Wilberforce, der Sklavenbefreier (Metaxas)
Eric Metaxas
Wilberforce –
Der Mann, der die Sklaverei abschaffte
Eine Kürzung des von Christian Rendel aus dem Englischen übersetzten 400seitigen Buches.
Horst Koch, Herborn, im März 2025
Inhalt
Der kleine Wilberforce
In die weite Welt
Die große Wandlung
Das Erste Große Ziel: Abschaffung des Sklavenhandels
Das Zweite Große Ziel: die Reform der Sitten
Keine Kompromisse
Der gute Kampf
Was Wilberforce erduldete
Sieg
Jenseits des Großen Ziels
Indien
Der letzte Kampf
Vorwort
Am 1. Januar 2013 jährt sich der Tag der US-amerikanischen Sklavenbefreiung zum 150. Mal.
Abraham Lincolns Lesung der Emanzipations – Proklamation schenkte Miilionen von schwarzen Sklaven die Freiheit. Dieser historische Befreiungsschlag wäre ohne die Abschaffung der Sklaverei im Britischen Weltreich nicht denkbar gewesen.
Als großer Vorreiter des Kampfes gegen die Sklaverei (Abolitionismus) gilt ein kleiner Mann aus Nordengland. Abraham Lincoln schrieb einst: jeder Schuljunge kennt dessen Geschichte…
Leider ist seine Geschichte in Deutschland so gut wie unbekannt.
Ein Geheimnis von Wilberforce‘ Erfolg ist sein politisches und diplomatisches Geschick. Er arbeitete Partei- und Ideologieübergreifend mit allen zusammen, die sich dem Kampf gegen die Sklaverei verschrieben hatten. Als enger Freund von Premierminister William Pitt besaß er wichtige Beziehungen…
Doch entscheidender war seine persönliche Verantwortung vor Gott: „Der allmächtige Gott hat mir zwei große Ziele vor Augen gestellt: die Bekämpfung des Sklavenhandels und die Reformation der Sitten“, notierte er am 28. Oktober 1787. …
Die Sklaverei heutzutage nimmt andere Formen an, die aber nicht wenige inhuman sind. … Ein Beispiel ist der „Laogai-Komplex“ in China mit über tausend Haftanstalten… Auch das Beispiel der sogenannten “Wanderarbeiter“ ist zu erwähnen. … In Pakistan muss die sog. „Zinsknechtschaft“ genannt werden…, auch die weltweite Kinderarbeit ist beschämend…
Wilberforce hat in seiner Zeit Großartiges erreicht. Heute ist es an uns, den Staffelstab zu übernehmen …
Martin Lessenthin, IGfM
Einführung
Wilberforce veränderte den Blickwinkel seiner Landsleute um hundertachtzig Grad: nicht nur auf die Sklaverei, sondern auch auf fast alle anderen sozialen Themen. Seine Sichtweise beeinflusste das britische Weltreich und hinterließ ihre Spuren selbst auf dem europäischen Kontinent… Er erkannte, dass alle Männer und Frauen vor Gott gleich und nach seinem Bild erschaffen sind… Er erkannte neu, dass man seinen Nächsten wie sich selbst lieben und die
Menschen so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden will. Diese Gedanken gehören zum Kern des christlichen Glaubens, doch noch nie hatte eine ganze Gesellschaft sich diese Gedanken als Gesellschaft so zu Herzen genommen. Man könnte fast sagen, Wilberforce habe Glaube und Kultur miteinander vermählt. …
Nachdem diese Idee erst einmal in die Welt gesetzt worden war, veränderte sie die Welt. Nicht nur Sklavenhandel wurde abgeschafft, sondern auch eine Vielzahl geringerer Übel. Sein zweites großes Ziel war die Reform von Wertvorstellungen allgemein: die Probleme von Witwen und Waisen, von Gefangenen und Kranken, Kinderarbeit und die Zustände in den Fabriken. –
sie alle fanden auf einmal Fürsprecher in Menschen, die denjenigen helfen wollten, die nicht so vom Glück begünstigt waren. …
Man kommt nicht umhin, in Wilberforce als einen der ganz großen Sozialreformer der Weltgeschichte zu sehen. …
Er konnte damals nicht voraussehen, wie das Feuer den Atlantik überqueren und quer durch Nordamerika fegen würde, um dieses Land tief zu verändern. Können wir uns Amerika vorstellen ohne seine grenzenlose Zahl von Organisationen, die sich für die Behebung jeglichen sozialen Missstandes einsetzen? Wäre solch ein Amerika noch Amerika? …
Wir haben schlichtweg vergessen, dass die Armen und Leidenden im achtzehnten Jahrhundert fast völlig ohne Fürsprecher waren. Wir können uns kein Bild mehr von einer Gesellschaft machen, die das Leiden der Armen als den „Willen Gottes“ betrachteten. …
Thomas Jefferson und Abraham Lincoln lobten Wilberforce…, und die Autorin von „Onkel Toms Hütte“, Harriet Beecher-Stowe, sang seinen Ruhm ebenso wie George Eliot oder Gandhi und Martin Luther King oder Samuel Morse u.a.m.
Eric Metaxa, New York City, 2019
Kapitel Eins
Der kleine Wilberforce
Am 24. 8. 1759 wurde William Wilberforce in der Stadt Hull geboren… Als kleiner Junge konnte William von seinem Fenster aus beobachten, wie die großen Segelschiffe russisches Holz oderschwedisches Eisenerz entluden. Nachdem sie wieder mit einheimischen Exportgütern beladen worden waren, segelten sie den Hull hinab auf die Ozeane der Welt. Zu Wilberforce‘ Zeit entwickelte Hull sich zu einem wichtigen Walfanghafen …
Im Gegensatz zu den anderen englischen Häfen waren in Hull, dem viertgrößten, keine der Sklaven beschäftigt …
Die wohlhabende Familie Wilberforce hatte seinen Wohlstand vom Großvater geerbt, der seinerzeit den Namen Wilberfoss zu Wilberforce änderte. Foss heißt ja Vasall oder Knecht, was ihm nicht gefiel …
Der junge William war ein entzückendes Kind mit einem sonnigen Gemüt … Allerdings war er von einer schwachen Konstitution und seine Sehkraft war eingeschränkt. So blieb es sein Leben lang. Doch trotz seiner Kränklichkeit und Kurzsichtigkeit hat er von Anfang an die Herzen aller erobert, die ihm begegneten.
1766, als er sieben Jahre alt war, wurde er an der Hull Grammar School angemeldet, in der auch Griechisch und Latein gelehrt wurden. …
William Wilberforce war der einzige Sohn…, und als seine Mutter schwer erkrankte, wurde er zu seiner Tante Hannah nach Wimbledon gebracht. Kurz zuvor waren auch sein Vater und seine ältere Schwester verstorben, und wir können uns vorstellen, wie niederschmetternd dies alles für den Jungen Billy war, denn so nannte ihn sein Onkel. Kurze Zeit später übernahmen sie die
Vormundschaft für den kleinen Billy. …
Später schrieb Wilberforce: „ Ich liebte sie, als seien es meine Eltern gewesen…“
Und ohne Frage war ihr größter Einfluss geistlicher Natur…
Die Gesellschaft, in die sie ihn einführten, war eine ganz andere als die ihm aus Hull bekannte. Hull war eine schwatzhafte Welt des Kartenspiels und des Theaters, … und die Familie Wilberforce hielt, wie auch ihre Freunde, nicht viel von einem Nachdenken über den Sinn des Lebens. Das waren keine Themen, über die man beim Kartenspiel gerne plauderte. …
Hier in Wimbledon bekam seine sensible und intellektuelle Natur zum ersten Mal eine sättigendere Speise als die Spitzfindigkeiten der Anglikanismus von Hull.
Wilberforce‘ Tante und sein Onkel standen fest in dem Zentrum einer geistlichen Renaissance, die England zu jener Zeit erlebte. Auch waren sie mit George Whitefield befreundet wie auch mit John Newton, bekannte Männer eines gesellschaftlichen Erdbebens namens „Great Awakening“. … In der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war es auch, dass zwei Studenten in Oxford, John
und Charles Wesley, einen Gebetskreis unter Studenten gründeten, die von Spöttern dann als Methodisten bezeichnet wurden. Später nahm auch der ältere Whitefield Verbindung zu ihnen auf … Phänomene wie Whitefield sprengen unsere heutig Vorstellungskraft.
Zu Tausenden veränderten sich Menschen überall in England.verbitterte Bergleute weinten und sangen, und garstige Fischhändlerinnen hüpften vor Freude. Noch nie hatte jemand diesen armen Leuten das gesagt, was sie nun von diesem Mann hörten, dessen Stimme so laut und klar wie eine Fanfare
klang. …
Whitefield erfasste England wie ein Tornado und hinterließ eine Spur von Hoffnung, Freude und Sinnerfüllung. …
Dreizehnmal überquerte Whitefield den Ozean und entfachte auch in den englischen Kolonien Amerikas das gleich Feuer. In den Kolonien von Maine bis Georgia erreichte er, ohne Mikrofon, regelmäßig Tausende. Benjamin Franklin zweifelt diese Zahlen an. In Philadelphia, in 1739, wollte er sich selbst überzeugen, indem er die Menschenmenge umrundete. Als er die riesige
Runde hinter sich gebracht hatte, schätzte Franklin, es seien in der Tat mindestens zwanzigtausend Menschen gewesen, und er habe sich an keinem Punkt außerhalb der Reichweite von Whitefields Stimme befunden. Franklin wurde schließlich zu einem Freund Whitefields, auch wenn er sich von einer Bekehrung nicht ganz überzeugen ließ.
In den Kreisen der politischen Macht gab es die Befürchtung, dass dies alles eine Bedrohung der sozialen Ordnung darstellen könnte. Die unteren Klassen wurden ja ermutigt, selbstständig zu denken und der reglementierten Religiosität zu widersetzen, was besonders die anglikanische Kirche befürchtete. Auch die Frauen und die Schwarzen fanden einen Platz in diese lebendigen Form des Christentums – all dies war neu und daher beunruhigend in diesem gesellschaftlichen Gärungsprozess, dem Great Awakening.
1769, als Wilberforce zu seiner Tante Hanna zog, verließ Whitefield England zu seiner letzten Amerikareise. Und es ist somit unwahrscheinlich, dass Whitefield und Wilberforce sich persönlich begegnet sind.
Eine andere überragende Gestalt in der damaligen evangelikalen Bewegung war John Newton.
Er war inzwischen Pfarrer in Olney und kam regelmäßig nach London. …
Dort besuchte er auch die Familie Wilberforce zu sogenannten Salonpredigten …
Wilberforce sagte, er habe Newton verehrt wie einen Vater. Der kränkliche aber aufgeweckte Junge muss völlig gefesselt gewesen sein von dem früheren Sklavenhändler. Die riesige, etwas grobschlächtige Gestalt machte sich neben dem zehnjährigen Jungen groß aus, auch weil er selbst kinderlos war. …
Als Wilberforce‘ Mutter ihn zu seiner Tante Hannah und seinem Onkel Samuel schickten, hatten sie nicht die leiseste Ahnung, dass sie den Jungen in eine gärende Brutstätte des Methodismus sandten. Und erst die Vorstellung, er würde sich mit einem früheren Kapitän über die Greuel der Sklaverei unterhalten, war für sie entsetzlich. Die Evangelikalen und die Methodisten, wie sie genannt wurden, waren bei den kulturellen Eliten des achtzehnten Jahrhunderts verhasst. In Hull und London wurden die Methodisten für ihre übermäßige Ernsthaftigkeit in allen Dingen und der Vielzahl ihrer Anstandsregeln kritisiert. …
Es dauerte nicht lange, bis Wilberforce Mutter und sein Großvater Wind von der Situation bekamen. Seine Briefe und sein Verhalten, wenn er zu Besuch nach Hause kam, hatten bei seiner Mutter den Verdacht geweckt, er könne aus dem gefährlichen Brunnen des Methodismus getrunken haben – was ja auch der Fall war. Sein Großvater, der Ratsherr Wilberforce, machte kein Hehl aus seiner Meinung: ‘Wenn Billy Methodist wird‘, dröhnte er, ‚‘bekommt er keinen
einzigen Groschen von mir‘.
Jahre später sagte Wilberforce seinen Söhnen: Ihr könnt Euch heute keinen Begriff davon machen, welch ein Hass damals den Methodisten entgegenschlug.
Seine Mutter Elizabeth reiste nach Lonon, um ihren Sohn zu retten. Für Wilberforce selbst eine äußerst schmerzliche Wendung. Er war ganz untröstlich darüber, nach zwei schönen Jahren nun Tante und Onkel verlassen zu müssen.
Hannah Wilberforce und ihr Mann waren am Boden zerstört. …
„Die Trennung von Tante und Onkel machte mir sehr zu schaffen“, schrieb Wilberforce später. „Es brach mir fast das Herz…“
Nach Hull zurückgekehrt wurde der Zwölfjährige nicht zurück in seine alte Schule geschickt, denn deren Schulleiter, Milner, war inzwischen ebenfalls Methodist geworden. …
So wurde Wilberforce nach Pocklington geschickt, dreizehn Meilen entfernt… Dort blieb er fünf Jahre.
„Hull war ein Ort voller gesellschaftlicher Ablenkungen“, schrieb er später. „Diese Lebensweise bereitete mir anfangs Not, doch allmählich bekam ich Geschmack daran. … Als Enkel eines der wichtigsten Einwohner wurde ich überall eingeladen…, und meine Stimme und meine Liebe zur Musik machten mich noch beliebter. … Meine Freunde scheuten keine Mühe, meine religiösen Empfindungen zu ersticken“. …
Dies waren zutiefst unglückliche Jahre für ihn, aber er kämpfte sich tapfer hindurch. …
Bis 1775 scheint er sich weitgehend zu einem Sechszehnjährigen entwickelt zu haben, wie ihn sich seine Mutter immer erhofft hatte. Eitel und voller Lebenslust, hatte er die Ernsthaftigkeit verloren, die seine Mutter einst so sehr erschüttert hatte. Darüber hinaus waren seine Manieren und Umgangsformen auf Hochglanz poliert … und so begab er sich 1776 auf den Weg zur Universitätsstadt Cambridge …
Kapitel 2
In die weite Welt
Wilberforce war gerade einmal siebzehn Jahre alt, als er sich im St. John’s College
einschreiben ließ… Er befreundete sich gleich mit dem gleichaltrigen William Pitt der ihm dann lebenslang zu einem guten Freund werden sollte. Pitt hatte schon drei Jahre hinter sich, da er schon mit vierzehn Jahren sein Studium begonnen hatte.
Dennoch bedeutete Cambridge einen großen Sprung für Wilberforce, denn er machte schnell die Erfahrung, dass sogar das recht weltliche Hull Cambridge gegenüber geradezu puritanisch wirkte. Es war außerordentlich schwer, von der Oberflächlichkeit und Frevelhaftigkeit der anderen Studenten nicht beeinflusst zu werden. Endlich, im zweiten Jahre, gelang es ihm,
Bekanntschaften abzubrechen, die sich als Taugenichtse und Glücksspieler entpuppt hatten, und sich einer Gruppe anzuschließen, die einen positiveren Einfluss auf ihn ausübte.
Fleiß war Wilberforce leider ein Fremdwort, und viele Jahre später ging er mit einigen der Männer, mit denen er zuerst in Cambridge verkehrt und die ihn schlecht beeinflusst hatten, ins Gericht. Wilberforce fand, sie hätten geradezu darauf hingearbeitet, ihn vom Arbeiten abzuhalten. Trafen sie ihn beim Lernen an, machten sie ihm Vorhaltungen, er sei übereifrig und fügten an, Lernen oder Flaggengruß, wie es damals genannt wurde, sei nur etwas für Schwächlinge. So schikanierten sie ihn so lange, bis er zu einem Urbild der Unbekümmertheit
wurde – denn das war die einstudierte Pose der Oberschicht jener Zeit.
So ließ Wilberforce sich treiben. Er las, was ihm gefiel, verbrachte seine Zeit mit Partys schmeißen, singen oder mit Karten spielen. Auch auf Pferderennen, Konzerten und Tanzveranstaltungen war er ein gerne gesehener Gast. In den Sommermonaten war er in den Landhäusern der Familien zweier wohlhabender Mitstudenten, William Cookson und Edward Christian, aus dem schönen Lake-District…
Zwei weitere Männer in Cambridge würden später eine wesentliche Rolle bei seiner Entscheidung spielen, die Abschaffung des Sklavenhandels zu seiner Sache zu machen.
Gerard Edwards, ein Mitstudent, der ihm ein lebenslanger Freund blieb.
Bei einem Besuch bei Edwards, der eine Middleton -Tochter geheiratet hatte, lernte er Lord und Lady Middleton kennen, beide evangelikale Christen, die Wilberforce auf den Weg zu seinem Lebenswerk bringen sollten.
Ebenfalls in Cambridge war nun William Pitt, der Sohn des großen Premierministers William Pitt (der Ältere) und bewegte sich in noch höheren Kreisen als Wilberforce.
Im Winter 1779/80 hatte Wilberforce begonnen, viel Zeit in London zu verbringen, und so traf er Pitt oft auf der Empore des Unterhauses, wo sie die Debatten verfolgten. Pitt fühlte sich dort wie zuhause, unter der sorgfältigen Ägide seines erfahrenen Vaters hatte er sein ganzes Leben lang Politik gelebt und geatmet.
Wilberforce gewann während dieser Zeit Geschmack an der Politik, doch was genau ihn anzog können wir nur erahnen.
Pitts Einfluss auf Wilberforce in diesen entscheidenden Tage war beträchtlich. An Intelligenz, Charme und Schlagfertigkeit war Wilberforce Pitt ebenbürtig. Er war nicht nur der Sohn eines berühmten Staatsmannes, war von Kindheit an von seinem Vater dazu erzogen worden, auch ein Staatsmann zu werden – einer jener Männer dort unten im Parlamentsaal, deren Worte die Geschichte ihrer großen Nation prägten. …
Wie wir wissen, verfolgte Großbritannien weiterhin den unseligen Kriegskurs gegen die Kolonisten. Im Oktober 1777, als die Briten die Schlacht von Saratoga verloren hatte, wendete sich das Kriegsglück zugunsten der Amerikaner. Dadurch bestärkt, stürzte sich Frankreich ins Kriegsgetümmel, genau wie Pitt es vorhergesagt hatte. … In der Folgezeit, unter König Georg III. gingen die amerikanischen Kolonien verloren. …
Pitt der Ältere hatte nun seinen letzten Auftritt im Parlament im April 1778, gestützt auf seinen achtzehnjährigen Sohn William … Alle Parlamentarier erhoben sich, und mit schwacher Stimme sagte er: ‚…in Gottes Namen, wir dürfen uns nicht vor Frankreich beugen, … denn soll dieses große Königreich sich vor dem Hause Bourbon niederwerfen? …‘
Vier Wochen danach starb der große Premierminister… Das alles prägte Pitt Junior…
Irgendwann im Jahre 1780 gelangte Wilberforce in Hull zu der Entscheidung, in jenem Herbst für das Unterhaus zu kandidieren. Er war nun 21, und Hull war ein wichtiger Wahlkreis …
Die Idee war gewagt und ehrgeizig und würde ihn auch etliches kosten… Bestechungen waren an der Tagesordnung und nicht ganz billig …
Wilberforce verbrachte nun den ganzen Sommer damit, nach Stimmen zu ‘fischen‘, indem er fürstliche Bankette gab, zu denen die Wahlmänner eingeladen waren, und Reden hielt.
Am 24. August, sein 21. Geburtstag, feiert er mit einem guten traditionellen
Spiessochsenbraten… Ein riesiges Lagerfeuer loderte und es gab Essen und Trinken für jedermann in der Stadt Hull. Ein ganzer Ochse, über offenem Feuer gebraten, war immer ein grandioses Schauspiel. Und in der Tradition lag es, dass sich ein Spektakel immer ein herausragendes Ereignis ankündigte …
Die ausgehungerten Scharen von Hull strömten auf die Wiberforce’ Ländereien und alle amüsierten sich prächtig. Der achthundert Pfund schwere Ochse wurde neunundzwanzig Stunden lang an einem eigens konstruierten sechs Meter langen Spieß über den Kohlen gedreht…
Zwei Wochen später, am 11. September war Wahl. Wilberforce gewann mit 1126 Stimmen. Seine Gegner, Lord Manners erhielt 673 und David Hartley 453 Stimmen… der Ochse war nicht umsonst am Spieß gedreht worden …
Kapitel 3 Der Einzug ins Parlament
Am 31. Oktober 1780, mit 21 Jahren, saß Wilberforce zum ersten Mal als Mitglied des Parlaments im Unterhaus. Sein Freund Pitt war überraschenderweise bei einem ersten Versuch unterlegen. … Einige Monate später, mit einem anderen Wahlkreis, gelang es ihm, sich einen Sitz zu sichern. …
Pitt zeigte sich rasch als der geborene Politiker. Er wurde sofort Führer einer Gruppe neuer, junger Parlamentarier, von denen viele gemeinsam in Cambridge gewesen waren. Seine Jungfernrede erregte einiges Aufsehen, und Edmund Burke, selbst ein großer Redner, sagte:
Der Junge ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Vater…
Wilberforce selbst sorgte in seiner ersten Zeit im Parlament für wenig Aufsehen. Es ist nicht bekannt, wann er seine erste Rede hielt. Sein Freund Pitt hingegen hielt kurz darauf seine zweite Rede vorm Parlament, und Wilberforce
selbst schrieb: Er tritt auf den Plan, gleich seinem Vater, als geborener Redner, und ich bezweifle nicht, daß ich ihm eines Tages als erstem Mann im Staat begegnen werde.
Wilberforce konnte nicht ahnen, wie schnell seine vorausschauende Bemerkung sich bewahrheiten würde. Wilberforce hielt sich an Pittsburgh überlegene politische Kenntnisse und Erfahrungen, um sich in diesen für ihn unbekannten Gewässern zurechtzufinden. Politisch blieb er von Pitt unabhängig, auch wenn sie im Grunde auf der selben Seite standen. Beide waren Torys (Konservative) und gehörten somit der gleichen Partei an wie Premierminister Lord North,
waren aber nicht immer seiner Meinung. Wie die Opposition unter Lord Shelburne und Lord Rockingham stellten sie sich der Politik des Premiers entgegen, wenn es um den katastrophalen Krieg mit den Kolonien ging, der sich inzwischen in seinem erbärmlichen Finale befand. …
Und so tobten dieselben Redeschlachten wie vor Monaten, als Wilberforce und Pitt von der Empore aus zugeschaut hatten. An vorderster Stelle stand der Krieg, und die beiden Giganten Fox und North mischten immer kräftig mit. Nur Wilberforce‘ Standort hatte sich wirklich verändert – er befand sich nun mitten im Geschehen. …
Als der beleibte Premier North die Nachricht über die kriegsentscheidende Niederlage des Generals Marquis von Cornwallis in Yorktown im Oktober 1871 erhielt, hat er gerufen: Oh, es ist alles vorbei. Es ist alles vorbei.
Mit seinem genialen Nachahmungstalent konnte Wilberforce mit einer täuschend echten Imitation des runden Staatsmanns in geselliger Runde einen ganzen Tisch zum Lachen bringen.
Wilberforce konnte diese Gaben bald in weitaus höheren Kreisen vorführen. Sein überwältigender Erfolg bei der Wahl hatte ihn in die Londoner High Society katapultiert und ein gesteigertes Maß soziales Ansehen verschafft. Nun spürte er: Er war angekommen…
Der Club, den Wilberforce am häufigsten besuchte, war ein kleiner namens Goostree‘s, in dem auch Pitt nahezu jeden Abend beim Essen und Kartenspiel anzutreffen war. Wilberforce spielte ebenso wie jeder andere, weil sich das für die Angehörigen jener Klasse einfach so ziemte. …
Bei Goostree‘s vertieften sich Freundschaften mit einigen aus der Cambridger Gruppe. … Und Pitt fühlte sich wohl, er konnte hier den Erwartungsdruck, der auf ihm lastete, ein wenig vergessen. …
Wilberforce schreibt an einer Stelle: Ich halte Pitt für den geistreichsten Menschen, den ich persönlich kannte. Ein sehr starkes Kompliment. Denn die Zeit sollte es zeigen, dass Wilberforce dem nicht viel nachstand…
Geistreiche Wortgefechte und Unterhaltung mit Esprit – nicht nur in der politischen Auseinandersetzung, sondern auch im Spiel unter Freunden – machten die Goostree‘s Gang aus. Zu ihrer Lieblingsbeschäftigung gehörte es, sich im intelligenten Plauderton auszutauschen und schlagfertig verbale Gegenangriffe zu parieren. Sie nannten es foyning oder foining, welches aus der Sprache des Degensports kommt, und geschicktes Parieren meint …
Wilberforce‘s Lebensstil in seinen ersten Londoner Jahren war eine Art Fortführung der Cambridger Zeit. Endloses foining, Trinken, Tanzen und Singen. Sogenannte glees und catches zu singen, war in den Herrenclubs des achtzehnten Jahrhunderts sehr beliebt. Catches waren A-cappella-Lieder für mehrere Stimmen, meist mit humorvollem, aber auch mit anzüglichem Text. …
Wilberforce‘s Singstimme war weithin berühmt und trug ihm den Beinamen Nachtigall des Unterhauses ein. …
All diese Männer waren wohlhabende und privilegierte Söhne, die ihren Wohlstand in vollen Zügen genossen. … Aber alle waren völlig ahnungslos und unbekümmert über das unermessliche Leid in der Welt außerhalb ihres Gesichtskreises. Der Ausdruck Adel verpflichtet – der Gedanke, dass diejenigen, die begütert waren, den Armen zu helfen – wurde erst ein halbes Jahrhundert später geprägt. Wilberforce jedoch besaß ein Gespür von Richtig und Falsch, was andere ihm abspürten, auch wenn die ethische Frage bei Weitem nicht mehr die
Rolle spielte wie in seinen frühen Jugendjahren …
Während seiner ersten sechzehn Monate im Parlament sagte Wilberforce wenig…
Doch am 22. Februar 1782 wagte sich Wilberforce zum ersten Mal in tiefere Gewässer hinaus. Zufällig war es der fünfzigste Geburtstag von George Washington, der Mann, der Lord North und König Georg III. an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte.
Wilberforce ging in seiner Rede über die regionalen Interessen hinaus und startete einen verbalen Angriff auf Lord North und seine Regierung. Dieser war sprachlos über die Redekunst und den Mut des jungen Wilberforce…
Während der nächsten zwei Jahre verdiente sich Wilberforce seine Spuren als gewiefter parlamentarischer Debattierer. Als Lord North im April 1783 mit seinem Gegenspieler Fox eine Koalition bildete, ging Wilberforce mit ihrem prinzipienlosen Zusammenschluss besonders hart ins Gericht. Auch der König war außer sich über den Verrat durch diese Allianz. … Mehrere Wochen versuchte er dagegen anzugehen. Vergeblich…
Nach einigen Monaten versuchte der König, Pitt, obwohl erst vierundzwanzig, zu überreden, eine Regierung zu bilden und das Amt des Premierministers anzunehmen. Doch die Zeit war noch nicht reif dafür…
Im September 1783 reisten Pitt und Wilberforce gemeinsam nach Frankreich. …
Schließlich reisten sie im Oktober nach Paris und wurden vom Erzbischof am königlichen Hof vorgestellt. Die hübsche Marie Antoinette speiste mit ihnen, „die sich stets mit größter Liebenswürdigkeit an der Konversation beteiligte“, schreibt Wilberforce…
Am 20. Oktober tafelten sie im Hause Lafayette, wo sie Benjamin Franklin begegneten, der zu dieser Zeit schon eine internationale Berühmtheit war. Franklin verkörperte die Aufklärung, eine lebendige Ikone des amerikanischen Pragmatismus. … Es war ein außergewöhnlicher Moment.
Der vor Esprit sprühende vierundzwanzigjährige Wilberforce begegnet dem vor Esprit sprühenden siebenundsiebzigjährigen Franklin. Natürlich wusste Franklin, dass der junge Wilberforce sich gegen den amerikanischen Krieg und die Regierung von Lord North gewandt hatte. Was keiner damals ahnen konnte, dass hier zwei Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei an einem Tisch saßen. Wilberforce würde seinen Kampf gegen die Sklaverei 1987 aufnehmen… Franklin hatte sich schon oft gegen die Sklaverei ausgesprochen…
Am 24. Oktober war die Reise zu Ende, denn Pitt wurde nach Hause gerufen. Der König war in dem verzweifelten Bemühen, der Fox-North-Koalition ein Ende zu machen… Am 19. Dezember 1783 berief er den erst vierundzwanzigjährigen William Pitt zum jüngsten Premierminister der englischen Geschichte.
Die Vorstellung, ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren solle ein Land führen, war für die damalige Welt ebenso schockierend wie für die unsrige.
