sein? Wie mag’s durch Josephs Herzen so ähnlich wie durch das der Elisabeth geklungen haben: „Woher kommt es mir, daß ich die Mutter meines Heilandes in mein Haus aufnehmen und Vaterdienst an ihm tun darf.”
Wie wird er sein Haus geschmückt und gerüstet haben, um unter aller Armut ein würdiges Plätzchen für Maria zu bereiten! Und was werden das dann für Monate seliger Erwartung gewesen sein, als die beiden eng verbundenen Menschen sich auf die Stunde rüsteten, wo das heilige Kind ins Leben treten sollte! Wie wird Joseph Maria mit zarter Rücksicht und männlich schirmender Ritterlichkeit begegnet sein! Und wie wird Maria voll Dankes gewesen sein für den Schutz und die Stütze, die sie bei dem treuen Manne gefunden hatte. Ganz gewiß ist es nicht von ungefähr, daß Gott seinen Sohn, wenn auch nicht durch Mitwirkung des Mannes, so doch im gesegneten Kreise der innigen Gemeinschaft zwischen Mann und Frau hat werden und aufwachsen lassen. Eine heilige Harmonie ist so schon im Mutterleibe seinem Wesen aufgeprägt worden, und die Familiengemeinschaft hat ein göttliches Siegel erhalten.
Was auch die Engel gelüstete zu schauen
Zwischen Himmel und Erde weihnachtet es. Bethlehem, die liebliche Davidsstadt auf dem Berge, die auch durch Gottes Verheißung hoch erhoben ist, birgt das wunderselige Geheimnis, das seit Monaten still verborgen im Mutterschoß ruht. In einer bescheidenen Herberge hat das liebwerte Paar aus Nazareth ein Unterkommen gefunden. Hier sieht es wartend und glaubend der Stunde entgegen, über der die für alle Ewigkeit bedeutsame Überschrift steht: „Da die Zeit erfüllet ward !”
Wie sind Maria und Joseph aus Nazareth nach Bethlehem gekommen ? …
„Dein Plan ist fertig schon und liegt bereit …”
So singt die deutsche Christenheit, und so ist es auch hier gewesen. Der mächtige römische Kaiser Augustus, der Beherrscher des größten Teiles der bekannten Erde, hat diesem Plan dienstbar sein müssen. Den Vermögensstand seiner Untertanen wollte er aufnehmen lassen, um die Finanzen seines Reiches in Ordnung zu bringen. Gottes Verheißung, daß der erwartete Retter in Bethlehem geboren werden soll, muß er mithelfen zu erfüllen.
Joseph muß nach Bethlehem, seiner Heimatstadt, ziehen, um sein Vermögen einschätzen zu lassen. Es wird wenig genug gewesen sein, vielleicht noch ein Äckerlein als Erbteil der Väter vor den Toren der Stadt. Sicher hat er an eine dauernde Heimkehr nach Bethlehem gedacht; denn sonst hätte Maria, für die die dreitägige Reise nun nicht mehr so mühelos war, wie vor einigen Monaten, ihn kaum begleitet. Aber wie gering ist Menschenmacht! Nicht einmal ein trauliches irdisches Heim kann Joseph ihr bieten. „Kein Raum in der Herberge”, so steht es über dem Einzug des heiligen Paares in die Davidsstadt. Vielleicht ist es ein Verwandtenhaus, wo es schließlich ein notdürftiges Unterkommen findet. Die Strohmatte in einer Ecke des einzigen dunklen Baumes des Hauses, wo neben mehreren Familien auch die Haustiere einen Unterschlupf beim Regen finden, eine grobe Kamelhaardecke darüber, das mag Marias Lagerstätte gewesen sein. Und das Kripplein, das bereitstand, um dem Vieh sein Futter darin zu streuen, das hat sie, wie so manche Mutter im Morgenland, als erstes Bettchen für ihr erwartetes Kindlein eingerichtet.
Und die ernst-heilige Stunde ist da. Ist es nicht, als hielten Himmel und Erde den Atem an, wo das Unfaßbare, Unbegreifliche, überwältigend Große geschieht, und der, der Quell und Ursprung aller Dinge ist, – der vor allem ist, und durch den alles geschaffen ist und besteht (Kol.1,16), als kleines Kindlein seinen ersten Schrei tut; wo er wie jedes andere Kind gewaschen, in Windeln gewickelt und seiner Mutter in den Arm gelegt wird.
O Maria! Du glückselige Mutter! Wie haben deine Augen geleuchtet, als sie zuerst auf dem Kinde ruhen durften! Wie ist deine junge herrlich erblühte Mutterliebe anbetend durchschauert von dem hehren Geheimnis um dieses Kind! Wie hat aber auch dein Glauben aufs neue seine Echtheit bewährt, als dein Kind genau so kümmerlich und hilflos, wie das Menschenschicksal ist, zur Welt gekommen ist! O du Mutter über alle Mütter, wie können wir von dir das Glauben ohne zu schauen lernen!
Doch wieder hat Gott, wie einst beim Gruß der Elisabeth, eine Stärkung ihres Glaubens bereit …
Ja, Himmel und Erde haben einen Augenblick den Atem angehalten, aber dann ist das Jauchzen und Jubeln im Himmel, das Singen und Lobpreisen der Liebe Gottes hervorgebrochen als ein brausendes Meer, als ein Schwingen und Klingen und Wogen aller Töne im Himmel.
Bis zur Erde hernieder sind die himmlischen Lobpsalmen geklungen, und hat das himmlische Licht geleuchtet. Die, denen Gott das Auge und das Ohr dafür geöffnet hat, die haben das himmlische Licht geschaut und die himmlischen Töne vernommen.
„Und es waren Hirten in der selbigen Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herden”, erzählt uns der alte Bericht. Und auch diese Hirten gehörten wie Maria und Joseph zu den Wartenden, Lauschenden. Darum dürfen sie hören und schauen, was Himmel und Erde in dieser Nacht bewegt.
„Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.
Und der Engel sprach zu ihnen:
Fürchtet euch nicht; siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.
Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: ,Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.
So klang es vom Himmel zur Erde. Und so klingt es noch heute und in alle Ewigkeit. So klang es aber auch in den Herzen der Hirten wider. „Christ, der Retter, ist da!” Was bedeutet diese Botschaft für Leute, die unter Zwang und Not und Bedrückung leben; die gewartet und gehofft haben auf diesen Retter!
Es duldet sie nicht mehr in ihrem Tal, dem „Hirtenfelde” bei Bethlehem. Sie müssen hinauf zur Stadt, um das Wunder mit eigenen Augen zu schauen, und es tief hinein in ihr Herz zu prägen.
„Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegen.”
Was wird das für ein frohes Hinansteigen den steilen Pfad, der nach Bethlehem hinaufführt, gewesen sein, und was für ein glückseliges Finden und Berichten!
Und Maria ? … Still lauscht sie der Erzählung der Hirten. Aber ihr Herz redet. Es wird von starker, tiefer, dankbarer Freude bewegt. Wieder ist es wie eine Unterschrift Gottes unter all ihr Glauben und Hoffen.
Die Hirten gehen hin zu Freunden und Bekannten und werden als erste Weihnachtsprediger nicht müde, von dem zu reden, was sie gesehen und gehört haben.
Maria aber verschließt ihr seliges Geheimnis tief in ihr Herz und bewegt es dort sinnend und betend, glaubend und hoffend.
Unter das Gesetz getan
Wenn ein Kind seinen Weg durch diese Welt antritt, dann ist der Name, den das Kind tragen soll, für die Eltern eine ernste Frage. Das ist eine Mitgift, die es von ihnen ins Leben mitbekommt, ein Zeichen, das von allen Menschen unterscheidet, das erste Merkmal seiner Persönlichkeit. Es ist eine wichtige Aufgabe der Eltern, den Namen zu wählen, der auch „im Himmel angeschrieben werden” soll.
Maria und Joseph waren dieser Aufgabe überhoben. Sie beide wußten, welchen Namen das Kind tragen sollte. Sie beide bewahrten ihn als heiliges Geheimnis im Herzen.
