Weltevangelisierung (P.Beyerhaus)
Weltevangelisierung oder Weltveränderung?
Aufruf zur Erneuerung eines biblisch-heilsgeschichtlichen Missionsverständnisses
Von Peter Beyerhaus
1. Anlass
Wir begrüßen das verstärkte Suchen der weltweiten evangelikalen Bewegung nach missionarischen Wegen für unsere Zeit. Wir beobachten das u. a. an dem fruchtbaren Verlauf der drei Lausanner Kongresse für Weltevangelisation in den Jahren 1974, 1989 und zuletzt 2010 in Kapstadt. Bei diesen erfreuten die Berichte und persönlichen Zeugnisse von Vertretern besonders der jüngeren Generation aus allen Ländern der Erdteile Asien, Afrika und Lateinamerika.
Jedoch bereitet es uns Sorge, dass die evangelikale Missionstheologie beginnt, ihre traditionelle biblisch-heilsgeschichtliche Begründung zu vernachlässigen. Stattdessen nähert sie sich Schritt für Schritt dem geschichtstheologischen Missionsverständnis des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) an, wie es unter dem Einfluss säkular-ökumenischer Theologen seit Uppsala 1968 und auch später all seinen Konferenzen und Verlautbarungen zugrunde lag. Hier werden Heilsgeschichte und Weltgeschichte miteinander verschmolzen auf dem Weg zur gewollten Aufrichtung des Reiches Gottes schon auf dieser Erde.
Nachdem der ÖRK in den letzten beiden Jahrzehnten sich in seinem Sprachstil dem biblischen Denken der Evangelikalen angenähert hat, folgen zunehmend auch Teile der evangelikalen Bewegung diesem neuen Trend, sowohl weltweit als auch im deutschsprachigen Raum.
Das zeigen drei Beispiele aus jüngster Zeit:
Erstens die von Vertretern des ÖRK und der weltweiten Evangelischen Allianz gemeinsam abgegebene Erklärung „100 Jahre Edinburgh“;
zweitens das Vorbereitungsdokument „Gemeinsam für das Leben: Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten“, ausgearbeitet von Evangelikalen und Vertretern des ÖRK im Blick auf die 10. Vollversammlung des ÖRK im Herbst 2013 im südkoreanischen Pusan;
drittens die Verleihung des nach dem prominenten evangelikalen Missiologen George W. Peters (1907-87) benannten Preises im Januar 2010 an Roland Hardmeier, einem der Vordenker in der zeitgenössischen Transformations-Theologie.
Anfang Januar 2013 fand in Herrenberg bei Tübingen ein wichtiges Gesprächsforum zum Thema Evangelisation und Transformation statt. Es wurde vom Arbeitskreis für evangelikale Missiologie (AfeM) gemeinsam mit der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) und der Arbeitsgemeinschaft evangelikaler Missionen (AEM) durchgeführt. Allerdings kam es bei diesem zu keiner theologischen Klärung des behandelten Problems. …
2. „Transformation“ als neue Thematik evangelikaler Missionstheologie
Seit der III. Vollversammlung in Neu-Delhi 1961 hatte sich in der Genfer Ökumene unter dem Einfluss von Theologen wie Johannes Chr. Hoekendijk, Harvey Cox, Jürgen Moltmann und Walter Hollenweger ein modernes Missionsverständnis entwickelt. Durch die Vermittlung der ursprünglich in Lateinamerika beheimateten „Radikalen Evangelikalen“ ist es nunmehr zunehmend auch auf evangelikaler Seite übernommen worden.
Wichtig dabei ist es auch, die Ursprünge und die neuere Entwicklung der Transformationsidee in der weltweiten evangelikalen Bewegung zur Kenntnis zu nehmen. Das theologische Problemfeld der zeitgenössischen evangelikalen Bewegung liegt nicht mehr in dem viel behandelten Verhältnis zwischen „Wortverkündigung und Diakonie“ bzw. dem zwischen „Evangelisation und sozialer Verantwortung“ … Vielmehr geht es in der jetzigen Diskussion zunehmend um das Spannungsfeld zwischen Gesellschaftsveränderung als Ausdruck des Reiches Gottes und als angebliches Ziel der Mission.
Dieses Missionsverständnis wird gekennzeichnet mit Begriffen wie „ganzheitlich“, „holistisch“, „inkarnatorisch“. Auch viele Missionstheoretiker betreiben das bisherige Fach „Missionstheologie“ jetzt unter der Bezeichnung „Missionale Theologie“. …
In diesem Zusammenhang bildet das Wort „Transformation“ einen Schlüsselbegriff. Worum geht es dabei? fragen viele Christen, für die er bisher völlig unbekannt war.
Den Begriff der „Gesellschafts-Transformation“ finden wir heute sowohl im ÖRK als auch seit 1982 in der evangelikalen Missionsbewegung als Leitidee. Angesichts seiner raschen Verbreitung bedarf er dringend einer Klärung.
