Selbstzerstörung des Christentums (G.H.)

 Georg Huntemann

DIE SELBSTZERSTÖRUNG DES CHRISTENTUMS ÜBERWINDEN

– Der Text wurde leicht gekürzt, auch die Hervorhebungen sind von mir vorgenommen.  Horst Koch. Herborn, im April 2014  –

 

 I.     Was heißt »Selbstzerstörung des Christentums«?
II.    Vom Unwesen und vom Wesen des Christentums
III.   Urchristliche Existenz und nachchristliche Verfremdung
IV.    Die Verkirchlichung des urgemeindlichen Christentums
V.     Die dogmatische und theologische Überfremdung des Christentums
VI.    Die subjektivistisch-emotionale Überfremdung des Christentums
VII.  Ohne Gehorsam gegen Gott folgen Zerstörung von Person und Moral
VIII. Die Überfremdung und das Wesen politischer Predigt.

 

Vorwort
Schon im Jahre 1853 schrieb Theodor Fontane: »Das Volk hat nun einmal den Christenglauben nicht mehr, und Taufe, Konfirmation, Abendmahl wie jede andere äußere Betätigung dieses Glaubens ist nichts anderes als Gewohnheit oder Polizeigehorsam. Der eigentliche Sieg der sogenannten Frommen und Mucker ist ihr eigentliches Fiasko.«

Heute, fast anderthalb Jahrhundert später, ist vom »Polizeigehorsam« natürlich nicht mehr die Rede, und Siege der »Frommen und Mucker« gibt es nicht mehr. Auch stirbt die »Gewohnheit«, die Kirche für bedeutsame Lebenseinschnitte in Anspruch zu nehmen, langsam aus. Das Christentum in seiner überlieferten Gestalt vergeht. Dieser Prozess der »Entchristlichung« verläuft seit Fontanes Zeiten zwar langsam, aber dafür umso beharrlicher und unaufhaltsamer ab.

Die Versuche der »sogenannten Frommen und Mucker«, unser evangelisches Christentum so, wie es war, zu revitalisieren, sind genauso gescheitert wie die rasche Folge von Experimenten der Anpassung an den Geschmack jeweiliger Gesellschaft. Was die Progressiven heute im Hause der Kirche umbauen, kann morgen schon wieder Schnee von gestern sein.

Ungezählte Bücher von Zweifelnden, Schönrednern und Umbau-Optimisten türmen sich zu einer langen Klagemauer, vor der viel Schluchzen und ebensoviel Bruderzwist kein Ende nehmen wollen.

Dieses Buch ist jedoch kein neuer Stein in dieser Klagemauer. Hier wird nicht geklagt, sondern angeklagt. In diesem Buch wird nicht die »Gestalt« der Kirche von gestern oder vorgestern verteidigt. Hier wird aber ebenso entschieden der Versuch verurteilt, das Christentum für den Gebrauch einer Gesellschaft in dieser Zeit umzumodeln und nach dem Geschmack von heute ins Schaufenster für Religionskonsumenten zu stellen.

Bonhoeffers Aussage, dass diese »Gestalt des Christentums«, wie sie zu Fontanes Zeiten noch das Haus des Abendlandes war, vergeht, hat für mich eine klare Zielrichtung. Es geht darum, zum Ursprung zurückzufinden. Wir haben unerbittlich zu fragen, wie die Urgemeinde, in der das Alte Testament gelebt und das Neue Testament geboren wurde, nicht Christentum spielte, sondern christlich existierte. Dieses Zurück zum Ursprung ist seit je reformatorisches Uranliegen.

Will man das, dann muss all das radikal abgeräumt werden, was als »Überfremdung« diesen Ursprung fast verschüttet hat. Das wird mir Ärger einbringen, zumal dieses Buch gegen zwei Fronten kämpft: gegen die von Theodor Fontane so genannten »Frommen und Mucker« und vor allem gegen jene »Progressiven«, die aus dem Christentum eine »zeitgerechte« Ideologie machen wollen. Das geschieht heute als bestaunenswerte »matriarchalische« Überfremdung oder besser noch als Unterwanderung des Christentums. Darum wird viel in diesem Buch davon die Rede sein. Aber auch der in diesem Buch bekannte herbe urchristliche Realismus, der keine Auferstehung ohne Kreuz, keine Freude ohne Leid und keinen Frieden ohne Kampf leben konnte, wird Idylliker und »keep-smiling«-Christen nicht gefallen. Ich bin es dem Leser schon in diesem Vorwort schuldig, zwei durchgehende Leitworte zu erklären. Es geht um die Formulierungen »Biblische Religion« und »Revolte gegen die Absurdität«.

Mit »Biblische Religion« meine ich die Einheit von Altem und Neuem Testament und sehe bei aller heilsgeschichtlichen Wegmarkierung angesichts gegenwärtiger Herausforderung ganz und gar die eine biblische Ganzheitsaussage. Dass der Dialog zwischen Juden und Christen dabei für mich eine entscheidende Bedeutung hat, wird jedem Leser sofort auffallen.

Bei der »Revolte gegen die Absurdität« habe ich natürlich an Albert Camus gedacht, vor allem an seinen Klassiker »L’Homme revolte« (1951). Für urchristliches Weltverständnis ist diese Welt absurd, dem »Teufel« und der »Sünde« verfallen. Die urchristliche Gemeinde hat schon vor Auschwitz das Sinnhafte in dieser Welt nicht erkennen können. Trotz dieser Absurdität an Gott zu glauben und trotz aller Zwiespältigkeit der Welt in seiner Schöpfung zu leben war allerdings für die urchristliche Gemeinde ohne Kreuz, ohne Leid, ohne Tod und ohne die Hoffnung auf Auferstehung und auf die Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde undenkbar.

Urchristliche Existenz ist Revolte gegen die Absurdität, allerdings – im Gegensatz zu Camus – im Glauben daran, dass der Triumph der Gnade alle Absurdität überwinden wird. Dass Gott als Gott der Revolte erlebt und die Revolte gegen die Absurdität von den Urchristen als Nachfolge verstanden wurde – das anzumerken ist auch ein Unternehmen dieses Buches.

Ich schreibe dieses Buch aufgrund von Erfahrungen, die ich in 30 Jahren als Pfarrer in einer Großstadt (Bremen) und seit 26 Jahren als Hochschullehrer (an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel und an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Leuven) gesammelt habe. Also im Spannungsfeld von Kanzel und Katheder, Gemeinde-Seelsorge und Studenten-Diskurs ist diese Arbeit erwachsen. Als Pastor der Bremischen Evangelischen Kirche (mit ihrer reformierten Tradition) habe ich gelernt, dass die Basis der Kirche Christi die Gemeinde ist und nicht eine kirchenbehördliche Obrigkeit. Als bremischer Pfarrer habe ich aber auch gelernt, dass es für mich bis heute keine Alternative zum evangelischen Christentum gibt.

Dieses Buch versteht sich als Fortsetzung vieler Gedanken, die ich in meinem 1989 veröffentlichten Buch Der andere Bonhoeffer. Die Herausforderung des Modernismus und in meinem 1995 erschienenen Biblisches Ethos im Zeitalter der Moralrevolution jeweils in einem anderen Rahmen niedergeschrieben habe.

Bremen, im Januar 1998  –  Georg Huntemann

 

I. Was heißt »Selbstzerstörung des Christentums«?

1. Noch schlimmer als ein Feind der Kirche
An einem Samstag des Frühjahres 1992, genau am 29. April 1992 (es war fast auf den Tag genau 35 Jahre nach meiner Ordination zum Pastor in Bremen), wurde vom höchsten theologischen Amtsträger der Bremischen Evangelischen Kirche ein Brief an die erste lutherische Bischöfin Deutschlands, Frau Maria Jepsen in Hamburg, der Öffentlichkeit übergeben. In diesem Brief bekannte dieser Pastor Dr. Uhl, dass er sich meiner schäme und über das »unsachgemäße, sektiererische Beschwören von Bibel und Bekenntnis«, wie ich es ausübe, »traurig« sei und dass ich ein »fleischliches Bild« von der Kirche hätte. Er sei »betroffen« von einer »unheilvollen theologischen Denktradition«, mit der ich »wütend« um mich würfe, und darüber, dass durch mich an die Stelle »sachlicher theologischer Auseinandersetzung« nunmehr »Agitation, Hetze und niederträchtige Kirchenbeschimpfung« gebeten seien.

Es kam noch härter: Es wurde »öffentlich« bekanntgemacht, dass ich »Töne« von mir gebe, »wie sie schlimmer von Feinden der Kirche« nicht kommen könnten. Ohne vorher mit mir ein Gespräch gesucht zu haben, wurde nun »dem sehr verehrten Bruder Huntemann«, der jahrzehntelang der Bremischen Evangelischen Kirche unter Aufopferung seiner Gesundheit gedient hatte, öffentlich hinter die Ohren geschrieben, dass er schlimmer als ein Feind der Kirche sei.  . . .

In der evangelischen Kirche gab und gibt es tiefgreifende Auseinandersetzungen um die Frage, was Ursprung und was Selbstzerstörung in der Kirche sei. Bei allen sehr weitgehenden geistlichen Kämpfen sollte aber das Gespräch in dieser Kirche auch über Gräben hinweg niemals abgebrochen werden. Ich habe immer eine solche Gesprächsbereitschaft geradezu herbeigewünscht.  …

Ich erhebe die Anklage, dass in der evangelischen Kirche an der Wende zum 21. Jahrhundert ein Selbstzerstörungsprozess des Christentums abläuft, wie ihn die 2000-jährige Geschichte des Christentums so noch nicht erlebt hat.

Ich erhebe die Anklage, dass in der Kirche »mündige« Christen und Gemeinden kaum oder gar nicht die Möglichkeit haben, offen miteinander zu reden und zu streiten. Durch kirchenbehördliche Mitteln wird geregelt, was eigentlich im geistlichen Kampf durchgetragen werden müsste.

3. Der Machtapparat in der Selbstzerstörung des Christentums

Wohlmeinende konservative Christen kritisieren an den evangelischen Landeskirchen immer wieder, dass sie »pluralistisch« seien. Die Wahrheit, die die Kirche zu bezeugen habe, sei aber eben nicht pluralistisch – es gehe doch um das eine Wort Gottes und um das eine reformatorische Bekenntnis und schlussendlich um die eine unteilbare Wahrheit. Die wahre Lehre könne nicht mit Irrlehre in der einen Kirche gemeinsame Wege gehen.

Dieser Traum von der Landeskirche als »bekennender Kirche« im »Gehorsam unter dem einen Wort Gottes« etwa nach dem Motto »Gottes Wort und Luthers Lehr’ vergehen nun und nimmer mehr« ist eine fatale Illusion. Es gibt keine real existierende Bekenntnis-Landeskirche irgendwo in Deutschland, und eine solche ist auch überhaupt in Zukunft nicht realisierbar. Ganz im Gegenteil: Eine pluralistische Kirche, in der theologische Meinungsvielfalt eine Selbstverständlichkeit wäre und in der daher auch Raum wäre für diejenigen, die sich noch dem ursprünglichen Christentum verpflichtet fühlen, wäre wünschenswert. Wünschenswert wäre vor allem nicht nur für Theologen, sondern auch für »einfache« Christen, dass es durch eindeutige Auseinandersetzungen in diesen pluralistischen Kirchen zur inneren Klarheit kommt und die einzelnen Christenmenschen sich entscheiden können, wo sie denn nun ihren Weg des Glaubens beschreiten wollen. Aber diesen Freiheitsraum gibt es in der evangelischen Kirche nicht.  …

Dafür wieder ein konkretes Beispiel: Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland bestätigte Ende Juli 1992 in einer Stellungnahme diese Position: »Die Kritik an der Wahl einer Frau in das evangelische Bischofsamt verlässt daher den Boden der evangelischen Kirche … aber auch eine prinzipielle Kritik an der Frauenordination verlässt den Boden der in der evangelischen Kirche geltenden Lehre.« 15 Evangelische Pfarrer, die wegen ihrer Gewissensbindung an die Bibel kritisch sind und nicht alle behördlichen Anweisungen in Übereinstimmung mit christlicher Botschaft sehen, müssen sich das nicht nur hinter die Ohren schreiben, sondern sogar »Unterwerfungserklärungen« unterschreiben. In der Braunschweigschen Landeskirche zum Beispiel müssen Bewerber um ein Pfarramt schriftlich ihr Ja zur Frauenordination erklären, und den bereits im Amt befindlichen Pfarrern, die sich weigern, mit einer Pfarrerin zusammenzuarbeiten, droht Zwangsbeurlaubung oder Zwangspensionierung.

Der Bischof der evangelischen Landeskirche von Württemberg ermahnte seine Pfarrer ganz und gar im Gegensatz zur neutestamentlichen Aussage, eine Frau als geistliche Vorgesetzte anzuerkennen, auch wenn ein Pfarrer das »innerlich nicht mitvollziehen« könne; und der Bischof der Hannoverschen Landeskirche will diesem Problemkreis nicht einmal mehr einen »Diskussionsspielraum« geben.

Es wird also von Pfarrern tatsächlich verlangt, gegen ihr Gewissen zu handeln. Es ist einfach verboten, über die Ordination der Frau zum Pfarr- bzw. Prälaten- und Bischofsamt öffentlich zu diskutieren — und das angesichts der Tatsache, dass man damit im Widerspruch zur biblischen Aussage und zu einer 2000-jährigen christlichen Tradition steht. Um es unmissverständlich auszudrücken: Ein evangelischer Pastor darf biblische Aussagen grundsätzlich nicht mehr so verstehen, wie sie die Christenheit 2000 Jahre lang verstanden hat und wie sie heute mit der römisch-katholischen Kirche und der Orthodoxie des Ostens noch immer von mindestens mehr als der Hälfte der Christenheit verstanden wird.

Zweierlei ist zu beachten: In einer Zeit, in der Frauen alle Ämter bekleiden, als Richter, als Staatsanwälte, Professoren und Minister fungieren und bald schon in etlichen Ländern Panzerregimenter befehlen, wirkt es unverständlich, Frauen den Zugang zum Pfarramt oder Bischofsamt zu versagen, und der überwiegende Teil der evangelischen Kirchenmitglieder bejaht zweifellos die Frau im Talar auf den Kanzeln evangelischer Kirchen. Auch unter den »Konservativen« sind es nur noch sehr wenige, die hierin noch ein umwälzendes Problem sehen, und in zehn Jahren dürfte die Frau im kirchlichen »Führungsamt« wohl eine Selbstverständlichkeit sein.

Es geht mir jetzt auch gar nicht um die Diskussion des Problems der Frauenordination. Es geht vielmehr um die Frage, wieso »behördlich« Pastoren unter Gewissensdruck gesetzt und abgedrängt werden können, ohne dass es eine klare biblische Begründung zu solch einem Tun gibt. Ein protestantisches Kernanliegen war doch wohl unbestreitbar, dass Christenmenschen keine andere Autorität – weder Papst noch Konzil – anerkennen dürfen, die sich über das Wort Gottes stellt. Es war doch gerade diese Bindung des Gewissens an Gottes Wort, die Luther jenen leisen Urschrei vor dem Reichstag in Worms am 18. April 1521 ausstoßen ließ. Es ging und geht immer noch darum, dass eben nicht Päpste, Konzilien oder Synoden, Pröpste, Bischöfe oder Oberkirchenräte bestimmen können, wie das Wort Gottes ausgelegt oder selektiert werden soll. »Richtlinien« für biblische Wahrheit können eben nicht von irgendwelchen Institutionen aufgestellt werden – das ist ein reformatorischer Grundsatz. Und wo bleiben jene im Widerstand gegen den Einbruch der NS -Ideologie in die Kirche in Barmen 1934 formulierten Bekenntnissätze, denen die Evangelische Kirche in Deutschland formal verpflichtet ist und in denen doch so markante Worte wie diese stehen: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsste die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen … Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugung überlassen«?

Die evangelische Kirche fällt ins finstere Mittelalter zurück, wenn ihre »Obrigkeit« wie ein Papst gebietet und verbietet, was ein Christ im Amt der Kirche sein, tun und lassen soll – ohne dabei die Bibel als letzten Maßstab des Sagens und Nichtsagens aufzuzeigen.

Noch einmal: Es geht hier weder vordergründig um die Frauenordination oder um das Ja bzw. Nein zu kirchlichen Amtshandlungen an Homosexuellen o.ä. Es geht mir vorerst um die Freiheit, den christlichen Glauben in einer pluralistischen Kirche zu bezeugen und die Bibel als den Ursprung christlicher Religion in diese Zeit hineinsprechen zu lassen.

 

4. Die Selbstauflösung fordert Konfrontation heraus

In diesem Buch gehe ich von der allgemein bekannten Tatsache aus, dass der christliche Glaube der einzige Wert ist, der von Generation zu Generation eindeutig einen Bedeutungsverlust erlitten hat. Während heute nur etwa zwei Drittel der Bevölkerung Deutschlands zur Kirche gehören, waren es nach der Volkszählung von 1940, also auf dem Höhepunkt der Machtentfaltung des Nationalsozialismus, noch 95 Prozent. Diese Tatsache ärgerte die NS-Bewegung. Martin Bormann, der Sekretär Hitlers, erinnerte in einem Rundschreiben vom Juni 1941 die Gauleiter daran, dass Christentum und Nationalsozialismus unvereinbar seien. Dieses Schreiben wurde genauso geheim gehalten wie die Vorbereitung der SS vom Spätsommer 1941 zu einer »geschlossenen Bekämpfung der gefährlichsten aller Gegner durch die staatspolizeilichen Stellen«. Hiermit waren die Christen gemeint.

Die Geschichte der »Biblischen Religion« ist die Geschichte der Konfrontation mit der Feindschaft der Welt und der Kompromisse in der eigenen Gemeinde. Mose kämpfte gegen und für sein Volk. Er kämpfte nicht nur gegen den Pharao für den Exodus aus Ägypten, sondern zerschmetterte auch das »goldene Kalb«, jenes Fruchtbarkeitssymbol, das ein halsstarriges Volk als sichtbaren Götzen betasten, anbeten und vor sich hertragen wollte.

Die Propheten Israels streiten nicht mit selbstgewählten, sondern geoffenbarten Worten um Gottes Gerechtigkeit. Sie drohen Gerichte und Züchtigungen an, durch die vor allem der frevlerische Hochmut gebrochen werden soll. Die Propheten stehen in ihren Anklagen gegen Könige und Priester auf, ja – wenn es sein muss – gegen ein ganzes Volk. Die prophetische Predigt ist radikale Konfrontation.

Die Propheten sind keine Erfüllungsgehilfen einer nach Ruhe trachtenden Bedürfnisreligiosität, sie verkaufen keine falschen Träume und Illusionen, sondern bekämpfen eine Religiosität, die die Revolte gegen die Absurdität vergessen machen will.

Im Neuen Testament ist es nicht anders. Jesu Kampf gegen die pharisäische Frömmigkeit der Selbstverwirklichung und Machtgeilheit ist offenkundig. Er entlarvt die Heuchelei der Pharisäer und reinigt mit Gewalt den Tempel, der zur Räuberhöhle egoistischer Priesterherrschaft umfunktioniert wurde. Jesus bekennt offen, dass er nicht gekommen sei, um den Frieden zu bringen, sondern den Kampf und das Schwert und dass bis in die Familie hinein der Kampf zwischen Lüge und Wahrheit entbrennen werde (Luk.12,51).

Der Apostel Paulus weiß, dass die gute Botschaft von Christus nicht ohne Kampf zu verkündigen ist, und er spricht vom guten Kampf des Glaubens. Und dieser Paulus weiß auch, dass er letztlich nicht mit Fleisch und Blut, sondern mit den letzten Konsequenzen der Absurdität, mit dem Bösen selbst zu kämpfen hat und er bittet die Gemeinde darum, dass sie ihm mit ihrem Gebet zur Seite steht. Im Johannesprolog heißt es, dass das Licht in die Finsternis scheint und dass die Finsternis es nicht überwältigen konnte. Diese heute von modernen Theologen so verneinte Polarität von Himmel und Hölle, Licht und Finsternis, Gnade und Gericht ist aber das Charakteristikum der »Biblischen Religion« von Mose bis Jesus und Paulus, und aus dieser Polarität entsteht immer wieder Kampf, solange diese Welt besteht.

Heute hingegen liegt so etwas wie eine merkwürdige Friedhofsruhe über allem kirchlichen Betrieb. Die Stimmen der Minderheiten werden nicht gehört, weil sie den Zugang zu den Medien gar nicht erst finden dürfen. Evangelikale Erfolgsprediger erfüllen lieber die religiösen Bedürfnisse ihrer Zuhörer, als dass sie sich dem rauen Anspruch der Wirklichkeit und biblischen Wahrheit stellen. So liegt eine unheimliche Leere und Langweiligkeit über dem kirchlichen und religiösen Betrieb, in dem der Kampf um Macht und Einfluss oft bedeutungsvoller erscheint als der Kampf für Gerechtigkeit und Wahrheit.

Da warnte einst der Theologe Karl Barth, der aus der Konfrontation heraus dachte und predigte, vor allem unmeditierten Rezitieren biblischer und traditioneller Bilder und Redensarten, bei denen die Welt sich entscheidend darum nichts denken kann, weil der religiöse Redner sich im Grunde selbst nichts ordentliches dabei denkt …«

Es geht mir in diesem Buch also um die Konfrontation mit jenem Theologismus, der den christlichen Glauben dem Götzen einer jeweiligen Gesellschaft dienstbar machen will.

 

Teil II  – Vom Unwesen und vom Wesen des Christentums

1. Was ist eigentlich noch »echt« im Christentum?

Am 30. April 1944 schrieb der wegen Wehrkraftzersetzung angeklagte Theologe Dietrich Bonhoeffer aus dem Militärgefängnis in Berlin-Tegel, »die westliche Gestalt des Christentums« sei nur als »Vorstufe einer völligen Religionslosigkeit« zu verstehen. Bonhoeffer zweifelte nicht daran, dass die herkömmliche Gestalt des Christentums vergehe, dass aber ein neuer, radikaler Aufbruch nur in ferner Zukunft zu erwarten sei.

Anderthalb Jahre später – Bonhoeffer war mittlerweile im Konzentrationslager Flossenbürg gehenkt worden und die deutsche Wehrmacht hatte am 7. Mai in Reims und am 9. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst kapituliert -versammelte sich am 18. und 19. Oktober im fast völlig zerbombten Stuttgart der soeben gegründete Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Auch für die westliche Christenheit, vornehmlich für deren protestantische Kirchen, war die Versammlung repräsentativer Vertreter deutscher Landeskirchlichkeit ein bedeutsames Ereignis, und man entsandte »hochkarätige« und gestandene Kirchenmänner in die süddeutsche Trümmerstätte. Viele von diesen angereisten Kirchenleuten meinten nun angesichts dessen, was unter dem Hitlerismus in Deutschland geschehen sei, wäre es gut und nützlich, sich zu einer Art Schuldbekenntnis durchzuringen. Der »Rat« formulierte solch ein Schuldbekenntnis umgehend. In diesem später berühmt gewordenen »Stuttgarter Schuldbekenntnis« evangelischer Kirchenleute beklagen und bekennen die Mitglieder des Rates für sich und ihre Kirchen, »dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben …«.

Zu denen, die diese Sätze formulierten, gehörte auch Hanns Lilje, 1944 wegen Kontakten zur Beteiligung am deutschen Widerstand
vom 20. Juli vom Volksgerichtshof zu vier Jahren Haft verurteilt, aus
der er natürlich nach Kriegsende sofort befreit worden war. Dieser
1947 zum Landesbischof von Hannover gewählte Kirchenmann war
im Dritten Reich Herausgeber der Halbmonatsschrift »Junge Kirche«. In dieser eher zur Bekennenden Kirche zählenden Kirchenzeitung las man zum 50. Geburtstage Hitlers am 20. April 1939
in der Ausgabe vom 22. April 1939 unter der Überschrift »Zum
50. Geburtstag des Führers«, dass »die Gestalt des Führers auch für
die Kirche eine neue Verpflichtung« heraufgeführt habe, zumal er
»auf den wenigen Seiten der Weltgeschichte genannt ist, die den
Anfängen einer neuen Zeit vorbehalten sind«. Darum solle der
Christ den Aufruf vernehmen, alltags und sonntags »treuer zu glauben, inniger zu lieben, stärker zu hoffen, fester zu bekennen«. So
allein könne sich zeigen – und damit schließt der Jubelartikel -, was
»am christlichen Glauben echt« sei.

Einmal als Schuldbekenntnis angesichts des Hitlerismus und einmal zum Jubel angesichts des Hitlerismus ist da fast gleichlautend die Rede von Glauben, Lieben und Bekennen. Das Hoffen hatte man 1945 im Gegensatz zu 1939 weggelassen.

Nun geht es weder in diesem Kapitel noch in diesem Buch überhaupt um »Vergangenheitsbewältigung«, sondern um die Frage, die ja schon 1939 in jenem Jubelartikel gestellt wurde, was heute »am christlichen Glauben echt« ist, ob Christen heute noch treu glauben, innig lieben, stark hoffen und fest bekennen, und woran sie glauben, wen sie lieben, worauf sie hoffen und wozu sie sich noch bekennen.

Bald 50 Jahre nach jenem Stuttgarter Bekenntnis beantwortete der Theologe und Publizist Eberhard Stammler diese Frage mit peinlicher Nüchternheit. Das Volk habe längst begonnen, aus der Kirche auszuwandern, um seine religiösen Erwartungen, sofern sie virulent seien, durch andere Angebote beantworten zu lassen, und was sich heute noch in den Kirchen versammle, »sei schwerlich eine Gemeinde von Glaubenden«. Höchstens könne da ein »feierlich gestaltetes Zeremoniell« möglicherweise eine gewisse Rührung hervorrufen. Vom mutigen Bekennen, treuem Gebet, fröhlichem Glauben und brennender Liebe – wie einstmals 1945 eingeklagt – ist da nicht mehr viel in evangelischer Kirchlichkeit.

Sieht man auf die Wirklichkeit des Christentums vor allem in der evangelischen Kirche, dann kommt man – gemeinsam mit dem mir sonst nicht so nahestehenden Heinz Zahrnt – nicht umhin, schmerzlich zu verinnerlichen: »Kein Wort von allen Menschenworten« ist heute »so besudelt und zersetzt wie das Wort Gott« – und das am gründlichsten bei den Theologen und Kirchenleuten selbst.

Woran und an wen soll man glauben, wie soll man hoffen, lieben und bekennen, wenn man keine Ahnung davon hat, um welche Inhalte es geht, wer oder was mit »glauben«, »hoffen«, »lieben« oder »bekennen« überhaupt gemeint sein soll? Eine gleichsam niederwalzende Desinformation in religiösen Fragen, ein hilfloses Hin-und-Her-Schwanken zwischen Annahme und Ablehnung der von den Kirchen verkündeten Lehren, eine geradezu ungeheuerliche Irritation angesichts religiöser Inhalte und Lehren, wie sie in der Bibel und in der kirchlichen Verkündigung enthalten sind, charakterisieren die christliche Szene in Deutschland. Schon in den 60er Jahren musste man allgemein zugeben, dass bei evangelischen Theologen kaum noch eine gemeinsame Diskussionsbasis vorhanden sei, auf der man sich einigen könne. Sprechen wir es ganz einfach und damit um so erschreckender aus: Die Theologen, die berufenen Lehrer des Wortes Gottes (damit hängt das Wort »Theologie« zusammen), sind sich schwerlich darüber einig, was eigentlich das »Wesen« des Christentums sei. Jeder Theologe hält – zusammen mit seinen Jüngern und Schülern – seine subjektive Sicht der Christlichkeit, die man dann auch noch gern als »wissenschaftlich« ausgibt, fest wie eine in schwerem Streit erkämpfte Beute.

1988 trat der Hamburger Pastor Wolfram Kopfermann aus der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hamburgs aus. Dort hatte er an der wohlbekannten Hauptkirche St. Petri als Gemeindepfarrer gewirkt und praxis- und basisnahe Erfahrungen gesammelt. Dieser Pastor, der sonntäglich um die 1000 Menschen in seinem charismatischen Nachmittagsgottesdienst versammelte, schrieb 1990 rückblickend auf seine jahrelangen, unmittelbaren praktischen Erfahrungen: »Es ist keineswegs übertrieben, wenn ich sage: Mehr als 95 Prozent der Eltern sind hinsichtlich der Taufe völlig unwissend … nur wenige sind geneigt ernst zu nehmen, was ich ihnen — und wieviel Geduld bedarf es — nahe zu bringen suche.« Was die evangelische Kirche seiner Ansicht nach zusammenhält, sei eben gerade diese auf Desinformation beruhende Praxis der Säuglingstaufe, dann noch das Kirchensteuersystem, die Handhabung des Kirchenrechtes und »eine Menge verharmlosender Parolen wie etwa diese: >Die Kirche war zu allen Zeiten sündig und krank, auch sogar in urchristlichen Tagen<«.

Wie reagiert man in den Kirchen auf dieses unübersehbare Dilemma? Was geschieht angesichts der Wüste leerer Kirchenbänke in sonntäglichen Gottesdiensten?

Anstatt in die Tiefe zu gehen, um die Quelle des fröhlichen Glaubens, der brennenden Liebe, der starken Hoffnung und des mutigen Bekennens sprudeln zu lassen, wird in den Kirchen eine Art von Aktionsidiotie in Gang gesetzt: Man schafft Institutionen für Alte, Jugendliche, Kinder, Süchtige, Ausländer und Asylanten, Freunde des Basteins, Töpferns und der Hobbyfotografie, Initiativen zum Schutze von Robben, Kröten und Kräutern. Ist das alles eine Verwirklichung dessen, »was am christlichen Glauben echt ist«? Was ist hier nur Vereinsmeierei? Wie weit verwirklicht sich hier nur ein »Hobbychristentum« ?

Handelt es sich in der Angebotspalette der Kirchen – wie der Psychologe Franz Buggle meint – um eine »Funktionsverlegung« der »ursprünglich eigentlichen Aufgabe, der Verkündigung des Evangeliums und der (vollständigen!) biblischen Inhalte, zu umfassenden und sehr vielfältigen sozialen Dienstleistungsunternehmungen?« Wenn man dann noch die spezifisch deutsche »Bach-Chor-Mentalität« verinnerlicht und an die vielen künstlerischen und aufwendigen Kirchenkonzerte denkt, die von hauptamtlichen Kirchenmusikern veranstaltet werden, die oft mehr zu den eigentlichen Verwaltern der Christlichkeit in Deutschland gehören als die Pfarrer und die die Kanzel zugunsten der Orgelbank in den Hintergrund gerückt haben, muss man sich fragen, ob sich nicht Christentum für viele Bürger nur noch als ein ästhetisches Erlebnis darstellt.

Da werden aber auch noch andere Experimente gewagt: Am 6. Februar 1996 fand in der 800 Jahre alten St. Katharinenkirche zu Hamburg ein Techno-Gottesdienst statt. Mit einem stolz getragenen, mehr als mannshohen Kreuz vorweg zog zunächst ein weiß gekleideter Chor ein, der das Happening mit Gregorianischen Chorälen begann. Kaum waren diese feierlichen Klänge verhallt, hämmerte mit mindestens 100 Dezibel Phonstärke durch alle Lautsprecher eine monoton dröhnende Computermusik durch den Sakralbau, in dem Bier, Wodka, Wein und Drogen verkauft wurden. Die Kirche war voll, und die meist jungen Leute waren high. In dem Sakralbau hatte die Stimmung mehr power als in der Diskothek, sagten anschließend viele Beobachter dieses »neuen Weges«.

Warum nicht die Diskothek in die Kirche verlegen? In einer Kirche ist zunächst einmal vieles preisgünstiger oder gar kostenlos, und dann gibt es da dieses ganz besondere »feeling«, wenn die Techno-Musik durch die Heiligen Hallen kracht. Man ist eben in einer ganz besonderen Weise »high« — spürt man vielleicht schon die himmlischen Wonnen in der Nähe Gottes? Mit Droge, Schnaps und Bier aufwärts vom Altar zum himmlischen Thron? Und man vergesse nicht: Die »Jugend war da« — zwar nicht angesprochen durch die Predigt über ein biblisches Wort, doch immerhin »angefasst« und »angefühlt« durch eine Musik, die unter die Haut geht.

Allerdings stellt sich die Frage: Was heißt Glauben, Lieben, Hoffen, Beten und Bekennen, wenn es um das »Erfühlen« und nicht um die Andacht, wenn es um den Rausch und nicht mehr um geistliche Wiedergeburt geht? Ist das »Göttliche« zu einem Konsumartikel geworden? Was ist da noch echt am Christentum?

Sicherlich ist solch ein ekstatisches Happening bis heute noch eine Ausnahme. Aber Entertainments, »Anspiele«, »Action«, kultische Tänze, Pop and Rock sind schon seit langem nichts Neues in kirchlichen Hallen. Viele Theologen versuchen es immer mehr mit Entertainement. Wenn es das Wort nicht schafft, dann eben die Show.

2. Gibt es noch einen Maßstab für Gut und Böse?

Auf die Frage, die in den Evangelien einst der reiche Jüngling an Jesus richtete: »Was soll ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe«, weiß die evangelische Kirche von heute kaum noch eindeutige Antworten.

Dafür in diesem Kapitel nur ein Beispiel: Eindeutig wird im Alten wie im Neuen Testament die Homosexualität verurteilt als eine Zerstörung jener Ordnung, die Gott für diese Schöpfung vorgesehen hat. Christen haben sich seit 2000 Jahren daran gehalten. Heute wird in Synoden schon nicht mehr darüber diskutiert, ob Homosexualität zu akzeptieren sei, denn angeblich habe die Bibel noch nichts von der Liebesfähigkeit zwischen Mann und Mann bzw. Frau und Frau gewusst. Heute wird vielmehr erwogen, beantragt und im »vorauseilenden Gehorsam« gegenüber den Kirchenleitungen praktiziert, gleichgeschlechtliche Paare zu segnen. In der evangelisch-lutherischen Kirche Dänemarks ist das längst eine beschlossene und amtliche Praxis. Auch in deutschen Landeskirchen sollen Segnungsgottesdienste, die sich von keinem Laien irgendwie bemerkbar von herkömmlichen Trauungen zwischen Mann und Frau unterscheiden lassen, in die kirchliche »Amtshandlungspraxis« eingeführt werden. Berge von Papier für Synodalbeschlüsse, Gutachten, Erklärungen, Statements usw. wurden angesichts dieses Problems einer Randgruppe verschwendet. Sichtbares Ergebnis: Praktizierende homosexuelle Pfarrer sollen in den meisten Landeskirchen ein Pfarramt erhalten, wenn sie die Bekenntnis- und Lehrgrundlage ihrer Kirche anerkennen und für sie eintreten. Aber diese »Lehrgrundlage«, wenn sie noch irgendwie biblisch sein soll, müsste gerade diejenigen verurteilen, die sich dazu bekennen sollen. Unheimlich die List und Tücke, mit der man sich um Grundsätzliches herummogelt! Besser und ehrlicher wäre es doch, es den Gemeinden zu überlassen, ob sie diese »Lehrgrundsätze« beibehalten wollen oder nicht. Man kann das doch nicht »mündigen Christen« »von oben« vorschreiben!

Ehe und Familie haben jetzt nur noch eine »Leitbildfunktion«, die immerhin auch homosexuelle Pfarrer anerkennen müssen. Die Zehn Gebote, in denen ausdrücklich die Ehe als Ordnung Gottes geschützt wird, sind also noch nicht abgeschafft. Die »Segnung« von Homosexuellen ist grundsätzlich möglich, und eine »verantwortlich gestaltete gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft im Pfarrhaus« fällt unter die »Einzelfallentscheidung«. Hier obwaltet eine vernebelnde Sprache der kirchenstrategischen Kompromisse. Einerseits will man die Traditionspflege (Ehe und Familie), andererseits die von einer vergleichgültigenden Gesellschaft eingeforderte Bejahung der Homosexualität. Sprachliche Zitterpartien prägen zumeist alle Denkschriften, in denen es um grundsätzliche Fragen des Glaubens, Hoffens, Bekennens und Handelns geht.

Was soll man tun, damit christlicher Glaube echt ist? Was aber ist überhaupt echter christlicher Glaube? Ein weiteres Beispiel soll zeigen, wie die Irritationen der Kirchenleute den Wesenskern christlichen Glaubens einfach aufsplittern lassen.

Als 1993 der Rat der EKD zwei Frauen, die offensiv einen lesbischen Lebensstil propagierten, als Studienleiterinnen für das Frauenstudien- und Bildungszentrum der EiD (Evangelische Kirche in Deutschland) in Gelnhausen bei Frankfurt/M. beriefen, war das natürlich ein unmissverständlicher Bekenntnisakt – nicht nur zum Lesbismus, sondern schlussendlich auch zur feministischen Überfremdung des Christentums. Was heißt das?

Ist damit nur gemeint, dass Frauen, auch lesbische Frauen, in der Kirche – ganz zeitgemäß und gesellschaftskonform – mitreden und mitentscheiden sollen? Eben darum geht es nicht. Es geht nicht um ein Mitentscheiden und Mitreden, sondern um ein Umgestalten – um eine andere Religion.