Pitt war zwar Premierminister, doch seine Situation politisch immer noch sehr prekär. Jeder einzelne Minister in seiner neuen Regierung entstammte dem Oberhaus, sodass Pitt im Unterhaus praktisch allein auf weiter Flur stand. Dort war Wilberforce sein größter Verbündeter und dieser stand ihm treu zur Seite. …
Dennoch war es nur eine Frage der Zeit, bis Pitt gezwungen sein würde, allgemeine Wahlen auszurufen, die über sein Wohl und Wehe entscheiden würden. …
So wurde am 25. März 1874 in der Grafschaft Yorkshire eine Bürgerversammlung einberufen… Yorkshire war der größte und wichtigste Wahlkreis ganz Englands und wurde stets von Angehörigen des Landadels vertreten. Und gerade hier, auf aussichtslosem Posten, bewarb sich der Kaufmannssohn Wilberforce um einen Sitz. …
Einem Freund schrieb er: „Ich hatte damals bei mir selbst entschieden, für die Grafschaft York zu kandidieren, obwohl es jedem anderen als ein wahnsinniger Plan erschienen wäre… Es war eine kühne Idee, doch ich war damals sehr ehrgeizig.“
Als Veranstaltungsort der Bürgerversammlung diente die riesige Rasenfläche des Schlosses York, und auch Wilberforce hatte sich in die Liste der Redner eintragen lassen. Er wollte seinem Freund Pitt den Rücken stärken. … Doch seine Rede ging nun über die Verteidigung Pitts hinaus.
Später schreibt er: “Auch wenn ich es heute kaum begreifen kann, ich war auf die ungeheuerliche Idee gekommen, diese Gelegenheit zu nutzen, um einer der beiden Repräsentanten für Yorkshire im Parlament zu werden, was eigentlich unmöglich war. Dieser wichtigste englische Wahlkreis wurde stets vom Landadel vertreten…“
Am späten Vormittag wurden die ersten Reden gehalten…und erstreckten sich bei kalten Regenschauern über sechs Stunden, für heute unvorstellbar. …
Wilberforce begann seine Rede um vier Uhr nachmittags…, und da er kein Riese war, stellte er sich auf einen der Tische, um die viertausend Zuhörer alle gut zu erreichen, um Pitt zu unterstützen und die politische Landschaft zu verändern… Alle lauschten wie gebannt…
Dann plötzlich gewann das Ganze noch an Dramatik: Wilberforce sprach seit etwa einer Stunde, als ein berittener Bote des Königs auf den Schlosshof galoppiert kam. In Windeseile hatte er den ganzen Weg von London, normalerweise zwei Tagesritte, zurückgelegt. Aufgebrochen war er am erst am frühen Nachmittag des Vortages. Doch seine Ankunft just in diesem Augenblick hätte wirkungsvoller geplant sein können. …
Er überreichte Wilberforce den Brief, mit dem er Hunderte von Meilen durch Regen und Hagel geritten war…
Wilberforce las sorgfältig und am Ende prangte die Unterschrift: W. Pitt. Mit dem Gespür, das er für solche Situationen besaß, verkündete Wilberforce nun der Menge, ermächtigt durch Pitt, das Parlament sei am heutigen Tag aufgelöst worden.
„Wir haben nun über eine ernste Krise zu entscheiden“, sagte er. „Jetzt hängt alles von Ihnen ab“. Er schilderte ihnen die Situation und forderte sie auf, nun so zu handeln, wie ihr persönliches Ehrempfinden es ihnen gebot.
Es war ein Jahrhundertauftritt, eine der besten Reden in Wilberforce Leben, und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie ihn auf seinen Parlamentssitz für Yorkshire katapultierte. Es war einer dieser Momente im Leben eines Menschen, von denen alles andere abzuhängen scheint. Allein der Zeitpunkt der Ankunft des Briefes war so großartig, dass man das Gefühl hat, es sei ein Wunder. …
Unmittelbar danach fand ein großes öffentliches Abendessen in der York Tavern statt…
Gegen Mitternacht, als die Teilnehmer auseinandergingen, rief jemand: „Bravo, kleiner Wilberforce… Ich gebe fünfhundert Pfund, um Sie für die Grafschaft ins Parlament hineinzubringen“ Darauf erhob sich unter den anderen ein Chor der Zustimmung: „Wilberforce vor! Wilberforce für die Freiheit! … Es waren noch einige Hürden zu nehmen …
Wilberforce war nun Knight of the Shire für die Grafschaft York… Am 8. April 1784 schrieb ihm Pitt aus der Downing Street: “Mein lieber Wilberforce, ich kann Dir nicht genug zu einem solch herrlichen Erfolg gratulieren“.
Der Wechsel in der politischen Landschaft war tiefgreifend, dramatisch und historisch und würde noch viele Jahre lang die englische Nation prägen.
Doch eine weitere Veränderung warf ihre Schatten voraus.
Kapitel 4
Die große Wandlung
⁃ Amazing Grace! How sweet the Sound
⁃ that saved a wretch like me.
⁃ I once was lost, but now am found
⁃ was blind, but now I see
O Gnade Gottes wunderbar
hast du errettet mich.
Ich war verloren ganz und gar,
war blind, jetzt sehe ich.
John Newton
Wilberforce kehrte als Nationalheld nach London zurück… Seine Söhne Robert und Samuel drückten die glänzenden Perspektiven ihres Vaters im Rückblick folgendermaßen aus:
„Schon jetzt reichten seiner Errungenschaften aus, um sich daran zu berauschen… Er nahm an allen Sitzungen des neuen Parlaments teil und unterstützte seinen Freund Pitt, in dem er bei den Abstimmungen jeweils eine triumphale Mehrheit sicherstellte.“
Am 14. Mai kam Wilberforce also wieder in die Hauptstadt, um sein neues Amt als Repräsentant für Yorkshire wahrzunehmen. Solch ein Verbündeter erwies sich für Pitt als unschätzbarer Segen, hatte er doch einmal über Wilberforce gesagt, er besitze „unter allen Männern, die ich kenne, die größte natürliche Redegewandtheit“. …
Einige Zeit später reiste Wilberforce in die Küstenstadt Scarborough, wo viele der wohlhabenden Leute aus Yorkshire ihren Sommer zu verbringen pflegen. Dort traf er Isaak Milner, aus Leeds, der vor fast zwei Jahrzehnten sein Lehrer an der Hull Grammar School gewesen war. Milner hatte sich inzwischen in akademischen Kreisen einen guten Namen gemacht. Er war eine übergroße Gestalt, sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinn.
Was sein Verstand betraf, so sprengte er alle Maßstäbe, heute würden wir ihn ein Supergenie nennen …
Nun reisten beide in der Kutsche durch Frankreich, wodurch sie Zeit hatten für stundenlange Gespräche. Dabei machte sich Wilberforce manchmal über den Glauben seiner Jugend lustig.
Milner gab Kontra und verteidigte den orthodoxen christlichen Glauben der Methodisten, den Wilberforce als „unzeitgemäß und dumm“ bezeichnete. Milner sagte am Schluß der Reise: “Ich bin Ihnen in diesem Dauerfeuer nicht gewachsen, Wilberforce, aber wenn Sie wirklich ernsthaft über diese Themen sprechen wollen, werde ich mich gerne mit Ihnen darauf einlassen.“
Wilberforce erhielt in Frankreich einen Brief von Pitt, mit der Bitte, rechtzeitig wieder in London zu sein, wegen der neuen Gesetzentwürfe…
In drei Monaten wollten beide ihre Frauen in Nizza wieder abholen…
Kurz vor ihrer Abreise im Februar 1785 blieb Wilberforce Blick an einem Buch seiner Cousine Bessie Smith hängen. Es trug den Titel: The Rise and … (Anfang und Fortgang wahrer Gottseligkeit in der menschlichen Seele), geschrieben von Philip Doddridge. Wilberforce fragte Milner nach seiner Meinung darüber. „Es ist eines der besten Bücher…“, erklärte Milner.
„Nehmen wir es mit und lesen wir es unterwegs“. Und das taten sie. …
Und so machten sie sich von Nizza über Antibes mit dem Buch im Gepäck auf den Weg. …
Man möchte ihre brillanten Gespräche in ihrer Chaise gerne gehört haben, die sie führten, quer durch Frankreich, vier Jahre bevor das Land in einer Revolution explodieren würde. Von Nizza bis Calais beträgt allen die Luftlinie tausend Kilometer, doch auf den oft ungepflasterten Straßen des späten 18. Jahrhunderts wirkte die Straße doppelt so lang. …
Es schneite heftig, als sie die Alpen überquerten. …
Manchmal, wenn es auf einer vereisten Straße bergauf ging, mussten sie aussteigen… Einmal begann die Chaise seitlich abzurutschen. Die Pferde verloren den Halt, und das Gewicht der Chaise zerrte sie rückwärts, auf den Rand eines Abgrunds zu. Der Kutscher konnte sie nicht halten…, das Grauen nahm seinen Lauf, bis Milner, der Riese aus Yorkshire eigenhändig die Kutsche packte und sie mit unvorstellbarer Kraft vor dem Abrutschen in den Abgrund bewahrte. …
Auf der Bergkuppe angekommen, bestiegen Milner und Wilberforce wieder ihre Kutsche, hüllten sich in ihre Decken und setzten ihre Gespräche fort …
Robert und Samuel Wilberforce schreiben, dass hier zwischen dem riesigen und oft ungehobelten Philosophen und dem erfolgreichen Staatsmann eine starke Freundschaft reifte, die bis zum Ende ihre Lebens Bestand hatte.
Die verzauberten Gespräche im verschneiten Gebirge hatten in Wilberforce das Interesse geweckt, die Heilige Schrift selbst zu erforschen.
Nachdem sie London erreichten, wirkte Wilberforce nach außen hin wie immer. Doch tief in seinem Inneren war etwas in Gang gekommen. In aller Stille war ein Samenkorn auf den Grund seiner Seele gesät worden. …
Fürs Erste jedoch blieb alles beim Alten. Wilberforce aß mehrmals die Woche mit Pitt zusammen… und abends wurde der Tag mit Gesang und Tanz beendet…
In Wilberforce‘ Tagebuch jedoch sehen wir die ersten Anzeichen dafür, dass die „Große Wandlung“, wie er es später nennen würde, begonnen hatte.
An einen wohlhabenden Freund schreibt er nun: „Seltsam, dass die wohlhabendsten und religiösesten nicht erkennen, dass ihre Pflichten mit ihrem Vermögen wachsen und dass sie sich eine Strafe zuziehen, wenn sie es nur ausgeben, um sich selbst an Essen und Trinken zu ergötzen.“ …
Wilberforce große Wandlung vollzog sich nicht über Nacht. … Seine Bekehrung besaß größere Ähnlichkeit mit der des heiligen Augustinus, der vom Verstand her Klarheit über die Lehren des christlichen Glaubens gewann. In seinem Tagebuch schreibt er: Was für ein Wahnsinn ist der Weg, den ich eingeschlagen habe. Ich glaube alle diese großen Wahrheiten der christlichen Religion, aber ich handle nicht so, als ob ich sie glaubte. Er erkannte, daß er Gott den Rücken gekehrt hatte, aber merkwürdigerweise wusste er nicht, wie er umkehren könnte. …
In einem Brief an seinen Freund Lord Muncaster aus jener Zeit zeigt er sich verzweifelt über die eingefleischte Selbstsucht, die er unter den Reichen wahrnahm… Zum ersten Mal klingt bei ihm ein Ton an, der sich wenige Jahre später zu einer seiner beiden Lebensmelodien entwickeln würde:
„…sondern es ist die allgemeine Verderbtheit der Zeit, die unter den Reichen entsprang und nun ihren verderblichen Einfluss ausdehnte und ihr zerstörerisches Gift durch den ganzen Leib des Volkes ausbreitete“.
Wilberforce dachte offenbar, wenn er diese Wahrheiten akzeptierten und nach ihnen leben wolle, müsse er das Parlament verlassen und in Sack und Asche Buße zu tun. Was konnte er tun?
Wilberforce hatte das Gefühl, er müsste sich der Welt erklären. Anscheinend war er zu der Auffassung gelangt, dass er ohne einen solchen Schritt Gott verleugnen würde. Es quälte ihn in seinem Inneren, dass er Gott so viele Jahre verleugnet und völlig seinem eigenen Vergnügen und Ruhm gelebt hatte, während er Gottes Liebe links liegen ließ und die Armen und Leidenden um sich herum übersah. …
Wilberforce war an den Punkt gekommen, an dem sein Schuldbewusstsein gegenüber Gott so groß geworden war, daß nichts mehr half, als sich selbst öffentlich an den Pranger zu stellen. …
Schnell machte das Gerücht die Runde, Wilberforce sei „vom Wahn der Melancholie“ befallen.
Der wichtigste Freund in seinem Leben war William Pitt. In einem Brief vom 24. November schreibt er ihm, dass er selbst der Politik den Rücken kehren und nun ganz für Gott leben müsse.
Wilberforce hatte niemanden in seinem Leben, der ihm hätte helfen können, außer Pitt. Milner, der andere gute Freund, war weit weg in Cambridge …
Was er also dringend brauchte, war jemand, der ihn verstehen würde…, denn er steckte tief in den Zwängen seiner Schuldgefühle…
Am 30. November endlich wendet sich das Blatt. Er denkt daran, John Newton zu besuchen, den er seit seinen Kindheitstagen nicht mehr gesehen hat. Newton stand schon zwanzig Jahre im Licht der Öffentlichkeit und war seinerzeit der bekannteste Evangelikale Londons. Whitefield war schon vor Jahren gestorben und Wesley war inzwischen alt geworden. Newton war unter den Evangelikalen des 18. Jahrhunderts eine Integrationsfigur mit Vorbildcharakter. Newton war
sich der Gnade Gottes wunderbar besonders bewusst und somit der richtige
Gesprächspartner für Wilberforce.
Am 2. Dezember 1785 schrieb er einen Brief: „Lieber Pastor John Newton, …ich möchte ein ernstes Gespräch mit Ihnen führen, … nennen Sie mir Zeit und Ort, je früher, desto besser… Bedenken Sie, dass es diskret sein muß… Man fühlt sich an Nikodemus erinnert, der Jesus auch im Schutze der Dunkelheit aufsuchte…
Am kommenden Mittwoch, den 7. Dezember, besuchte Wilberforce Pastor Newton in Hoxton am Charles Square…
Newton reagierte nicht wie Wilberforce gedacht hatte, sondern gab den Rat, „zu bleiben, wo er sei, denn Gott könne ihn dort gut gebrauchen…“
Wilberforce schreibt hinterher: „Als ich fortging, befand sich mein Geist in einem ruhigen Zustand, ich war demütiger und sah inniger zu Gott auf“.
Nun teilte er seinen Freunden dies alles mit, auch seiner Tante Hannah, die all die Jahre sehr für ihn gebetet hatte…
Am 11. Dezember besuchte Wilberforce die St. Mary Woolnoth Kirche, in der Newton predigte. Anschließend fuhren beide gemeinsam in Newtons Chaise nach dem 15 km entfernten Wimbledon. Abends gingen beide gemeinsam im Park von Wimbledon spazieren, und Wilberforce begriff schnell, dass seine Deckung aufgeflogen war. …
„Rechne damit, zu hören, dass ich jetzt überall als Methodist ausgegeben werde“, schreibt er. „Gebe Gott, dass es der Wahrheit entspricht“.
Im April hatte Wilberforce Lebens- Gemütszustand sein Gleichgewicht wieder erlangt. Mitte April empfing er zum ersten Mal das Abendmahl. Im Tagebuch formuliert er immer kurz: In Stock, in der Kirche – herrlicher Tag – empfing Abendmahl – sehr glücklich“.
Kapitel 5.
Ihr müsst von neuem geboren werden
Als Wilberforce 1786 ins Unterhaus zurückkehrte, war er ein anderer Mensch geworden. Noch hatte er sich nicht auf die beiden großen Anliegen festgelegt, denen er den Rest seines Lebens widmen würde. Er würde Zeit brauchen, um sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden. Zwei Veränderungen wurden gleich zu Anfang deutlich: Erstens ein neue Einstellung zum Geld, und zweitens die neue Einstellung zur Zeit. … Alles was ihm gehörte – sein Reichtum, seine Talente, seine Zeit – gehörte nun Gott und war ihm nur anvertraut. Gott hatte ihn gesegnet, damit er ein Segen für andere werden konnte, besonders für die weniger Begünstigten. …
Seine erste neue Einstellung offenbarte sich rasch und dramatisch an Lauriston House, das er zwar von Tante Hannah vererbt bekam, das aber nur mit vielen Bediensteten im Schuss gehalten werden konnte. Er wurde klar, dass er mit diesen Kosten ein halbes Dorf voller armer Leute ernähren konnte. Also beschloss er, Lauriston House zu verkaufen…
Noch dramatischer veränderte sich Wilberforce Einstellung zur Zeit. Er hatte das Gefühl, viel Zeit mit unnützen Dingen verloren zu haben…
Am 31. Juni schreibt er in sein Tagebuch: „Habe vor, meine Zeitplanung zu verbessern. Ich hoffe, mehr als bisher zu Gottes Ehre un zum Wohl meiner Mitgeschöpfe zu leben“.
Mit seiner eigenen Charakterentwicklung beschloss Wilberforce sofort zu beginnen. Er nahm sich vor, mehr gute Bücher zu lesen, was er lebenslang durchhielt…
Als die Parlamentssitzungen Ende Juli zu Ende gingen, fuhr Wilberforce zu seiner Mutter nach Scarborough im Norden des Landes. Seine Mutter hatte schon gerüchteweise davon gehört, er sei „dem Wahn der Melancholie“ verfallen. … Es war einfach unerträglich… Nun kam er selbst nach Scarborough.
Doch Wilberforce erschien nicht mit griesgrämiger Miene und in Sack und Asche. Im Gegenteil, es schien ihm gut zu gehen und, obwohl er „theologisch ernst geworden“ war, wie man damals sagte, war er nach außen hin von sonnigem Gemüt, ja voller Freude. Das Ungewöhnlichste – und für Mrs. Wilberforce wahrhaft ein Zeichen eines „Großen Wandels“, der ihr freilich
willkommen war – war das auffällige Fehlen jener Reizbarkeit und jenes Jähzorns, den er manchmal an den Tag gelegt hatte, besonders ihr gegenüber. Auch anderen fiel das auf. Mr. Sykes, der gerade zu Gast war, sagte zu Mrs. Wilberforce: „Wenn das ein Wahn ist, wird er uns hoffentlich alle beißen“…
1785, in den ersten Monaten nach dem „Großen Wandel“, scheint Wilberforce hart mit sich ins Gericht gegangen zu sein. …
…Er wusste, seine Schlagfertigkeit, sein Sarkasmus, seine Fähigkeit, andere nachzuahmen, zu scherzen und zu singen, alles diente dazu, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. … Nun war er fest entschlossen, einen neuen Weg einzuschlagen..“.
Während sein Freund Pitt dicht an der Seite seines brillanten und hochverdienten Vaters gestanden hatte, der seinen Sohn schon früh schulte, ein großer Redner und Politiker zu werden, war Wilberforce vaterlos aufgewachsen und von seinen Freunden und seiner Mutter ermuntert worden, zu tun, was immer ihm beliebte. Während Pitt nun die reichliche Ernte all jener Jahre väterlicher Strenge einfuhr, war Wilberforce ein undisziplinierter Tunichtgut, der ausschließlich aufgrund seiner Begabung in seine jetzige Position aufgestiegen war. Für den Rest seines Lebens würde er den Preis für jene untätigen Jahre zahlen. …
Wenn er es wagte, das wusste Wilberforce, sich seinen Schwächen zu stellen, würde Gottes Geist ihm helfen, seine Schwächen und Fehler zu überwinden. …
Wilberforce dramatischster Schritt war wohl der Austritt aus gleich allen fünf exklusiven Gesellschaftsclubs, zu denen er gehörte. …
Eine wichtige Rolle spielte zu dieser Zeit der Rat von Pitt und Newton. Newton schrieb ihm in einem Brief: „Man hofft und glaubt, dass der Herr Dich … zum Wohl der Nation aufgerichtet hat“.
Ähnlich schrieb ihm Pitt: „Die Prinzipien wie auch die Praxis des Christentums sind doch einfach und führen nicht nur zum Nachsinnen, sondern auch zum Handeln“.
Somit war der Dezember 1785 für Wilberforce ein historischer Moment. Sowohl Pitt als auch Newton hatten ihm klar geraten, in der Politik zu bleiben…
Wilberforce Entscheidung, weiterhin in der Politik zu bleiben, ermöglichte es Generationen zukünftiger Christen, christliche Gedanken in diesen bislang säkularen Bereich der Gesellschaft zu übertragen.
Kapitel 6
Die Reformation der Sitten
Der allmächtige Gott hat mir zwei große Ziele vor Augen gestellt: die Bekämpfung des Sklavenhandels und die Reformation der Sitten.
William Wilberforce
Wir Amerikaner neigen allzu oft dazu, die Vergangenheit zu romantisieren und vergangene Zeiten in das zauberhafte Licht idyllischen Friedens zu tauchen…
Wenn wir das Leben in Großbritannien im 18. Jahrhundert betrachten, sehen wir eine brutale, dekadente und gewalttätige Gesellschaft, mit Kinderarbeit, Alkoholsucht, häufige öffentliche Hinrichtungen und dergleichen mehr. Die Sklaverei war eine der schlimmsten Missstände, aber sie war weithin unbekannt.
Nur wenige Briten bekamen je auch nur die leisesten Anzeichen davon mit. Wer konnte ahnen, dass ein großer Teil des Wohlstands der boomenden Wirtschaft
ihrer Nation auf der anderen Seite der Welt mit Hilfe brutalster Misshandlung anderer Menschen, darunter Frauen und Kinder erzeugt wurde? Die meisten britischen Bürger hatten noch nie gesehen, wie ein Mensch gebrandmarkt, ausgepeitscht oder mit Daumenschrauben gefoltert wurde. Sie hatten keine Ahnung, dass die Zuckerrohrplantagen so brutal waren, dass die meisten Sklaven innerhalb weniger Jahre buchstäblich zu Tode geschunden wurden…
Gewiss war Wilberforce, was den Sklavenhandel betraf, nicht so ahnungslos wie die meisten Briten. Direkt vor seinen Augen jedoch öffnete sich ein riesiges Arsenal anderer gesellschaftlicher Übel. Nachdem er zum Glauben gekommen war, war Wilberforce tief bewegt von dem gesellschaftlichen Verfall um ihn her. Er führte dies gesellschaftlichen Übel in Großbritannien auf denselben Ursprung zurück wie die Sklaverei: Die britische Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich von dem wahren Christentum weit entfernt, und der
christliche Charakter der Nation hatte sich nahezu verflüchtigt.
Aber es gab auch eine gewisse Scheu vor Religiosität, denn es wurden, besonders in Frankreich, zahlreiche Exzesse im Namen der Religion oder Kirche verübt. Das führte zu Abwehrreaktionen gegen alles was Religion hieß. Wie der sprichwörtliche tote Fisch, der vom Kopf her zu faulen beginnt, begann die britische Gesellschaft, sich von der Spitze her zu zersetzen.
Zu den Merkmalen der britischen Aristokratie Ende des achtzehnten Jahrhunderts gehörte ein stark selbstsüchtiger Charakter, der keinen Gedanken an die Lebensbedingungen derer verschwendete, die unter ihnen standen. Der englische Adel orientierte sich an seinem gallischen Gegenstück auf der anderen Seite des Kanals, und das schon seit hundert Jahren. Die berüchtigten Exzesse der Reichen und des Adels im vorrevolutionären Frankreich wurden in England aufs Getreueste nachgeahmt.
König Georg III. wohlgemerkt hob sich als seltene Ausnahme von dem moralischen Verfall seiner Umgebung ab. … Er hatte den aufrichtigen Wunsch, seinen Untertanen ein Vorbild zu sein. Er war seiner Frau, Königin Charlotte, ein treuer Ehemann und als Vater vernarrt in seine Töchter, denen er jeden Abend aus der Bibel vorlas.
Leider war von diesem allen bei seinen Söhnen nichts zu finden… Der Herzog von Wellington bezeichnete die Söhne Georgs III. als „Mühlsteine am Hals der Regierung“. Auch im Parlament hatte die Alkoholsucht epidemische Ausmaße angenommen – und galt „als der letze Schrei“. Fox und Sheridan waren oft betrunken im Unterhaus, und selbst Pitt, in dem viele ein Muster des Anstands sahen, ließ sich betrunken im Parlament blicken, wie auch Lord Melville, dessen gewiefte Realpolitik 1792 den Sklavenhandel um weitere fünfzehn Jahre am
Leben erhalten sollte.
Die armen Schichten litten unter der Trunksucht ebenso schlimm oder noch schlimmer. Das Getränk der Wahl lautete hier jedoch nicht Rotwein, sondern Gin, der in Strömen floss…
Die Gin-Welle und der darauf folgende soziale Vefall dauerte über ein halbes Jahrhundert…
Öffentliche Hinrichtungen, Stierhetze durch die Stadt, mit abgerichteten Bulldoggen, daher das Wort, öffentliche Scheiterhaufen… und andere Grausamkeiten waren an der Tagesordnung …
All diese Dinge gingen Wilberforce durch den Kopf als er darüber nachdachte und betete, wie sein neuer Glaube sich praktisch auswirken sollte.
Im Jahre 1787 scheitern zwei seiner Gesetzentwürfe. Der eine betraf ein Verbot der öffentlichen Verbrennung von Frauen. Zwar durften ab 1786 keine Frauen mehr lebendig verbrannt werden, jetzt galt, sie wurden vorher erhängt…
Das andere betrifft ein 1752 erlassenes Gesetz, dass Leichen Hingerichteter an Ärzte verkauft werden durften, die stets auf frische Leichen zum Sezieren angewiesen waren. Dadurch entstand ein regelrechter Schwarzmarkt für Leichen…
In einem Brief an seinen Freund Christopher Wyvill schreibt Wilberforce: „…der wirksamste Weg, größeren Verbrechen vorzubeugen ist derjenige, die geringeren zu bestrafen und zu versuchen, jenen allgemeinen Geist der Zügellosigkeit zu bekämpfen, welcher der Vater aller Arten von Lastern ist. Ich weiß, dass diese Mittel durch Regelung des äußeren Verhaltens noch nichts an den Herzen der Menschen ändern, doch selbst darauf werden sie letzten Endes eine Wirkung zeitigen, und wir sollten zumindest das Drängen der Versuchung soweit beseitigen, dass sie nicht mehr den Appetit weckt, der sonst vielleicht untätig schlummern würde. … Die daraus abgeleitete Politik wurde in New York City umgesetzt, worauf die Verbrechensrate innerhalb weniger Jahre von einer der höchsten zu einer der niedrigsten des Landes sank. Die kleinsten Vergehen – Schwarzfahren in der U-Bahn, aggressives Betteln und Ähnliches -, die
man früher nicht geahndet hatte, wurden nun offensiv verfolgt. Die Botschaft, die von dieser Veränderung ausging lautete: Es werden keinerlei Gesetzesverstösse toleriert. Und erstaunlicherweise sackte die Statistik der Morde und der anderen schweren Verbrechen in die Tiefe.
Wilberforce erfasste diesen Gedanken vor über zwei Jahrhunderten, im Alter von siebenundzwanzig Jahren. Noch eindrucksvoller ist, daß er sich dann dranmachte, diesen Gedanken im ganzen britischen Weltreich in die Tat umzusetzen. Es ist nicht übertrieben, diese einzelne Beobachtung als Hebel anzusehen, mit dessen Hilfe der kleine Wilberforce eine ganze Welt der Brutalität und des Elends durch eine ganze Welt der Zivilisiertheit und Hoffnung
ersetzte – eine Welt, die wir heute als die viktorianische Ära bezeichnen.
Kapitel sieben
Die Proclamation Society
…das Gute in Mode zu bringen.
William Wilberforce
Wilberforce Pläne für die Reformation der Sitten konzentrieren sich auf ein Dokument mit dem herrlich altmodischen Titel „Proklamation zur Forderung der Frömmigkeit und Tugend und zur Verhütung des Lasters, der Gottlosigkeit und der Unmoral“.
Jeder König hatte bei seiner Thronbesteigung traditionell eine solche königliche Proklamation erlassen. Kaum war das geschehen, so wurde sie sofort unverdrossen ignoriert. Derartige Proklamationen waren bloße Formalitäten, ein Bestandteil der allgemeinen Heuchelei in der Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts.
Doch Wilberforce hatte eine Idee. Irgendwie war ihm ein altes Buch mit dem Titel History of the Society for the Reformation of Manners in the Year 1692 (Geschichte der Gesellschaft für die Reformation der Sitten) in die Hände gefallen.
Daraus erfuhr er, dass die königliche Proklamation von Wilhelm III. und seiner Frau Maria , als er 1689 den britischen Thron bestieg, tatsächlich breite und spürbare Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte. Dazu hatte Wilhelm III. eine „Proclamation Society“ gegründet und dieser die Aufgabe übertragen, sie in die Tat umzusetzen. Dies hatte gut funktioniert.
Wilberforce cleverer Plan bestand nun darin, Georg III. zu überzeugen, diese königliche Proklamation nochmals herauszugeben.
Wilberforce wichtigster Verbündeter war der Bischof von London, Beilby Porteus.
Porteus schlug Wilberforce vor, den Plan zuerst Pitt vorzutragen. Pitt fand den Plan unterstützenswert, und so wurde der Plan dem Erzbischof von Canterbury vorgetragen, der auch seinen Segen dazu gab. …
Die königliche Proklamation wurde am 1. Juli 1787 erlassen. Obwohl Wilberforce alles in Gang gebracht hatte, hielt er sich dabei sehr im Hintergrund, denn schon der leiseste Verdacht, dies könnte etwas mit dem Methodismus zu tun haben, würde etliche andere Mitstreiter verschrecken. Wilberforce stellte es deswegen öffentlich auch nie als eine religiöse oder christliche Maßnahme dar. Es musste alles als „anständig“ erscheinen und galt als eine Maßnahme, das gesellschaftliche Klima zu verändern, in dem so viele Arme lebten.