Was wird das für eine wundersame Entdeckung gewesen sein, als sie beide zuerst miteinander von diesem Geheimnis geredet haben! Gewiß hat Joseph als erster von jener wunderbaren Traumnacht gesprochen, während Maria alles heilige Erleben in keuscher Scheu tief innen im Herzen verschlossen hat. Und da hat er denn auch den Namen Jesu genannt, den er vom Engel empfangen hatte. Was für ein helles Leuchten wird da in Marias Augen getreten sein! Wie wird sie ihren Mann glückselig angeschaut haben,- um ihm dann ins Ohr zu flüstern, daß auch ihr dieser Name vom Boten Gottes genannt worden sei. Wie ist das wieder eine kostbare Stärkung ihres Glaubens gewesen!.-.. Gott hat von Maria viel Glauben, mehr als von jedem anderen Menschen verlangt. Aber er hat auch immer wieder Mittel und Wege gehabt, um diesen Glauben zu stärken und zu stützen.
*
Acht Tage ist das Kindlein alt, und der Tag der Namengebung ist herangekommen. Sie ist verbunden mit dem Empfang, des alttestamentlichen Bundeszeichens und der Aufnahme in die Gemeinschaft des Volkes des Alten Bundes. Muß denn der, der Gottes Sohn ist, sich auch unter das Gesetz stellen, das doch durch ihn seine Kraft verlieren sollte?
Er tut es. Er ist gekommen, um ganz und vollkommen und für alle Zeiten das Gesetz zu erfüllen und es damit ein. für allemal aus dem Verhältnis zwischen Gott und Menschen fortzuschaffen. So handeln seine Eltern nach Gottes Willen, als sie die Gesetzesvorschrift am heiligen Kinde vollziehen.
Die ersten Schmerzen, die es erduldet, wie mögen die seiner Mutter ins Herz geschnitten haben, die es doch wohl geahnt hat, daß an diesem Kinde nichts Unreines sei, das weggetan werden müsse. Aber als dann der Name Jesus über ihm genannt wird, da ist es wie ein Sinnbild und Wahrzeichen, daß dieser Retter nichts um seinetwillen erduldet, sondern alles für die, die zu retten er gekommen ist.
Und noch einmal greift das Getz in das Leben des Kindes und seiner Mutter ein. 40 Tage nach der Geburt eines Sohnes mußte die Mutter sich verborgen halten und dann zu ihrer Reinigung ein Opfer darbringen. Ist es ein erstgeborener Sohn, mußte er zugleich im Tempel dargestellt werden, als einer, der durch seine Erstgeburt zum Dienste Gottes berufen ist.
So wandern denn Maria und Joseph nach Jerusalem. Maria trägt ihr Kind sorgsam behütet im Arm, und Joseph stützt sie auf dem oft steilen und mühsamen Wege. Nach einigen Stunden sind sie am Ziel. Sie durchwandern die Straßen Jerusalems und stehen vor dem Tempel. „Welche Steine und welch ein Bau ist das!” so sagten die Jünger später zu ihrem Herrn, und so mag auch Maria staunend gedacht haben. Um 9 Uhr werden die silbernen Trompeten geblasen; die prächtigen Tore werden geöffnet, und Maria und Joseph können mit der Schar der Andächtigen die hehren Säulenhallen betreten. Sie durchwandern den äußersten ungedeckten Hof, den Vorhof der Heiden, steigen zwölf breite Marmorstufen hinauf und kommen durch die geöffnete „Schöne Tür” in den Vorhof der Frauen. Hier übergibt Joseph das vom Gesetz vorgeschriebene Opfer, ein Paar junge Täubchen, dem Priester. Der schlachtet die Tiere und sprengt ein paar Tropfen des Blutes auf Marias Gewand.
Dann reicht sie Joseph das Kind; Der steigt eine zweite breite Marmortreppe mit ihm hinauf und tritt durch das reichgeschmückte Nikanortor in den Vorhof der Priester.
Hierhin darf ihm Maria nicht folgen. Zum ersten Mal muß sie sich von ihrem Kinde trennen und darf nur von weitem zuschauen, wie der Priester seine Hand auf das Haupt des Kindes legt und den Segen Moses darüber spricht. Wie wenig ahnte jener Priester, was das für ein Kind war, auf dessen Köpfchen seine Hand ruhte. Das äußere Amt kann ihm diese Erkenntnis nicht geben. Dies Kind kann nur erkennen, wem Gottes Heiliger Geist die Augen geöffnet hat.
Doch einer ist da, der hat diese geöffneten Augen.
Joseph hat das Kind wieder unten im Frauenvorhof seiner Mutter auf den Arm gelegt. Wie wird sie ihr Kindlein an sich gezogen und geherzt und zum Priestersegen die mütterliche Fürbitte getan haben!
Da tritt ein alter Mann auf sie zu. Es ist der alte fromme Simeon. Unendliche Güte liegt auf seinem Gesicht, und stille Freude leuchtet in seinen Augen. Er streckt die Hände nach dem Kinde aus, und Maria legt es ihm ohne Bedenken in die Arme. Sie fühlt, hier ist einer, der hat einen Segen zu vergeben, der höher als der des Priesters ist. Simeon handelt aus innerer Vollmacht, getrieben und geleitet vom Heiligen Geiste.
Und nun spricht der liebe Alte die wundervollen unvergeßlichen Worte, die bis zur Stunde ihrer Erfüllung in Marias Herz nachklingen:
Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden heimgehen, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast, vor allen Völkern, ein Licht zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volkes Israel“ (Lukas 2, 29-32).
Maria und Joseph horchen auf. Welch wunderbare Worte! Und wie deutlich ist es zu spüren, daß der alte Simeon nicht auf eigenen Antrieb, sondern als Prophet geredet hat. Ist es auszudenken und zu fassen: Nicht nur seinem eigenen Volke sollte das Knäblein dienen, sondern ein Licht für alle Völker soll es sein. Davon hat nicht einmal der Engel gesprochen. Immer größer wird Gottes Gnade, die auf diesem Kinde ruht, immer umfassender der Auftrag, den es einst erhalten soll!
Ja, da können die Eltern nicht anders, als sich verwundern und staunend stille werden vor Gottes Barmherzigkeit mit diesem Kindlein. Es gibt zweierlei Verwundern. Eines, das aus dem Unglauben kommt und spricht: „Wie sollte das möglich sein!” Und eines aus dem Glauben, das anbetend Gottes Tun bewundert. „Das ist des Glaubens eigentliche Art; je fester einer ein Ding glaubt, daß es Gottes Wort sei, je mehr er sich’s verwundert und fröhlich wird”, sagt Luther. Von dieser Art war das Verwundern der so hoch begnadeten Eltern, denen der alte Simeon nun auch seine segnenden Hände aufs Haupt legt.
Aber sein Auftrag geht noch weiter. Er hat die Mutter auf den Weg, den sie wird gehen müssen, vorzubereiten.
Je größer die Aufgabe eines Mannes ist, desto mehr muss seine Mutter auf ihn verzichten. Der Mann, der seinem ganzen Volke gehört, hat keine Zeit für die stillen Freuden, die das Zusammenleben mit geliebten Menschen mit sich bringt. Wie erst, wenn sein Dienst allen Völkern, ja der ganzen Welt gilt! … Da ist es nicht anders möglich, als daß dieser Weg bitteren Verzicht und schweres Opfer für seine Mutter bedeutet.
„Ein Schwert wird durch deine Seele dringen”, sagt Simeon. Ein Ahnen geht in Marias Herzen auf von dem Sterbensweg, den es für sie wird zu gehen heißen. Sie kennt die Verheißungen, die Gott seinem Volk von dem kommenden Retter gegeben hat. Wird das Wort vom „Licht der Heiden” durch ihr Kind erfüllt, so gewiß auch das andere, vom Recht des Herrn, der um die Missetat seines Volkes geplagt wird« (Jesaja 53).
Wie tief werden die Worte des alten Mannes sich im Herzen der Mutter eingegraben haben, und wie mögen sie ihr geholfen haben, nicht irre zu werden, als die Ahnung vom schweren Mutterwege Wirklichkeit wurde!…
Diese Weihestunde im Tempel hatte noch einen lieblichen Abschluß. Zur Gruppe im Frauenvorhof tritt ein uraltes Mütterlein. Jeder Tempelbesucher kennt sie. Es ist die alte Hanna, die Hundertjährige, die in den heiligen Hallen des Tempels daheim ist. Jede Stunde ihres einsamen Witwenlebens hat sie dem Dienste ihres Gottes geweiht. Für die anbetenden Gläubigen im Tempel ist sie die Verkörperung eines heiligen Lebens vor Gottes Angesicht.