So hören wir heute von theologischen Frauen die Frage: »Wieso brauchen Männer eigentlich das Blut aus einer Wunde, auch das Blut der Kreuzeswunde — und nicht das Blut, das die Frau ständig vergießt?« Im Blut der Frau, im Menstruationsblut, läge doch das Geheimnisvolle, das den Menschen zwar nicht mit Gott im Himmel, aber doch mit der »Mutter Erde« versöhne und verbinde. Man höre und staune: Nun ist nicht mehr die Rede von einem Gott im Himmel, sondern von der als eine Art Göttin angebeteten Erde, und das Menstruationsblut wird zum Symbol der Fruchtbarkeit dieser »Mutter Erde« erklärt. Und das heißt wiederum: Nicht mehr von Gott, sondern von der Göttin Erde, nicht mehr vom Opfertod am Kreuz, sondern vom Eintauchen in den unendlichen Strom des Lebens, des Friedens in der Bewahrung der Schöpfung werde der »Christ« erlöst.

Davon steht natürlich nichts in der Bibel, es sei denn, man berücksichtigt, dass schon die Propheten dieser Art von Naturkult ganz entschieden entgegengetreten sind. Wir werden in einem anderen Kapitel uns noch damit beschäftigen, wie von Mose über die Propheten bis zu Jesus Christus und zum Apostel Paulus ein leidenschaftlicher Kampf gegen diese Art von Baalismus geführt wurde. Hier genügt die Feststellung, dass von offiziellen Kirchenleuten (z. B. vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, der seinerzeit das Schuldbekenntnis in Stuttgart 1945 formulierte) kaum widersprochen wird, wenn christliche Sühne und Erlösungslehre durch kirchliche Sprachrohre zum Tode verurteilt wird.

Um dem allem gleichsam praktisch sichtbar die Krone aufzusetzen, hat die »Evangelische Frauenhilfe« Bremen, die etwa 100 Hauspflegerinnen beschäftigt, Anstoß genommen an jenem Passus ihrer Satzung, in der von der »Liebe Gottes in Jesus Christus« die Rede ist. Aus dieser Formel werde – so meinten die leitenden Frauen jenes »evangelischen Werkes« – ein »männliches Herrschertum« abgeleitet. Das Wort »Christus« habe für Frauen eine »problematische Bedeutung«, denn von dem Begriff »Jesus Christus« könne ein »männlicher Herrschaftsbegriff« abgeleitet werden. Man hat die Satzung geändert. Alles in allem ist dies nur die kleine Spitze des Eisberges einer matriarchalischen Umwandlung des Christentums, die so radikal ist, dass man sie nur als Verrat bezeichnen kann. So, wie die Dinge jetzt laufen, ist doch bedeutsam, dass im Namen des Christentums das Christentum selbst zerstört wird – in Anpassung an den Trend der Zeit. 

3. Das »Wesentliche«, die Bibel, wird ins Abseits gestellt

Zu einer verblüffend offenen Analyse gegenwärtiger Selbstzerstörung des Christentums kam vor wenigen Jahren ein rheinischer Pastor. Dr. Günther Kegel war seit 1966 im Auftrag der Evangelisch-theologischen Fakultät Bonn in den Außenstellen Aachen und Köln als Exeget mit der Ausbildung von Religionslehrern tätig. Er schreibt in befreiender, wenn auch schockierender Offenheit über die Bedeutung der Bibel im evangelischen Christentum heute: »Aus einem Buch mit offenbarter Lehre wurde eine Bibliothek menschlicher Schriften mit zeitgebundenen, sich wandelnden und kontrastierenden Aussagen.«. Die Bibel sei für den nachdenklichen und mündigen Christen von heute zeitgebunden und widerspruchsvoll.

Das ist allerdings genau das Gegenteil von dem, was die Reformatoren wie Luther und Calvin über die Bibel dachten und bekannten.

Günther Kegel meint weiter, dass man das reformatorische »Schriftprinzip«, dass sich also die Kirche in allem, was sie lehrt, auf die Bibel berufen müsse, abschaffen solle. Die Bibel könne nur verständlich sein, soweit sie »menschlichen Wahrheitskriterien standhalten« könne. Würde man von der Unfehlbarkeit der Bibel ausgehen, dann wäre »die ganze akademische Theologenschaft… eine einzige Bande von Irrlehrern«.

Nach Pastor Kegels Meinung soll reiner Tisch gemacht werden, denn »zweitausend Jahre Bevormundung durch Christentum und Kirche haben dazu geführt, dass die meisten Menschen den Sinn für originäre Gotteserfahrungen verloren haben«. – Was hier offen und direkt gefordert wird, ist doch letzten Endes die Abschaffung des Christentums.

Die Selbstzerstörung des evangelischen Christentum nähert sich zweifellos einer Art von »Endlösung«. Das geschieht eigentlich alles mehr oder weniger unterschwellig und bleibt dem »Kirchenvolk verborgen. Der innere Kirchenfrieden wird vom Kirchenvolk gewahrt, weil es ja kaum noch eine Ahnung davon hat, was eigentlich die tragenden, wesentlichen Inhalte des Christentums sind. Die Leute spüren nur die Aussageverlorenheit der Kirche, treten aus und lassen ihre Kinder nicht mehr taufen. In Frankfurt/Main werden nur noch 7 Prozent der Neugeborenen getauft. Gewiß, viele Pfarrer in vielen Gemeinden singen, beten und predigen immer noch in hergebrachten Formen und Wendungen, die sie aber kaum noch mit Leben füllen. Und da sind die Bekennenden, die Bibeltreuen, die (nach dem Urteil der Pietisten) »gläubigen Pfarrer«, die ernsthaft die eigentlichen Inhalte christlicher Verkündigung weitergeben wollen. Aber es sind so wenige und als so wenige sind sie auch wieder so sehr Beamte der Kirche, so sehr wieder dem Reglement ausgesetzt, dass sie kaum noch Einfluss auf den Gang der Dinge in den Abgrund hinein nehmen können.

Halten wir fest: Wenn irgendein Konsens bestimmen soll, was gelehrt und geglaubt wird, wenn also eine Art von »Konzilien festlegt, was Wahrheit ist, dann ist das nicht nur eine Schändung der Reformation Martin Luthers. Dann kann jede Ideologie beschlossen und verkündet und im Namen des Christentums unter die Leute gebracht werden.

4. Die weiche Welle ist gefragt und billige Gnade wird offeriert

Für die allgemeine Öffentlichkeit läuft eine quasichristliche Methode ab, die der Illusion lebt, durch Popularisierung des Christentums doch immerhin noch so etwas wie eine christliche Gesellschaft aufbauen zu können. Da wird von Feiern, Freude, Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit, multikultureller Gesellschaft, von Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung geredet, als ob mit dem »lieben Gott« gleich um die Ecke das erlöste Dasein eines erlösten Kosmos zu finden sei.

Der biblische Realismus hingegen ist für diese Wohlfühlgesellschaft unerträglich geworden. Die sanfte, weiche Verführung ist gefragt. Viel wird in allen Kirchen von Liebe und Geschwisterlichkeit geredet, und es waltet unverhohlen Ärger, wenn da einige diese Träume von einer Wohlfühlidylle stören wollen, indem sie an die Realität dieser Welt und das urchristliche Welt- und Menschenverständnis erinnern. Die Gnade und die Liebe sollen billig sein, der Mantel der Liebe wird über alles dahingeworfen, ohne die Buße, die Umkehr des Herzens real einzufordern. Die teure Gnade, an die Dietrich Bonhoeffer erinnerte, die Gnade für den bußfertigen Sünder ist abgelöst durch die billige Gnade, die weder Buße noch Sünde kennt, sondern alles eintaucht in den Ozean einer irreal und romantisch missverstandenen »Allbeseeligung«.

Die Selbstzerstörung des Christentums der billigen Gnade heute wurzelt in der Realitätsverfremdung. Die von Nietzsche erwähnte Dekadenz des Christentums sieht die Absurdität dieser Welt nicht und verdrängt sie durch ein utopisches Wunschdenken, das ja überhaupt charakteristisch für diese Gesellschaft, ihren Lebensstil und auch ihre Politik ist.

Gegenwärtige Wohlfühlreligiosität bewegt sich in einer Selbsttäuschung. Es ist dieselbe Selbsttäuschung, aus der einst bürgerlicher Fortschrittsglaube und kommunistische Ideologie ihre Programme aufstellten, die dann an der Realität zerbrachen. In unserer etwa seit 40 Jahren bestehenden Wohlfühl- und Wohlstandsgesellschaft kann man sich solche leichten »religiösen« Reden vielleicht noch anhören. Aber solch eine Kirchlichkeit ist kein wirklicher »Lebensgefährte«, sondern im Blick auf eine uns sehr bald mehr herausfordernde Zukunft sicherlich nur ein kurzatmiger »Lebensabschnittsgefährte«.

5. Biblischer Realismus gegen pseudochristliche Idylle

Um 1965 schrieb die in aller Welt bekannte Theologin Dorothee Sölle die in aller Welt bekannten Sätze: »Wie man nach Auschwitz den Gott lehren soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich nicht.« Aber dies wusste sie: »Es führt kein Weg zurück zum Kindervater, der Wolken, Luft und Winden Wege, Lauf und Bahn gibt.« Den modernen Menschen, so interpretiert dann Heinz Zahrnt diese traurige Melodie, bedränge in diesem Jahrhundert die »Ungöttlichkeit der Welt« so sehr, dass vielleicht sogar »das ganze Dasein gnadenlos ist«, dass es für ihn einen »gnädigen Gott ebensowenig gibt wie einen lieben Gott«.

 

Daraus folgt als ganz konkrete Konsequenz: keine Liebe im Himmel und keine Liebe unter den Menschen. »Die neue mitleidlose oder das Mitleid abschaffende Form von menschlicher Entwicklung, der Organisation des Menschen unter dem Gesichtspunkt der Singles, der Konsum  als ästhetische Erfüllung des Menschengeschlechts, das ist postmodern. Die herrschende Klasse, wenn man sie so nennen will, also die jungen dynamischen Unternehmer und höheren Angestellten, haben für uns alle, ob humanistisch, sozialistisch oder christlich nichts als ein mitleidiges Lächeln übrig«. Diese 1994 von Frau Sölle niedergeschriebenen Sätze beschreiben durchaus realistisch die euro-amerikanische Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts als im Grunde eiskalt unter einem eiskalten Himmel, in dem der »liebe Gott« eingefroren ist.

Schon lange hat sich eine seit den 60er Jahren entwickelte »Gott-ist-tot«-Theologie totgelaufen. Damals sagte man: Schon am Kreuz zu Golgatha, in diesem Triumph des Todes über das Leben und des Sinnlosen gegen das Sinnhafte, sei Gott gestorben. Das Wort Gott sei mithin unsinnig, das Wort selbst sei ja schon längst tot. Inzwischen ist in dieser modernen Gesellschaft Gott in der Tat so tot, dass die »Gott-ist-tot«-Theologie keinen Gott mehr benennen kann, dem sie sagen müsste, dass er tot sei.

Gegenüber dem utopischen und »gottmütterlichen« Erlösungsgerede der starken und wortmächtigen Mütter und Mädchen unter den Theologen hat diese »Gott-ist-tot«-Theologie allerdings einen realen Kern. Es ist in der Tat nicht möglich, die Absurdität dieser Welt, sowohl in der Natur als auch in der Geschichte, so ohne weiteres unter das Regiment eines lieben Gottes oder einer lieben Göttin gestellt zu sehen. Ein »lieber Gott« kann nicht zulassen, was auf dieser Welt an Unheil losgelassen ist. Solch ein idyllisches Missverständnis von Gott und Welt wäre in der Tat unbiblisch.

Der Albert-Schweitzer-Schüler und Berner Theologieprofessor Martin Werner, der mit seinem Lehrer die Auffassung teilt, dass wir der Welt so, wie sie ist, keinen göttlichen Sinn abgewinnen können, zitiert den tiefgläubigen katholischen Theologen Theodor Hacker, der in seinen »Tag- und Nachtbüchern« bekennen muss: »Als mein Sohn Reinhard in seinem ersten Lebensjahr wochenlang allnächtliche Krampfhustenanfälle bis zum Ersticken hatte, wurde es dunkel in mir, denn hier sah und sehe ich nicht den leisesten Schimmer eines Verstehenkönnens: Es ist die absolute Grausamkeit.« Theodor Hacker wusste, dass sein bitteres Schicksal ganz gewiß so nicht das einzige war, und schrieb: »Nun aber geschah und geschieht dies wahrscheinlich seit Millionen Jahren … wozu diese endlose Wiederholung all des unsäglichen Elends in tausenden von Generationen …«

Neben Vincent van Gogh, der immer mehr daran glauben musste, »dass man Gott nicht nach dieser Welt beurteilen darf« und dass diese Welt »eine Studie« sei, »die ihm missriet«, und ungezählten anderen Zeugen der Absurdität wird man in einer Gegenwart sadistischer Pädophilie an Dostojewski denken. In dessen Werk »Die Brüder Karamasow« kann Iwan Karamasow nicht verstehen, dass unschuldige Kinder leiden müssen, dass der Mensch an Grausamkeit alle Tiere übertreffend sogar unschuldige Kinder quält. Diese zu Tode gequälten Kinder werden für ihn nicht dadurch gerächt, dass die Bösen in die Hölle kommen, die ohnehin für ihn mit einer Weltharmonie nicht in Einklang zu bringen wäre. Der Atheist Iwan Karamasow akzeptiert diese Welt nicht und darum auch nicht jenen Gott, der nach Meinung der Christen diese Welt geschaffen habe.

Aber nicht nur in der Geschichte, auch in der »reinen Natur« regiert die pure Brutalität. Leben kann sich nur auf Kosten anderen Lebens erhalten; Leben kann nur leben, wenn es anderes Leben vernichtet. Der katholische Christ Friedrich Dessauer schrieb einmal: »Der Blick auf das Unheil, das die ganze Welt durchzieht, das in jedem Augenblick Millionen von Lebewesen in seinem Griff hat, ist so grauenhaft, so heillos, dass wir im Grunde alle davon leben, dass wir nicht hinschauen, dem Anblick ausweichen, die Augen verschließen.«

Der tiefste Beweis für die Absurdität des Daseins ist doch, dass zwar alles Leben unbedingt leben will, aber dass es doch auch unbeirrbar auf den Tod programmiert ist. Nicht das Individuum, ganze Arten können durch Zufall und Laune der Natur vernichtet werden und sind vernichtet worden. Auch ist letztlich der »Sinn« des natürlichen Lebens gar nicht einmal die Erhaltung der Art, so dass wenigstens diese in einer Art Harmonie leben könne. Keineswegs ist nur der Mensch jenes ungeheuerliche Wesen, das gegen seine eigene Art wütet. Auch in der Tierwelt macht der Kampf um das Dasein vor der eigenen Art nicht Halt. In einer grausamen Hackordnung überleben nur die Starken, und die Schwachen müssen unbarmherzig verrecken. Ein junger Löwe, der den Nebenbuhler seiner begehrten Löwin vertrieben hat, frißt die von seinem »Vorgänger« gezeugten Jungen auf – nicht um die Erhaltung der Art, um das brutale Überleben des Individuums geht es auch in der »reinen Natur«.

In unserer seit vielen Jahrzehnten in Westeuropa sozial abgesicherten und auf Massenkonsum getrimmten Gesellschaft haben wir Verkehrsschilder aufgestellt, damit über die Straße wandernde Kröten nicht überfahren werden. Öko-Fans neigen dazu, die grausame Natur als Idylle zu verklären. Man träumt von der Aussöhnung zwischen Natur und Mensch, von einem Frieden auf Erden, der allbeseeligend Tiere und Menschen umfasst. Dieser Friede wird aber auf dieser Welt nicht realisierbar sein, weil die Natur und damit auch die Kreatur auf den Kampf um das Dasein hin strukturiert ist und weil nichts, aber auch gar nichts dafür spricht, dass der Mensch seine wirtschaftlichen, vitalen, ideologischen und religiösen Egoismen in dieser Welt jemals überwinden wird. Die Geschichte von der Steinzeit (oder wo immer der Anfang menschlicher Geschichte gesehen werden mag) bis zur Megabombe ist eine Geschichte der Herrschaft des Menschen über den Menschen und des Kampfes des Menschen gegen den Menschen.

Man sage nicht, irgendwo dahinten in der Geschichte, etwa bei den Griechen, im christlichen Mittelalter oder in der Aufklärungszeit habe es goldene Zeitalter gegeben. Sklaverei, Inquisition, Leibeigenschaft, revolutionärer Terror und immer wieder Hunger, Epidemien und Kriege durchziehen so oder so die Geschichte bis zum heutigen Tag.

Es ist die Absurdität in der Geschichte, in der Natur und im Menschen selbst, die es unmöglich macht, Sinnhaftes in dieser Welt zu erkennen. Keiner kann an dieser Welt so, wie sie ist, ablesen, dass ein lieber und gerechter Gott über ihr waltet. In seiner Kulturphilosophie zog Albert Schweitzer kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs das Resümee: »Meine Lösung des Problems ist, dass wir uns entschließen müssen, auf die optimistisch-ethische Deutung der Welt in jeder Weise zu verzichten. Nehmen wir die Welt, wie sie ist, so ist es unmöglich, ihr einen Sinn beizulegen, in dem die Zwecke und Ziele des Menschen sinnvoll sind … Ich glaube der erste im abendländischen Denken zu sein, der dieses niederschmetternde Ergebnis anzuerkennen wagt und in Bezug auf unser Wissen von der Welt absolut skeptisch ist, ohne damit zugleich auf Welt- und Lebensbejahung und Ethik zu verzichten.«

Viel zu wenig ist dieses wirklich revolutionäre Denken Albert Schweitzers erkannt und gewürdigt worden. Albert Schweitzers Erkenntnis war damals – vergleichbar etwa mit der Theologie Karl Barths – eine Revolution in der Kirchengeschichte, die ihresgleichen suchte.

Aber dies ist widerspruchsvoll: Im Juli 1923 forderte Schweitzer, dass »eine neue Renaissance kommen muss«, dass die Menschheit sich in einer »neuen Gesinnung erneuern muss, wenn sie nicht zugrunde gehen will.« Albert Schweitzer glaubte also an eine Erneuerung der Menschheit – so wie auch Dorothee Sölle bis heute daran glaubt und viele ihrer Brüder und Schwestern, die auf ökumenischen Treffs für Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung kämpfen.

Aber wo hat dieser Glaube die Basis in der Realität? Hat die urchristliche Gemeinde, so wie sie sich in ihren Schriften, eben im Neuen Testament, darstellt, an eine zukünftige Bewahrung dieser Welt und dieser Menschheit, an eine »neue Renaissance«, an Frieden und an Gerechtigkeit auf dieser Erde sowie an die Bewahrung dieser Schöpfung geglaubt? Ist diese sich christlich gebende und zweifellos wirklich heroisch darstellende »Weltanschauung« letzten Endes nicht doch nur eine Pervertierung christlicher Hoffnung, die das Heil und die Erlösung eben nicht auf dieser Welt erwartet? Ist nicht diese dahindämmernde Christlichkeit der letzte bürgerlich-idyllische Versuch, eine »bessere Welt« oder gar »heile Zukunft« herbeizuträumen?

6. Wesentlich ist, dass diese Welt nicht das Letzte, sondern das Vorletzte ist

Weder Jesus noch die Urgemeinde haben je gedacht, dass diese bestehende Welt so beschaffen sei, dass sie sich auf eine Welt des Friedens, der Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung »hinbewegen« würde. Man kann noch schärfer formulieren und in völliger Übereinstimmung mit den Schriften des Neuen Testamentes behaupten, dass Jesus und die Urgemeinde eine Sinnerfüllung des Lebens in dieser Welt verneint haben.

Mit dieser »Jenseitsposition« trennt ein unüberbrückbarer Graben die sogenannte moderne Theologie auf der einen Seite von der Botschaft der christlichen Urgemeinde auf der anderen Seite.

Inhalt der Verkündigung Jesu ist das kommende Reich Gottes, das sich nicht in und aus dieser irdischen Geschichte herausentwickelt. Vielmehr bringt es den totalen Bruch mit allem, was dieser Welt das Letzte und Höchste war und ist. Jesus und die Urgemeinde glaubten an einen neuen Himmel und an eine neue Erde, in welcher Friede und Gerechtigkeit in einer »neuen« Schöpfung wohnen.

Wenn es im Vaterunser heißt: »Dein Reich komme« und »Dein Wille geschehe, so wie im Himmel dann auch auf Erden«, dann ist damit eindeutig angesagt, dass erst in einem kommenden Reich, wenn die Erde durch Gottes Eingreifen radikal verwandelt wird, diese Welt zu einer neuen Schöpfung und der Wille Gottes zu seiner Vollendung gebracht werden.

Jesus predigt also das »übernatürliche«, das himmlische Reich, das am Ende der natürlichen Weltzeit anbricht. Dann würde er wiederkommen in Herrlichkeit. Diese Wiederkunft sollte aber nicht auf einem Höhepunkt, sondern in der Katastrophe dieser Weltzeit geschehen.

Der Triumph der Revolte gegen die Absurdität in der Verkündigung Jesu liegt in der Botschaft vom Ende dieser absurden Welt und vom Anbruch des Reiches Gottes.

Die urchristliche Gemeinde hat ganz und gar aus diesem und keinem anderen Protest gegen die Absurdität gelebt. Sie wollte nicht diese vorgegebene Welt verändern oder erlösen, sondern hoffte auf Gottes Sohn »aus dem Himmel«. Sie vertraute ganz und gar auf »unseren Herrn Jesus bei seiner Ankunft« und darauf, »dass er uns herausreiße aus der gegenwärtigen bösen Welt«. Der Christ lebte der Gewissheit, dass »die Gestalt dieser Welt vergeht« und dass die ganze Schöpfung, dass sich auch Tiere und Pflanzen nach dem Tag der »Offenbarwerdung der Söhne Gottes«, also nach dem Tag der großen und totalen Umwandlung dieser Schöpfung sehnen.

Die urchristliche Gemeinde lebte der Hoffnung und der Gewissheit, dass sie hier keine bleibende Stätte habe, sondern auf eine zukünftige Herrlichkeit hoffen dürfe (1.Kor.4,11). Diese Welt war für sie in jeder Weise nicht das Letzte und Endgültige, sondern nur das Vorletzte. Diese Endzeiterwartung der urchristlichen Gemeinde steht so sehr im Zentrum ihres Glaubens, dass die Verneinung dieser Enderwartung durch die überwiegende Mehrheit der zeitgenössischen Theologen die Preisgabe des Christentums in seinem Wesen bedeutet.

Es gibt etliche Hinweise darauf, dass die urchristliche Gemeinde sich diesem Ende nahe wusste. So wie man vom Rigi die schweizerischen Hochalpen mit den Händen greifen zu können meint, weil man den See und die Täler dazwischen nicht sieht, so haben gewiss viele in der Urgemeinde gemeint, dieses von Jesus verkündete Reich Gottes sei greifbar nahe. Man erinnere sich auch daran: Jeder Mensch weiß, dass er einmal sterben muss. Dieses Wissen unterscheidet ihn vom Tier. Er weiß aber nicht, wann dieser Zeitpunkt kommt – es kann je nach seinem Lebensalter Jahrzehnte dauern, es kann aber auch durch Unfall oder Krankheit plötzlich geschehen. Der Mensch mag plötzlich vom Tode überfallen werden, er kann aber auch auf die Stunde seines Todes – vielleicht ganz gegen seinen Willen – lange warten müssen. Die Frage nach dem Wann und Wie ändert jedoch nichts an der Tatsache des Endes und an dem Glauben, dass durch den Tod hindurch ein neues Leben in der endzeitlichen Auferstehung beginnt.

7. Wesentlich ist, dass diese Welt durch Gott vor dem Chaos bewahrt wird

Es wäre ein geradezu unheimliches Missverständnis der Bibel, wenn der Schöpfungsbericht, mit dem das Alte Testament beginnt, als Anfang oder Begründung einer absolut heilen und vollkommenen Welt verstanden würde. Dass der Schöpfungsbericht seit Jahrtausenden oft so missverstanden wurde, hängt mit der zur idyllischen Weltverklärung führenden Selbstverfremdung des Christentums zusammen, die vor der Absurdität dieser Welt die Augen verschloss und an das Ende dieser Welt und an den Anbruch einer neuen Schöpfung nicht mehr zu glauben wagte. Je mehr die endzeitliche Perspektive der Urgemeinde an den Rand der kirchlichen Lehre gesetzt wurde, umso mehr wurde die bestehende Welt – nicht nur die Schöpfung, sondern auch die jeweilige, herrschende Gesellschaftsordnung – verklärt und ganz und gar als »Ausdruck« eines göttlichen Willens verstanden. Das hat sich verhängnisvoll auf den Gang des christlichen Glaubens in dieser Welt ausgewirkt.

Umso wichtiger ist es gerade heute, in einer Zeit naturschwärmerischen Missverstehens dieser Welt zu bedenken, was dieser sogenannte biblische Schöpfungsbericht eigentlich meint, der mit den Worten beginnt: »Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war wüst und leer gewesen, Finsternis lag über dem Urmeer und ein Gottessturm schwebte über der Wasserfläche. Da spricht Gott: Es werde Licht und es ward Licht. Gott aber sah das Licht, dass es gut war. Dann schied Gott zwischen dem Licht und der Finsternis.«

Als das Bedeutsame steht in dieser Schöpfungsgeschichte: Schöpfung ist in sich von Anfang an eine Schöpfung gegen die Absurdität. Das »Urmeer« – oft auch mit »Tiefe«, wohl besser mit »Chaos-Meer« übersetzt — ist Ausdruck für das »kosmisch Abgründige«. Es ist der Schatten des Bösen von Anfang an, der als Absurdität am Rande der Schöpfung steht. Der Gottessturm geht aber über die bösartige Abgründigkeit des Chaosmeeres hinweg. »Wüste«, »Leere« und »Finsternis« meinen nicht, dass da etwas an dem von Gott gebauten Haus der Schöpfung noch nicht fertig sei. Hier ist vielmehr die Rede davon, »dass hinter allem Geschaffenen der Abgrund der Gestaltlosigkeit liegt, dass ferner alles Geschaffene ständig bereit ist, im Abgrund des Gestaltlosen zu versinken, dass also das Chaos schlechthin die Bedrohung alles Geschaffenen bedeutet …«. Und wenn es am Schluss des Schöpfungsberichtes heißt: »Und Gott sah alles, was er gemacht hatte und siehe, es war sehr gut…«, dann ist eben diese gute Schöpfung als »Wunder der Schöpfung aus seiner Negation heraus zu verstehen«, denn 1. Mose 1 »bewegt sich nicht so zwischen der Polarität Nichts und Geschaffenes als vielmehr zwischen der Polarität: Chaos und Kosmos«.

Die Schöpfung ist also darum gut, weil sie dem Bedrohlichen der Absurdität standhält und von Gott davor bewahrt wird, im Chaos zu versinken. Alles, was geschaffen ist, ist von ihm, durch ihn und zu ihm, wie der Apostel Paulus es formulierte (Röm.11,36). Eben gerade deswegen fällt die Schöpfung nicht in das Chaos zurück — bis auf den Tag, da ein neuer Himmel und eine neue Erde geschaffen werden. Die Bezeichnung als »gut« ist also zu verstehen in dem kämpferischen Sinne, dass der Absurdität, dem Bösen, dem Nichtigen widerstanden wird. »Gut« ist die Schöpfung, weil Gott sie davor bewahrt, in selbstzerstörerisches Chaos zu versinken.

Die Unterscheidung von Tag und Nacht ist mehr als eine Unterscheidung zwischen hell und dunkel. Sie meint die Spannung zwischen Licht und Finsternis: »Während der Tag Licht vom erschaffenen Urlicht ist, besteht die Nacht in nichts anderem als jenem ausgeschiedenen Chaosdunkel, jetzt allerdings von heilsamer Ordnung begrenzt.« In jeder Nacht — so beschreibt es der Alttestamentler Gerhard v. Rad – zerfließt die Gestaltenwelt der Schöpfung ins unheimlich Formlose, »gewinnt das Chaotische wieder eine gewisse Macht über das Geschaffene, und mit jedem Morgen wiederholt sich etwas von der ersten Schöpfung Gottes«. In der Nacht wurde Jesus verraten und gefangengenommen. An einem Morgen, mit dem Aufgehen des Lichtes, ist er von den Toten auferstanden. Die Tatsache, dass nur das Licht im Schöpfungswerk das Prädikat »gut« erhält, ist Ausdruck für die kosmische Bezwingung der Nacht. Am Ende der Zeit – so sagt Jesus es voraus – kommt die Nacht, da niemand mehr wirken kann (Joh.9,4), und der neue Himmel und die neue Erde sind dann der neue Tag einer neuen Schöpfung, in der keine Nacht mehr sein wird (Offb.21).

Die gute Schöpfung, in der wir heute leben, steht also in der Spannung von hell und dunkel, Tag und Nacht. Die Finsternis als Macht der Zerstörung kann real in diese Welt einbrechen mit Krankheit, Katastrophe und Tod. Die Macht der Absurdität, die in der Bibel, insbesondere im Neuen Testament auch »Satan« genannt wird, kann nach Jesu Worten geradezu auch als »Fürst dieser Welt« bezeichnet werden. In der Heilung an dem von dämonischen Mächten Besessenen kämpft Jesus gegen die Mächte der Absurdität, eben gegen das Satanisch-Absurde dieser Welt. Aufgrund dieser Erfahrung kann Jesus sagen, dass er wirkt, so wie sein Vater bisher wirkt (Joh.5,17), nämlich im Kampf für die Überwindung des Bösen, das als Absurdität diese Schöpfung gleichsam anspringt.

Die Bewahrung der Welt wird nicht mit dem idyllischen Tun eines Gärtners verglichen. In gewaltigen Bildern wird vielmehr in der Bibel aufgezeigt, dass Gott in einer permanenten Revolte, kämpfend und siegend dem Chaosmeer Tor und Riegel setzt. Die in der Sintflut gebändigten Chaosmächte umlagern bedrohend die Schöpfung, und als der streitende Erhalter setzt Gott diesen Mächten seine Grenze: »Gott hat den Raum der Welt erkämpft. Feindliche, aufrührerische Gewalten machen sie ihm streitig. Alle Zeit steht unter der Drohung des Zusammenbruches, der Vernichtung durch Verderben… Hier ist darum die Heimat der Bilder von Gott als dem kämpfenden Helfer«, schreibt der Züricher Alttestamentler L. Köhler in seiner Deutung der Schöpfungsgeschichte.

Der Gott der Bibel ist in der Revolte gegen die Absurdität in einem permanenten Kampf: Gebirge schmelzen, Täler spalten sich, der Himmel bebt, die Erde erschreckt, Berge beben und Hügel wanken, die Sterne verblassen, Sonne und Mond verfinstern sich. Das alles sind keine »mythologischen« Bilder, sondern spiegelt die reale Erkenntnis, dass auf dieser Welt das Leben des Menschen ungesichert ist und dass es einbezogen ist in die Revolte Gottes gegen die Absurdität. Von daher versteht sich der Sinn der prophetischen Trostrede: »Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen — spricht der Herr, dein Erbarmer« (Jes.54,10).

Das Volk Gottes, Israel und dann die christliche Gemeinde leben in der Revolte und werden in sie einbezogen. Die Chaosmacht aus der Natur und aus der Geschichte, natürlich auch die Absurdität im persönlichen Leben, kann nicht nur zuschlagen, sondern auch verwunden. Die Menschen leben als Verwundete in diesem Kampf gegen die Absurdität. Nicht nur die Natur steht gegen den Menschen auf, sondern auch der Mensch gegen den Menschen, der gottlose Chaosmensch gegen die auf Gott vertrauenden Ordnungsmenschen, die der Weisung Gottes leben.

»Geistliches« Leben meint dabei nicht, dass man permanent »high« ist. In diesem christlichen Leben gibt es Verwundete und Geschlagene, durch die Absurdität unter die Räder Gekommene — so wie Hiob, der seinen Besitz, seine Familie und seine Gesundheit verlor. Geistliches Leben meint auch nicht — auch das erkennen wir am Beispiel Hiobs — dass alles, was in unserem Leben passiert, als Lohn oder Strafe Gottes zu deuten wäre. Grundlos kann der Mensch unter die Räder kommen, aber dann bleibt ihm die Gewißheit: »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und als der Letzte wird er sich über den Staub erheben« (Hiob 19,25). Eben weil die Welt das Vorletzte ist, eben weil die Sinnhaftigkeit des Daseins nicht aus dem Dasein aus dieser Welt abgelesen werden soll und kann — darum können Glaube und Hoffnung über das Diesseits hinaus auf Gott hin wachgehalten werden. Man achte auf den Realismus, der sich in dem Psalmwort spiegelt: »Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist du doch, Gott, alle Zeit meines Herzens Trost und mein Teil.«

In seinem persönlichen Leben wird jeder in jeder Phase seines Lebens das Sinnhafte durchkämpfen müssen. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob es um die Liebe zwischen Mann und Frau, um einen politischen Auftrag, um ein berufliches Ziel oder um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen geht — immer ist die Absurdität im Sprung und will zerstören, was sinnvoll leben soll. Darum ist das Leben eines Glaubenden, Liebenden, Hoffenden und Bekennenden ein permanenter Kampf, der nie aufhört, solange er lebt. Dabei wird er immer die Erfahrung machen, dass auch das Schönste, dem er in seinem Leben begegnet, immer nur das Vorletzte sein kann. Das sogenannte Glück ist allenfalls ein Gleichnis dessen, was ihn in der himmlischen Welt erwartet. Er wird immer wieder erfahren müssen, dass alles Gute, Wahre und Schöne die Sinnerfüllung seines Lebens nicht bringt. Sie liegt nicht im Diesseits, sondern gerade in jenem Jenseits, das von der modernen Theologie so radikal verneint wird.

Dieser biblische Realismus meint nicht Resignation. Ganz im Gegenteil wird die frohe Botschaft, eben das Evangelium, vermittelt, dass der Glaubende überwindet und siegt. Durch alle Wunden hindurch, die ihm das Leben in dieser zwiespältigen Welt zufügt, wird er als Überwinder dastehen, weil das Vertrauen in Gott der Sieg ist, der die Welt überwunden hat (1.Joh.5,4). Das dramatische Leben des Christen ist täglicher Kampf, aber eben auch täglicher Sieg, weil der Glaube die Berge versetzt, die uns die Absurdität dieser Welt täglich in den Weg stellen will.

Warum ist es nun so, wie es ist? Warum dieses Drama der Schöpfung und der Geschichte, in das der Mensch kämpfend, leidend, verwundet und blutend aber auch überwindend und schlussendlich triumphierend einbezogen wird? Die Bibel gibt darauf keine Antwort. Sie spekuliert nicht und mythologisiert nicht. Es gibt keine Göttergeschichten, die erklären könnten, was schlussendlich doch nicht zu erklären ist. Insofern hat die Bibel kein System und auch keine Dogmatik. Die Frage nach dem Warum ist seit Hiob bis heute, solange wir nur durch einen Spiegel in einem dunklen Wort sehen, wie es der Apostel Paulus ausdrückt (1.Kor.13,12), unbeantwortet.Die Bibel hat kein System, sondern Geschichte, und diese erzählt von Erfahrungen mit dem offenbar gewordenen Gott. Sie bezeugt den Kampf gegen die Absurdität, antwortet aber nicht auf die Frage nach dem Warum und Woher dieser Absurdität. Gott ist allmächtig vom Ziel her, wenn alles Geschehen im Kosmos und in der Geschichte in Gott selbst seine Erfüllung gefunden hat, wenn Gott »alles in allem ist« (1.Kor.15,23). Erst dann — also in einem heute so leidenschaftlich verneinten Jenseits von Raum und Zeit — ist die Allmacht Gottes an ihrem Ziel, dann ist auch das Sinnlose zu seinem Sinn gekommen.

 

III. Urchristliche Existenz und nachchristliche Verfremdung

1. Glaube ist eine Sache des Herzens

Christlicher Glaube ist kein Umgang mit Begriffen, Systemen oder Dogmen. Christlicher Glaube ist auch keine »Weltanschauung«. Die Bibel hat keine Kosmologie, sie kennt keine Theorie über die Entstehung der Welt und liefert auch keine Prognose als Vorhersage über einen programmierten Ablauf der Geschehnisse, die sich einmal in der Zukunft ereignen werden. Sie hat das alles sowenig sie einen »Gottesbegriff« oder ein »Menschenbild« oder ein »Weltbild« hat.

In der Bibel geht es in der Erfahrung mit Gott durch die Mitte der Existenz, die in der Bibel »Herz« genannt wird. Man braucht nur eine Konkordanz biblischer Leitworte aufzuschlagen, um zu sehen, wie sehr das Wort »Herz« der Angelpunkt des den Menschen packenden Heilsgeschehnisses ist. Gott ist nicht Gegenstand der Reflexion oder gar der Spekulation. Er hat mit dieser Welt und mit den Menschen auf dieser Welt eine Geschichte. Es geht um ein Geschehen, das war und ist und kommen wird. Die Prophetie liegt nicht auf der Ebene der logistischen Analyse, sondern der die Zukunft erleuchtenden Offenbarung für das menschliche Herz. Die biblische Prophetie spricht nicht die menschliche Neugier an, sondern das menschliche Fragen nach Heil und Unheil. Dem Herzen wird in Bildern und Gleichnissen gesagt, was es im Blick auf die Zukunft fürchten, aber vor allem auch, was es hoffen und worauf es in aller Zukunft vertrauen kann.