Am 7. Juli fuhr Wilberforce nach Whitehall, um den Herzog von Montague als Vorsitzenden zu gewinnen. Dieser war völlig unreligiös, nahm aber die Einladung an. …
Der Herzog von Manchester schrie an Wilberforce: „Es ist mir eine Freude, dass Sie sich entschlossen haben, die Häufigkeit unserer Hinrichtungen und die blutrünstige Strenge unserer Gesetze anprangern…“.
Im Juni 1787 hatte Wilberforce bereits viele Schritte auf dem langen Weg der Reformation der Sitten getan. Nun war er damit dem zweiten Schritt näher gerückt, der Abschaffung des Sklavenhandels…
Es gab zwei Antworten auf die Lage der Armen zu Wilberforce Zeit. Die eine war, verächtlich auf sie herabzublicken, sie als ethisch minderwertig zu verurteilen. Die andere, sie überhaupt nicht zu beachten und ihre entsetzliche Lage als unausweichlich zu betrachten, als unvermeidlichen Preis für die „moderne Zivilisation“…
Nicht viele kamen auf den Gedanken, anstatt zu verurteilen, den Armen und Leidenden zu helfen. Gerade dies tat Wilberforce…
So verbrachte dieser den Sommer 1787 damit, kreuz und quer durchs Land zu reisen, um Mitglieder der gehobenen Gesellschaft für seine Idee zu gewinnen…
Nicht jeder war geneigt, ihm zu helfen…
Ein anderer Adliger lachte ihn aus und sagte: „Sie möchten also das Verhalten der Menschen reformieren, dann schauen Sie, wie solche Reformatoren enden“, und deutete auf ein Gemälde der Kreuzigung …
Insgesamt jedoch waren die Reaktionen wohlwollend. Er entdeckte, dass viele Menschen sich insgeheim nach einem solchen Schritt gesehnt hatten.
In jenem Herbst fuhr Wilberforce auch nach Bath, im Südwesten Englands. Dort lernte er Hannah More, eine bekannte Persönlichkeit, die bis zu seinem Lebensende zu seinen engsten Freunden gehören sollte. Im Kampf gegen die Sklaverei stand sie treu an seiner Seite…
Hannah More war mit ihren vierzig Jahren eine der erfolgreichsten Autorinnen ihrer Zeit und ungewöhnlich intelligent…
Später, als ihr christlicher Glaube sich vertieft hatte, erhielt sie den Beinamen „Königin der Methodisten“ …
Als Hannah More und Wilberforce sich zum ersten Mal trafen, schrieb sie über ihn. „Sein Charakter ist außergewöhnlich und seine ebenso seine tiefe Frömmigkeit…“
Durch ihre Zugehörigkeit zu den höchsten Kreisen und ihren Einsatz für die Armen besaß Hannah More einen unschätzbaren Einfluss, der sich für die viele der ethischen Reformen nutzen ließ. Die Liste ihrer gemeinsamen Projekte ist endlos…
Nun war der nächste Schritt für Wilberforce „Reformation der Sitten“, die erste Sitzung der Proklamation Society einzuberufen. … Es kamen sechs Herzöge, elf Angehörige des niederen Adels, etliche Bischöfe und eine Handvoll Bürgerliche, zu denen ja Wilberforce selbst zählte.
Wilberforce bedankte sich, dass diese Herrschaften bereit waren, dem Ruf des Königs zu folgen und zu helfen, dass die Proklamation in die Tat umsetzt werden kann. …
Kapitel acht
Das Erste Große Ziel: Die Abschaffung des Sklavenhandels
…jenes abscheulichen Handels, der eine solche Schande für den britischen Charakter darstellt
Margaret Middleton
Wir wissen nicht genau, wie William Wilberforce dazu kam, die Abschaffung der Sklaverei zum ersten seiner beiden Anliegen zu machen – ein Anliegen, das für alle Zeiten mit seinem Namen verbunden bleiben würde. Als er Elf oder Zwölf war und bei seiner Tante Hannah in Wimbledon wohnte, traf er zum ersten Mal John Newton, den ehemaligen Kapitän eines Sklavenschiffes.
Seinen Söhnen sagte Wilberforce, schon 1780, als er ins Parlament einzog, habe er sich stark für die westindischen Sklaven interessiert. …
Schon um 1770 schrieb John Wesley ein viel beachtetes Pamphlet mit dem Titel Thought on Slavery (Gedanken über die Sklaverei) …
Um 1789 erschien die Autobiografie des ehemaligen Sklaven Olaudah Equianos The Interesting Narrative of the Life on O. Equiano, or Gustavus Vassa, the African. – Die merkwürdige Lebensgeschichte des Sklaven Olaudah Equianos.
Nach eigenen Angaben war Equiano Elf gewesen, als er in Nigeria in die Sklaverei verkauft wurde. Später hat er sich freigekauft und die Welt bereist. … Sein Buch weist ihn als intelligenten Menschen und tief gläubigen Christen aus…
Der klare christliche Charakter der britischen Abolitionismus – Bewegung ist unbestreitbar. Viele ihrer führenden Köpfe waren Christen. …
Die anglikanische Kirche hatte zu jener Zeit viel Geld in die westindischen Plantagen investiert, weswegen aus ihren Reihen auch einige Gegner des Abolitionismus, also der Abschaffung des Sklavenhandels, erwuchsen…
Im Jahre 1783 wurde die britische Öffentlichkeit von Nachrichten über grauenhafte Zustände auf dem Schiff Zong informiert, das regelmäßig die sog. Middle Passage befuhr. Die Middle-Passage ist die Dreiecksroute, die zuerst beladen mit europäischen Gütern nach Afrika unterwegs ist, und die nächste Route, beladen mit Sklaven, nach Mittelamerika fuhr, um dann von
dort westindische Produkte nach Europa zu bringen. So kam es zu dieser Verschwiegenheit…
Bis der Schiffsarzt Alexander Falconbridge seinen Bericht der englischen Öffentlichkeit zuspielte:
„Die männlichen Neger werden an Bord sofort mit Hand- und Fuß-Schellen gefesselt, so dass sie sich kaum bewegen können… Die hygienischen Zustände sind unbeschreiblich… Mit das Unerträglichste ist das Fehlen der frischen Luft… ebenso die Seekrankheit, an der die Afrikaner besonders leiden… Viele Frauen erleiden einen vorzeitigen Tod…“
„…die menschliche Fantasie vermag es nicht, sich eine grauenhaftere und abscheulichere Lage vorzustellen…“
Falconbridge weiter: „…die kranken Neger liegen auf dem Holzboden…, das führt dazu, dass viele wundgescheuert sind, sodass die Knochen freiliegen… die Sterblichkeit ist so hoch, dass es bei schlechtem Wetter vorkommen konnte, dass die Hälfte starb, bevor Westindien erreicht wurde…“
Im Jahre 1783 spielte sich auf de Zong folgende Tragödie ab. … Wenn ein Sklave durch „Gefahr auf dem Meer“, – also höhere Gewalt -, ums Leben kam, dann war der Geldwert dieses Sklaven durch die Versicherung gedeckt. Der Preis pro Sklave lag bei 30 Pfund. Der Kapitän Collingwood lies nun bewusst kranke Sklaven über Bord werfen, wodurch diese geschwächten Menschen sofort starben. Vorher wurden ihnen die teuren eiserne Fesseln abgenommen…
Anfangs weigerte sich die Schiffsmannschaft, doch Ungehorsam und Widerstand gegen den Kapitän wurden schwer bestraft…
So kam es, dass vierundfünfzig der am schwersten Kranken ins Meer geworfen wurden.
Collingwood hatte nun den Profit für seine Fracht um 1620 Pfund erhöht…
Doch dies war ihm nicht genug. … Am übernächsten Tag wurden weiter 42 über Bord geworfen. Denn Collingwood wusste, dass das Seegesetz es einem Kapitän erlaubt, einen Teil seiner Fracht über Bord zu werfen, wenn er es für notwendig hielt, um die übrige Fracht zu retten. Die Seeleute wies er an, sollten sie je gefragt werden, zu sagen, auf dem Schiff sei aufgrund der Länge der Reise das Wasser knapp geworden. Ein paar sterbende Sklaven über Bord zu werfen, damit die anderen überleben konnten, zeuge lediglich von gutem Geschäftssinn. …
Tage später wurden weitere 37 Sklaven ins Meer geworfen.
Die Versicherung zahlte, klagte aber später gerichtlich gegen den Kapitän wegen Betrugs…
Ein Obermaat, geplagt von Schuldgefühlen, sagte für die Versicherungsgesellschaft aus, und alles kam ans Licht…
Nun war diese Tragödie öffentlich geworden und löste allgemeines Entsetzen aus. …
Das Jahr 1783 war ein wichtiges Jahr für den Abolitionismus. Der Fall Zong lenkte die Blicke der Öffentlichkeit auf den Sklavenhandel. Doch den Beteiligten fehlte es an einer soliden Kenntnis der Sklaverei auf den westindischen Inseln und an politischem Einfluss. …
William Wilberforce und Dr. James Ramsay sollten diese Lücke schließen… Eine Rolle dabei spielte das Haus Middleton, tiefgläubige Christen, die Wilberforce schon lange kannte…
Sir Charles Middleton war Offizier der Navy…, und wies bei einem Besuch in Westindien den Arzt seines Schiffes an, an Bord eines Sklavenschiffes zu gehen… Der Arzt war Dr. James Ramsay, und was er auf diesem Schiff mit eigenen Augen im Frachtraum sah, schockierte ihn zutiefst. …
Bald darauf veranlasste eine Verletzung Ramsay Theologe zu werden, … er diente nun in St. Kitts, Westindien, als Pfarrer und gleichzeitig oblag ihm die medizinische Beaufsichtigung von Zuckerrohrplantagen… All die schrecklichen Dinge die er zu Gesicht bekam, weckten in ihm ein tiefes betendes Verlangen, um den Sklaven zu helfen. Er hieß sie in seiner Kirche willkommen, auch Bibelstunden hielt er mit ihnen, was ihm rasch den unsterblichen Hass der weißen Plantagenbesitzer auf der Insel eintrug. …
1781 kehrte Dr. Ramsay nach London zurück, wo er leidenschaftlich mit den Middletons über das Grauen der Sklaverei. Spricht. Kurz darauf schrieb er sein Buch Über die Behandlung und Bekehrung von Sklaven in den britischen Zuckerkolonien.
Zu dieser Zeit lernte er Wilberforce kennen…
Als sein Buch 1784 veröffentlicht wurde, brach ein Sturm der Entrüstung über Ramsay herein….
Die Schlacht hatte begonnen.
Das Jahr 1786 brachte einen erneuten Fortschritt für die Sklaven. Die Middletons luden Bischof Porteus und den Führer der Böhmischen Brüder, La Trobe, die unter den Sklaven Mittelamerikas missionarisch arbeiteten… Auch Clarkson und Ramsay trafen sich, und Lady Middleton sagte zu ihrem Mann:
„Ich denke, Sir Charles, wir sollten die Sache vor das Unterhaus bringen und eine parlamentarische Untersuchung jenes abscheulichen Handels verlangen, der eine solche Schande für den britischen Charakter darstellt“.
Middleton glaubte nicht der richtige Mann dafür zu sein, da seine Redegabe nicht ausreiche, für so etwas Unpopuläres wie die Abschaffung der Sklaverei. Wenig später wurde Wilberforce Name genannt… Kurz darauf schrieb Middleton Wilberforce einen Brief, mit seinem Anliegen…
Aber auch Wilberforce antwortete, er fühle sich dieser Aufgabe nicht gewachsen…
Inzwischen war Wilberforce in die Nähe des Unterhauses umgezogen, in ein Haus am Old Palace Yard Nr. 4. Gleich zu Beginn des neuen Jahres 1787 besuchte ihn Thomas Clarkson und überbrachte ihm ein Exemplar seines Buches über den Sklavenhandel…
In der Folgezeit trafen sich beide noch einige Male und stellten eine große Übereinstimmung fest.
Zu einem der Treffen kamen auch Sir Middleton, Dr. Johnstone und einige Prominente …
Dennoch sagte Wilberforce nicht sofort zu. …
Am 12. Mai besuchte er Pitt in dessen großem Landhaus Holwood Estate, ca. 30 km südlich von London.
Beim Spaziergang begleitete sie Pitts Cousin William Grenville, der später Pitts Nachfolger als Premierminister werden sollte. Bei dem Gespräch drängte Pitt seinen Freund Wilberforce, sich der Sache anzunehmen, denn „nur er sei der Richtige….“
Verlier keine Zeit…, sagte Pitt, oder das Territorium wird von einem anderen besetzt werden.
Und so wurde Geschichte geschrieben …
Kapitel 10
Keine Kompromisse
Nachdem sich Wilberforce öffentlich erklärt hatte, hatten die vielen stillen abolitionistischen Vorkämpfer plötzlich einen Punkt, an dem sie sich sammeln konnten. Das Ziel war nun klar definiert, die Abschaffung des Sklavenhandels…
Bevor die parlamentarische Untersuchung begann, versuchten die am Sklavenhandel Beteiligten alles in ihrer Macht stehende, um Informationen unter Verschluss zu halten. …
Clarkson plante für den Sommer eine Erkundungsexpedition durch die englischen Häfen, wie Bristol oder Liverpool, wo überall die Abolitionisten sehr verhasst waren… und wo sein Leben einige Male in großer Gefahr war…
Wohin er sich auch wandte, stiess er auf neue Abscheulichkeiten… Clarkson sprach mit jedem, der über das Thema reden wollte und sammelte endlose Berichte voll grausamer Einzelheiten…
… Am Ende hatte er über zehntausend Seeleute befragt…
Der ganze Sklavenhandel war eine Art Gulag auf See. … Und die weißen Seeleute waren fast durchweg unglücklich und hätten alles getan, um dem Handel zu entrinnen, doch sie fürchteten selbst die Peitsche und waren machtlos…
So lag die Sterblichkeitsrate bei den englischen Seeleuten an Bord der Sklavenschiffe bei 25%.
Die Seeleute fanden heraus, wie ihre Chancen standen, doch dann war es schon zu spät…Sie konnten dem System ebenso wenig entrinnen wie die Sklaven…
Dann lernte Thomas Clarkson Alexander Falconbridge kennen, der den Bericht über die Middle Passage geschrieben hatte. … Sie blieben den Sommer über in enger Verbindung… und Clarkson staunte, dass Faconbridge stets eine Pistole bei sich trug…
Es bedarf einer Erklärung, warum die Anhänger der abolitionistischen Bewegung nicht beabsichtigten, die Sklaverei insgesamt abzuschaffen, sondern lediglich den Sklavenhandel. Man fürchtete den wirtschaftlichen Niedergang für Alle… und wenn der Sklavenhandel abgeschafft sei, würde die Arbeitsbedingungen auf den Plantagen automatisch angehoben…
Man dachte auch, die Sklaven wären noch nicht bereit für eine völlige Befreiung, und müssten erst allmählich zu diesem Punkt geführt werden. …
Ein Weg, wie nach Wilberforce‘ Meinung die Abschaffung des Sklavenhandels beschleunigt werden konnte, war ein internationales Abkommen mit anderen Ländern, die am Sklavenhandel beteiligt waren, vor allem mit Frankreich. Ohne ein Abkommen mit Frankreich war die Sache hoffnungslos, denn das erste Argument im Parlament würde sein, dass die Franzosen dann das gesamte Handelsvolumen übernehmen würden, das Großbritannien abschaffte. Die Briten konnten nicht daran denken, einen so entscheidenden Teil ihrer Wirtschaft aufzugeben. Also taten Pitt und Wilberforce ihr Möglichstes, um das zustande zu bringen…
William Eden, der mit den amerikanischen Kolonien Friedensverhandlungen geführt hatte, war nun britischer Botschafter am französischen Hof, und auf Bitten Pitts führte er Gespräche mit Frankreichs Außenminister de Montmorin. Montmorin bat um weitere Informationen über den Sklavenhandel, worauf ihm Wilberforce im November einen ausführlichen Brief schrieb. Darin
widerlegte Wilberforce die verbreiteten Propagandalügen, die Sklaven wären alle Verbrecher, und man würde sie so vor ihrer Hinrichtung bewahren. Viele Leute glaubten das, und für sie war die Sklaverei kaum ein Achselzucken wert…
Wilberforce‘ Nachforschungen zeigten, dass der Sklavenhandel die gesamte afrikanische Wirtschaft geschädigt und ruiniert hatte. Er nannte es eine zusätzliche Schuld gegenüber dem afrikanischen Kontinent. Für den Rest seines Lebens versuchte Wilberforce, Afrika zu helfen.
Das heißt nicht, eine Mitschuld vieler afrikanischer Häuptlinge zu übersehen, die oft in langen Gewaltmärschen die gefangenen Eingeborenen zu den Sklavenhändlern brachten, gegen Bezahlung … Doch Wilberforce erkannte zu Recht, dass es die Europäer waren, die dieses unmenschliche System in Gang gesetzt hatten. …
Gegen Jahresende vermutete Wilberforce, Frankreich würde sich anschließen, sobald der britische Sklavenhandel abgeschafft sei…
Wie Wilberforce selbst, so war die gesamte Bewegung jung und ein wenig naiv… Der 84jährige Veteran John Wesley schätzte ihre Aussichten weniger optimistisch ein. Im Oktober 1787 schrieb Wesley, „…. darum will ich alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihr herrliches Vorhaben zu fördern… Doch rechnen Sie auch mit Widerstand, der von Männern aufgeboten wird, die ihren Profit sichern wollen…“ Dann endet der Brief mit „…Was für ein Trost, dass es
einen Gott gibt, der immer noch alle Macht hat, im Himmel und auf Erden… Ihm befehle ich Ihre herrliche Sache an…, Ihr ergebener John Wesley.“
Wesley hatte ja selbst viel durchgemacht und ihm stand vor Augen, das diejenigen, die zum Kampf gegen die Übel der Welt berufen sind, leiden müssen. Wilberforce ahnte als junger Christ nichts von den Kämpfen, denen er sich noch stellen musste. Noch war er nicht auf die Probe gestellt worden und konnte sich kaum vorstellen, wie man ihn zukünftig noch schmähen würde.
Er, der von Natur aus gutmütig und heiter war, sollte noch erleben, dass respektable Gentlemen und Adlige gähnend die Achseln zuckten und sich abwandten, wenn man sie mit Übeln konfrontiert, die abscheulicher waren als man es träumen kann, oder bei der Wahl zwischen Gut und Böse, einfach das Böse wählten…
Wilberforce wusste noch nicht um Luthers Wort „…und wenn die Welt voll Teufel wäre.“ …
Und so kam es, dass sich Wilberforce voll Optimismus im Dezember 1787 im Unterhaus erhob, um anzukündigen, er werde im neuen Jahr einen Antrag zur Abschaffung des Sklavenhandels einbringen. Er spürte, wie die Räder sich vorwärts bewegten. Der Veteran Fox versicherte ihn seiner Unterstützung, wie auch viele andere. … Und im ganzen Land ergriff man Partei für Wilberforce Vorschlag, verfasste Petitionen und mehr… Wilberforce schrieb seinerzeit: „….ich
nehme mit Freuden wahr, dass die Sache der Afrikaner nun die Öffentlichkeit zu interessieren beginnt…“
Die Grenze zwischen mutigem Glauben und törichtem Idealismus ist oft nur ein Molekül breit…
Wilberforce hatte das Feuer angefacht, aber es sollte noch zwanzig Jahre dauern, bis es hell aufleuchtet…
Am 19. Februar 1788 kam für Wilberforce der erste schwere Rückschlag. Er wurde so krank, dass er nur knapp dem Tode entkam. Schon im vorigen Sommer war er immer wieder krank, hatte sich aber wieder erholt…
Am 8. März brach er abermals zusammen, und alle Ärzte befürchteten das Schlimmste… Seine Mutter und seine Schwester kamen, und Dr. Warren sagte: „… er besitzt nicht die Widerstandskraft, um die nächsten zwei Wochen zu überstehen…“.
Tatsächlich war er einige Male in Todesnähe, doch ein neues Mittel namens Laudanum, ein Opiat, sollte ihm helfen…, das er dann bis zu seinem Lebensende einnahm…
Nun verordneten die Ärzte eine absolute Erholung, weswegen er für einen Monat zur Kur nach Bath fuhr….
In der Zwischenzeit führte Pitt den Untersuchungsausschuss zur Abschaffung des Sklavenhandels…
Am 9. Mai traf Pitt die Entscheidung, dass das Unterhaus sich in der folgenden Sitzungsperiode offiziell mit dem Handel befassen sollte. Er hielt eine geschickte Rede, in der er eine gewisse Neutralität vorspiegelte, jedoch auch der Hoffnung Ausdruck verlieh, Wilberforce werde sich bald erholen und in Lage sein, „seine Kampagne wieder aufzunehmen“. Fox und Edmund Burke traten offen auf die Seite der Abolitionisten…
Die westindischen Interessenvertreter im Parlament rutschten sichtlich unbehaglich herum, hielten sich aber zurück…
Wilberforce war inzwischen nach Cambridge gereist, um sich unter den Fittichen seines Freundes, des Arztes Isaak Milner, weiter zu erholen… Auch Mutter und Schwester taten alles für seine Genesung… so kehrte er erst 1789 wieder nach London ins Unterhaus zurück…
Kapitel 11
Die erste Runde
Am 5.November 1788 beim Abendessen auf Schloss Windsor zeigten sich zum ersten Male Anzeichen für den Wahnsinn König Georg III. …
Sollte der König amtsunfähig werden, könnte einer der ungezogenen Söhne das Amt des Königs übernehmen, der seinen lasterhaften Kumpan Fox als Premier installieren würde, was Pitt garnicht passen würde.
Zur Erleichterung für Pitt sprach die medizinische Hilfe bei Georg III. an und er konnte noch einige Jahre im Amt bleiben…
1788 starb Wilberforce Tante Hannah, deren tiefer Glaube auf ihn als Jungen so eine große Wirkung gehabt hatte…
1789 machte er die Bekanntschaft eines anderen engagierten Christen, James Stephen war ein schottischer Anwalt, der viele Jahre in Barbados lebte. Stephens Abscheu gegen die Sklaverei war bodenlos, und er sollte mit seinem Wissen, seiner Leidenschaft und Redegabe für Wilberforce noch eine große Hilfe sein.
James Stephen machte Bekanntschaft mit der westindischen Sklaverei, als er 1783 in jenen Teil der Welt reiste. …
Einmal ging es bei den Gesprächen um einen umstrittenen Mordprozess… Vier schwarze Sklaven waren angeklagt, einen weißen Arzt ermordet zu haben…
Stephen besuchte den Prozess und gewann die feste Überzeugung, dass die vier Sklaven unschuldig waren. Dennoch wurden sie alle vier schuldig gesprochen, aber was ihn noch mehr schockierte, zum Tod durch Verbrennung verurteilt. Man kettete sie an einen Pfahl und übergoss sie mit Brennstoff und zündete sie an…
Stephens schwelender Hass gegen die Sklaverei begann und wuchs mit den Jahren…
Nun war Vieles in Bewegung…
John Newton bat seinen Freund, den Dichter William Cowper, ein Gedicht dazu zu schreiben:
Eine Strophe lautet:
Is there, as ye sometimes tell us,
Is there one who reigns on high?
Has he bid you buy and sell us,
Speaking from his throne, the sky?
Ask him, if your scourges,
Fetters, blood-extorting screws,
Are the means the duty urges
Agent of his will to use?
Gibt es, wie ihr uns erzählt,
Einen, der in der Höhe regiert?
Hat er euch geboten, uns zu kaufen und zu verkaufen,
Als er von seinem Himmelsthron her sprach?
Fragt ihn, ob eure geknoteten Geißeln,
Fessel und Daumenschrauben
Die Werkzeuge sind, welche die Pflicht
Die Täter Seines Willens zu gebrauchen drängt?
Auch Josiah Wedgwood schuf ein Bild, das wahrscheinlich zum ersten Bildsymbol auf einer vervielfältigten Plakette gedruckt wurde. Ein kniender Schwarzer mit dem Text:
Am I not a Man and a Brother? – Bin ich nicht ein Mensch und ein Bruder?
Noch ein weiteres eindrucksvolles Bild war zu dieser Zeit in Umlauf. Equiano hatte einen Stich ausfindig gemacht, der das Innere eines Schiffes zeigte, um darzustellen, wie man die Sklaven anordnen sollte, um möglichst viele von ihnen unterzubringen. Dieses erschreckendes Bild rüttelte die ganze Nation auf, es wurde oft reproduziert unüberlegt aufgehängt. Das Innere des Sklavenschiffes Brookes, das der reichen Familie Broookes in Liverpool gehörte, durfte oder
sollte 482 Sklaven transportieren, und es war jedem, der mit dem Sklavenhandel nicht vertraut war, ein unvorstellbarer Zustand… Dieses Bild anzuschauen heißt, an den Rand des Abgrundes zu kriechen und fassungslos in das Grauen hinabzustarren…
Am 12. Mai kam Wilberforce wieder ins Unterhaus.
Seine Rede war gut vorbereitet… zur Middle Passage sagte er: „…so viel Elend auf so kleinen Raum gedrängt, ist mehr, als die menschliche Vorstellungskraft sich je zuvor hat einfallen lassen … sie hat mich dahin gebracht, wo ich nun stehe…“
In seiner engagierten Rede vermied er den anklagenden Ton, sondern sprach mit einer bemerkenswerten Nachsicht: „Ich beabsichtige nicht, irgendjemand anzuklagen, sondern die Schande auf mich zu nehmen, gemeinsam mit dem ganzen Parlament von Großbritannien, das zugelassen hat, dass dieser scheußliche Handel unter seiner Autorität vonstatten ging. Wir sind alle schuldig…“
Wilberforce glaubte von Herzen an das, was er öffentlich sagte. …
Natürlich versuchte die Lobby der Sklavenhändler durch allerlei Gerüchte und bewusste Falschaussagen, die Abolitionisten der Übertreibung zu beschuldigen. Doch besonders Wilberforce begegnete jede dieser falschen Anschuldigungen mit Fakten Fakten und noch einmal Fakten. Dies war seine Stärke…
So hatte auch John Newton, der alte Kapitän, ausgesagt, denn besonders er genoss einen hohen moralischen Status, und kannte den Sklavenhandel bis ins Detail…
Auch der Schwarze Equiano berichtete in seiner Schilderung, wie er von seinen afrikanischen Peinigern an die englischen Peiniger übergeben wurde. …
Wilberforce trug immer wieder Fakten vor, doch er sagte auch:
„… es gibt ein Prinzip über dem politischen Anliegen, und das heißt: Du sollst nicht morden, und da es auf göttliche Autorität zurückgeht, wie kann ich es wagen, eigene Vernunftgründe dagegenzusetzen? Und wenn wir an die Ewigkeit denken und die Konsequenzen allen menschlichen Verhaltens, was gibt es denn hier in diesem Leben, das uns dazu bringen sollte, den Prinzipien seines eigenen Gewissens, der Gerechtigkeit und der Gesetze Gottes zu widersprechen? …“
Bischof Porteus schloss sich allem an und nannte die Rede, „eine hervorragende Darstellung unwiderlegbarer Tatsachen…“
Edmund Burke, selbst ein begnadeter Redner, sagte: „… bewundernswerte Rede, mit so viel Ordnung und Kraft.“
Wilberforce sah vor allem die Gebete seiner Mitstreiter wie Newton, Hannah More, die Middlestons, Isaak Milner, John Wesley und andere mehr.
Doch auch dies geschah, wie Wesley es prophezeit hatte, blieben die steinernen Herzen der Parlamentsmitglieder, die mit der Göttin Profit vermählt waren, unbewegt… und am Ende scheiterte die Abschaffung des Sklavenhandels…
In der Zwischenzeit würden noch Zehntausende Sklaven von den afrikanischen Küsten entführt werden, in stinkenden Frachträumen zwei oder drei Monate lang nach Luft ringen … und dann verkauft und zu einem Leben voller Strapazen gezwungen werden, dass die meisten von ihnen sterben werden – und all das mit dem bewussten Segen der Parlamentarier und des Ober- und Unterhauses Seiner Majestät…
Kapitel 12
Die Zweite Runde
Am 14. Juli 1789 stürmte das französische Volk die Bastille, und Frankreich stürzte sich in Gewalt und Terror. …
Ursprünglich wollte Wilberforce sich in Frankreich mit dortigen Abolitionisten treffen, doch die Gefahr für sein Leben war für einen englischen Staatsmann zu groß.
Somit reiste Clarkson nach Paris, kam aber enttäuscht bald wieder zurück. Die Revolutionäre befürchteten, das Ende des Sklavenhandels könnte einige Küstenstädte gegen sie aufbringen…
Aber es gelang Clarkson, sich mit politischen Führern der französischen Kolonie
Saint-Domingue, das spätere Haiti, zu treffen. Dort lebten 90% afrikanische Sklaven, und die 10% Weiße lebten in der beständigen Furcht vor einem Sklavenaufstand und verhielten sich deshalb besonders brutal gegenüber jedem, der einen solchen schüren könnte, was natürlich wiederum ein umso brutaleres Vorgehen der Sklaven gegen die Franzosen nach sich ziehen würde, sollte es zu einem Aufstand kommen.