Das Wort „Transformation“ als solches kommt vom lateinischen transformare = umformen. „Transformation“ im Sinne einer Veränderung von sozialen und politischen Strukturen ist kein biblischer Begriff. Am ehesten entspricht ihm das griechische metamorphóo = umgestalten, verwandeln (Matth 17,2; Röm 12,2; 2Kor 3,18). Damit ist die vom Heiligen Geist bewirkte Umwandlung der Wiedergeborenen, nicht aber eine Umgestaltung irdischer sozialer Zustände gemeint. Das gilt es bei allen theologischen Gesprächen mit den Vertretern einer Transformations-Theologie zu beachten. …
In der Neuzeit wurde der biblische und altkirchliche Begriff „Transformation“ wieder aufgegriffen und eigenwillig uminterpretiert durch die Theosophie, besonders durch die englisch-amerikanische Theosophin Alice Bailey (1880-1949). … In einem kommenden neuen Weltzeitalter soll die Menschheit zu einer höheren Rasse emporentwickelt und eine neue Weltordnung eingeführt werden.
Diese Entwicklung kommt, so heißt es, zwar automatisch; aber erleuchtete Menschen können sie beschleunigen, indem sie an der „Transformation“ aller Lebensbereiche mitarbeiten.
Dazu ist eine Bewusstseinserweiterung erforderlich, die durch das Praktizieren von Yoga und Meditation erreicht werden kann. … Am Ende der universalen Transformation soll eine Weltregierung eingesetzt werden, die den weltweiten Frieden auf Erden verwirklicht. – Die Ideen der Theosophie wurden voll übernommen von den Pionieren der New Age-Bewegung.
Der zunächst durch die neo-evangelikale Bewegung in Nordamerika übernommene Begriff ist also gefährlich belastet; denn bei der hinduistischen bzw. buddhistischen Meditation öffnet sich das Unterbewusstsein für okkulte Einflüsse.
Dass die Neoevangelikalen das Konzept einer Gesellschafts-Transformation nützlich fanden, hängt damit zusammen, dass sich in weiten Teilen der amerikanischen Missionsbewegung seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die „Kingdom-Theology“ durchgesetzt hat. Dies geschah in Verdrängung der bisherigen auf persönliche Bekehrung und Gemeindebau ausgerichteten Missionstheologie, weil man von dem hier anvisierten erweiterten Missionsziel fasziniert war.
Eine Facette innerhalb der Kingdom-Theology ist die Dominion- bzw. Herrschaftstheologie. Sie entstand in der älteren amerikanischen Tradition des „Postmillennialismus“, d.h. der Überzeugung, dass das von Jesus verkündete messianische Friedensreich, das Tausendjährige Reich (Millennium) von Offenbarung 20, 1-6, vor seiner Wiederkunft auf dieser Erde errichtet werden soll.
Diese Vorstellungen sind nun von den deutschsprachigen Autoren der Transformations-Theologie übernommen worden, und sie werden durch ihre Veröffentlichungen verbreitet und durch Aktionen wie die „Micha-Initiative“ auch in die Tat umgesetzt und zum neuen Missionsprogramm erhoben.
Theologen der „transformatorischen Bewegung“ haben durch beeindruckende Publikationsreihen auf sich aufmerksam gemacht. Außer den Autoren dieser Bücher haben sich vor allem das Marburger Bibelseminar und das Institut für Gemeindebau und Weltmission (IGW) der Transformations-Theologie gewidmet.
Die Transformations-Theologie hat konkrete Auswirkungen in der missionarischen Praxis. Wirtschaftlich-soziale Projekte verdrängen die evangelistische Verkündigung. Zwar bekennen sich grundsätzlich die meisten Transformations-Theologen im Prinzip zur Notwendigkeit evangelistischer Verkündigung. Sie meinen dies durchaus ernst; einige zeigen es auch im eigenen missionarischen Engagement, z. B. in der Moslem-Mission. Trotzdem beobachten wir mit Besorgnis, dass in den programmatischen Veröffentlichungen der Transformations-Theologie neben die Verkündigung des Evangeliums die soziale und, wo möglich, politische Aktion als gleichwertige Ausdrucksform des Evangeliums und der Königsherrschaft Gottes tritt.
Durch diese Erweiterung bleibt jedoch die soteriologische, d.h. die auf das ewige Heil gerichtete Dimension des Evangeliums, die von Jesus durch seinen Sühnetod gebrachte Erlösung nicht unberührt. Im Gegenteil erweist es sich, dass sowohl in der Theorie als auch der missionarischen Praxis das Heil der Seele durch Bekehrung hin zu Christus hinter der Schaffung besserer sozialer und ökonomischer Lebensbedingungen zurücktritt. …
3. Das Schriftverständnis der Transformations-Theologie
3.1 Kontextuelle Hermeneutik
Alle Transformations-Theologen bekennen sich grundsätzlich zur Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift. Allerdings lassen sich deutliche Weichenstellungen beobachten, welche die Schriftauslegung betreffen. Sie stehen im Zusammenhang mit der „kontextuellen Hermeneutik“, welche einen Text von seinem Kontext, in diesem Falle dem sozialpolitischen Kontext, her verstehen will. Die Problematik liegt darin, dass sie die biblischen Texte nach den Auslegungsmethoden der zeitgenössischen kontextuellen Theologien lesen, wie sie besonders von Vertretern befreiungstheologischer und feministischer Theologie bekannt sind. Der soziale Kontext, in dem die biblischen Texte gelesen werden, bietet dabei einen Deutungsschlüssel. Damit verbindet sich eine bestimmte Zuordnung von Altem und Neuem Testament.