Auch dieser alten Mutter sind die Augen dafür geöffnet, was das für ein Kind ist, das Simeon auf seinen Armen hat. Ihr Herz und ihre Lippen wallen über vor Freude und Dank, als sie das Kindlein sieht. Auch sie weiß es; die Zeit ist nun erfüllet; Gott hat sein Wort wahrgemacht.
Mit seligem Herzen hört die junge Mutter, was die alte über ihr Kind sagt. Die Freude der alten Hanna und die Botschaft, die ihr aufgetragen ist, ist so groß, sie muß davon auch denen berichten, die mit ihr auf die Erfüllung von Gottes Verheißungen warten. Die Hundertjährige wird die erste Botin von Gottes Gnade durch dieses Kind.
Die Gäste aus dem Morgenland
Was ist das für eine Unruhe in Bethlehem? Die ganze Stadt ist in Erregung. Auf der Straße von Jerusalem her sind fremde Gäste angekommen, eine ganze Karawane. Es scheinen vornehme Leute zu sein. Sie tragen die Tracht der Magier, der sternkundigen Gelehrten aus dem fernen Morgenlande. So etwas hat man in Bethlehem noch nie gesehen. Ja, in Jerusalem, der königlichen Stadt, dort gehen die Fremden aus und ein! Aber was mögen sie doch hier im unansehnlichen Bethlehem suchen?
Es dunkelt bereits. Ein Stern nach dem anderen leuchtet am blauschwarzen Nachthimmel auf; einer heller und glänzender als der andere. Und da ist auch wieder der wunderbare Stern, der seit Monaten am Himmel steht und mit seinem Glanze das Licht der anderen verdunkelt. Den Leuten von Bethlehem hat es oft scheinen wollen, als stünde er unmittelbar über ihrer Stadt und sendete seine Strahlen geradewegs zu ihnen herunter. Und wie sonderbar, die fremden Gäste schauen immer zum Stern hinauf, als könnte der ihnen ihr Ziel zeigen.
In einer der winkeligen Straßen machen sie halt. Neugierig schaut dieser und jener Bethlehemite zu, was sie dort wohl suchen. Die Fremden treten durch die niedrige Tür in eines der Häuser. Dort wohnt Joseph aus der Davidsfamilie, der lange in Nazareth auf Arbeit war und sich von dort sein junges Weib, die liebliche Maria, geholt hat. Es gehen seltsame Gerüchte um das Kind um, das Maria bald nach ihrer Ankunft in Bethlehem geboren hat. Die Hirten wollen eine himmlische Botschaft gehört und Engelsgesang vernommen haben, und was dergleichen Dinge mehr sind. Die wenigsten Leute haben das Kind gesehen. Maria mischt sich nie mit ihm unter die Leute und hütet es wie ihren Augapfel. Und nun kehren die Fremden dort ein. Am Ende ist doch noch etwas Wahres an den Hirtenmärchen!
So oder ähnlich reden die Leute von Bethlehem. Die Fremden berührt das nicht weiter. Durch Wochen haben sie die mühsame Reise durch die heiße Wüste und über hohe Gebirgspässe gemacht, um das Kind zu grüßen, dessen Geburtsstern so wunderbar hell im Morgenlande geleuchtet hat, und nun haben sie es endlich gefunden. Der Mißerfolg in Jerusalem, wo man am Königshof keine Ahnung von der Geburt dieses Kindes gehabt, hat sie nicht irregemacht. Und auch das ärmliche Handwerkerhaus macht sie nicht irre. Ihr Stern, der Stern des Kindes, hat sie geführt. Ihre Augen sind wie Simeons und Hannas für die Herrlichkeit dieses Kindes geöffnet, das sie drinnen in der dunklen Stube, die durch ein qualmendes Öllämpchen notdürftig erhellt wird, auf seiner Mutter Schoß finden. Sie schauen auf das göttliche Kind; sie schauen auf seine junge, liebreizende Mutter, und ihr Glaube sieht mehr als ihr Auge.” Sie fragen nicht nach dem Staub auf dem unebenen Fußboden aus festgestampfter Erde, sie fragen nicht nach ihrem hohen Rang und ihrer Würde. Sie fallen vor dem Kinde nieder und huldigen ihm, wie man seinem Könige huldigt (Matth. 2,11).
Dann winken sie ihren Dienern. Die bringen einen Behälter herbei, in dem man im Morgenlande seine Schätze aufhebt. Die Fremden entnehmen dem Gefäß kostbares Gold und die edlen Spezereien, Weihrauch und Myrrhe. Still ist alles vor sich gegangen. Die Gäste reden eine fremde Sprache. Maria hat wohl kaum ein Wort mit ihnen wechseln können. Aber wie laut hat dies wunderbare Geschehen zu ihrem Herzen gesprochen. Was der alte Simeon im Tempel geweissagt hat, das beginnt bereits, sich zu erfüllen: Die Heiden kommen und fragen nach ihm, und der Mutter Herz bebt in tiefer, stiller Freude über Gottes Gnade mit ihrem Kind.
*
Dem frohen Abend folgt eine ernste Nacht. Sie bringt einen tiefen Einschnitt in das Leben des Kindes und seiner Eltern. Zum ersten Mal greift das Reich der Finsternis nach dem Kinde. Sein Beherrscher weiß, daß hier der heranwächst, der gekommen ist, den Kampf mit ihm aufzunehmen, und der ihn besiegen wird. Er weiß, daß er wenig Zeit hat. Schon beginnt sich eine Gemeinde um dieses Kind zu sammeln. Schon dringt die Kunde von ihm in die Heidenwelt hinaus.
Und der Fürst der Finsternis findet seine Handlanger immer und überall, wo er nur irgend seine teuflischen Gedanken ausführen will.
Drüben in Jerusalem brütet der blutige König Herodes finstere Pläne. Durch die morgenländischen Weisen hat er von dem Kinde, dem „neugeborenen König der Juden”, gehört. Er fühlt seinen Thron unter sich wanken. Unter der lügnerischen Vorspiegelung, daß auch er dem Davidssohn huldigen wolle, hofft er von den Weisen den Aufenthaltsort des Kindes zu erfahren. Dann ist das Schicksal des Kindes besiegelt. Was bedeutet für Herodes, dessen Hände vom Blute triefen, der Mord eines Kindes.
Aber „der im Himmel wohnt lacht ihrer und der Herr spottet ihrer”. So heißt es im 2. Psalm, und so geschieht es auch jetzt. Sowohl die Weisen wie auch Joseph erhalten in der Nacht eine göttliche Weisung. Still und geheim sollen die einen wieder in ihr Land ziehen, ohne Jerusalem zu berühren. Still und geheim soll Joseph sich mit dem Kinde und seiner Mutter nach Ägypten aufmachen, um dem Machtbereich des Tyrannen zu entkommen.
Das mag ein Erschrecken für Maria gewesen sein, als Joseph sie in der Nacht geweckt hat und ihr von der Gefahr erzählt, die dem Kinde droht. In Eile sind die wenigen Habseligkeiten, die mitgenommen werden müssen, gerüstet. Maria hat das schlafende Kind in warme Tücher gehüllt, um es vor der Kühle der Nacht zu schützen. Ehe die erste bläuliche Dämmerung im Osten erscheint, sind die beiden Menschen, die den kostbarsten Schatz im Himmel und auf Erden zu hüten haben, schon mehrere Stunden auf den steilen Pfaden des Gebirges Juda nach Südwesten gewandert.
Der Weg ist ihnen, die in der Geschichte Gottes mit ihrem Volk zu Hause sind, nicht fremd. Sie wissen es, wie die Väter immer wieder in Ägypten Zuflucht gesucht haben, wenn irgendeine Not sie bedrohte, und Gott hat sie auf ihrem Wege beschirmt. Unter seiner Führung und seinem Schutz weiß Maria auch sich und ihr Kind geborgen, wo es jetzt in eine unruhige und ungewisse Zukunft geht. Und wie freundlich hat Gott dafür gesorgt, daß sein Sohn nicht Not zu leiden braucht. Die Geschenke der Gäste aus dem Morgenland sind eine wunderbare Hilfe auf der Reise und für die erste Zeit im fremden Lande, bis Joseph Arbeit findet.