Das Christentum ist also nicht eine »Sache mit Gott« (Heinz Zahrnt), sondern ein »Existieren mit Gott«. Die Bibel spricht unser Herz an — das gilt in gleicher Weise für das Alte wie auch für das Neue Testament. Wo unser Schatz, wo das Letztgültige unseres Lebens ist, da ist auch unser Herz, sagt Jesus in der Bergpredigt. Das Herz ist es, das Gott vertraut; und nicht auf Riten und Zeremonien, sondern auf die Sprache des Herzens kommt es an.

Wo Christen wirklich miteinander verbunden sind, da sind sie durch die Herzen miteinander verbunden. Wir sollten es uns schon hier hinter die Ohren schreiben, dass christliche Gemeinde entweder eine herzliche oder gar keine Gemeinde ist. Und das Herz ist es auch, in das die Liebe Gottes ausgegossen wird, und das Herz ist es, das mit Christus verbunden und eins ist (Röm.5,5). Und alles, was Christen auf dieser Welt miteinander und füreinander tun, das sollen sie mit dem Herzen tun (Kol.3,23). Die Urgemeinde glaubte tatsächlich an diese für uns fast unvorstellbare Gemeinschaft menschlicher Herzen.

 

Nun kann ein Herz auch »falsch spielen«, ein Herz kann sich verhärten oder — um es sachlicher auszudrücken — es kann sich ein Existenzwandel vollziehen und sich die Frage stellen, ob unser Herz heute noch für das schlägt, wofür dereinst das Herz der Urgemeinde schlug. Können wir im nachchristlichen Zeitalter noch so existieren, wie die Gläubigen im urchristlichen Zeitalter existierten?

 

Wir haben gesehen: Das Herz der Urchristen schlug nicht für diese Welt und die Dinge dieser Welt. Das Herz der Urchristen sehnte sich — um es einmal ganz untheologisch auszudrücken — über diese Welt hinaus nach dem Frieden mit Gott, den es eben auf dieser Welt nicht fand. Das urchristliche Herz war — nach dem bekannten Wort Augustins — unruhig, bis es Ruhe fand in Gott. Das Herz schlug für den Vater im Himmel.

 

Gerade diese Botschaft erfreute das Herz der urchristlichen Gemeinde, und es stellt sich nunmehr die Frage, ob es auch unser Herz erfreut und tröstet. Oder will das »moderne Herz des modernen Menschen« nur noch ganz und gar für die Dinge dieser Welt schlagen?

 

 

 

2. Schlägt der Menschen Herzen für diese oder für eine andere Welt?

 

Dorothee Sölle wurde einmal gefragt, ob für sie mit dem Tode alles aus sei. Die Theologin antwortete darauf, dass für sie die individuelle, geistige, seelische und körperliche Existenz mit dem Tode ende. Sie verstehe sich als Teil der Natur, des Kosmos, des Ganzen. Sie glaube aber daran, dass nach dem individuellen Tod das gesellschaftliche Leben als Kampf für Gerechtigkeit und Friede auf Erden weitergehe. Eindeutig verneint sie eine »individuelle Fortexistenz«, und sie möchte »auch nicht in die Lage kommen, daran glauben zu müssen«.

 

Ewigkeit ist für Dorothee Sölle mit dem Bau an einer Kathedrale zu vergleichen. Die Menschen, die damals im Mittelalter daran bauten, hätten diese Kathedralen ja auch nie fertig gesehen, aber einmal wurden sie fertig. Und so glaubt Frau Sölle daran, dass über ihren Tod hinaus die Kathedrale des Friedens, der Freude, der Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einmal fertig wird. Das ist ihre Ewigkeit, ihr Reich Gottes auf Erden.

 

Dieser Glaube ist zweifellos edel und bewunderungswürdig. Mit dem ursprünglich christlichen Glauben, mit dem Glauben Jesu, seiner Jünger und Apostel, mit dem Glauben der Urgemeinde hat er nicht nur gar nichts gemeinsam, sondern ist dessen unmittelbare Herausforderung und Verneinung.

 

Albert Schweitzer schrieb über das Zukunftsverständnis Jesu: »Das Reich Gottes, das er predigt, ist das himmlische, messianische Reich, das bei der Ankunft des Menschensohnes am Ende der natürlichen Weltzeit auf Erden anbrechen wird«. Davor werde es keinen Fortschritt, sondern die messianische Drangsalszeit geben, d. h. Katastrophen gesellschaftlichen und kosmischen Ausmaßes. Als erster Theologe der Leben-Jesu-Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts hat Albert Schweitzer diese revolutionäre Erkenntnis der Welt mitgeteilt, obgleich auch er nicht an diese von ihm betont herausgestellte urchristliche Botschaft persönlich glaubte.

 

Gegenwärtige Theologie ist fast einstimmig davon überzeugt, die Vision von einem Ende dieser Welt sei ein zeitgebundener Mythos gewesen. Christus sei nicht, wie damals erwartet, »alsbald« wiedergekommen. Damit sei — so meint der in den 50er und 60er Jahren die theologische Diskussion weit über Deutschlands Grenzen beherrschende Theologe Rudolf Bultmann—die »Naherwartung« erledigt, weil eben »die Weltgeschichte weiterlief und — wie jeder Zurechnungsfähige überzeugt ist — weiterlaufen wird«85. Der Glaube an ein Ende der Welt in Gesellschafts- und Naturkatastrophen ist für diese Art Theologie eine Art »mythisches Geschehen« und für modernes Denken nicht mehr akzeptabel.

 

Es meldet sich hier allerdings eine Frage: Wenn der Glaube an ein Weltende ein »Mythos« sein sollte, wäre dann nicht auch der Glaube an einen Fortschritt der Menschheit in Richtung auf Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung ebenfalls ein »Mythos«? Es gibt doch keinen nachweisbaren Grund zu der Annahme, dass sich solch ein Fortschrittsmythos auch nur irgendwie »wissenschaftlich« begründen lassen könnte.

 

Es gibt ja nicht nur religiöse, sondern auch politische Mythen. Wissenschaftlich — im Sinne nachprüfbarer Richtigkeit – ist keine Zukunftsvision zu begründen – weder die Reichs-Gottes-Verkündigung Jesu noch der kommunistische Zukunftstraum von Marx und Lenin noch die moderne öko-feministische Vision von einer Zukunft dieses Planeten in Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. In jedem Fall handelt es sich um Glaubensentscheidungen, um Religion im weiteren Sinne. Es geht gar nicht um die Frage, ob man sich religiös oder wissenschaftlich, sondern wie man sich religiös entscheiden will. Anders ausgedrückt: Die Frage nach der Zukunft bleibt immer eine Erkenntnis des Herzens und entbehrt der wissenschaftlichen Beweiskraft. Prophetie und Prognose sind zweierlei.

 

 

 

3. Ohne innerlichen Bruch kein Weg zum Heil

 

Der Glaube der Urchristen an ein Ende der Welt und an den Anbruch des Reiches Gottes bedeutet nun keineswegs, dass die Gläubigen passiv auf ein Ende der Welt gewartet hätten. Ganz im Gegenteil: Jesus ruft zur Umkehr auf und zum Umsturz aller Werte. Den Armen, den nach Gerechtigkeit Hungernden und den wegen der Gerechtigkeit Verfolgten, den nach Frieden Schmachtenden und nicht den Mächtigen, sondern den Sanftmütigen wird die Zukunft zugesprochen. Diese Zurückgestoßenen sehen nun den Sinn ihres Lebens, sie erhalten ein revolutionäres Bewusstsein. In der Tat: Den Armen wird das Evangelium verkündet. Aber nicht nur das: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Tote stehen auf6.

 

Es geschehen Wunder. Und diese Tatsachen zeigen in der urchristlichen Gemeinde, dass schon jetzt das Reich Gottes anbricht. Nicht, als ob das alles wäre — nein, das Entscheidende bringt die Zukunft, mit dem Ende der Weltzeit, dem Anfang einer neuen Schöpfung auf dieser Erde. Aber dieses letzte Ereignis leuchtet schon in diese Gegenwart hinein, die letzte Revolte, der Anbruch des Reiches Gottes schafft schon jetzt eine revolutionäre Wirklichkeit. Hier bleibt nur festzuhalten: Das geglaubte »Ende der Zeit« macht locker für den Kampf gegen die Absurditäten der Gegenwart — anders kann christliche Existenz nicht verstanden werden.

 

Die Urchristen haben niemals diese Welt verachtet, sie sind keine Asketen geworden, haben keine Kloster gegründet, haben sich nicht aus der Welt zurückgezogen. Sie lebten weiter inmitten der Welt. Jesus hat seine Jünger gerade in die Welt hinausgesandt. Aber diese Welt war für sie nicht mehr das Letztgültige: Ehe, Macht, Besitz, Ansehen – dies alles wurde relativ. Sogar das eigene Leben auf dieser Welt hatte nicht mehr den letzten und tiefsten Sinn: Wer sein Leben behalten will, wird es verlieren. Wer es um Jesu willen verliert, wird es gewinnen. So werden die Ersten auf dieser Welt die Letzten und die Letzten die Ersten sein; was auf dieser Welt hoch ist, wird niedrig, und was auf dieser Welt niedrig ist, wird groß sein im Reiche Gottes (Luk.13,30).

 

Das hat eine unmittelbare existentielle Bedeutung. Niemals wird der Christ von irgend jemandem oder von irgendetwas auf dieser Welt die Erfüllung, Sinngebung oder gar das »Glück« seines Daseins erträumen, erhoffen oder erwarten. Das ist keine Weltverachtung, aber darin gründet sich die Freiheit in dieser Welt gegenüber allem von dieser Welt: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« (Joh.8,32). Mit diesem Jesuswort wird christliches Freiheitsverständnis ganz und gar konkret.

 

Der Christ lebt in dieser Welt, aber revoltiert gegen sie. Er findet sich mit dieser Welt, so wie sie ist, nicht ab. Er wird durch diese Welt verwundet, ist immer ein Verwundeter in dieser Welt. Er revoltiert nicht nur gegen eine ungerechte Gesellschaft, sondern auch gegen sich selbst: gegen Lust- und Machtgier, Furchtsamkeit und Kleinmütigkeit, gegen Leere und Ausdruckslosigkeit seines Daseins, gegen Müdigkeit und Gleichgültigkeit und vor allem gegen die Lebensangst.

 

Jesus sucht nicht die ausgeglichenen, gesättigten und in Scheinsicherheit lebenden Frommen, sondern die gegen sich selbst revoltierenden Sünder, die an sich selbst und an der Welt Zerbrochenen, die die großen Abenteuer der Weltverliebtheit hinter sich haben, also die an sich selbst Verwundeten. Diese sind es, die die Nähe des Reiches Gottes schon innerlich gepackt haben, wenn sie sich aus der Misere ihres Daseins hinaussehnen und Hunger haben nach einem Frieden, den sie auf dieser Welt nicht erlangen können.

 

Es gibt keinen breiten, bequemen Weg zu der Wahrheit, die Christus verkündet. Buße und Reich Gottes und bei Paulus innerliches »Absterben« und »neue Kreatur« gehören zusammen. Wer nicht am Boden lag, der kann auch nicht aufgerichtet werden, und nur der Verzweifelte weiß, was Trost ist. Ohne Bruch, ohne Zerreißprobe, ohne Aufruhr gegen sich selbst keine christliche Existenz. Aber aus dieser Zerreißprobe heraus wächst das Vertrauen.

 

Die Botschaft Jesu vom Reiche Gottes bewirkt die Freiheit von der Welt und die Freiheit von der Angst in dieser Welt: »Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die zu uns kommt durch den Messias Jesus, unseren Herrn.« Denn der am Kreuz durch die Absurdität dieser Welt gestorbene Christus ist auferstanden. Und der erste Schritt der Jünger nach der Auferstehung Christi ist nicht die Formulierung einer Doktrin, sondern das Vertrauen in die unmittelbare persönliche Bedeutung: »… so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein«.

 

 

 

4. Warum Kreuz und Kreuzigung?

 

Im Januar 1942 öffnete Adolf Hitler im Führerhauptquartier in Rastenburg, tief in den ostpreußischen Wäldern, nach getaner Arbeit vor etlichen Treuesten seiner Getreuen sein Herz und sprach über die elementaren Fragen des Lebens und Sterbens. Dabei wurde natürlich auch über Religion gesprochen, und der »Führer« machte kein Hehl daraus, dass das Christentum für ihn gestorben sei. Das Christentum hätte nur »eine ganz kurze Epoche der Menschheit« umfasst und in der sei es schuld am Untergang des römischen Weltreiches geworden. Das Drama der Erlösung, wie es sich im Christentum darstelle, erschien dem Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht lächerlich. Hitler erklärte (es wird etwa die Zeit gewesen sein, in der er mit Himmler die Endlösung der »Judenfrage« durchsprach): »Gott schafft die Menschen. Zum Menschen werden sie durch die Todsünde. Die Voraussetzung dazu hat Gott den Menschen gegeben. Fünf hunderttausend Jahre sieht er zu, wie sie da reinrasseln. Da fällt ihm ein, seinen eingeborenen Sohn zu schicken. Ein Mordsumweg, kolossal beschwerlich der ganze Vorgang. Die anderen glauben das nicht, mit Gewalt muss ihnen das aufgezwungen werden. Wenn der liebe Gott an der Erkenntnis ein Interesse hätte, wozu dann die Knieschienen und Daumenschrauben?«

 

Hitler versteht nicht: Der »liebe Gott« schafft eine absurde Welt und absurde Menschen, und dann schickt er seinen Erlöser, damit er sie aus dieser Absurdität erlöst. Was für ein seltsames Theater!

 

Es war natürlich nicht nur Hitler, der den Kern der christlichen Erlösungslehre so radikal missverstand und verneinte. Dass die sündige Menschheit durch das »Blut Christi« erlöst würde, kann nach der Meinung des Psychologen und Psychiaters Franz Buggle zu einer lebenslang wirksamen Quelle »interner tiefliegender Ängste und aggressiver Impulse sowie eines bedrohlich-verdüsterten Weltbildes werden«. Was für ein »archaisches, extrem inhuman und grausames Gottesbild«? Buggle fragt sich, wie solch ein Versöhnungstod von einem großen Theologen wie Karl Barth als »gnädige Fügung Gottes« beurteilt werden konnte. Er vermisst bei den Theologen die klare Antwort auf die ebenso klare Frage, warum denn nach diesem »abgeltenden Sühnopfer« dieser versöhnte Gott nicht »endlich das Reich Gottes anbrechen lässt und die Menschen wirklich erlöst«. Warum also nach der Quälerei am Kreuz immer wieder und immer weiter das Leiden? Warum dieses grausame Erlösungsdrama, das die Menschheit ja gar nicht – bis heute wenigstens – erlöst habe? Der Psychiater Franz Buggle – und mit ihm natürlich eine Heerschar anderer am Christentum Verzweifelnder – kann nicht verstehen, wie Theologen – auch moderne Theologen – es in einer Massierung von »Wortwolken« fertigbringen, diesen »konkret-blutigen Sühnetod«, die »grausame und qualvolle Hinrichtung« noch als »Gnade« zu besingen.

 

Nun hätte Franz Buggle allerdings auch eine stattliche Zahl hochangesehener evangelischer Theologen benennen können, die, wie dereinst Rudolf Bultmann, durchaus auf der Seite des »modernen Menschen« stehen und es vollauf bejahten, dass man heute »die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch den Tod Christi nicht verstehen« kann. Denn – so Rudolf Bultmann – »welche primitiven Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrunde? Welch primitiver Gottesbegriff? … welche primitive Mythologie, dass ein Mensch gewordenes Gotteswesen durch sein Blut die Sünde der Menschen sühnt!«

 

Nicht nur die hier Genannten, nicht nur Adolf Hitler, Franz Buggle und Rudolf Bultmann und mit ihm eine Heerschar von Theologen nahmen Anstoß an dieser Art von Versöhnungs- und Erlösungslehre. Das Judentum hatte von Anfang an, also seit 2000 Jahren dieser christlichen Versöhnungslehre widersprochen und hier ein Hauptargument für die Abspaltung des Judentums vom Christentum (oder umgekehrt) gesehen.

 

Im Januar 1770 schrieb der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn an den Erbprinzen von Braunschweig-Wolfenbüttel, »er könne nicht an die Genugtuung und Befriedigung der ersten Person in der Gottheit durch das Leiden und den Tod der erniedrigten zweiten Person und noch vieles andere diesem ähnliche bei Verlust« seiner »ewigen Seligkeit glauben«. Die »Lehre von der Genugtuung und Befriedigung der göttlichen Strafgerechtigkeit« wünsche er »reformiert« zu sehen. Dass ein »Unschuldiger die Schuld eines anderen trage, und wenn er sie auch freiwillig übernehme«, könne nach seiner Auffassung nicht zugelassen werden.

 

Nun ist die Lehre vom »Sühnetod Christi« zweifellos eine Kernaussage des Neuen Testamentes, und die Reformatoren, vor allem Luther und Calvin, haben sie zur Lehrmitte ihres reformatorischen Zeugnisses gemacht. Aber von dieser »Lehrmitte« rückte man alsbald ab, und unter den Protestanten hat um die Jahrhundertwende Adolf von Harnack, eine Art König unter den Theologen als Professor in Berlin, in seinem Buch »Wesen des Christentums« mit dieser »Lebensmitte« aufgeräumt. Entscheidend – ganz im Sinne einer Division von Theologen aller Länder – waren die einfachen Sätze: »Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, so wie es Jesus verkündigt hat, hinein.« Dass der Sohn den Vater versöhnt durch sein Blut am Kreuz – dieser »Mythos« war damit erledigt. Ein Wandel, ein Bruch hatte sich in der evangelischen Kirche abgespielt – ohne dass das Kirchenvolk in seiner überwältigenden Mehrheit das überhaupt bemerkte und ohne dass sich dadurch auch nur irgend etwas am »Rhythmus des kirchlichen Lebens« geändert hätte.

 

Die Verneinung von Versöhnung und Sühne am Kreuz hat heute andere Töne. Die feministische Philosophin Mary Daly versteht mit ihrer großen Schar von Anhängern das Kreuz als »symbolisches Instrument der Frauenunterdrückung«. Dorothee Sölle, die zum engeren Kreis der Anhänger Rudolf Bultmanns gehörte, ging über ihr Leitbild weit hinaus und zeichnete in ihrem Buch »Leiden« (1972) so etwas wie ein Panorama der feministisch-theologischen Kritik am Kreuzestod Christi. Da ist von Sadismus gegenüber einem Gott, der Opfer brauche, von einem Kreuz als Unterdrückung der Menschen und von »spezifisch Frauen unterdrückendem Charakter von Kreuzestheologen« die Rede. Die gesellschaftliche Forderung an die Frauen, sich für die Familie zu opfern, wäre durch die Kreuzestheologie nur noch stärker geworden. Dadurch, dass eben nur das Kreuz Christi das geforderte Opfer sein solle, würde »das Martyrium von Frauen und Männern in Geschichte und Gegenwart unsichtbar gemacht und eine eigenständig handelnde Nachfolge Christi verhindert«.

 

Parallel hierzu sollte man einen Kernsatz aus der Kreuzestheologie des Apostels Paulus lesen: »Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es eine Gotteskraft.« Dass das Kreuz ein Mittelpunkt neutestamentlicher Botschaft ist, wird jeder »neutrale« Religionshistoriker bestätigen. Dass nach diesen Sätzen Frau Sölle zu den Verlorenen zählen müsste, wäre dann ein theologisches Urteil, das ich aber bis heute noch nie gehört habe.

 

Im Blick auf Versöhnung und Erlösung stehen wir vor einem zentralen Aussagegehalt des Christentums und stellen dabei mit Entsetzen fest, dass die Fürsten unter den Christen, eben die Theologen sich keineswegs darüber einig sind, was uns die Botschaft vom Kreuz noch zu sagen hat. Warum das Kreuz? Warum hing der Erlöser Jesus Christus am Kreuz?

 

Heil ist Heilsgeschichte — biblische Geschichte. Darum ist es sinnerhellend, einen kurzen Blick auf Opfer und Sinn des Opfers im Alten Testament zu werfen. Am großen Versöhnungstag (neuhebräisch jom kippur, heute noch der bedeutsamste Festtag jüdischer Religion) wurde in vorchristlicher Zeit ein Tier als Sündopfer geschlachtet und ein anderes in die Wüste geschickt, nachdem der Hohepriester beide Hände auf den Kopf des Tieres gelegt und die Sünden des Volkes bekannt hatte: »… dass also der Bock alle ihre Missetat auf sich nehme und in die Wildnis trage; und man lasse ihn in der Wüste« (3. Mose 16, 23).

 

Wäre diese Begebenheit nicht ein Beispiel dafür, in welch primitiver Weise sich das Alte Testament die Versöhnung mit Gott – eben durch ein Tieropfer – vorstellt? Vor Jahrzehnten hat der Theologe Jürgen Moltmann noch einmal daran erinnert, dass das Alte Testament überhaupt keine Sühne- oder Versöhnungslehre kenne. Denn jeder Israelit habe beim Schuldopfer am Versöhnungstage gewusst: Mit dem Tier, das geopfert wird, stirbt der Opfernde selbst. Nicht das Tier, sondern der Opfernde hat den Tod verdient. Das Opfer veranschaulicht in einem Ritus, den wir heute nicht mehr verinnerlichen und nachvollziehen können, diese Wahrheit: Die Absurdität, die den Menschen besetzt und gefangenhält, muss vernichtet, getötet, eben in die Wüste geschickt werden.

 

Opfer als Sühnopfer war der symbolische Ausdruck dafür, dass ein Leben ohne Aufopferung der Absurdität kein lebenswertes Leben sein kann. Opfer ist die radikale Revolte gegen das Absurde in uns selbst. Ohne Opfer kein Menschsein – das ist eine Grunderfahrung des Daseins, die sich so oder so ähnlich in allen Religionen widerspiegelt.

 

Die sog. Schuldopfer im Alten Testament waren immer Brandopfer. Der Sinn war: Die Absurdität des Bösen muss verbrannt, vernichtet werden. Das geschieht auf dem Altar des Gottes der Revolte, der die Vernichtung der Absurdität einfordert. Das Opfer ist also symbolischer Ausdruck für die Radikalität der Revolte des Menschen gegen sich selbst. Keine Revolte ohne Opfer!

 

Der Christ weiß, dass er es Gott schuldig ist, das Böse in seinem Herzen zu überwinden. Der Christ ist gerade hier Schuldner Gottes. Er will ein anderer, ein neuer Mensch werden, auch wenn diese Wiedergeburt nur durch den Schmerz hindurchgehen kann. Wer Christ wird, weiß, dass er seinem alten Leben absterben muss, um ein neues Leben zu beginnen.

 

Wer in seinem Herzen von Gott getroffen wurde, wer den Anruf Gottes hört und seinen Appell in seinem Gewissen vernimmt, der gerät in eine Revolte gegen sich selbst. Wer das neue Leben in Glaube, Liebe und Hoffnung und im Frieden mit sich selbst gewinnen will, der will und muss sein altes Leben verlieren. Wer Christ wird, gerät also in eine Spannung, die der Apostel Paulus einmal so ausgedrückt hat: »Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?«

 

Aber was hat das mit dem Kreuz Christi zu tun?

 

Die Urgemeinde wusste, dass Christus ein Opfer der Verfolgung machtgieriger Priester und narzisstischer Frommer wurde, die nicht Gott, sondern die Verwirklichung ihres Ich suchten – mit religiösem Überbau, versteht sich.

 

Jesus war ein Opfer egomaner Religion (und welche Religion ist nicht egoistisch?) und eines Staates, der unfähig war, das Recht zu schützen. Jesus war das Opfer der Absurdität in dieser Welt.

 

Die Christen blieben aber bei dieser vordergründigen Betrachtung nicht stehen: Dieser Tod Christi am Kreuz war nicht ein Zufall unter anderen Zufällen der Weltgeschichte. Die Absurdität dieser Welt schlechthin hat Christus gekreuzigt, und die Christen wussten, dass nicht nur Hohepriester, Schriftgelehrte und Pontius Pilatus, sondern dass im Grunde ihre eigene Absurdität Christus gekreuzigt hatte, ihre Absurdität des Gierens nach Macht, das gerade bei den »Religiösen« in eines jeden Menschen Herz tobt.

 

Christus war ein Opfer der Sünde dieser Welt – da gerade, wo sie am schärfsten hervorbricht, nämlich in der Religion und in der Ideologie.

 

Aus jüdischer Tradition kommend, sah die Urgemeinde im Kreuz Christi einen noch tieferen Sinn: So, wie am Jom Kippur sich die Gemeinde mit dem Opfertier identifizierte, ja selbst den Tod des Opfertieres innerlich mitstarb, so identifizierte sich nun die urchristliche Gemeinde mit dem Tode Christi am Kreuz. Anders ausgedrückt: Mit diesem Opfer der Absurdität am Kreuz müssen wir uns identifizieren – wir werden selbst gekreuzigt. Sein Tod muss der Tod unserer eigenen Absurdität werden.

 

Wer auf diesen Gekreuzigten und Auferstandenen sieht, wird darum — so formulierte es Paulus — »ein Leib in Christus«, der hängt selbst mit Christus am Kreuz, der wird selbst gekreuzigt. Er wird seinem Leben und »seinem Tode gleichgestaltet« (Phil.3,10) und damit auch seiner Auferstehung.

 

Vor Christus spielt sich keine von außerhalb zu betrachtende Göttergeschichte, keine göttliche Tragödie ab. Der Christ glaubt daran, dass am Kreuz seine eigene Absurdität, die die Bibel auch »Fleisch« nennt, gekreuzigt wird (Gal.5,24).

 

Albert Schweitzer hat dieses Einssein mit der Christusgestalt – so, wie es die Urgemeinde erfuhr – einmal so ausgedrückt: »Durch das Sein in Christus ist also das Eine erreicht, dass die Verbindung zwischen den Erwählten und Gott hergestellt ist. Sie sind in den Weltverlauf eingereiht, der seine Richtung wieder auf Gott zu nimmt.« Glaube an Christus ist ein »reales Mitsterben seines Sterbens und seines Auferstehens«.

 

Aber noch einmal: Das alles kann nicht theoretisch betrachtet, sondern muss, wenn man denn Christ wird, »real-dramatisch« durchlebt und damit im Herzen ausgetragen werden. Ohne das Drama dieser Kreuzigung und der auf sie folgenden Auferstehung zu einem neuen Leben ist Christwerden undenkbar.

 

Es geht also um einen dramatischen Lebensprozess, den der Apostel Paulus so beschreibt: »Wir, die wir leben, werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserm sterblichen Fleisch.«

 

Der Christ identifiziert sich also mit Christus: Er durchleidet die Qual der Absurdität, aber auch den Triumph der Revolte über diese Absurdität – und das sein ganzes Leben hindurch. Wer sich mit Christus identifiziert, erfährt, dass seine Schuld vernichtet wird. Darum identifiziert er sich auch mit dem Triumph über die Absurdität in der Auferstehung.

 

Das alles aber ist Gnade, Vergebung, Versöhnung, denn das Einssein mit Christus ist ja nicht Selbstfindung, sondern Hinwendung zu dem Gott der Revolte, der in Christus selbst die Absurdität durchlitten und überwunden hat. Der Christ ist in Gottes Hand.

 

Dieser Weg wird auch »Versöhnung« genannt. »Versöhnen« bedeutet im Hebräischen »aufdecken« (kippar). Im Gottesdienst wird die Schuld aufgedeckt und auf das Opfertier übertragen. Im Griechischen wurde sinngemäß das Wort katallasso gebraucht. Es bedeutet eigentlich »austauschen, verwechseln«, meint also den Austausch auch im Sinne einer tiefgreifenden Änderung. Nach diesem Sprachsinn tauscht der Christ sein Leben mit dem Leben Christi aus.

 

Wir halten fest: Ein Gerechter wird gekreuzigt. Aber die Gemeinde nimmt das nicht als Zufall. Sie weiß sich mit diesem Gekreuzigten so eins, dass sie bekennt: Mit ihm wurde unsere eigene Sünde, unsere eigene Absurdität gekreuzigt. In der Auferstehung Christi, dem entscheidenden Zeichen des Neuen Testamentes, wurde der Gemeinde deutlich, dass in diesem geschichtlichen Ereignis Gott selbst am Werke ist. Und der Gott der Revolte, der die Absurdität überwindet, trägt uns durch die Hölle der Absurdität hindurch. Die Bibel nennt das »Gnade«.

 

Wer dieses Christusdrama nicht durchexerziert, ist kein Christ. Man kann nicht sagen: »Christus ist für mich gestorben«, ohne diesen Tod in sich selbst mitzuvollziehen. Christen sind nicht Zuschauer einer Göttergeschichte.

 

Es gibt »eine gewisse rechtgläubige christliche Bürgerlichkeit«, die ihren Ursprung hat in der »Art und Weise, wie sie den althergebrachten Lebensstil des Zechens auf Christi Kreide zu praktizieren weiß« mit einem oft »erstaunlich beruhigten Gewissen«.

 

Das Christentum der billigen Gnade, wie wir es zu allen Zeiten in breiter Selbstdarstellung finden, ist unglaubwürdig. Die billige Gnade ist aber der Basiswert vieler Kirchenzeitungen, die dem Leser weismachen, dass wir alle von Gott »angenommen« sind und wir nun unsererseits allen Menschen unsere »Zuwendung« schenken müssten. Diese billige Gnade, so argumentierte einst Dietrich Bonhoeffer, ist der Todfeind des Christentums.

 

Gnade, Vergebung sind ohne Versöhnung – also ohne Sühne – undenkbar. Für die urchristliche Gemeinde war der Tod Christi am Kreuz ein stellvertretendes Leiden darum, weil die ganze Misere der Welt, ihr ganzer Abschaum, die volle Wucht der Absurdität gerade über ihm zusammenbrach. Dabei – und das ist ganz entscheidend – sieht der Christ auch seine eigene, höchstpersönliche Schuld über dieses Kreuz hereinbrechen. Aber auch diese Schuld wird am Kreuz nun wirklich stellvertretend für ihn selbst überwunden.

 

Ohne die Qual der Buße, ohne Reue, ohne Kreuzigung der Absurdität in uns selbst, also ohne Sühne keine Gnade. Gnade setzt die Versöhnung voraus. Es geht nicht um einen erzürnten Gott gnädig zu stimmen, ihm Wohlwollen durch die »Rechtgläubigkeit« und damit gute Tage abzuringen, sondern um den Weg der Revolte bis zum bitteren Ende, dann aber auch bis in die Auferstehung hinein zu einem neuen Leben.

 

 

 

5. Wie Theologen bis heute »Jesusgespenster« produzieren

 

Auf die Frage: »Wer war Jesus«? gibt und gab es viele Antworten: der von Israel erwartete Messias, der »Menschensohn«, der am Ende der Zeit offenbar wird, der Sohn Gottes, der Prophet, der Vorläufer des Messias – oder vielleicht nur ein außergewöhnlicher Mensch. Es gibt auch etliche, die Bücher darüber geschrieben haben, dass Jesus gar nicht gelebt habe und nur die Projektion der Erlösungssehnsucht seiner Gemeinde gewesen sei (A.Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung,1951). Viele meinen auch, Jesus sei nur ein besonderer Rabbi unter anderen gewesen – vielleicht nur ein Wunder wirkender Wanderrabbi. Alle diese Vorstellungen und Antworten und noch viel mehr sind in der unerschöpflichen Phantasie der Theologen in einem breiten und unaufhörlich dahinfließenden Strom von Schriften produziert worden.

 

Jedes Zeitalter hat eigentlich auch sein eigentliches Jesusbild gehabt. Das ging, in groben Zügen dargestellt, von Jesus dem Pantokrator, dem All-Herrscher, der die bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen ganz und gar absegnete, bis hin zum Menschenbruder, der ein neues Reich der freiheitlichen Brüderlichkeit auf Erden aufrichten will.

 

Da man heute in einem frauen-emanzipatorischen Zeitalter lebt, ist es nur folgerichtig, wenn Jesus nun aus der Perspektive der Frau gesehen werden soll. Frauen wollen, ausgehend von den Evangelien, Bilder und Deutungsmodelle Jesu Christi entwerfen, die auch für die Frau befreiend sind. Da meint die Theo-Psychologin Hanna Wolff (Jesus, der Gesalbte der Frauen, 1987), Jesus habe als erster Mann in der Geschichte der Menschheit den Männlichkeitswahn und seine Männlichkeitssymbolik – auch Androzentrik genannt – durchbrochen. Es sei die patriarchalische, jüdische Umwelt gewesen, die Jesus überwunden habe.

 

Für Christa Mulack ist Jesus der »Gesalbte der Frauen«. Erst durch die Begegnung mit Frauen – so Christa Mulack – lernte Jesus, über welche heilenden Kräfte die Frau verfügt: Barmherzigkeit, Liebesfähigkeit, Ganzheitlichkeit, Geschwisterlichkeit usw. Jesus werde überhaupt erst »ein Jesus« durch die Frauen. Die Frauen – eine Frau salbt ihn bekanntlich, bevor er seinen Weg zum Kreuz von Jerusalem gehen muss – salben Jesus gleichsam zum Messias der Frauen, damit er das frauliche, sanfte, herrschaftsfreie, liebevolle, verständigungsbereite und mütterlich-bergende Element erlösend in die Welt einbringen könne. Darum verstehen die matriarchalisch denkenden Theologenfrauen die Auferstehung Jesu als ein Symbol dafür, dass die Weisheit der Frauen in seinen Nachfolgern und Nachfolgerinnen als eine unzerstörbare Kraft weiterlebt. So sollen Liebe und wirkliches Leben, Befreiung, Bewahrung der Schöpfung und sanfte Gerechtigkeit vor allem auch für die Dritte Welt wie das Leben spendende Menstruationsblut die ganze Erde befruchten. Ganz konkret wird darum eine gründliche Revision des Christentums verlangt, eine neue Vision vom Wesen des Christentums, die sich schon gegenwärtig mit erstaunlicher Kraft durchsetzt.

 

Viele Zeiten, viele Ideen, viele Jesusbilder. Aber ist es »christlich«, dass jede Zeit ihr eigenes Jesusbild hat? Existiert kein »realer« Jesus hinter diesen Bildern? Lebten und leben wir mit Jesus-Vorstellungen, Jesus-Projektionen, Jesus-Wünschen, ohne den wirklichen Jesus überhaupt zu kennen? Haben wir geglaubt, glauben wir immer nur an einen Jesus, der gerade en vogue ist?

 

 

 

6. Urchristliche Existenz erfuhr in Jesus den »Sohn Gottes«

 

In der urchristlichen Gemeinde gab es viele Namen für Jesus: Jesus als der Christus, d. h. der Gesalbte, also der Messias; der Menschensohn, der nach einer Vision des Propheten Daniel, vom Himmel her ein neues Zeitalter einleiten sollte; Jesus als der Logos, das Wort Gottes, das Fleisch wurde; und dann Jesus als der Sohn Gottes. In diesem Kapitel bewegt uns nun die Frage, wieso und warum Jesus »Sohn Gottes« genannt wurde.

 

Im ersten Johannesbrief ist Jesus der Sohn Gottes, von dem sogar gesagt wird: »Dieser ist der wahrhaftige Gott« (1.Joh.5,20), und der Apostel Paulus nennt Jesus »das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol.1,15). Der Apostel betont, dass dieser Sohn Gottes seine Göttlichkeit nicht für sich selbst festhielt, sondern dass er sich erniedrigte, Mensch wurde und dann gehorsam war bis zum Tode am Kreuz (Phil.2,6).

 

War Jesus ein Gott neben Gott? Handelt es sich also um zwei Götter, denen sich später in der Gestalt des Heiligen Geistes noch ein dritter Gott »hinzugesellte«? Glaube an den dreieinigen Gott als Glaube an drei Götter?

 

Judentum und Islam haben hier die größten Schwierigkeiten mit dem Christentum — ist nicht da der Glaube an den einen, einzigen Gott, wie er im Alten Testament ausdrücklich bekannt wird, der keine Götter neben sich duldet, verraten worden? Ist das Christentum zu einem Aktionsfeld mehrerer Götter geworden? Ist das Christentum eine neue Religion? Hat die christliche Urgemeinde mit der Religion des Alten Testamentes, mit Mose und den Propheten endgültig gebrochen?

 

Sie hat das ganz eindeutig nicht. Das Urchristentum gehört zu der einen »Biblischen Religion«. Jesus verweist ausdrücklich darauf, dass die »Schrift« — das waren für ihn »Mose und die Propheten« — von ihm zeugt (Luk.16,29). Jesus erklärt ebenso ausdrücklich, dass diese »Schrift« nicht gebrochen werden kann. Dass Jesus aus den »Schriften« prophezeit und nach »den Schriften« gelehrt, gelitten habe (Joh.10,36) und auferstanden sei, dass man nur in diesen Schriften forschen müsse, um zu erkennen, dass Jesus der verheißene, eben vorausgesagte Messias (Christus) sei, ist durchgängige, felsenfeste Überzeugung der urchristlichen Gemeinde, die gemäß dieser Schriften an einen einzigen Gott und nicht an zwei oder drei Götter geglaubt hat.

 

Es hat Theologen gegeben – Rudolf Bultmann war ihr Vordenker -, die fest entschlossen waren, das Neue Testament zu entmythologisieren, d. h. von seinen Mythen zu befreien, um den Aussagekern dem modernen Menschen verständlich zu machen. Dieser Weg war schon darum ein Irrweg, weil das Neue Testament keinen Mythos und schon gar keine Mythologie kennt. Das Problem ist nicht, das Neue Testament zu entmythologisieren. Aufgabe ist es, die Mythologisierung des Neuen Testamentes in der Geschichte des Christentums aufzudecken. Aus dem Glauben der urchristlichen Gemeinde, wie er sich in den Schriften des Neuen Testamentes darstellt, hat man im Laufe der Geschichte – schon gleich in den ersten Jahrhunderten – einen Mythos gemacht. Dieser Mythos muss entlarvt und die eigentlichen Aussagegehalte der Urgemeinde müssen neu ans Licht treten.