Willkürlich ausgewählte geschichtliche Ereignisse des Alten Testaments, wie die Befreiung Israels aus Ägypten, die Bestimmung Israel zum Licht der Völker sowie die prophetische Predigt gegen die Mächtigen und die Ungerechtigkeit sieht man als „paradigmatische“ Modelle und versteht sie verpflichtend für die Mission der Kirche.
Damit wird der Boden der klassischen evangelischen Schriftauslegung verlassen. Für diese bildet bekanntlich Jesus Christus die entscheidende „hermeneutische Brille“, indem er selber verbindlichen Aufschluss darüber gab und heute gibt, wie das Alte Testament zu verstehen ist (Luk 24,27.45; vgl. Apg 13,47, 2.Kor 1,20). Die Transformations-Theologen hingegen entnehmen dem Alten Testament bestimmte geschichtliche Ereignisse und interpretieren sie – ungeachtet der heilsgeschichtlich fortschreitenden Offenbarung in der Heiligen Schrift und an Jesus Christus als deren Mitte. Von ihrem „kontextuellen“ Blickwinkel her erheben sie ihre neue Sicht zum Maßstab der Mission der Kirche heute.
Bezeichnend für diese einseitige Konzentration auf die soziale Thematik in der Heiligen Schrift ist, dass die sog. Micha-Initiative in Zusammenarbeit mit christlichen Hilfswerken eine „Gerechtigkeitsbibel“ herausgegeben hat. Die Micha-Initiative ist eine weltweite christliche Kampagne für die Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen und für globale Gerechtigkeit. Zu ihren acht konkreten Zielen gehört als erstes und wichtigstes die Halbierung der Weltarmut bis zum Jahre 2015. In Deutschland machte sich insbesondere die Evangelische Allianz zum Hauptträger der „Micha-Initiative“.
Wegen dieser Übernahme weltpolitischer Ziele sowie ihres wirklichkeitsfremden Charakters hat Rolf Scheffbuch diese Initiative scharf kritisiert. Er wies darauf hin, dass bei einer Mitverantwortung für die Millenniums-Entwicklungsziele den Missionaren eine ungeheure Last aufgebürdet werde, die ihre Zeit und Kraft restlos in Anspruch nehmen würde und doch nur in Frustrationen enden könne. Es enttäuschte ihn jedoch, dass er mit seiner Beurteilung bei den Verantwortlichen in der Deutschen Evangelischen Allianz wie auch bei der Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen nicht durchdrang.
3.2 Anthropozentrik
Eine Folge des kontextuellen Verständnisses der Heiligen Schrift bei den Transformations-Theologen ist, dass der Mensch mit seinen Problemen, Nöten und Wünschen zum Mittelpunkt wird, nicht aber Gott, der sich in der Heiligen Schrift offenbart, uns unsere tiefste Not, die Sünde, aufdeckt und zugleich unsere Erlösung durch das Heilswerk von Jesus Christus aufzeigt. – Die Entscheidung für die kontextuelle Methode hat die Transformations-Theologen zu einer Vorentscheidung über die Auslegung jedes Bibeltextes im Lichte der gegenwärtigen menschlichen Situation geführt. Wenn der biblische Text aber nur auf die Fragen des heutigen Kontextes hin gelesen wird, wird er nicht das aufzeigen können, was er selbst sagen will.
3.3 Die angebliche Engführung der paulinischen Theologie
Die zweite hermeneutische Weichenstellung ist die Wahl des neutestamentlichen Ausgangspunktes. Man behauptet, dass die protestantische Theologie mit ihrer starken Ausrichtung auf Paulus einer Engführung erlegen sei. Diese müsse nun durch die Wahrnehmung des vorgeblich ganzen Evangeliums korrigiert werden. Bei näherer Betrachtung sehen wir große Ähnlichkeiten mit der Social-Gospel-Bewegung, zu der sich viele Transformations-Theologen offen bekennen. Gerade sie sollten allerdings bedenken, dass dieses „soziale Evangelium“ schon im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Kursänderung und Erlahmung in der in Edinburgh 1910 so hoffnungsvoll aufgebrochenen internationalen Missionsbewegung verursachte.
4. Das Jesusbild der Transformations-Theologie
Tiefgreifende Konsequenzen hat die kontextuelle Bibelauslegung der Transformations-Theologie für ihre Christologie, d.h. ihre Sicht von Person und Werk von Jesus, dem Christus. Von dieser Darstellung des zentralen Inhalts des christlichen Glaubens her fallen zugleich die Entscheidungen für das Gesamtverständnis der Kirche und ihrer „missionalen“ Existenz.
Christologische Gesichtspunkte kommen bei allen Autoren der Transformations-Theologie gelegentlich zu Worte. Die ausführlichste Behandlung der Person und des Werks von Jesus Christus und von deren heutiger Bedeutsamkeit legt Roland Hardmeier im 7. Kapitel seines Hauptwerkes Kirche ist Mission vor. Welche Bedeutung er selbst seiner hier entfalteten Sicht beimisst, kommt zum Ausdruck in seiner Bemerkung:
„Die Entwicklung der evangelikalen Mission hin zur Mission als Inkarnation und Transformation entspricht dem Auftrag von Jesus, gesendet zu sein, wie er gesandt war, und darf in Anspruch nehmen, eine solide christologische Grundlage zu haben.“
Das Kapitel trägt die Überschrift: „Der Mensch Jesus“. Gewiss übernimmt er damit nicht etwa das liberale bzw. „entmythologisierte“ Jesusbild der modernistischen Theologie. Denn prinzipiell hält er sowohl an den Lehraussagen der biblischen Christologie als auch der Soteriologie (der Lehre von der Erlösung) fest.