Eines Tages erfuhr Clarkson, dass eben dies kürzlich geschehen war. Ein äußerst gewalttätiger Aufstand war brutal niedergeschlagen worden. Sein Anführer war gerädert worden, eine äußerst teuflische Foltermethode…
Für die französischen Anti-Sklaverei-Kräfte hatte der totale Krieg begonnen…
Die abolitionistische Sache hatte einen schweren Rückschlag erlitten. Auch in England erreichte die Abolitionisten eine weitere Hiobsbotschaft. Charles Ramsay war in London mit nur fünfundfünfzig Jahren gestorben. Er war den Anfeindungen der Sklavereilobby nicht gewachsen…
Nun erkannten praktisch alle, dass sie „nicht nur gegen Fleisch und Blut kämpften, sondern gegen Mächte und Gewalten unter dem Himmel…“
John Wesleys Warnung wurde nun allen bewusst. Die beiden Wesleys waren buchstäblich zigtausende Kilometer bei Wind und Wetter für das Evangelium unterwegs, … und doch wurden sie zwischen 1740 und 1780 von fast allen anglikanischen Geistlichen denunziert und verfolgt…
Im August reiste Wilberforce nach Cowslip Green, um Hannah More zu treffen. Bei einem Ausflug ins nahe gelegene Cheddar Gorge, eine der schönsten Landschaften Englands, wurde Wilberforce weniger von den schönen Schluchten und Höhlen beeindruckt, sondern er traf dort auf Menschen, die ohne feste Häuser, ohne Schule, ohne Kirche, ihr Dasein fristeten…
Als er zu Mores zurückkehrte, war er in sich gekehrt…
„Miss Hannah More, für Cheddar muss etwas getan werden.“
Bis spät in die Nacht erörterten sie verschiedene Pläne… Schließlich erklärte Wilberforce:
„Wenn Sie die Arbeit machen, übernehme ich die Kosten“.
…Bald darauf gründete Hannah More die ersten Schulen und Wilberforce finanzierte alles weiterhin…
Im September reiste er ins Mittelenglische Heilbad Buxton, das sein Freund Dr. Hey ihm empfohlen hatte. Dort nahm er Massagebäder, eine Art „Hautrotationen“ die ihm guttaten …
Im Januar 1790 wollte das Parlament weitere Aussagen über den Sklavenhandel anhören. Die Aussagen für den Sklavenhandel zogen sich bis April hin. Die der Gegner bis Anfang Juni …
Wilberforce treffen wir nun wieder in Yoxall Lodge in der Grafschaft Staffordshire an, wo er sich unermüdlich durch tausende Blätter voller Aussagen kämpft, die sich während der monatelangen Zeugenbefragungen angesammelt hatten…
Am 18. April 1791 wurde endlich die Debatte über die Abschaffung des Sklavenhandels eröffnet. Wilberforce trat mit großer Bescheidenheit auf und sagte: „In diesem Kampf erwarte ich Weisheit und Stärke allein von Gott, möge Er mir Gelingen geben, und wenn ich scheitere, sage ich, Dein Wille geschehe“.
Die Abstimmung brachte 88 Ja-Stimmen zu 166 Nein-Stimmen. Erneut war die Abstimmung des Sklavenhandels in England gescheitert…
In dieser Zeit erhielt er einen Brief von John Wesley, den er kurz vor seinem Heimgang schrieb:
„Verehrter Sir,
hätte die göttliche Macht Sie nicht aufgerichtet als einen Athanasius contra mundum (Athanasius gegen die Welt), so wüsste ich nicht, wie Sie Ihr herrliches Unterfangen überstehen könnten. Wenn Gott Sie nicht dazu berufen hat, wird der Widerstand der Menschen und Teufeln Sie zermürben. Aber ist Gott für Sie, wer kann wider sie sein? Oh, werden Sie nicht müde, Gutes zu tun! … Dass der , der Sie von Jugend an geleitet hat, Sie weiterhin stärken möge, dass ist das Gebet, verehrter. Sir, Ihres ergebenen Dieners,
John Wesley
Wilberforce muss sich viele Male während der Kämpfe an diese Worte erinnert haben. Wie muss es ihn ermutigt haben, diese Worte des schlachterprobten Veteranen zu lesen, der den guten Kampf gekämpft, mit Geduld den Wettlauf vollendet und am Glauben festgehalten hatte.
Kurz bevor er zu seiner letzten Ruhe einging, hat er seinem geistlichen Sohn den Stab für diese Etappe des Wettlaufes contra mundum übergeben, und so setzte William Wilberforce den Lauf fort, angefeuert von einer großen und wachsenden Wolke von Zeugen.
Kapitel 13
Der Gute Kampf
Die Niederlage vom April 1791 schmerzte zutiefst, denn die Chancen waren 1791 so günstig wie nie zuvor. Es sollten Jahre bis zu einer ähnlich vorteilhaften Konstellation vergehen. Eine große Chance war vertan…
Anders war es um die Haltung der Öffentlichkeit bestellt. Das britische Volk fand seine eigene Stimme…, und die Entwicklung in den amerikanischen Kolonien und die in Frankreich waren eng mit diesem Trend zu mehr Menschenrechten verknüpft. Die öffentliche Meinung zur Abschaffung des Sklavenhandels hatte sich rasch gewandelt… Noch wenige Jahre zuvor hatte die Mehrheit nichts vom Grauen des Sklavenhandels gewusst, doch jetzt waren seine Abscheulichkeiten in aller Munde. Überall hingen die Poster mit dem knienden Afrikaner in
Ketten…
Und da während der amerikanischen Revolution die Briten allen den Schwarzen die Freiheit schenkten, die auf ihrer Seite kämpften, kamen etliche nach England, und schwarze Gesichter sah man plötzlich auf Englands Strassen, was dem ganzen Thema ein menschliches Gesicht gab.
Und so sehr die Vorgänge in Frankreich den egalitären Gedanken in England Nahrung gaben, so sehr wurden auch die blutigen Exzesse gefürchtet. Der Gärungsprozess in Frankreich und den französischen Kolonie machte Angst…
Im gleichen Jahr hatte Henry Thornton Wilberforce eingeladen, zu ihm in sein Hause Battersea Rise nach Clapham zu ziehen. Gleich nebenan bezog Edward Eliot ein Haus, und in einem dritten Haus ließ sich Charles Grant nieder. So entstand der Clapham-Kreis. Es war ein Ort, abseits des schmutzigen und hektischen Lebens in der Londoner Innenstadt…
Je schwieriger die Auseinandersetzungen für Wilberforce wurden, desto wertvoller wurde ihm dieser Rückzugsort…
In der neuen Sitzungsperiode von 1792 stellte Wilberforce abermals einen Antrag auf Abschaffung des Sklavenhandels, denn die Welle der öffentlichen Zustimmung stieg stetig…
Doch die Geschehnisse in Frankreich in all ihrer Abscheulichkeit hatten in England eine Gegenströmung ausgelöst, in der es eine starke Abneigung gegen Reformen und gegen den Abolitionismus gab. Spätestens seit dem Sturm auf das Palais des Königs besaß das Wort Freiheit nicht mehr den gleichen harmlosen Klang. … Das Bild der schönen jungen Frau, die für die Liberté stand, verwandelte sich in eine blutrünstige, dämonische Hexe, eine Art Kali –
Gestalt mit französischem Anstrich.
In diesem gesellschaftlichen Klima kam der Abolitionismus praktisch zum Erliegen. Die Gezeiten hatten sich gewendet. Die politische Elite Englands ging es nur darum, die britische Zivilisation zu verteidigen. …
Als die öffentliche Wahrnehmung die christliche abolitionistische Bewegung in England mit den Vorgängen in Frankreich in Verbindung brachte, hatte das verheerende Auswirkungen. Viele der führenden Persönlichkeiten der abolitionistischen Bewegung waren Christen, doch Thomas Paine in Amerika und der Pöbel jenseits des Kanals waren leidenschaftlich antichristlich
eingestellt. Es war eine Tragödie. Was konnte Wilberforce tun?
Noch schädlicher für das abolitionistische Anliegen waren die blutigen Massaker auf der Insel Saint-Domingue. …
Trotz aller Widerstände erhob sich Wilberforce 1792 abermals und beantragte die Abschaffung des Sklavenhandels. In seiner Rede rief er die berühmten Worte: „Afrika, Afrika! Deine Leiden sind das Thema, das mein Herz gepackt hat, – deine Leiden, die keine Zunge ausdrücken kann, die keine Sprache beschreiben kann!“
Fox zur Linken, Pitt zur Rechten, unterstützen ihn mit ihrer legendären Beredsamkeit. Pitt sagte: „…wie sollen wir hoffen, Vergebung vom Himmel zu empfangen für die enormen Missetaten, die wir begangen haben, wenn wir uns weigern, die Mittel zu nutzen, um unsere Schande und Schuld abzuwaschen, die uns nun bedecken? …“.
Nun wurde ein Kompromiss gefunden… Mit 230 zu 85 wurde ein Antrag zu allmählichen Abschaffung des Sklavenhandels angenommen.
Kurze Zeit später wurde konkret, was „allmählich“ bedeutete, bis zum Januar 1796…
Manche beglückwünschten Wilberforce, aber er war etwas traurig, nicht mehr für die Sache erreicht zu haben. …
Wilberforce dachte an all diese Menschen in ihrem Leid, die ja nach dem Bilde Gottes geschaffen waren, und er spürte das alljährliche Scheitern als eine schreckliche Last. Und nun sollte es wieder weitere vier Jahre dauern, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen…
Zu etwa dieser Zeit schrieb Cowper ein Gedicht für Wilberforce, um ihn etwas zu trösten. Es trug den Namen: Sonnet to William Wilberforce, Esq.:
Thy country, Wilberforce, with just disdain…
Dein Land, Wilberforce, hört mit gerechter Verachtung,
Wie du von Grausamen, Gottlosen Fanatiker geheißen
Für deinen Eifer, Unterjochte zu befreien
Aus Verbannung, Verkauf und der Sklaven Ketten.
Freund der Armen, Übervorteilten, Gefesselten,
Fürchte nicht deiner Mühe Vergeblichkeit.
Hast einen Teil erreicht, beim britischen Senat
Gehör gefunden für deine herrliche Sache;
Hoffnung lächelt, Freude blüht auf, wenngleich kalte Vorsicht hemmt.
Und verzögert, so naht doch die bessere Stunde,
Deine schweren Mühen zu lohnen
Durch Frieden in Afrika, geschützt durch Britanniens Gesetz.
Freue dich des Erreichten: Achtung und Liebe
Aller Gerechten auf Erden und aller Seligen droben!
Kapitän 14
Was Wilberforce erduldete
Nicht jeder, der Verse schrieb, war freundlich zu Wilberforce. James Boswell, der 1787 noch freundlich über Wilberforce schrieb, machte nun ein Spottgedicht übelster Art über Wilberforce:
Go Wilberforce with narrow skull,
Go home and preach away at Hull.
No longer in the Senat cackle
In strains that suit the tabernacle. …
Geh, Wilberforce, mit engem Schädel,
Geh heim und predige in Hull.
Hör auf, im Senat rumzugackern,,
In Versen wie fürs Tabernakel,
Ich hasse deine Schnippchen Fratze,
Dein freches, dünkelhaftes Grinsen.
Dein Mund schädigt den Handel.
Insekten nagen am edelsten Schiff.
Geh, Wilberforce, geh hin in Schande,
Du Zwerg mit groß klingendem Namen.
Andere Persönlichkeiten empfanden es ähnlich, darunter der bekannte Lord Nelson, der sagte: „Ich bin noch von der alten Schule, und wurde gelehrt, den Wert unserer westindischen Besitzungen zu schätzen…, und so lange ich noch eine Stimme habe, um zu ihrer Verteidigung zu kämpfen, werde ich sie gegen die verdammenswerte Lehre von Wilberforce erheben…“
Wer sich gegen den Geist seiner Zeit und gegen die Göttin Profit stellte, vor der ja Wesley gewarnt hatte, musste einen hohen Preis dafür zahlen.
Wilberforce war ja ein gebrechlicher Mann, umso höher muss seine Tapferkeit veranschlagt werden…
Eine besondere Herausforderung war, als er im Unterhaus 1792 den Namen eines brutalen Kapitäns aus Bristol nannte, der ein fünfzehnjähriges Sklavenmädchen zu Tode gepeitscht hatte. Aufgrund von Wilberforce Aussage wurde Kapitän Kimber wegen Totschlags vor Gericht gestellt. Doch durch ein offensichtliches krasses Fehlurteil wurde er freigesprochen – wieder ein
Schlag gegen die Abolitionisten. Nach dem Prozess schickte Kimber Wilberforce einen Brief, in dem er fünftausend Pfund, eine öffentliche Entschuldigung und eine staatliche Position verlangte. Wilberforce, der wusste, dass der Mann schuldig war, schrieb ihm eine kurze Absage.
Doch Kimber lauerte fortan Wilberforce auf der Straße auf und gebärdete sich immer bedrohlicher. Er erschien zweimal an Wilberforce Haus…, und Wilberforce Freunde waren fortan sehr besorgt. Als er nach Yorkshire reisen musste, bestanden seine Freunde auf bewaffnetem Geleit. Ein mit einer Pistole bewaffneter Freund begleitete ihn. Ein Parlamentsmitglied aus Bristol konnte Kimber dann von seinen Drohungen abbringen…
Die westindischen Interessenvertreter hatten in ihren Reihen auch die Waffe der Lüge. Sie wurde gegen alle eingesetzt, die sich ihnen entgegenstellten. Besonders der Arzt James Ramsay, dessen Aufsatz über die Gräuel der westindischen Sklaverei die Bewegung erst richtig in Gang gebracht hatte, wurde ihre Zielscheibe. Es ist wahrscheinlich, dass ihn diese Belastungen schließlich das Leben kosteten…
Wilberforce selbst machte es weniger aus, was über ihn gesagt wurde. …
1793 kam der Krieg über England. Im Januar hatten die Revolutionäre ihren König Ludwig XVI. zur Guillotine gezerrt. Im Februar erklärte Frankreich England den Krieg. Und am Ende des gleichen Monats lehnte das Unterhaus es ab, die Entscheidung für eine allmähliche Abschaffung des Sklavenhandels zu bestätigen. Es ging also wieder rückwärts…
Je mehr die Jakobiner tobten, plünderten und mordeten, desto größer wurde in England die Angst vor allem was nach Menschenrechten oder Freiheit oder Gleichheit roch. Es herrschte große Angst, die Unruhen in Frankreich könnten über den Kanal schwappen. … Das Wort Menschenrechte in den Mund zu nehmen, war von 1793 an plötzlich tabu. …
Wilberforce und der Abolitionismus wurden zu Opfern dieser neuen Geisteshaltung. Als die Abschaffung des Sklavenhandels im Oberhaus zur Sprache kam, hielt auch der Prinz von Wales, der Sohn Georgs III., mit Worten nicht hinter dem Berg – er nannte Wilberforce einen „Republikaner im Herzen“, womit er auf die französische Republik anspielte. Auch sein Bruder, Clarence, stellte sich entschieden gegen Wilberforce…
Nach dieser Niederlage im Parlament ging das Gerücht um, Wilberforce wolle sich aus dem Kampf zurückziehen. Doch stattdessen schrieb er einen Brief, der deutlich macht, wie er darüber dachte:
„Bei der Frage, was politisch zweckdienlich ist, scheint mir immer Raum zu sein, Zeiten und Unzeiten in Betracht zu ziehen. … doch im gegenwärtigen Fall, in dem es darum geht, Schuld auf sich zu laden, kann ein Mann, der Gott fürchtet, darüber nicht nach Belieben entscheiden.
… Diese große Sache dürfen wir weder zum Spielball der Laune machen noch nach persönlichen Empfindungen entscheiden, wenn es um Menschenleben geht…“
Die Frage des Sklavenhandels war für Wilberforce nicht nur eine politische Frage, sondern auch eine der Gerechtigkeit…
Doch all diese Niederlagen hinterließen Spuren. Thomas Clarkson hatte keine Kraft mehr und zog sich für 12 Jahre zurück. …
Doch bald darauf kam ein neuer Rekrut, der seinen Platz einnahm und allen müden Kämpfern neuen Mut machte. James Stephen verließ mit seiner Familie endgültig die Westindischen Inseln und zog nach London, wo er Teil des Clapham Kreises wurde. …
Als das Jahr 1794 seinem Ende entgegen ging, begann Wilberforce in der Frage des Krieges mit Frankreich von der Linie seiner Partei und von der von William Pitt abzuweichen. Der Sturz Robespierres und das Nachlassen des Terrors schienen es zu ermöglichen, Großbritannien vor einem Angriff zu schützen, auch ohne dass Frankreich vernichtend geschlagen wurde.
Wilberforce war der Meinung, die Fortsetzung des Krieges habe vor allem mit dem gewinnsüchtigen Ziel zu tun, sich Frankreichs Zuckerinseln in Westindien einzuverleiben. Und mit der Fortsetzung des Krieges werde dem britischen Sklavenhandel in der Region Vorschub geleistet. Deshalb sei es an der Zeit für Friedensverhandlungen. Dies im Unterhaus zu beantragen, würde praktisch als Verrat aufgefasst werden, als Fürsprache für den Feind… Pitt aber behagte dieser Gedanke keineswegs. …
In den nächsten Wochen führte Wilberforce Gespräche mit Freunden … und er würde dann den Antrag auf ein Ende des Krieges im Unterhaus einbringen, was das erste Mal im Januar 1795 geschah…
Leider fasste Pitt die Stellungnahme seines Freundes als Verrat auf. Die Entscheidung von Wilberforce hatte leider weitere reale Folgen, und er erlebte nun alles andere, als eine leichte Zeit… Auch der König schnitt ihn und würdigte ihn fortan keines Blickes. Vorbei waren die Tage, als der König ihn fragte: „Wilberforce, wie geht es Ihren Negern?“
Es waren harte Zeiten… selbst als er Freunde in York besuchte, weigerten sich einige, ihn zu treffen…
Doch im April, anlässlich eines Abendessens, gelang es Wilberforce‘ Freund Bob Smith, ihn mit Pitt zusammenzubringen. … Dies war der Beginn, dass der Bruch langsam heilte…
Wilberforce selbst bereute niemals seinen Standpunkt, den er eingenommen hatte…
Als das Jahr 1796 anbrach, – es war ja das Jahr, in dem die „allmähliche“ Abschaffung des Sklavenhandels wirksam werden sollte – schrieb Wilberforce in sein Tagebuch : „Vor diesem großen Anliegen verblassen alle anderen in meinen Augen…, wenn es Gott gefällt, so möge ich sein Werkzeug sein, einem Verhalten von solcher Bosheit und Grausamkeit Einhalt zu gebieten…“
Nun, am 18. Februar stellte er erneut seinen Antrag, und wieder gähnten die weltverdrossenen Politiker, warnten vor übertriebener Eile und empfahlen, diese ganze lästige Sache mit der Abschaffung des Sklavenhandels zu verschieben, bis der endlos sich hinziehende Krieg gegen Frankreich endlich hinter ihnen liegen würde.
Wilberforce geriet ein wenig in Rage und erhob sich:
„Die trockene gelassene Art und Weise, wie Gentlemen über die Leiden anderer zu sprechen vermögen, grenzt ans Unerträgliche. Die Frage vertagen! Wird denn die unselige Verwüstung Afrikas vertagt? Wird das Werk des Todes vertagt? …
Ich rufe das Haus auf, die Geduld des Himmels nicht zu beleidigen, indem es diesen überfälligen Akt der Gerechtigkeit noch weiter hinausschiebt!
Weiter entzündete sich Wilberforce‘ Zorn an den Äusserungen einiger aus dem westindischen Kontingent, die Sklaven würden „anständig“ versorgt und bekämen Essen, Kleidung und Unterkunft.
„Was!“, rief er, „Sind das etwa die einzigen Ansprüche eines vernunftbegabten Wesens? Sind die Empfindungen des Herzens nichts? Wo bleiben gesellschaftlicher Verkehr und familiäre Zärtlichkeit? … protestiere ich gegen die Art und Weise, wie davon gesprochen wird, diese Menschen zu Tieren zu degradieren und alle Eigenschaften unserer gemeinsamen Natur zu beleidigen“?.
Man sieht an diesen Äußerungen, wie es dazu kam, Wilberforce später das „Gewissen der Nation“ zu nennen. Wilberforce begriff frühzeitig, dass Großbritannien als Nation sein Gewissen weitgehend verloren hatte. In äußerlicher Hinsicht nahm es für sich in Anspruch, eine christliche Nation zu sein, doch es handelte nach Prinzipien, die der christlichen Sicht vom Menschen als einem unsterblichen Wesen zutiefst widersprachen.
Eine zweite Lesung seines Antrages war am 3. März 1796…, doch auch diese wurde knapp um vier Stimmen verfehlt…
Wilberforce war deprimiert. Dennoch erinnerte sich immer wieder an Wesleys Rat, die Bosheit des Bösen nicht zu unterschätzen…
Kapitel 15
Zweifache Liebe
„Iacta est alea“
William Wilberforce
William Wilberforce Bekehrung zum Christentum in 1785 war sein fraglos wichtigstes Ereignis seines Lebens, und es war ihm wichtig, dies auch anderen mitzuteilen…
In vielen Fällen trugen seine Gespräche große Frucht, und manche, die nicht geahnt hatten, es sei möglich ein aufrichtiger Christ und dennoch witzig und charmant zu sein, wurden durch Wilberforce inspiriert. Wenn jemand, der so brillant und umgänglich wie er war – dazu ein enger Freund des Premierministers – , dann musste an diesem Glauben etwas dran sein…
Vielleicht hat Wilberforce durch sein öffentliches Auftreten am meisten dazu beigetragen, „das Gute in Mode zu bringen“, wie er einst sein Ziel formuliert hatte. Sein scharfer Verstand, seine Heiterkeit und sein Wohlstand, sein Charme und seine offensichtliche Hingabe machten es schwer, sich einen Reim auf ihn zu machen. Für eine Nation, die hingegebenen Glauben vor allem durch die schwarz gewandeten Gestalten John Wesley, John Newton und George
Whitefields kannte, war Wilberforce zweifellos eine faszinierende, bunte Figur.
1793 begann Wilberforce seine vielfältigen Gedanken in einem Buch festzuhalten… Seine Botschaft war im Grunde recht elementar. Das schlichte Christentum, wie es in der Bibel steht und in den Lehren der anglikanischen Kirche bezeugt war, war in der britischen Gesellschaft nur noch selten anzutreffen. …
Als Hauptproblem sah Wilberforce die anglikanischen Geistlichen selbst…
Wilberforce wollte sich direkt an die Leute wenden, wollte die riesige Kluft aufzeigen, die das „echte Christentum“, wie er es nannte, von dem „religiösen System“ trennte, das vorherrschte.
Der Stil des Buches, das Wilberforce Redestil ähnelte, war untypisch für die Zeit. Es sprang von einem Gedanken zum anderen, im Gegensatz zu der viel geschliffeneren Redekunst eines Pitt oder Burke und anderen Meistern der Rhetorik…
Dennoch ist es nicht schwerfällig und auch zwei Jahrhunderte später noch gut lesbar. Er beschreibt einfach, was das Christentum ausmacht, um dann zu zeigen, wie die Realität des religiösen Glaubens in der britischen Gesellschaft aussah. Er wollte den großen Unterschied zwischen Theorie und Praxis herausstellen. Mit Erfolg…
Wilberforce erklärte, das echte Christentum habe dich vor allem deshalb aus England verflüchtigt, weil es mit dem gesellschaftlichen Gefüge verwoben war und man deshalb leichter darüber hinwegsehen und es für selbstverständlich halten konnte.
„Das Christentum insbesondere“, schrieb er, „gedieh unter Verfolgung. Denn dann hat es keine lauwarmen Bekenner“.
Wilberforce traf den Nagel auf den Kopf. Das Christentum wurde in England damals nicht nur nicht verfolgt, vielmehr war die ganze Nation offiziell christlich – wenn auch nur dem Namen nach. …
Wilberforce Hauptvorwurf gegen das falsche Christentum seiner Zeit war, dass es Echtheit vortäuschte… denn wenn es seinen Glauben ernst nähme, hätte es den Sklavenhandel für sich niemals geduldet …
Er wusste: Wenn Großbritannien zu begreifen begänne, was echtes Christentum bedeutete, würde es an den Leiden der Armen Anteil nehmen… Anteilnahme war stets ein Kennzeichen echten Christentums, doch im Großbritannien des 18. Jahrhunderts fehlte sie weitgehend.
Wie Wilberforce wusste, waren die oberen Schichten selbstgefällig und hatten an die Stelle des echten Christentums gedankenlos eine Philosophie gesetzt, die mehr Ähnlichkeit mit dem Weltbild östlicher Religionen aufwies, in denen die Leiden der Armen eine Auswirkung der karmischen Gerechtigkeit waren, in die man sich nicht einmischen durfte.
In seinem Buch rief Wilberforce Großbritannien dazu auf, Busse zu tun und zu seinem wahren Glauben zurückzukehren, zu dem Glauben, den sie jenseits der Jahrhundertwende aufgegeben hatten. Wilberforce wusste auch, dass viele Leute keine Ahnung hatten, was echtes Christentum war.
Wilberforce nutzte die Kanzel seiner nationalen Bekanntheit, um ihnen zu sagen, dass er an dieses echte Christentum glaube, und sprach sozusagen eine herzliche Einladung aus, sich ihm anzuschließen.
Wilberforce Buch erschien erstmals im April 1797. Sein Verleger, Mr. Cadell, hatte geglaubt, „die Veröffentlichung ist wohl kaum der Mühe wert“.
Nun war der Herausgeber Mr. Cadell mehr als überrascht, dass er garnicht so schnell neue Exemplare in die Regale stellen konnte, wie sie Absatz fanden… Der Verleger war völlig überrumpelt, aber auch der Verfasser konnte es kaum glauben und verbrachte in Bath, wo er sich zur Erholung aufhielt, einige schlaflose Nächte…
Aber seine Schlafstörungen hatten letztlich einen anderen Grund: Er war verliebt! Die liebliche Jungfer hieß Barbara Spooner und war zwanzig Jahre alt, und es war Liebe auf der ersten Blick!
Niemand überraschte es mehr als ihn selbst. Er war inzwischen siebenunddreissig, und noch nur ein Jahr zuvor schrieb er an einen Freund: „Ich bezweifle, daß ich meinen Stand je ändern werde. Der Stand der öffentlichen Angelegenheiten veranlasst mich, zu glauben, dass ich meine Reise allein vollenden muß“.
Zudem äußerte er öfter die Überzeugung, er würde die Reise deutlich früher beenden, als es der normale Gang der Natur vorsieht. Er glaubte ernsthaft, er werde vermutlich eines gewaltsamen Todes sterben, wenn irgendein Feind des Abolitionismus eine ihrer unzähligen Drohungen wahrmachen würde…
Doch schon Anfang 1796 hatte sich die Gleichung seines Lebens geändert, als einer seiner liebsten Weggenossen heiratete – Henry Thornton heiratete Marianne Sykes – die seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Hull, eng mit Wilberforce befreundet war…
Und seit fünf Jahren wohnten Wilberforce und Thornton gemeinsam in Battersea Rise in Clapham und hatten sich gemeinsam engagiert …
Das war ein tiefer Einschnitt in sein Leben, und wir können davon ausgehen, dass sich nun Wilberforce’ Haltung zu einer Verehelichung änderte, dass er nun doch nicht mehr „seine Reise allein vollenden“ wolle…
Im April war Wilberforce in Bath, wo er sich seinem Freund Thomas Babington anvertraute. …
Babington erzählte nun seinem Wilber, wie seine Freunde ihn gerne nannten, von einer jungen Dame, zwanzig Jahre alt, die erst seit Kurzem die Sache mit ihrem religiösen Glauben ernst nahm, weswegen sie im Elternhaus auf großen Widerstand gestoßen wäre… Ihr Name seit Barbara Ann Spooner, aus Birmingham, wo ihr Vater Bankier war…
Die Eltern hatten ein zweites Haus in Bath, wo sie regelmäßig zur Kur hinfuhren…
Nicht lange danach schrieb Barbara Spooner – vermutlich auf Babingtons Anregung hin – einen Brief an Mr. William Wilberforce und bat ihn um seinen Rat in „geistlichen Dingen“. Wie es schien, verursachten ihre neuen religiösen Ansichten gewisse Spannungen mit der Familie.
Wilberforce‘ Neugier wurde durch ihren Brief geweckt…
Am 13. April, einem Gründonnerstag, schreibt Wilberforce in sein Tagebuch: „Babington hat mit Mrs. Spooner als Gattin empfohlen, haben lange darüber gesprochen…“
Zwei Tage später war Ostersamstag, und Wilberforce war in einer Gesellschaft zum Dinner eingeladen, als er zum ersten Male Mrs. Spooner traf. … In sein Tagebuch trägt er kurz ein: „Sehr erfreut über Miss Spooner“.
In Wirklichkeit war er ab dieser Begegnung Hals über Kopf in sie verliebt…
Ostersonntag 1797 schreibt er in sein Tagebuch: „Was für einen herrlichen Sonntag durfte ich verbringen, wie fröhlich beim Abendessen und wie verliebt“. In jener Woche sah er sie fast jeden Tag.
Folgenden Samstag schreibt er: „Vormittags mit Miss Spooner zur Trinkhalle. … Abendessen bei den Spooners – gefesselt von Miss Spooner. Mein Herz ist dahin, halte mich aber von offenen Bekundungen – auf Rat von Henry Thornton und Hannah More zurück“.