Es ist wohl kaum dazu gekommen. Der Aufenthalt in Ägypten, vielleicht in Memphis mit seiner großen jüdischen Kolonie, war nur kurz. Herodes starb unter furchtbaren Qualen, als das Kind kaum ein Jahr alt war. Wieder erhält Joseph im Traumgesicht eine göttliche Weisung, nun heimzuziehen, da der Verfolger des Kindes tot ist. Gott ruft sein Kind heim aus Ägypten in sein irdisches Vaterland. Für seine Eltern ist das ein Anlaß, eines Verheißungswortes im Propheten Hosea zu gedenken, das von diesem Heimruf an Israel spricht. Was das Volk erlebt hat, das erlebt nun auch der, der sein Retter werden soll (Matth.2,12). Für Maria ist auch dieses Wort ein Halt und eine Stütze ihres Glaubens.
Und ihr Glaube braucht diesen Halt. Bei der Heimkehr ins Vaterland erwartet sie eine erschütternde Nachricht. Von all den Knäblein, die in den letzten zwei Jahren in Bethlehem geboren sind, lebt kein einziges mehr! Sie alle sind der Wut und der Angst des Herodes vor dem neugeborenen König der Juden zum Opfer gefallen! Wie mag Maria mit so mancher Mutter in Bethlehem über ihre Mutterfreude sich ausgetauscht haben; und nun fließen überall dort bittere Tränen, wo es helles Mutterglück gegeben hat. Als unbegreifliches Wunder erfaßt Maria nun erst recht die Rettung ihres eigenen Kindes, aber fühlt zugleich gewiß bis in die tiefste Seele den Schmerz der weinenden Mütter Bethlehems. Der erste tiefe Schatten ist auf den seligen Weg ihres Mutterglückes gefallen. Um ihres Kindes willen sind jene unschuldigen Kindlein gestorben. Welches wird sein Weg einst sein? … O Simeon, was hast du nur mit dem Schwert gemeint, das dieser Mutter durch die Seele dringen soll ? … Fühlt sie jetzt nicht bereits etwas von seinem schmerzenden Stich? Um seinetwillen sind sie gestorben. Wird nicht die Zeit kommen, wo auch er um ihretwillen durch Leiden und Tod gehen muß? …
Wir können es verstehen, daß Maria und Joseph unter diesen Umständen nicht gerne in Bethlehem blieben, zumal der Sohn und Nachfolger des Herodes seinem Vater an Willkür und Grausamkeit nicht viel nachstand.
Bei der Wahl des neuen Wohnortes ist es natürlich, daß sie Nazareth, Marias Heimatstadt, ins Auge fassten, besonders da Joseph den ganz bestimmten Eindruck hatte, daß Gott sie diesen Weg nach Galiläa wies. Nicht als Davidssohn an weithin sichtbarer Stelle, sondern als Landeseinwohner des verachteten Galiläa sollte Marias Sohn aufwachsen, „ein Sproß aus dürrem Erdreich” (Matt.2,23).
Im Verborgenen
Nazareth! Wie sagt dein Name „Hut” oder Wacht” so fein, was für eine heilige Aufgabe du an dem Kinde Jesus zu erfüllen hast! Wo konnte es besser behütet sein als hier in dem kleinen freundlichen Ort weitab von aller Unruhe der Welt, dem Heimatboden seiner Mutter!
Es kommt die Zeit des großen Schweigens über das Heranwachsen des Kindes. Es ist ein beredtes Schweigen. Gerade dies Schweigen sagt uns so manches von dem Leben der heiligen Familie in Nazareth, was uns lange Schilderungen nicht sagen könnten. Es sagt uns vor allem, daß Jesus als wahrhaftiger Mensch, ganz unauffällig, als Kind wie jedes andere aufgewachsen ist, im Schutz des Elternhauses im Kreise seiner Geschwister. Es sagt uns, daß Gott die Familie, den Dienst von Vater und Mutter, das Verhältnis der Geschwister untereinander gesegnet und geheiligt hat, weil er seinen Sohn mitten in diese Verhältnisse hineingestellt hat.
Es mag uns wohl manchmal wie jenem Bischof gehen, von dem Luther erzählt. Der wollte gar zu gerne wissen, wie es im Handwerkerhause in Nazareth zugegangen sei. Da träumte ihm eines Nachts, er sähe durch einen Türspalt in Josephs Haus. Da sah er den Hausvater mit dem Behauen eines Brettes beschäftigt, während ein flinker Knabe die Späne aufsammelte und sie der Mutter brachte, die das Essen am Herd bereitete. Als es fertig war, rief sie Mann und Sohn zu Tisch. Nachdem Joseph das Tisch gebet gesprochen hatte, wandte sich das Kind um und bemerkte den fremden Mann an der Tür. „Mutter, darf der Mann nicht auch mit uns essen?”, bat es. Davon erschrak der Bischof so, daß er erwachte. Die Antwort auf seine Frage hatte er erhalten: wie jedes Kind unter gesunden Verhältnissen in einem frommen Elternhause, ist auch das Jesuskind aufgewachsen; wie jede Mutter hat Maria für die Ihren gesorgt, hat sie gehütet, umhegt, geliebt und geleitet und ist in allen Dingen eine rechte Frau und Mutter gewesen.
Ein feiner Glockenton klingt durch das Schweigen. Er genüget, um uns eine Vorstellung zu geben vom Wachsen und Gedeihen des Kindes, von der Mutterfreude, die Maria an ihm erlebte. „Aber das Kind wuchs und ward stark im Geist, voller Weisheit; und Gottes Gnade war mit ihm”, heißt es von diesen Jahren. Noch war Marias Sohn eine verschlossene Knospe. Noch konnte man nichts von der Herrlichkeit der kommenden Blüte ahnen. Aber wie hat die Mutter sich ihres Knöspchens erfreut! Wie hat sie jeden Zug beobachtet, der auf die kommende Schönheit schließen ließ. Wie hat sie als treue Gärtnerin darüber gewacht, daß es die nötigen Bedingungen zum Wachsen und Gedeihen hatte! Gewiß ist sie die erste Lehrerin des Kindes gewesen. Ihr inneres Leben wurzelte in der Schrift und in den Verheißungen ihres Gottes. Aus diesem unergründlichen Brunnen hat sie für ihr Kind geschöpft und geschöpft mit nimmer erlahmender Freude. Und das Kind hat gehört und gelernt und es sinnend in seinem kleinen Herzen bewegt. Was mag das für eine wunderbare Mutterschule gewesen sein, wenn Maria ihrem Kinde die herrlichen Psalmen vorsang, wie sie sie zu den hohen Festen in Jerusalem gehört hatte, oder wenn sie ihm von den Vätern und den Verheißungen, die Gott ihnen gegeben hatte, erzählte.
Ob da das Kind nicht seine Mutter mit großen, stillen Augen angeschaut hat und gefragt, ob denn das nicht bald alles geschehen werde, was Gott versprochen hat? Und ob Marias Herz nicht oft gejubelt hat im Bewußtsein, daß die Zeit da ist und daß Gott sich schon den Heiland und Reiter seines Volkes ausersehen hat? Aber gewiß hat sie gegen ihr Kind davon geschwiegen. Sie verstand es, Geheimnisse zu hüten, und sie wußte, daß es nicht ihre Aufgabe sei, ihm das Geheimnis seiner Geburt zu offenbaren. Sein Ruf mußte von Gott und nicht von Menschen kommen.