Aber die genannte Überschrift zeigt, dass Hardmeier das Hauptgewicht auf das Menschsein von Jesus legt. Das geschieht unter weitgehender Ausblendung seines Gottseins, wie dieses besonders im Johannesevangelium (Joh 1, 1-14; 20,28) betont herausgestellt wird und von der Alten Kirche in ihren grundlegenden Dogmen von Nizäa 325 und Chalcedon 451 formuliert worden ist: Der Sohn Gottes ist wesensgleich mit Gott dem Vater, und in seiner Person sind beide Naturen, die göttliche und die menschliche, untrennbar miteinander vereint.
Nun wird zwar das Wunder der Menschwerdung Gottes angesprochen in dem Begriff „inkarnatorisch“, der im zeitgenössischen Missionsverständnis der neuevangelikalen Bewegung eine wichtige Rolle spielt. Doch geht es dabei gerade nicht so sehr um das einmalige Wunder der Fleischwerdung des ewigen Logos in der Person des Christus. Vielmehr wird in dem, was wir eine „Vorbild-Christologie“ nennen können, hervorgehoben, dass der menschgewordene Jesus Christus sich zum Diener gemacht und eine Existenz des Dienstes in den Nöten der Menschheit geführt habe.
Das klingt gewiss an den Christushymnus des Paulus in Philipper 2, 5-11 an, übersieht jedoch, dass der Höhepunkt dieses Dienstes im Sühnetod von Christus am Kreuz bestand und aus Gehorsam gegen Gott geschah. Dieser hat deswegen seinen Sohn zu seiner Rechten erhöht und zum Herrn aller derer gemacht, die im Himmel und auf der Erde sind. Von dort übt Christus jetzt seine Gnadenherrschaft aus. Seine Vorbildfunktion hingegen konzentriert sich im Neuen Testament wesentlich auf seinen Leidens- und Sterbensweg (Matth 16, 24; Mt 20,28; Joh 13,13-15; 1Petr 2, 21-24).
Mit seiner Erhöhung ist jedoch ein neues Datum der Heilsgeschichte gegeben, das einer „Imitatio (Nachfolge) Christi“ eine Schranke setzt. Es ist im Sinne des biblisch-reformatorischen Heilsverständnisses nicht erlaubt, aus dem „Christus für uns“ ein „Wir wie Christus“ zu machen; denn damit würde das Evangelium in ein neues Gesetz verwandelt. …
Wir wenden uns gegen die heutige Tendenz, Wesen und Aufgaben der Mission aus den gesellschaftlichen Analysen unserer Zeit und den Anfragen der nichtchristlichen Menschheit zu bestimmen. Was das Evangelium den heutigen Menschen im Tiefsten zu sagen hat, … ist durch das apostolische Zeugnis ein für alle Male normativ vorgegeben. …“
Heute nun steht die evangelikale Missionsbewegung in Gefahr, durch die Kontextualisierungs-Bemühungen der Transformations-Theologie auf die Fährte eines unechten Jesus geführt zu werden. Deswegen warnen wir in unserm Tübinger Aufruf mit den Worten des Apostel Paulus an die Korinther (2Kor 11, 3-4:
„Ich fürchte aber,…, auch ihr könntet in euren Gedanken von der aufrichtigen Hingabe an Christus abkommen. Ihr nehmt es ja offenbar hin, wenn irgendeiner daherkommt und einen anderen Jesus verkündigt, als wir verkündigt haben, … oder ein anderes Evangelium, als ihr angenommen habt.“
5. Kirche für die Welt
Das, was in der Transformations-Theologie der Christologie, der Lehre vom Wesen und Werk des Gottessohnes Jesus Christus, widerfährt, hat direkte Folgen auch für die Ekklesiologie, das Verständnis der Kirche. So wie dort bei Jesus Christus der wichtigste Aspekt der ist, dass er sich zum Diener der Welt in ihren Nöten machte, so wird auch hier die Kirche einseitig unter dem Aspekt ihres Dienstes bei der Welttransformation betrachtet. Das bedeutet, dass für die Transformations-Theologie die Funktion der Kirche wichtiger ist als ihr Wesen.
In Neuen Testament besteht dieses bekanntlich darin, dass sie in inniger Verbindung mit dem erhöhten Christus steht, so, wie die Glieder des Leibes zu ihrem Haupt (1Kor 12,12; Eph 1,22; 4,15; 5,23; Kol 1,18), wie die Reben zum Weinstock. In ihrer Neugeburt haben die Gläubigen Anteil an der göttlichen Natur gewonnen (2Petr 1,4), entronnen der verderblichen Lust der Welt. Durch Gott den Sohn steht die Kirche bzw. Gemeinde auch mit den beiden anderen Personen Gottes in enger Verbindung. Sie ist das Volk Gottes und der Tempel des Heiligen Geistes.
