Reinkarnation:
1. Begriff:
Der Begriff „R.“ kommt vom lateinischen „re – in – carne“, das bedeutet: „wieder – ins – Fleisch“ gehen. Der Begriff bezeichnet die Vorstellung, dass die „Seele“ – oder besser: das Nichtstoffliche, Nicht-Materielle – des Menschen nach dessen Tod wieder in einen neuen Körper Einzug hält und eine weitere Existenz lebt. In der Regel wird von vielen tausend Verkörperungen jeder „Seele“ ausgegangen. Manchmal wird auch „Seelenwanderung“ als Synonym gebraucht. Das ist jedoch nicht korrekt, denn der Begriff „Seelenwanderung“ geht von der abendländisch-westlichen Vorstellung einer individuellen „Seele“ im Sinne einer unteilbaren, unverwechselbaren Persönlichkeit aus, während die fernöstlichen Vorstellungen von „R.“ gerade die Auflösung des „Selbst“ erstreben. „Atman“ ist gerade nicht das „individuelle Ich“, das die Existenz überdauert, sondern wesensgleich mit „Brahman“, der überindividuellen „göttlichen“ Transzendenz, an welcher Atman, das die einzelnen Existenzen durchfließt, teilhat, um am Ende der Verkörperungen ins Meer des Brahman zu münden und sich aufzulösen (Nichtung, Entselbstung, Nirwana als Ziel). Freilich werden in der westlichen Literatur beide Begriffe nicht immer klar unterschieden.
2. Wo finden sich R.svorstellungen?
a. Fernöstliche Religionen: R.sglaube assoziiert man zu Recht mit den religiösen Systemen des >Hinduismus, wo er frühestens am Anfang des ersten Jahrtausends v. Chr. sich durchsetzte, und des >Buddhismus. Er ist wichtiger Bestandteil dieser Religionen. Durch viele Erdenexistenzen hindurch soll der Mensch seine „Erlösung“ (im Sinne der Auflösung von Atman ins Brahman) bewirken, was konkret heisst, die Kette der Inkarnationen abzubrechen. Heute berufen sich Vertreter moderner R.svorstellungen gerne auf diese alten Religionen – meist zu Unrecht, denn im Hinduismus und Buddhismus wird im Gegensatz zu modernen Konzepten das „Immer-Wieder-Geboren-Werden-Müssen“ als Fluch verstanden.
b. Griechische Antike: Auch in der griechischen Philosophie finden sich R.svorstellungen, die sich aber nie ganz durchsetzen konnten. Pythagoras, Empedokles und >Platon lehrten in einer bereits optimistischen Umdeutung der fernöstlichen Vorstellungen, dass der Mensch durch verschiedene Erdenleben zur Vervollkommnung streben solle.
c. R. in der Neuzeit im Westen: Die Lehre der R. trifft man selten isoliert an, sie ist meistens Teil eines größeren religiösen Systems und hat gegenüber den fernöstlichen Wurzeln manche Umdeutungen erfahren. Heute findet sie sich z.B. in den religiösen Systemen der >Anthroposophie, der >Theosophie, der >Rosenkreuzer, des >Universellen Lebens, von >Scientology und bei anderen esoterischen Gruppen und Autoren. Häufig begegnen wir aber auch R.svorstellungen, die nicht an ein bestimmtes religiöses System gebunden sind (vgl. die vielen Menschen, die früher einmal eine berühmte Persönlichkeit gewesen sein möchten, z.B. die Königin von Saba, Julius Caesar u.ä.). Manchmal wird behauptet, es seien Rückerinnerungen an eine frühere Existenz vorhanden.