 

Mit der Frage, wer Jesus »wesentlich« war – ob das »Wesen« Jesu göttlich oder menschlich war -, gehen wir schon in die Irre. Der Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt – dessen Theologie ich in manchem kritisch gegenüberstehe – hat in einem viel zu wenig bekannten Werk daran erinnert, dass die deutsche Sprache sehr stark geprägt ist von den Hilfszeitwörtern »ist« und »sein«. Wenn wir aber nun die Frage stellen, wer Jesus »war« oder wer er »ist«, dann zwingen wir – nach der Meinung Marquardts – dem biblischen Gottesverständnis eine falsche Fragestellung auf, weil wir dann »Gefangene der heidnischen Seinsfrage« geworden sind. In der Bibel sei niemals die Rede davon, wer Gott ist, sondern davon, was Gott tut. Auch von Jesus – so folgert Marquardt – können wir nicht »im Banne der Sprache des Seins, der Ruhe sprechen«. Entscheidend sei nicht, wer Jesus war oder ist, sondern was er tat.

 

Das in der Bibel am häufigsten vorkommende Wort für Gott ist Jahweh. Dieser Name, den die frommen Juden nicht aussprechen und umschreiben, meint: »Ich werde sein, der ich sein werde« (2.Mose 3,12). Schon dieser Gottesname ist keine »Wesensbestimmung«, keine grundsätzliche Beschreibung Gottes, und darum kennt auch die »Biblische Religion« kein Begriffssystem angesichts dieses Gottesnamens. Abraham, der »Vater aller Gläubigen«, hört: »Ich bin Jahweh, der dich aus Ur in Chaldäa geführt hat«. Hier ist also gleich von einem Tun Gottes die Rede — nicht das »Wesen«, sondern das Handeln Gottes ist entscheidend. Der Auszug aus dem götzendienerischen Ur ist Handeln Gottes als Revolte gegen die Absurdität des Götzendienstes in dem Land, aus dem Abraham herausgerufen wurde. Als Moses den Namen Jahweh hört, bekommt er sofort den Auftrag, zu seinem Volk zu gehen, um es aus der Sklaverei Ägyptens herauszuführen: Der Gott der Revolte ruft in das Tun der Revolte. Gott ist nicht ein »Wesen« oder »Sein«, sondern das Tun der Revolte.

 

Ich erschrecke immer wieder zutiefst, wenn ich sogar von bibeltreuen Theologen gebeten werde, über den »Gottesbegriff« oder gar das »Gottesbild« der Bibel einen Vortrag zu halten. Denkt man nicht daran, dass das zweite Gebot ausdrücklich verbietet, sich von Gott ein Bild zu machen? Das Bild ist Ruhe – Gott aber ist Bewegung. Das Bild stellt Gott dar – Gott ist aber nicht darstellbar, weil er in unsere Anschauungsform von Raum und Zeit und die Kategorien unseres Denkens nicht einzubringen ist.

 

Es bleibt darum völlig ausgeschlossen, »objektive« Aussagen über Gott zu »machen«, weil Gott kein »Gemächte« und kein »Objekt« unseres Denkens ist. Ein Objekt ist beherrscht durch das Wissen – Gott ist nicht beherrschbar, sonst wäre er kein Gott. Im europäischen Denken hat man diese »Kritik der Vernunft« nicht immer hinreichend bedacht und geriet so in Gefahr, nicht nur Gott, sondern auch Jesus den Christus zum »Objekt« unseres auf Herrschaft zielenden Wissens zu machen. Die Konsequenz war, dass aus dem Christentum eine Ideologie wurde. Schließlich hat das akademische Zerreden biblischer Inhalte zum »Tode Gottes« in unserer spätabendländischen Kultur geführt.

 

Für die Begegnung mit Jesus dem Christus, so wie die Urgemeinde sie erfuhr, ist es unerlässlich zu wissen, dass nach der Grammatik der hebräischen Sprache (so folgert Friedrich-Wilhelm Marquardt) »ein Mensch aus seinen Werken« erkannt wird. Fakt ist: »Die neutestamentlichen Zeugen dachten nicht an das Wesen Jesu, wenn sie von ihm erzählten und ihn verkündigten.« Im Neuen Testament, das zwar griechisch schreibt, aber hebräisch denkt, geht es nicht um das Wesen, sondern um die Begegnung, die man mit dem Leben und Wirken des Jesus gehabt hat.

 

Natürlich kann ich an dieser Stelle nicht eine »Christologie« entfalten. Nur am Beispiel des »Hoheitstitels« Sohn Gottes möchte ich daran erinnern, wie die Urgemeinde Jesus als »Sohn Gottes« »erfahren« und nicht spekulativ »ergründet« hat.

 

Dass Jesus »der Sohn Gottes« sei oder dass man einmal so an ihn geglaubt habe, weiß eigentlich jeder, der auch nur noch einige spärliche Erinnerungen an das Christentum hat. Was aber heißt es, wenn man sagt »Sohn Gottes«? Eindeutig hat in der »Biblischen Religion« Gott keine Frau, wie die Götter der Heiden sie hatten. »Sohn Gottes« kann nach biblischem Verständnis schon aus diesem Grunde nur eine Gleichnisaussage sein, oder wir müssten einen Mythos über die Bibel werfen und dem Gott der Bibel eine Frau zugesellen – ein blasphemischer Gedanke angesichts der Kern-Offenbarungsaussagen der »Biblischen Religion«.

 

Als Jesus bei seiner Taufe die Hall-Stimme Gottes hörte: »Dies ist mein lieber Sohn« (Matth.3,17), da wusste er, dass diese Anrede »mein lieber Sohn« an Isaak erinnern sollte, den Abraham einst zu opfern bereit war (1.Mose22). Abraham sollte seinen einzigen Sohn, den Garanten seiner Hoffnung, opfern. Im restlosen Vertrauen zu Gott war Abraham dazu bereit, weil er daran glaubte, dass Gott Tote zum Leben auferwecken kann. Abraham brauchte dann das Opfer nicht zu bringen. Aber für Jesus war es eindeutig: Die Anrede »mein lieber Sohn« führte bis zum Tode. Jesus wusste dieses schon vor seinem Einzug nach Jerusalem.

 

»Sohn Gottes« kann und darf nicht mythologisch, sondern muss biblisch verstanden werden. Und da wäre zunächst einmal daran zu erinnern, dass ganz Israel, das ganze »Protestvolk«, das Volk in der Revolte gegen die Absurdität »Sohn Gottes« genannt wurde. In einer Gottesstimme hört Mose den Auftrag: »Und du sollst zu ihm sagen: So spricht der Herr: Israel ist mein erstgeborener Sohn« (2. Mose 4,22). Und durch den Propheten Hosea hört das alttestamentliche Gottesvolk: »Als Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten.«

 

»Sohn Gottes« hat also gar nichts zu tun mit einer sich im Himmel abspielenden Göttergeschichte. Göttergeschichten kennen wir aus der bildreichen Mythologie der Griechen und anderer Völker des Orients zur Genüge. Israel ist aber der Protest gegen diese Mythologie der Götter, durch die Menschen in die Sklaverei geführt wurden. Die »Biblische Religion« steht folgerichtig im scharfen Gegensatz zu dieser Mythologie, die sie geradezu verbietet und bekämpft. »Sohn Gottes« ist darum im Alten Testament der Ausdruck für die einzigartige, für die Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Kategorien unseres Denkens »unfassbare« Nähe zu Gott.

 

Jesus weiß sich ganz und gar als Sohn Gottes im Sinne Israels. Israel als Volk ist nicht in seinem »Wesen«, sondern in seinem Tun, in seinem gehorsamen Kampf und Leiden für die Gerechtigkeit »Sohn Gottes«. Jesus erweitert diesen Bereich: Wer immer Gottes Willen tut, wer wie Abraham emigriert aus der Welt der repressiven Götter in die Freiheit des Gottes der Revolte, wer gegen die Absurdität leidet, kämpft und stirbt – der ist ein Sohn Abrahams, und Abraham ist Gottes (Joh.8,37).

 

Wer dem »Sohn Gottes« nachfolgt, ist selber »Sohn Gottes«. Die von Jesus aus der Absurdität ihres Daseins Herausgerufenen werden »Söhne Gottes« (Röm. 8,14) genannt. Sie sind von Gott an Sohnes statt angenommen (Gal. 4,5). Sie werden sich ihrer selbst als »Kinder Gottes« bewusst und bekennen sich dazu. Hierin lag ja der Kern des umwälzenden Freiheitserlebnisses der Urgemeinde, zu der auch viele Sklaven, Arme, Ausgestoßene und Unterdrückte zählten. Sie waren nun – ganz gleich, wie erdrückend ihre soziale Stellung war – »Söhne Gottes« und damit in die Revolte gegen die Absurdität der Herrschaftsstrukturen einbezogen, und ihnen war der Sieg in einem kommenden Reich gewiss. Nicht das Erforschen des »Wesens« Christi war der Urgemeinde aufgegeben, nicht die Spekulation über den »Sohn Gottes«, sondern das Leben in der Nachfolge dieses Sohnes, das sie selbst zu Söhnen Gottes werden ließ.

 

Diese Söhne Gottes gehören zu Israel, dem Sohn Gottes. Die Geschichte dieses Volkes erzählt die hebräische Bibel als kontinuierliche Passions- und Sterbegeschichte. Die Söhne Gottes, die Christen, sind darum wie dieser Sohn Gottes ganz und gar mit dem Gott der Revolte verbunden – mitten in Leben und Tod – »und dürfen es nicht bloß als Geschick hinnehmen«, sondern als Berufung zur Überwindung der Absurdität, durch die sie in der Welt und an sich selbst verwundet werden.

 

Die urchristliche Gemeinde verstand sich als Leib Christi. Das bedeutete gleichnishaft, dass sie sich als Teil dieses »Sohnes Gottes« verstand, als eine unauflösbare Gemeinschaft mit ihm in seinem Leiden, Kämpfen und Sterben, aber vor allem auch in seiner Auferstehung. Seinen Jüngern versprach Jesus, dass er bei ihnen bleiben werde »alle Tage bis an der Welt Ende«. So wird mit diesen Worten eine Gemeinschaft gestiftet, die über alle Absurditäten – auch über die Absurdität des Todes – triumphieren wird.

 

Aber was ist nun das Besondere, Einzigartige an Jesus dem Christus? Ist er nur in dem Sinne Sohn Gottes, wie es Israel war?

 

Ist Jesus nicht schon von Beginn der Welt an bei Gott gewesen, und ist er nicht vom »Himmel hoch« zu uns herabgekommen? Dass Jesus immer schon bei Gott »war«, darf nicht als Wesensbestimmung und damit bibelverfremdend als Mythos verstanden werden. Die unerklärbare Einzigartigkeit Jesu Christi bedeutet, dass in einer einzigartigen Art und Weise die revoltierende Absicht Gottes in ihm Gegenwart geworden ist. Im Johannesevangelium, Kap. 1,1,  ist von ihm als dem Wort die Rede, das immer bei Gott war, und als dem Licht, das Gott herbeirief und das in die Finsternis leuchtete. Es geht hier in diesem Wort und in dem von Johannes erwähnten Licht um den Kampf gegen Chaos und Dunkelheit, gegen die Absurdität dieser Welt. Wort und Licht sind vor Raum und Zeit die Elemente der Revolte gegen die Absurdität des Chaos. Wenn nun von Jesus gesagt wird, dass er das Wort ist, das immer bei Gott war, eben jenes Wort, das Ordnung schafft und das Chaos überwindet, dann ist damit gemeint, dass Jesus die Revolte Gottes repräsentiert, die von Anfang an in ihm beschlossen lag.

 

Jesus Christus ist also die Menschwerdung der Revolte Gottes gegen die Absurdität auf dieser Welt. Er ist die sichtbare Gestalt dieser Revolte selbst. In Christus erkennen wir, was Gott von Ewigkeit wollte und will – so kann man sagen, er ist Gott von Gott und Licht von Licht. Wo denn sonst sollten wir glauben und hoffen, dass diese Welt und unser Leben einen Sinn haben, wenn nicht im Blick auf den, der das Kreuz der Absurdität als Verwundeter und Getöteter dennoch auferstehend überwunden hat?

 

Da gibt es keine Himmelsspekulation, sondern die Vergegenwärtigung des Gehorsams in der Revolte bis zum Tode. Im Johannesevangelium, wo Jesus sagt, er sei vom Himmel gekommen, wird zugleich betont, dass dies geschah, um den Willen Gottes zu tun. »Vom Himmel hoch« kommt nicht ein Halbgott, sondern die schon im Alten Testament bekannte Schechina, die Herrlichkeit Gottes, die in die Finsternis dieser Welt das Licht bringen will, damit Gottes Wille so wie im Himmel endlich auch auf Erden geschehe.

Keine einzige Himmelserzählung findet sich in der »Biblischen Religion«. Die Bibel verneint den Mythos und die Spekulation über alles, was über das offenbarende Handeln Gottes in dieser Welt hinausgeht. Das wilde, mythensüchtige Phantasieren hat den christlichen Glauben überlagert und hat sich in der Geschichte des Christentums verhängnisvoll ausgewirkt. Gott wurde zum »Gottesbild«, die Welt zum »Weltbild«, Christus zur »Christologie« — und aus dem Christentum machte man eine Ideologie.

Es geht nicht darum, dass wir den einen Gott »anerkennen«, dass wir meinen, es »gibt einen Gott«. Solche Anerkennungsformeln sind bedeutungslos. Die Bezeichnung »Gottes Sohn« ist also gar kein »Hoheitstitel« in dem Sinn und schon lange keine Wesensbeschreibung oder gar »Definition«, sondern ein Tun: Christus trägt die Wehen einer neuen Zeit, den Schmerz der neuen Geburt, der neuen Welt. Das hat für die urchristliche Gemeinde eine persönliche Bedeutung: Der Christ, also der sich mit dem »Sohn Gottes« identifizierende Mensch, lebt in der Revolte gegen die Absurdität in seinem persönlichen Leben und wird damit »eine neue Kreatur«, eine neue Schöpfung, schon auf dieser Erde und in diesem Leben. Im Beruf, in der Familie, in der Nachbarschaft, am eigenen Leibe und in seiner eigenen Seele herrscht der permanente Widerstand gegen alles, was sich der Sinnerfüllung seines Lebens entgegenstellt. Die Urgemeinde nannte diesen Widerstand der Absurdität auch teuflisch und dämonisch. Aber gerade auch im Kleinkram des Alltags ist der Christ in der Revolte – nimmt er teil am Kampf gegen das Teuflische der Absurdität auch in seinem alltäglichen Leben.

Die Wahrheit ist in der »Biblischen Religion« nicht durch Spekulation oder Mythen, sondern durch das Tun in der Nachfolge Christi zu erkennen. Bedeutsam sind die Worte Jesu: »Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort (wenn ihr tut, was ich sage), so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.« (Joh. 8,31)

Christsein ist ein Sein in Christus. Ich drücke dies mit dem Wort »Teilhabe« aus. Es geht um die Teilhabe an Christus, an seinem »göttlichen« Kämpfen, Leiden, Sterben und Auferstehen. Es geht aber auch um die Teilhabe Gottes an meinem Leben, Kämpfen, Leiden, Sterben und Auferstehen. Diese Teilhabe ist Anbruch, nicht Vollendung des Reiches Gottes, das sich im »Sohne Gottes«, in Christus darstellt.

IV. Die Verkirchlichung des urgemeindlichen Christentums

1. Urgemeinde und Gegenwartskirche — ein tödlicher Widerspruch?

Vor dem Reichstag drohte Hitler am 30. Januar 1939 zum ersten Mal öffentlich in einer zweieinhalbstündigen Rede die Vernichtung der jüdischen Rasse« in Europa an für den Fall, dass – wie er sich ausdrückte – das »internationale Judentum« noch einmal einen Krieg anzetteln sollte. In dieser sogenannten »Neujahrs-Reichstagsrede«, zu der der »Großdeutsche Reichstag« nach  dem Anschluss Österreichs mit seinen 885 Mitgliedern in der Kroll-Oper zu Berlin erstmals zusammentrat, erinnerte Hitler an seine letzten großen Erfolge: den Anschluss Österreichs und die »Lösung der Sudetenkrise«, – wodurch insgesamt zehn Millionen Deutsche in das Reich »heimgekehrt« seien. Die Rede schloss sehr fromm mit einem Dank an »Gott, den Allmächtigen«, weil er »unsere Generation und uns gesegnet hat, diese Zeit und diese Stunde zu erleben«.

Dieser fromme Schluss der Rede passte zu einigen sehr kirchlichen Inhalten. Hitler rechnete nämlich der Weltöffentlichkeit vor, was der »Nationalsozialistische Staat« alles für die beiden Großkirchen, die katholische und die evangelische, getan habe. Es sei daher eine Unverschämtheit, wenn ausländische Politiker von einer Religionsfeindlichkeit im Dritten Reiche sprächen. Die Geldsummen, die ms öffentlichen Steuererträgen durch die Staatsorgane für die beiden Kirchen und dann aus den Zuschüssen deutscher Länder damals aufgebracht wurden, waren in der Tat gewaltig: Hitler kam für das Rechnungsjahr 1938 auf die für damalige Zeit unverhältnismäßig hohe Summe von 594 Millionen Reichsmark. Die Kirchen seien darüber hinaus – so folgerte Hitler – die größten Grundeigentümer nach dem Staat. Der Diktator schätzte in seiner Rede die Einkünfte aus diesem Grundbesitz auf noch einmal 300 Millionen Reichsmark jährlich. Nach Darstellung dieses Zahlengigantismus erlaubte sich Hitler die Frage: »Welche Beiträge haben im selben Zeitraum Frankreich, England oder die USA an ihre Kirchen durch den Staat an öffentlichen Mitteln abgeliefert?« (F. Heer, Der Glaube des Adolf Hitler, 1968). Die Antwort wäre in der Tat niederschmetternd ausgefallen, denn staatliche Unterstützung für die Kirchen gab es in den von Hitler genannten Ländern wenig, kaum oder garnicht.

Eine reiche, mächtige, wirtschaftlich geradezu kraftstrotzende Kirche lebte also in einem Staat, dessen staatsbildende Partei, die NSDAP, immer entschiedener zu einer antichristlichen Ideologie tendierte.

Lag nun diese eine Situation der Kirche Christi im 20. Jahrhundert im Erwartungshorizont der urchristlichen Gemeinde? Elementar gefragt: Haben Jesus und seine Apostel diese Kirche, von der am 30. Januar 1939 in der Kroll-Oper zu Berlin die Rede war, wirklich gewollt? Ist es denn der Sinn der Geschichte des Christentums, dass man sich mit etwa 18 Jahren, nach bestandenem Abitur, für die Beamtenlaufbahn (»auf Lebenszeit«) eines Pastors entscheiden kann, ohne weitere Voraussetzung als die, ein theologisches Studium an einer Universität absolviert zu haben und dies ohne vorausgehende geistliche Erfahrung? Was hat diese Institution Kirche mit ihrem in Deutschland geradezu gewaltigen Behördenapparat mit der bruderschaftlich strukturierten Urgemeinde gemeinsam? Welche auch nur entfernte Ähnlichkeit haben die europäischen Staats- oder Nationalkirchen, der jeweils fast ausnahmslos die ganze Gesellschaft bis noch weit ins 20. Jahrhundert hinein angehörte, mit den kleinen Zellen christlicher Gläubiger im römischen Imperium gemeinsam? Wie versteht sich vom Wesen jener Urgemeinde her zum Beispiel die Tatsache, dass die Nationalkirchen in zwei Weltkriegen jeweils auf gegnerischer Seite den nationalen Vernichtungskampf »geistlich« mittrugen (um den Ausdruck »absegnen« zu vermeiden)?

Wenn Jesus zur Umkehr, zur Nachfolge unter dem Kreuz aufrief, der Apostel Paulus das Sterben und Auferstehen mit Christus verkündete, damit die Bekehrten ein Glied am Leibe Christi, der Gemeinde der Heiligen werden, dann drängt sich diese Frage auf: Wie kann sich Mitgliedschaft in einer Kirche durch Entrichtung einer Kirchensteuer realisieren, die auch bis zum Lebensende Adolf Hitler und Joseph Goebbels pünktlich zahlten, ohne als Mitglieder der katholischen Kirche auf die »Praxis ihres Christseins« angesprochen zu werden? Was hat diese Kirche, so wie sie sich in diesem 20. Jahrhundert darstellt, also gemeinsam mit der christlichen Urgemeinde? Hat sich da eine gottgewollte Entwicklung zum »Größeren« abgespielt oder ein rasanter Zerfall – gar ein Abfall oder Verrat?

Dass hier eine solche Frage im Blick zurück nach dem Ursprung gestellt wird, ist natürlich weder neu noch originell – aber bis heute auf immer wieder andere Weise aktuell. Martin Luther zum Beispiel hat diese Frage zu seiner Zeit so radikal gestellt, dass er die Institution Kirche, so wie er sie im beginnenden 16. Jahrhundert wahrnahm, als Kirche des Antichrist verurteilte und seine Reformation als ein Zurück zum Ursprung des Christseins verstand.

Sind die Kirchen – um mit Nietzsche weiterzudenken – heute so weit heruntergekommen, dass man sie wirklich nur noch als Grabmäler eines toten Gottes besichtigen kann? Würden die Reformatoren nicht vor Schreck erstarren, müssten sie sehen, hören oder erleben, wie sich heute christliche Kirchlichkeit darstellt?

Für die protestantischen, also von der Reformation des 16. Jahrhunderts geprägten Christenmenschen kann und darf die Frage nicht zur Ruhe kommen, ob und, wenn ja, wie weit die Geschichte der Kirche als Abfall vom Ursprung zu verstehen ist. Diese Frage nach der Abirrung vom Ursprung muss zu jeder Zeit neu gestellt werden, weil jedes Zeitalter sich grundsätzlich vom urchristlichen Ursprung her fragen lassen muss, wohin und wie es weitergehen soll. Eine Kirche, die nicht mehr bereit wäre, sich von ihrem Ursprung her in Frage stellen zu lassen, hätte den Zusammenhang mit diesem geschichtlichen Ursprung verloren. Dabei steht zunächst die Tatsache fest, dass eine Überfremdung urchristlicher Gemeinde schon am Anfang der Geschichte des Christentums eingesetzt hat.

 

2. Die sakramentalistisch-magische Überfremdung der christlichen Gemeinde

Bedeutsam für diese Überfremdung der urchristlichen Gemeinde war das Unternehmen, aus der urchristlichen Botschaft, die weniger gelehrt als gelebt werden sollte, ein dogmatisches System, eine Art Ideologie, die fürwahr gehalten werden musste, aufzurichten. Christliches geriet in die Macht von Ideologen und schließlich auch von Funktionären.

Mythen und Denkfiguren, die der »Biblischen Religion« völlig fremd waren, brachen in die werdende Kirche ein. Dieser Einbruch war so intensiv, dass im 4. Jahrhundert beispielsweise Konstantin, der von Kind an zum heidnischen Sonnengott gebetet hatte, nach seiner Hinwendung zum Christentum der Meinung war, seinen Gott eigentlich nie »gewechselt« zu haben. Kaum einer wird damals Anstoß daran genommen haben, dass auf den Münzen des beginnenden »christlichen«, konstantinischen Zeitalters der Sonnengott dargestellt war. Als Konstantin vor seinem Sieg im Kampf um die Vorherrschaft des römischen Imperiums 312 an der milvischen Brücke das Christusmonogramm mit der Verheißung: »In diesem Zeichen wirst du siegen« als eine Art Offenbarung erlebte, ist das sicherlich keine Bekehrung gewesen; vielmehr wurde hier eine Siegestheologie oder ein quasichristlicher Triumphalismus geboren, wie er noch aus Hitlers Rede vom 30. Januar 1939 durchscheint. Der politische Triumph eines Cäsaren gleicht nun dem Erlösungssieg Christi und umgekehrt. »Jesus Christus siegt!« — das ist die Jubelformel für die Kirche und auch für den Cäsar.

Damit wird eine Sinnerfüllung in der Politik nach menschlichen Wünschen und Gedanken auch immer als Sieg Christi gefeiert. Der Wille zur Macht und der Glaube an Christus werden kongruent (übereinstimmend). Das politische Heil oder das persönliche Wunschdenken verschmelzen mit der himmlischen Vorsehung. Der Himmel wird auf die Erde geholt und die Erde wird himmlisch – die Politik wird sakralisiert und die Kirche wird politisiert. So wird das Heil fassbar und greifbar. Christus wird instrumentalisiert für den politischen bzw. gesellschaftlichen Fortschritt oder Rückschritt, je nach dem Sinn der »Progressiven« oder der »Reaktionäre«.

Dieser Prozess der Verweltlichung des Christentums wird aber zunächst einmal deutlich am Prozess der Versakramentalisierung. Ein religiös-magisches Missverständnis urchristlicher Botschaft macht aus den Sakramenten – Taufe und Abendmahl – eine Substanz. Erlösung kommt nicht aus einem existentiellen Bruch, aus der Umkehr, sondern aus der Verbindung mit einer »ihrem Wesen nach unvergänglichen Substanz«, wie es der Berner Dogmatiker Martin Werner um die Mitte dieses Jahrhunderts formulierte. Aus dem Abendmahl wird ein Sakrament, das »real« geschaffen wurde durch die Vergottung von Brot und Wein zu realem, anfassbarem Leib und Blut Christi. Diese sakramentale Speise – so wurde nun gelehrt – stamme »aus dem Leib des Gekreuzigten« und ernähre den religiösen Konsumenten zum ewigen Leben. An die Stelle der persönlichen Gottesbegegnung als Umkehr und Bekehrung tritt die Magie.

Einer sich relativ schnell aufbauenden Priesterhierarchie wächst damit eine zentrale Aufgabe zu. Sie soll und kann die Gläubigen mit dem Sakrament zum ewigen Leben »nähren«. Die Kirche wird zu einer diesem Zweck geweihten Hierarchie, zu einer Heilsanstalt. Nun entsteht die Lehre »von der unbedingten Heilsnotwendigkeit der Kirche«. Die Kirche triumphiert als »die Gemeinschaft der Vergotteten«. Wer nämlich im Abendmahl von der Substanz des Gottessohnes ißt, wird selbst vergottet. Christentum wird umfunktioniert zu einer physischen Erlösungsreligion. Alles Augenmerk richtet sich darum auf die Vergottung Jesu Christi, damit man selbst substantiell Anteil an dieser Vergottung gewinnt. Das ist der Sinn der Arbeit am christologischen Dogma des 4. Jahrhunderts. Die Frage nach dem, was Gott in Christus bewirkt hat, tritt zurück hinter die total unbiblische Frage, wie Gott selbst in seiner »Substanz« in Christus greifbar geworden ist. Der sich in seinem Tun, Handeln und Reden offenbarende Gott wird fassbar, greifbar und »genießbar« gemacht.

Von dem Mahl, das Jesus vor seinem Tode mit den Jüngern feierte und das die urchristliche Gemeinde dann regelmäßig Woche für Woche, vielleicht täglich, wiederholte, hat sich dieser Sakramentalismus der frühen Kirche wesentlich entfernt. Die urchristliche Gemeinde lebte aus dem Alten Testament, und sie wusste um die gleichnishaften symbolischen Taten der Propheten. Zum Beispiel bekommt der Prophet Jeremia von Gott die Weisung, einen Krug zu nehmen, mit den Leuten vor das Tor von Jerusalem zu gehen, um dann vor ihren Augen den Krug zu zerbrechen. Jeremia wollte damit sagen: Was mit diesem Krug geschieht, das geschieht auch mit euch – ihr werdet wie dieser Krug von Gott zerbrochen. Das Gottesvolk selbst wird, weil es dem Gott der Revolte gegen Unrecht, Macht und Ausbeutung nicht nachfolgt, selbst zum Objekt der Revolte Gottes gegen die Ursünde der Gottverlorenheit.

Daraus folgert der Marburger Theologe Rudolf Otto: »Wenn Jesus in der Abendmahlsfeier das Brot nahm und es brach und dabei sagte, dass dieses Brot sein Leib sei, dann wusste jeder, was das bedeutet: So wie dieses Brot zerbrochen wird, so geschieht es mir und in der Nachfolge auch euch.« Der Bund, den Christus in diesem gemeinsamen Essen stiftet, ist der Bund der wie Christus durch die Absurdität des Daseins Gebrochenen, aber auch wie Christus von Gott Geretteten: Mit ihm gebrochen und mit ihm aufgerichtet.

Darum war das Abendmahl ein Mahl der Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen, der das Kreuz, das Leid und die Ohnmacht seiner Tischgenossen mitträgt. Das Brot repräsentiert – wie Rudolf Otto es ausdrückt – »Christus als Gebrochenen«, zugleich aber auch – so möchte ich hinzufügen – das »Brot des Lebens« von Christus dem Auferstandenen.

»Dass das Brot in Christi Leib verwandelt werde, dass sein Leib oder sein Fleisch oder er selbst gegessen werde, solche Gedanken liegen bei dieser Anteilgabe und Anteilnahme völlig fern«, schreibt zu Recht Rudolf Otto. Es geht doch gar nicht um die Vermittlung einer »substantiellen Kraft«, sondern um eine Lebensgemeinschaft, um ein reales Erleiden und Überwinden in der Nachfolge Christi.

Wahr und wirklich ist die Erfahrung, dass man in der Gemeinschaft mit ihm wohl zerbrochen, aber auch zum Überwinder wird.

Alle frühchristlichen Zeugnisse deuten darauf hin, dass dieses Mahl ein Freudenmahl war, eine Eucharistie, eine Danksagung, weil die Feiernden sich in die Überwindungskraft Christi einbezogen wussten. Hier ging es nicht um das »Für-wahr-Halten« einer sakramentalen Substanz, sondern es ging um die Anteilnahme an einem Lebens- und Überwindungsprozess. Die Gemeinschaft wurde gelebt aus der Erfahrung: Gott ruft dem, das nicht ist, dass es sei. Diese Menschen hatten ihre Todeskrise hinter sich. Sie hatten als Verwundete überwunden. Nur diese Erfahrung stiftet echte und wahre christliche Gemeinschaft.

Zu Recht bemerkt Emil Brunner, dass das »spätere Interesse an den materiellen Elementen Brot und Wein« in den neutestamentlichen Berichten völlig fehle. Brunner meint sogar, dass sich das Abendmahl, wie es in der Urgemeinde gefeiert wurde, eng an die jüdische Chabura angeschlossen habe, »an das in der frommen jüdischen Familie übliche tägliche Abendessen, bei dem das Brot gebrochen und der Kelch der Danksagung herumgereicht wurde«.

Kein Ritus, keine Zeremonie, keine Feierlichkeit, sondern die Erinnerung an den »Gebrochenen und Auferstandenen« mitten im Alltag, mitten in der Diesseitigkeit war für diese urchristliche Mahlfeier entscheidend.

Von daher wird doch verständlich, wenn Dietrich Bonhoeffer so sehr Nachdruck darauf legt, dass Christen nicht in einem »religiösen Akt«, sondern mitten in der Diesseitigkeit der Jenseitigkeit Gottes begegnen. Christlicher Glaube realisiert sich nicht im Kult, sondern im Leben.

Emil Brunner stützt diese Auffassung Dietrich Bonhoeffers, wenn er meint: Dieses Mahl, das ein »wirkliches Miteinanderessen« war, hat »den Gegensatz von Profan und Heilig, von Sonntagsgemeinschaft und Werktagswirklichkeit« aufgehoben. Weil sich die Gemeinde bei dieser alltäglichen Mahlfeier daran erinnerte, »dass ihnen bei einer solchen Mahlfeier der Auferstandene erschienen war … brachen sie das Brot mit Jubel«.

Diese Mahlgemeinschaft war die echte »Kirchengemeinschaft«. Man lebte die Wirklichkeit des gebrochenen und auferstandenen Leibes Christi. Denn der Leib Christi war ja nicht Magie oder Substanz, sondern das Existieren in der Gemeinschaft mit Christus selbst. Diese »Verinnerlichung« im Abendmahl fand ja auch nicht in Tempeln oder Kathedralen statt, sondern in den »Häusern«, in denen ein christlicher Bruder den größten Raum für das Mahl zur Verfügung stellte.

Im Abendmahl, in der Gemeinschaft also, wird deutlich, dass man nicht nur etwas »hört«, sondern auch »dazu gehört«. Die Gemeinschaft der Christen wird sichtbar, sie wird gelebt – wie Emil Brunner bemerkt. Darum ist das Abendmahl, das Christus einsetzte, die »Geburtsstunde der Gemeinde des Gekreuzigten«. Diese Besinnung auf das Abendmahl ist darum so wichtig, weil im Blick auf die urgemeindliche Praxis deutlich wird, dass es um eine echte Gemeinschaft von solchen Menschen ging, die durch das Kernerlebnis von Verwundung und Überwindung, Kreuz und Auferstehung zusammengehalten wurde.

 

3. Die priesterliche Überfremdung der christlichen Gemeinde

Religion ohne Kreuz ist, wenn auch natürlich nicht ausschließlich, Wille zur Macht und zwar – wie wir von Nietzsche gelernt haben – ein verkrüppelter, hinterlistiger Weg zur Macht, aus dem Milieu der im Leben Schlechtweggekommenen, die aus Ressentiment und Neid durch die Hintertür einer Scheinfrömmigkeit den Weg zur Macht beschreiten wollen.

In der Alten Kirche erfolgte der Einbruch religiös motivierter Macht durch die Gewalt der Priester über die Verteilung der Sakramente. Schon bei Ignatius von Antiochien, einem Kirchenmann des 2. Jahrhunderts, hören wir die Formeln: »Ein Altar, ein Bischof«, und: »Haltet euch zum Bischof, auf dass Gott euch halte«. Für Emil Brunner ist es »erschütternd zu sehen, wie schon im Anfang des 2. Jahrhunderts die Institution, das Bischofsamt, zu solch gottähnlicher Würde emporgestiegen ist«.

Sakrament und Bischofsamt werden zu Leitfunktionen. Das ist der Kernprozess der Umbildung der urchristlichen Gemeinde zur priesterlichen Kirchen-Institution. Denn nur der Bischof bzw. der von ihm geweihte Priester darf Brot und Wein sakramental »verwandeln«. Die kaiserliche Liturgie des römischen Imperiums, eben der Kaiserkult, wurde dann später zum Vorbild in der Gemeindepraxis. Die Cathedra, der bischöfliche Stuhl, wird zum Abbild des göttlichen Thrones, so wie ihn der römische Kult kannte. Der Kultus wird in allen Einzelheiten festgelegt – der Ritus musste nach präziser Vorschrift vollzogen werden -; auch das war typisch römisch-religiös. Es ist das römische Verständnis von Religion, das hier hereinspielt; »denn nur auf dem gesetzlich richtig vollzogenen Gottesdienst ruht der Segen Gottes« (R. Hernegger, Die Entstehung der Staatskirche, 1963).

 

Auch das byzantinische Hofzeremoniell erhält nun Eingang in die christliche Gottesdienstordnung. Dabei wird – wie Hans Küng meint – eine Reihe von Zeremonien, die frühere Christen als heidnisch abgelehnt hatten, nun hochgeschätzt: Kniebeugen, Verbeugung, das Küssen von Devotionalien als Anbetungszeremonie, Gegenstände wie Weihrauch, Kerzen, besondere Auszeichnungen wie Stola, Ring und anderes. Die Gemeinde wird immer mehr von der Mitwirkung ausgeschlossen und zu Zuhörern degradiert. Sie wird zum Publikum eines liturgischen Schauspiels. Die Abendmahlfeier erreichte den Gipfel ihrer Verfremdung, als die Priester anfingen, auch stille Messen, also Messen für sich ohne die Gemeinde, ohne das Volk zu halten. Nicht mehr mit dem Volk, mit der Gemeinde, sondern für das Volk und für die Gemeinde wird Liturgie gehalten. »Die Aktivität des Volkes wird so ganz auf das Sehen beschränkt«, meint Küng (Das Christentum – Wesen und Geschichte, 1994).  Der Priester bzw. der Bischof repräsentiert Christus – nicht mehr die Gemeinde, wie sie in der Urchristenheit gelebt wurde.

 

In der urchristlichen Gemeinde war die Zusammengehörigkeit von Christus, Glaube, Buße, Taufe als Leib Christi eine Gegebenheit, »die als solche hingenommen und über die nicht weiter reflektiert wurde«, urteilt Brunner. Das Neue Testament kannte weder das Taufsakrament noch eine Tauflehre. Taufe war die symbolisch vergegenwärtigte Gemeinschaft mit Christus im Sterben (der Täufling wurde untergetaucht) und in der Auferstehung (der Täufling wurde wieder aufgerichtet). Der Getaufte verstand sich nun als Glied des Leibes Christi – nicht wegen der Taufe als magischer Kraft, sondern wegen des Vertrauens in Kreuz und Auferstehung.