Hingegen wird nun die Kirche in der Transformations-Theologie in einer anderen Perspektive betrachtet und gewertet. Hier steht sie unter der Berufung, sich in ihrer ganzen Existenz dem Dienst in der Welt zu widmen und sich um die Verwandlung der wirtschaftlich-sozialen und politischen Strukturen der Gesellschaft zu bemühen, sodass dadurch Schritt für Schritt das Reich Gottes in Erscheinung tritt.
Diese Idee ist freilich keine neue Errungenschaft der Transformations-Theologie; sie hat ihr Vorbild schon in der solcher ökumenischer Vordenkern wie Harvey Cox (*1925) und Johannes Chr. Hoekendijk (1912-1975).
Unter den Neoevangelikalen in den USA gab es eine ganz ähnliche Entwicklung. In der Dominion Theologie vertritt man den Gedanken, dass es Aufgabe der Kirchen und Christen sei, das Reich Gottes schon in der diesseitigen Geschichte aufzubauen. Besonders programmatisch wird das in der Bewegung Emergent Church vertreten. Sie versteht sich als das neue „Paradigma“ einer „missionalen Kirche“ für das 21. Jahrhundert. Die Kirche ist in dieser Sicht Instrument Gottes zur Ausführung seines Reichs-planes. Doch könne er sich auch anderer Instrumente dabei bedienen, z.B. der nichtchristlichen Religionen wie auch politisch-sozialer Bewegungen, deren Mitglieder Atheisten sein mögen.
Wichtig ist auf jeden Fall, dass die Kirche in vielerlei Gestalt, wie z.B. kleinen Zellgruppen, in allen Lebensbereichen der Gesellschaft präsent ist. Der amerikanische Missionsstratege Peter C. Wagner hat dies dargestellt in seinen Büchern „Die Kirche auf dem Marktplatz“ und “Dominion: How Kingdom Action Can Change the World”. Inmitten des geschäftlichen Treibens nämlich liege ihre vorrangige Aufgabe, jeden Sektor der Gesellschaft in Richtung auf das Reich Gottes zu transformieren. Darum, so lehrt auch Johannes Reimer in seinem Buch „Gott in der Welt feiern“, müsse die Gemeinde aus ihrer selbstzentrierten Beschaulichkeit herauszutreten um sich ganz ihrer sozialen und auch politischen Aufgabe zu widmen. Das stellt die Gemeinde unter einen starken Druck. Ihr Leben wird nicht mehr vorrangig durch die Freude am Evangelium, sondern eher von ihrer sozialen Verpflichtung her, also durch ein neues Gesetz, bestimmt. …
In der bisherigen Ekklesiologie gestaltet sich das Leben der Gemeinde in einer dreifachen Dimension: Leiturgia (Gottesdienst), Diakonia (Dienst der Barmherzigkeit) und Martyria (Mission). Die beiden letzteren schöpfen ihre geistliche Kraft aus der erstgenannten, d. h. der Anbetung und dem Empfang der Gnade durch die Mittel der Wortverkündigung und der Sakramente.
Johannes Reimer, welcher in seinem Buch „Die Welt umarmen“ der „Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus“ besondere Aufmerksamkeit widmet, hält formal an dieser dreifachen Grundaufgabe fest. Aber es fällt auf, dass bei ihm auch der Gottesdienst der Gemeinde zu einem Aufruf umgepolt wird, sich bei der Veränderung der Welt hin zum Reich Gottes einzusetzen, ebenso wie auch die Mission weniger das Angebot an die gottentfernten Menschen ist, durch Bekehrung und Glauben an die Sühnetat Christi am Kreuz Vergebung der Sünden und ewiges Leben zu empfangen, als vielmehr die Aufforderung, mitzuwirken beim Bau des Reiches Gottes im Hier und Jetzt. Reimer sieht also die Gemeinde als „eine soziale Gestalt, die mit der Verantwortung für diese Welt versehen ist“. …
Wie anders beschreiben dagegen die neutestamentlichen Schriften das Wesen und Leben der Gemeinde: „Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. … sie nahmen die Speise mit Freuden und lauterem Herzen, lobten Gott und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber tat hinzu täglich, die gerettet wurden, zu der Gemeinde“ (Apg. 2, 42. 47).
6. Gottes sich gegenwärtig sichtbar ausbreitende Königsherrschaft
In der modernen Propagierung der sozialen Transformation als Aufgabe und Ziel von Mission und Evangelisation wird eine schrittweise Aufrichtung des biblisch verheißenen Reiches Gottes schon innerhalb der gegenwärtigen Geschichtsepoche durch menschliche Bemühungen angestrebt. Im Rahmen der Transformations-Theologie spielt der Begriff des Reiches Gottes eine zentrale Rolle. Das Reich Gottes werde im Hier und Jetzt durch die Mission dargestellt und ausgebreitet. Die Gemeinde soll mit ihrem „sozial-transformativen Auftrag Gottes Königsherrschaft in dieser Welt in Wort und Tat aufrichten.“ (Reimer: Die Welt umarmen,S.149)
Überall, wo sich die „Werte des Reiches“ durchsetzen und es zur Überwindung von Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung und lebensfeindlichen Strukturen kommt, da könne das Reich Gottes wahrgenommen werden. Das gelte sogar für nicht- oder außerchristliche Vorgänge.