Weiter schreibt er in sein Tagebuch:
„Diese letzte Woche erscheint mir wie ein Monat. Ach – ich fürchte, ich war zu eifrig in Bezug auf irdische Dinge. Es kommt mir vor, als hätte ich ein Fieber gehabt. Ich habe doch ständig zu Gott gebetet, er möge mich leiten… Gestern fesselte mich Miss Spooner erneut, durch ihr Verhalten gegenüber ihren Eltern, den Lillingstones, mir selbst und den Babingtons. Solche Freimütigkeit
und angeborene Würde, solche heitere schelmische Arglosigkeit aus gutem Gewissen, solches Vertrauen und solche Zuneigung zwischen ihr und ihren Eltern…, ihre Bescheidenheit und ihr Anstand, … Habe ihr heute einen langen Brief geschrieben, sie hat kurz geantwortet: Alea iacta est, (Der Würfel ist gefallen)
Ich glaube tatsächlich, dass sie wunderbar zu mir passt… Ich vertraue darauf, dass Gott mich segnen wird. Ich werde jetzt zu ihm beten“.
Wilberforce hatte ihr die Ehe angetragen und war erhört worden. Nun mussten seine Freunde
es erfahren. In ganz Bath machte die Neuigkeit schnell die Runde…
Wilberforce rief Milner aus Cambridge und Thornton aus London herbei, um ihnen seine Barbara vorzustellen…
Ebenfalls amüsiert über die glückliche Wendung schrieb ihm Hannah More, die sich lebenslang alleine der Literatur gewidmet hatte und unverheiratet war.
Am 30. Mai wurden William Wilberforce, siebenunddreissig Jahre alt und Barbara Ann Spooner, zwanzig, in einer stillen Zeremonie in der Pfarrkirche Saint Swithin‘s in Bath getraut.
„Papier unterzeichnet, gegen elf zur Kirche und getraut“, vertraue er seinem Tagebuch an.
„Miss Anne Chapman und Miss Lillingstone als Brautjungfern und meine liebste Barbara, gefasst, doch innerlich aufgewühlt und zu Tränen gerührt… Abendessen bei Mr. Spooner. Meine liebste B. wünscht noch, dass ich mit ihr gemeinsam bete“ Er schließt mit dem Worten:
„Oh, dass ich ihrer würdig sein möge“.
Die Ehe war von Anfang an von gegenseitiger Liebe und Zuneigung geprägt. … Nach vier Tagen reisten sie nach Cowslip Green, um Hannah More zu besuchen und die Mendip-Schulen, bei deren Gründung er sie unterstützt hatte und die Hannah gemeinsam mit ihren Schwestern leitete. Er dachte, eine Besichtigung dieser Gegend mit all ihrer Armut, verbunden mit der Menschenliebe der More-Schwestern, während ein passende Beginn eine Ehe und würde diese noch inniger Gott weihen. …
An dem Tag, an dem er und seine junge Frau sich allein auf den Weg nach Cowslip Green machten, schrieb er seinem Freund Matthew Montagu … „sie möchte sich so weit wie möglich von der flatterhaften Menge zurückziehen und sich bemühen, ihr eigenes Herz zu bewahren und das Glück ihrer Mitgeschöpfe zu fördern. Ich wusste wirklich nicht, dass es eine solche Frau gibt. …“
Die nächsten fünfunddreißig Jahre belegen die überwältigende Wahrheit dieser frühen Beobachtung. …
Sicherlich kamen im Lauf der Zeit verborgene Unterschiede zum Vorschein, aber wenn die Liebe der Sünden Menge deckt, dann doch wohl auch, wenn es nur wenige sind…
Es gab auch Leute, die seine Beziehung als unter Wilberforce‘ gesellschaftlichem Stand ansahen…
Aber auch dies. Henry Duncombe schrieb ihm: „Sie werden meine Gedanken für altmodisch halten, aber ich freue mich sehr, dass Sie Ihre Partnerin nicht unter den adeligen Schönheiten des Landes erwählt haben…“.
Kapitel 16
Das goldene Zeitalter von Clapham
Nach ihrer einwöchigen Hochzeitsreise nach Cowslip Green zu den fünf More-Schwestern begaben sich unsere Jungverheirateten nach London und die junge Frau Wilberforce zog nun zu ihrem Gatten in das Haus in Old Palace Yard Nr. 4. …
Als die Sitzungsperiode endete, beschlossen sie hinauf nach Hull zu reisen, um Barbara Wilberforce‘ Mutter vorzustellen und sie öffentlich in der Grafschaft zu präsentieren, die ihr Ehemann im Parlament vertrat.
Doch auf dem We dorthin erhielten sie eine schlechte Nachricht: Wilberforce’s Schwager, Dr. Clarke, war mit fünfundvierzig Jahren plötzlich verstorben.
Barbara‘s erster Besuch in Hull fand somit in einer Trauerzeit statt. Wilberforce‘ Mutter war ebenfalls bei sehr schlechter Gesundheit und würde im folgenden Jahr sterben. Dr. Clarke war Pfarrer in Hull gewesen, und Wilberforce zog nun die Fäden, um seinen guten alten Freund Milner dorthin zu vermitteln.
Doch Milner starb einige Wochen später ebenfalls.
Im folgenden September traf wieder eine schwere Todesnachricht ein: einer von Wilberforce ältesten Freunden, Edward Eliot, starb. Er war einer der Ersten gewesen, der Wilberforce zum Glauben geführt hatte.
Wilberforce und Barbara kauften nun Eliots Broomfield Lodge, wo sie die nächsten zehn Jahre lebten. Dieser Einzug läutete eine Art Goldenes Zeitalter von Clapham ein, zehn schöne Jahre, in denen sie ihre sechs Kinder zur Welt brachte…
Der Höhepunkt dieser Zeit würde schließlich die Verwirklichung der Abschaffung des Sklavenhandels sein.
Bevor wir von einem Goldenen Zeitalter von Clapham sprechen, sind ein paar allgemeine Worte darüber notwendig. Schon seit. Jahren wohnten einige Parlamentsabgeordnete in diesem Stadtteil und waren, rein zufällig, der gleichen politischen Meinung, dazu auch in der religiösen Gesinnung evangelikal ausgerichtet. Das führte zu abfälligen Bemerkungen, wie Clapham-Kreis oder Clapham-Sekte…
Wie immer wir sie nennen, es lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass sie im Laufe weniger Jahrzehnte unter der inoffiziellen Führung von William Wilberforce ganz buchstäblich und nur teilweise unbeabsichtigt die Welt für immer veränderten.
Besonders Henry Thornton dachte, die Schaffung einer Art Gemeinschaft – die sich vor allem um Wilberforce sammelte – würde in zweierlei Hinsicht nützlich sein. Erstens würde sie den Glauben stärken, und zweitens einen Raum schaffen, in dem sie gemeinsam planen… und notfalls gegenseitig trösten könnten. Solche Gemeinschaften bilden oft den Kern großer Bewegungen.
Thornton war klug genug, um zu wissen, dass in den Kreisen, in denen sie sich bewegten, gläubige Menschen nicht in der Mehrzahl waren. In den höheren Schichten der britischen Gesellschaft jener Zeit brauchte man einen Rückzugsort, wo man nicht für seltsam gehalten oder als methodistisch abgestempelt wurde. Zu solch einem besonderen Ort hatte sich Clapham entwickelt. …
Doch Thornton konnte dies nicht voraussehen. Er schrieb 1793: „Insgesamt hege ich Hoffnungen, dass aus unserem Clapham-System etwas Gutes entstehen kann. Mr. Wilberforce ist ein Licht, das nicht unter den Scheffel gestellt werden sollte. Die Wirkung seiner Gespräche ist bemerkenswert. … Es überrascht mich nicht, festzustellen, wie viel Glaube jeder zu haben scheint, der unser Haus betritt….“.
Clapham war ein Vorort von London, nur vier Meilen von Westminster entfernt… Der Begriff steht aber auch für ein Geflecht von Freundschaften und Familien… die sich alle in einem fröhlichen, leidenschaftlichen und evangelikalen Drang, Gott zu dienen, verbunden wussten, insbesondere, da sie dem Grauen des Sklavenhandels ein Ende machen wollten…
Dieses happy birds nest (Anspielung auf das Gedicht The Happy Birds Nest, von Moses Horton, der als erster afro-amerikanischer Sklave Gedichte schrieb) begann mit Thorntons Vater John, der schon 1754 durch die Verkündigung George Whitefields Christ geworden war.
Thornton wohnte schon in Clapham, als 1756 Henry Venn, ein Evangelikaler, seinen Pfarrdienst dort begann. John Thorntons Schwester, Hannah, wiederum war mit Wilberforce‘ Onkel verheiratet. Dort hatte der neunjährige Wilberforce ja zwei glückliche Jahre verbracht… Dort traf er dann auch zum ersten Mal John Newton…
John Thornton hatte drei Söhne, die alle Parlamentarier wurden und alle in Clapham lebten. …
William Thornton erbte dann das Haus Battersea Rise, ein Riesenanwesen, gebaut in victorianischen Stil, das Zentrum des Clapham-Kreises. Das zentrale Merkmal von Battersea Rise war die ovale Bibliothek. Die Form des Ovals war im ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts groß in Mode. Das bekannteste Beispiel ist natürlich das Oval Office im Weißen Haus. … Die ovale Bibliothek im Battersea Rise hatte William Pitt entworfen, der zwar nicht zum Claphamkreis zählte, aber enge Beziehungen pflegte… …
Die ovale Bibliothek wurde zum Brennpunkt und wichtigsten Versammlungsort des Claphamkreises…
Thornton sen. hatte auch die Villa Broomfield erbaut, in der Eliots wohnten, und die später die Wilberforce’ kauften. …
1793 übernahm der Sohn von Pastor Venn seine Pfarrstelle, und wurde bekannt für seine wertvollen und geschliffenen Predigten…
Auch Granville Sharp, Mitbegründer von Sierra Leone, und James Stephen, der Anwalt aus Westindien, zogen nach Clapham. Ebenso Zachary Macaulay, der Sklavenaufseher auf Barbados war, dann aber, angewidert von der Brutalität der Sklaverei, nach England zurückgekehrt war, um sich der abolitionistischen Sache anzuschließen. Ein weiterer Prominenter war John Shore, der kürzlich aus Indien zurückgekehrt war…
Alle diese Männer und ihre Frauen waren Evangelikale und engagierten sich gegen den Sklavenhandel und für die „Reform der Sitten“…
Dazu kommt noch eine lange Liste von Besuchern, die der Sache des Abolitionismus zugeneigt waren…
Sir James Stephen, der ein Buch über Clapham schrieb, nannte darin Wilberforce „den Agamemnon der Heerschar“ und Milner nannte er „Telamonier Ajax“, in Anspielung auf seine Körpergröße…
Um den Leser nicht zu verwirren, sei das vielfältige Beziehungsgeflecht der Claphamer ein „gordischer Knoten“ genannt, der kaum aufzulösen ist. Ein Beispiel aus Howses Buch Saints in the Politics soll genügen:
„Wie wir gesehen haben, war Henry Thornton der Cousin von Wilberforce; Gisborne heiratete Babingtons Schwester, und Babington heiratete Macaulays Schwester, James Stephen heiratete Wilberforce Schwester Sally; und Macaulay eine Schülerin von Hannah More. Bald kam die nächste Generation, und der Sohn von James Stephen heiratete die Tochter von Pastor John Venn…“
In diese intellektuell und geistlich üppig grünende Umgebung kam nun Barbara Wilberforce aus dem ländlichen Elmdon Hall. Es muss ein wenig überwältigend gewesen sein für diese zwanzigjährige Frau, die überhaupt keine Vorstellung davon hatte, worauf sie sich einließ. …
Wilberforce Mutter lag im Sterben. Er war eilends nach Hull gereist, um bei ihr zu sein. Er schrieb an Barbara: „Meine liebe Mutter musste im Tode nicht leiden. Die Veränderung, die über die letzten acht Jahre allmählich in ihr vorging, war höchst erfreulich für alle die sie liebten…“
Als er mit dem Leichnam seiner Mutter allein im Zimmer war, betete er. Welche Dankbarkeit muss aus seinem Herzen geströmt sein, in dem Wissen, dass sie, die einst die Anfänge seines Glaubens so gefürchtet hatte, selbst eine Wandlung gemacht und seine Schönheit erkannt hatte. Vierzehn nachdem er seiner Mutter Lebewohl gesagt hatte, war Wilberforce wieder zu Hause, um ihr erstes Enkelkind, seinen ersten Sohn, zu begrüßen.
Der Claphamkreis engagierte sich in einer schier endlosen Zahl von Unternehmungen, doch im Mittelpunkt stand stets der Kampf gegen den Sklavenhandel. Eines der Projekte war die mit großer Mühe verbundene Gründung einer freien Kolonie ehemaliger Sklaven in Sierra Leone.
Die Anfänge dieses Vorhabens reichten zurück ins Jahr 1787, als ein Schiff mit ehemaligen Sklaven vor Sierra Leone vor Anker ging. Man hatte eine Kolonie für nun freie ehemalige Sklaven in ihrer Heimat gegründet. An der Westküste, wo sie vorher lebten, fanden sie einen Ort, Sierra Leone und nannten die Hauptstadt Freetown. Diese Kolonie sollte zum Brückenkopf eines neuen freien Afrika werden, und man wollte eine blühende afrikanische Wirtschaft auf die
Beine stellen.
Am 10. Mai 1787 gingen einige hundert Schwarze und sechzig Weiße in der St. Georgs Bay in Sierra Leone an Land und begannen mit dem Experiment. Das Leben war zermürbend schwer für die entstehende Kolonie. Ähnlich den Pilgern auf der anderen Seite des Ozeans war die Sterblichkeitsrate sehr hoch. Fast die Hälfte starb in den ersten Jahren… Dazu gab es Feindseligkeiten, sowohl von Einheimischen als auch von französischen und englischen Sklavenhändlern…
Schon in 1789 wurde die Stadt von einem benachbarten Häuptling in Schutt und Asche gelegt…
Zu dieser Zeit wurde der Ruf der belagerten Kolonisten in Clapham gehört … Es wurde 1790 die Sierra Leone Company gegründet mit Granville Sharp als Präsident… und Wilberforce und Grant wurden Direktoren.
1792 trafen weitere Siedler aus Nova Scotia in Sierra Leone ein, die zuvor im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf englischer Seite gekämpft hatten und nach ihrer Niederlage dorthin geflüchtet waren. … Mehrere Schulen wurden gebaut, ein Krankenhaus und eine Kirche… Die hauptsächliche Unterstützung kam vom Clapham-Kreis…
1794 griffen französische Revolutionstruppen Freetown an und plünderten und brandschatzten, zerstörten die Ernte und mehr… Macaulay erlitt einen Nervenzusammenbruch und kehrte nach England zurück, kehrte aber 1796, frisch verheiratet, für drei Jahre zurück. … 1799 hatte die Kolonie schon 1200 Einwohner, 1808 wurde Sierra Leone Kronkolonie des britischen Reiches… ein einzigartiges Beispiel eines von Sklaven selbst verwalteten Landes war
entstanden, ein kraftvolles Symbol für die abolitionistische Sache.
Kapitel 17
Häusliches Leben in Clapham
…jenes geflügelte Wesen in seinem luftigen Fluge…
Marianne Thornton
Die Vielzahl der Aktivitäten verunmöglichten einen geordneten Haushalt… dazu kamen die vielen Besucher, die Kinder, Haustiere, Bedienstete, und mitten drin wie eine summende Hummel: William Wilberforce. …
Marianne Thornton, die mit in Battersea Rise wohnte, zeichnet uns ein Bild von Milner am Tisch der Wilberforce. Er war ein etwas lauter und ungehobelter Mann, schreibt sie, doch er pflegte in den Wilberforce Häusern, wie es kein anderer wagte, alles zu sagen, was er dachte, und um alles zu bitten, was er wollte…
Obwohl Barbara nicht die beste Gastgeberin war, ihrer Familie war sie sehr hingegeben, und um ihre sechs Kinder kümmerte sie sich vorbildlich, so wie um ihren Ehemann, der ein Bündel an Energie war, und dann wieder von vielen Krankheiten geplagt wurde… Der Dichter Robert Southey schrieb: „Seine Frau sitzt inmitten all dessen wie die Geduld auf einer Gruft, und er wirbelt herum, als wäre jede Ader in seinem Leib voller Quecksilber“. Einige jedoch wollten in
ihren dunklen Augen eine Art innere Anspannung erkennen, die aber ihr Mann in dem turbulenten Tagesablauf nicht wahrnahm…
Oft muss Wilberforce von den schweren Sorgen um die Abschaffung der Sklaverei geradezu erdrückt worden sein. Wenn er dann zu Hause in seinen eigenen vier Wänden war, ließ er offenbar seinem Geist die Zügel schließen und gönnte es sich, mit den Kindern und den Tieren zu spielen, als wäre er eins von ihnen.
Nach allen Schilderungen scheint es so, als ob Wilberforce dem Chaos Leben einhauchte. Der Rest der Familie war im Vergleich dazu weniger wild, und als Marianne Thornton nach dem Tod von Wilberforce erfuhr, dass die Söhne Robert und Samuel an einem Buch über ihren Vater arbeiteten, äußerte sie sich erschrocken bei dem Gedanken, dass diese recht nüchternen Charaktere sich daran versuchten, das Bild ihres Vaters festzuhalten. Von ihnen zu erwarten,
„jenes geflügelte Wesen in all seinem luftigen Fluge“ einzufangen, war ihrer Meinung nach, als verlangte man „von einem Maulwurf, über einen Adler zu sprechen“.
Das kultivierte Chaos war schön und gut, aber es rief auch Widerspruch hervor. James Stephen, der Wilberforce‘ Schwester Sally geheiratet hatte, scheute sich nicht, ihn darauf anzusprechen, dass er ständig seine Energie in so viele Richtungen einsetzte. Er sah mit eigenen Augen, dass Wilberforce sich um jeden Gast, um jeden Brief der mit der Post kam, kümmerte, auch wenn es manchmal besser gewesen wäre, dies auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben und seine Aufmerksamkeit der Aufgabe zuzuwenden, die jetzt am Wichtigsten war.
Diese Kritik scheint zumindest zur Hälfte berechtigt gewesen zu sein, besonders im Blick auf die Berge von Korrespondenz, die Wilberforce unentwegt beantwortete. …
Wilberforce nahm sich solche Kritik sehr ernstlich zu Herzen und übte sich in anderer Hinsicht in außerordentlicher Selbstdisziplin… Allerdings gelang es ihm viel Ruhe und Frieden zu finden, wenn er in der Stille betete und über der Heiligen Schrift meditierte, oder auch bei den ausgedehnten Spaziergängen und Wanderungen, die er auf dem Land unternahm und zu denen er meist Bücher mitnahm. In der Einsamkeit gab er seiner Seele ein gewisses Gleichgewicht zurück.
Im September fuhr die ganze Familie nach Lyme in Dorsetshire, der heutigen Grafschaft Dorset… Dieser Ort, schrieb er an einen Freund, gefällt mir großartig, eine schroffe Küste, ein herrlicher Seeblick, mildes Klima und immer frischer Wind … Bis jetzt hatten wir noch keinen Besucher, und war noch nie an einem Ort, wo ich so sehr über meine Zeit verfügen konnte…
Wilberforce verbrachte viel Zeit, im Freien zu lesen…, aber er dachte auch an Pitt. Der arme Pitt! Wilberforce empfand die Entfremdung von seinem Freund schmerzlich, so unmerklich und unausgesprochen sie auch war. Wilberforce’ Liebe zu seinem Freund änderte sich nie, doch die Strömung seines eigenen Lebens hatte ihn unerbittlich fortgezogen. Natürlich war Wilberforce immer mehr von Leuten umgeben, die aufrichtige Christen waren wie er selbst. … Pitt war unverheiratet geblieben und hatte sich enger an andere angeschlossen, wie an Dundas und Bischof Pretyman, die den Methodisten mit großer Geringschätzung gegenüberstanden. …
1805 kam ein Finanzskandal ans Licht, in den Dundas verwickelt war, und Wilberforce wahrer Wert für die Nation als ein Mann, der wahrhaftig Prinzipien über die Partei stellte, sollte sich zeigen – und leider auch die Kluft zwischen ihm und seinem Freund Pitt.
Dundas, inzwischen Lord Melville, nachdem er 1802 in den Adelsstand erhoben worden war, war nun erster Lord der Admiralität in Pitts Regierung. Fünf Jahre zuvor, als er Schatzmeister der Navy gewesen war, hatte er weggeschaut, als einer seiner Untergebenen Gelder unterschlagen hatte. … Auch hatte Dundas Pitt zum Trinken animiert, womit Pitt über die Jahre seine Not bekam…
Nach einer verlorenen Abstimmung im Unterhaus trat Melville zurück, wurde angeklagt und freigesprochen – man befand ihn der Nachlässigkeit schuldig, aber nicht des Betrugs.
Interessanterweise wurde dadurch der Weg frei für den achtzigjährigen Charles Middleton, den Posten des Ersten Lords der Admiralität zu übernehmen. Besonders benötigten die sich entwickelnden Ereignisse auf Hoher See nun die sichere Hand, die Middleton mitbrachte. Auch sein gutes Einvernehmen mit Lord Nelson war nicht unbedeutend, ja, es war wahrscheinlich ausschlaggebend für die entscheidende Schlacht bei Trafalgar.
Die Übernahme dieses Amtes durch Middleton war eine außergewöhnliche Wendung. Dass dieser Mann, den Wilberforce verehrte und liebte und als einen Freund und Bruder im Glauben kannte – und der stets in der ersten Reihe der abolitionistischen Bewegung gestanden hatte -, nun in seinem vorgerückten Alter den Oberbefehl über die Seestreitkräfte seiner Majestät übernehmen würde – zu dieser überaus kritischen Stunde, als die Zukunft des britischen Weltreichs für die nächsten hundert Jahre von ihm abhing, war geradezu gewaltig.
Pitt und Wilberforce trafen sich im Herbst einige Male, und alles war wie früher… Im November kam die freudige Nachricht von Trafalgar. Middleton – nun Lord Barham – wurde mit der Nachricht geweckt: „Mylord, wir haben einen großen Sieg errungen, aber Lord Nelson ist tot“
Als Wilberforce davon hörte, übermannten ihn seine Gefühle. „So überwältigt“, schreibt er, „dass ich wegen der Tränen nicht weiterlesen konnte“.
Jedes britische Schulkind hat unzählige Male von den mythischen Heldentaten jenes Tages gehört, wie Lord Nelson an Bord der HMS Victory vor der Schlacht an seine Flotte die Nachricht sandte: „England erwartet, daß jeder Mann seine Pflicht tut“, wie er während der Schlacht durch die Musketenkugel eines Heckenschützen, der in der Takelage des französischen Schiffes Redoubtable stand, tödlich verwundet wurde, dass seine letzten Worte lauteten: „Gott sei Dank, ich habe meine Pflicht getan“.
Wie sein Leichnam unter der St. Paul‘s Cathedral in einem Sarg aufbewahrt wird, der aus dem Holz des Mastes der L‘Orient gezimmert wurde, eines versenkten französischen Schiffs.
Wie eine fünfeinhalb Meter hohe Statue auf einer nach ihm benannten Granitsäule sich fünfzig Meter in die Luft erhebt, flankiert von vier Bronzelöwen, gegossen aus der Bronce napoleonischer Kanonen, inmitten des bekanntesten Londones Platzes, dem Trafalgar Square.
…
Für Pitt bedeutete die ruhmreiche Nachricht von Trafalgar nur einen vorübergehenden Aufwind.
Am 2. Dezember ereignete sich die vernichtende Niederlage bei Austerlitz, wo Napoleons Armeen Österreich und Russland überwältigten. Der Schlag erwies sich für Pitt letzten Endes als tödlich. Er hatte einen Großteil der vorausgegangenen zwei Jahre in fieberhafter diplomatischer Aktivität verbracht, um die dritte Koalition aufzubauen – eine Allianz mit Österreich, Russland, Schweden, und Neapel – und es war ihm endlich gelungen. Und nun waren die Armeen der Koalition besiegt und vernichtet. Pitts Gesundheit erlitt durch Austerlitz einen Schlag, von dem er sich nie wieder erholte.
Als Wilberforce am 21. Januar 1806 nach London zurückkehrte, wurde er benachrichtigt, dass Pitt sehr krank sei…
Bevor Wilberforce seinen Freund auch nur besuchen konnte,war es vorbei. Um vier Uhr morgens, am 23. Januar starb William Pitt der Jüngere mit nur sechsundvierzig Jahren.
In einem Brief an Muncaster schreibt er:
„…Dieses Ereignis betrübt mein Herz… Es hat etwas sehr Bedrückendes… Ich gebe zu…dass ich erhofft hatte, ihm wäre eine Pause vergönnt…, vielleicht am Abend seines Lebens, in der er und ich über das wichtigste aller Themen miteinander hätten reden können. Aber der Vorhang hat sich geschlossen – für immer.
Es brach Wilberforce das Herz. Sein lieber Freund war fort – für immer. Und er wusste nicht, wohin er gegangen war.
Kapitel 18
Sieg !
Wilberforce war nun siebenundvierzig Jahre alt…, aber er fühlte sich wie ein alter Mann. Sein seit jeher gebrechlicher Körper, der, soweit er denken konnte, von Schmerzen und Beschwerden geplagt gewesen war, war der eines weitaus älteren Mannes. …
Als Junge von einundzwanzig Jahren war er frisch von den leuchtend grünen Rasenflächen von Cambridge ins Parlament eingezogen – aber wie hatten ihn all die Jahre und die Kämpfe altern lassen! Und nun war auch noch Pitt gestorben, sein Verbündeter und Freund seit jenen sorglosen Tagen.
Seit 1787 hatte Wilberforce eins ums andere Jahr seinen Gesetzentwurf eingebracht, und eins ums andere war er damit an verschiedensten Hindernissen gescheitert. Nach zwanzig langen Jahren hatte er das Boot immer noch nicht in den Hafen gesteuert. … Stets war irgendeine Schwierigkeit aufgetaucht…,
Wilberforce war müde. 1796 war der Erfolg für die Abolitionisten zum Greifen nahe, … umso niederschmetternder hatte deshalb die Niederlage gewirkt. Wilberforce war dabei, für immer aus dem Dienst an der Öffentlichkeit auszuscheiden…, Doch der Zuspruch keines Geringeren als des betagten Patriarchen John Newton hatte ihn abgehalten. Nun, zehn Jahre später, glätteten
sich plötzlich die Wellen, und der Hafen schien ihn endlich aufnehmen zu wollen.
Nach Pitts Tod wurde William Grenville der neue Premierminister. Grenville war vor zwanzig Jahren der dritte Mann, als Wilberforce den Entschluss fasste, den abolitionistischen Kampf anzuführen. Es war schon außergewöhnlich, wie sich die Fäden der Ereignisse verwoben. Gerade jetzt, als Grenville an die Spitze des Staates trat, schlug die öffentliche Meinung wieder zugunsten der Abschaffung des Sklavenhandels um. „Aber es lag auf der Hand, dass ihm der Triumph nicht in den Schoß fallen würde“, schrieben seine Söhne Robert und Samuel.
Die Herzöge von Clarence und Sussex, beide Söhne des Königs, sprachen sich offen gegen die Vorlage aus, womit sie nach allgemeinem Verständnis die Meinung der gesamten königlichen Familie zum Ausdruck brachten. …
Grenville verfolgte die Strategie, die übliche Vorgehensweise umzukehren und den Gesetzentwurf diesmal zuerst im Oberhaus einzubringen. Er würde als Premierminister den Antrag höchstpersönlich verlesen.
Am zweiten Tag des neuen Jahres 1807 wurde das Gesetz für die Abschaffung des Sklavenhandels zum ersten Mal im Unterhaus verlesen. Und der Herzog von Clarence schaffte es tatsächlich, die zweite Lesung um einen ganzen Monat hinauszuzögern. Doch am 5. Februar begann die zweite Lesung mit der lang erwarteten Debatte.
Wilberforce war die ganze Zeit dabei und verfolgte alles. Zweifellos saß er wie auf heißen Kohlen. Grenville eröffnete die Debatte mit einer wortgewaltigen Rede – er konzentrierte sich nicht auf die wirtschaftliche Machbarkeit und Ratsamkeit der Abschaffung des Sklavenhandels, sondern zielte überraschenderweise direkt auf die moralische Frage des Sklavenhandels selbst.
„Können wir es dulden“, fragte er, „dass dieser abscheuliche Sklavenhandel weitergeht und solch unendliches menschliches Leid hervorbringt?“
Er endete mit einer Lobrede auf Wilberforce und nannte das Gesetz „eine Maßnahme, die unter Millionen heute lebender Menschen Glück ausbreiten wird und um derentwillen Millionen noch ungeborener Menschen sein Andenken in Ehren halten werden“.
Und es geschah das schier Unglaubliche. Die Abolitionisten hatten gewonnen, mit einem Vorsprung von 64 Stimmen, 100 zu 36. Nach Wilberforce Erinnerung schloss „Lord Grenvilles Rede mit einem sehr schönen Kompliment an mich, und etliche Adlige begegnen mir nun mit einer ganz neuen Höflichkeit“.