 

Reichsgemeinschaft auch die Kirchengemeinschaft, Taufe wurde (in Schweden bis ins 20. Jahrhundert, in anderen Ländern wie Preußen bis ins 19. Jahrhundert) nicht als Bekehrung und Wiedergeburt, Sterben und Auferstehung eines neuen Menschen verstanden, sondern als Zugehörigkeit zum tausendjährigen Reich, das sich im Imperium des Cäsars realisieren sollte. Ein Weltreich wurde getauft. Später waren es Nationen, Stämme, Völker, die getauft wurden. Aus der Revolte gegen die Absurdität wurde die Absegnung der Absurdität – und Gott selbst wurde absurd.

 

Die Priester wurden in diesem Rahmen der Reichskirche Diener des Staates, also Beamte. Theologen, Professoren und Pastoren als Beamte auf Lebenszeit hat auch die Reformationskirche nicht abschaffen können. Das lief alles so weiter, mehr oder weniger – jedenfalls in Europa – bis in das 20. Jahrhundert hinein.

 

In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Gießen im Jahre 1879 legte der zu dieser Zeit schon berühmte Kirchenhistoriker Adolf von Harnack überzeugend dar, wie sich die Kirche seit dem 2. Jahrhundert selbst, also aus sich heraus, zur Staatskirche entwickelt habe und widersprach dem Urteil, als sei der Kirche die Verstaatlichung von außen aufgezwungen worden. Die sich in der Kirche schon seit dem beginnenden 2. Jahrhundert entfaltenden Machtstrukturen drängten auf »Machtübernahme«. Die Metropoliten von Byzanz, Antiochien, Alexandrien und Rom waren politische Machtmenschen und in den dogmatischen Kämpfen der alten Kirche, vor allem seit dem 4. Jahrhundert, ging es nicht nur oder vornehmlich um die Wahrheit, sondern auch um die politische Macht. Und der Ursprung dieser Macht – das hatte Harnack klar erkannt – lag in der priesterlichen Verfügungsgewalt über die Sakramente und über die Lehre, die sich im amtlich legitimierten Dogma als verbindlich darstellte.

 

So wurde das Christentum auf mancherlei Weise zu einer weltbeherrschenden Ideologie. An die Stelle der Revolte gegen die Absurdität durch Bekehrung, Ethos und Recht trat die Macht des Schwertes – in den Kreuzzügen nach außen und in der Inquisition nach innen.

 

Auf das traurige Kapitel der Ketzerverfolgungen soll hier nicht eingegangen werden. Es kann hier nur daran erinnert werden, wie weit das Christentum im Laufe seiner Geschichte nach dem Typos einer Ideologie totalitären Charakters formiert wurde. Die Kirche agierte wie die dominierende Partei in einem totalitären Staat – sie klagte an und überließ die Strafe dem »Staat«, der ja der Ideologie bzw. dem Dogma dieser Kirche unterworfen war, so wie der totalitäre Staat der Ideologie einer Partei unterworfen ist. Die Methoden der Bespitzelung, die Arbeit der Agenten, die Verhör- und Foltermethoden, die Brutalität des Gewissenszwanges der kirchlichen Inquisitionspraxis erinnern peinlich an die Methode der totalitären Regime des Leninismus, Stalinismus, Hitlerismus und des realen Sozialismus.

 

 

 

4. Die Verleugnung der Urgemeinde

 

Diese kirchliche Umgestaltung des Christentums kann natürlich nicht als folgerichtige Entwicklung aus der christlichen Urgemeinde heraus verstanden werden. Es handelt sich hier vielmehr um einen Bruch, wenn nicht gar um eine Verleugnung urchristlicher Gemeindewirklichkeit.

 

Die urchristliche Gemeinde war eine Bruderschaft aller Stände, der Sklaven und Freien, in der es kein »Ansehen der Person« gab. Spottsüchtige Heiden konnten diese Gemeinschaft nie begreifen. In den Gemeindeversammlungen verstanden sich alle als Brüder und Schwestern und grüßten einander mit dem Friedenskuss, was den Heiden ebenfalls Anlass zu Spott und Hohn gab. Der Unterschied zwischen Mann und Frau bestand lediglich darin, dass die Frauen, auch wenn sie als Diakonissin tätig waren, weder taufen noch predigen durften. Es gab weder ein Lehrsystem noch Sakramente. Da es im römischen Imperium zur Zeit der urchristlichen Gemeinde wohl viele Festtage, aber keine Ruhetage gab, traf man sich am ersten Tag der Woche außerhalb der Arbeitszeit – eben nachts. Man kam in Privathäusern zusammen, die von Mitgliedern der Gemeinde zur Verfügung gestellt wurden.

 

Die urchristliche Gemeinde war eine »durchaus unkultische, geistliche Bruderschaft«, wie Emil Brunner es beschreibt. Die Ordnung war eine bruderschaftliche Ordnung ohne »geistliche Ämter, ohne Priester«. Richtig bemerkt Brunner: »Paulus beruft sich auf die Bewährung jener führenden Männer im Dienst und ruft die Gemeinde auf, den Bewährten die Anerkennung nicht zu versagen.«

 

In den Dienst wurde nach damaliger jüdischer Praxis mit Handauflegung eingeführt. Allerdings sehen wir sie nirgends im Zusammenhang mit der Übertragung eines besonderen Dienstes oder Amtes. In den Dienst der Gemeinde wurde man also durch Aufheben der Hände »gewählt«. Es war die Gemeinde, die ihre Diener in den Dienst wählte – als Lehrer, Diakon, Aufseher oder Vorsteher der Gemeinde.

 

Die urchristliche Gemeinde war – abgesehen von der einmaligen autoritativen Leitung durch die Apostel – eine Art »Christus-Demokratie«, die zum Dienst aus der Gemeinde aber nicht zum Herrschen über die Gemeinde ihre Diener berief. Einen Dienst durch Handauflegung in dieser Bedeutung des Wortes bekommt, wer eine Gnadengabe, ein Charisma des Heiligen Geistes empfangen hat. Dabei war für diese Dienste die Reife der Erfahrung im christlichen Leben ausschlaggebend. Von allen Diensten kam dabei dem Dienst des Lehrens entsprechend dem Dienst des Rabbi in der jüdischen Gemeinde eine besondere Bedeutung zu, weswegen Paulus auch mahnt, insbesondere solche Presbyter zu achten, die im Dienst der Lehre standen, die Schrift auslegten und ihre Inhalte vermittelten (1.Tim.5,17).

 

 

 

5. Sind wir heute vom »Heiligen Geist« verlassen?

 

Die »Biblische Religion« lebt aus dem Anruf durch das Wort. Es ist das Wort Gottes, das die Erzväter, die Propheten und die Apostel als Offenbarung hören und sagen. Durch das Hören des Wortes wird der Gläubige in seinem Herzen getroffen. Das Weitergeben dieses Wortes, die Predigt des biblischen Wortes ist darum der wichtigste Dienst in der christlichen Gemeinde.

 

Weil Gott so sich in seinem Wort offenbart, geht der Weg zum Heil in der »Biblischen Religion« durch das Hören und nicht etwa durch Meditation. Der Prediger ist darum unverzichtbar. Er ist der Diener des Wortes und nicht der Guru als Techniker der Meditation, der den Weg zum Heil aufzeigt. Aus diesem Grunde ist der »Dienst« eben des Predigers, des Dieners am Worte, unverzichtbar und wird als Lebensberuf ausgeübt werden müssen, weil das Studium des nun geschriebenen Wortes Gottes eine das ganze Leben beanspruchende Aufgabe ist. Diener des Wortes kann allerdings nur sein, wer das biblische Wort verinnerlicht, es lebt und ihm vertraut. Um es salopp auszudrücken: Der Pfarrer als Diener des Wortes muss – wie die Pietisten zu Recht fordern – ein »gläubiger« Pfarrer sein, weil Mitteilung des Wortes ohne Mitteilung der Existenz nicht möglich ist.

 

Das bloße Wort oder gar die Lehre oder das Dogma können töten – der Geist hingegen macht »lebendig«. Das Wort soll, kann und muss gleichsam unser Herz treffen, unsere Seele aus ihrer Vereisung auftauen. Diese Gegenwart Gottes verstanden die Israeliten als Schechina, als das Wohnen Gottes im Herzen seiner Gemeinde. Im Neuen Testament wird diese unmittelbare Kraft Gottes als pneuma, gleichsam als ein Anhauchen, als eine stürmische Bewegung Gottes in das »Innenleben« des Gläubigen verstanden. Pneuma heißt eigentlich »Atem« oder »Wind« – wir wissen und verfügen nicht, wann, wie und woher er kommt (Joh.3,8). Wir erleben ihn aber als Liebe, als Vertrauen und als Hoffnung (1.Kor.13,13).

 

Das Leben in diesem Heiligen Geist ist eine »Schwellenexistenz«, weil die Schwelle der Absurdität in einer Revolte von oben gleichsam durchbrochen wird. Der Heilige Geist ist die Revolte Gottes gegen die Absurdität in uns selbst. So wie der Geist Gottes im Schöpfungsbericht über die Tiefen des Chaos ordnend und heilend hinweggeht, so wird der Heilige Geist im Gläubigen über das Chaotisch-Absurde seines Innenlebens heilend herüberkommen.

 

Dieses Leben im Heiligen Geist, diese Revolte Gottes im Herzen des Menschen wird nicht durch Kult, Ritus, Sakrament oder irgendeine Feierlichkeit »herbeigeschafft«. Das Leben im Geiste Gottes ist keine Angelegenheit der Feierlichkeit oder der gruppendynamischen Experimente, sondern ein Ereignis mitten im Alltagsleben – vor allem aber in der Gemeinschaft des »Brotbrechens« und im Hören von Gottes Wort.

 

Gemeinde ist überall, wo zwei oder drei im Namen Christi versammelt sind – unter der Voraussetzung, dass der Geist Gottes unter ihnen lebendig ist. Dieser Heilige Geist begründete die frühe christliche Gemeinde. In unserer gegenwärtigen Kirchlichkeit sind wir nicht mehr mit der Fülle des Heiligen Geistes beschenkt. E. Brunner meint, wir hätten »das Schwinden des Pneumatischen einfach als eine Tatsache hinzunehmen, für die wir keine, es sei denn eine seelsorgerliche Erklärung haben; das Leben im Geist schwindet so, wie die erste Liebe erkaltet«. Es gibt heute keine Offenbarungen mehr. Die pneumatischen Gaben der urchristlichen Gemeinde wie Prophetie, Glossolalie (das Sprechen in Sprachen, in denen die Schwelle herkömmlichen menschlichen Redens übersprungen wird), Krankenheilungen usw. haben die urchristliche Gemeinde kaum oder gar nicht überlebt. Es wäre eine weiterschreitende Verfremdung von der Urgemeinde, diese verlorenen Gaben durch ein »als ob«, durch »religiöse Techniken« imitieren zu wollen. Wir kommen nicht darum herum festzuhalten, dass die Geschichte des Christentums nach dem geistlichen Aufbruch in der Urgemeinde mehr oder weniger durch eine permanente Geistverlorenheit charakterisiert ist. Insofern gesehen lebte die Urgemeinde in der Endzeit, und wir leben von ihren Offenbarungen, die in den Schriften des Neuen Testamentes gesammelt sind.

 

Das Niveau der Urgemeinde konnte die christliche Kirche in ihrer weiteren Geschichte so wenig erreichen, wie ein trüber breit und behäbig fließender Fluss zu seiner Urquelle zurückkehren kann.

 

Wenn die Urgemeinde in der Erwartung der Wiederkunft Christi lebte, so wird man bedenken müssen, dass diese Erwartungshaltung insofern rechtens und auch geschichtlich »richtig« war, als die Zeit zwischen Urgemeinde und Wiederkunft, eben die Zeit der Kirche wie ein tiefes Tal zwischen den Gipfeln urchristlicher Spiritualität und endzeitlicher Wiederkunft Christi liegt.

 

Ist nun die Zeit der Kirche nach dem urchristlichen Aufbruch nur eine Zeit des Zerfalls und der Auflösung? Auf diese Frage kommt Emil Brunner zu einer harten Antwort: »Denn aus dem Neuen Testament ergibt sich, dass gerade die Kirchwerdung der Gemeinde Jesu, die Ecclesia (Kirche), eine Wesensänderung, eine Transformation in sich schließt, die mit der neutestamentlichen Wahrheit in Widerspruch steht.«

 

Wir sind heute als Gemeinde Christi also nicht die Gemeinde, die wir nach dem Willen Jesu sein sollten. Emil Brunner fragt auch die »Reformationskirchen«, also die evangelischen Christen, wo jene Einheit »von Christusgemeinschaft und Brudergemeinschaft, die ja gerade das paradoxe Wesen der Ecclesia (Kirche) ist«, geblieben sei und kommt zu dem ernüchternden Urteil, dass keine der vorhandenen Kirchen den Anspruch erheben kann, die Kirche der Apostelzeit zu sein, und wir müssten darauf verzichten »wahre Kirche als solche aufzufinden und dass überhaupt der Begriff Kirche durch eine neunzehnhundertjährige Kirchengeschichte schwer belastet ist«.

 

Ein 2000-jähriger Irrweg? Sollte der Gott, der in Christus gegenwärtig war, die von diesem begründete Gemeinde völlig verlassen haben? War das Christentum nach Christus nur eine Fiktion?  . . .

 

Diese vernichtenden Urteile über 2000 Jahre Christentum in seiner kirchlichen Gestalt müssen als Protest – sie können aber nicht in dem Sinne verstanden werden, als wäre die christliche Gemeinde in diesen 2000 Jahren überhaupt nicht existent gewesen. Es gab immer christliche Existenz und darum auch immer irgendwie christliche Gemeinde. Die Kirche ist dabei eine geschichtlich entstandene Form, ein »Gefäß« der wahren Gemeinde, und »nicht ihr, sondern dieser Gemeinde in der Kirche allein ist die Verheißung der Unüberwindbarkeit und der Dauer in die Ewigkeit hinein gegeben«. Dabei – so meint Emil Brunner – müssen wir offen sein für die Möglichkeit, dass es Gottes Wille sein könnte, dieses Gefäß, also die Institution, einmal zu zerbrechen. Was bleibt, sich durchkämpfen muss und schließlich siegen wird, ist nach Emil Brunners Meinung die »Einheit von Christusgemeinschaft im Glauben und Bruderschaft in der Liebe«.

 

Im Zerfallsprozess der Kirche hat es also immer wieder eine Gemeinschaft gegeben – 2000 Jahre lang bis heute – vom Heiligen Geist getragen, die Kirche erwärmte und durchstrahlte. Kirche ist nicht ein Sein, ein System, eine Institution, sondern geistlich gesehen ein dramatischer Prozess, der nie enden wird, solange diese Welt besteht. Es offenbart sich hier das reformatorische Prinzip ecclesia semper reformanda (d. h. die Kirche muss immer wieder reformiert werden). Die Kirche muss immer und immer wieder von ihrem Ursprung her erneuert werden. Die Macht der Absurdität ist eben auch in die Kirche Christi eingebrochen, und es ist die Aufgabe, gegen diese Absurdität eine permanente Revolte in Bewegung zu halten, die mit Gewissheit bis zum Ende der Zeiten nicht aufhören wird.

 

Es wird in der Institution Kirche immer eine solche unsichtbare Bruderschaft geben, die an dieser Kirche leidet, die aber auch immer wieder Kraft zur Revolte gegen die Absurdität im Selbstopfer durchhält und durchsteht. Jesus selbst war in sich die Revolte gegen die Absurdität des Tempels zu Jerusalem, aber auch der Geopferte in seinem Protest gegen diese Konzentration von Macht, Geld und Kult. Es war diese Konzentration der Macht, die ihn durch das Urteil der Hierarchie, also des Hohenpriesters, an das Kreuz auslieferte. Auch diese Dimension im Kreuzestod Christi müssen wir erkennen.

 

Wer in der Nachfolge Christi der Gemeinde Christi dienen will, wird sich opfern müssen, wird – wie Paulus es einmal ausdrückte – den opfernden Schlachtschafen gleich sein. Nur diese Weise christlichen Existierens hindert uns daran, dass man Christentum spielt, wie Kierkegaard es einmal ausdrückte. Es geht darum, echt zu sein und nicht vor sich und anderen das Feierliche des religiös Begeisterten zu spielen.

 

Zu diesem Versuch, Christentum für diese Zeit weltimmanent sinnhaft zu machen, Christliches an weltliche Projekte zu knüpfen, meinte Kierkegaard, unser Christentum habe »Ewigkeit nötig«. Der »Titularchrist« will im Grunde seine Ruhe haben. Alles liegt im Vordergründigen und wird als reparabel dargestellt. Aber was passiert in der eigenen Seele? »Nimm das geängstigte Gewissen fort, so kannst du auch die Kirchen schließen und sie zu Tanzplätzen machen. Denn »der Augenblick des Todes ist die Situation des Christentums«. Hier hören wir wieder das Neutestamentliche: Wir sterben, und siehe, wir leben. Dass der Schmerz zum Christwerden gehört, will heute keiner glauben, weil keiner das Leiden durchschreiten will und kann.

 

 

 

6. Was kann geschehen, und was ist machbar?

 

Eine »Erneuerung« der Kirche, eine Reformation, ist nicht »machbar« und kann nicht »organisiert« werden. Je mehr Spektakel gemacht wird, um das »kirchliche Leben« in Gang zu bringen, umso schneller geht es in den geistigen und geistlichen Bankrott. Wir erleben die Wende zum 21. Jahrhundert kirchlich gesehen als eine Wüstenzeit. Der Heilige Geist weht nur noch schwach über die Dürre quasichristlichen Lebens dahin. Wenn alles ins Stocken geraten ist, wenn der Gedanke stillsteht, wenn die Sprache verstummt, so muss ein Gewitter her. Nur durch ein solches geistliches Gewitter, wie es Kierkegaard herbeisehnt, durch einen religiösen Umbruch sondergleichen könnten die toten Gebeine der Christenheit wieder lebendig werden. Bevor nun dieses nicht Machbare geschieht, kann aber doch weggeräumt werden, was den Heiligen Geist Gottes betrübt. Da geht es zunächst einmal um die Abschaffung der »Büro-Hierarchie« und um volle Souveränität der einzelnen Gemeinde.

 

Die evangelischen Landeskirchen in Deutschland haben mit deutscher »Büro-Wollust« ein büro-hierarchisches System aufgebaut, das weltweit bewunderungswürdig ist. Mit geradezu fassungslosem Staunen führe ich Besucher aus den Niederlanden, der Schweiz und vor allem natürlich aus den USA vor die Kolossalbauten kirchlicher Verwaltung in Deutschland, vor die vielen »Ämter« und »Werke«. Was hier in grenzenlosen Fluren und ungezählten Büros lebt und webt, verwaltet und werkt, entscheidet und »bearbeitet« mit einer Armada von Ausschüssen und Sitzungen, geht ins Gigantische.  . . .

 

Das alles hat weder mit Gemeinde und dem Heiligen Geist noch auch mit Demokratie zu tun. Es gibt zwar Synoden, die in gewisser Hinsicht nach dem Muster politischer Parlamente aufgebaut sind, aber ein Sieb- und Auswahlsystem sorgt dafür, dass Minderheiten wenig zu sagen haben.  . . .

 

Was alles hat das mit urgemeindlicher Demokratie zu tun? Wenn es aber nichts mit Demokratie zu tun hat, stimmt es dann mit der urchristlichen Spiritualität überein? Realisiert sich hier urchristliche Gemeinschaft? Wenn sich aber weder Demokratie noch urchristliche Bruderschaft realisiert — was ist das dann dieses »System«?

 

Wenn Bischöfe, Kirchenpräsidenten oder Synoden oder der Rat der EKD »Erklärungen« abgeben, die oftmals direkt-politisch formuliert sind – in welchem Auftrage geschieht das? Geschieht es im Namen Gottes, der Bibel, des evangelischen Christentums, der evangelischen Gemeinden? Repräsentiert sich gar die evangelische Kirche in ihren öffentlichen Verlautbarungen als Macht ohne Vollmacht und Auftrag?

 

Wenn man diese unsinnigen Strukturen verändern oder abschaffen will, dann muss man mit der Gemeinde beginnen.

 

Dass die einzelne Gemeinde als solche alle Vollmacht hat, ja in sich die sichtbare Gemeinde darstellt, ist ein Grundsatz der Reformation von Luther bis Calvin. Bekannt ist die Klage Luthers in der Einleitung zu seiner Schrift über die gottesdienstlichen Ordnungen: »Ich kann und mag noch nicht eine solche Gemeinde oder Versammlung ordnen oder einsetzen, denn ich habe noch nicht die Leute oder Personen dazu.« Was Martin Luther damals beklagte, würde er auch

 

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heute beklagen müssen. Die mündige Gemeinde gab es nicht und gibt es nicht. Hier aber dürfen wir nicht resignierend wie vor einer ewigen Klagemauer stehenbleiben.

 

Luther selbst hatte eine klare Zielvorgabe. Grundsätzlich ging er davon aus, dass die christliche Gemeinde aus sich »gewisslich erkennen kann, wo das lautere Evangelium gepredigt wird«. Denn Christus habe den Bischöfen, Konzilien und Gelehrten Recht und Macht genommen »zu urteilen die Lehre, und gibt sie jedermann und allen Christen insgemein«. Dabei beruft er sich auf ein Wort Christi: »Meine Schafe kennen meine Stimme« (Joh.10,3). Niemand also sollte leugnen, meint Luther, »dass ein jeglicher Christ Gottes Wort hat und von Gott gelehrt und gesalbt ist zum Priester«, und er beruft sich wieder auf die Bibel: »Ihr seid das königliche Priestertum, dass ihr verkündigen sollt die Tugend dessen, der euch berufen hat zu seinem wunderbaren Licht.« Und für Luther ist es ein Kernanliegen, »dass die Gemeinde, die das Evangelium hat, möge und soll unter sich selbst, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben oder geben lassen«, ist untergegangen im Apparat der Ausschüsse, Räte, Ämter eben der modernen »Funktionsherrschaft« oder des Regimes kirchlicher Manager. . . .

 

In den Gemeinden selbst aber muss sich auch Gemeinschaft realisieren. So wie die Gemeinden sich heute vorfinden, geht es nicht weiter. Es muss in der Mitte einer Kirchengemeinde »eine geistliche Bruderschaft« existieren, die zum Beispiel Abendmahl so feiert, wie es die Urgemeinde auch tat. Es kann nicht angehen, dass die Pastoren dieser Gemeinde als »Titularchristen« oder »Diplomtheologen« mit 28 Jahren ohne geistliche Erfahrung eine Beamtenlaufbahn auf Lebenszeit zur Verkündigung des Wortes einschlagen. Es kann nicht sein, dass – wie in lutherischen und auch anderen Landeskirchen – eine vorgeschriebene Liturgie oder Gottesdienstordnung absolviert wird, die von der Gemeinde überhaupt nicht mitvollzogen, also nicht gelebt wird und die – wie Kierkegaard einmal formulierte – in den Verdacht der »Falschmünzerei« gerät. Es geht auch nicht an, dass jeder, der Kirchensteuern zahlt, im übrigen aber ein Fremdling der christlichen Gemeinde ist und oft gar nicht einmal weiß, zu welcher Gemeinde er eigentlich gehört, seine Kinder zur Taufe bringen kann. Denn – so meint Luther – »solange wir leben, tun wir stets dasjenige, was die Taufe bedeutet, dass wir sterben und wir stehen auf«, und darüber war er sich völlig klar, dass nur »der Glaube rechtfertigt und erfüllt das, was die Taufe bedeutet … denn der Glaube ist ein Eintauchen des alten Menschen und ein Emportauchen des neuen Menschen.« Die Taufe muss also in ihrem Sinngehalt gelebt werden. Taufe ohne Glaube ist unchristlicher Sakramentalismus, der die Gemeinde zerstört, und darum ist die gegenwärtige Taufpraxis nach kirchensteuerlichem Anspruchsrecht ein Triumph der Absurdität, eine langfristige Zerstörung der Gemeinde Christi.

 

Womit also anfangen? Was wäre der erste Schritt? Es wäre der Schritt zur Basisgemeinde. Würde man damit langsam, aber beharrlich beginnen, dann wäre das ein Wegräumen jener Barrieren, die einer echten Reformation im Wege stehen.

 

Ich denke dabei ganz realistisch und praktikabel! Zunächst wäre es einmal wichtig, dass in den Landeskirchen mit der oft beschworenen oder beschimpften Pluralität ernstgemacht wird. Ein offener geistiger und geistlicher Kampf muss ausgetragen werden. Am 3. August 1944 schrieb Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis: »Die Kirche muss aus ihrer Stagnation heraus. Wir müssen wieder in die freie Luft der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.« Ich wiederhole: Der Protest der »Konservativen« gegen den theologischen und somit kirchlichen Pluralismus ist ein Schuss, der nach hinten losgeht. Nur in einer pluralistischen Kirche haben »bibeltreue« Christen eine Chance, zu ihrer eigenen mündigen Gemeinde zu finden. Eine zentralistische »Einheitskirche« wäre das Schlimmste, das passieren könnte. In der Freiheit des geistlichen Kampfes kann sich die Wahrheit durchsetzen, können sich biblisch fundierte Gemeinden bilden.

 

Christentum wird nicht durch Lehrsysteme, Dogmen, Werbetechniken oder Happenings vermittelt. Christliche Gemeinde wächst durch Existenzmitteilung. »Jedes andere Vorstudium muss eo ipso mit einem Missverständnis enden, denn Christentum ist Existenzmitteilung«, sagte Kierkegaard. Die Wahrheit muss in das Dasein eingehen, und die neue Geburt aus Glauben wird schmerzlich sein, zumal »keine Weichlinge ins Himmelreich eingehen können«. Es geht um Schmerz, Tiefe und Leidenschaft, weil allein Strenge zu retten vermag. Heute aber wird in populistischen Predigten, in denen sich das Christentum geradezu anbiedert, das Christentum in der Christenheit abgeschafft mittels der Milde. Und was Kierkegaard schon vor 150 Jahren voraussah, formulierte Bonhoeffer vor der Mitte dieses Jahrhunderts als die Katastrophe »der billigen Gnade«. Billige Gnade gießt die Liebe Gottes über alle Absurditäten dahin; sie verklärt die Absurdität und rechtfertigt die Sünde. Die teure Gnade aber ist die Gnade für den bußfertigen Sünder, der an der Absurdität in sich selbst und in der Welt leidet und danach dürstet, ein neues Leben aus Vertrauen zu Gott beginnen zu können.

 

Dies alles kann nur gelebt werden in der einzelnen Gemeinde, die dann wie eine »Stadt auf dem Berge« den Menschen leuchten soll. Dazu schrieb Bonhoeffer in dem bereits zitierten Brief: »Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, für andere da zu sein. Speziell wird unsere Kirche den Lastern der Hybris, der Anbetung der Kraft und des Neides und des Illusionismus als den Wurzeln allen Übels entgegentreten müssen. Sie wird von Maß, Echtheit, Vertrauen, Treue, Stetigkeit, Geduld, Zucht, Demut, Genügsamkeit, Bescheidenheit sprechen müssen. Sie wird die Bedeutung des menschlichen Vorbildes (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat und bei Paulus so wichtig ist!) nicht unterschätzen dürfen. Nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.«

 

 

 

 

 

Teil VII. Ohne Gehorsam gegen Gott folgen Zerstörung von Person und Moral

 

 

 

1. Der Mensch kann nicht »natürlich« leben

 

An die Absurdität in der Natur habe ich in diesem Buch mehrfach erinnert: Leben als Wille zum Leben ist auf den Tod programmiert. Die Schöpfungslust lebt im Schatten der Angst, und Leben als Überleben ist nur um den Preis des puren Triebes zur Macht im Kampf um das Dasein zu haben. Leben in der Natur lebt auf Kosten anderen Lebens. Dabei geht es gar nicht vornehmlich um die Erhaltung der Art im natürlichen Gleichgewicht, sondern im Vordergrund dieses Lebenskampfes steht jeweils der Machttrieb des Stärkeren in der eigenen Art.

 

Würde der Mensch in diesem Sinne »natürlich« leben, dann würden für ihn genauso diese brutalen Gesetze des Kampfes um das Dasein gelten, und nur die »Mächtigen« könnten überleben. Und was wäre dann diese Macht anderes als Grausamkeit?

 

Das Ethos mit den Geboten »nicht morden«, »nicht ehebrechen«, »kein falsches Zeugnis reden«, »Vater und Mutter ehren« und »nicht begehren, was deinem Nächsten gehört«, ist darum »unnatürlich«. Ethos ist die Revolte für die Menschlichkeit gegen die absurden Spielregeln, die wir »natürlich« nennen.

 

Nach dem Urteil der »Biblischen Religion« lebt der Mensch in und mit der Natur, die ja Schöpfung Gottes ist. Aber seit der Bestattung seiner Toten lebt er auch in der Revolte gegen den Kreislauf von Leben und Tod in der Natur. Der Mensch ist mehr als die Natur, und er ist anders als die Natur. Nach biblischer Erkenntnis ist er nicht zum Ebenbild der Natur, sondern zum Ebenbild Gottes geschaffen.

 

Aber dieses »Ebenbild Gottes« ist selber wieder Opfer der Absurdität geworden — es ist die Absurdität, die sich in ihm gegen ihn erhebt. Diese »innermenschliche Absurdität« benennt die Bibel mit dem heute so ausgelutschten Wort »Sünde«. Sünde ist letztendlich der weder durch das Gewissen noch durch das Gebot, noch durch die Liebe begrenzte und geleitete pure Wille zur Macht. Die Geschichte vom Sündenfall, sagt unmissverständlich aus: Sünde ist der Wille zur Macht bis zum Allerletzten, um Gott gleich zu sein, ja eben selbst Gott zu sein.

 

Dieser »Sünde« genannten Absurdität stehen gegenüber der Gehorsam gegenüber Gottes Gebot und die Liebe zu Gott und den Menschen.

 

Auf die Frage eines Pharisäers, welches Gebot das wichtigste sei, antwortet Jesus: »Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Dieses »Doppelgebot« ist der doppelte Protest gegen die Absurdität gottverlassenen Kampfes um das Dasein, in dem die »Natur« des Grausamen siegt.

 

Nun ist dieses 20. Jahrhundert ein einziger Aufstand gegen dieses biblische Verständnis des Menschseins – ein Aufstand allerdings im Namen der »Natur«. »Natürlich« steht gegen »biblisch« oder »christlich« und was die Zwergschimpansen tun und lassen, soll auch der Mensch tun und lassen. Der Natur keine Grenzen setzen – das ist die Parole der Kultur- und Moralrevolution. Im Hitlerismus bedeutete die »Auslese« der Herrenrasse im Kampf um das Dasein eines Volkes die gebotene Erfüllung der »Gesetze der Natur«. Heute bedeutet »natürlich« alles, was Lust und Selbstverwirklichung um jeden Preis ausleben lässt, denn alles was Lust bringt, ist natürlich. Aber Lust – so lehrt uns die Psychologie, – ist immer mit Macht gekoppelt.

 

So ist dieses Jahrhundert durchgängig der naturalistische Aufstand gegen das die Natur überwindende Ethos der Bibel.

 

 

 

2. Biblisches Ethos ist Vertrauens- und Gehorsamsethos

 

Die Tatsachen der »postmodernen« naturalistischen Umwälzung zwingen uns zu der Erkenntnis, dass wir mindestens seit diesem 20. Jahrhundert in einer Kultur- und Moralrevolution leben, die in der europäischen Geschichte unvergleichbar ist und ihren Höhepunkt immer noch nicht erreicht hat. Die Sachlage ist für einen christlichen wie jüdischen Theologen eindeutig: Gegenwärtige Moralrevolution will die radikale Verneinung des Gehorsams gegenüber dem Gebot Gottes, eben des Gebieters der Gebote.

 

Wer heute in der Schule, in der Predigt oder in der politischen Rede Gehorsam gegenüber Gottes Gebote einfordert, erntet Aufschreie. Nur wozu man Lust hat, was sich als »geil« darbietet, so dass man »darauf einen Bock hat«, bewirkt Motivationen des Handelns. Beschrieben werden sie in der Vulgärsprache, die ja eigentlicher Ausdruck unserer lustbetonten Zivilisation ist und somit dem »Fäkalienbereich« entnommen. An die Stelle von »gut« oder »böse« treten die Differenzierungen »geil« oder »Scheiße«. In allen Sprachen der euro-amerikanischen Zivilisation sind in ähnlicher Weise im Alltagsgebrauch die »Wert-Unwert-differenzierungen« auf dieses Niveau der Fäkaliensprache hinabgesunken.

 

Lust und Unlust aber sind gerade nicht die Motivation des biblischen Ethos, also weder der jüdischen noch der christlichen Ethik. Die Inhalte des biblischen Ethos werden durch das Wort Gottes vermittelt, das gehört wird und zum Gehorsam aufruft. Es ist das Hören und der daraus folgende Gehorsam, der diesen Gott »verinnerlicht«. Die Verneinung des Hörens und die Aufkündigung des Gehorsams, wie wir es heute erleben, bedeutet nicht nur das Ende des Glaubens an Gott, sondern konsequenterweise auch des in ihm beschlossenen Ethos, also das Ende herkömmlicher Unterscheidung zwischen Gut und Böse.

 

Das biblische Ethos wird verkündigt: »Und nun höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich euch lehre, dass ihr sie tun sollt, auf dass ihr lebet …« Die Menschen können die Güte Gottes nach biblischem Urteil nur »erleben«, wenn sie »diese Rechte hören und sie halten« (5.Mo7,12). Die Erziehung zum autoritativen, von Gott eingeforderten Gehorsam gegenüber sich selbst und im Verhältnis der Menschen zueinander, ist gerade das Fundament im Verständnis menschlichen Daseins, wie es sich in der Bibel darstellt.

 

Mit dem Neuen Testament ändert sich an dieser Basis des Ethos nichts. Auch das Ethos des Jesus Christus ist wie das der Urgemeinde ein verkündetes, zum Hören und Gehorsam aufrufendes Ethos. In der Bergpredigt verkündigt Jesus, dass, »wer diese meine Rede hört und tut sie«, einem Manne zu vergleichen sei, der sein Haus auf Felsen baue. Jesus beansprucht und verheißt als Gesandter Gottes: »Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat«, ewiges Leben habe (Joh.5,24). Wenn Mose einfordert »der Stimme des Herrn … zu gehorchen« und die Apostel der Urgemeinde dazu aufrufen »Gott mehr zu gehorchen als den Menschen« (Apg 5,29), wird noch einmal deutlich, dass von Mose bis zu Jesus und zu den Aposteln der Urgemeinde das Hören und der Gehorsam gegenüber der autoritativen Anrede Gottes Basis des biblischen Ethos ist.

 

Das biblische Ethos wird übrigens niemals rational begründet, es wird ganz einfach eingefordert. Das Ja oder Nein zu diesem Ethos geht nicht über den Weg begrifflicher Begründung, sondern über den Weg des Vertrauens. Die Gebote am Sinai wurden dem israelitischen Volke ja von einem Gott gegeben, der es aus der Gefangenschaft Ägyptens heraus in die Freiheit geführt hatte. Diese Befreiungstat steht als Magna Charta am Anfang der sogenannten Zehn Gebote: »Ich bin der Herr« dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.« (2.Mo20,2) Dieser Satz wird uns noch mehrfach beschäftigen. Hier halten wir nur fest: Gehorsam und Freiheit sind einander zugeordnet. Wer den Gehorsam verliert, der verliert auch die Freiheit.

 

Noch einmal: Dieses Gehorsamsethos der Freiheit orientiert sich nicht an der Natur. Natur ist Kampf ums Dasein. Natur meint das Darwinsche »survivel of the fittist«. Natur ist Lust und Macht, eine Balance des Schreckens in der Permanenz der Angst, die eindeutig das stärkste Gefühlselement der Kreatur ist. Das zum Gehorsam aufrufende Gebot ist der einzige Schutz der Schwachen, denn Barmherzigkeit kann nicht aus der unbarmherzigen Natur abgelesen, sondern nur im Gehorsam und im Vertrauen und schließlich in der Liebe angenommen und gelebt werden. Das Gebot Gottes bringt Barmherzigkeit und Liebe in die Menschheit.

 

 

 

3. Ist aber Gehorsam nicht repressiv und faschistoid?

 

Natürlich drängt sich die Frage auf, ob solch ein Gehorsam nicht schlussendlich ein Unterwerfungsakt sei, der das Individuum auslöscht und als blinder Gehorsam in Abgründe der Abhängigkeiten führen kann.

 

Wer grundsätzlich biblische Gehorsamsstruktur als solche mit »faschistoid« abqualifiziert, muss konsequenterweise Mose als den Urvater des Faschismus verurteilen. Das biblische Ethos nach dieser Logik als »herrschaftslegitimierendes Weltbild« zu verneinen, gehört allerdings zum Axiom aller vereinigten Kultur- und Moralrevolutionäre dieser Zeit. Ganz klar und unmissverständlich ist hierauf zu antworten: Nicht ob Gehorsam gelebt wird ist entscheidend, sondern gegenüber wem er gelebt wird, ist bedeutsam.

 

Hören ruft ja in die Entscheidung: Wem höre ich zu? Wem gehöre ich? Wem bin ich gehorsam? Gehorsam — im biblischen Sinne — wird nicht durch Zwang aufgenötigt, sondern in der freien Entscheidung gewählt.