R. Hardmeier schreibt: „Weil Heil eine soziale Dimension hat, kann von Heilsereignissen auch dort die Rede sein, wo gerechte Verhältnisse entstehen, auch dann, wenn sie nicht im Zusammenhang mit dem Glauben an Christus stehen.“
An anderer Stelle lesen wir: „… auch in der Welt wird die Herrschaft Gottes sichtbar, wenn Unterdrückung und Ausbeutung überwunden werden. Es gibt keine absoluten, sondern nur qualitative Unterschiede zwischen der Kirche und der Welt.“
Noch kerniger reflektiert Tobias Faix über das neue Jerusalem, wenn er schreibt: „Das hier gebrauchte Bild von der kommenden Stadt, vom himmlischen Jerusalem spielt im ganzen Hebräerbrief eine grosse Rolle […] Dieses neue Jerusalem wird im Reich Gottes schon jetzt und ganz konkret auf dieser Erde sichtbar. Dabei spielt gerade dieser Zusammenhang zwischen dem Gegenwärtigen und Zukünftigen eine entscheidende Rolle.“
Mit solchen Behauptungen wird, wie besonders Rolf Scheffbuch als vielfach einsam gewordener Rufer beanstandete, der „eschatologische Realismus“ der Bibel (ihre Vorhersage tatsächlich zu erwartender endzeitlicher Ereignisse wie das Ausreifen des Bösen, das Weltreich des Antichristen, des Weltunterganges und des Jüngsten Gerichts) übersehen.
Auch halten solche utopischen Programme die Missionare von ihrer vorrangigen Aufgabe ab, den christusfernen Menschen das Evangelium zu verkündigen, und sie tragen utopischen Charakter.
7. Das Verhältnis von evangelistischer Verkündigung und sozialer Verantwortung in Geschichte und Gegenwart der Mission
Unsere Einwände gegen die Transformations-Theologie sind nicht gegen deren Hinweis auf die soziale Mitverantwortung der Mission gerichtet. Wir sind keineswegs gegen die Taten der Liebe, wohl aber gegen die Schwerpunktverlagerung im Verhältnis von Verkündigung und sozialer Verantwortung, wodurch das Evangelium zu einem ideologischen Programm zu werden droht.
Wir gestehen den Vertretern der Transformations-Theologie ihr berechtigtes Anliegen zu, dass Bekehrung und Gesinnungswandel sowie die Jesusnachfolge auch sozialethische und strukturverändernde Konsequenzen haben. Aber wir widerstehen dem von ihnen erweckten Eindruck, dass der Mensch der „Macher“ des Reiches Gottes wäre und das empfangene Heil sich gleichsam erst durch die Tat erweisen würde. Denn dies kommt einer neuen „Werkgerechtigkeit“ nahe.
Auch die Väter und Mütter der neuzeitlichen Missionsbewegung wussten, dass das Reich Gottes bei aller Mitverantwortung der Jünger von Jesus im Hier und Heute nicht durch menschliches Tun zu errichten ist. Gewiss soll und kann christliche Mission solche Menschen, die Armut und sonstige Not erleiden, durch diakonische Taten der Liebe auch leiblich spüren lassen, dass ihnen besonders Gottes Barmherzigkeit und Fürsorge zugewandt ist. Und gewiss kann das Reich Gottes durch die Ergebnisse christlichen sozialen und diakonischen Handelns zuweilen zeichenhaft sichtbar werden; doch können solche positiven Veränderungen im wechselhaften Lauf der Weltgeschichte auch wieder entschwinden. Erschreckend zeigt sich das heute in dem rapiden Werteverfall im einst christlichen Abendland.
Kirchen und Missionen werden sich nach dem Maß ihrer Möglichkeiten auch den strukturellen sozialen und politischen Problemen der ihnen anvertrauten Menschen zuwenden. Das hat man in der klassischen Missionsbewegung schon immer gewusst. Man denke an die kulturschaffende Bedeutung der Missionierung Deutschlands und Nordeuropas durch die Orden der Benediktiner und Zisterzienser.
Ebenso wussten später auf evangelischer Seite die lutherischen, pietistischen und evangelikalen Missionsgesellschaften in ihrer Theologie und ihrem praktischen Einsatz um die Bedeutung sozialethischen Handelns. Dabei hielt sie jedoch Luthers Lehre von den Zwei Regierungsweisen Gottes zur Rechten und zur Linken, d.h. Kirche und Staat, heilsam davon ab, sie wie beide – die Schwärmer zu seiner Zeit – miteinander zu vermischen und soziales Wohl als geistliches Heil auszugeben.
Unter diesen Voraussetzungen haben christliche Missionare aller Konfessionen in Afrika und Asien auf den Gebieten der Erziehung, ärztlicher Hilfe und wirtschaftlicher Entwicklung beachtliche Leistungen vollbracht. Auch die Innere Mission – man denke an Hinrich Wichern, Amalie Sieveking oder Wilhelm Löhe – war von hoher sozialer Verantwortung geprägt. Sie zeigten ihre Früchte auch in bemerkenswerten gesellschaftlichen Verbesserungen bis in staatliche Ordnungen und Strukturen hinein.
