Charismatiker+Evangelikale ausgesöhnt? (A.Seibel)

 Alexander Seibel

Haben sich Evangelikale und Charismatiker weltweit ausgesöhnt?

 

Erfahrungsberichte aus vier Kontinenten
Die charismatische Frage sei in anderen Ländern längst geklärt und die Streitigkeiten seien überwunden, so heißt es immer häufiger auch von Seiten der Evangelischen Allianz.
Wenn, dann gibt es nur noch in Deutschland einige Probleme mit „Hardlinern“ in einem Bereich, der bald so lange zurückliegt wie der Krieg. Ewiggestrige und konservative Betonköpfe, die sich immer noch auf die „Berliner Erklärung“ berufen, haben bestenfalls hier noch Probleme mit Charismatikern, wo doch längst weltweit das Kriegsbeil begraben worden sei. In jüngster Zeit gebe es angeblich zwischen Evangelikalen und Charismatikern kaum noch Spannungen oder Spaltungen; man habe sich global ausgesöhnt.

Doch wenn man die einzelnen Länder besucht, ergibt sich ein völlig anderes Bild.

Vor wenigen Wochen war ich noch in Birma bzw. Myanmar. Die verantwortlichen Leiter der dort größten und einflußreichsten eher neo-evangelikalen Ausbildungsstätte, MIT (Myanmar Institute of Theology), berichteten mir, wie Charismatiker unter den Gläubigen des Chin-Stammes viele Spaltungen angerichtet haben.
Ein amerikanisches Missionarsehepaar erzählte, wie im Norden Birmas und Indiens nach einer anfänglich positiven Erweckung dort der Schwarmgeist einbrach. Inzwischen wird der „Gottesdienst“ mit viel Musik und Trommeln immer mehr ekstatisch gestaltet. Danach geschieht es nicht selten, stimuliert durch aufgepeitschte Gefühle, daß man in sexuelle Sünden fällt, wobei dies von etlichen gar nicht mehr als Sünde empfunden wird. Einige meinen in ihrer Verblendung, dies sei ein besonderer Akt der Weihe zu Ehren der Gottheit.

In Indien bat mich Ende der achtziger Jahre der damalige Leiter der Indian Evangelical Mission, Theodor Williams, zur Thematik Zeichen und Wunder Vorträge zu halten. „Unsere Arbeit wird auf dem Missionsfeld durch die Pfingstler zerstört“ sagte mir wörtlich der damalige Leiter des Ausbildungsprogramms der Indischen Evangelikalen Mission.
Ein Bibellehrer von Union Biblical Seminary  in Pune erzählte mir, wie im Norden Indiens, wo es sehr viele Christen und Gemeinden gibt, Propheten auftraten. So eine „Prophetin“ verkündigte zum Beispiel, wie ein Bruder seine Frau verlassen solle, um jemand anderes, eine besonders geweihte Schwester im Herrn, zu heiraten. Nachdem hier angeblich Gott geredet habe, müsse dies nun befolgt werden. Die Folgen solcher „Prophetien“ waren verheerend.

Welche Trennungen und Spaltungen auf dem Missionsfeld durch die charismatische Frage und das Zungenreden entstehen, konnte ich leider zum Teil vor Jahren in Sri Lanka selber beobachten. Älteste, die zuvor zusammenarbeiteten, trennten sich auf einmal. Öfters muß man leider auch beobachten, daß nicht die Bibel, sondern der Geldgeber die theologische Ausrichtung bestimmt.

Unvergesslich wird mir auch bleiben, wie ich vor Jahren in Korea gegenüber einem Pastor erwähnte, daß ich mich in meinem Beitrag kritisch zu Yonggi Cho und seinen Lehren äußere. Sofort nahm er mich zu seiner Bibelschule mit und bat mich, dieses Referat zu halten, um seine Studenten zu warnen.

Besonders schlimm sieht es diesbezüglich in Brasilien aus. Es spalten sich dort durch diese besonderen Lehren nicht nur die evangelikalen Gemeinden, auch die Pfingstler selber trennen sich fast jedes Mal auch untereinander.
Besondere Sorge bereitete dem Exekutiv-Sekretär der Allianz in diesem riesigen Land die Botschaft einer „Prophetin“. Bei einer großen Zusammenkunft von Christen im Jahre 1996 erklärte sie:
Die “Logoszeit” (offensichtlich die Epoche des geschriebenen Wortes, der Bibel) habe aufgehört, jetzt sei “Rhemazeit” (also die direkte Eingebung von angeblichen Worten Gottes). Deswegen seien die gegenwärtigen neuen Offenbarungen nicht in der Schrift.