Aber wiegen wir uns nicht zu sehr in Sicherheit. Die dritte Lesung ist für kommenden Dienstag, den 10. Februar angesetzt. Wilberforce erlaubte sich wiederum nur einen vorsichtigen Optimismus, denn er wusste, dass das Gesetz jeden Augenblick durch irgendeine parlamentarische Finesse wieder einmal um ein Jahr oder länger in die Zukunft katapultiert werden konnte, wie es schon so oft zuvor geschehen war.
In einem Tagebucheintrag schreibt er: „Die Entscheidung der großen Frage naht. Möge es Gott, der die Herzen aller in seiner Hand hält, gefallen, sie zu wenden wie im Oberhaus, und möge er mir einen geraden Blick und ein schlichtes Herz schenken, das danach verlangt, Gott zu gefallen, meinen Mitgeschöpfen Gutes zu tun und meine Dankbarkeit gegenüber meinem anbetungswürdigen Erlöser zu bezeugen“.
Etwas später trug er ein: „Gewiss hatte ich nie mehr Anlass zur Dankbarkeit als jetzt, wo ich dabei bin, ein großes Lebensziel zu erreichen, auf das eine gnädige Vorsehung vor siebenundzwanzig Jahren meine Gedanken lenkte. O Herr, lass mich dich von ganzem Herzen preisen, denn gewiss stand nie jemand so tief in deiner Schuld wie ich, wohin auch immer ich schaue, bin ich mit Segnungen überschüttet. Oh, möge meine Dankbarkeit dem wenigstens annähernd entsprechen“.
Die zweite Lesung des Gesetzes im Unterhaus war für den 23. Februar anberaumt. …
Wir sind nur selten in der Lage, etwas Außergewöhnliches zu würdigen, während wir uns mitten in den Ereignissen wiederfinden… Wie können wir also die Empfindungen der Unterhausabgeordneten an jenem Tag ermessen, die die Bedeutung dessen, was nun bevorstand, genau kannten?
Und so wollte eingedenk des beispiellosen Momentes, wohl nahezu jeder dort das Wort ergreifen… Es war höchst ungewöhnlich für dieses Gremium, aber alle spürten, es gilt den Saum des Gewandes der personifizierten Geschichte mit eigener Hand zu fassen…
So sagte der junge Lord Mahon über Wilberforce: „dessen Name mit niemals verblassender Ehre noch an unsere letzten Nachfahren weitergegeben werden wird“.
Dann sprach Romilly, der Zweite Kronanwalt. Dieser schätzte Wilberforce auch sehr wegen seinen Anstrengungen für eine Reform des Strafrechts und seinen Einsatz für die Armen…
Auch verglich er „den Größenwahnsinnigen auf der anderen Seite des Kanals mit der bescheidenen Gestalt unseres Reformers…“, der ja nur wenige Meter von ihm entfernt saß.
Diese Aussage wurde legendär.
Als Romilly von Wilberforce Empfang zuhause sprach, wurde es für Wilberforce zu viel. Seine Gefühle übermannten ihn; er vergrub sein Gesicht in seine Hände und weinte.
Romillys bewegende Ansprache, die nun ins Stocken geriet und sich mit den Tränen ihres Subjekts verband, überwältigte den ganzen Saal. Es war, als wäre irgendwo im Herzen der Schöpfung ein Damm gebrochen. Fast jeder Mann im Saal verlor ein wenig seine Fassung, und wurde von der Flut der Emotionen davongetragen. Alle erhoben sich… Das winzige Rinnsal aus Wilberforce Augen hatte eine Apokalypse ausgelöst, wie sie das Unterhaus noch nicht erlebt
hatte. Doch es war nicht eine Apokalypse des Gerichts, sondern der Gnade.
Wenig später würde das Unterhaus mit 283 zu 16 Stimmen die Abschaffung des
Sklavenhandels beschließen…
Nach diesem historischen Sieg – bei der dritten Lesung am 16. März würde es keine einzige Gegenstimme geben und am 25. März würde das Gesetz dann schlussendlich die königliche Zustimmung erhalten – kehrte Wilberforce in sein Haus in Old Palace Yard Nr. 4 zurück, wo sich viele seiner liebsten Freunde einfanden, um die Freude mit ihm zu teilen. Alle waren gekommen, und die Atmosphäre muss feierlich gewesen sein. Die meisten von ihnen hatten zwanzig Jahre auf diesen Moment hingearbeitet. Granville Sharp sogar fünfunddreißig…
Sie haben sich nicht lange auf diesen Lorbeeren ausgeruht, denn Wilberforce zweites „großes Ziel“ hatte Hunderte kleinerer Kämpfe über soziale Fragen nach sich gezogen und alle würden den Rest ihres Lebens damit beschäftigt sein… Und auch die Hauptschlacht für die Sklaven war noch lange nicht vorüber. Vor ihnen lag noch ein gewaltiges Ringen, um die Abschaffung des Sklavenhandels in der Praxis durchzusetzen und auf die Befreiung der Sklaven hinzuarbeiten.
In einem anderen Teil von London wurde an jenem Tag die Siegesnachricht John Newton überbracht. Er war zweiundachtzig und befand sich im letzten Jahr seines Lebens. Wie muss ihm das Herz gejubelt haben…
Die Nachricht verbreitete sich um den Globus…, und James Mackintosh, oberster Richter in Bombay, schrieb: „Wir müssen immer wieder unser Staunen zum Ausdruck bringen, dass so viel Anstrengung notwendig ist, um eine solch schreiende Ungerechtigkeit zu beseitigen…“
Wilberforce war ein brillanter Denker und geschickter Politiker. Er kannte genau die vielen Faktoren, die im Spiel waren, um einen solchen lang erwarteten Sieg zu ermöglichen. Einer davon war die Vereinigung mit Irland 1801, durch die viele abolitionistische Abgeordnete ins Parlament einzogen. Entscheident war auch, dass in der Öffentlichkeit ständig für den Abolitionismus die Trommel gerührt wurde. Und so sehr sein Freund Pitt auch persönlich die Abschaffung des Sklavenhandels herbeigewünscht hatte, hatte er doch eine Regierung gebildet, die seine Leidenschaft dafür nicht teilte. Sein Cousin und Nachfolger als Premierminister, William Grenville, hatte persönlich einen brennenden Eifer für die Abschaffung des Sklavenhandels, sonder hatte auch politisch Bedeutung, da er Mitglied des Oberhauses war…
Auch das Schreckgespenst des Jakobinertums hatte vielen Briten die Haare zu Berge stehen lassen…
Wilberforce verstand alle diese Faktoren…
Doch für ihn war dieser Sieg zuerst Anlass zu
demütiger Dankbarkeit. Er sagte: „Gott wird dadurch dieses Land segnen“. Der irische Historiker William Lecky äußerte sich so: „Der unermüdliche Kreuzzug Englands gegen die Sklaverei kann wahrscheinlich als eine der drei oder vier vollkommen rechtschaffenen Seiten im Geschichtsbuch der Nationen betrachtet werden“.
Kapitel 19
Jenseits des Großen Ziels
Wilberforce vergaß nicht, daß sie zwar einen epochalen Sieg über den Sklavenhandel errungen hatten, die Sklaverei selbst jedoch weiterhin blühte und gedieh. Am Morgen nach dem Sieg der Abolitionisten waren immer noch 500.000 Menschen als Sklaven auf den brutalen Zuckerrohrplantagen der Westindischen Inseln gefangen. Bei ihnen war von dem Siegesjubel nichts zu spüren, sie ahnten nicht einmal etwas davon. Wilberforce und die anderen verloren diese Männer, Frauen und Kinder nie aus dem Blick. Ab sofort widmeten er und seine Kollegen sich dem andauernden Krieg und den Schlachten, die vor ihnen lagen. Es galt, die Abschaffung des Sklavenhandels in der Praxis durchzusetzen, die anderen Großmächte dafür zu gewinnen, den Sklavenhandel ebenfalls abzuschaffen, und die Leiden derer, die noch in der Sklaverei sind, zu lindern.
Man könnte sagen, dass Großbritannien durch die gesetzliche Abschaffung des Sklavenhandels in 1807 die aufrüttelnde Fragen auf den Wedgwood-Gemmen positiv und amtlich beantwortet hat. Die Menschlichkeit eines Sklaven war festgestellt worden, nun musste sie nur noch respektiert werden.
Die Amerikaner hatten im selben Jahr ein Einfuhrverbot für Sklaven verhängt. (Obwohl es noch ein halbes Jahrhundert dauerte, bis Abraham Lincoln 1863 die Befreiung aller Sklaven verkündete.) Wegen des andauernden Krieges beteiligten sich Holland, Frankreich und Spanien ebenfalls nicht mehr an dem Handel. Allein Portugal betrieb weiterhin noch einen umfangreichen Sklavenhandel.
Und so sah sich Clapham nach dem großen Sieg in 1807 in der Lage, seine unmittelbare Aufmerksamkeit dem afrikanischen Kontinent selbst zuzuwenden. Die Gründung der Kolonie früherer Sklaven in Sierra Leone war seit zwanzig Jahren ein mühsamer Kampf. Nun jedoch sollte endlich die Kolonie der britischen Krone übergeben werden. Sie gründeten die African Institution, um ihr Werk fortzusetzen. Wilberforce war Vizepräsident…, und zum Präsidenten wurde der einunddreissigjährige Herzog von Glouchester erkoren… Er war ein junger Kriegsheld gewesen und durch seine Freundschaft zu Wilberforce und Hannah More zum christlichen Glauben gekommen. Er heiratete eine der Töchter des Königs… und erwies sich als sehr aktiver Präsident der African Institution. …
Doch als dieses Unternehmen Fahrt aufnahm, wurde schmerzlich deutlich, daß das unmittelbare Problem darin lag, die Abschaffung des Sklavenhandels in der Praxis durchzusetzen. Diejenigen, die an diesem lukrativen Geschäft beteiligt waren, gaben nicht kampflos auf. Es wurde jetzt im großen Umfang geschmuggelt. Britische Sklavenhändler wandten den Trick an, auf hoher See einfach die US-Flagge zu hissen, um so den Patrouillen der Royal Navy zu entgehen. So wurden noch Tausende von Afrikaner über die Middle Passage nach Westindien verkauft. Am 8. September schrieb Wilberforce an den US-Präsidenten Thomas Jefferson. Er bat darin, seine Sache der Männer, Frauen und Kinder, die in Gefangenschaft verkauft wurden, zu unterstützen. „Die Unbekannten Scharen, deren Schicksal von der Entscheidung abhängt, die Sie sich über den speziellen Fall bilden werden“.
Wilberforce hoffte auf eine anglo-amerikanische Einigung in dieser Sache. Dazu kam es allerdings erst viele Jahre später…
Die Royal Navy würde sich noch viele Jahrzehnte lang als Polizei auf hoher See betätigen. So unglaublich es erscheinen mag, noch in den 1920er Jahren hatten britische Patrouillen diese ehrenvolle Aufgabe zu versehen. Der Sklavenhandel im großen Stil war zwar verschwunden, aber unternehmungslustige Kriminelle finden stets Nischenmärkte. Bis in die 1920er Jahre durchquerten jedes Jahr zehn oder zwölf Boote, jedes beladen mit fünfzehn bis zwanzig Kindern, hauptsächlich für den Verkauf in die Sexindustrie bestimmt, das Rote Meer hinauf nach Saudi Arabien.
Als Wilberforce 1807 seinen großen Sieg errang, war er schon zehn Jahre mit Barbara verheiratet, und so wurde Clapham zu einer Startrampe für viele kulturelle Reformen, die das nächste Jahrhundert prägen würden. …
Nun zogen die Wilberforce‘ in das drei Kilometer entfernte Kensinghton Gore. Es war direkt neben der Royal Albert Hall, und die ermüdende Pendelei hörte auf, denn nun konnte er zu Fuß nach Hause gehen… Zudem lag sein neuer Wohnort direkt neben dem von ihm so geschätzten Hyde Park. Hier liebte er es, im Park Gedichte und Psalmen laut zu rezitieren …
Kensington Gore wurde nun der neue Umschlagplatz für britische Menschenliebe und moralische Reformen…
Spencer Perceval war der neue Ministerpräsident, und war ein häufiger Gast im Hause Wilberforce, zumal ihre religiösen Ansichten eng verwandt waren. … Bezüglich der Frage, Missionare nach Indien zu entsenden, waren sich Perceval und Wilberforce völlig einig. Da das Unterhaus strikt dagegen war, brauchten in dieser Frage beide gegenseitige Ermutigung. …
Leider würde Perceval es nicht mehr erleben…
Am 11. Mai war Wilberforce bei den Thorntons, als Babington hereinstürmte und meldete:
„Perceval ist heute im Foyer des Parlamentes durch einen Schuss ins Herz getötet worden…“
Als Mrs. Perceval kam, „kniete sie mit ihren Kindern bei dem Leichnam nieder und betete, …, auch um Vergebung für den Mörder“, so schrieb Wilberforce.
Nach Percevals Ermordung schien eine Auflösung des Parlaments bevorzustehen… Und Wilberforce dachte über seine Position als Abgeordneter nach, die er nun seit 28 Jahren für Yorkshire wahrnahm. Mit 24 hatte er begonnen, nun war er 52 und hatte sechs Kinder. Die Anforderungen seiner politischen Stellung zwangen ihn, viel Zeit fern von seiner Familie zu verbringen, viel zu viel Zeit, wie er befand. Einmal, als Wilberforce einen seiner kleinen Söhne auf den Arm nahm, weinte das Kind, und das Kindermädchen sagte treu: „Er hat immer Angst vor Fremden“.
Die Aufgabe seines Sitzes für Yorkshire würde ein dramatischer Einschnitt in seinem Leben sein. So nahm er sich vor, dafür zu beten, dass in dieser Sache Gottes Wille geschehen möge.
Sein Glaube war ja außerordentlich nüchtern, und sorgfältig und demütig. Von übernatürlichen Stimmen oder Visionen schreibt er nie. Er war ständig voller Dank gegenüber Gott und sich seines Standes unverdienter Gnade bewusst. In ihm steckten anglikanische Zurückhaltung und Calvinismus, dass er auf seinem Sterbebett sagen konnte, er habe „seine Füße auf den Fels gestellt“.
Gewiss glaubte Wilberforce, dass man eine persönliche Beziehung zu Gott haben müsse, und dass alle moralischen Anstrengungen nichts wert sind, ohne die Erfahrung der verwandelnden Gnade, die er selbst erlebt hatte.
„Menschen müssen durch die Gnade Gottes erneuert werden, ehe sie bereit sind, Bewohner des Himmels zu sein“, schrieb er, „ehe sie von jener Heiligung ergriffen sind, ohne die kein Mensch den Herrn sehen wird“. Er hatte eine feste und schnörkellose theologische Vorstellung von der Balance zwischen Gnade und Werken und lehnte es ab, in theologischen Sümpfen steckenzubleiben. Gegenüber Babington sagte er es klar und knapp: „Das Blut Jesu Christi reinigt von aller Sünde, und dort ist der Trost, der die tiefste Demütigung mit der festesten Hoffnung verbindet“. Und an seine Cousine Mary Bird schrieb er: „Schau auf Jesus. Weihe Dich mit Leib und Seele seinem Dienst. Ich bete durch Christus zu Gott, er möge Dich fähig machen, dies aufrichtig zu tun“. Seinem Sohn Henry schrieb er: „Du kannst diesen Erlöser wirklich zum Freund haben“. Und aus diesem Grund kam die Freude mit ins Bild und hob ihn über das Klischee des strengen Calvinisten und griesgrämigen Moralisten hinaus. Der Historiker Robert Southey schrieb einmal über Wilberforce, er habe „solch eine beständige Heiterkeit in jedem Blick, solch eine Lieblichkeit in seinem Ton, solch ein Wohlwollen in all seinen Gedanken, Worten und Taten, dass …man für ein Geschöpf von so glücklicher und gesegneter Natur nichts als Liebe und Bewunderung empfinden kann“.
Was nun die Frage betraf, ob er seinen Sitz für Yorkshire verlassen sollte, betete Wilberforce und rechnete damit, Gottes Willen zu erfahren. Sein Einfluss war nun nicht mehr von seiner Machtstellung als Abgeordneter abhängig. Nach der Verabschiedung des Gesetzes gegen den Sklavenhandel war er ja jetzt überall bekannt und angesehen. Wilberforce wurde jetzt mehr als das Gewissen der Nation wahrgenommen, und er konnte es sich leisten, ein wenig zurückzutreten…
Außerdem war sein ältester Sohn inzwischen dreizehn und er empfand eine große Verantwortung gegenüber seinen Kindern. Er wollte einen beachtlichen Beitrag zu ihrer Erziehung leisten, insbesondere zu ihrer ethischen und religiösen Entwicklung. Wilberforce hatte die Gewohnheit, das Für und Wider jeder bedeutsamen Frage auf Papier festzuhalten, während er um Gottes Führung betete, so auch jetzt, als er seine Entscheidung traf, ob er seinen Parlamentssitz für Yorkshire behalten sollte.
In seinen Notizen notiert er am 24.8.1811: „Der Zustand meines Körpers und Geistes legt mir das solve senescentem mature sanus equum vom römischen Dichter Horaz nahe (Löse das alte Pferd beizeiten vom Joch) …“
James Stephen, mit dem Wilberforce ausführlich alles besprach, sagte ihm: „In letzter Zeit habe ich zuweilen Symptome des Verfalls in Deiner körperlichen Erscheinung gesehen, als ob Du schneller älter würdest, als wir es uns wünschen könnten. Auch Deine Stimmung fand ich nicht mehr so unbeschwert, wie es früher war“.
Aus diesen Gründen riet ihm Stephen, auf einen Sitz mit geringeren Anforderungen zu wechseln. Deswegen beschloss er, auf Yorkshire zu verzichten und wurde Abgeordneter des viel kleineren Wahlkreise Bramber im südenglischen Sussex. …
Natürlich geht es jedem so, dass solche Entscheidungen nicht leicht fallen, denn nach achtundzwanzig Jahren als Knight of the Shire konnte man von ihm nicht erwarten, dass er Lanze und Schild ohne innere Bewegung an den Nagel hängte. Er dachte an all die Kämpfe der letzten drei Jahrzehnte zurück.
„Ich komme mir ein wenig wie ein altes Jagdpferd vor, das beim Grasen in einem Park das Gebell der Hunde hört und …losgaloppieren möchte“
Kapitel 20
Indien
… neben dem Sklavenhandel der schwärzeste Fleck auf dem moralischen Charakter unseres Landes.
William Wilberforce
Nun ging er seltener ins Unterhaus und verbrachte mehr Zeit mit der Familie. Das war zu dieser Zeit sehr ungewöhnlich bis unerhört. Deswegen erklärte Wilberforce öffentlich, er wolle mehr Zeit für seine Kinder haben. Dies sandte eine der allgemeinen Kultur entgegenstehende Botschaft in das gesamte Land, über die Bedeutung von Familie und Vaterschaft. Ihre Auswirkungen würden bis ins nächste Jahrhundert hinein auf beiden Seiten des Ozeans spürbar bleiben. Seine Gewohnheit, zweimal täglich gemeinsam mit der Familie zu beten, wurde zum Vorbild für viele in Großbritannien des neunzehnten Jahrhunderts.
Doch es gab noch ein anderes Anliegen, das ihn im Jahr 1813 erneut ins Getümmel des Parlaments lockte. Neben der Reform der Sitten betraf es ein seit Langem bestehendes Gesetz, das Missionaren die Einreise nach Indien verbot. Wilberforce würde mit Hilfe des Claphamer Kreises versuchen, dies Gesetz abzuschaffen. Seit vielen Jahren hatte die britische Ostindien-Kompanie Indien verwaltet und dabei ordentliche Profite gemacht. Weit entfernt von der Heimat tat sie größtenteils was ihr beliebte und behandelte die einheimische Bevölkerung mit einer Haltung die zwischen Verachtung und Gleichgültigkeit oszillierte.
1793 hatte Wilberforce zwei maßvolle Anträge eingebracht, die
vorsahen, Geistliche und Lehrer in verschiedene Teile des Landes zu entsenden. Beide wurden abgelehnt, mit der Begründung, die Anträge liefen auf die Anwendung von Gewalt hinaus, um der einheimischen Bevölkerung den christlichen Glauben aufzudrängen. – Ein völlig absurder Vorwurf…
Ähnlich wie gegenüber der Sklavereilobby war Wilberforce im Umgang mit der
Ostindien-Kompanie anfangs naiv. Er ahnte kaum, was er da anrührte – welche finsteren Abgründe er mit seinen wohlgemeinten Anträgen aufgewühlt hatte. Dieselbe rücksichtslose Geisteshaltung mit der er es im Kampf gegen den Sklavenhandel zu tun gehabt hatte, war auch hier präsent, eine Art Sozialdarwinismus, viele Jahre bevor dieser Begriff geprägt wurde, in dem der Rassismus abermals eine zentrale Rolle spielte. Mächtige Europäer unterdrückten legal und mit großem Gewinn Menschen mit dunkler Hautfarbe und fühlten sich dazu völlig berechtigt. …
Alles was sie an die Menschenwürde ihrer Untertanen erinnerte, empfanden sie als eine klare Bedrohung und wenn von Missioaren und Geistlichen die Rede war, hörte sich das für sie an wie Säbelrasseln. Wie einst die westindischen Sklavenhalter die Böhmischen Brüder wegen ihrer Missionsarbeit unter den afrikanischen Sklaven verabscheut hatten, so verabscheute nun die Ostindien-Kompanie Wilberforce und seine Glaubensbrüder.
Doch inzwischen hatte Wilberforce viel gelernt und so war er besser vorbereitet. Er nannte die britische Unterdrückung „neben dem Sklavenhandel unseren schwärzesten Fleck … unseres Landes“.
An Hannah More schrieb er: „…die Ostinder sind doch unsere Mituntertanen, ja sogar in der engen Beziehung von Pächtern“, und er verurteilte die sträfliche Weigerung der Kompanie, auch nur einen Finger zu heben, „um die Einheimischen aufzuklären und zu reformieren … unter dem gröbsten, dem finsteren System götzendieberischen Aberglaubens, das nahezu jemals auf
Erden existierte“. Damit meinte Wilberforce die barbarischen Grausamkeiten der indischen Kultur jener Zeit, etwas den verbreiteten Kindermord an neugeborenen Mädchen und die Sitte der Sati, bei der eine Witwe bei der Leichenverbrennung ihres Mannes auf einem Scheiterhaufen gefesselt und lebendig verbrannt wurde.
Darüber hinaus war das Kastensystem, das in ganz Indien herrschte, nichts anderes als institutionalisierte Sklaverei. Er wusste, dass jeder Ansatz von christlichem Gedankengut, der in diese zutiefst rassistische und sexistische Kultur eingeführt wurde, diesem leidenden Volk Hoffnung bringen würde, ganz besonders den Ärmsten unter ihnen, die am meisten litten. Seiner Meinung nach fiel Großbritannien als der reicheren Nation die Verantwortung zu, den Menschen Indiens zu helfen. Besonders auch, weil Großbritannien über Jahrzehnte großen Gewinn aus Indien gezogen hatte.
Was die Ostindien-Kompanie am meisten beunruhigte, war, daß schon eine Spur Christentum Auswirkungen darauf haben würde, wie die Briten mit den Indern umgehen konnten. Zu den Praktiken zählte insbesondere die Haltung eines Gefolges minderjähriger Mätressen, die in Wirklichkeit legalisierte Sex-Kindersklaven waren…
Wilberforce wusste, daß die Behauptung der Ostindien-Kompanie, die Einreise von Missionaren wäre „respektlos“ gegenüber der traditionellen indischen Zivilisation, ein schamloser Vorwand war…
Zu jener Zeit wurden allein in der Provinz Bengalen zehntausend Frauen und auch Mädchen im Teenageralter, lebendig verbrannt. Wilberforce war über diese grauenvolle Praxis so bestürzt, daß er der Druckausgabe seiner Rede im Parlament die folgende schriftliche Schilderung von Mr. Marshman hinzufügte, der ein Augenzeuge solch eines Schauspils war:
„Als jemand uns informierte, dass in der Nähe unseres Hauses gleich eine Frau mit dem Leichnam ihres Mannes verbrannt werden sollte, eilten ich mit mehreren unserer Brüder zu der Stätte, doch bevor wir sie erreichen konnten, stand der Scheiterhaufen bereits in Flammen. Es war ein grauenhafte Anblick. Unter den Anwesenden herrschte eine entsetzliche Gleichgültigkeit, so etwas Brutales an Verhalten hatte ich nie gesehen. Die schreckliche Szene hatte nicht den geringsten Anschein einer religiösen Zeremonie, sie ähnelte einer
ausgelassenen Horde … während die Frau bei lebendigem Leibe brannte. Es herrschte eine Unbekümmertheit, ein solch brutales Gelächter, dass es schien, als wäre durch diesen verfluchten Aberglauben jeder Funke der Menschlichkeit erloschen. … Zu sehen, wie wilde Wölfe einen menschlichen Leib solchermaßen Glied für Glied auseinanderreißen, wäre schockierend gewesen, doch zu sehen, wie Verwandte und Nachbarn das mit jemandem tun, mit dem sie keine Stunde zuvor noch vertraut gesprochen haben, und das völlig unbekümmert, was mehr, als ich ertragen konnte. Sie war die Frau eines Barbiers, der in Singapur lebte und kurz zuvor verstorben war. Sie hinterließen einen Sohn und eine elfjährige Tochter, die dieser höllische Aberglaube an einem Tag ihrer Eltern beraubt hatte. Und dieser Fall ist keinesfalls ungewöhnlich… Oft widerfährt das Kindern die Land besitzen, das dann dem Gutdünken derer anheimfällt, die ihre Mutter auf den Scheiterhaufen gebracht haben…“
Wilberforce war über solche gefühllose Gleichgültigkeit zutiefst bestürzt. Dass die britische Regierung so etwas duldete, war schlicht ein Skandal. … Und ebenso wie bei der Abschaffung des Sklavenhandels trieben sie einen großen Aufwand, um die Bevölkerung aufzuklären. Leserbriefe erschienen in den Zeitungen und unzählige persönliche Briefe wurden geschrieben. Wilberforce selbst schrieb hunderte… In einem Brief an Hannah More schrieb er: „Sie werden mir sicher zustimmen, das dies nun, da der Sklavenhandel abgeschafft ist, die größte unserer nationalen Sünden ist“.
Bis zum Juni 1813 war eine halbe Million Unterschritten gesammelt, die dem Parlament vor gelegt werden sollten. … Am 22. Juni war eine Debatte dazu angesetzt, …, und mehrere „Claphamer“ sprachen, deren letzter Redner Wilberforce war. Er hielt die Kammer drei Stunden lang in seinem Bann, und allen Schilderungen zufolge war es wieder eine der glänzendsten Reden seines Lebens. Er sprach über die Tötung weiblicher Kinder, und er sprach über Sati. Er sprach über die Praxis des Gerontizids – die Tötung der „nutzlosen“ Alten – und er sprach über die Ermordung derer, die krank waren, er sprach auch über Menschenopfer aus „religiösen“ Gründen. Hatten die Briten nicht die Verantwortung, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den ohnmächtigen Opfern dieser Abscheulichkeiten zu helfen? … Er argumentierte, allein das Christentum könne einen Weg eröffnen, um den Menschen Indiens zu helfen. …
Die Ostindien-Kompanie vertrat die Auffassung, manche Menschen seien insbesondere aufgrund ihrer Rasse oder ihres Geschlechts von Natur aus minderwertig und sollten dementsprechend behandelt werden. Dies sollte geschehen, ohne dass man auch nur einen Anflug von Schuld dabei empfand. …
Wilberforce sah die Auseinandersetzung über den Umgang der Briten mit den Menschen Indiens und den Völkern Afrikas vor allem als eine Abstimmung über die Bibel und das Christentum selbst. In seiner Rede sagte er: „…und weil ich diese Ungleichheit aus der Welt schaffen will, weil ich ihren gegenwärtigen erniedrigten Zustand auf den rechtmäßigen Stand ihrer Natur erheben möchte, trage ich Ihnen nun deren wahren Charakter vor und erkläre Ihnen ihren wahren Zustand“.
Wilberforce gab offen zu, dass ihm als Christ die ewigen Seelen der Inder ein Anliegen waren, doch er machte auch deutlich, daß das Christentum auch dann die Antwort war, wenn es nur um die diesseitigen Lebensumstände der indischen Bevölkerung ging. Das Christentum, sagte er, „zeigt seinen wahren Charakter…, wenn es seinen Schutz über jene armen erniedrigten Wesen breitet, auf die die Philosophie mit geringschätziger Verachtung hinabblickt. … Er wurde von seinem großen Autor als Frohe Botschaft für die Armen verkündet … und ergötzt sich daran, die Trauernden zu trösten und die Verlassenen zu besuchen“.
Lord Erskins sagte, die Rede verdiene „einen Platz in der Bibliothek jedes gebildeten Mannes, selbst, wenn er ein Atheist wäre“, Das Christentum war lange Zeit aus Indien verbannt gewesen, und Wilberforce forderte lediglich, es als legal zu dulden. Doch die ostindischen Interessenvertreter setzten sich mit aller Kraft dagegen zur Wehr, doch diesmal erlitten sie eine Niederlage. Es war sowohl eine
historische Rede von Wilberforce als auch eine historische Abstimmung, 89 zu 36, die in ihrer Bedeutung der Abstimmung gegen den Sklavenhandel sechs Jahre zuvor nicht viel nachstand.