3. Kennzeichen der R.slehre:
a. Leib-Seele-Dualismus: Alle R.smodelle unterteilen den Menschen in einen materiellen Teil, im nachfolgenden der Einfachheit halber „Leib“ genannt, und in einen immateriellen Teil, im nachfolgenden – trotz obiger Differenzierung – der Einfachheit halber „Seele“ genannt. Dabei sei die „Seele“ das Eigentliche, was den Menschen ausmache. Der Leib spiele kaum eine Rolle oder wird als etwas Negatives (bei Plato: „Kerker“) gesehen.
b. Wiederverkörperung: Die Seele des Menschen sei unsterblich. Daher sterbe beim Tode nur der Leib, die Seele löse sich von ihm und inkarniere sich in einem neuen Leib eines neugeborenen Babys. So wie ein Mensch die alten Kleider ablege und neue anlege, so lege die Seele den alten Körper ab und einen anderen, neuen an. Die Zeitspanne, die zwischen Tod und Neuinkarnation liegt, variiert von System zu System.
c. Karma: Untrennbar mit allen R.svorstellungen verbunden ist die Lehre vom >Karma, oft wiedergegeben mit „Schicksalgesetz“. Karma ist der Ausgleich zwischen guten und bösen Taten. Für jede Tat, die ein Mensch tut, wird er in seinem nächsten Leben einen Ausgleich schaffen oder erleiden müssen. Entweder wird man durch gute Taten die bösen sühnen oder aber die böse Tat am eigenen Leibe erdulden. Für Gruppen gibt es – etwa nach >anthroposophischer Ansicht – Gruppenkarma. Jedes Volk beispielsweise habe sein spezielles Karma – mit entsprechenden Auswirkungen.
d. Höherentwicklung: Während in den fernöstlichen Reinkarnationsvorstellungen das Ziel die Erlösung vom Erdendasein ist, geht es bei den modernen Varianten (z.B. bei G. E. >Lessing, R. >Steiner) darum, dass der Mensch bzw. seine „Seele“ sich höherentwickelt, eine Art „geistige >Evolution“ durchmacht. Der Mensch soll in jedem Erdenleben etwas dazulernen und dem Göttlichen näherkommen. Das bedeutet in vielen Systemen, dass die Seele verschiedene Verkörperungen in Pflanzen und Tieren durchgemacht hat, bevor sie sich das erste Mal in einem Menschen inkarnieren konnte. Und oftmals verlässt sie die Menschenstufe und nähert sich immer mehr der „Engelsstufe“ oder „göttlich-geistigen Welt“ an.
3. Empirische Kritik:
a. Wunschdenken und Betrug: Es ist auffallend, wie oft Menschen, die sich angeblich an eine frühere Existenz zurückerinnern, irgendeine bedeutende historische Persönlichkeit (z.B. Cäsar, Napoleon oder die Königin von Saba) gewesen sein oder ein besonderes historisches Ereignis miterlebt haben wollen. Dazu Ian Stevenson: „Wenn alle, von denen behauptet wird, sie hätten die Kreuzigung Christi in einem früheren Leben beobachtet, wirklich zugegen gewesen wären, hätten die römischen Krieger bei diesem Ereignis wohl keinen Platz mehr zum Stehen gehabt“ (Wiedergeburt, 1989, 51f.). In vielen zunächst spektakulären Fällen stellte sich hinterher heraus, dass die Angaben falsch waren oder auf Kryptomnesie beruhten. Kryptomnesie ist eine Gedächtnisstörung, bei welcher Gedächtnisinhalte, deren Erinnerungscharakter nicht bewusst ist, als scheinbare Neuschöpfung aufgefasst werden. Weiter ist zu bedenken, dass aufgrund von „Rückerinnerungen“ noch keine archäologischen Funde gemacht wurden und keine bisher unbekannten antiken Schriftzeichen entziffert werden konnten.
b. Suggestion: Wichtige Faktoren beim Zustandekommen von Rückerinnerungen unter >Hypnose sind die Bereitschaft des Patienten, sich an etwas zu erinnern und der damit verbundene Leistungsdruck. Die Sitzung soll ja etwas bringen, und erinnert man sich nicht, ist sie vergebens gewesen. Ferner sind gerade Menschen unter Hypnose für Suggestion besonders empfänglich, so dass bereits der Hypnotiseur den Patienten dazu bringen kann, sich zu „erinnern“. Diese Möglichkeit wurde in Versuchen festgestellt.