 

Gott begegnet dem Menschen dadurch, dass er ihn anruft. Personare heißt wörtlich »durchtönen«, so wie der Schauspieler der Antike durch seine den ganzen Kopf bedeckende Maske (persona genannt) hindurchrufen musste. Der Mensch wird Person in der Begegnung mit dem persönlichen Gott, der ihn als Person anruft. Das heute dahinschmelzende euro-amerikanische Verständnis der »Persönlichkeit« ist ohne diese Vermittlung der Personalität des jüdisch-christlichen Gottesverständnisses undenkbar. Unsere herkömmliche Personalität ist mit Gottes Offenbarung als Person auf Gedeih und Verderb verbunden. Ohne das hörende und gehorsame Gegenüber Gottes, der uns auch im Gewissen anruft, kann verantwortliche Personalität nicht sein. Verantwortlichkeit steht und fällt mit der Antwort auf das Wort, das autoritativ, Gehorsam einfordernd zu uns spricht. Auf diesem »Kernprozess« der freien, sittlich verantwortlichen Persönlichkeit beruht alles, was wir an unserer europäischen Kultur wertvoll fanden und auch heute noch finden können.

 

 

 

4. Biblischer Gehorsam ist Voraussetzung für Individualität

 

Wir erinnern uns: Der Weg durch das Schilfmeer, die Rettung vor der Verfolgung des Pharao, das Voranschreiten des Mose war ein Weg durch das Chaos im Glauben an die Treue Gottes.

 

Die äußeren geschichtlichen Begebenheiten zeigen dabei auf die Parallelität eines seelischen Erziehungsprozesses, den Erich Neumann, ein Schüler C. G. Jungs, überzeugend dargestellt hat. Für Neumann ist Religionsgeschichte — insbesondere biblische — die Geschichte der Bewusstwerdung und damit der Individuation. Aus der kollektiv besetzten, chaotischen Triebhaftigkeit geht der Weg der Menschwerdung zur inneren Organisation des Individuums. Dieser Weg ist begleitet von dramatischen Konflikten. Die innere Auseinandersetzung zwischen dem Überich (Gott) und der Libido (Lustpotential in seiner ganzen Tiefe und Breite) sieht Neumann dargestellt in religiösen Symbolen des Kampfes mit Chaos (Ur-Meer) und Chaosgestalten (Drachen usw.). Die Libido wird dabei nicht verdrängt oder ausgetrocknet, sondern im Gehorsam gegenüber dem »Überich«, das als »Gott« erfahren wird, so eingeordnet, wie in den Schöpfungsaussagen der Bibel das Chaosmeer in das Ganze der Schöpfung eingeflochten wird: »Er hält die Wasser des Meeres zusammen wie in einem Schlauch«; »der du stillst das Brausen des Meeres, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker« (Ps.65,8). Der Mensch ist einbezogen in das Drama des Kampfes von Ordnung gegen Chaos. Persönlichkeit wird, wer dieses Drama in der Selbstüberwindung bewusst auf sich nimmt.

 

Was für Neumann vermutlich nur religiöse Symbolik in der Entwicklung der Psyche ist, stellt sich im Grunde als geschichtliche Wirklichkeit dar: Jede Seele hat ihre Geschichte — aber jede Geschichte hat auch ihre Seele. Und die Bibel erzählt von dieser Seele der Geschichte.

 

Welche »Seele« die biblische Geschichte hat, zeigt dieses Beispiel: Israels Verharren am Schilfmeer, sein Wehklagen darüber, die Fleischtöpfe Ägyptens verlassen zu haben, seine Willigkeit, in die Diktatur des Pharao zurückzukehren, der ausbrechende Hader gegen Mose, der das Volk aus sklavischer Infantilität herausgeführt hatte und herausführen will – das entspricht der Situation eines jeden Menschen, der den Weg des Hörens und Gehorchens verneint und zurück will in die Geborgenheit des Ur-Mutterschoßes, wo es kein Hören und kein Gehorchen gibt. Das ist das Nein zur Personalisation: Man möchte abtauchen in die verantwortungslose, rauschhafte, emotional besetzte Infantilität. Lieber wieder als Kind oder Sklave in einer Diktatur leben, denn als freier und verantwortungsvoller Mensch sein Leben in Freiheit gestalten. Aber im Blick auf das Israel, das nun doch nicht stehenbleibt, das innere und äußere Chaos im Schilfmeer durchschreitet, auf den Ruf Gottes hört und in den Prozess der Personalisation einsteigt, erkennen und sehen wir die reale Möglichkeit der Individuation. Die Retrogression in die Infantilität ist im Vertrauen zu Gott überwunden: »Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein.«

 

So wird der Weg in die Individuation beschritten durch das Vertrauen in Gott. Ohne Glauben an die Personalität Gottes ist Personalität des Menschen undenkbar. Nur im Gehorsam kommt es zum Exodus aus der chaotischen Infantilität in die mündige Personalisation und damit in die Freiheit: »Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der Herr zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und machte das Meer trocken, und die Wasser teilten sich. Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken.« Die Israeliten gingen hindurch, aber die Ägypter ertranken, weil über ihnen die Wasser zusammenschlugen. Die einen gingen den Weg in die Freiheit einer verantwortlichen und auf Gott hörenden Persönlichkeit. Die anderen versanken im Chaos ihrer zur Sklaverei führenden Infantilität. Das ist die »Seele« der Geschichte vom Durchzug durch das Schilfmeer.

 

Ein Volk überwindet gleichzeitig die infantilisierende Diktatur und die chaotisierende Natur. Das ist die Revolte des Hörens und Gehorchens. Dieser Prozess ist gleichzeitig eine geschichtliche, politische aber auch psychische Realität. Dass sich heute der Prozess unserer Psyche in eine gegensätzliche Richtung hinein abspielt, wird uns gleich beschäftigen.

 

Die Repräsentation der biblischen Personalisation geschieht geschichtlich und seelengeschichtlich durch die Vatergestalt. Sie gilt als repräsentativ für Überwinden, Wagen, Kämpfen, Gehorsam und Vertrauen. Gehorsamsethos ist ein patriarchales Ethos. Gottvater ist der Gebieter – und der Mann Mose war sein Vermittler. Im Vaterhass unserer gegenwärtigen Zivilisation, in der Umkehr vom Patriarchat zum Matriarchat, von der Gehorsamsethik zur Gefühlsethik zeigt sich heute ein radikaler Bruch mit dem jüdisch-christlichen Erbe. Das ist der Kernprozess der Moralrevolution in diesem 20. Jahrhundert. Der Abbau des Gehorsams entspricht Schritt um Schritt dem Abbau des patriarchalen Gottesverständnisses in der Seele des modernen und postmodernen Menschen. Für die »Biblische Religion« aber gilt: Ohne Patriarchat kein Ethos des Gehorsams und ohne patriarchales Ethos des Gehorsams keine Freiheit.

 

 

 

5. Ist nur der religiöse Mensch ein sittlicher Mensch?

 

Muss man Christ oder Jude sein, um sich moralisch zu qualifizieren? Gibt es nicht auch ein allgemeinmenschliches, von allen Religionen
unabhängiges Ethos?

 

Es gibt solch ein spezifisch menschliches Ethos, das — nach den Worten des Apostels Paulus — den Menschen in »ihr Herz geschrieben ist« (Röm.2,15). Unabhängig von der besonderen Religiosität waltet ein allgemein menschliches, eben humanes Ethos, das aber auch ein Ethos des Gehorsams ist. Aus dem Herzen (»Herz« ist im Hebräischen ein Synonym für »Gewissen«) kommt ein Befehl. Es ist der Befehl des Gewissens. Den hören auch die »Heidenvölker«, die nichts vom Gott des Mose oder Vater Jesu Christi gehört haben.

 

Im Urteil biblischen Geschichtsverständnisses ist die Menschheit eine Einheit, die durch Gestalten wie Adam, Eva und Noah (der nach biblischer Geschichte mit seiner Familie die Sintflut überlebte) repräsentiert wird. Das Ethos von Adam bis Noah ist das Ethos der Menschheit schlechthin — nach biblischem Verständnis. Es ist aber — so sagt es die »Biblische Religion« — ein ursprünglich in der Urgeschichte der Menschheit uroffenbartes, eben von Gott ins Herz geschriebene Ethos, das nicht vom Menschen erfunden und von ihnen auch nicht aus der Natur abgelesen, sondern von Gott geboten wurde. Auch dieses Gewissensethos kann im »inneren Gehorsam« angenommen werden und gilt für alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten.

 

Die Halacha (die mündliche Lehrtradition jüdischer Ethik in der Auslegung des Ethos im Alten Testament) entwickelte von hier aus die sogenannten noachitischen Gebote, die in etwa den Zehn Geboten vom Sinai entsprechen. Die Gestalt des Noah (das Geschlechtsregister Jesu im Lukasevangelium nennt Noah als Ahnherrn Jesu (Luk3,36) ist als Urgestalt dieses Gehorsams für Humanität schlechthin repräsentativ. Aber dieser Noah war auch »gläubig«, denn er vertraute ganz und gar auf Gott, als er eine Arche auf dem trockenen Lande baute. Das tat er zu einer Zeit, als die Sintflut zwar von Gottes Offenbarung vorausgesagt, aber noch nicht abzusehen war. Damit will die biblische Geschichte sagen: Dieser Noah war allem Anschein zum Trotz ein an Gott glaubender Mensch — und darum war er gehorsam (Hebr.11,7). Das heißt wiederum: Gehorsam und Vertrauen, das Hören auf den Befehl des Gewissens und das Vertrauen in eine »höhere Macht« — auch wenn die Psychologen sie das »Über-Ich« nennen — gehören unauslöschlich zusammen.

 

Die biblische Geschichte von der Sintflut hat ihre Parallele zum Exodus aus Ägypten. Noah führt im Vertrauen und Gehorsam gegenüber dem Gebote des Gebieters seine Arche über die Chaosmacht — dargestellt durch die Urflut — hinweg. Das entspricht dem Hindurchschreiten Israels durch die Wasser des Schilfmeeres, als es sich aus der Gefangenschaft Ägyptens befreit. Es ist beide Male der Weg aus dem Chaos von Lust- und Machttrieb in die Freiheit der persönlichen Verantwortung. In beiden Fällen ist der Gehorsam aus dem Vertrauen der eigentliche Prozess der inneren Befreiung. So wurde Noah »zum Prediger der Gerechtigkeit«, zur Symbolgestalt all derer, denen durch die Uroffenbarung Gottes das Gesetz in das Gewissen hineingeschrieben wurde.

 

Aber wie es ein Nein zum biblischen Wort gibt, so gibt es auch ein Nein zum Anruf aus dem Gewissen. Nicht alle Menschen folgen dem Befehl des Gewissens, und darum gibt es eben nicht für alle Menschen eine allgemein verbindlich anerkannte Ethik. Auch dafür bringt die Bibel ein Beispiel: Da ist die Rede von der Sünde Hams, der wie »unvernünftige Tiere, die von Natur dazu geboren sind« (2.Petrus 2,12), sein Verderben bewirkte. Was tat dieser Ham, einer der Söhne Noahs? Ham besah die Nacktheit seines Vaters Noah schamlos an, als dieser trunken im Zelt lag. Ham ist in der Verachtung des Vaters die Gestalt der Schamlosigkeit und der Vaterverlorenheit. In Ham stellt sich blinder Lust- und Machttrieb gegen den »Befehl des Gewissens«. Ham handelt gegen den Befehl des Gewissens in der Verachtung des Vaters.

 

Verachtung der Autorität ist Verachtung der Würde, und Verachtung der Würde ist Schamlosigkeit. Autoritätslosigkeit und Schamlosigkeit sind Geschwister — wie gleich noch näher zu erläutern sein wird. Darum ist Ham der Urtyp der Schamlosigkeit und Autoritätslosigkeit und gleichzeitig der Urtyp antipatriarchalischer Revolution. Unser Zeitalter ist das Zeitalter Hams.

 

Israel war als »alttestamentliches Gottesvolk« ganz und gar patriarchalisch orientiert. Das Alte Testament war und ist ein patriarchalisches Dokument. Aber wegen dieser »Vaterorientierung« musste Israel gegen eine (religionsgeschichtlich gesehen) feindliche Umwelt um Sein und Nichtsein kämpfen. Die Völker dieser Umwelt lebten mit Muttergottheiten, die grausam waren und grausame Opfer forderten. Kindesopfer und sakrale Prostitution, der Verkehr mit »heiligen Dirnen« vor dem Götzenbild gehörten zum religiösen Alltag. Grausame Kulte, die in der Ekstase zur Selbstverstümmelung führten und zumeist durch Rauschmittel gesteigert wurden, charakterisierten diese Religiosität, während die »Gesellschaftsordnung« – tyrannisch und mit grausamen Unterdrückungsmechanismen – schlussendlich eine Sklavengesellschaft war.

 

Es ist eben nicht so, dass im postmodernen Naturalismus, im fast sektiererischen Gesundheitskult, in der Verklärung des Natürlichen, im Nein gegen die Väter auf Erden und gegen den Vater im Himmel, in der Permissivität der Schamlosigkeit, in der Rückkehr des Matriarchats etwas ganz und gar Neues, also ein »Fortschritt« in diese Welt hineingekommen sei. Vielmehr ist es so, dass wir heute eine infantilisierende Regression in das Archaische der Natur- und Muttergottheiten erleben. Das bedeutet praktisch: Zurück in die Urhorde, wie es von Theodor Adorno bis Ernest Borneman erwünscht und erhofft wurde. Anti-Vater-Regression ist in biblischer Perspektive Anti-Gott-Revolution. Edward C. Whitmont, der für unsere Zeit den Untergang der Vatergottheit und die »Rückkehr der Göttin« diagnostiziert, stellt fest: »Das Gefühl unserer Zeit, Gott sei tot, bedeutet, dass die Führung des Über-Ich als psychologische Dominante weitgehend an Geltung eingebüßt hat. Gesetz und soziale Ordnung werden nicht mehr als gottgegeben und geheiligt betrachtet. Die sozialen Strukturen gelten als ich-bestimmt, für willkürliche Verträge, die auch aufgekündigt werden können.« (E.C. Whitmont, Die Rückkehr der Göttin. Von der Kraft des Weiblichen in Individuum und Gesellschaft, 1982, S.137).

 

 

 

6. Es geht um Sein und Nichtsein der »Persönlichkeit«

 

Wer in einem Gehorsamsethos lebt, durchschreitet eine kritische Spannung, überwindet grausame Widerstände, steht sich selbst knallhart realistisch und kritisch gegenüber. Was die großen heilsgeschichtlichen Dramen mit der Rettung aus dem Schilfmeer und aus der Sintflut offenbaren, sieht der Apostel Paulus als einen Prozess seines eigenen Daseins: »Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich.« (Röm.7,15). Der Apostel erkennt, dass er das Gute will, aber nicht vollbringen kann, dass in ihm die Entfremdung von seinem Ich wie eine dämonische Macht agiert: »Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen …« Die Spannung zwischen Gut und Böse wird hier weder verdrängt noch ausgeredet, weder psychologisch noch soziologisch erklärt (etwa aus Widrigkeiten der Kindheit, gesellschaftlichen Umständen oder psychischen Fehlleistungen). Hier weiß ein Mensch um seine persönliche Verantwortung. Ebenso wichtig ist die Verwundbarkeit angesichts dieser Selbstentfremdung, das Schuldbewusstsein und die daraus entstehende Gewissheit der Vergebung und die Kraft der Überwindung.

 

Vor uns steht hier der verantwortliche, sich realistisch einschätzende, gehorsame, verwundbare, mit sich selbst ringende und somit ethisch hoch sensibilisierte Mensch, der wirklich mündig ist, weil er um seine eigene Verantwortung weiß und sie sich nicht ausreden lässt. Dieser Gehorsame ist belastbar, man kann ihm vertrauen, er ist gewissenhaft und ideologisch unverführbar. Dieser Typ des biblisch geprägten Menschen ist – oder besser war – Fundament jener rechtsstaatlichen Demokratie, wie sie sich in Europa und in den Vereinigten Staaten entwickelt hat. Solche Menschen waren in der euro-amerikanischen Gesellschaft das Salz von »Law and Order«. Nur wer in sich selbst diesen Prozess einer ordnenden Personalisation durchlebt hat, kann auch nach außen in das politische Umfeld den Prozess einer ordnenden Stabilisierung hineintragen. Demokratie ohne diesen Gehorsam des mündigen Menschen endet in der Anarchie.

 

Aber diese »Persönlichkeit« stirbt aus in der euro-amerikanischen Gesellschaft, wo immer biblische Religiosität untergeht. »Himmel- und Väterwelt«, Gebot und Gehorsam sind dann nicht mehr repräsentativ für gegenwärtige Gesellschaft. Schon 1949 erkannte E. Neumann: Der »unbewusste Massenmensch steht im Gegensatz zum Bewusstsein und zur Kulturwelt. Er steht im Gegensatz zur Bewusstseinsbildung und Entwicklung. Er ist irrational und emotional, antiindividuell und destruktiv. Er entspricht mythologisch dem negativen Aspekt der großen Mutter … Da kommt es zu dem schrecklichen Phänomen der Regression zum Massenmenschen, das in den Rekollektivierungsepidemien der Massen manifest wird.« Neumann sprach schon damals von der »toxischen Wirkung der Massensituation«, die in ihrer »Rauschhaftigkeit« liegt. Die Auflösung der Person – so Neumann – ist zunächst einmal »lustbringend«. Aber die Lust ist die Lust im »Absinken des Ich-Bewusstseins in der Regression«. Wir fallen heute – biblisch ausgedrückt – in die Sintflut unserer chaotisierten, nicht personal eingeordneten Libido zurück, versinken im Ozean der Triebwelt, kehren in den Mutterschoß der Chaos-Urmutter zurück.

 

Torsten Knödlers Kommentar zur Berliner »Love-Parade« vom Juli 1995 dokumentiert geradezu die These von der Rückkehr in den Ur-Schoß dieser »Chaos-Mutter«. Ich zitiere daraus einige Sätze: »Über den Kurfürstendamm dröhnt elektronische Musik aus Hunderttausend-Watt-Boxen, die auf 35 Sattelschleppern dahinrollen – das Tausendfache einer guten Zimmeranlage. Ein Presslufthammer ist dagegen ein sanftes Summen … 250.000 Techno-Fans, sagt die Polizei, sind an diesem 8. Juli 1995 zur >Love-Parade<, der größten Open-Air-Disco-Fete der Welt, angereist. Die Veranstalter sprechen sogar von einer halben Million … Die Raver-Treffen sind Massenpsychologie pur: Die Menschenmenge lässt die Eigenheiten ihrer Mitglieder verschwinden und bildet eine eigene Seele … Der einzelne befindet sich in einem Zustand der Hypnose … Love-Parade 1995: Begehrte Plätze sind besonders Laternen, die im Takt der zuckenden Leiber mitschwanken. Ampelmasten werden belagert … Autodächer dienen als Tanzfläche. Im Gedränge ist die Polizei machtlos. Die Leiber zucken wie vom Schüttelfrost gepackt. Beim Einsetzen der Bässe johlt der Pulk… die Sonne senkt sich. Die angeturnten Raver lassen ihre Leiber weiterzucken – bis tief in die Nacht. In mehr als fünfzig Clubs und Discos wummert die Party weiter.«

 

Gesellschaftlich werden wir also infantilisiert. An die Stelle der realitätsbewussten Persönlichkeit tritt die utopische Verkennung der Umwelt durch »Kids«. Die Welt wird nun mit den Augen verwöhnter und lärmender Kinder betrachtet, die nicht verstehen, dass die böse Welt Kinderträumen entgegensteht. Hier finden grenzenlose Utopien ihren Raum. Unsinnige politische Erwartungshorizonte eines grünen Friedens auf der einen und panikhafte Reaktionen auf Störungen in Gesellschaft und Umwelt auf der anderen Seite bestimmen das Bild.

 

Der reinfantilisierte moderne Mensch will kein Opfer bringen und ist leidensunfähig. Er flieht vor Gehorsam und Gewissen. Die Schlamperei an sich selbst, in sich selbst und um sich herum macht aus Städten monströse buntbemalte Kinderzimmer. Jeder Urschrei, jeder Lustgewinn wird an die Wände geschmiert und in die Welt hineingerufen. Der reinfantilisierte Neonaive meint im kindlichen Trotz, er habe immer recht – aber die Realität dieser Welt hat er noch nicht durchlitten und erkannt. Absolute Werte stürzen zusammen, kindische Wünsche und Begierden wollen diese wie einen alten Ballast der Mühseligkeit abschütteln.

 

An die Stelle des Gehorsams gegenüber dem Anspruch von Gott und Gewissen tritt die Gier nach bedingungsloser Selbstverwirklichung. An Stelle von Sauberkeit, Ordnung und Recht triumphieren Chaos, Mafia und Müll. Eine Gesellschaft wird zerstört, »wie es in den Tagen Noahs war«, denn »sie aßen, sie tranken, sie heirateten und ließen sich heiraten bis an den Tag, an dem Noah in die Arche hineinging; und sie beachteten es nicht, bis die Sintflut kam und raffte sie alle dahin« (Matth.24,37) – so die Prophetie des Jesus von Nazareth, die wir uns für unsere heutige Zeit heranziehen können.

 

Nicht so sehr an der Explosion äußerer politischer Konflikte (das auch) als vielmehr an der Implosion innerer Selbstzerstörung des Individuums könnte unsere Kultur zugrunde gehen. Wenn das jüdisch-christliche Erbe von dieser Gesellschaft nicht mehr angenommen wird, dann folgt dem Holocaust des 20. ein Holocaust des 21. Jahrhunderts.

 

 

 

7. Schamlosigkeit als Charakteristikum entpersönlichter Gesellschaft

 

Ein anderes Charakteristikum unserer postmodernen Gesellschaft ist die Schamlosigkeit. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts hat sich die Revolution dieser Schamlosigkeit durchgesetzt, die in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern etwa nach dem Ersten Weltkrieg begann und sich heute im euro-amerikanischen Lebensstil praktisch vollendet hat. Unter dem Schlagwort »Enttabuisierung« ist die Auflösung der Scham zunächst vor allem in die sexuelle Dimension unseres Daseins eingebrochen. Kurt W. Marek, der unter dem Pseudonym C. M. Ceram zu Anfang der 50er Jahre mit seinem Buch »Götter, Gräber und Gelehrte« einen Bestseller-Erfolg erzielen konnte, meinte schon 1960 in seinen »Provokatorischen Notizen«, es sei vorauszusehen, dass man sich in absehbarer Zeit mit selbstverständlichem Gebrauch von Wörtern, »die heute noch als obszön gelten, auf einer Party mit weitläufig Bekannten über den letzten Koitus unterhalten wird«.

 

Das sanft errötende Mädchen angesichts des erotisch-aufwühlenden Blickes eines herzklopfenden Jünglings ist – von einigen wenig übrig gebliebenen »Urtypen« abgesehen – ausgestorben. Dafür blicken wir heute in das emotional-kalte Antlitz einer Emanzipierten, die – ganz und gar aufgeklärt – darauf eingestellt ist, in puncto puncti technisch begabt zur Sache zu kommen.

 

Es wäre wenig sinnvoll, den Absturz der personalen Erotik zum depersonalisierten Sexkonsum hier weiter auszuführen. Die Print- und Telemedien in gleicher Weise übermitteln Sex als Libido-Konsum und Unterhaltungsartikel, und der Begriff »Pornographie« (»Beschmutzung«) stimmt heute schon darum nicht mehr, weil nach den Maßstäben der Schamlosigkeit die »Beschmutzung« der Sexualität, also ihre ethische Bewertung ausgeschlossen wird. Dadurch geht die Qualität der Erotik, das einmalig Glück im Zueinander von personaler Liebe und personalem Sex verloren.

 

Sexualität, Konsumrausch, Aggressivität und Brutalität sind heute logisch-zwangsläufig miteinander gekoppelt. Eine Welle der Grausamkeit, wie sie in der antiken Welt durch Muttergottheiten symbolhaft dargestellt wurde, kommt auf das einst christliche Abendland zu wie eine Sturmflut im Spätherbst.

 

Die Schamlosigkeit ist natürlich keineswegs auf den sexuellen Bereich beschränkt. Schamlosigkeit waltet in allen Dimensionen unseres Daseins, so auch als religiöse Unverschämtheit. Im Schlosstheater zu Rastatt wurde 1993 eine Komödie unter dem Titel »Der Messias« aufgeführt. Hier wurde Jesus als Narr mit Wundmalen an Händen und Füßen, nackt und mit entblößtem Geschlechtsteil, grinsend auf einem Querbalken sitzend, dargestellt. Es gibt keine Scham angesichts religiöser Aussage, die einstmals zu innigster Betroffenheit christlichen Menschseins gehörte.

 

In Essen wurde – ebenfalls 1993 – in einem Prospekt zur Inszenierung des Troubadours die Abendmahlshostie mit dem Sperma und der Abendmahlswein mit dem Urin Jesu »identifiziert«. Wichtig dabei ist doch: Schamlosigkeit und Ehrfurchtslosigkeit, Enttabuisierung und der Untergang des Heiligen sind Phänomene ein und desselben Prozesses einer total wertauslöschenden Vergleichgültigung. Die Unfähigkeit zur Scham gesellt sich zur Unfähigkeit der Trauer, zur Vergleichgültigung des Todes. Tränen werden bei Bestattungsfeiern nur noch selten vergossen, Tote werden bald nicht mehr bestattet, sondern nur noch »entsorgt« werden. Wir können nicht mehr trauern, weil wir nicht mehr lieben. Dass die Liebe in vielen erkalten wird, hat Jesus vor 2000 Jahren vorausgesagt.

 

Schamlosigkeit als Dekadenzphänomen gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens bedeutet, dass die Hemmschwelle vor allem auch gegenüber der Aggression abgebaut wird. Die utopische Vorstellung, dass Enttabuisierung der Sexualität Aggression abbaue, ist ein längst widerlegter Irrtum. Trotz des Abbaus von Autorität und Scham, trotz zunehmender »Toleranz«, trotz Verminderung der Triebeinschränkung ist die Aggressivität rasant angestiegen.

 

Hans Peter Dürr hat unlängst in einem soliden wissenschaftlichen Werk dargestellt, dass Scham eben nicht ein spätes Ergebnis der Zivilisation unter dem Einfluss christlicher Ethik sei. Er hat vielmehr klargestellt, dass Scham von Anfang an eine Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins gewesen sei, auch wenn sie sich in einer Vielfalt von Gebräuchen und Sitten äußerte. Darum stellen wir heute erschüttert fest: Die schamlose Gesellschaft, wie wir sie heute erleben, ist global ein Novum. Es geht um ein Massenphänomen. Und dieser Aufstand der »Schamlosen« ist etwas unerhört Neues.

 

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine regelrechte Indoktrination für die Schamlosigkeit und gegen die »Tabuisierung« menschlicher Verhaltensweisen mit einer ungeheuren Breitenwirkung eingesetzt. Im Gefolge dieser Indoktrination wurde dann in Tele- und Printmedien in einer geradezu unbegreiflichen Wollust menschliche Intimbereiche enttabuisiert und die Schamhaftigkeit gleichsam öffentlich hingerichtet.

 

Grundsatz aller Grundsätze dieser Indoktrination zur Schamlosigkeit lautete, die Scham sei Folge einer autoritären Unterdrückung, der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Oder auch umgekehrt: Ohne Scham keine Unterdrückung. Voraussetzung für die Freiheit sei der Abbau der Scham.

 

Dazu nur ein Beispiel aus Millionen: In einem Mitspieltheater mit dem Titel »Darüber spricht man nicht. Ein Spiel zur Sexualaufklärung. Kinder- und Jugendtheater Rote Grütze« (1973) werden Strategien der Destruktion der Scham ganz konkret praktiziert: Es werden bewusst obszöne Ausdrucke gebraucht, damit die Kinder ohne Scham Assoziationsketten bilden und ihre sexuelle Phantasie von jeder Hemmung befreit wird. Alles, was Lust und Spaß bereitet, sei gut. Die elterliche Autorität wird in Vater-Mutter-Kind-Spielen gezielt abgebaut. Vater und Mutter werden als Opfer gesellschaftlicher Repression dargestellt, die ihrerseits wieder den Kindern gegenüber Repression ausüben. Vor lauter Scham kommen die armen Eltern nicht zur Erfüllung ihres Glücks – sind also sexuelle Versager. Sogenannte Intimvorgänge des analen Bereiches werden in diesem Stück »entschämt«. So heißt es in einem Refrain, den die Kinder gemeinsam singen wollen:

 

»Der Mensch ist ein Mensch und der Mensch kackt ins Klo
darum schäm dich nicht, darum schäm dich nicht
darum schäm dich doch nicht so.«

 

Am Schluss sagt dann der Vorsprecher, der die Kinder gruppendynamisch zum Nachsprechen des Slogans aufruft: »Und so liebe Freunde, hört das Märchen auf und fängt das Leben an. Vater, Mutter, Hänsel und Gretel streichen die Angst Stück für Stück aus ihrem Leben raus und was holen sie in ihr Leben rein? – Darauf antworten die Kinder im Chor: Die Freude, das Glück, den Mut, die Freundlichkeit, die Liebe, das Ficken.«

 

So sollen Scham, Angst und Repression abgebaut werden, um den Weg in das Glück, das immer als Glück der Lust verstanden wird, freizumachen.

 

Es gibt – jeder Pädagoge weiß das – eine Armada anderer Beispiele aus der sogenannten Jugend-Aufklärungsszene, in der es immer darum geht, die Scham zu hinterfragen, sie als Angst zu entlarven, als Repression zu verurteilen und dann als gesellschaftsfeindlich abzubauen. Schamlosigkeit und Autoritätslosigkeit haben in einer Art und Weise so zur Verwahrlosung der Jugend beigetragen, dass viele Lehrer bekanntlich nur mit Angst und Schrecken die Klassenzimmer betreten und gerne darüber nachdenken, wie sie aus ihrem Beruf aussteigen und vorzeitig in den Ruhestand treten können.

 

Nun ist aber der »entschämte« Mensch gleichzeitig auch der total manipulierbare Mensch. Es fehlt ja die »Hemmschwelle«, die man bei verschämten Menschen erst noch überwinden müsste, wollte man ihn ganz in den Griff nehmen.

 

Scham setzt in der Begegnung der Geschlechter eine Schwelle, die nur überschritten werden darf, wenn in ganzheitlicher Hingabe, das heißt in wirklicher Liebe beide Partner zueinander finden. Das »Ein-Fleisch-Sein«, der Koitus kann und darf und soll darum nicht ohne Koexistenz gelebt werden. Die Scham wacht also gerade darüber, dass der eine dem anderen sich im sexuellen Akt wirklich ganz und gar, eben »persönlich« hingibt. Die Scham wacht über den Hingabe-Charakter, über die personale Dimension – über die Menschlichkeit der sexuellen Begegnung. Lust ohne Scham, geschlechtliche Vereinigung, die nicht in Liebe die Schamschwelle überschreitet, wird versachlichte Sexualität und die ist unmenschlich.

 

In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Sünde Hams, die deutlich macht, wie Schamlosigkeit und Vaterverachtung zusammengehören. Darum ist es geradezu bewunderungswürdig, wie instinktsicher die Revolution der Schamlosen ganz gezielt gerade das Zueinander von Autorität, Ehrfurcht und Scham abgewürgt hat. Die heute schon auf Touren laufende Propaganda für Pädophilie und Inzest ist dann der letzte und tödliche Schlag gegen dieses Zueinander von Autorität und Scham. Die Aufhebung des Gebotes, Vater und Mutter zu ehren, setzt dann an die Stelle der Familie die Urhorde. Nicht aus Familien, sondern aus Urhorden und Banden wird sich dereinst einmal unsere Gesellschaft zusammensetzen.

 

Dietrich Bonhoeffer, der protestantische Märtyrer im Hitlerschen Totalitarismus, sah in der Zerstörung des Schamgefühls die »Auflösung jeder geschlechtlichen und ehelichen Ordnung, ja jeder gemeinschaftlichen Ordnung überhaupt«. Die Schamlosigkeit war für ihn die Sünde aller Sünden. Denn die Scham sei die »nicht zu beseitigende Erinnerung des Menschen an seine Entzweiung mit dem Ursprung«.

 

Bonhoeffer schrieb seine »Ethik« in der ersten Hälfte des letzten Weltkrieges, also unter dem Hitlerismus. Er sah das Bedrohliche der »zynisch-gottlosen Offenheit«, wie er sie zu jener Zeit beobachtete, und wir erkennen, wie die Schamlosigkeit von heute eine Fortsetzung der Schamlosigkeit jener Jahre ist. Bonhoeffer schrieb über die Scham in einer Zeit, in der sowohl Scham als auch Gewissen im radikalen Schrifttum der NS-Ideologie jüdischer Geisteshaltung zugeordnet und dem Schamhaften das Ideal der natürlichen Nacktheit gegenübergestellt wurde. Das bestätigt wieder einmal meine These: Gegenwärtige Moralrevolution steht nicht im Kontrast, sondern in der Kontinuität zur Ideologie des Nationalsozialismus.

 

Ich sagte, dass der schamlose Mensch leicht manipulierbar sei, weil seine Hemmschwelle abgebaut wurde. Damit ist gemeint: Wer den Aufruf des Gewissens nicht mehr hört, kann sich auch nicht mehr schämen, wenn er zum Verbrechen überredet wird und selbst Verbrechen begeht. Der schamlose, also gewissenlose Mensch sinkt unter das Tier herab, weil dieses immerhin noch durch Instinkte geleitet wird.

 

 

 

8. Verlogene und echte Moral

 

Dass die christliche Moral repressiv und lustfeindlich sei, hatte schon Nietzsche am Ende des vorigen Jahrhunderts geschrieben. Moral, insbesondere christliche Moral, habe dem Eros Gift zu trinken gegeben, ihre Praxis sei der »Kastratismus« oder die »schmutzige Phantasie«. Denn die »Phantasie vieler christlicher Heiligen war in ungewöhnlichem Maße schmutzig«, weil die christliche Ethik Askese einfordere und damit zwangsläufig zur Triebverdrängung zwinge. Aus dieser Triebverdrängung heraus sei dann gleichsam als Kompensation die schmutzige Phantasie entstanden. Überhaupt sei eben die christliche Moral »Domestikation« des natürlichen und somit gesunden Instinktes. Der Urmensch, der ursprünglich ganz ohne Moral gelebt hätte, sei zwar grausam, aber eben auch glücklicher gewesen – meinte Nietzsche. Die »asketischen Ideale« hingegen entsprängen der Grausamkeit der Christen, dem Ressentiment der Schwachen, die des ursprünglichen Menschseins müde geworden seien. So stehe christliche Moral gegen alles Starke, Schöne und Lustvolle.

 

Christen täuschten ohnehin ihre Demut nur vor. Sie demütigten sich nur darum, um von ihrem Gott erhöht zu werden, und fänden geradezu ihre Wollust daran, die anderen, die starken Menschen durch ihre übertriebenen Ansprüche zu vergewaltigen. Hinter allem Gerede von der Moral und allem demütigen Getue stehe nichts anderes als der Machttrieb eines verkrüppelten Menschentums. Das ganze moralische Unternehmen der Christen komme eben aus dem »Ressentiment«, letzten Endes aus der Lebenshaltung der Verachtenswerten, die ihren Nutzen im Leben nicht mehr zu finden wüssten.

 

Nun sollte man auf Nietzsches Moralkritik angesichts der Selbstzerstörung des Christentums nicht nur mit Entrüstung reagieren. Es gab tatsächlich zwar nicht im ursprünglichen, aber im »überfremdeten« Christentum Sexualpessimismus, und in einem anderen Kapitel habe ich bereits versucht darzustellen, wie hinter der Maske der Demut ein sauer gewordener Macht- und Lusttrieb wuchern kann.

 

Aber die ursprünglich »Biblische Religion« ist nicht sexualpessimistisch. Und »originale« christliche Demut, die aus der Revolte gegen die Absurdität lebt, ist kein verkrüppelter Wille zur Macht und christliche Nächstenliebe und christliches Mitleid kein selbstgefälliger Genuss am Leide des anderen.

 

Nietzsche geht es immer wieder darum, die egoistischen Motive einer verlogenen christlichen Moral aufzudecken, deren Mitleid sich am Leid des Nächsten ergötzt. Von daher gesehen ist Mitleid oft nichts anderes als eine Art von Rachebefriedigung. Aber über diese Rache meint Nietzsche: »… dass der Mensch erlöst werde von der Rache: Das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern.«

 

In diesem Buch lassen wir uns von Nietzsche nur daran erinnern, dass zur Selbstzerstörung des Christentums, die Nietzsche übrigens selbst durchlitten hat, auch die spießbürgerlich-christliche »Moral« das Ihre beigetragen hat. Nietzsche hatte in seiner Einsamkeit des Oberengadin die Härte der Selbstüberwindung, den Sinn der Askese, die Bedeutung der Scham und den Sinn ungeheuchelter Gerechtigkeit und Liebe erfahren. Das Gerede über die Gerechtigkeit ist das eine, die Gerechtigkeit tun das andere: Misstraue allen denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit reden! Wahrlich, ihrer Seele fehlt es nicht nur an Honig. Und wer wollte bestreiten, dass die verkrüppelte Lust nach Macht hinter aller Frömmigkeit und Moralität ihr Unwesen treibt?

 

»Christliche Moral« braucht demnach auch eine Entschlackungskur. Religion ist gefährlich für den Menschen, wenn sie seiner egomanen Selbstverwirklichung dient. Wenn verkrüppelte Typen, die da meinen, im Leben zu kurz gekommen zu sein, nach Moral rufen, dann kann man damit rechnen, dass hier purer Neid am Werke ist, der sich nur religiös tarnen will.