Sie markierte einen großen Wendepunkt im Verhältnis Großbritanniens zur Welt. …
Es stellt zum ersten Mal in der modernen Menschheitsgeschichte fest, dass die Goldene Regel (Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu) als Maßstab des Verhaltens nicht nur zwischen Einzelnen, sondern zwischen ganzen Nationen und Völkern erhoben werden müsse.
Der Gedanke, der für uns heute so selbstverständlich ist, dass die Mächtigen die Pflicht haben, den Schwachen und Machtlosen zu helfen, breitete sich nun unermüdlich über Großbritannien und weiter aus… Die christlichen Gedanken der Nächstenliebe und dienender Herrschaft würden bald neuen Ausdruck finden in Begriffen wie Noblesse oblige und dann später dem sozialen Gewissen. …
Kapitel 21
Neuanfang in Europa
Während die Abolitionisten für das Indien-Gesetz stritten, verloren sie die Sache des Sklavenhandels nicht aus den Augen. …
1814 veränderte sich die Welt. Napoleon kapitulierte, und der Krieg war nach zweiundzwanzig Jahren zu Ende. Die Abolitionisten hegten nun die Hoffnung, den großen Traum der weltweiten Abschaffung des Sklavenhandels auf dem Wege eines allgemeinen Friedensvertrages zwischen allen europäischen Mächten zu erreichen. Und wenn nun die Franzosen sich auch damit einverstanden erklärten, würde das den Druck auf die anderen Großmächte verstärken. Vor allem Spanien und Portugal. Wilberforce war erfreut über diesen Plan.
Er sagte: „Könnte ich doch nur Französisch, ich würde sofort nach Paris reisen. Wie edel Zar Alexander sich verhalten hat, ich bin hocherfreut, dass Paris verschont wurde“.
Wilberforce begann einen langen Brief an Zar Alexander zu schreiben, mit dem er ihn dazu zu bewegen hoffte, den Vorsitz einer internationalen Konferenz für die Abschaffung des Sklavenhandels zu übernehmen. Andere Mächte wie Venezuela und Argentinien hatten ihren Sklavenhandel schon 1811 aufgegeben… nun würden die größeren Mächte gemeinsam in ein neues Zeitalter treten, in dem ein zweihundertjähriger Krieg, der Sklavenhandel, beendet werden würde…
Mit diesen Gedanken widmete Wilberforce sich den Friedensverhandlungen mit König Ludwig XVIII. Von ihm hing es ab, ob die weltweite Einigung möglich würde. …
An seinen Freund Gisborne schrieb er: „Es wäre schockierend, Europa den Segen des Friedens wiederzubringen und unsere Ehrfurcht vor den Prinzipien der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu bekennen und gleichzeitig diesen Menschenhandel mit unseren Mitgeschöpfen einzurichten… Wir sind sehr mit dem großen Ziel beschäftigt, alle großen europäischen Mächte dazu zu bewegen, sich auf eine Konferenz für die Abschaffung des Sklavenhandels zu einigen.
Möge Gott die Herzen dieser Männer wenden!“
Am 3. Juni 1814 erhielt er eine schreckliche Nachricht: Die Franzosen waren von der Abschaffung des Sklavenhandels abgerückt, hatten als Kompromiss gesagt, „allmählich, innerhalb von fünf Jahren“. Der Gedanke, der Sklavenhandel würde noch fünf Jahre weitergehen, war ungeheuerlich genug. Wilberforce‘ Vermutung, die Franzosen würden ihn wahrscheinlich auch dann nicht abschaffen, war ihm unerträglich…
Die Chancen auf eine weltweite Abschaffung des Sklavenhandels hatten sich zerschlagen. Noch Tausende würden die Qualen der Middle Passage erdulden müssen…, dieser Gedanke war schwer zu ertragen.
Der englische Lord Castlereagh war längere Zeit in Frankreich zu Friedensverhandlungen…, und was er in der Frage des Sklavenhandels erreichen konnte, war ein „allmählich, innerhalb von fünf Jahren“…
Mitte Juni kehrte Castlreagh im Triumph nach London zurück, den Friedensvertag unterm Arm.
Als er das Unterhaus betrat, sprangen alle auf und brachen in Hochrufe aus. Nach einundzwanzig Jahren Krieg war nun endlich Frieden eingekehrt. Keinen Abgeordneten hielt es auf seinem Platz, sei er Whig oder Tory. Außer einem. Das war Wilberforce. Als sich die hunderte Abgeordneten wieder gesetzt hatten, stand Wilberforce auf – und erklärte, warum er nicht beipflichten konnte. Seine Empfindungen seien nicht weniger patriotisch als die irgendeines anderen, und auf Castlereagh schauend, der den Vertrag noch in seiner Hand hielt, sagte er:
„Ich kann mich der Erkenntnis nicht erwehren, dass ich in den Händen meines ehrenwerten Freundes das Todesurteil für eine Vielzahl von unschuldiger Opfer, Männer, Frauen und Kinder, vor mir sehe… Kann man das Elend, das nun durch unser Handeln von Neuem entstehen wird, ohne die tiefsten Empfindungen der Trauer betrachten?…“
Doch Wilberforce zog keine Schau ab. Als er sich setzte, kämpfte er mit den Tränen…
Wilberforce einzige Hoffnung lag nun bei Zar Alexander, der gerade in London weilte. Alle waren vom Prinzregenten eingeladen, den „glorreichen Frieden“, wie er genannt wurde, und das hundertjährige Bestehen der hannoverschen Herrschaft, die 1714 mit Georg I. begonnen hatte, zu feiern. Wohin man auch sah, erblickte man die internationalen Berühmtheiten jener Tage – Könige, Fürsten und Kriegshelden.
Der Zar wohnte im Hotel Pulteney, begleitet von seiner Schwester, Fürstin von Oldenburg.
Wilberforce erhielt eine Einladung zu einer Audienz beim Zaren, eine seltene Ehre für einen Bürgerlichen jener Zeit. … Er war pünktlich und nutzte die Zeit des Wartens für Gespräche mit Adam Fürst Czartoryski und Großherzog von Oldenburg, bis der Zar mit seiner Schwester, Großherzogin von Oldenburg aus dem orthodoxen Gottesdienst kamen.
Zar Alexander war Mitte dreißig, russisch-orthodoxer Christ und dem pietistischen Gedankengut gegenüber aufgeschlossen… Der Zar glaubte sich von Gott dazu berufen, ganz Europa Frieden zu bringen…
Als Wilberforce sich anschickte, den Zar zu begrüßen, wollte er, dem vorgeschriebenen Protokoll entsprechend, niederknien, doch Alexander hinderte ihn daran und schüttelte Wilberforce herzlich die Hand. Sie sprachen über die Abschaffung des Sklavenhandels, und Wilberforce drückte seine tiefe Sorge aus, dass die Franzosen den Sklavenhandel wahrscheinlich nicht wie angekündigt nach fünf Jahren aufgeben würden. Wilberforce berichtet, dass der Zar, der Englisch sprach, „herzhaft erwiderte, wir müssen sie zwingen, und sich dann korrigierte, wir müssen sie daran binden“.
Der Zar war freundlich und schien den aufrichtigen Wunsch zu haben mitzuhelfen, den Sklavenhandel in Europa zu beenden, doch Wilberforce wurde deutlich, dass nur England eine Vorreiterrolle in dieser Frage übernehmen könne.
Am folgenden Tag sprach Wilberforce mit dem Premierminister Lord Liverpool. Laut Wilberforce’ Aufzeichnungen sagte Liverpool zur Erklärung der zurückliegenden Verhandlungen, die Franzosen hätten „Anstoß daran genommen, sich von uns diktieren zu lassen, und seien der Überzeugung, all unsere Beteuerungen, den Sklavenhandel selbst abgeschafft zu haben, oder sie aus Gründen der Religion, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit zur Abschaffung zu drängen, seien nichts als Unfug und bloße Heuchelei“.
Als Nächstes begab sich Wilberforce zu einer Versammlung der African Institution. Romilly sprach und schlug vor, eine öffentliche Versammlung aller „Freunde des Abolitionismus“ einzuberufen, um eine Petition zur Ergänzung des Friedensvertrages ans Parlament zu beschließen.
Vier Tage später platzte die Freemason‘s Tavern aus allen Nähten von Menschen aller Bevölkerungsschichten, vom Landadel und der Geistlichkeit bis hin zu Parlamentariern und Lords. Als Wilberforce eintraf, konnte er sich kaum durch das Gedränge schieben. Er wirkte sehr schwach. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken… Beim Gehen stützte er sich auf seinen Freund, den Banker John Harwood aus Bristol. Obwohl er erst Mitte fünfzig, wirkte Wilberforce bereits sehr alt… Als einige im dichten Gedränge merkten, dass Wilberforce unter ihnen war…, bildeten sie rasch eine Gasse für ihn, sodass er nach vorne zum Podium gelangen konnte. Jubel brandete auf…
Als Wilberforce an der Reihe war zu der Menge zu sprechen, …erblühte der gebrechliche Mann vor aller Augen zu dem leidenschaftlichen Redner, den sie immer gekannt hatten – und inspirierte die dicht gedrängte Versammlung zu einer Resolution. Sie würden dem Parlament eine Petition vorlegen, den Friedensvertrag abzuändern und die Klausel zu widerrufen, die es den Franzosen gestattete, den Sklavenhandel weitere fünf Jahre fortzusetzen.
Nun folgte eine große Petitionskampagne. Bis Mitte Juni waren aus allen Städten quer durch die britischen Inseln 800 Petitionen gesammelt worden, mit einer Million Unterschriften, bei einer Gesamtbevölkerung von einundzwanzig Millionen. Wieder einmal hatte das Volk, das vor nicht allzu langer Zeit noch keine Stimme besessen hatte, …gesprochen. Das Parlament würde auf ihren Ruf hören müssen. …, und am 27. Juni, als sich das Unterhaus versammelte, musste es auch auf die Stimme von Wilberforce hören.
Als er an jenem Tag das Wort ergriff, die Klausel, die den Franzosen fünf weitere Jahre des Handels mit Menschen zubilligte, aus der Friedensvereinbarung zu streichen, klang er wie das Gewissen einer Nation:
„Wenn die Häupter der heute Lebenden zur Ruhe gebettet sind und die Tatsachen, die jetzt solch starke Empfindungen auslösen, von der Feder des unparteiischen Geschichtsschreibers berichtet werden, wenn sichtbar wird, dass eine Gelegenheit wie die gegenwärtige ausgeschlagen wurde, dass die erste Handlung des wieder eingesetzten Königs von Frankreich die Wiedereinsetzung eines Handels mit Sklaverei und Blut war – welches Urteil wird man sich dann wohl über die Anstrengungen bilden, die dieses Land unternommen hat, und über die Wirkung, die diese bei jenem Volk erzielt haben, das doch unter solch gewichtigen Verpflichtungen steht? Sicher wird man weder den britischen Einfluss noch die französische Dankbarkeit sehr hoch veranschlagen können“.
Die Vertragsänderung wurde im Unterhaus wie erwartet verabschiedet, und im Oberhaus ebenso. Nun blieb Castlereagh nichts anderes übrig, als an den Verhandlungstisch zurückzukehren und noch einmal die Franzosen unter Druck zu setzen, nachdrücklicher, als er es zuvor getan hatte. Die Auseinandersetzung verlagerte sich nach Paris und Wien, und die Hauptakteure waren Castlereagh und der Herzog von Wellington, ein standhafter Vertreter des Abolitionismus, der jetzt britischer Botschafter in Paris war. Auch Thomas Clarkson, Stephen
und Macaulay sammelten Material, um es den Franzosen zu präsentieren. …
So entsetzlich es für alle war, die den Sklavenhandel bekämpft hatten, die Franzosen waren gegen die Abschaffung. Sie brachten den Abolitionismus einfach mit der revolutionären Französischen Republik in Verbindung, die sie so sehr verabscheuten. Und ebenso mit den Engländern, die sie ebenso verabscheuten. Letzten Endes ließ sich wenig ausrichten, so viele
Anstrengungen man auch unternahm…
In jenen Tagen verließen allein in Le Havre 19 Sklavenschiffe den Hafen, teils mit englischer Besatzung, schreibt Wilberforce. Er schrieb damals:
„Ich wüsste nicht, dass mich jemals Trauer und Empörung schmerzhafter überfallen hätten. Oh, möge es Gott gefallen, ihnen jenen blutigen Becher aus der Hand zu stoßen, den sie mit solcher Gier zu leeren sich anschicken. Vor meinem geistigen Auge erscheinen sie tatsächlich wie Dämonen, die sich mit grausiger, wilder Freude an ihren wüsten Orgien ergötzen“.
Auch die internationale Versammlung auf dem Wiener Kongress war kaum vielversprechender. Rußland und Österreich stimmten zusammen mit Preußen einem internationalen Verbot des Sklavenhandels zu, aber sie hatten sich ohnehin nur in einem geringen Maße beteiligt.
Indessen spielten die großen Sklavenhandelsmächte Spanien und Portugal auf Zeit und baten um eine achtjährige „Gnadenfrist“, um in ihren Kolonien die „Vorräte aufzustocken“. Im Februar 1815 wurde in Wien eine zahnlose Erklärung verabschiedet, die den Sklavenhandel verurteilte.
Wilberforce und seine betenden Gefährten hatten sich unermüdlich eingesetzt und waren doch gescheitert.
Dann, im März, geschah etwas, das wie ein Wunder wirkte. Napoleon entkam seinem Exil auf Elba, landete in Cannes und erhob plötzlich wieder Anspruch auf die Macht. Er wusste, daß ganz Europa bald wieder gegen ihn in Stellung gehen würde, und mit einem geschickten vorauseilenden Versuch, seinen Erzfeind Großbritannien zu beschwichtigen, verkündete er sogleich die sofortige Abschaffung des Sklavenhandels im ganzen französischen Reich.
Für den Abolitionismus war das eine wunderbare Wendung, unerwartet wie Schneefall im Sommer, andererseits machte sich Verwirrung breit, denn niemand wünschte sich Krieg zurück… Hundert Tage lang herrschte in Europa wieder Aufruhr. Die Alliierten hatten ihren Sieg zu früh erklärt.
Der Herzog von Wellington legte nun seine Rolle als britischer Botschafter am Hofe König Ludwig XVIII. ab und streifte sich seine alte Militäruniform über. Er schrieb seinen Namen für immer in die Geschichtsbücher ein, indem er eine Streitmacht von mehreren Zehntausend britischen, deutschen und niederländischen Soldaten auf die vom Regen aufgeweichten Felder
nahe des Dorfes Waterloo führte, nur wenige Meilen südlich von Brüssel. Der preußische Generalfeldmarschall Fürst von Blücher führte seine Truppen nach Norden, um zu Wellington zu stoßen. Hätte der heftige Regen Napoleons Angriff nicht aufgehalten, so wäre Blücher zu spät gekommen. Doch nun traf Blücher rechtzeitig bei Wellington ein, und Napoleon erlebte sein Waterloo…
Mit Napoleons endgültiger Niederlage endete eine so lange Zeit kriegerischer
Auseinandersetzungen, dass es für Wilberforce ein zutiefst bewegender Moment war, als die Nachricht London erreichte. Der amerikanische Erfinder Samuel Morse, dem wir die Erfindung des Telegrafen verdanken, war ein Freund von Wilberforce und gerade an diesem Tag bei ihm zuhause in Kensington Gore zum Essen geladen. Morse war zu Fuß durch den Hydepark gegangen und hatte gesehen, wie sich überall Menschentrauben bildeten. Es ging das Gerücht,
Napoleon sei gefangen genommen, und der Krieg sei vorüber. Wilberforce konnte es kaum glauben. Er sagte: „Es ist zu schön, um wahr zu sein“.
Während des Abendessens diskutierten sie die Nachricht fieberhaft, und im Salon ging es weiter… Morse überliefert uns seine Erinnerung an den Moment:
„Plötzlich erregte ein Blitz und ein ferner dumpfer Kanonenschuss meine Aufmerksamkeit, doch der Rest der Gesellschaft bemerkte nichts davon. …Ich machte Mr. Wilberforce darauf aufmerksam. Er rannte zum Fenster…, gerade rechtzeitig um die nächsten Blitze zu sehen… Er hatte die Hände schweigend gefaltet, Tränen liefen ihm über die Wangen, … ehe er ein Wort sagte, umarmte er seine Frau und seine Töchter und schüttelte jedem im Raum die Hand. Es war eine unvergessliche Szene“.
Für den Abolitionismus gab es eine noch bessere Neuigkeit. Die Bourbon-Regierung, die nun wieder eingesetzt wurde, nahm Napoleons Erlass über die Abschaffung der französischen Sklavenhandels nicht wieder zurück. Durch seinen glorreichen Sieg auf dem aufgeweichten Schlachtfeld von Waterloo hatte Wellington in den Augen Europas gewaltig an Ansehen gewonnen. Dies hatte die Wende gebracht. Castlereagh hatte erneut Druck auf Talleyrand ausgeübt, und am Ende sah sich der französische König gezwungen, die Abschaffung des
Sklavenhandels zu bestätigen. Am 31. Juli 1815 schrieb Castlereagh an Wilberforce:
„Ich habe die Freude mitzuteilen, dass das lang ersehnte Ziel erreicht ist und dass Lord Liverpool als Bote die bedingungslose und völlige Abschaffung des Sklavenhandels in allen französischen Besitzungen überbringt“.
Dies war eine der wenigen heiligen Stunden in Wilberforce‘ Leben…
Es war ein triumphaler Moment für Wilberforce, und die ganze Welt schien das zu wissen. Als der Abolitionismus überall auf der Welt immer mehr Zuspruch gewonnen hatte, war Wilberforce Stern in der europäischen Gesellschaft in unerreichbare Höhen emporgestiegen. Jeder wünschte ihm zu begegnen, denn er schien ein lebendiges Stück Geschichte zu sein. Man bejubelte ihn, wie man dreißig Jahre zuvor Franklin als den Geist der Aufklärung bejubelt hatte.
Doch im Gegensatz zu Franklin war Wilberforce darüber recht verlegen und beschämt und hielt sie wie eine Schlange auf Armeslänge von sich.
Doch es half nichts, er wurde mit Aufmerksamkeit überhäuft. … Sogar der König von Preußen schenkte ihm ein wertvolles Porzellanservice, und General Blücher sandte extra einen Adjudanten direkt von Waterloo zu ihm… Stephen sagte, „Obwohl Wilberforce in der Tat schmeichelresistent war, war er nicht ungerührt von solcher Aufmerksamkeit und auch nicht undankbar“.
Kapitel 22
Friede und Unruhe
Und so brach 1815 endlich ein dauerhafter Friede an, der die zerfurchte Stirn des Kontinents glättete. Napoleon war sich nach St. Helena verbannt und würde keine Gelegenheit mehr haben, die Welt zu erobern. …
Für Wilberforce jedoch gab es traurige Nachricht. Sein bester Freund Henry Thornton starb an Tubekulose, Frau und neun Kinder hinterlassend. Thornton war von Anfang an mit Wilberforce und seiner Arbeit eng verbunden…
Wilberforce ging hin, um Abschied von seinem aufgebahrten Freund zu nehmen. „Ich stand einige Zeit und betrachtete die Arme, ausgemergelte Gestalt. Ich kann nicht von Antlitz sprechen, denn das war nicht mehr… Ich sagte mir selbst, was durch den Engel zu einer der treuen Nachfolgerinnen unseres Erlösers gesagt wurde: Er ist nicht hier. Er ist ins Paradies gegangen“.
Als die Krankenschwester, die Thornton gepflegt hatte, anfing zu weinen, sagte Wilberforce: „Dies ist nicht unser irdischer Freund. Dies ist nur das irdische Gewand, das er abgeworfen hat. Der Mann selbst, der lebendige Geist, ist schon dabei, mit Unsterblichkeit bekleidet zu werden“.
– Er freute sich zwar, dass sein Freund nun an einem besseren Ort war. Dennoch machte ihm der menschliche Verlust zu schaffen. In einem Brief an Marianne Thornton schrieb Hannah More:
„Armer Wilberforce, er hat einen großen Teil von sich selbst verloren, seine rechte Hand in allen großen Unternehmungen. …“
Bald darauf erkrankte auch Marianne an Tuberkulose. Als er sie in jenem September besuchte, erschrak Wilberforce über ihr Aussehen. Die Frau, die er seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Hull gekannt hatte, war dem Tode nahe. Sie sagte zu ihm mit schwacher Stimme: „Gott führt mich sanft zu jenem seligen Ort, den er denen bereitet hat, die ihn lieben“.
Am 12. Oktober starb sie.
Zwei weitere enge Freunde von Wilberforce starben nur kurze Zeit später, John Bowdler und Dr. Buchanan. An Hannah More schrieb er: „Oh, mögen die Warnungen ihre Wirkung entfalten und uns bereit machen für den Ruf“.
Im Jahr darauf traf ihn mit dem Tod seiner Schwester Sally ein weiterer schwerer Schlag. Ihr Mann, James Stephen, der schon seine erste Frau früh verlor, war untröstlich. Er hatte Sally sehr verehrt… Wilberforce stand James sehr zur Seite und ihre Freundschaft wurde noch enger. …
Der Kampf für die Abschaffung des Sklavenhandels wurde ebenso in den Köpfen der Menschen ausgefochten wie in den Hallen des Parlaments. Die meisten Leute konnten sich nicht vorstellen, dass Schwarze freie Bürger sein könnten, denen man die Aufgabe zutrauen durfte, sich selbst zu verwalten. Deshalb war Sierra Leone ein so wichtiges Symbol. 1811 präsentierte der Inselstaat Haiti eine zweite solche Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass schwarze Afrikaner ihre eigenen Herren sein konnten. … In diesem Jahr gelangte Henri Christophe, ein
früherer Sklave, an die Spitze des Landes. Er hatte sich als Henri I. krönen lassen und war ein tüchtiger Mann, der über enorme Fähigkeiten und Weitsicht verfügte. Christophe war ein Bewunderer der Engländer, besonders wegen ihrer Führungsrolle im Kampf um die Abschaffung des Sklavenhandels, und ein Verehrer von Georg III. …
1815 wandte Henri I. sich an Wilberforce und bat ihn um Hilfe beim Aufbau eines Bildungswesens. Außerdem hoffte er, dass das junge Haiti von England offiziell anerkannt würde, auch als Schutz gegen die Franzosen, die sein Land gerne verschlingen würden. Wilberforce und Clapham verstanden die symbolische Bedeutung des jungen Staates Haiti, und sie wollten ihr Möglichstes tun, um ihm zu helfen. Haiti hatte einen fliegenden Start hingelegt.
Christophe machte sich eifrig und geschickt daran Schulen und Krankenhäuser zu bauen und ehrgeizige landwirtschaftliche Experimente durchzuführen. In seinem ersten Schreiben an Wilberforce bat er ihn um Hilfe dabei, Dozenten zu finden. Macaulay suchte nach Freiwilligen, die bereit sein sollten, ehemalige Sklaven zu unterrichten, auf einer Insel, deren weiße Bewohner kürzlich alle ermordet wurden. Dennoch ging Macaulay unerschrocken ans Werk, und es wurden schnell schottische Professoren gefunden, die bereit waren, Männer und Frauen vom Idealismus der Clapham-Leute…
Unter anderem appellierte Wilberforce an Christophe, – was damals viele als skandalös empfanden – auch den Frauen auf Haiti Bildung zu ermöglichen…
Für Großbritannien jedoch waren die Jahre nach dem Krieg äußerst beschwerlich. Der Friedensschluss von 1815 milderte nicht die finanziellen Nöte des Landes, weil doch die Menschen darauf gehofft hatten. Deswegen machte sich Unmut über die Regierung und zunehmende soziale Unruhen breit. Die schlechten Ernten jener Jahre hatten die Situation verschärft. Für radikale Agitatoren war es ein gefundenes Fressen und etliche ließen sich zu rassistischen Äußerungen hinreißen. Die Furcht, es könne zu Gewaltausbrüchen wie in
Frankreich kommen, war groß, und die Greuel der Revolution waren noch gut in Erinnerung.
Der Populist William Corbett führte eine Verunglimpfungskampagne gegen Wilberforce an, indem diesem vorgeworfen wurde, er sei ein „reicher, realitätsferner Feind des einfachen Arbeiters“… Weiter warf er Wilberforce vor „… große Zuneigung zu den lachenden und singenden Negern zu haben, doch niemals haben Sie für die Arbeiter des Landes auch nur eine Hand gerührt“.
Dieser Vorwurf gegen Wilberforce war absurd und ungerecht. Der Historiker Kevin Belmonte schreibt: „Cobetts Vorwurf war eine der großen politischen Lügen der Epoche“. …
Wo immer Wilberforce Leid oder Ungerechtigkeit begegnete, erschütterten sie ihn tief. Seine Bemühungen für die britischen Arbeiter und die ärmeren Schichten Englands lassen sich kaum ermessen. …
Während Cobbett sich stolz und wortreich als heldenhafter Vorkämpfer der unteren Klassen gab, sollte nicht vergessen werden, dass er zugleich ein eifriger Vorkämpfer der westindischen Sklaverei und somit der erklärte Feind der untersten aller Klassen ist britischer Untertanen war.
Die Liste der Gesellschaften, die von Clapham gegründet wurden, um denen zu helfen, die sie laut Cobbett angeblich übersahen, ist lange…
1818 wurde das Sklavenregistrierungsgesetz verabschiedet… Dabei wurden neue Untersuchungen über die Lage der westindischen Sklaven angestellt. Die Greuel, die nun entdeckt wurden, waren ein Schock für alle, besonders für Wilberforce, nun, elf Jahre nach der Abschaffung des Sklavenhandels. Alle Hoffnung, die Situation der Sklaven hätte sich verbessert, zerschlugen sich…
Das größere Ziel der Abolitionsten war von Anfang an die Befreiung der Sklaven gewesen, doch da der Kampf um die Abschaffung des Handels sich über zwanzig Jahre endlos hingezogen hatte, war dieses größere Ziel ein wenig aus dem Blickfeld geraten.
Nun jedoch, 1818, erkannten alle die Notwendigkeit: Sofortige Befreiung der Sklaven durch politische Mittel… Allerlei Einwände wurden vorgebracht und neue Hindernisse tauchten auf. Doch dieses ewige Abwarten ging Wilberforce gegen den Strich. Im April schrieb er in sein Tagebuch: „Ich bin mir mehr und mehr bewusst, dass meine Fähigkeiten, sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht, verfallen, und ich muss versuchen, mit dem was bleibt, hauszuhalten. Ach, wie bekümmert es mich, dass ich die Lage der westindischen Sklaven nicht vorangebracht habe“.
In jenem Sommer reiste er mit seiner Barbara nach Westmorland im Nordwesten Englands, und erholte sich bei langen Spaziergängen…
Auch besuchte er viele Familien in dieser Gegend – die typisch für Großbritannien war, arme verirrte Schafe ohne einen Hirten – und sprach mit ihnen über den Glauben… Auch las er viel, schrieb unzählige Briefe und empfing immer wieder Besucher…
Im Oktober reisten sie wieder zurück. Wilberforce war inzwischen neunundfünfzig und nahm deutlich wahr, wie die Zeit verging und welche Auswirkungen das für ihn und seine Zeitgenossen hatte. Er hielt fest: „Ich stellte fest, dass Mrs. I., unsere Gastgeberin, eine hübsche junge Frau gewesen war, die ich von vor zweiundvierzig Jahren als Polly Keen aus Hawkshead in Erinnerung habe, jetzt ist sie eine zahnlose alte Frau mit Kiefern, wie ein Nussknacker, aber sehr aufrecht und aktiv“.
Das Jahr 1819 kam, und das Klima für die Sklavenbefreiung wurde nicht besser. In jenen Jahr geschah das furchtbare Peterloo-Massaker, bei dem eine friedliche Demonstration für Staatsreformen auf dem St.Peters Field bei Manchester von Kavallerie-Truppen aufgelöst werden sollte. In dem Gerangel starben elf Menschen und Hunderte wurden verletzt. …
Am 29. Januar 1820 starb der alte König Georg III. nach sechzigjähriger Herrschaft, und der Prinz von Wales wurde als Georg IV. König von England. Zehn Jahre war er mir Mrs. Fitzherbert verheiratet, dann fünfundzwanzig Jahre mit Prinzessin Caroline von Braunschweig-Wolfenbüttel. Aus dieser Ehe stammte eine Tochter, die aber mit siebzehn verstarb… Die Ehe wurde geschieden und Königin Caroline verstarb kurze Zeit später…
In diesem Sommer hatte Wilberforce eine interessante Begegnung. Auf dem Weg in den Urlaubsort Weymouth, an der Küste von Dorset, wurde er von der Herzogin von Kent eingeladen. „Sie empfing mich“, schreibt er, „mit ihrem hübschen, lebhaften Kind neben sich auf dem Boden mit seinen Spielsachen, zu denen ich bald ebenfalls gehörte“. Es war typisch für Wilberforce, sich mit sechzig Jahren auf den Fußboden niederzulassen und mit einem kleinen Kind zu beschäftigen. Doch hätte er gewusst, mit wem er da auf dem Fußboden seine Späße trieb, hätte er vielleicht das Nunc Dimittis gesungen. (Der Gesang des Simeon – Teil der anglikanischen Liturgie). Das deutschsprachig erzogene vierzehn Monate alte Kind mit dem rosigen Gesicht war niemand anderes, als die zukünftige Königin Victoria.