c. Spiritistische Einflüsse: Ian Stevenson und eine weitere Reinkarnationstherapeutin, Helen Wambach, räumen beide ein, dass das Wissen auch auf übersinnliche statt auf natürliche Quellen zurückführbar sein kann. Wambach schreibt: „Für mich ist das menschliche Gehirn wie ein Empfänger, der einfach nur aufnimmt, was an Wellen vorhanden ist“ (Conta Costa Times, 2.12.1977). Sie rechnet mit der Möglichkeit, dass Personen unter Hypnose von „Geistern und Dämonen“ ergriffen werden können. Die Bibel redet eine klare Sprache von >Dämonen als den „Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, den bösen Geistern unter dem Himmel“ (Eph 6,12). Diese können dem Menschen Botschaften aus dem Jenseits – auch aus der Vergangenheit – vermitteln, stürzen ihn dafür aber in die geistliche Finsternis.
d. Widersprüche: Die verschiedenen religiösen Systeme, die die Lehre der R. eingebaut haben, fühlen sich oft als eine gemeinsame Bewegung, die das Bewusstsein für Seelenwanderung im Volke schafft. Jedoch sind die verschiedenen Modelle sehr unterschiedlich und widersprüchlich, z.B. in den Fragen, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Inkarnationen liegt, was das Ziel der verschiedenen Erdenleben ist und wie sich das Karma auswirkt. Die Systeme, die „den Christus“ zu integrieren versucht haben, z.B. Theosophie und Anthroposophie, weisen ihm eine völlig unterschiedliche Rolle und Bedeutung zu. Viele derjenigen, die heute R. propagieren, wollen bei den alten fernöstlichen Religionen wie Buddhismus und Hinduismus anknüpfen. Sie berufen sich auf sie als Autorität. Dabei lassen sie außer Acht, dass in den erwähnten Religionen R. durchaus nicht als etwas Positives angesehen wird, sondern als Fluch, den es zu überwinden gilt. Die verschiedenen Erdenleben werden nicht als Spirale gesehen, die nach oben führt, sondern als ein sich (fast) ewig drehendes Rad von mühseligen, leidvollen Verkörperungen.
e. Fehlender Lerneffekt: Das Karmagesetz soll uns erziehen. Jedoch fehlt bei fast allen Menschen die Erinnerung an ihre frühere Existenz und die vollbrachten Taten (die wenigen Ausnahmen sind fraglich; s.o.). So weiss also niemand, warum er gerade leidet, und hat keine Möglichkeit, aus seinen Fehlern zu lernen.
f. Unbarmherzigkeit: Ein Beispiel einer ganzen Kultur, die nach den Vorstellungen von R. und Karma aufgebaut ist, ist die indische. In den Augen eines Hindus hat es keinen Sinn, einem leidenden Menschen zu helfen, denn dadurch würde man dessen Karma nur aufschieben, nicht aber aufheben. Wer leiden muss, der wird auch leiden, und nichts kann ihn davor bewahren. Deshalb kümmert sich ein Hindu – zumindest im Rahmen seines religiösen Systems – nicht um seinen Nächsten und tut nichts gegen seine Not und sein Elend, da er ja doch nichts ausrichten kann. Nach diesem Denken muss auch der 2. Weltkrieg als positives Ereignis gesehen werden, da hier viel Karma abgebaut worden ist. Auch die Juden haben, denkt man konsequent in karmischen Kategorien, in Hitlers Gaskammern nur ihre gerechte Strafe erlitten. Aber hier offenbart sich eine weitere Frage: Wurde hier nicht ebenso viel neues Karma geschaffen? Wann wird das abgetragen? Wo ist der Ausweg aus diesem Kreislauf? Das R.s- und Karma-Denken ist unbarmherzig und stellt keine wirkliche Antwort auf die Frage nach dem Grund des Leidens dar.