*
Maria ist eine kinderreiche Mutter gewesen. Wir hören von vier Brüdern und mindestens zwei Schwestern, die mit dem Jesusknaben im Handwerkerhause aufgewachsen sind (Matth.13,55). Wie verschieden war Marias Aufgabe an ihren Kindern! Dort der eine, der nur Freude machte, über dessen Lippen nie ein unfreundliches oder widersetzliches Wort, nie eine Lüge oder Verschleierung der Wahrheit kam, der immer willig, immer freundlich war, so daß selbst die wilden Dorfgenossen ihn „die Freundlichkeit” nannten. Hier die anderen, die aus natürlichem Fleisch und Blut geboren waren, an denen es manches wilde Reis zu beschneiden, mancher Unart entgegenzutreten galt. Wie mußte die Mutter die hohe Kunst üben, allen gleicherweise gerecht zu werden. Wie mußte der eine, der „von oben her” war, von klein auf den untersten Weg der Demut gehen, um sich dem Kreise seiner Geschwister einzuordnen. Dessen können wir gewiß sein — durch ihn ist die Harmonie im Elternhause niemals getrübt worden!
Das Rätselwort
Das Kind Jesus ist zwölf Jahre alt geworden. Ein wichtiges Alter im Leben des Knaben in Israel. Von jetzt ab heißt er „Sohn des Gesetzes”. Das Gesetz zu hören und zu lernen ist von nun an seine heilige Aufgabe. In der Gemeinde wird er als Mann angesehen, der dem engeren Lebenskreise der Mutter entnommen und in den der Männer eingereiht ist.
Beginnt damit nicht der Weg des Verzichts für Maria, seine Mutter? . . .
Als Zwölfjähriger darf Marias Sohn auch zum ersten Male die österliche Festwoche in Jerusalem mitmachen. „Hinauf gen Jerusalem!” den Tempel, die Wohnung Gottes schauen, mitbeten, mitopfern dürfen zum heiligen Fest! Wie hat diese Aussicht das Herz des Knaben mit hoher Freude erfüllt!
Halb Nazareth macht sich auf den Weg. Aus den Nachbarstädten stoßen weitere Züge zur Festkarawane. Freude und Wonne herrscht unter den Festpilgern. Nach drei bis vier Tagen sieht man die Zinnen Jerusalems in der Sonne glänzen. Da liegt sie, die Stadt, die gebaut ist, daß man zusammenkommt, in ihrer leuchtenden Schöne. In frohen Jubel brechen die Pilger aus. Eine Gruppe nach der anderen fällt ein. Hundertfältig pflanzt sich das Echo fort. Und der, „der größer ist als der Tempel” (Matth.12,6), ist ungekannt, ungeahnt unter den Festgästen und nimmt an dem frohen Feiern teil.
Sechs Tage dauern die Festlichkeiten. In Zelten lagert man sich auf den freien Plätzen um die Stadt und wandert täglich zum Tempel hinauf, um an den Feiern dort teilzunehmen. Zum ersten Mal steigt der Knabe an Josephs Hand die Marmorstufen zum Vorhof mit dem gewaltigen Brandopferaltar hinauf. Zum ersten Male wird er mit dem Blute des Opfertieres besprengt. Noch ahnt er es nicht, daß er selbst einst das Opferlamm sein wird, das einzige volle Opfer, auf das alle anderen Opfer, die Jahrhundert um Jahrhundert dargebracht wurden, nur ein Vorbild und Hinweis sind.
Maria muß sieh öfters von ihrem Sohne trennen, da sie ja nicht alle Wege der Männer gehen darf, zu denen ihr Sohn jetzt gehört. Da ist es kein Wunder, daß sie ihn zuweilen aus den Augen verliert. Er ist auch nicht da, als sie sich auf den Heimweg begeben müssen. Das beunruhigt sie nicht weiter. Sie hat ihn wiederholt mit Bekannten gesehen. Mit denen hat er denn auch wohl die Heimreise angetreten, denkt sie. Einen Tag sind sie gewandert, da haben sie die Gruppe, bei der sie den Knaben vermuten, erreicht. Aber, o Schrecken, er ist nicht bei ihnen! Wie mag es der armen Mutter zumute gewesen sein! . . . Wie soll sie die Verantwortung tragen, wenn ihm ein Unheil zustößt!
Das ist ein banger Weg zurück nach Jerusalem! Dann folgt das Suchen in der Stadt. Drei Tage laufen Maria und ihr Mann von Haus zu Haus, fragen sei allen Leuten, zu denen sie nur irgendeine Beziehung haben. Vergebens! Wie hat das Mutterherz zu Gott geschrien! Wie hat sie um Bewahrung und Rettung des teuren Kindes gefleht! Drei angsterfüllte Tage, drei schlaflose Nächte vergehen!
Endlich kommen sie in den Tempel. Verschiedene Gruppen der gelehrten Rabbis sitzen unter den prachtvollen Säulenhallen und haben ihre Schüler um sich gesammelt.
Da! Was ist das! Unter einer der Gruppen ist ja ein Kind! Maria sieht genau hin. Wahrhaftig, das ist ihr Sohn! Ihr Kind hier unter den hochgelehrten Leuten. Und er ist nicht etwa bloß ein neugieriger Zuschauer. Nein, Frage und Antwort geht hin und her. Ganz deutlich kann man auf den Gesichtern der würdigen Männer das Staunen über die geistige Reife und die Urteilskraft des Kindes lesen.
Maria stürzt heran. Sie fragt nicht, ob die Unterredung unterbrochen wird. Der erste Vorwurf gegen ihren Sohn kommt über ihre Lippen: „Mein Kind”, ruft sie, „warum hast du uns das angetan? Sieh, dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht …”
Der Knabe ist sich keines Unrechts bewußt. Erstaunt sieht er die Mutter an. „Warum habt ihr mich gesucht?” fragt er. „Wußtet ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist?”
Hört Maria den leisen Vorwurf, der, gewiß dem Kinde selbst unbewußt, in diesen Worten liegt? … „Dein Vater”, sagt Maria, und meint Joseph damit. „ Mein Vater”, sagt das, Kind und spricht damit zum ersten Mal die Ahnung aus, daß es einen anderen Vater hat als den, den es auf Erden Vater nennt.
Ein Rätselwort ist’s für Maria. Sie legt es still zu den anderen aus dem Munde der Engel und Hirten und des alten Simeon – und glaubt und wartet.
Und wieder schwingt ein feiner Glockenton durch die Stille, die für uns über den nun folgenden achtzehn Jahren in Nazareth liegt. Und dieser Glockenton kündet:
„Er ging mit ihnen hinab und kam gen Nazareth und war ihnen untertan. Und Jesus nahm zu an Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.”
Ein „Hinabgehen” ist seine Rückkehr nach Nazareth auch im tieferen Sinne. Von den Höhen der Weihestunden im Tempel, wo er seine Zugehörigkeit zu seinem Vater im Himmel so deutlich gespürt hat, muß der Jesusknabe hinabsteigen in die Niederungen des täglichen Lebens mit seinen Aufgaben für das irdische Dasein mit seinem Einsatz von Zeit und Kraft zur Schaffung des täglichen Brotes. Aber Jesus stellt sich darunter. Er stellt sich auch unter das vierte Gebot, ehrt seine irdischen Eltern und richtet sich nach ihrem Willen und ihrem Gebot, obwohl es doch nur kurzsichtiges Menschengebot ist. So hat er dem vierten Gebot zu der Verheißung, die es bereits auf dem Sinai erhalten hatte, seine besondere Weihe gegeben und hat es bindend für all seine Jünger gemacht. Wer seine Eltern ehrt und ihnen gehorcht, der weiß, daß er darin in den Fußtapfen des Sohnes Gottes wandelt . . .
Und auf das Hinabgehen und Dienen folgt das Zunehmen und Wachsen. Es wird immer deutlicher, wie Gottes Gnade in besonderem Maße auf dem Zimmermannssohn aus Nazareth ruht. Auch den Menschen geht das Herz auf, wenn sie dem jungem Manne begegnen, in dem sich heranreifende Manneskraft mit herzerwärmender Güte und Freundlichkeit’ in eigenartiger Weise verbinden.
Das ist der Glockenton, der aus jenen stillen Jugendjahren zu uns herüberklingt. Dürfen wir es wagen, noch ein wenig mehr zu erlauschen? . . .