Dieses Land bietet mit seinem weit verbreiteten Spiritismus den idealen Nährboden für alle möglichen und unmöglichen charismatischen Phänomene.
Kürzlich kam ein Hilferuf von einer Gemeinde aus Südbrasilien, weil sich „unglaubliche Irrlehren“ eingeschlichen haben. Ein verantwortlicher Pastor sagte wörtlich:
„Es ist in den letzten 30 Jahren nie so hart gewesen, den Dienst in der Gemeinde zu tun, wie in den letzten Tagen.“
Nicht nur Gemeinden, auch Familien werden zerrissen. So heißt es weiter in diesem Hilferuf, der nur die Spitze des Eisberges ist: „Sie (Gemeindeglieder, die in den Wald gingen, um zu beten, Anm.) brachten Zweige vom Wald, die leuchteten. Und Geschwister der Gemeinde haben sich danach in dunkle Zimmer gesetzt um zu beten, bis die Zweige wieder leuchteten. Nun ist der ‚Glanz‘ verschwunden. Und der Haß in der Gemeinde war noch nie wie nach diesen Erfahrungen.“
In diesem Land wachsen jene Gemeinden am schnellsten, die die extremsten charismatischen Irrlehren vertreten und  kaum getarnten Spiritismus praktizieren.

Von Mexiko berichtet Dr. Karl-Heinz Schmalenbach, der dort im Osten viele Jahre als Pioniermissionar wirkte, von ähnlichen Spaltungen durch pfingstlich-charismatische Lehren, Personen und Strömungen. Auch wurde versucht, zum Teil leider erfolgreich, Gemeinden abzuwerben.

Ein Missionar in Namibia erzählte mir von einem Fall von “Gemeindewachstum” durch die Gabe der “Prophetie”, der sich in Windhoek vor einigen Jahren abgespielt hatte. Ein „Prophet“ kam nach Windhoek in die Freie Christengemeinde und berichtete von einer Vision. In einer Art Himmelsleiter sah er 200 neue Ehepaare im Laufe einiger Jahre zur Gemeinde hinzukommen. Als nach vier Jahren immer noch nichts in dieser Richtung geschehen war, holte man Petrao Bauer, einen Pfingstprediger aus Pretoria, Südafrika. Man wollte herausfinden, warum sich die Vision sich nicht erfüllt hatte. Vor versammelter Gemeinde erklärte er, angeblich durch prophetische Eingebung, im Beisein des Beschuldigten, der verantwortliche Pastor lebe im Ehebruch. Dies traf überhaupt nicht zu, doch ein Teil der Anwesenden glaubte dieser “Prophetie” und darüber spaltete sich bzw. zerbrach die Gemeinde.

In Kapstadt, Südafrika, klagte der Studentenpfarrer Roger Palmer, wie der „Toronto-Segen“ sogar charismatische Gemeinden gespalten hat. Er beklagte wörtlich:
“Wo sind die Pastoren, die ‘Wolf’ rufen?” Leider muß man heute bei vielen Verantwortlichen feststellen, wie sie große Sympathie mit den reißenden Wölfen (Apg. 20,29) haben, über die zerrissenen Schafe breitet man immer öfters diskret und vornehm den Mantel des Schweigens, bzw. die Decke einer seelischen Liebe, die anscheinend alles toleriert.

Als meine Frau und ich 1997 Madagaskar besuchten, klagte mir der Präsident der madagassischen  Baptisten, Rabenja Andrianavalona, wie ein amerikanischer Evangelist namens Mike Franzen den Leuten erklärte, „wer glaubt, der wird auch gesund“. „Ich sage meiner Gemeinde, daß dies nicht stimmt“. Sein Kommentar: „Wir werden gegenwärtig von dieser Welle überschwemmt“. So ist leider dieses ferne Eiland auch in dieser Hinsicht keine „Insel der Seligen“ mehr.
So war auch Bonnke in Antananarivo. Eine Schwester namens Eliette vom Kassettenverleihdienst berichtete uns, wie durch seine Verkündigung große Enttäuschungen hinterlassen wurden und viel Verwirrung entstand bei denen, die nicht geheilt wurden.
Ein Heer von frustrierten und enttäuschten Seelen ist leider nicht nur die Beobachtung in Madagaskar, sondern praktisch überall das Resultat, wo Reinhard Bonnke die Massen aufgepeitscht hat. Manchmal läßt dieser „Völkerfischer“ nicht nur einen Trümmerhaufen, sondern auch buchstäblich Tote zurück, wie kürzlich bei einem Feldzug in Nigeria, wo 15 Menschen zu Tode getrampelt wurden. Leider wurde von keinem berichtetet, daß ihn Bonnke wieder auferweckt habe.
Auch hat der „Toronto-Segen“ von Südafrika kommend mindestens eine ehemals große Pfingstgemeinde in Madagaskar buchstäblich zerrissen.