4. Biblische Kritik:
a. R. oder Auferstehung? Rs-lehren gehen von einem zyklischen Weltgeschehen aus: Alles wiederholt sich zwangsläufig, alles ist schon einmal dagewesen und alles wird wieder sein. – Christlicher Glaube aber kennt ein lineares Weltbild: Gott, der Herr, hat mit der Schöpfung der Erde aus dem Nichts einen Anfang geschaffen. Nach dem Sündenfall hatte der Mensch wenig Erkenntnis von Gott, dieser offenbarte sich erst im Lauf der Geschichte immer mehr. Abraham, Mose und schließlich Jesus Christus und seine Gemeinde bilden eine Linie der fortschreitenden Offenbarung. Gott wird dieser Welt ein Ende setzen und etwas vollkommen Neues schaffen. Gott selbst ist Anfang und Ende (Offb 21,6; 22,13).
Die Seelenwanderungslehre teilt den Menschen dualistisch auf in Leib und Seele, dabei ist der Leib von geringer Bedeutung. Dies muss so sein, denn die Seele inkarniert sich ja in viele verschiedene Leiber, die wie Kleider wieder abgelegt werden. – Nach biblischem Menschenbild ist der Mensch eine Einheit aus Körper und Seele. Der Körper des Menschen wird in der Bibel nicht gering geachtet. Die Seele des Menschen existiert nicht unabhängig vom Leib und ist auch nicht das Wahre, das Bessere, das Eigentliche, das den Menschen ausmacht. Bei der Erschaffung des Menschen machte Gott einen Leib aus Erde, dem er den Lebensatem einhauchte. Dadurch „wurde der Mensch zu einem lebenden Wesen“ (Gen 2,8). In Psalm 139,13 heisst es: „Du hast mich gebildet im Mutterleibe“. Es heisst nicht „Du hast mir einen Leib gebildet im Mutterleib“.
Auch die christliche Auferstehungshoffnung zeigt, dass der Mensch nicht nur eine Seele ist, die vorübergehend von einem nicht so wichtigen Leib überkleidet wird. Es ist in der Tat eine schwierige Frage, ob und wie der Mensch zwischen Tod und Auferstehung ohne den Leib existieren kann, jedoch ist dies kein Grund, deshalb den Menschen nur in seiner Seele zu suchen. In der Auferstehung wird der gesamte Mensch in seinen geistigen und materiell-stofflichen Dimensionen an sein seliges Ziel kommen. Dem Tod gegenüber steht aber die christliche Auferstehungshoffnung (1. Kor 15,35-49). Die Auferstehung wird leibhaftig sein, und auf die Frage, mit was für einem Leib man auferstehen wird – der erste ist ja dann schon verwest – antwortet Paulus, dass sich der Auferstehungsleib zum jetzigen Körper verhält wie eine Pflanze zum Samenkorn (1. Kor 15,36-38). Der neue Leib der Erlösten ist unsterblich (1. Kor 15,53 ff.), unverweslich (1. Kor 15,42.53) und kennt keine Schmerzen (Offb 7,16f.; 21,4).
Im Gegensatz zu modernen R.svorstellungen kennt die Bibel keine Höherentwicklung des Menschen. Der Mensch ist vollkommen verdorben und sündhaft und daher dem gerechten Gericht Gottes verfallen. Deshalb werden diejenigen, die durch den Glauben an Jesus Christus als Retter Vergebung haben, zum ewigen Leben auferstehen, die anderen zur ewigen Verdammnis (Joh 5, 28f.; Mt 25,41; Mt 3,12.42; 2. Thess 1,9 u.a.).