Und doch stand für sie alle das Anliegen, verlorenen Menschen durch den Ruf zur Bekehrung und zum Glauben an das Evangelium den Weg zum ewigen Heil zu eröffnen, an erster Stelle. Deshalb dürfen auch wir im missionarischen Einsatz nie das Beste und Wichtigste vernachlässigen, das wir als Beauftragte von Jesus allen Menschen bringen sollen: das Angebot der Versöhnung mit Gott aufgrund des Sühnetodes von Jesus am Kreuz und die Gewissheit des ewigen Lebens durch seine Auferstehung von den Toten. So ist und bleibt die Verkündigung des Evangeliums vom Heil in Christus die primäre Aufgabe der Mission und Evangelisation.
8. Das Kommen des Reiches Gottes in biblischer Perspektive
„Jesus Christus spricht: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ (Joh 6, 35) „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist.“ (Röm 14, 17) „Wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in Hoffnung.“ (Röm 8, 22-24a).
Das verheißene Reich Gottes kann unter den Bedingungen der gefallenen Schöpfung noch nicht verwirklicht werden. Das zu übersehen war bereits der Irrtum der Social-Gospel-Bewegung. Genauso betraten später die ökumenischen Humanisierungs-Programme einen Irrweg. Denn in ihrer Verbindung mit der liberalen Theologie und dem Entmythologisierungs-Programm nahmen sie die Grundaussagen der biblischen Heilsgeschichte nicht ernst.
Das musste zur Abkühlung des evangelistischen Eifers führen. Heute nun droht die gleiche Gefahr auch den evangelikalen Missionen, soweit sie sich auf die Projekte sogenannt „ganzheitlicher, holistischer, inkarnatorischer“ oder eben auch transformativer Mission einlassen, in denen die Bemühungen um das leibliche und soziale Wohl die um das Heil der Menschen in den Schatten zu verdrängen drohen.
Dies ist kein Urteil über die guten Absichten ihrer Anwälte. Jedoch müssen wir das sehr ernst nehmen, was die Heilige Schrift negativ über die Sündhaftigkeit des menschlichen Herzens und die dem Teufel, dem „Fürsten dieser Welt“ (Joh 12, 31; 14, 30; 16, 11), bis zum Ende dieser Weltzeit noch verbliebene Zerstörungsmacht sagt. Darum muss eine heilsgeschichtlich ausgerichtete Mission gegenüber den theologischen Fortschrittsutopien den Wirklichkeitscharakter der biblischen Prophetie zur Geltung bringen.
Nach ihr wird der gegenwärtig noch wirksame Einfluss der dämonischen „Mächte und Gewalten“ erst durch den wiederkommenden Christus völlig beseitigt werden. Paulus beschreibt in Epheser 6, 10-17 seine Mission als einen Kampf, an dem auch die Gemeinde teilnehmen soll. Darum hat unsere Teilnahme an Gottes trinitarischer Mission neben der soteriologischen, dem Heil dienenden Aufgabe auch eine kämpferische, „exorzistische“ Seite, in der sie den Sieg des Christus über Teufel und Dämonen ausruft.
Positiv hingegen dürfen wir uns auf die leuchtenden Verheißungen der biblischen Endzeitprophetie verlassen. Der wiederkommende Christus wird nach der Vernichtung der Weltherrschaft des Antichristen auf dieser Erde sein Reich aufrichten, und der Vater wird den neuen Himmel und die neue Erde schaffen, wo alles Leiden verschwunden sein und Gerechtigkeit wohnen wird.
Im 2. Petrusbrief (Kap. 3, 11-13) lesen wir: „Wenn sich das alles in dieser Weise auflöst: wie heilig und fromm müsst ihr dann leben, den Tag Gottes erwarten und seine Ankunft beschleunigen! An jenem Tag wird sich der Himmel im Feuer auflösen und die Elemente werden im Brand zerschmelzen. Dann erwarten wir, seiner Verheißung gemäß, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt.“
Doch schon in der Gegenwart ist Jesus Christus nach der Heiligen Schrift bereits der Beherrscher des verborgenen Hintergrundfeldes unserer mehrschichtigen Weltwirklichkeit und als der Sieger die letzte Instanz.
Aufruf
Wir rufen dazu auf, die klassische biblisch-heilsgeschichtliche Schau der Mission zu erneuern. Die deutsche evangelische Missionstheologie hat schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder ihre besondere Berufung dadurch wahrzunehmen gesucht, dass sie das in ihr stets gepflegte heilsgeschichtliche Verständnis der Mission kritisch konstruktiv in die internationale Missionsbewegung einbrachte, und zwar sowohl in deren ökumenischer wie – heute zunehmend – auch evangelikaler Gestalt.
So geschah es schon in den Jahren von Gustav Warneck (1834-1910), des Begründers der evangelischen Missionswissenschaft, in dessen Eingabe für die erste Internationale Missionskonferenz zu Edinburgh 1910. So geschah es bei den ökumenischen Vollversammlungen und Missionskonferenzen in Jerusalem 1928, Tambaram 1938 und Willingen 1952 durch Karl Hartenstein, Walter Freytag, Karl Ihmels und Georg F. Vicedom. Seit Uppsala 1968 bis in die Gegenwart wurde diese Tradition weitergeführt – im Blick auf die Vollversammlungen und Missionskonferenzen des ÖRK wie auch auf die drei Lausanner Kongresse. Dies geschah u.a. durch die Eingaben des Tübinger Instituts für Missionswissenschaft und Ökumenische Theologie, durch dessen Forschung und Lehre das heilsgeschichtliche Erbe der pietistischen Schwabenväter von J. Albrecht Bengel (1687-1752) bis hin zu Karl Heim (1874-1958) gepflegt wurde. Weil sich das Rolf Scheffbuch in diese Tradition einreihte, trägt diese Erklärung die Überschrift „Tübinger Aufruf“.