Fast müssen wir annehmen, daß Joseph, der Ernährer der Familie, den Seinen nicht lange nach jenem bedeutsamen Osterfeste in Jerusalem genommen ist. Nirgends ist mehr die Rede von ihm. Die Nazarener kennen nur noch seine Mutter und seine Brüder und Schwestern. Jesus selbst nennen sie den Zimmermann (Mark.6,3). So ist er denn wohl bald als Ältester an die Stelle des Hausvaters getreten und hat treu für die Mutter und die jüngeren Geschwister gesorgt.
Maria unter der Fürsorge ihres göttlichen Sohnes – liebevoller und hingebender ist wohl nie eine Mutter von ihrem Sohne versorgt worden!
Und doch – ob nicht gerade diese Jahre oft bitterschwer für Maria gewesen sind und ihren Glauben auf eine harte -Probe gestellt haben ? … Wo blieb denn die Erfüllung der Verheißung? – Wo blieb die Fortsetzung all des Wunderbaren, das bei seiner Geburt angehoben hatte? Wie jeder andere Mann aus Nazareth mußte er sich um das tägliche Brot plagen, mußte im engen Rahmen der verachteten Kleinstadt die gewöhnlichsten Dinge tun. Es ist dem Glauben leichter, einmal das Außergewöhnliche zu erfassen, als Tag für Tag dauernd in der Stellung des Wartens und Trauens zu bleiben, auch wenn sich nichts ändert und auf die Erfüllung der Verheißung so gar keine Aussicht zu sein scheint. Das sind dann die „geringen Tage”, wo das Herz matt wird und die Knie straucheln und die helle Flamme zum glimmenden Fünkchen wird.
Wir können gewiß sein, daß Marias Glaube auch diese Probe bestanden hat und daß sie nicht irre geworden ist trotz des langen, langen Wartens.
Gewiß hat ihr Glaube auch aus dem Wesen ihres Sohnes seine Kraft geschöpft. Sie mußte es ja fühlen, wie es durch keinen Schatten der Sünde getrübt wurde. Sie mußte es sehen, wie seine Gemeinschaft mit seinem Vater im Himmel von Jahr zu Jahr enger der wurde. Sie mußte etwas von der Ewigkeitsluft spüren, die ihn umgab. Ob er nicht schon damals manche Nacht auf den stillen Bergen Nazareths im Gebetsumgang mit seinem Vater wartend und lauschend auf seine Stunde verbracht hat!
Und die Stunde kam. Die Knospe wuchs und wuchs und gewann Farbe und Duft, und eines Tages war die grüne Hülle des bescheidenen Handwerkerberufes gesprengt und die herrliche Blüte vor aller Augen sichtbar. Die Zeit war erfüllt. Jesus sollte aus einem irdischen Baumeister der Baumeister des Gottesreiches werden.
Er offenbarte seine Herrlichkeit
Drunten im Südosten am Jordan geschahen seltsame Dinge. Sogar bis ins entlegene Nazareth drang das Gerücht. Ein Prophet war aufgetreten mit der Botschaft: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!” Tausende strömten zu ihm hinaus. Maria erfuhr es wohl bald, daß es Johannes, der Sohn der Elisabeth, war, dessen Geburt mit so wunderbaren Umständen verknüpft war. Noch im Schoß der Mutter hat er ihr kommendes Kind mit Freuden begrüßt. Ob sein Auftreten nicht auch jetzt für ihren Sohn von Bedeutung werden wird? … Es wäre naheliegend, Trenn Maria solche Gedanken gehabt hätte.
Mütter haben ja oft ein starkes Ahnungsvermögen, wenn es sich um Ereignisse im Leben ihrer Kinder handelt.
Die Zeit der großen Wende ist da. Auch Jesus geht zu Johannes an den Jordan. Als einer von Tausenden empfängt er die Taufe, um „alle Gerechtigkeit zu erfüllen”. Als den einen läßt Gott ihn Johannes offenbar werden, und durch ihn allem Volk. „Ich kannte ihn nicht”, spricht Johannes; „sondern auf daß er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, derselbe sprach zu mir: Über welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, derselbige ist es, der mit dem Heiligen Geiste tauft. – Und ich sah es und bezeugte, daß dieser ist Gottes Sohn (Joh.1,21).”
Und Jesus? Auch er hat eine Weisung erhalten. „Mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe”, hat ihn der Vater genannt (Matth.3,16). Heiligen Geist hatte er bei der Taufe empfangen.
Aus Heiligem Geist war zwar schon sein Leben geworden. Einzig aus Gottes Geist hatte er gelebt. Aber jetzt erhält er die Ausrüstung zu seinem heiligen Amte. Jetzt erhält er die Gewißheit, daß die Stunde da ist, wo er dies Amt antreten soll: Jetzt soll er auch die Männer um sich sammeln, die seine Jünger, seine, Schüler werden sollen.
*
Erst nach Wochen sieht Maria ihren Sohn im Städtchen Kana, fünf Kilometer von Nazareth, wieder. Es ist Hochzeit dort, ein Freudenfest, wohl im Verwandtenhause. Maria hat sich anscheinend zur Hilfe erboten und teilt Freude und Sorge mit den Gastgebern. Auch Jesus ist Hochzeitsgast. Aber er ist nicht allein. Fünf junge Männer begleiten ihn. Drunten am Jordan bei Johannes haben sie sich ihm begeistert angeschlossen. Was Johannes von ihm gesagt, das hat ihr persönlicher Eindruck bestätigt. So folgen sie ihm, um ihn nicht mehr zu verlassen. Und so hat ihr erster Weg mit ihm sie auf eine Hochzeit geführt.
Auf dem gepflasterten Hof vor dem Hause sitzen die Hochzeitsgäste in Gruppen beisammen. Ein jeder, der kommt, wird bewirtet. Speisen werden von den Lohndienern aufgetragen, Wein wird eingeschenkt. Sänger tragen ihre Lieder vor unter Begleitung von Zimbeln und Klarinetten.
Da zieht ein Schatten in der frohen Stimmung herauf. Maria redet leise mit den Dienern. Sie zeigen auf die geleerten Krüge. Es ist kein Gedanke: der Wein reicht nicht. Weiteren zu kaufen, dazu fehlen die Mittel. Da tut Maria, was sie immer getan hat, wenn sie eine Sorge hatte: sie bespricht sie mit ihrem Sohn. Durch einen der Diener läßt sie ihn aus den Hochzeitsgästen herausrufen und sagt ihm leise: „Sie haben nicht Wein!”
Ja, es war wie immer, daß Maria ihn bat, ihre Sorge mit ihm zu teilen. Und doch war es anders. Liegt nicht in Marias Ton eine leise Erwartung? Sprechen ihre Augen nicht von der festen Zuversicht, daß er helfen werde? … Aber wie? … Die Mutter weiß ja genau, daß er das Geld für den fehlenden Wein nicht hat. Aber seit er vom Jordan wiedergekommen, ist eine Veränderung mit ihm vorgegangen. Eine Kraft scheint von ihm auszugehen, eine Hoheit liegt über seinem Wesen. So hat sie das Mutterauge noch nie an ihm gesehen. Für Maria besteht kein Zweifel: die Zeit ist gekommen, wo endlich das erfüllt werden wird, was ihr von diesem Sohne gesagt ist.
Aber zunächst bedeutet seine Antwort eine Enttäuschung: „Was willst du von mir”, sagt er abweisend. „Noch ist meine Stunde nicht gekommen.”
Aber Maria läßt sich nicht irremachen. In ihrem Mutterherzen lebt eine starke Gewißheit. Dementsprechend weist sie die Diener an, zu tun, was er ihnen sagt. Und wirklich, er läßt die Mutter nicht vergeblich glauben und warten. Er gibt den Dienern die Anweisung, die sechs mächtigen Wasserkrüge vor der Tür, von denen ein jeder 50 bis 80 Liter faßt, mit Wasser zu füllen. Die Diener erfüllen den Auftrag und auch den zweiten, aus den Krügen zu schöpfen und dem Tafelmeister eine Kostprobe zu bringen. Der schmeckt. Es ist köstlicher Wein; besser als der, den die Gäste bisher getrunken haben. Der Not ist abgeholfen! Das Brautpaar hat an dem großen Weinvorrat noch dazu ein kostbares Hochzeitsgeschenk erhalten.