b. Selbsterlösung oder Erlösung? Die Karmavorstellung ist mit der Erlösung in Christus unvereinbar. Dem allmählichen Abtragen immer neuer Aktualsünden durch eigene gute Werke im Laufe vieler Wiederverkörperungen steht die ein für allemal geschehene und vollkommene Erlösung des Menschen von allen Sünden durch die stellvertretende Selbsthingabe Jesu Christi am Kreuz in radikaler Weise entgegen, die im Glauben empfangen wird (Röm 3,23 f; 8,1; Eph 2,8 f; Hebr 9,12; s.o.). Gal 6,8 als Entfaltung von Gal 6,7 ist geradezu eine Widerlegung der Karmalehre und besagt: Der Mensch, der auf sein „Fleisch“ sät – das heisst: der auf sein altes, unerlöstes Wesen und dessen Werke baut (auch auf seine „guten Werke“ im Verlauf vieler hypothetischer Wiederverkörperungen!) -, „der wird von dem Fleisch das Verderben ernten“. Wer aber auf den „Geist“ sät – wer allein auf die Kraft Gottes vertraut und die „Frucht des Geistes“ hervorbringt -, „der wird von dem Geist das ewige Leben ernten.“ Gegen alle Selbsterlösungsbestrebungen ist das Wort des Paulus gesprochen: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28).
c. Findet sich R. in der Bibel? Immer wieder wird behauptet, es gäbe Hinweise auf R. und Karma in der Bibel. So sei Johannes der Täufer der wiederverkörperte Elias gewesen, und auch bei der Heilung des Blindgeborenen in Joh 9 sei von R. und Karma die Rede. Man übersieht in dieser Argumentation jedoch die Einzigartigkeit des Elias und seiner Funktion, durch die er gerade kein Beispiel für andere Menschen sein kann. Vor allem gilt: Elias ist gar nicht gestorben, sondern er wurde „entrückt“ (2. Kön 2,11), so dass von einer R., die den physischen Tod voraussetzt, nicht geredet werden kann. Weil Elias nach der biblischen Erzählung nicht gestorben war, herrschte in der vorchristlichen Überlieferung des Judentums und im jüdischen Umfeld Jesu die allgemeine Überzeugung, dass der Weggang des Elias „keinen endgültigen Abbruch seiner Beziehungen zur Erde und zu seinem Volk bedeute, dass der Entrückte vielmehr auch noch in der Gegenwart, wann er wolle und wie er wolle, auf der Erde erscheine“. Gegründet auf Mal 3,1.23f, wo Elias als „Wegbereiter Gottes“ und „Friedensstifter zwischen Vätern und Söhnen“ geschildert wird, war die Erwartung der „Wiederkunft des Propheten Elias am Ende der Tage“ ein „feststehender Glaubensartikel der alten Synagoge“ geworden (Strack/Billerbeck, Exkurse zu einzelnen Stellen des Neuen Testaments, IV/1, 1956, 746.779).
Das Kommen des Elias ist somit an das Kommen des Messias gebunden, dem es vorausgeht. Johannes der Täufer bereitete als der angekündigte Elias dem angekündigten Messias Jesus bei seinem ersten Kommen im Fleische den Weg (Mt 3,3 parr). Nur in dieser heilsgeschichtlichen Konkretion ist das Wort Jesu aus Mt 11,14 zu verstehen, das vollständig heisst: „Er ist Elias, der kommen soll.“ Wenn Johannes der Täufer als eine „Verkörperung“ des Propheten Elias verstanden wurde, so ist das vom biblischen Textbefund her im übertragenen Sinn zu verstehen: Nach Lk 1,17 wird Johannes der Täufer „in Geist und Kraft des Elias“ vor dem Herrn hergehen, was auf die Ausrüstung mit einer besonderen Vollmacht, nicht jedoch auf eine Wesensidentität hinweist. Nach Joh 1,21 lehnt es Johannes der Täufer sogar ausdrücklich ab, Elias zu sein. Vom biblischen Gesamtkontext her ist die Vorstellung einer Wiederverkörperung eindeutig auszuschließen.