Auf Mike Franzens Spuren stieß ich auch in Peru. Die Missionare dort berichteten mir, wie fast 50% der evangelikalen Gemeinden mit dem Phänomen des Umfallens, dem sogenannten  „Ruhen im Geist“, konfrontiert werden, und es besteht eine große Verunsicherung. Auch erklärt eine Ältester, wie es vor einigen Jahren noch eine klare Trennung gab zwischen den Evangelikalen Gemeinden Perus und den Pfingstgemeinden. Durch das Liedgut jedoch sind immer mehr verbindende Brücken entstanden und klare Trennungen werden unterwandert.

Ganz verheerend sieht es zum  Teil in den Ländern der ehemaligen Sowjet-Union aus. Viktor Gräfenstein, der in Odessa in der Ukraine arbeitet, berichtete, wie die neue Form der charismatischen Gottesdienste einerseits viele anziehen, andererseits sind die Leute sehr oft danach für das Evangelium verschlossen. Ein kurze Zeit wird man ähnlich wie bei einer Droge stimuliert, dann  stellt sich jedoch Ernüchterung und Verhärtung ein.
Der tragische Effekt ist, daß Leute eigentlich nur noch dort in den Dörfern unbefangen und offen gegenüber der Frohen Botschaft reagieren, wie man es in den früheren Jahren beobachten konnte, wo die Charismatiker noch nicht Fuß gefaßt haben. Fast 50 % der Einwohner von Odessa, so Viktor Gräfenstein, wollen nun nichts mehr mit dem Evangelium zu tun haben. Der Eindruck, vor dem Paulus in 1. Kor. 14,23 warnt, „die Leute denken, ihr seid von Sinnen“, hat sich bei ihnen festgesetzt und wird nun unterschiedslos auf alle übertragen, die sich evangelikal oder biblisch nennen.

Auch in Riga, Lettland, ergab sich im Gespräch mit führenden Lutheranern eine kritische Einstellung zu diesen Bewegungen. Man ist skeptisch gegenüber pfingstlich-charismatischen Strömungen. Zwar kämen, so sagte man mir, aus dieser Richtung manche belebende Impulse, doch früher oder später kommt es fast unweigerlich zur Spaltung.
Ähnlich äußerte sich damals (1994) der Generalsekretär der Baptisten Lettlands. Auf die Frage, wie sie als Freikirche zu den charismatischen Kreisen stehen, hob er nur abwehrend die Hände. In Köln hatte er einmal eine charismatische Veranstaltung besucht. Klatschen, Tanz, Ausrufe wie “jetzt kommt der Geist”, Heilungen usw. Sein Kommentar: “Es war schrecklich.” Wörtlich war ihm in Erinnerung geblieben, wie der Prediger sagte: “Kommt morgen, morgen kommt ein stärkerer Geist.”

Die Ungarische Evangelische Allianz war traditionell sehr ablehnend gegenüber allen pfingstlich-charismatischen Tendenzen. Hier war sie sogar noch strikter als früher die Deutsche Evangelische Allianz. Inzwischen ist in Budapest die größte Gemeinde Europas mit mehr als zehntausend Mitgliedern entstanden, begleitet von Spaltungen und Trennungen. Ihr Einfluß breitet sich inzwischen über ganz Ungarn aus.
Sie beruht auf der Wort-des-Glaubens-Bewegung, die ihre Wurzel in dem „Neo-Gnostiker“ Kenneth Hagin in den USA hat. Dementsprechend nennt sie sich auch „Glaubensgemeinde“, geleitet von Sándor Németh. Sie ist eigentlich in etlichen Bereichen einer Psychosekte ähnlicher als biblischem Christentum.