Was war geschehen ? . . . Gewiß hat Jesus im betenden Aufblick zu seinem Vater die Antwort erhalten, daß Seine Stunde nun doch gekommen sei. Der Mutter Glauben braucht nicht enttäuscht zu werden. An seinem Berufsleben hat sie keinen Anteil. Da gilt: „Was habe ich mit dir zu schaffen?” Aber doch läßt Gott es zu, daß ihre Sorge und Bitte der Anstoß zum ersten Wunder ihres Sohnes wird, der Anstoß zur Offenbarung seiner Herrlichkeit und zur Festigung des Glaubens seiner ersten Jünger.
Vielleicht war es auf die Bitte von Johannes oder Petrus hin, daß Jesus mit seiner Mutter und seinen Brüdern nach dem Hochzeitsfest in Kana einen Besuch in Kapernaum machte. So lernte Maria den Ort kennen, wo ihr Sohn von jetzt ab sich am häufigsten aufhalten, der der Schauplatz der meisten seiner Taten werden sollte (Joh.2,12).
Der Verzicht
Für Maria hat mit dem Ruf, der an Jesus ergangen ist, der schwerste Abschnitt ihres Mutterweges begonnen. Und dieser Abschnitt heißt: Verzicht, Verzicht auf das, was bisher ihres Lebens Inhalt und ihres Lebens Seligkeit gewesen ist, auf die enge Familiengemeinschaft mit dem geliebten Sohne. Sie muß es lernen, daß sie ihn nun mit allen denen teilen muß, die zu retten und selig zu machen er gekommen ist, daß sie keinen Mutteranspruch an ihn mehr hat, der ihr ein Sonderrecht auf ihn gibt.
Aber auch in ihr äußeres Leben greift Jesu öffentliches Auftreten tief ein. Aus Nazareth haben ihn seine Heimatgenossen verstoßen; ja, nur durch ein Wunder ist er der erregten Menge, die ihm nach dem Leben trachtete, entgangen. Er hat die bittere Wahrheit lernen müssen, daß ein Prophet nirgends weniger gilt als in seinem Vaterlande (Luk.4,16).
Natürlich wirkt das auch auf die Stellung seiner Familie zurück. Unter diesen Umständen war es kaum möglich für sie, in Nazareth zu bleiben. So siedelten sie denn wohl alle nach Kapernaum über, dem Mittelpunkt der neuen Wirksamkeit Jesu.
Wie schwer war das alles für Maria. Wie hat sie so manchen Vorwurf von den jüngeren Söhnen hören müssen, die in Nazareth ihr Brot, ihren Freundeskreis hatten. Wie haben sie gemurrt: „Ja, wenn er doch wenigstens öffentlich in Jerusalem auftreten wollte, wenn das ganze Volk zum Fest versammelt ist! Was nützt alles Predigen und Wundertun hier in diesem verachteten galiläischen Winkel. Bloß ein Verzetteln der Kraft (Joh.7,3)
Wie hat da die Mutter ausgleichen und beschwichtigen müssen und nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Kinder, über alle Anstöße hinweg und hinüber glauben.
Ach ja, sie konnten ihn nicht mehr verstehen! Was soll noch daraus werden? Weder zum Essen noch zum Schlafen nimmt er sich Zeit. Das hält kein Mensch auf die Dauer aus! Ist das nicht Überspanntheit, krankhafte Schwärmerei! … Vielleicht ist eine leichte Gewaltanwendung am Platz, um das Volk für eine Weile fernzuhalten und ihn zur Ruhe zu zwingen (Markus 3,20).
Der Versuch, ihn gewaltsam fortzuführen, mißlingt. Mit heiliger Ruhe und gewaltiger Kraft fährt Jesus in seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern fort. Niemand wagt sich an ihn heran.
Aber vielleicht hat doch noch die Mutter Einfluß auf ihn. Die Brüder bestimmen sie, mit ihnen zu gehen und den Versuch zu machen, ihm ein mahnendes Wort zu sagen. Einer von seinen Jüngern wird gebeten, ihm mitzuteilen, daß seine Mutter und seine Brüder ihn sprechen wollen. Die Antwort, die sie hören müssen, greift tief an Marias Seele: Jesus hebt die Hand, weist auf die Schar seiner Jünger und spricht: „Siehe, das sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter (Mark.3,21).”
Ob Maria den Sinn dieser Worte verstanden hat, daß keine Familienbeziehungen und leiblichen Bindungen auf dem Wege seiner Nachfolge einen Vorzug geben, sondern einzig und allein Glaube und Gehorsam zu ihm führt, mit ihm verbindet? . . .
Vielleicht ist ihr in jener Stunde die Bedeutung des geheimnisvollen Wortes des zwölfjährigen Knaben im Tempel klar geworden, ab er zum ersten Mal die Beziehung zu seinem Vater im Himmel über die Bindung an Vater und Mutter auf Erden gestellt hat.
Das ist die Aufgabe gewesen, an der Jesu Mutter die Jahre, die ihr Sohn noch auf Erden weilte, hat lernen müssen. Es war ein schweres Lernen und das Kreuz, das sie auf sich nehmen mußte, um in seine Nachfolge einzutreten. Aber wir können sicher sein, dass sie es gelernt hat. So ist sie nicht nur seine leibliche Mutter, die hochbegnadigte unter den Weibern, geblieben, sondern auch seine erste Jüngerin und Nachfolgerin geworden, eine wahre Mutter in Christo, der er in zweifachem Sinne den teuren Mutternamen gegeben hat.
Aber noch stand ihr Bitterstes bevor. Das Schwert, von dem Simeon gesprochen hatte, mußte noch durch ihre Seele dringen, ehe aus dem, Kampfe voller Sieg werden, aus der Tränensaat die Freudenernte erwachsen konnte.
Unter dem Kreuz
Es ist Ostern in Jerusalem, 21 Jahre nach jenem Osterfest, das der zwölfjährige Knabe zum ersten mal mitgefeiert hat. Wieder ist Maria in Jerusalem; diesmal aber nicht mit Jesus, sondern wohl mit einem der jüngeren Söhne.
Aber auch Jesus, wird zum Fest erwartet. Die ganze Stadt ist in Erregung. Gewiß sieht Maria den kommenden Tagen voll schweren Bangens entgegen. Die Wogen der Feindschaft gehen hoch gegen ihn. Man spricht sogar von einem Anschlage der Pharisäer. Schon wiederholt ist er in schwerster Lebensgefahr gewesen. Und dabei ist die Schar seiner Jünger in der letzten Zeit immer kleiner geworden. Wie viele von ihnen würden den Mut aufbringen, sich im Notfalle mannhaft hinter ihn zu stellen ? Das alles konnte Maria, die mit heißer Mutterliebe, wenn auch nur von fern, über jedem Schritte ihres Sohnes Wachte, nicht verborgen geblieben sein. Wie mag sie Tag und Nacht vor Gott um Bewahrung ihres Sohnes gefleht und mit heißer Sehnsucht auf jede Nachricht gelauscht haben, die, über ihn zu ihr drang.
So ist die Woche vor Ostern herangekommen. Er soll in Bethanien sein, heißt es. Eine wahre Völkerwanderung in die freundliche Stadt hebt an. Das unbegreifliche Wunder von der Auferweckung des Lazarus ist noch in aller Munde. Noch einmal scheint er, wie einst in Galiläa, die Massen des Volkes hinter sich zu haben. Aber zugleich loht die Feindschaft seiner Gegner zu wildem Haß empor. Es ist kein Zweifel, Tage ernster Entscheidung stehen vor der Tür (Joh.11,47-57).
Der Sonntag vor Ostern ist herangekommen. Nur noch wenige Tage, so schließt sich Jerusalem in heller Festfreude zusammen. Ein großer Teil der Festgäste aus aller Welt ist bereits anwesend.
Da – was ist das? Was strömt die halbe Stadt zum Südosttor, wo die Straße nach Bethanien beginnt? Gewiß hat Maria erstaunt nach dem Grunde dieser Erregung geforscht. Und dann hört sie: Jesus kommt nach Jerusalem. Im festlichen Zuge will er auf einem Esel einziehen. Das Volk huldigt ihm als dem Gesalbten Gottes, den lang erwarteten Messias.