Und so begegnete – auf der Miniaturbühne eines häuslichen Teppichs – das Kind, das der kommenden Ära seinen Namen leihen sollte, dem Mann, der ihr Wesen prägte.
Kapitel 23
Der letzte Kampf
Im Dezember reisten die Wilberforce‘ wieder einmal nach Bath. Hier erhielten sie die Nachricht vom Selbstmord Christophes, der Königs Henri von Haiti. Wilberforce und anderen in Clapham hatten enorm in Haiti investiert, doch die Situation war von jeher außerordentlich schwierig gewesen.
Wilberforce mag in solchen Situationen manchmal etwas zu hoffnungsvoll gewesen sein, doch der haitische König hatte derart eindrucksvolle Führungsqualitäten besessen, dass er – wären die Umstände ein klein wenig anders gewesen – durchaus über die schwierige Situation hätte triumphieren können. Gewiss lastete dieser Gedanke jetzt schwer auf Wilberforce.
Unter Christophe hatte Haiti einen außerordentlich vielversprechenden Anfang genommen, doch im Laufe der Zeit war Christophe immer autoritärer und unbeliebter geworden – und dann hatte er einen Schlaganfall erlitten Der Herzog von Marmalade führte eine Rebellion gegen Christophe an, bis dieser schließlich Selbstmord beging. Die Fortschritte eines ganzen Jahrzehnts waren rasch zunichtegemacht. Diejenigen, die gegen die Abschaffung des Sklavenhandels gewesen waren und sich nun der Sklavenbefreiung widersetzten, waren natürlich begeistert.
Der schottische Arzt Duncan Stewart, der die Aufsicht über Christophes Krankenhäuser hatte, schrien einige Monte später an Wilberforce:
„Jeden Tag wird etwas bekannt, was zeigt, wie wichtig König Henri für die Haitianer war. Seine größten Feinde räumen nun ein, dass sie nie einen Anführer hatten, der mit solchen geistigen und körperlichen Kräften für die Führung gerüstet war. Hätte er über ein. Volk geherrscht, das nicht in der Skepsis des modernen Glaubens geschult und nicht von der Zügellosigkeit der französischen Freigeisterei befleckt gewesen wäre, so hätte Haiti gewiss noch in Jahrhunderten seiner mit Verehrung gedacht“.
Im folgenden Sommer suchte noch größeres Leid die Wilberforce’s heim, als ihre älteste Tochter Barbara an Schwindsucht erkrankte, der Krankheit, die wir heute Tuberkulose nennen. Sie war eine bezaubernde junge Dame, hübsch und erst zweiundzwanzig Jahre alt.
Noch in den Sechzigern war Wilberforce im Parlament aktiv. 1821 hielt er eine wichtige Rede zur Katholikenemanzipation. „Verfolgung wegen religiöser Anschauungen“, sagte er, „ist nicht nur eines der bösartigsten, sondern auch eines der törichtsten Dinge auf der Welt“. Wilberforce Ansichten über den Katholizismus waren komplex und wandelten sich, als er älter wurde.
Anfangs war er für ihn Inbegriff einer >toten Religion< gewesen, genau wie die anglikanische Kirche. Doch gegen Ende seines Lebens erkannte er, dass die Probleme mit der katholischen Kirche ebenso wie die der anglikanischen Kirche weniger mit ihrer Theologie als mit der praktischen Umsetzung zu tun hatten. Wenn die Geistlichen nicht glaubten, was ihre Kirche lehrte, dann konnten sie es auch kaum an ihre Schäfchen weitergeben oder selbst praktizieren.
Doch der Kampf für die Befreiung der Sklaven überragte alle diese Fragen. 1823 endlich schien die innenpolitische Lage einen endgültigen Vorstoß zu diesem großen Ziel zu ermöglichen. Als erstes würde Wilberforce zur Feder greifen und das Buch schreiben, das er sein Manifest nannte: Appeal in Behalf of the Negro Slaves in the West Indies. (Appell im Namen der Negersklaven auf den Westindischen Inseln).
Wie stets war das Buch mit Freundlichkeit gegenüber denen gewürzt, die es so leicht hätten verteufeln können. Wilberforce wusste, dass es tatsächlich Sklaveneigner gab, die ihre Sklaven freundlich behandelten, und viele andere, die wirklich nichts von den vielen Greueln ahnten, von denen er schrieb. Sein ganzes Leben lang widerstand Wilberforce der Versuchung , mit dem Finger auf andere zu deuten und sich als moralisch überlegen zu gebärden. So gelang ihm es ihm, den Zorn mancher Leute zu besänftigen und sie dazu zu bringen, ihm zuzuhören. Nur bei Cobbett gelang ihm das nie. Für ihn war das Buch „ein Haufen frömmelnder Schund, ein Haufen Lügen… für welche die Quäker berühmt sind… Es gibt keinen Menschen, der über die wirkliche Situation der Schwarzen Bescheid und Sie nicht als völlig ahnungslos im Blick auf das Thema bezeichnen wird, über das Sie schreiben , oder der Sie nicht einen unübertroffenen Heuchler nennen wird“.
Viele seiner weniger verhärteten Feinde jedoch hatten sich im Laufe der Jahre tatsächlich vom Abolitionismus überzeugen lassen, und nun hatte dieses Buch eine ähnlich gewinnende Wirkung. Ein Besitzer einer westindischen Zuckerrohrplantage schrieb an Wilberforce, das Buch habe ihn >so berührt, dass ich, und sollte es mich meinen ganzen Besitz kosten, ihn bereitwillig aufgeben würde, damit meine armen Neger nicht nur die Freiheit der Europäer, sondern insbesondere der Freiheit der Christen teilhaftig werden.<
Wilberforce war müde, und er fürchtete, dass für den Kampf, der vor ihnen lag, jüngere Vorkämpfer gebraucht wurden. Er war zwar erst zweiundsechszig, musste aber inzwischen wegen der Verkrümmung seiner Wirbelsäule, die sich verschlimmert hatte, ein Rückenkorsett tragen. Auch war sein Augenlicht schlechter als je zuvor. Zudem litt er unter Atemnot…
Nach einigen weiteren gesundheitlichen Rückschlägen wurde Wilberforce klar, dass er nicht mehr die geeignete Führungspersönlichkeit für den endgültigen parlamentarischen Vorstoß zur Sklavenbefreiung wäre. Es wäre klüger, einen Nachfolger einzusetzen – und in seinem Fall vielleicht zu salben. Das Öl tröpfelte auf das Haupt von Thomas Fowell Buxton, ein zutiefst evangelikaler Parlamentarier, der wie Wilberforce politisch unabhängig, im Gegensatz zu diesem aber er 1786 geboren und damit jung, kräftig und gesund war.
Auch so hatte Wilberforce 1824 den Eindruck gewonnen, es sei an der Zeit, das Unterhaus ganz zu verlassen. … Im Februar 1825 verkündete Wilberforce seinen Rückzug aus der Politik.
Er empfand tiefes Bedauern dabei. … Wie seine Briefe beweisen, war Wilberforce sehr feinfühlig und empfänglich für die Leiden anderer. … Sein Clapham Freund Lord Teignmouth hinterlässt uns folgende Schilderung Wilberforce‘ gegen Ende seines Lebens.
>Bei einem seiner letzten Besuche in Bath<, schrieb Teignmouth, >bahnte sich die kleine Gestalt, nun in ein seltsames Stützkorsett gezwängt, ihren Weg eine der steilen Straßen hinauf, auf denen mit Kohle beladene Karren diese vom Hafen am Avon zu Baths Einwohnern bringen. Zwei rohe Fuhrleute trieben ihr erschöpftes Pferd eine der steilsten Straße hinauf, als eines der Pferde ausrutschte und stürzte. Der Mann, dem der Karren gehörte, war so wütend über die Unterbrechung, dass er Schläge und Tritte gegen das am Boden liegende Tier hageln ließ, vermischt mit heiseren Flüchen. Wilberforce, der in der Nähe war, sprang hinzu, als der Riese gerade seine Hand zum nächsten Schlag erhob und ging dazwischen, wobei er ihn zugleich mit gewandten Worten zurechtwies. Der Bursche erstarrte und stand wütend über die Zurechtweisung da, als ihm ein anderer zuflüsterte, wer sein Gegenüber sei. Das wirkte wie ein Zauber auf den Burschen, dessen finsteres Gesicht sich sofort aufhellte, und dessen Wut sich in staunende Ehrfurcht verwandelte<
1826 zogen die Wilberforce’s auf eine Farm namens Highwood Hill, wo sich bald ihr ältester Sohn zu ihnen gesellte. William hatte vor, dieses Land zu bewirtschaften. … Er hatte geheiratet und schien als Landwirt endlich seinen Lebensweg gefunden zu haben. Die anderen drei Jungen, Robert, Samuel und Henry hatten alle in Oxford erstklassige Abschlüsse erreicht, Robert sogar zwei.
1827 reiste Wilberforce nach Yorkshire, um einige Stätten seiner Jugend zu besuchen. Er traf einen Ladenbesitzer namens Smart, den er vor einem halben Jahrhundert in Hull gekannt hatte. >Er kannte mich, als er selbst noch ein Junge war, und erinnerte sich an den ganzen gebratenen Ochsen<, schrieb Wilberforce in sein Tagebuch.
Bei dieser nostalgischen Reise wurde er oft an seine Sterblichkeit erinnert, denn es schien, als hätten außer dem Ladenbesitzer alle schon vor ihm das Zeitliche gesegnet.
1830 brach die letzte Dekade in Wilberforce‘ Leben an. Die wenigen Jahre, die ihm noch blieben, brachten die eine oder andere Prüfung mit sich, aber auch manche Freuden. In der Öffentlichkeit zeigte er sich nicht mehr oft. …
Am 15. Mai übernahm er zum letzten Mal den Vorsitz bei einer Versammlung der Anti-Slaverei-Society. Doch dann erlebte seine Familie einen schweren finanziellen Rückschlag, der vieles andere überschattete. Die Molkerei, bei der er seinen ältesten Sohn William unterstützt hatte, erforderte nun mehr Kapital, und Wilberforce, den es immer drängte, William zu helfen, unternahm große Anstrengungen, um es zu beschaffen. …
Zum Schluss verkaufte er sein Elternhaus in Hull. Doch nach alledem war das Geschäft ein Reinfall. Sie verloren alles.
Inzwischen über Siebzig, war Wilberforce – der früher ein sehr reicher Mann gewesen war – nun nahezu mittellos. Es war ein schwerer Schlag, aber seine Umgebung war tief beeindruckt von seinem Gleichmut, ja seiner Freude inmitten des Dramas. Er hatte sein ganzes Leben lang riesige Geldsummen verschenkt, und die vielen Menschen, die aus seiner Großzügigkeit Nutzen gezogen hatten, könnte in dieser Welt niemand zählen. Nun war er gezwungen, sogar Highwood zu verkaufen. Für den Rest seines Lebens würde er kein eigenes Haus mehr besitzen. Jeder Fuchs hatte einen Bau und jeder Vogel ein Nest, doch Wilberforce und seine Barbara waren in ihrem Alter auf die Hilfe ihres zweiten und dritten Sohnes angewiesen. Beide nahmen sie abwechselnd bei sich auf.
>Der erlittene Verlust wog so schwer, dass er mich zwingt, von meinem gegenwärtigen Stand hinabzusteigen und meinen Haushalt erheblich zu verkleinern. Aber ich kann nicht umhin, in dieser Fügung zu erkennen, wie gnädig die Schwere des Schlages gemildert wird. Mrs. Wilberforce und ich finden ein angenehmes Asyl unter den Dächern zweier unserer Kinder.
Was könnten wir uns besseres wünschen? Eine freundliche Vorsehung versetzt mich in die Lage, mir wahrhaftig den Ausspruchs Davids zu eigen zu machen, dass Güte und Barmherzigkeit mir mein Leben lang gefolgt sind. Und nun, da der Kelch, der mir gereicht wird, ein paar bittere Zutaten enthält, kann doch gewiss kein Trunk verschmäht werden, der aus solcher Hand kommt und so dankenswerte Aufgüsse enthält wie den geselligen Verkehr und die
lieblichen Koseworte der Dankbarkeit und Zuneigung unserer Söhne.<
1832 traf ihn ein weiterer niederschmetternder Schlag. Seine geliebte Tochter Lizzie starb im Alter von einunddreißig Jahren. Der Verlust traf Wilberforce schwer, doch Lizzies eigene Tochter, noch ein kleines Kind, spendete ihrem Großvater etwas Trost und brachte ihn dazu, über Gott und das Leid nachzudenken. >Ich war gestern sehr beeindruckt davon<, schrieb er, >wie ähnlich in mancher Hinsicht meine eigene Situation der von (Lizzies) lieber kleiner Tochter ist, als sie eine Impfung über sich ergehen lassen musste. Das Kind hielt dem Operateur ohne Argwohn oder Furcht seinen kleinen Arm hin. Doch dann spürte es den Einstich, der schmerzhaft gewesen sein muss, denn
das Erstaunen und der Kummer, die sich dann einstellten, waren mit Worten nicht zu beschreiben. Ihr Mund öffnete sich laut, bis die Schwester kam, um sie zu beschwichtigen. Was für ein Bild für unsere Gefühle der Ungeduld, wenn wir unter den Fügungen eines Wesens leiden, dessen Weisheit wir doch für unfehlbar halten, dessen Freundlichkeit wir gut kennen, dessen Wahrheit wir so gewiss sind, der sagt, dass alle Dinge zum Besten dienen, die Ihn lieben, und dass das Ziel des Leids, das er uns zugefügt hat, darin besteht, uns zu Teilhabern seiner Heiligkeit zu machen<.
Gegen Ende seiner Tage schien sich Wilberforce‘ auffällige Gewohnheit, in allen Situationen beständig dankbar zu sein, sogar noch zu steigern. Er kam zu dem Urteil, das gemeinsame Leben mit seinen beiden Söhnen, die beide Geistliche waren, sei ein Segen, den er nicht erfahren hätte, wenn er nicht finanziell ruiniert worden wäre.
>Es verschafft mir keine geringe Freude und gibt mir Anlass zu großer Dankbarkeit gegenüber dem Geber aller guten Gaben, die herrliche Szene des Pfarrdienstes und häuslichen Glücks zu betrachten, die sich hier zeigt…<
Über seinen Sohn Samuel, der später Bischof von Oxford wurde, schreibt er:
>Seine Gattin war nicht mit vielen prekuniären (finanziellen) Reizen ausgestattet, doch ich bin gewiss, dass sie ein ausreichendes Auskommen haben werden. … und um des Geldes Willen jemand zu heiraten, halte ich für eine der niederträchtigsten Taten, die ein Gentleman begehen kann. Leben bringt in dieses Haus ein wunderbares Kind, das herzallerliebst nun anfängt, Papa
und Mama zu lispeln.<
Sein letztes Zuhause fand er bei Robert, der in einem Pfarrhaus in East Farleigh bei Maidstone in Südostengland wohnte. Selbst hier stellten sich Besucher aller Herkunft, Form und Größe ein, um ihm ihren Respekt zu erweisen. Der russische Außenminister, Fürst Czartoriski, mit dem er im Jahre 1814 auf den Zaren gewartet hatte, stattete ihm einen Besuch ab …
In jenem Frühjahr unternahm die Antisklavereibewegung einen letzten Vorstoß. Vielen war bewusst, daß das große Ziel vielleicht doch noch zu Wilberforce‘ Lebzeiten zu erreichen war.
Am 14. Mai sollte die letzte große Schlacht im Parlament stattfinden…
Die Abolitionisten waren eifrig dabei mit Vorträgen und Versammlungen, mit Leserbriefen und Zeitungsartikeln. Ein Traktat wurde 200.000 mal gedruckt. Darin schilderte ein junger Mann, der erst kürzlich die westindischen Inseln bereist hatte, von Prügelstrafen für die Sklaven, und vom Gebrauch der Peitsche auf den Feldern. Er schrieb, dass keinerlei Besserung der Zustände zu verzeichnen sei, und es endlich zur Sklavenbefreiung kommen müsse …
Eine der Versammlungen fand am 12. April in Maidstone statt, und der alte Pilger würde, vier Monate vor dem Ende seiner Lebensreise, noch einmal erscheinen und zu ihnen reden. Zum Schluss sagte er, dass die Pflanzer, die Sklaven die Freiheit geben, eine Entschädigung erhalten sollen. Doch dazu gab es Widerspruch. Aber Wilberforce sagte:
„…dass dasselbe Wesen, das uns gebietet, die Barmherzigkeit zu lieben, auch sagt: ihr sollt Gerechtigkeit üben, und deshalb habe ich keinen Einwand dagegen, den Kolonisten die Unterstützung zu gewährleisten, die ihnen zusteht“.
Alt, gebeugt, zerfurcht und schwach, war seine Rede recht kurz, doch seine wenigen Worte schienen an Gottes Ohr zu dringen. Denn in den letzten Momenten seiner Rede passierte etwas Verblüffendes.
>Ich bin gewiss<, sagte der alte Mann, >dass wir uns nun dem Ende unserer Bahn nähern<
Der Ausdruck erinnerte an die leuchtende Bahn der strahlenden Sonne über den Taghimmel. Er sprach vom baldigen Ende seiner eigenen Tage, von seinem Verschwinden aus dieser Welt, als ob der Bogenlauf der Sonne endet und ihr Licht erlischt.
Doch genau in dem Augenblick, als er seinen Satz beendete, brach ein Sonnenstrahl in den Raum und tauchte ihn und den Redner in sein Licht.
Es war ein verblüffender Widerhall jenes erstaunlichen Momentes vor einundvierzig Jahren, als am Ende von Pitts großartigem Plädoyer für die Abschaffung des Sklavenhandels das goldene Licht der Dämmerung die Kammer des Unterhauses erfüllt hatte.
Das lag viele Jahre zurück. Wilberforce war noch ein junger Mann gewesen, und der Sieg war ihnen sicher erschienen. Doch jenes Lichtzeichen der Gunst war im Rückblick eine falsche Morgendämmerung gewesen, denn es lagen noch fünfzehn lange Jahre der Dunkelheit vor ihnen, bevor der Sklavenhandel abgeschafft wurde. Doch das heutige Licht war kein falscher Bote, und Wilberforce wusste es. >Das Ziel steht leuchtend vor uns<, sagte der alte Mann und nutzte den Moment ebenso geistesgegenwärtig, wie Pitt esgetan hatte. >Das Licht des Himmels scheint darauf und ist ein Vorzeichen des Erfolgs<.
Im Mai reiste Wilberforce nach Bath, wo ihn sein alter Freund, der Quäker Joseph Gurney besuchte. Dieser schrieb: >…Ich traf den christlichen Verteranen auf dem Sofa liegend, mit einem Antlitz, das sein zunehmendes Alter verriet…, wir sprachen offen über die herrlichen Dinge, die ihn im Reich der Ruhe und des Friedens erwarteten…
Die leuchtende Miene auf seinem zerfurchten Antlitz, mit seinen gefalteten Händen, sprachen von tiefer Andacht und heiliger Freude. „Was mich betrifft“, sagte er, „so habe ich nichts Dringenderes außer dem Flehen des armen Zöllners: >Gott, sei mir Sünder gnädig<.
Wilberforce, dem es zugestanden hätte, sich vor Stolz auf seine Leistungen in die Brust zu werfen, betrachtete alles, was er getan hatte, mit großer Demut und war sich aufrichtig dessen bewusst, was er versäumt hatte.
Doch andere sind nicht zu solcher Bescheidenheit verpflichtet. So schrieb Sir Reginald Coupland, der Beit-Professor für Kolonialgeschichte in Oxford war:
>…mehr als ein anderer Mensch … im Gewissen des britischen Volkes eine Tradition der Menschlichkeit und Verantwortung gegenüber den Schwachen und auf der Strecke Gebliebenen, … deren Geschick in ihren Händen lag, begründet. Und diese Tradition ist niemals gestorben.<
Vor Wilberforce konnte eine Weltmacht wie Großbritannien mit den Völkern Asiens und Afrikas machen, was sie wollte, und zwei Jahrhunderte tat sie das auch und behandelte Menschen wie Tiere oder leblose Güter … Doch Wilberforce hatte eine Veränderung angestoßen. Coupland schreibt:
>Was Wilberforce und seine Freunde erreichten, war in der Tat nichts Geringeres als eine moralische Revolution.<
Als Wilberforce‘ Gesundheitszustand sich verschlechterte, beschloss die Familie nach London zu reisen und einen Arzt aufzusuchen…
Ende Juli brachte Wilberforce jüngster Sohn Henri einen jungen Parlamentsabgeordneten mit zum Frühstück. Sein Name: William Gladstone. Der dreiundzwanzigjährige spätere Premierminister war Wilberforce nie begegnet, obwohl seine Eltern, beide Evangelikale, ihn gekannt hatten. Gladstone würde bis 1895 in der britischen Politik zu einem bedeutenden Bestandteil des 19. Jahrhunderts werden.
>Er ist heiter und gelassen<, schrieb Gladstone über das Zusammentreffen, >ein herrliches Bild des hohen Alters im Angesicht der Unsterblichkeit. Hörte ihn mit seiner Familie beten. Segen und Ehre auf sein Haupt.<
>Ich gleiche einer Uhr, die fast abgelaufen ist<, bemerkte Wilberforce gegenüber seinem Freund. Doch ein Anblick sollte ihm auf dieser Seite des Vorhangs noch vergönnt sein. Am 26. Juli erhielt Wilberforce die Nachricht, dass das, wovon er sein ganzes Leben geträumt hatte, Wirklichkeit geworden war: Das Unterhaus hatte soeben durch ein Gesetz die Sklaverei im britischen Weltreich abgeschafft. Die westindischen Pflanzer würden ungefähr in Höhe des halben Marktwertes ihrer Sklaven entschädigt werden. >Dank sei Gott<, jubelte Wilberforce, >dass ich den Tag noch erlebe, an dem England bereit ist, 20 Millionen Pfund für die Abschaffung der Sklaverei auszugeben<.
Tom Macaulay, der sein ganzes Leben lang von diesem Kampf umgeben war, war nun als Abgeordneter selbst zum Kämpfer geworden. Später gelangte er mit seiner vierbändigen History of England zu Ruhm. Er eilte am nächsten Tag zu Wilberforce, um mit ihm in den Jubel des Mannes einzustimmen, der mehr als jeder andere lebende Mensch die Bedeutung dieses Sieges ermessen konnte. Der Kampf für die Befreiung der Sklaven war wirklich vorüber und gewonnen. Jeder Sklave in den unermesslichen Besitzungen des britischen Weltreiches würde bald von Rechts wegen frei sein. Ein solch freudiger Tag kann erst nach vielen tausend Tagen des Kampfes kommen. Und er war gekommen und ein Traum ist wahr geworden.
An diesem Tag, einem Samstag, fühlte Wilberforce sich besser, und freute sich mit seinen Freunden über den Sieg. Doch am folgenden Sonntag hatte er einige Ohnmachtsanfälle.
Barbara und sein Sohn Henri waren bei ihm, als er sich an jenem Abend das letzte Mal regte. >Ich fühle mich in einem sehr elenden Zustand<, sagte er.
>Ja< sagte Henry, >aber deine Füße stehen auf dem Felsen<.
Nun sprach der Mann, dessen Worte die Welt verändert hatten, ein letztes Mal. >Ich wage es nicht, so positiv zu reden. Aber ich hoffe, es ist so<. Er war demütig und hoffnungsvoll bis zum Ende. Um drei Uhr am Montagmorgen, den 29.Juli 1833, verließ William Wilberforce diese Welt.
Wenige Stunden später traf der folgende an seine Söhne adressierte Brief ein:
>Wir, die Mitglieder der beiden Häuser des Parlaments, sind bestrebt, dem Gedenken an den verstorbenen William Wilberforce unseren Respekt zu erweisen, indem wir ernstlich darum bitten, er möge in der Westminster Abbey bestattet werden, und wir mögen die Erlaubnis haben, an seiner Bestattung teilzunehmen<.
Der Brief war von Henry Brougham, dem Lordkanzler, organisiert worden, und er trug die Unterschrift von Wilberforce‘ altem Freund, dem Herzog von Gloucester. Des Weiteren hatten siebenunddreißig Mitglieder des Oberhauses und fast hundert Abgeordnete des Unterhauses unterzeichnet.
Brougham fügte noch eine persönliche Notiz hinzu: >Nahezu alle Mitglieder
beider Häuser hätten sich angeschlossen, wenn es die Zeit zugelassen hätte <.
Am folgenden Samstag, dem 3. August, ruhten alle öffentlichen Geschäfte. Ein langer Zug von Trauerkutschen bewegte sich vom Haus am Cadogan Place zur Westminster Abbey. Entlang des ganzen Weges flankierten riesige Menschenmengen die Prozession. Der Speaker, der Lordkanzler und der Herzog von Gloucester trugen gemeinsam mit einem weiteren Herzog der Königsfamilie und vier Peers den Sarg, und hinter der schlichten Bahre gingen Wilberforce‘ vier Söhne sowie weitere Mitglieder der Familie und enge Freunde. Der Herzog von Wellington, einige Prinzen aus der Königsfamilie und die höchsten Bischöfe der Kirche nahmen an der Bestattungsfeier teil. Wilberforce‘ Leichnam wurde im nördlichen Querschiff gebettet, nahe bei denen von Pitt, Fox und Canning. Die Inschrift auf seiner Grabplatte, die wahrscheinlich von Thomas Macaulay verfasst wurde, ist am Ende des Kapitels wiedergegeben.
Ein Brief von einem westindischen Geistlichen informierte seine Söhne, daß „ein großer Teil unserer farbigen Bevölkerung auf die Nachricht hin in Trauer ging“.
In der Biografie über ihren Vater schreiben seine Söhne, daß „…dieselbe Ehre von der Klasse der Personen in New York erwiesen wurde, daß die inzwischen gedruckte Grabrede öffentlich vorgetragen wurde, daß in den gesamten Vereinigten Staaten aufgerufen wurde, die äußeren Zeichen der Achtung vor dem Andenken ihres Wohltäters anzulegen“.
Ein Jahr später sollte Wilberforce’ größtes Denkmal gesetzt werden. Sir Reginald Coupland beschreibt es so:
„Ein Jahr später, um Mitternacht am 31. Juli 1834, kamen 800.000 Sklaven frei. Es war mehr als nur ein großes Ereignis in der afrikanischen oder britischen Geschichte. Es war eines der größten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit“.
Der Historiker G. M. Trevelyan schildert es als >neue Ära der Weltgeschichte< die nun anbrach:
>In der letzten Nacht der Sklaverei gingen die Neger auf unseren Westindischen Inseln hinauf auf den Berggipfel, um die Sonne aufgehen zu sehen, die ihre Freiheit mit sich brachte, als ihre ersten Strahlen auf das Wasser fielen<.
Das Bild dieser Männer und Frauen, dem Sonnenaufgang zugewandt, freigeworden in dem Moment, in dem sie diese aufgehen sahen – als das Licht die Dunkelheit vertrieb -, setzt einen angemessenen Schlusspunkt unter unsere Geschichte. Die Sonnenstrahlen jenes Morgen erleuchteten buchstäblich eine neue Welt, ein unentdecktes Land, das noch niemand zuvor gesehen hat hatte. Nun manchen war es vergönnt gewesen, im Glauben einen Blick darauf zu erhaschen, sodass sie um seine Existenz wussten. Als an jenem historischen Morgen die Sonne aufging, wurde endlich für alle offenbar, daß diese neue Welt Wirklichkeit war und schon immer jenseits der Berge gelegen hatte, durch die William Wilberforce uns geführt hat.
Anhang: Inschrift auf seiner Grabplatte
Zum Andenken an:
WILLIAM WILBERFORCE
Geboren in Hull am 24. August 1759
Gestorben in London am 29. Juli 1833
Fast ein halbes Jahrhundert Mitglied des Unterhauses und Abgeordneter für Yorkshire
In einer Zeit und einem Land, fruchtbar an großen und guten Männern,
war er unter den Vordersten derer, die den Charakter ihrer Zeit prägten,
denn neben hohen und vielfältigen Talenten, neben herzlicher Güte und allgemeiner Freizügigkeit besaß er die bleibende Eloquenz eines christlichen Lebens.
So herausragend er in jedem Bereich seines öffentlichen Wirkens war,
und so führend in allen Werken der Nächstenliebe, sei es, um die zeitlichen oder geistlichen Nöte seiner Mitmenschen zu lindern, wird sein Name doch stets besonders verbunden sein mit jenen Anstrengungen, die durch den Segen Gottes die Schuld des afrikanischen Sklavenhandels von England nahmen, und den Weg für die Abschaffung der Sklaverei in allen Kolonien des Empires bahnten.
Bei der Verfolgung dieser Ziele stützte er sich, nicht vergeblich, auf Gott,
doch im Verlauf musste er manches an Schmähungen und Widerständen erdulden;
Und am Abend seiner Tage zog er sich aus dem öffentlichen Leben und dem Blick der Öffentlichkeit in den Schoß seiner Familie zurück.
Doch er starb nicht von seinem Lande unbemerkt oder vergessen.
Oberhaus und Unterhaus von England mit dem Lordkanzler an der Spitze trugen ihn an seinen gebührenden Platz unter den mächtigen Toten ringsum zu seiner Ruhe.
Bis er durch das Verdienst Jesu Christi, seines einzigen Erlösers und Retters, bei der Auferweckung der Gerechten auferstehen wird.
Ende der Zusammenfassung. Die Hervorhebungen im Text sind von mir.
Horst Koch, Herborn, im April 2025
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