Als ich in Omsk, Westsibirien, Rußland, einen Baptistenprediger nach seinen Erfahrungen mit den Charismatikern fragte, lautete zu meiner Verblüffung die Antwort: „Die Leute sind nicht wahrhaftig.“ Verblüfft war ich deswegen, weil man mir dies auch in anderen Teilen der Welt bestätigte, nämlich, daß besonders die Leiter solcher Gemeinden und Bewegungen sich nicht an ihre Verträge halten, öfters (nicht immer) undurchsichtig wie unwahrhaftig sind. Ein lieber Bruder, der mit besten Absichten wegen der geplanten „Jesusmärsche“ sich mit deren Repräsentanten hier in Deutschland an einen Tisch setzte, gebrauchte sogar den Ausdruck „hinterhältig“. Zu oft hatte er feststellen müssen, wie feierlich gegebene Versprechungen nicht eingehalten wurden.
Berichte vom Missionsfeld sind oft geschönt, übertrieben und manchmal reines Wunschdenken, was Heilungen und angebliche Erweckungen oder gar Totenauferweckungen betrifft. Der Zweck heiligt hier offenbar die Mittel. Selbst Ilan Zamir, inzwischen verstorbener ehemaliger Präses der Messianisch-Jüdischen Allianz in Israel, der Anhänger des „Toronto-Segens“ war, gestand mir gegenüber offen, wie es für ihn keine Frage ist, daß viele Berichte der Charismatiker vom Missionsfeld nicht der Wahrheit entsprechen. Dies erinnert auch an die Klage von Elias Schrenk über die damalige Pfingstbewegung: „Ich kann mir nicht vorstellen, eine Bewegung zu reinigen, die so viele Lügen verbreitet hat.“

In Nazareth, Israel, geschah kürzlich eine große Spaltung in einer Gemeinde, die diesen pfingstlichen Phänomenen gegenüber eher tolerant war. Doch dann rissen besondere Gabenträger mit großem Sendungsbewußtsein und extremen Manifestationen die Leitung an sich und eine einst schöne Gemeindearbeit lag in Trümmern, bzw. wurde in der Mitte zerrissen.
Es geschehen heute viele Spaltungen, auch aus anderen Gründen. Doch so zu tun, als wären auf dem Missionsfeld keine Spannungen mehr zwischen diesen verschiedenen theologischen Strömungen, entspricht einfach nicht der Wahrheit, sondern vielmehr einem Mythos oder Wunschdenken, das die Augen vor den Tatsachen verschließt. Denn diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.

Auch kann man beobachten, wie praktisch alle charismatischen Kreise, Gemeinden, Bewegungen und Missionsgesellschaften, auch die gemäßigten, empfänglich sind für die „Geistliche Kampfführung“ in irgendeiner Form ihrer vielen Schattierungen. Hinter dieser ganzen Konzeption aber steht ein ebenso animistisches wie magisches Weltbild. Eine „Erweckung“ der Magie und ein immer tieferes Hineingleiten in ein magisches Zeitalter ist aber genau das, was sich gegenwärtig tatsächlich abspielt.

Bemerkenswert ist, daß hier in Deutschland einflußreiche Pfingstler zugegeben haben, wie sie sich in ihren Weissagungen  offensichtlich geirrt haben. „Es gebe in Deutschland ‚bereits ein Heer von enttäuschten und verwirrten Leuten‘. Ihre Erwartungen hätten sich trotz immer neuer Ankündigungen nicht erfüllt. Manche Menschen hätten ‚sogar am Glauben Schiffbruch erlitten‘“ (idea spektrum, Nr. 4/02).

Anstatt nun zu erkennen, wie die Väter Recht hatten, als sie vor diesem Geist mit seinen verheerenden Folgen warnten, geschieht das genaue Gegenteil. Statt sich vor den falschen Propheten zu hüten (Mt. 7,15), baut man unter dem Deckmantel der Liebe oder der Behauptung, jeder habe eben sein Sondergut, immer mehr Brücken genau zu diesen Bewegungen und Kreisen.

Die dafür Verantwortlichen dienen allerdings damit nicht der Einheit, wie sie vorgeben, sondern bewirken ganz im Gegenteil neue Verwirrung und Spaltungen und ein Umarmen und Tolerieren immer neuer Irrströmungen. Über scheinbar gemäßigte Kreise sickert, weil es eben nur ein gradueller und kein prinzipieller Unterschied ist, auch immer mehr extremes „Sondergut“ ein.

Ähnlich wie auf moralischem Gebiet
heute Dinge geduldet und gefördert werden, die vor wenigen Jahren noch kaum denkbar schienen, geschieht gegenwärtig auch im christlichen Lager eine Umarmung von Strömungen, die die Väter eindeutig als verderbliche Irrlehren bekämpft hätten.
Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es kein Zurück mehr gibt.
Der Zeitgeist duldet keine Abgrenzung.

Der Kampf um die Wahrheit
ist für die postmoderne Generation „megaout“ und dementsprechend lautet der Slogan heute: „Laßt uns das Gemeinsame betonen. Es gibt Dinge die uns trennen, doch noch viel mehr, was uns eint“.
Solche Sätze sind Musik in den Ohren einer Christenheit, für die biblische Lehre sekundär geworden ist, das schöne Einheitsgefühl des pluralistischen „Softie-Evangelikalismus“ aber ein neue „Heilsbotschaft“ zu werden scheint.

Alexander Seibel

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