 

Christliche Moral lebt aus dem Gehorsam gegenüber Gottes Ruf, freut sich der Gerechtigkeit und hasst die Ungerechtigkeit. Wer da aus dem Hunger nach Gerechtigkeit lebt, ist ein Gerechter und ein Gesegneter Gottes. Er bringt nicht nur in sein eigenes, sondern auch in das Leben seines Volkes, der Gesellschaft, jene innere Ordnung ein, ohne die ein Staat nicht überlebensfähig ist. Das werden wir im folgenden Kapitel zu bedenken haben.

 

 

 

VII. Die Überfremdung und das Wesen politischer Predigt

 

 

 

Die Zehn Gebote als Dokument einer politischen Revolte

 

Die heute wohl nur noch wenigen Menschen in Europa bekannten Zehn Gebote, bis Mitte des 20. Jahrhundert wenigstens im Prinzip die Basis der Moral in Europa, waren vor etwa 3000 Jahren das Dokument einer gesellschaftlichen Revolte. Diese gesellschaftliche Revolte hat unsere moderne rechtsstaatliche Demokratie mit geprägt. Und es besteht kein Zweifel darüber, dass die rechtsstaatliche Demokratie, wie wir sie heute erleben, zusammenbrechen wird, wenn die religiöse Motivation, die da vor ca. 3000 Jahren einsetzte, keine Bedeutung mehr haben sollte. Es wird heute übersehen, dass die Auflösung einer Religion immer den Zusammenbruch ihrer Kultur und des politischen Systems zur Folge hat.

 

Der Mann, der vor drei Jahrtausenden diese Gebote als Gebote Gottes seinem damals unterdrückten Volk übermittelte, war ein Revolutionär. Sein Name war Mose. Bekanntlich beginnen die Zehn Gebote mit der Einleitung: »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe« (2.Mose20,2). Ägypten, das Land der Pyramiden, aus dem die Israeliten unter der Führung des Mose aufbrachen, um sich dann in der Wüste an jenem Berg Sinai zu versammeln, an dem sie stellvertretend für die ganze Menschheit Zehn Gebote als Gesetz Gottes für alle Zeiten hörten und annahmen.

 

Der Gott, der einen Revolutionär beruft, um ein Volk aus der Sklaverei des Tyrannen herauszuführen, ist selbst ein Gott der Revolte, der die Absurdität der Herrschaft des Menschen über den Menschen hasst. Dieser Gott ist ein »eifriger Gott«, der seinem nun befreiten Volk in einer Feuersäule voranschreitet und der die Armee des Pharao, die sein befreites Volk in die Gefangenschaft zurückführen will, vernichtet. Dieser Gott, der die Gebote gebietet, offenbart sich Mose als der ewig unveränderliche Gott, der das sein wird, was er immer war. Das ist der Sinn des sogenannten Tetragramms JHWH.

 

Damit ist ausgesagt, dass seine Gebote absolut sind und so lange gelten, bis Himmel und Erde vergehen. In der sogenannten Bergrede hat Jesus dies ausdrücklich bestätigt. Er hat unmissverständlich bekannt, dass er nicht gekommen sei, das Gebot vom Sinai abzuschaffen, sondern es zu erfüllen (Matth.5,17).

 

Die damals in Ägypten versklavten Menschen, die an den 97 Pyramiden, den Ewigkeitsdenkmälern der Pharaonen, schuften mussten, führten ein trostloses Leben in Ansiedlungen, die man heute Konzentrationslager nennen würde. Das Durchschnittsalter lag zwischen 30 und 35 Jahren. »Vernichtung durch Arbeit« war angesagt. Darüber hinaus drohte den Israeliten die erste in ihrer Geschichte vermeldete Massenvernichtung.

 

Auch wenn die Israeliten nicht direkt in dieser Welt aus Stein schuften mussten, so waren sie doch an der Arbeit für pharaonische Speicherstädte so eingesetzt, dass sie »durch ihre Lastknechtschaft geschwächt« wurden, um »mit Grausamkeit zur Arbeit« und »harter Fron« ihnen »das Leben zu verbittern« (2.Mose1,11). Darüber hinaus galt der Befehl der Pharaonen, von den Neugeborenen nur die Mädchen am Leben zu lassen, die männlichen Nachkommen aber gleich nach der Geburt zu töten.

 

Mose, der dem pharaonischen Ausrottungsplan durch ein Wunder entging und unter der Unterdrückung seines Volkes so litt, dass er einen ägyptischen Aufseher erschlug, ist ein Symbol dafür, dass nur der für das Recht und gegen die Ungerechtigkeit kämpfen kann, der durch die Ungerechtigkeit zutiefst verwundet worden ist.

 

Die mosaische Revolution war im Gegensatz zu den europäischen Revolutionen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts eine religiös motivierte Revolution. Das Volk glaubte an den von Mose verkündeten einen Gott, der die Ägypter mit Plagen schlug, so dass er die Israeliten schließlich frei ließ. Wie jede echte Revolution war sie eine Revolution der Gewalt – aber diesmal der Gewalt Gottes. Der Anfang der Gebote bekennt sich zur Revolution der legitimen Gewalt – zum Zueinander von Macht und Recht. Die Zehn Gebote sind also geschichtlich aus der Situation der Revolte gegen die Absurdität einer unmenschlichen Gesellschaft von dem Gott gegeben worden, der das Zueinander von Macht und Recht für alle Zeiten geboten hat.

 

Das »Du sollst« am Sinai, mit dem die Gebote eingeleitet werden, war ein göttliches »Du sollst«. Es war darum absolut und unveränderlich für alle Zeiten und alle Völker. Existiert nur dieser eine Gott, dann gibt es keine Götter. Das Gebot: »Du sollst keine Götter haben neben mir« war und ist ein revolutionäres Gebot. Denn in Ägypten, aus dem die Israeliten herauszogen, regierte ein göttlicher Pharao. Der Pharao galt als ein Gott, der uns durch seine Taten leben lässt. Sein diktatorisches Königtum galt den Ägyptern als göttliche Institution von Anfang der Welt an. Sie glaubten daran, dass dem Pharao nach seinem Tod vom Sonnengott im Himmel ein triumphaler Empfang bereitet würde. Während dieser himmlischen Triumphe wurden der Königsstatue auf Erden morgens und abends Opfer dargebracht. Und je mehr Pharaonen starben, umso mehr Opfer mussten verbraten und umso mehr Sklaven herangeschafft werden, um die Fütterung der Mumien in Gang zu halten.

 

Das sinaitische »du sollst keine anderen Götter haben neben mir« ist die Revolte gegen die Absurdität, aus Diktatoren Götter, aus Ideologien letzte Wahrheiten zu machen. Es liegt darin das Nein gegen jede Diktatur, die sich wie die eines Lenin, Stalin oder Hitler auf eine absolute Wahrheit gründen will und sich selbst als Verwirklicher dieser Wahrheit versteht. Das Gebot »du sollst keine anderen Götter haben neben mir« ist der urbiblische Protest gegen jede Art von Ideologie oder »Weltanschauung«.

 

Man hört aber am Anfang dieser Gebote noch eine andere, uns heute ungemein herausfordernde Konsequenz: Wenn nur dieser eine, einzige Gott sein Gebot den Menschen gebietet, dann ist das Gebot dieses einzigen Gottes auch das einzige Gebot. Wer sich auf die Bibel beruft, muss wissen, dass gleichermaßen im Alten wie im Neuen Testament das biblische Gottesverständnis einen Wertepluralismus nicht akzeptiert. Im Gegenteil – in der Bibel wird proklamiert, dass von Zion alle Völker diese Gebote hören und lernen sollen. Zion wurde durch die Prophetie zum Inbegriff der Verkündigung göttlicher Gerechtigkeit (Jes.2,3; Jer.50,5; Joel 4,16). Der Aussendungsauftrag Jesu an seine Jünger hat diese Inhalte nur bestätigt. Um es knapp auszudrücken: Ein Gott, ein Gebot, eine Wertordnung, eine Gerechtigkeit.

 

Die Zehn Gebote verstehen sich als die Magna Charta für die Freiheit, die ja ohne Gerechtigkeit in der Absurdität der Willkür versumpfen würde. Soweit die europäischen und nordamerikanischen Völker die Vorteile einer rechtsstaatlichen Demokratie genießen, sind sie nicht dem Vorbild der griechischen Demokratie gegenüber verpflichtet, sondern dem Ursprung des Gesetzes am Sinai. Nehmen wir aus den Zehn Geboten zunächst dafür ein einziges Beispiel: Das Gebot »Du sollst nicht stehlen« (2.Mo20,15) bezieht sich nicht auf Geld- oder Sachwerte, sondern auf den Menschen. Es verbietet die Freiheitsberaubung. Der Diebstahl an Sachen wird verneint in jenem letzten Gebot, dass der Mensch nicht begehren soll seines Nächsten Haus, Weib, Knecht, Ochsen und Esel noch alles, was der Nächste hat. Aber im Gebot »du sollst nicht stehlen« geht es um den Schutz der persönlichen Freiheit.

 

Wir haben also schon am Sinai die Basis der Habeaskorpusakte (habeas corpus = »du habest den Körper«), die mit der Magna Charta Libertatum von 1215 und der Petition of Right von 1679 englisches Staatsgrundgesetz wurde. Englische Demokratie wurzelt im Ethos der Bibel. So wurde rechtsstaatlich die Freiheit der Person im Sinne des biblischen Gebotes geschützt, und niemand konnte ohne richterlichen Befehl festgenommen werden. Dieser Rechtsgrundsatz europäischer Zivilisation findet also seine letzte Begründung in der antidiktatorischen Revolte des mosaischen Gesetzes vom Sinai. Und gegen diesen Rechtsgrundsatz ist immer dann verstoßen worden, wenn die Gebote vom Sinai in ihrem ursprünglichen Sinne verneint oder gar bekämpft wurde.

 

Jedes Gebot vom Sinai ist ein positives Gebot. Jedes »Du sollst« schützt ein unverzichtbares Sein. »Vater und Mutter ehren« schützt die Familie. Die Familie war Baustein der Gesellschaft. Invaliden-, Pflege-, Alters- und Arbeitslosenversicherung oblag der Familie, die gleichzeitig auch Behaustsein und Geborgensein schenkte. Sie war als soziale Einheit das »Haus« (den Begriff Familie kennt die Bibel nicht). Sie war Bollwerk gegen die Allmacht des Staates – den es damals in unserem heutigen Sinne überhaupt noch nicht gab. Auch die Ehe wurde als Keimzelle des »Hauses«, als Baustein der Gesellschaft und Ordnungsfaktor an der Basis geschützt – auch gegen den Eingriff der »Obrigkeit«, wie wir aus der prophetischen Mahnung und Strafandrohung des Propheten Nathan gegen den König David, der die Frau eines seiner Soldaten verführte, konkret lernen können.

 

Das Gebot »Du sollst nicht töten« schützt das menschliche (auch ungeborene) Leben. So sind die Gebote ein Ja zur Freiheit, zum Leben, zur Familie und zum Eigentum. Bedeutsam ist, dass das Eigentum immer der Familie, niemals aber einem Kollektiv zugeordnet wurde.

 

Zum menschlichen Zusammenleben in Freiheit gehört das Recht, und zum Recht gehört die Macht. In diesem Zusammenhang muss noch einmal daran erinnert werden, dass die Aussage »Auge um Auge, Zahn um Zahn« nicht als Ausdruck »alttestamentlicher Grausamkeit«, sondern als Grundlage des Rechtes verstanden werden muss. Für ein Auge ist auch nur der Wert eines Auges und für den Zahn auch nur der Wert eines Zahns einzufordern. Für einen Schaden muss man geradestehen. Verstümmelung war dabei ausgeschlossen. Es ging in diesem »Auge um Auge, und Zahn um Zahn« immer nur um Ausgleich in einem Sachwert. Anders formuliert: Wer einem ein Auge ausschlug, hatte dafür geradezustehen und den Wert des Auges zu ersetzen. Aber eben auch nur »Auge für Auge und Zahn für Zahn«. Dieser Rechtsgrundsatz schützt vor dem Ausufern der Rache des Gewalttätigen, der seinen Feind darum tötet, weil er ihm nur einen Zahn ausgeschlagen hat.

 

Jesus selbst hat übrigens mit seinem »Ich aber sage euch« diesen Grundsatz nicht aufgebrochen, sondern ausgelegt und die revolutionäre Tendenz dieses Gebotes klar herausgestellt: Der Sinn des biblischen Rechtes ist eben nicht die Rache. Ganz im Gegenteil: das Recht schützt ja auch den Feind und ist in letzter Konsequenz Feindesliebe. Das biblische Recht ist also nicht grausam, sondern schützt gerade den Schwachen und Hilflosen vor der Gewalt des Stärkeren und Mächtigen. Das Gesetz vom Sinai ist also die Revolte gegen den Grundsatz, dass dem jeweils Stärkeren die Welt gehört. Das biblische Recht ist die Basis der Barmherzigkeit, der Schutzwall gegen die Absurdität der Brutalität.

 

Das israelitische Volk hat vor etwa 3000 Jahren mit einer klaren und freien Entscheidung die Gebote vom Sinai angenommen. Auf die von Mose verkündeten Gebote antwortete »alles Volk… einmütig und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun« (2.Mo19,8). Man übersieht gern die Einzigartigkeit dieser in der Bibel überlieferten Szene: Ein Volk akzeptiert als hörende und antwortende, also als mündige Nation die ihm von Gott ein für allemal gegebenen Gebote. Ein Volk entscheidet sich und stellt sich auf den Grund einer göttlichen Rechtsordnung. Das und nur das ist die Geburtsstunde der rechtsstaatlichen Demokratie, einer »wahren Eidgenossenschaft« im »Namen des Allmächtigen« (so die Einleitungsformel zur Verfassung der Schweiz).

 

Im Realismus der Bibel wird erkannt, dass Recht ohne Macht nicht sein kann. Das gilt zunächst für das Leben innerhalb der Gemeinschaft. Wer mordet, muss sterben. Das Recht zu schützen ist Aufgabe jener Mächte, die Gott (wie Luther übersetzt) als »Obrigkeit« eingesetzt hat. Diese Mächte haben aber in biblischer Perspektive nur dann Vollmacht, wenn sie ein Recht schützen, das am biblischen Gebot orientiert ist.

 

Regierungsgewalt soll Gottes Dienerin sein, schreibt Paulus an die Gemeinde zu Rom, »eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut«. Nicht aus Furcht vor Strafe, sondern »um des Gewissens willen« soll sich jeder Bürger eines Rechtsstaates solch einer vollmächtigen Obrigkeit unterwerfen (Röm.13).

 

Der Rechtsstaat soll ein starker Staat sein. Der schwache Staat lässt dem Unrecht freien Lauf. Er ist unbarmherzig, weil er die Schwachen nicht schützt. Der römische Prokurator Pilatus wusste genau und sagte es auch öffentlich, dass er Jesus für unschuldig hielt. Nach römischem Recht durfte Jesus nicht zum Tode verurteilt werden. Dennoch gab Pilatus dem Druck einer fanatisierten religiösen Masse nach und ließ Jesus – nach römischem Strafverfahren – am Kreuz hinrichten. So wurde Jesus auch – natürlich nicht nur – Opfer eines Staates, der darauf verzichtete, das Recht notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Recht und Macht erfüllen aber das Gebot der Nächstenliebe.

 

Wenn ein Rechtsstaat durch einen Unrechtsstaat bedrängt wird, dann soll er seine Rechtsstaatlichkeit auch durch Macht, das heißt durch einen Krieg schützen. Der Friede (shalom ist ein Zentralwort in der »Biblischen Religion«) kann nicht dort walten, wo Ungerechtigkeit herrscht. In den Kriegen Israels – so wie sie im Alten Testament dargestellt werden – wurde darum Gott als »Rechtshelfer« verstanden. Denn Gott ist der Helfer zum Recht auch im Krieg und durch den Krieg.

 

Die Zehn Gebote verlangen gleich am Anfang, dass man sich von Gott kein Bild machen solle, denn der abgebildete Gott ist der von Menschen gemachte, begriffene und schlussendlich beherrschbare Gott. Das Wort »Ideologie« (von eidos – »Bild«) steht im Zusammenhang mit »Bild«. Die modernen Ideologien, die sich im 20. Jahrhundert wie in keinem anderen austobten, sind »abgebildete« Götter. Hier wird das »Letztgültige« nach dem Bilde des Menschen produziert. Der Ideologe hat seinen Gott im Griff. Seine »Weltanschauung« hat keinen Platz für einen Gott außerhalb seiner eigenen Anschauung von der Welt. Jede Ideologie, jede Weltanschauung, die in diesem Jahrhundert in Europa und darüber hinaus zur Herrschaft gelangte, musste um jeden Preis der in der Bibel bezeugten Existenz Gottes widerstreiten.

 

 

 

2. Gottes Thron steht leer – und die Gebote sind nicht mehr

 

Gott ist tot im allgemeinen Bewusstsein der europäischen Gesellschaft von Jekaterinenburg bis Bordeaux. Zweifellos ist die Folge einsichtig: Glaubt man nicht mehr an Gott, den Gebieter der Gebote – dann akzeptiert man auch nicht mehr die von ihm gebotenen Gebote. Die in Europa bislang allgemein anerkannte Gültigkeit einer Religion, eben der christlichen, zerbricht in unserer Gegenwart, und damit zerbricht auch das herkömmliche Verständnis von Ethos und Gerechtigkeit. Bewusst und entschieden wendet sich eine Gesellschaft – mehr die europäische als die nordamerikanische – vom Christentum ab.  . . .

 

Allem Wunschdenken zum Trotz ist überhaupt nicht daran zu zweifeln, dass die »christliche Religion« in Deutschland immer mehr an Boden verliert – bei den Evangelischen schneller als bei den Katholiken. Wenn man bedenkt, dass nach der Wende in der über 40 Jahre vom Marxismus indoktrinierten ehemaligen DDR keine »Rückkehr zum Christentum« erfolgte (1945 bekannten sich hier über 90 Prozent zum Christentum einer der beiden Großkirchen), so wird die ganz und gar dahinsiechende »missionarische Kraft« westdeutschen Christentums offenbar.

 

Wer auf die Jugend seine Hoffnung setzt, wird bitter enttäuscht werden. Eine dreibändige Studie des Heidelberger Religionssoziologen Heiner Barr (Jugend und Religion, 1995), kommt zu dem Ergebnis, dass auf die Frage: »Worauf kommt es in ihrem Leben an?« der Führerschein für die jungen Leute im Bedeutungsgrad über »Jesus« und »Kirche« liegt. Vorherrschend – so folgert die Studie – sei eine lustbetonte Haltung, und alle herkömmlichen Werte fingen an zu »vagabundieren«. Pflicht, gottgefälliges Leben und andere bleibende individuelle Werte schwirren als »Worthülsen« bedeutungslos im gesellschaftlichen Leben junger Menschen herum.

 

Die Zugehörigkeit zur Kirche etwa in der deutschen »Dreidrittel-Gesellschaft« (ein Drittel katholisch, ein Drittel evangelisch, ein Drittel religionslos) darf nicht überschätzt werden, weil ganz offensichtlich Kirchenmitglieder in ihrer Mehrheit keine »praktizierenden« Christen sind. Bei denen, die noch zur Kirche gehören, bestünden positive Beziehungen »am ehesten noch zu den sogenannten Amtshandlungen«. Taufe, Konfirmation, kirchliche Trauung und Beerdigung gelten als »brauchbare Geltungshilfen von Übergängen im Lebenslauf«, meint Günther Kegel in einer interessanten Analyse gegenwärtiger Christlichkeit. Er erinnert aber zugleich auch daran, dass diese Beziehungen nur so lange währen, als ein Erwartungsdruck der Gesellschaft besteht. Aber – so folgert Kegel – »dieser Druck lässt nach, wenn immer mehr Menschen in der Verwandtschaft und Bekanntschaft es anders machen«. Und dass die es bald anders machen, darüber besteht wohl kein Zweifel. Traditionen zerbrechen, wenn sie keinen Saft mehr bekommen.

 

Denkt man an das religiöse Innenleben der Christen in Deutschland, dann stehen die Deutschen in Westeuropa ziemlich auf der untersten Stufe. Allerdings nicht ganz unten. Das am stärksten verweltlichte Land Europas ist wohl Schweden, obgleich noch 95 Prozent aller Schweden zur lutherischen Staatskirche gehören. Doch nur neun Prozent der Schweden verstehen sich wirklich als gläubige Christen, und nur zwei bis drei Prozent beteiligen sich am »kirchlichen Leben«, während 26 Prozent ein Christsein jeglicher Art ganz entschieden bestreiten. Im Gegensatz zu Deutschland ist die schwedische Kirche so etwas wie ein nationales Denkmal. Aber angesichts dieses »christlichen« Denkmals glauben nur zwei Prozent daran, dass Christus wirklich ihr Erlöser und Versöhner sei. Einen größeren Widerspruch zwischen »Idee« und »Wirklichkeit« kann man sich nicht vorstellen.

 

In einem anderen neutralen Land, eben in der »neutralen Schweiz«, ist man eine konsequentere Haltung gewohnt. Eine sehr gute Analyse und Statistik der »Bündner Zeitung« vom 27. August 1993 ergab, dass in Genf (einstmals die Stadt des Reformators Johann Calvin, neben Wittenberg also eine Hochburg des Protestantismus) heute nicht einmal 22,75 Prozent der Bevölkerung zur protestantischen Kirche gehören. Im dereinst ganz und gar evangelisch-reformierten Basel sind es nur noch 32,1 Prozent, die sich zur evangelischen Kirche des Kantons Basel-Stadt bekennen – in Zürich liegt die Zahl knapp unter 50 Prozent.

 

Die Schwindsucht des evangelischen Christentums ist also in Europa langfristig eine Krankheit zum Tode, die sich von den Großstädten ausbreitet und sich über deren erweiterte Ränder in die übrige Landschaft hineinfrisst. In dem Maße, in dem Europa zur politischen und wirtschaftlichen Einheit geschlossen wird, wachsen Unglaube sowie Auflösung christlicher Grundsätze der Moral, und es knackt hörbar im gesellschaftlichen Gebälk.

 

Im Vergleich zu den USA ist Europa im Laufe dieses Jahrhunderts bedeutend hastiger in die Religionsverlorenheit abgedriftet. Nur ein Viertel der Europäer betet, in den US A sind es doppelt so viele. Nur noch 18,6 Prozent der Europäer haben Vertrauen in eine ihrer christlichen Kirchen, während es in den USA immerhin 43,4 Prozent sind. Nur 25,8 Prozent der Bevölkerung Europas (einschließlich der hochkatholischen Länder wie Irland und Polen) gehen zur Kirche, in den USA sind es 41,8 Prozent.

 

Europa steht also inmitten eines tiefgreifenden Traditionsbruches, und ich sehe mit Sorge, dass sich darüber nur wenige Verantwortliche aufregen. Dabei werden die Konsequenzen dieses Religions- und Werteumbruchs zumindest in Europa heute schon offenbar. Ein Europa ohne Christentum wird ein Europa ohne christliche Moral sein. Es wird ohne die Revolte vom Sinai und ohne die Bergrede Jesu leben. Dieses nachchristliche Europa ist aber kein heidnisches Europa im herkömmlichen Sinne, weil es nicht einmal heidnische Religiosität, eben nicht einmal mehr »Götter« hat.

 

»Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit trifft der Mensch auf eine Bühne, die leergeräumt ist: Es gibt keine religiösen oder sozialen Sinnvorgaben mehr, auf die man sich verlassen könnte. Der Weltanschauungskasten ist geplündert. Es ist der Augenblick schierer Freiheit, aber auch die Stunde der Bodenlosigkeit: Das Individuum als letzte Instanz, der Single als Inbegriff der Postmoderne.« (Ohne Seele, ohne Liebe, ohne Hass, 1994). So fasst der Soziologe Reimer Gronemeyer mit einigen wenigen Worten die geistesgeschichtliche Situation unserer Zeit zusammen. Wo überhaupt keine Bindung mehr ist, ist auch keine verpflichtende Moral und religiöse Sinngebung. Die Unterscheidung von Gut und Böse schmilzt dahin, weil es keine Grundwerte mehr gibt. Der Generationenbruch in Deutschland zum Beispiel ist gewaltig. Der Anteil der Jugendlichen, die in den Bereichen Religion, Politik, Moral und Umgang mit anderen Menschen und vor allem in der Sexualität mit den Ansichten ihrer Eltern gebrochen haben, wächst von Jahr zu Jahr. Der jugendliche Mensch von heute ist vornehmlich egozentrisch, konsumorientiert und nur zu oft auch bereit zur Gewalttätigkeit. Auf die Frage: »Warum sind Sie in der Welt?« wählten 53 Prozent der Deutschen die lustbetonte Antwort: »Ich möchte das Leben genießen.«

 

Entscheidend ist angesichts einer europäisch einheitlichen Geldwährung, dass es in Europa keine allgemein verpflichtenden Grundwerte mehr gibt. In den 60er und 70er Jahren wurden zunächst in England, dann in Deutschland sogenannte Grundwerte-Debatten geführt. Dabei kam man zu dem Ergebnis, dass der Staat zwar gewisse Grundrechte, aber keine Grundwerte mehr einführen oder schützen könnte. Welche Grundwerte in einer Gesellschaft gelten, das entscheidet die Gesellschaft selbst.

 

Wie soll es aber Grundrechte geben – so frage ich -, wenn es keine Grundwerte mehr gibt? So sind Ehe und Familie keine Grundwerte mehr, wenn ihre Auflösung nicht mehr nach dem Schuld-, sondern nach dem Zerrüttungsprinzip »gehandhabt« wird. Der Zerbruch einer Ehe oder Familie ist eben einem Autounfall zu vergleichen, bei dem es darauf ankommt, zu regeln, wer welche Kosten zu tragen hat. Wenn es aber den Grundwert Ehe und Familie – um nur dieses Beispiel zu nennen – nicht mehr gibt, dann gibt es auch kein Grundrecht angesichts dieser von Gott eingesetzten Ordnungen mehr.

 

Selbst das Wort »Gott« ist kein Wert und damit auch kein Rechtsgut mehr. Nach der Umgestaltung des Paragraphen 166 des deutschen StGB darf man Gott lästern soviel man will – Gott ist ja kein Rechtsgut mehr. Allenfalls die religiöse Empfindlichkeit der Bürger wäre ein Rechtsgut und dann als solches zu schützen. Dass man drauf und dran ist, auch diese »abzuschaffen«, zeigt die öffentliche Diskussion. Mit der »Abschaffung« des Gebotes »du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht missbrauchen« sind natürlich – und diese Konsequenz wird völlig übersehen – alle anderen neun Gebote auch »abgeschafft«. Gottes Thron steht leer, und die Gebote sind »entmündigt«. Wir steuern in eine gebotslose und damit auch wohl in eine rechtslose Zeit hinein.

 

Denn wenn Gottes Thron leersteht, dann gibt es auch keine Schuld mehr. Allenfalls gibt es Fehlverhalten, das psychologisch und soziologisch geklärt werden soll. Der moralische Bankrott des modernen Europas hat seine Wurzeln wesentlich darin, dass Schuld und Schuldgefühl verdampfen. Im Gewissen des nachchristlichen Menschen kann sich schwerlich noch Schuld melden, weil einfach kein Gott mehr »verinnerlicht« wird, der in das Gewissen des einzelnen hineinrufen könnte.

 

Der Philosoph Arnold Gehlen hat schon wenige Jahre nach der sog. Revolution des Jahres 68, nämlich 1970, die wesentlichen Elemente der uns prägenden Kultur- und Moralrevolution zusammengefasst: Wesentliches Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaft ist das Fehlen verbindlicher ethischer Autorität. Die Verneinung ethischer Absolutheitsansprüche schafft die »Geneigtheit zum Wegsehen«. Kaum jemand wird sich einsetzen für einen ethischen Anspruch – auch dann nicht, wenn an seiner unmittelbaren Seite ein Beraubter von einem Räuber zusammengeschlagen wird.

 

Entbehrung, Opfer, Pflicht und Leid sind Unwerte — sogenannte »Sekundärtugenden«, auf die man verzichten möchte. Diese Werte sterben ab, weil die religiösen Voraussetzungen abgestorben sind. Es ist etwas anderes, ob man sich als ein Gast auf dieser Erde fühlt, der daran glaubt, dass er die Erfüllung seines Daseins erst in einem neuen Himmel und auch einer neuen Erde haben wird, oder ob man sich als Lebewesen versteht, für das diese Welt das Allerletzte ist. Die Regel ist das Ideal des Wohllebens, und an die Stelle von Geduld, Leidensfähigkeit, Leistung und Gerechtigkeit tritt die Regulierung der Lust für alle. Die europäische Gegenwartszivilisation steht damit unter dem Druck eines »Automatismus zunehmender Glücksgefräßigkeit«. Die Treuepflicht gegenüber überrationalen Werten wie Vertrauen, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Pflicht wird aufgehoben.

 

Es bleibt die spannungslose, in jedem Fall angepasste Gesellschaft, die nicht einmal den Kampf zwischen Gut und Böse zulässt, weil es ja eigentlich das Gute und Böse gar nicht mehr gibt. Sie will alles, was das Leben einer Gesellschaft ausmacht, neutralisieren und regulieren. Der zugleich lustbetonte und regulierte Mensch — das ist die »Vision« der Welteinheitswohlfühlgesellschaft.

 

 

 

3. Kann eine Wirtschaft ohne Ethos überleben?

 

Solange die Wirtschaft läuft, die Leute kaufen und verkaufen, solange alle satt werden und sich darüber hinaus viele Wünsche konsumtiv erfüllen können, scheint alles in Ordnung. In einer Konsumgesellschaft sorge man für den Konsum, und die Gesellschaft bleibt intakt – das ist das Glaubensbekenntnis vieler Politiker.

 

Ob die Gesellschaft wirklich solange intakt bleibt, als der Konsum einer Gesellschaft läuft, ist die eine Frage. Die andere aber lautet: Kann die Wirtschaft, die das Konsumieren ja überhaupt erst ermöglicht, ohne Moral überleben? Ist es nicht unmoralisch, aber auch gleichzeitig wirtschaftlich untragbar, wenn eine Generation wie heute auf »Pump konsumiert«? Schon an diesem Punkt stoßen wir auf die moralische Fragwürdigkeit gegenwärtigen Wirtschaftssystems.

 

Weil heute nicht mehr die Familien in unmittelbarer Verantwortung die Lasten der Alten, Kranken und Gescheiterten trägt, verschlingen die Lohnnebenkosten (darunter die Beiträge für Krankheit, Arbeitslosigkeit, Rente und Pflege) fast die Hälfte des Bruttolohnes. Das Leben ohne »Haus«, also im biblischen Sinne ohne Ehe und Familie – das Leben des »Singles« in lustbetonter Konsumwelt – muss so teuer bezahlt werden, dass es gar nicht bezahlt werden kann. Der Schuldenweg führt in die Katastrophe.

 

Ein weiteres Beispiel für den moralischen Zerfall der Wirtschaft: Der Oberstaatsanwalt von Frankfurt beschrieb den Zustand dieser Gesellschaft im Jahre 1995 als »Korruptionslandschaft«. Seit 1987 führten die Frankfurter Strafverfolger in über 1500 Korruptionsfällen Ermittlungsverfahren durch. Entscheidend war dabei immer die Beamtenbestechung. Die Zahl der ermittelten Fälle der Beamtenbestechung stieg von 361 im Jahre 1980 auf 1498 im Jahre 1994. Man schätzt, dass in Deutschland um die zehn Milliarden an Bestechungsgeldern für öffentliche Bauten hingeblättert werden – und das wird so weitergehen. Die Konsequenz aber ist, dass das Volk sein Vertrauen in die Regierung und in die Politik und nun schlussendlich auch in die Gerechtigkeit verliert. Schlimmeres kann einer Gesellschaft überhaupt nicht passieren.  . . .

 

Diffamierung hin, Diffamierung her – gehen wir von den Tatsachen aus. Es steht heute fest, dass zwar einerseits Ethik und Wirtschaft miteinander verflochten sind und dass ohne »moralische Aufrüstung« wirtschaftlich funktionierende Systeme nicht überleben können – es steht aber andrerseits auch fest, dass die Demoralisierung unserer wirtschaftlichen Systeme in Dimensionen schwebt, die existenzbedrohenden Charakter angenommen haben. Das »So-wei-ter-Machen«, wie es sich jetzt darstellt, mit moralischem Defizit, aber in einem unübersehbaren Dschungel von Gesetzen und Verordnungen, führt diese Gesellschaft angesichts ihrer maßlosen Ansprüche in das »Out« der Demokratie.

 

Angesichts der Gebote vom Sinai stellt sich aber noch eine andere Herausforderung. Wir werden täglich daran erinnert (wir denken an die Asylanten und Flüchtlinge in unserer Mitte), dass wir in einem planetarischen Zeitalter leben, dass Probleme der Völker nur noch global »gelöst« oder »nicht gelöst« werden können.

 

Als 1972 der US-Präsident Richard Nixon anlässlich eines Staatsbesuches bei Mao Tse Tung für mehr Reisefreiheit plädierte, wurde er von Mao gefragt, wieviele Millionen Chinesen die USA denn aufnehmen könnten. Die Länder des Ostens, des Südens und des Mittelmeerraumes drängen heute auf Europa zu und formieren sich allmählich zum großen Marsch in die freie Welt des Wohlstandes und der Freiheit. Die arme Welt will eindringen in das begehrte Paradies der wohlhabenden Völker. Das wird nicht erst das Problem der kommenden Jahrzehnte, es ist schon das Problem dieser Jahrhundertwende. Jedes Jahr werden 90 Millionen Menschen geboren, davon über 90 Prozent in den Entwicklungsländern. Zur Zeit leben 5,7 Milliarden Menschen auf der Erde. Diese Menschen sind in Bewegung geraten. Man schätzt die Zahl derer, die allein in China permanent unterwegs, also auf einer Dauerwanderung sind, auf 100 Millionen. Die Zahl jener, die mehr oder weniger entschlossen sind, aus dem Süden oder aus dem Osten nach Europa einzudringen, kann man nicht einmal ahnen.

 

Planetarisch gesehen ist die Spannung zwischen Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsunordnung ein heute nicht lösbares Problem. Sollten Völkerwanderungen, Einwanderungsdruck, Asylantenschwindel und Asylantenhandel, sollten die ökologischen Herausforderungen, die gesellschaftlichen Chaotisierungen, die Hungerzonen und Verelendungswüsten dieses Planeten überwunden werden, dann müsste eben dieser Planet als Ganzes in einem halbwegs funktionierenden Wirtschaftssystem leben können – ohne eine globale moralische Revolte ist das aber undenkbar. Wenn man weiter darüber nachdenkt, dass der Mensch nur in einer gerechtigkeitsorientierten Weltordnung auch eine tragbare, humane und damit lebenswerte Wirtschaftsordnung in Gang bringen kann, waltet Schwermut im Überlebenshorizont – oder die apokalyptischen Visionen der Offenbarung drängen sich einem auf.

 

In diesem Zusammenhang wird oft die Klage erhoben: 17 Millionen Kinder verhungern jährlich, zwei Drittel der Bevölkerung haben nicht genug zu essen, 16 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 56 Prozent der auf dieser Erde genutzten Energie. Wie weit jeweils solche Zahlen stimmen, ist natürlich nur schwer kontrollierbar, und mit Recht kann bezweifelt werden, ob es überhaupt genaue Daten über diese Vorgänge geben kann. Aber es gibt eben reiche und arme Länder, und es stellt sich nicht nur die Frage, ob die reichen Länder schuld sind an der Armut der armen Länder, sondern ob — global gesehen — das Nein zum biblischen Ethos zum globalen Desaster führt.

 

Es ist nicht die Schuld der Europäer, wenn Stammesfehden oder die Faulheit des In-den-Tag-Hineinlebens oder neue Bürokratien einer einheimischen Herrenschicht in der Dritten Welt wie bösartige Geschwüre wuchern, wenn Ausbeutungsstrategien der Mafiosi Entwicklungsgelder auf abseitige Konten platzieren, wenn Dämonenfurcht nichtchristlicher Völker den technischen Fortschritt hindert, wenn teure Waffenarsenale für Kriege von Rebellen gekauft werden, wenn Verzicht auf Familienplanung eine Bevölkerungsexplosion bewirkt, denen keine Wirtschaftsordnung helfen kann. Rein finanzielle Hilfe ist unsinnig, wenn 1990 die Länder der Dritten Welt von den Industrieländern zwar 24 Milliarden Dollar erhielten, aber 159 Milliarden Dollar für Rüstungsgüter ausgaben.

 

In den meisten Entwicklungsländern fehlt die »Rechtsbindung der Macht«. Und das ist gerade aus der Perspektive dieses Kapitels so entscheidend. Ist die Macht ohne Recht und das Recht ohne Macht, dann plündert die herrschende Macht die Staatskassen. Das ist eines der großen Probleme in den Ländern, die wir Entwicklungsländer nennen. Darum hat auch Gunnar Myrdal, der Erfinder der Entwicklungshilfe, beklagt, dass das große Hemmnis der Entwicklung intern verursacht wird, insbesondere durch den fehlenden Willen der heimischen Elite, eine sachgemäße Wirtschaftspolitik zugunsten der Ärmsten durchzuführen. Es sei ein Wandel der Einstellung zur Arbeit, zum Besitz, zur Vorsorge, zur Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit erforderlich, meint Myrdal und zitiert den Vizepremier von Singapur, der einmal erklärte, dass wirtschaftliche Pläne allein ungenügend seien. Stattdessen müssten neue Werte in die Gesellschaft eingeführt werden, die eine wirtschaftliche Entwicklung erst ermöglichen – und dabei hätten die Kirchen einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Aber was geschieht, wenn diese Kirchen diesen Beitrag nicht leisten und die europäische Zivilisation ihren Vorbildcharakter im Zueinander von Wirtschaft, Ethos und Recht verliert?