Was mag Maria bei dieser Nachricht durchlebt haben! Jener Tag, als sie die himmlische Botschaft von der Geburt dieses Kindes erhielt, steigt wohl in der Erinnerung auf. „Er wird ein König sein über das Haus Jakobs ewiglich”, klingt es ihr durch die Seele. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen? Wird die Verheißung jetzt Wirklichkeit? Kommt die Zeit des Sieges über alle Feinde des Volkes und die Begründung der Königsherrschaft des Sohnes David in Recht und Gerechtigkeit? . . .
*
Wie ist alles anders gekommen! . . . Wohl nie hat der Glaube solche Spannungen aushalten müssen wie in diesen Tagen, die über das Geschick der Menschheitswelt in Zeit und Ewigkeit entscheiden. Fünf Tage später ist das Schwert durch Marias Seele gedrungen … Die Mutter Jesu steht unter dem Kreuz, an dem ihr Sohn blutig und sterbend hängt.
Wo sind die Massen, die ihm zujubelten? Aus dem Hosianna ist das „Kreuzige ihn!” geworden. Auch die, die ihn aufrichtig lieb hatten, sind zerstoben und zerstreut. Nur seine Mutter bildet mit zwei treuen Frauen und Johannes, dem Jünger, der seinem Herzen am nächsten stand, die Gemeinde unter dem Kreuz.
Ja, seine Mutter steht unter dem Kreuz. Trotz ihres schmerzzerrissenen Herzens, trotz des erschütternden Anblickes, den der geißelzerfleischte, blutrünstige Leib ihres Sohnes bietet, hat sie die Kraft gefunden, aufrecht unter seinem Kreuze zu stehen, um ihn durch die letzten qualvollen Stunden mit ihrer Mutterliebe zu geleiten. Alles hat er auf Erden verloren. Nur die Liebe der Mutter harrte aus, Sie, die das Kindlein bei seinem ersten Schrei an die Brust gedrückt hat, sie nahm in ihr Herz auch die letzten Sterbensseufzer ihres Sohnes. Wie ist die Mutterliebe durch den Weg dieser Mutter geheiligt worden!
Und die Mutterliebe erhält ihren Lohn. Ein letzter Liebes- und Dankesblick vom Kreuz her trifft die Mutter. Sie soll nicht einsam und verlassen bleiben unter den Söhnen, die seinen Weg bisher noch nicht verstanden haben. Hier steht der, der ihm Freund und Bruder war, der ihn geliebt und verstanden hat wie kein zweiter von denen, die sich in seine Gefolgschaft gestellt haben. Er wird auch seiner Mutter die wahre Sohnesliebe entgegenbringen. In der Liebe zu ihm werden sich die beiden finden. – Und von dem Kreuze her tönen deutlich vernehmbar die Worte: „Siehe, das ist dein Sohn!” „Siehe, das ist deine Mutter!“
Ein Sohnesherz hat er der Mutter hinterlassen, und ein Heim hat er ihr geschafft. Für Johannes war es eine große, wehmütige Freude, das Vermächtnis seines sterbenden Meisters sogleich auszuführen: „Von dieser Stunde an nahm sie der Jünger zu sich…”
Was wird das für eine innige Gemeinschaf t zwischen diesen beiden Menschen gewesen sein! Ein Quell des Segens für sie selbst und für die ganze Christengemeinde.
Die Erfüllung
Noch einmal hören wir Marias Namen. Auf die finsteren Schmerzensstunden des Kreuzes ist der große Auferstehungsmorgen gefolgt. Der Sieg ist erkämpft. Das Grab ist leer. Der Gekreuzigte ist der Auferstandene. Zeugen um Zeugen berichten von seinem Leben. Mitten in den Kreis seiner Jünger tritt er. Sie sehen ihn mit ihren Augen. Sie hören seine Stimme mit ihren Ohren. Sie berühren ihn mit ihren Händen. Aus dumpfer Verzweiflung und Trostlosigkeit wird jubelnde Freude, die niemand von ihnen nehmen kann. Wie soll Maria diese Freude nicht miterlebt haben? . . . Zwar als Sohn hat sie ihn nicht mehr. Mutter darf sie ihm nicht mehr sein. Wie gut, daß sie den Verzicht schon vorher hat lernen müssen. So bleibt auch jetzt für sie mir die Freude und Seligkeit.
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Und auf Ostern folgt Himmelfahrt, das Hingehen zum Vater. Der Auferstandene wird der Erhöhte, der in seiner himmlischen Herrlichkeit die Seinen nicht als Waisen zurückläßt, sondern bei ihnen sein will bis an der Welt Ende.
Eine letzte Frage haben sie um ihn gehabt. Sie mag auch in Marias Herzen anklingen: „Wirst du auf diese Zeit wieder aufrichten das Reich Israel?” …
Die Fragenden werden aufs Warten gewiesen und eine große Verheißung wird ihnen gegeben. Sie sollen seine Zeugen, seine Kämpfer sein. Mit der Kraft des Heiligen Geistes vom Vater sollen sie erfüllt werden, bis er durch sie sein Werk auf Erden ausgerichtet hat, und die Stunde kommt, die der Vater seiner Macht vorbehalten hat.
So ist aus der Ostergemeinde eine Gemeinde der auf Pfingsten Wartenden geworden. Und unter den Wartenden ist seine Mutter. Ihr ganzes Leben ist ein glaubendes Warten auf Gottes Stunde gewesen. So wiegt dies ihr Warten jetzt schwer in den Kreisen, die auf die Erfüllung der Verheißung warten. Und Maria ist Großes geschenkt worden. Unter den Wartenden sind auch die Brüder Jesu, ihre Söhne. Seine Auferstehung hat ihren inneren Widerstand gebrochen und sie zu seinen Jüngern gemacht (Apg.1,14).
Wie war Maria, die Schmerzensreiche, nun wieder eine reiche Mutter geworden. Wie wird ihr Familienverhältnis neu und köstlich geworden sein, seit sie sich alle in der Liebe zu ihrem erhöhten Bruder und im Glauben an ihn gefunden haben!
Mit der Gemeinde der Wartenden hat Maria Pfingsten erlebt. Sie hat das Wachsen der Gemeinde erlebt und hat ihren Sohn Jakobus als Bischof der jungen Gemeinde in Jerusalem gesehen. Sie hat es wohl auch erlebt, wie der Sturm der Verfolgung über die Jünger ihres Sohnes hereingebrochen ist; wie dieser sich aber zu seinem bedrängten Häuflein durch Wunder und Zeichen und die Kräfte, die er ihnen gab, bekannt hat. Sie hat es erlebt, wie das Wort wuchs und sich ausbreitete.
Vielleicht hat sie es auch noch erlebt, wie durch Paulus, den einstigen Verfolger der Gemeinde, die Botschaft von ihrem Sohne in die Heidenwelt hinausgetragen wurde, und ihr erhöhter Sohn nach Simeons Worten zum Licht der Heiden wurde.
Wie lange sie den Weg der Gemeinde noch hat mitgehen können, wissen wir nicht. Ihr Name verschwindet für uns im Dunkel.
Wirklich im Dunkel? … Wenn schon ein jedes Christenleben mit einem lichten Horizont abschließt, und über dem Dunkel der letzten Stunde schon das herrliche Licht der seligen Ewigkeit leuchtet, wie wird es erst über dem Leben der Frau geleuchtet haben, der Gott außerordentlichere Glaubensproben auferlegt hat, als irgendeinem Menschen auf Erden, und die Glauben gehalten hat bis zuletzt.
Wie wird ihr Leben erfüllt und durchklungen gewesen sein von der Sehnsucht, daheim zu sein bei dem, den sie einst als Kindlein unter dem Herzen getragen hatte, und dessen Herrlichkeit nun alle Himmel nicht fassten.
Und wenn der Vorhang von der himmlischen Welt fortgezogen würde, und wir die Gemeinde der Vollendeten droben erblickten, dann sähen wir unter der großen Schar, „die ihre Kleider gewaschen und helle gemacht haben im Blute des Lammes“, auch die gesegnete Mutter, die noch heute von allen, die an ihren Sohn und Erlöser glauben, selig gepriesen wird.
Erschienen im Heimatdienstverlag Berlin-Hermsdorf, 1930
Bearbeitet von Horst Koch, Herborn, im Jahre 2013