Das Gleiche gilt für die Erzählung vom Blindgeborenen (Joh 9). Die Frage der Jünger „Meister, wer hat gesündigt, er oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ (V. 2) scheine – so der anthroposophische Autor R. Frieling – „bei den Jüngern die Meinung vorauszusetzen, dass ´er` eventuell selbst durch Sündigen in einem vorangegangenen Erdenleben die Ursache für sein Blindgeborenwerden geschaffen haben könnte“. Es habe damals auch „jüdische Anschauungen“ gegeben, denen zufolge „dieses frühere Sündigen in einem präexistenten seelischen Dasein hätte möglich sein können“. Aus der „abweisenden Antwort“ des Christus („weder er noch seine Eltern …“; V. 3) dürfe man nicht eine „prinzipielle Verneinung“ der Wiederverkörperung heraushören. Verneint werde „nur im Hinblick auf gerade diesen speziellen Fall, wo das nicht so stand“ (Christentum und Wiederverkörperung, 1974, 93).
Diese Deutung von V. 2 gibt jedoch nur eine von mehreren Möglichkeiten wieder, und zwar diejenige, die dem jüdischen Denken zur Zeit Jesu am wenigsten entspricht. Die Lehre von der Präexistenz der menschlichen Seele findet sich bei den palästinensischen Schriftgelehrten – unter hellenistischem Einfluss – „erst seit der Mitte des 3. Jahrhunderts so vereinzelt … dass sie für Jesu Zeit überhaupt nicht in Betracht kommt“ – und damit auch nicht die Lehre von der R.. Hingegen gibt es in der rabbinischen Literatur und auch in der Bibel einige Stellen, die „ein Sündigen des Kindes im Mutterleib“ erwähnen (vgl. Gen 25,22; Ps 58,4 u.ö.), und ganz geläufig war die andere – auch medizinisch erhebbare – Vorstellung, dass „körperliche Gebrechen der Kinder auf Versündigungen der Eltern zurückzuführen“ sein können (z.B. Blindheit der Kinder durch eine Geschlechtskrankheit der Eltern) (Strack/Billerbeck, Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, 1956, 528f.). Diese Vorstellungen mögen am ehesten hinter der Frage der Jünger gestanden haben, wogegen der Gedanke an eine Präexistenz oder gar R. mit großer Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist. Und selbst wenn der Gedanke an R. in der Frage der Jünger anklingen sollte, so wird er doch durch die Antwort Jesu Christi klar abgewehrt: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden“ (Joh 9,3).
Erschwerend für derartige Argumentationsversuche der R.sanhänger kommt hinzu, dass zahlreiche Bibelstellen die Vorstellung eines wiederholten Sterbens und Geborenwerdens klar verneinen, z.B. 2. Sam 12,23; 14,14; Ps 78,39; Lk 23,39-43; Apg 17,31; 2. Kor 5,1.4.8; 6,2; Gal 2,16; 3,10-13; Eph 2,8 f.; Phil 1,23; Hebr 9,27; 10,12-14; Offb 20,11-15. In Hebr 9,26-28 etwa wird die Einmaligkeit der menschlichen Lebensexistenz so selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie als Vergleichspunkt dienen kann, um die Einmaligkeit des Opfers Jesu – im Gegensatz zu dem jährlich sich wiederholenden Opfergang des jüdischen Hohenpriesters (Hebr 9,25) – herauszustellen.
Die R.s- und Karmalehre widerspricht somit völlig der Mitte des Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders durch Jesu Sühnetod (Röm 4,5; 5,6-9). Die Bibel verkündigt nicht die R., sondern die Auferstehung zum Gericht oder zur ewigen Seligkeit. Das ist ihre eindeutige und rettende Botschaft.
Lothar Wiese / Lothar Gassmann
Aus: Lothar Gassmann (Hrsg.), KLEINES SEKTEN-HANDBUCH, Schacht-Audorf 2. Auf. 2006, 200 Seiten, 9,80 Euro
Erhältlich bei: Dr. Lothar Gassmann, Am Waldsaum 39, D-75175 Pforzheim,
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