 

Was ansteht, ist also die mosaische Revolte vom Sinai. Ohne diese Revolte vom Sinai keine Gesundung der Wirtschaftssysteme auf dieser Erde. Ein gerechtes Wirtschaftssystem, das den Diebstahl in jeder Form – auch in der eleganten Manier der Wirtschaftskriminalität – verfolgt, das Eigentum des einzelnen schützt, persönliche Initiative fordert, Verbrechen bekämpft, Leistungswillen fördert – also eben ein biblisches Wirtschaftsverständnis, das sich auch der Armen erbarmt, ihnen die Chance gibt, wieder auf eigenen Beinen stehen zu können – das alles ist die Voraussetzung für das Überleben auf diesem Planeten. Eine »soziale Marktwirtschaft« ohne die Minimalforderung eines biblischen Ordnungsdenkens zu »exportieren« ist absurd. Das Vorletzte des Wohlstandes ist ohne das Erste und Letzte der Revolte vom Sinai nicht zu haben.

 

Christlich motivierte Politik kann nicht wollen, dass die Probleme dieses Planeten dadurch gelöst werden, dass Europa in einer Völkerwanderung aus Ost und Süd ertrinkt und dass der Rest der sogenannten abendländischen Grundwerte im Namen einer multikulturellen Gesellschaft kaputt gemacht wird.

 

Es ist einfach unsittlich, wenn mit der Immigration der verschiedensten Völker und Kulturen in Europa und in die USA ein Import solcher Unwertvorstellungen einhergeht, die die christliche Moralität kaputtmachen. Dem Traum von einer pluralistischen Gesellschaft wird ein böses Erwachen folgen.

 

 

 

4. Kapitulation und Resignation — das Versagen der Kirchen

 

Sehr viele, sich als »entschieden« und »wiedergeboren« verstehende Christenmenschen haben einen Abscheu davor, sich auf politische Probleme einzulassen, und viele Prediger und Evangelisten wissen nur zu genau, dass sie diesen harten und unbequemen Themenbereich meiden müssen, wenn sie in der Kirche oder im Evangelisationszelt bei ihren Zuhörern ankommen wollen. Ist Politik nicht doch ein sehr schmutziges Geschäft? Bringt politisches Leben nicht letztlich doch ein ganz und gar »verweltlichtes« Leben?

 

Und wer will denn in der Gemeinde überhaupt etwas von der Politik hören? Ist nicht das persönliche Heil wichtiger als die grausame Alltäglichkeit politischer Querelen? Sind Christen nicht letztendlich Schutzsuchende, die Geborgenheit erleben und genießen, aber nicht verantwortlich im Bereiche des Politischen entscheiden und handeln wollen?

 

In Bibel- und Gebetsstunden, in Gottesdiensten und bei Evangelisationen ist das Thema Politik bei der überwiegenden Mehrheit der sog. »Evangelikalen« fast ein Tabu. Die als »wiedergeboren« sich verstehenden Christen wollen konservativ sein – aber es fehlt ihnen nur zu oft der Mut und die Entschlossenheit, auch eine politische Predigt zu halten oder zu hören. Vielleicht redet man noch über »Abtreibung« und »Familie« – aber andere brennende Themen aktueller Politik bleiben außerhalb des Gemeindelebens, und dem einzelnen Christen bleibt es selbst überlassen, wie er mit dem politischen Alltag fertigwerden will.

 

Vergessen wird dabei, dass die politische Herausforderung auch auf die christliche Gemeinde zukommt: Die Vergesellschaftung des Lebens als Zerstörung der Familie wird auch in konservativen christlichen Bereichen spürbar. Die sexuelle Revolution tobt sich längst in unmittelbarer Nahe, wenn nicht gar in der Mitte christlicher Familien aus. Der Schwangerschaftsabbruch kann eine christliche Krankenschwester direkt provozieren, wenn sie bei einer Verweigerung wegen unterlassener Hilfeleistung im Dienst entlassen oder sogar angeklagt wird. Wer zum Wehrdienst einberufen wird, wer seines Lebens in rechtsfreien Räumen unserer großen Städte nicht mehr sicher ist, wer arbeitslos wird oder Steuern zahlt, über deren Verwendung er zunächst nur in stumme Verzweiflung geraten kann, wer am Tage der Wahl auf dem Wahlzettel sein Kreuz machen muss, wer seine Kinder in die Schulen schickt, immer wird er als Christ politisch in Anspruch genommen.

 

Wie ein Single setzt mancher Christ sein persönliches Heil, sein christliches »Alleinwohl« an die allererste, das »gesellschaftliche Allgemeinwohl« aber an die allerletzte Stelle, ganz nach der Einstellung: >Hauptsache, ich bekomme soviel Glaubenskraft, dass ich durch die Nadelstiche des Alltags und die Herausforderungen im Beruf und Familie durchkommen

 

So kann »christliche Religion« zur Selbstverwirklichung gleichsam verbraucht werden. Der Gottesdienst wird zum Genuss in einem Wohlfühlerlebnis der religiösen Insider-Gemeinschaft. Dort kann man dann sehr leicht zu einem »Glauben« an den jeweiligen »Privatgott«, eine Art »Weihnachtsmann« oder »metaphysischen Osterhasen« abdriften. Wenn ich den Allerhöchsten auf meiner Seite habe, dann muss wohl auch das persönliche Leben als ein allerhöchstes Leben positiv funktionieren. Pleiten im Beruf, Pannen in der Familie, böse Krankheiten müssten dann ausbleiben oder behoben werden. Und wer sollte ausschließen, dass man einen guten Parkplatz in der City bekommt, wenn man den Lenker aller Weltgeschehnisse durch inbrünstige Gebete auf seine Seite gebracht hat?

 

Ich kann auf diese kleine Anklage darum nicht verzichten, weil gerade in diesem Jahrhundert die Geschichte der frommen Christen auch (nicht nur) eine Geschichte des Versagens in der politischen Herausforderung ist. Natürlich kann kein Christ bestreiten, dass es im Christenleben um das persönliche Heil geht. Keiner, der die Bibel kennt, darf bestreiten, dass es Wunder im persönlichen Leben geben kann und dass das Gebet als »persönliches Gebet« für ein »persönliches Leben« erhört wird.

 

Aber wer sich an die Revolte vom Sinai und an die Bergrede Jesu erinnert, der weiß auch, dass es um mehr geht. Christliche Mission oder Evangelisation ist kein Populismus und die Kirche keine religiöse Bedürfnisanstalt. Politischen Populismus nennen wir den Weg gesinnungsloser Anpassung an das Bedürfnis der Wählermassen. Populistische Politiker treiben langfristig den Staat in den Ruin um ihrer kurzfristigen Wahlerfolge willen. Sie wagen es nicht, die Wahrheit zu sagen, die sie oft gar nicht einmal sehen wollen. Sie haben zumeist auch wenig Perspektiven, weil ihnen nicht genug Zeit bleibt, über solche Ziele überhaupt nachzudenken. Sie leben von Wahl zu Wahl als politische Augenblicksmenschen. Aber vergessen wir nicht, dass es auch populistische Prediger gibt, die den »Erfolg« ihrer Evangelisationsabende planen und in populistischer Weise »Bedürfnisreligion« befriedigen. Sie sagen dann weniger, was das biblische Wort aufträgt als das, was die Leute nur allzu gern hören möchten – nämlich dass der private Gott im Himmel auf jeden Fall in ihrem privaten Leben auf ihrer privaten Seite steht.

 

Es war Dietrich Bonhoeffer, der Glaube und Gehorsam, Glaube und Handeln wieder in ein echtes Zueinander gebracht hat: »Der Glaubende ist gehorsam und der Gehorsame glaubt« (Nachfolge, 1937). Mit »Gehorsam« ist hier an das Hören auf die Gebote des Sinai gedacht. Und ich erinnere hier noch einmal an den Adventsbrief von 1943: »Nur wenn man das Gesetz Gottes über sich gelten lässt, darf man wohl auch einmal von Gnade sprechen« (Widerstand, 1952). Der Christ darf also wohl das letzte Wort der Gnade nicht vor dem vorletzten Wort der Gerechtigkeit sprechen. Alles andere wäre billige Gnade, und billige Gnade ist der Tod der Gerechtigkeit – in der Kirche und in der Gesellschaft.

 

Der Kampf für die Gerechtigkeit als politischer Auftrag versteht sich also als Nachfolge Christi, als Fortsetzung der Revolte vom Sinai. Bonhoeffers Widerstand gegen den Hitlerismus, der ihn schließlich das Leben kostete, ist dafür ein überzeugendes Beispiel. In seinem Buch »Nachfolge« schrieb er: »Es ist wichtig, dass Jesus Jünger auch dort selig preist, wo sie nicht unmittelbar um des Bekenntnisses zu seinem Namen willen, sondern um einer gerechten Sache willen leiden.« Es geht also um die »gerechte Sache« in der Politik, zu der der Christ ganz eindeutig aufgerufen ist. Und wir erinnern uns daran: Jesus preist auch die selig, die Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit haben und die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden (Matth.5,6).

 

Aber was ist der Inhalt dieser Gerechtigkeit? Es sind die Inhalte der Zehn Gebote, es ist die Revolte vom Sinai. Und diese Gebote beinhalten Recht gegen Unrecht und Ordnung gegen Chaos. Sie sind ein politisches Postulat. Solange Gott diese Welt erhalten will, so lange müssen auch Christen alles tun im Kampf für die Gerechtigkeit gegen Tyrannei und Chaos.

 

Die Identitätskrise (konkreter: der Glaubensverfall) vor allem in den protestantischen Kirchen Europas wirkte und wirkt sich in einer verhängnisvollen unchristlichen Verpolitisierung des christlichen Lebens aus. Das ist nicht erst heute so, sondern eine quasi-christliche Tragödie dieses ganzen 20. Jahrhunderts.

 

Ein kurzer Blick zurück: Der Hitlerismus faszinierte seinerzeit viele in Deutschland, weil hier eine Kultfigur, eine Art Messias zum Anfassen, geradezu »leibhaftig« in Szene gesetzt wurde. Die nach Heil, Erlösung und (immer wieder) Frieden dürstenden Menschen in Deutschland fanden hier die Projektionswand ihres politischen Erlösungsbedürfnisses. Man versteht den Hitlerismus nicht, wenn man nicht seine Mobilisierung des Glaubens (auch an den Sieg musste man mitten im Krieg »glauben«) erkennt.

 

Wie reagierten die Christen in den Kirchen auf diesen Nationalsozialismus, an dem ein damals Einsamer wie Dietrich Bonhoeffer klar erkannte, dass man nicht gleichzeitig beides, Christ und Nationalsozialist, sein könne? Nach dem Kriege sagte einmal Konrad Adenauer: »Ich glaube, dass, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tag öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhindern können. Das ist nicht geschehen, und dafür gibt es keine Entschuldigung.«

 

Punkt 24 des Parteiprogramms der NSDAP vom 24. Februar 1920 lautete unmissverständlich: »Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt des positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden.«

 

Diese Formulierung ist klar und einsichtig: Die »germanische Rasse« wird an Wert jeder Religion und damit auch dem Christentum als entscheidender und letztgültiger Maßstab übergeordnet. Die kirchlichen Bekenntnisse werden ebenso relativiert wie das Christentum selbst, das man nicht »wörtlich« nehmen, sondern nur insofern beim »Wort« nehmen soll, als es der germanischen Rasse »entspricht«. So wird durch diesen Punkt eines Parteiprogramms eine Religion durch eine andere Religion schlichtweg überlagert – das Christentum durch die Religion des hitlerischen Rassismus. Es hätte also Klarheit darüber herrschen müssen, dass es hier um eine Kampfansage an das Christentum ging, auch wenn weder Adolf Hitler noch Joseph Goebbels aus der katholischen Kirche austraten. Die Theologen und »Kirchenführer« hätten erkennen müssen, welche weltanschauliche Zeitbombe in ihrer Mitte tickte.

 

Jedenfalls hat der 27-jährige Privatdozent der Theologie, Dietrich Bonhoeffer, am 14. April 1933 an seinen Freund Erwin Sutz in der Schweiz geschrieben, in der Judenfrage hätten »die verständigen Leute ihren Kopf und ihre ganze Bibel verloren«. Sein Versuch scheiterte, in einer öffentlichen Erklärung der Bekennenden Kirche durchzusetzen, die kirchliche Bruderschaft mit getauften Juden dürfe nicht preisgegeben werden, man müsse »eher sich selbst der Verfolgung aussetzen«, weil die Rasse »nie Kriterium für die Zugehörigkeit zur Kirche sein könne«.

 

Zwar hatte der Antijudaismus eine fatale Tradition in der ganzen Kirchengeschichte – aber niemals wurde dabei rassistisch argumentiert. Ein Jude, der zum Christentum übertrat, war eben kein Jude mehr. Das war nun seit 1933 ganz und gar anders. Auch wer als Jude zum Christentum übertrat, blieb eben Jude. Der Wert »Rasse« wurde eindeutig der »Religion« übergeordnet.

 

1996 hat D.J. Goldhagen (Hitlers willige Vollstrecker) in einem zu Recht umstrittenen Buch u.a. auch die nicht zu bestreitende trostlose Haltung der Kirchen zur Judenfrage während der Zeit des Hitlerismus aufgedeckt. Goldhagen hat bei der Analyse von 68 »Sonntagsblättern« herausgefunden, dass die Kirche judenfeindlich bis ins Mark gewesen sei. Der 37-jährige Soziologe erinnerte: Hat nicht sogar Otto Dibelius, 1949 erster Ratsvorsitzender der Ev. Kirche in Deutschland nach dem Krieg, vor diesem Krieg erklärt, er sei immer ein »Antisemit« gewesen? Hat nicht sogar ein Martin Niemöller in seinen 15 Dahlemer Predigten 1935 über das »Gift« des Judentums und dessen Schuld am »Blut aller Gerechten« gepredigt und erst 1945 büßend bekannt, dass mit den Juden und Kommunisten (die rechnete er schnell dazu) auch Christus verfolgt wurde? Hat nicht sogar der mutig widerstehende württembergische Bischof Theophil Wurm noch 1943 dem Staat das Recht eingeräumt, die Juden als gefährliches Element zu bekämpfen? Diese Leute standen als bekennende und dem Nationalsozialismus widerstehende Christen in hohem Ansehen im Nachkriegsdeutschland. Was soll man erst zu den von Goldhagen zitierten »Verlautbarungen« der offiziellen »Oberen« evangelischer Landeskirchen sagen, die den Ausschluss von Judenchristen aus der Kirche forderten?

 

Auch gegenüber solchen Juden, die sich zum Christentum bekehrt und ein Pfarramt übernommen hatten, war Martin Niemöller, der Führer aller Bekennenden, doch sehr kritisch. So erwartete er von »Amtsträgern jüdischer Abstammung«, »dass sie sich die gebotene Zurückhaltung auferlegen, damit kein Ärgernis gegeben wird«. Alles in allem konnte die Staatspolizei im September 1935 ihren höchsten Behörden in Berlin melden, »dass führende Männer der Bekenntnisfront nach vorliegenden Äußerungen die Stellung des Staates zur Judenfrage grundsätzlich bejahen«.

 

Es gilt festzuhalten, wie wenig evangelische Kirchlichkeit aus einer tiefgreifenden Identitätskrise heraus dazu imstande war, einer ideologischen Überfremdung zu widerstehen. Man hörte in jener Zeit in bejahenden Urteilen über den Hitlerismus von »Bekehrung« und »Wiedergeburt« und den »männlichen Zügen der Botschaft Jesu« (heute ist genau das Gegenteil auf der Tagungsordnung, und die »weiblichen Züge« Jesu werden entdeckt). Der männliche und heldische Jesus in einem sich männlich und heldisch gebenden Nationalsozialismus war angesagt. Da war von der »Kirche im nationalsozialistischen Deutschland« die Rede, »die nationalsozialistischen Gemeinden und einer nationalsozialistischen Jugend« dienen wollten und deren Diener »Nationalsozialisten sein müssten« (E.Klee, Die SA Jesu Christi).

 

Auffallend oft wurde Adolf Hitler in offiziellen kirchlichen Zeitschriften als »Wundermann« tituliert, den Gott dem deutschen Volk geschenkt habe. Diesem Hitler wurde »unwandelbare Treue der evangelischen Christenheit des Reiches« angelobt, und 1943, mitten im Krieg, als die Vernichtungslager auf Hochtouren arbeiteten, wurde zu Gott für den Führer gebetet, »dass der ihm Beistand verleihe und sein Werk an unserem Volke segne«. Und als das Attentat vom 20. Juli gescheitert war, beeilten sich Kirchenführer des evangelischen Deutschland mit dem Bekenntnis, »sich ernster noch als zuvor der unerbittlichen Forderung dieser Zeit zu unterwerfen, für die der Führer rastlos sein Alles einsetzt«.

 

Heute wissen wir, dass viele, die das Attentat auf Hitler im Jahr 1944 vorbereiteten, dies aus ihrem christlichen Gewissen heraus getan haben. Welch eine Identitätskrise, welch ein Widerspruch, wenn auf beiden Seiten im Pro und im Kontra zum Hitlerismus der Gott der Bibel zum Zeugen angerufen und als Helfer angebetet wird! Man unterwarf sich eben »der unerbittlichen Forderung dieser Zeit«. Eben das ist das Problem der Kirche, dass sie sich politisch und gesellschaftlich jeweils den Forderungen ihrer Zeit unterwirft.

 

So wie auf den Nationalsozialismus der 30er und 40er Jahre, so reagierte man auf den »realen Sozialismus« in der ehemaligen DDR. Dass die Sowjetunion immer für den Frieden gewesen sei, bekannte der evangelische Bischof von Thüringen schon 1972. Bereits am 15. Februar 1968 hatten die Bischöfe in der damaligen DDR an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, geschrieben, dass sie sich als Staatsbürger eines sozialistischen Staates vor die Aufgabe gestellt sehen, »den Sozialismus als eine Gestalt gerechten Zusammenlebens zu verwirklichen«.

 

Jedenfalls wurde seit 1970 an allen Universitäten der DDR auch für Theologen das Pflichtfach »Marxismus-Leninismus« eingeführt – so könnten sie besser als je von Mose, den Propheten und Jesus lernen, dass Christentum ein Christentum der Tat sein müsse. Genauso hatten es auch die Nationalsozialisten eingefordert, für die »positives Christentum« eben ein »Christentum der Tat« nicht einer sozialistischen Gesellschaft, aber doch – wie es damals hieß – der »Volksgemeinschaft« sein müsse. Noch am 14. November 1989 meinte Manfred Stolpe, der als Kirchenjurist eine Schlüsselfigur im Bund der Evangelischen Kirche der DDR war, dass die Philosophie von Karl Marx ein Ziel beinhalte, »das dem von Christen heute mit den Grundwerten Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung bezeichneten Auftrag des Evangeliums nahekommt«. Und noch am 13. Januar 1990 war dieser ehemalige Kirchenführer davon überzeugt, dass sich der Kommunismus nicht überlebt habe. Manfred Stolpe blieb auf diese Weise seinem Grundsatz von 1989 treu, dass »die sozialistische Gesellschaft unter der Verheißung Christi steht«. So ragt also die Identitätskrise des Christentums mit ihren merkwürdig schillernden Anpassungsformeln unmittelbar in die Gegenwart hinein.

 

Auffallend ist bei allen Verbeugungen gegenüber den »unerbittlichen Forderungen der Zeit« sowohl im Hitlerismus als auch im sozialistischen Realismus, dass immer von oben nach unten, von den Kirchenleitungen, den Kirchenführern zu den Gemeinden hin erklärt, beschlossen, verfügt und angeordnet wurde. Das bestätigt wieder einmal das in einem anderen Kapitel verurteilte Verhängnis der hierarchischen Überfremdung des Christentums.  

 

Wenig erwähnt, kaum gewürdigt, oft vereinsamt waren jene anpassungsunwilligen Pfarrer »unten in den Gemeinden«, die diese Anpassungsstrategien ihrer Kirchenleitung über sich ergehen lassen mussten und die nicht nur Sonntag für Sonntag, sondern bei Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung in ihrem Dienst keine – menschlich gesehen – »schützende Hand« von den »Behörden« über sich wissen durften. Die Selbsttötung des Pfarrers Brüsewitz ist dafür ein trauriges, aber auch überzeugendes Beispiel.  . . .

 

Die einzelnen Initiatoren dieses Prozesses einer politischen Überfremdung aus der tiefen Identitätskrise des Christentums heraus sind oft gleichzeitig die Opfer dieses Prozesses. Ihr Opfer besteht in der permanenten Krise ihrer persönlichen und politischen, vor allem aber auch religiösen Identität.

 

Ein klassisches Modell dieser Identitätskrise ist Martin Niemöller, der in der ganzen Welt als Symbol des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gilt. Die permanente Identitätskrise dieses zweifellos ehrlich mit sich selbst ringenden Mannes hingegen ist kaum jemals weltweit bekannt geworden. Zweifellos war Martin Niemöller in seiner Offenheit und subjektiven Geradlinigkeit ein liebenswerter Mensch, der stets seine ganze Person rücksichtslos in das innere Drama des Protestantismus einbrachte. Aber ebenso sehr spiegelt sich in der Geschichte seines Lebens eine Vielgestaltigkeit, eine Identitätskrise seiner Konfession, die ihn im Winter 1941 fast dazu bewog, zur katholischen Kirche überzutreten.

 

Nicht nur in Deutschland, sondern buchstäblich in aller Welt bekannt war Martin Niemöller, der seinen Weg vom U-Boot-Kommandanten des Ersten Weltkrieges durch schwindelerregende Kurven hindurch zum Amt eines deutsch-national denkenden evangelischen Pastors beschritt. 1937 wurde der Berliner Pastor Martin Niemöller von zwei Gestapobeamten festgenommen. Das »Deutsche Nachrichtenbüro« nannte den Grund dieser Verhaftung: »Niemöller hat seit langer Zeit in Gottesdiensten und Vorträgen Hetzreden geführt, führende Persönlichkeiten des Staates und der Bewegung verunglimpft und unwahre Behauptungen über staatliche Maßnahmen verbreitet, um die Bevölkerung zu beunruhigen … – seine Ausführungen gehören zum ständigen Inhalt der ausländischen, deutschfeindlichen Presse.« Während die »Westfälischen Nachrichten« diesen Sohn Westfalens einen »teuflischen Pfarrer« nannten, schrieb ein englischer Lordbischof in der »Times« zwei Tage nach Niemöllers Verhaftung, er habe »nie einen Christen gesehen, der tapferer wäre und dem die Lampe des Glaubens heller brannte«.

 

Niemöller war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung in Deutschland vor allem bekannt durch sein 1934 erschienenes Buch »Vom U-Boot zur Kanzel«, das auch nach seiner Verhaftung im Jahre 1937 fleißig weiter verkauft wurde. Der konservative ehemalige U-Boot-Kommandant des Ersten Weltkrieges Niemöller war vor allem aber ein Mann der Bekennenden Kirche. Und als solcher war er der Welt bekannt, weil man die Bekennende Kirche als Instrument des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus verstand. So war es aber durchaus nicht.

 

Niemöller kämpfte zwar für die Selbständigkeit und Freiheit der Kirche in den 30er Jahren, aber er verneinte nicht den nationalsozialistischen Führerstaat. Erst nach dem Kriege setzte hier eine bedeutsame Wandlung ein. Mittlerweile Präsident der hessen-nassauischen Kirche, kämpfte er gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Er wollte keine »Kirche des Westens«. Es sei Irrlehre, meinte Niemöller, zu behaupten, die Kirche gehe zugrunde, wenn die Kommunisten kämen, und mit Eindringlichkeit konnte er öffentlich behaupten, vielleicht »wird Christus heute sagen: Die Kommunisten und die Huren werden eher ins Himmelreich kommen als ihr.« Mit »ihr« war die bürgerlich-kapitalistische Welt gemeint, der Niemöller das Christsein absprach. Aus dem ehemaligen U-Boot-Kommandanten, der sich noch 1939 aus dem Konzentrationslager freiwillig zur Kriegsmarine gemeldet hatte, war ein entschiedener Pazifist geworden, der 1959 öffentlich bekannte: »Und darum ist heute die Ausbildung zum Soldaten die hohe Schule der Berufsverbrecher.«

 

Ich muss noch einmal daran erinnern: Noch während seines Prozesses 1937 bekannte Niemöller, seit 1924 stets die NSDAP gewählt zu haben. Und noch 1933 hatte er Hitler im Namen seiner Gefolgsleute zum Austritt aus dem Völkerbund gratuliert. Er verstand sich damals als ein nationaler Mann im Kampf gegen den Bolschewismus. Dieser Theologe bekannte nun, trotz siebenjähriger Haft in einem Konzentrationslager, dass er in der Kirche mehr gelitten habe als »unter dem Nationalsozialismus«, weil die Kirche »eigentlich ganz reaktionär« geworden sei. Der ehemals reaktionäre, deutsch-nationale Niemöller, wurde nun Träger des sowjetischen internationalen Leninpreises und der »Lenin-Medaille in Gold«, der »Friedensmedaille des DDR-Friedensrates«, des »Großen Sterns der Völkerfreundschaft der DDR«, und er wurde nicht müde zu betonen, dass Christus auch für die Kommunisten gestorben sei, dass also die Kommunisten erlöst und mit Gott versöhnt seien. Es ging Niemöller dabei um die bejahende Aussöhnung mit dem Kommunismus.

 

Das Christentum, das seine Identität verloren hat, versöhnt sich mit der Welt. Hier waltet im letzten Sinne das Versöhnungsverständnis Hegels. Bei Hegel bedeutet Versöhnung im tiefsten Sinne Ausgleich. Niemöller wollte also den Ausgleich mit der Welt des Sozialismus, so wie er in den 30er Jahren den Ausgleich mit der Welt des Nationalismus gesucht hatte.

 

Aus der Identitätskrise heraus entsteht in der Christenheit der fatale Versuch, sich der Welt bedingungslos anzupassen – obgleich doch der Apostel Paulus eindeutig an die Gemeinde zu Rom, damals Mittelpunkt des größten Imperiums der Welt schrieb: »Stellt euch nicht dieser Welt gleich« (Luk.3,14).

 

 

 

5. Was wäre das politische Gebot dieser Stunde in biblischer Sicht?

 

Worin besteht aber nun – jetzt einmal abgesehen von diesem Dilemma der selbstzerstörerischen Identitätskrise – das Positive des christlichen, politischen Zeugnisses der Gesellschaft, in der wir heute leben? Welche biblisch begründete Predigt wäre heute den Politikern und allen politisch Verantwortlichen zu halten? Ich möchte das kurz unter sechs Gesichtspunkten zusammenfassen:

 

Wir halten fest: Die mosaische Revolution war eine Revolte gegen die Diktatur und für die Freiheit. Der Gott, der in der Bibel bezeugt wird, steht der Welt frei gegenüber. Und der Mensch, der zur Repräsentation Gottes geschaffen ist, soll auch dieser Welt frei gegenüberstehen. Glaube bewirkt Freiheit. Aber diese Freiheit wird wegen des sündigen Machttriebes des Menschen nur durch Gerechtigkeit ermöglicht, und die Voraussetzung für diese Gerechtigkeit ist das Gebot Gottes. Christen kämpfen darum für den Rechtsstaat, der sein Recht am biblischen Ethos ausrichtet. Wenn ein Staat »rechtsfreie Räume« aus taktischen Gründen zulässt, gefährdet er nicht nur die Freiheit, sondern das Leben seiner Bürger. Ein schwacher Staat, wie Pilatus ihn repräsentierte, als er Jesus kreuzigen ließ, ist der Todfeind des Lebens. Er ist unbarmherzig, denn das Recht ist ja nicht ein Feind, sondern der Garant der Barmherzigkeit, weil es die Schwachen gegen die Gewalttätigen schützt. Das Ende der Rechtsstaatlichkeit ist das Ende der Freiheit – der Anfang der Anarchie und der Beginn der Diktatur.

 

2. Für den afrikanischen Staat Kenia wurde unlängst folgende Situation im Blick auf alte Menschen festgehalten: Das System der Großfamilie, in dem sich um die Alten, Waisen, Behinderten und Flüchtlinge gekümmert wurde, ist zu raschem Aussterben verurteilt. Ein Grund: Immer mehr junge erwerbsfähige Menschen zieht es auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen vom Land in die Stadt. Die älteren Menschen bleiben zurück, werden vernachlässigt oder gar völlig alleingelassen. 1990 lebten auf der Welt eine halbe Milliarde Menschen im Alter von mehr als 60 Jahren. Bis zum Jahre 2000 wird die Zahl auf 1,4 Milliarden anwachsen. Die meisten dieser alten Menschen werden in der Dritten Welt leben. In einer Studie mit dem Titel »Zur Verhinderung der Alterskrise« sagt die Weltbank der wachsenden Zahl alter Menschen in Afrika eine noch trostlosere Zukunft voraus. Die Zerstörung der Familie ist also nicht nur ein europäisches oder nordamerikanisches, sondern ein verhängnisvolles Weltereignis. Unverständlich bleibt darum, dass progressive Theologen, den »Ehezentrismus« abschaffen wollen. Denn es gehe um die »Gleichwertigkeit aller Lebensformen«, und darum sei es falsch, die Ehe in den Rang einer »Schöpfungsordnung« zu erheben. Das schon fast verzweifelte Festhalten der Kirche an der Ehe habe nur mit kirchlichen Machtansprüchen zu tun. Es gehe um ein Umdenken: »Nicht mehr sind Ehe und eheähnliche Familie alleinige Bestimmung und Maßstab für alles andere, sondern die Vielfalt der möglichen Lebensformen, die es liebevoll zu gestalten gilt…«

 

 Dieser Kapitulation vor dem Zerstörungswerk einer industriellen Massengesellschaft durch »progressive Theologen« muss widerstanden werden.

 

3. Der Christ kämpft gegen die Götter, die als Ideologien in unsere Gesellschaft einbrechen und immer wieder einbrechen wollen. Dabei geht es um einen »weltanschaulichen Kampf«. Es geht um die falschen Götter, die das Heil heute im Sozialismus, im Feminismus oder im Ökologismus anbieten. Der Traum von einer glücksbringenden Gesellschaft, in der alle gleich und nur wenige gleicher sind als die Gleichen, wird weiter geträumt werden. Der Traum von der Heilkraft des natürlichen Lebens, der Geschwisterlichkeit mit Tieren und Bäumen, von der Befreiung durch die Frau ist ein Traum von einer Abgöttin weltumspannender Zärtlichkeit, die es aber nicht gibt. An die Stelle des Glaubens an Gott im Himmel tritt wieder, wie vor 4000 Jahren, der Glaube an die Mutter Erde, die nicht nur in der Urgeschichte der Bibel, sondern auch in vielen anderen Religionen durch die Schlange symbolisiert wird, die damals wie heute dem Menschen zuflüstert: »Ihr werdet sein wie Gott.« Solche Träume werden zu Ideologien. Ideologien aber sind tödlich, weil sie zu falschem Handeln anleiten. Die Revolte Gottes wird also immer weitergehen, denn ein Paradies auf Erden wird es aus menschlicher Kraft auf dieser Welt nicht geben. Ideologen und Utopisten denken vom Ende der Welt her, das sie sich erträumen, und lassen uns wegen dieser Träume sinnlose Opfer bringen. Wo immer Menschen sich in einem Dogma das Ende dieser Welt vorstellen, haben Christen dagegen aufzustehen. Dabei ist die christliche Revolte eine permanente Revolte. Sie muss so lange in der Nachfolge Gottes getragen werden, als Gott diese Revolte will und in seiner letzten Revolte einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird.

 

4. Von 1980 bis 1995 ist die Staatsverschuldung der sieben größten Volksgemeinschaften der Welt von 42 Prozent auf 70 Prozent des Sozialproduktes gestiegen. Wird dieser Weg weiter beschritten, dann wird der Bürger durch eine verschuldete Gesellschaft enteignet. Christen haben sich dafür einzusetzen, dass das Eigentum durchgängig wie in der Bibel niemals dem Kollektiv, sondern der Familie zugeordnet ist. Das Bodenrecht war im Alten Testament so unantastbar, dass sogar ein königliches Tauschangebot dagegen nicht aufkommen konnte, wie die dramatische Geschichte von Nabot zeigt, dem der König seinen Weinberg nehmen wollte.. Das Erbrecht der Bibel schließt also – modern ausgedrückt – eine Verstaatlichung des Privateigentums aus. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Jesus durchaus nicht alle, die sein Wanderleben in der Nachfolge teilen wollten, in die Besitzlosigkeit gerufen hat. Petrus war Hausbesitzer. Levi als Zöllner war gleichsam Steuereinnehmer und Finanzmakler, der offensichtlich Jesus und die Jünger in sein großzügiges Haus einladen konnte. Lazarus muss ein großes Anwesen gehabt haben, und Nikodemus, der »Oberste unter den Juden«, war sicherlich kein armer Mann. Aber da jeder irdische Besitz immer nur das Vorletzte, niemals aber das Letzte im Leben eines Christen ist, warnte Jesus vor der Fixierung durch Reichtum. Reichtum ist dann Sünde, wenn – wie im Falle des armen Lazarus – der reiche Mann den Armen vor seiner eigenen Tür verkommen lässt. Der Weheruf Jesu über die Reichen kann verstanden werden als Anruf an jene, die Besitz als den letzten Wert ihres Lebens deklarieren und den Armen darüber vergessen. Wenn im Untergang des Christentums diese moderne Gesellschaft dieses Verständnis des Eigentums verliert, wenn der Erwerb des Eigentums und der Genuss des Eigentums zum letzten Sinn und Zweck des Lebens werden, dann wird der Kampf um die Beute und schlussendlich auch der Klassenkampf unsere Zukunft bestimmen.

 

5. Das Leben ist nicht das höchste Gut. Um der Gerechtigkeit willen muss Leben hingegeben werden – so hören wir es im Alten und im Neuen Testament. Das Gebot »du sollst nicht töten« müsste eigentlich übersetzt werden mit »du sollst nicht morden«, und eindeutig wird im Alten Testament ausgesagt, dass der, der unschuldiges Blut vergießt, sterben muss.

 

Zweifellos können wir in der Gemeinde und als Gemeinde auf Rechtsvergeltung verzichten. Und denen, die der Gemeinde fluchen, wird die Gemeinde mit Geduld und Segnungen antworten. Aber die politischen Ordnungen dieser Welt können um des Überlebens der Gesellschaft in Gerechtigkeit willen nur durch das Zueinander von Macht und Recht erhalten werden.

 

Als zu Johannes dem Täufer Soldaten kamen und ihn fragten, was sie denn nun nach Buße und Taufe tun sollten, verlangte er von ihnen nicht, die Waffen niederzulegen, sondern sich an ihrem Solde genügen zu lassen, also Soldaten zu bleiben, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Und Jesus fordert ebenfalls die frommen Hauptleute – wie z. B. den Hauptmann von Kapernaum – nicht auf, die Waffen wegzuwerfen, um als Pazifisten weiterzuleben. Ein Christ wird sich also einsetzen für den Kampf um die Rechtsstaatlichkeit.

 

6. Der Christ wird einer grenzenlosen Immigration kritisch gegenüberstehen. Es waltet die Meinung, dass mit den jährlichen Aufwendungen für Flüchtlinge und Asylanten einer hundertfachen Zahl von Bedürftigen in der Dritten Welt wirkungsvoller hätte geholfen werden können. Wer sich für die weitere, noch intensivere Aufnahme von Flüchtlingen ausspricht, sollte bedenken, dass eine multikulturelle oder multireligiöse Gesellschaft auch eine multimoralische Gesellschaft einbringt. Da aber Recht und Gerechtigkeit ganz und gar auf der Basis eines verbindlichen Ethos beruhen, wäre eine multikulturelle Gesellschaft eine Bedrohung für die Gerechtigkeit in unserem Staat. Wird der Rahmen der Gerechtigkeit gesprengt, wächst die Chaotisierung.

 

Hier geht es überhaupt nicht um »Rassismus«, wie ahnungslose, religions- und kulturgeschichtlich ungebildete Agitatoren propagieren. Vielmehr geht es hier um Kultur, um Ethos, um die Basis einer Moral- und Rechtsgemeinschaft, die allerdings durch Massenimmigration zerstört werden kann.

 

Ob es allerdings denkbar ist, dass ein selbstzerstörerisches Christentum diese Aufgabe erfüllen kann, ist die große Frage. Ich wiederhole: Der Untergang einer Religion ist auch der Untergang einer Kultur und der Untergang einer Kultur auch der Untergang einer Rechtsgestalt. So haben wir es in der Geschichte immer wieder erlebt. In der biblischen Zukunftsperspektive steht am Ende der Untergang dieser Welt, aus dem Gott aber einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffen wird. Bevor allerdings dieses Letzte geschieht, ist es dem Christen politisch aufgetragen, für Gerechtigkeit auf dieser Erde zu kämpfen.

 

 

 

Die Hervorhebungen im Text habe ich vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im April 2014

 

 

 

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Leben wir in der Endzeit?

 

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