Auch der Theologische Konvent Bekennender Gemeinschaften war seit seiner ersten Verlautbarung, der „Frankfurter Erklärung zur Grundlagenkrise der Mission“ (1970) in all seinen Verlautbarungen von diesem biblisch-heilsgeschichtlichen Missionsverständnis geleitet. So hat er sich für dessen fortdauernde Geltung eingesetzt und es für eine neue Generation formuliert und fortgeschrieben.
Immer ging es darum, gegenüber schwärmerischen Tendenzen zur Vorwegnahme des kommenden Reiches Gottes an die grundlegende heilsgeschichtliche Unterscheidung zwischen dem „Schon jetzt“ und dem „Erst dann“ durch das dreifache Kommen des Christus: einst im Fleisch, heute im Geist und schließlich in Macht und Herrlichkeit zu erinnern.
Denn im biblisch heilsgeschichtlichen Verständnis sind Weltmission und Evangelisation der zentrale Auftrag der Kirche Jesu Christi zwischen seiner Auferstehung und Wiederkunft (Matth 24, 14; Mk 13, 10 und Apg 1, 8). Ihr Ziel ist nicht die Christianisierung der Welt, sondern Evangelisierung der Welt. So meinte es die studentische Freiwilligenbewegung für Mission, wenn sie sich das – von China-Missionaren übernommene – Leitwort gab: „Evangelisierung der Welt in dieser Generation“.
Auch heute haben viele gegenwärtige Unklarheiten über Grund, Ziel und die rechte Gestaltung der Mission eine gemeinsame theologische Ursache. Sie lassen die heilsgeschichtliche Schau, den „Blick auf das Ende“ (K. Hartenstein), wie sie in der Vergangenheit den Weg der evangelischen Missionsbewegung bestimmt hat, in Vergessenheit geraten. Diese eschatologische Schau wird in ihrer Bedeutung verkannt oder gar zur Seite geschoben.
Das ist ein schwerer Verlust. Die Stärke der biblisch-heilsgeschichtlichen Schau liegt ja darin, dass sie das Gottes-, Welt- und Zeitverständnis der Bibel selbst aufnimmt. Sie geht von der zeitlichen und inhaltlichen Mitte des durch sie bezeugten Heilshandelns Gottes in Jesus Christus aus, setzt ihre beiden Hauptteile Altes und Neues Testament in das entsprechende Verhältnis zueinander und beachtet die dazugehörigen Unterscheidungen, aus denen sich auch das erwähnte Spannungsverhältnis zwischen dem „Schon jetzt“ und dem „Erst dann“ ergibt.
Im Gegensatz dazu müssen wir leider erkennen, dass bei den Vertretern der Transformations-Theologie die Wiederkunftserwartung an den Rand gerückt und als göttlich-heilsvollendender Akt (Hebr 9, 28) unterschätzt wird. Damit verschwindet aus der evangelikalen Missionstheologie der letzte Rest der heilsgeschichtlich geprägten deutschsprachigen Missionstheologie in der Tradition von Walter Freytag, Karl Hartenstein, Carl H. Ihmels und Georg F. Vicedom, jenen langjährigen Leitgestalten der deutschen evangelischen Missionsbewegung.
Das ist eine Tragödie; erweist sich doch, dass in vielen Problemen und Krisen der Mission eine heilsgeschichtliche Betrachtung die beste, weil biblisch geoffenbarte ist.
Viele umstrittene Themen finden von ihr her eine überzeugende Antwort.
Dazu gehört erstens insbesondere die Stellung des Volkes Israel unter den Völkern. Nach dem Zeugnis von Paulus in Römer 11, 25-36 wird die schließliche Bekehrung und Wiederannahme Israels dann stattfinden, wenn die Völkermission zur Vollendung gekommen ist, die „Fülle der Heiden“ eingegangen ist und Christus wiederkommen wird. Doch dieses Ereignis wird schon jetzt in dieser heilsgeschichtlichen Zwischenzeit vorbereitet. Es geschieht dadurch, dass seit den Tagen der Apostel durch das missionarische Zeugnis an die Juden schon eine Kerngemeinde bekehrter Erstlinge gewonnen wird (Röm 11, 1-7).
Zweitens findet die religionstheologische Frage nach dem Wesen der nichtchristlichen Religionen in ihrem Verhältnis zum christlichen Glauben ihre Antwort in deren dreipoliger Bestimmtheit durch Gottes Uroffenbarung (Apg 14,17; Joh 1,9; Röm 1, 19-20), die Antwort des Menschen in Gehorsam und Widerstand (Apg 17,27f.; Jes 53,6a) sowie die Wirksamkeit der Dämonen (2Kor 4,4; Eph 2,2).
Drittens bewährt sich die heilsgeschichtliche Schau auch im gegenwärtigen Ringen um eine dem Evangelium gemässe Zukunftsgestaltung. Die Kirche Jesu Christi darf in ihrer sozialpolitischen Mitverantwortung Zeichen des schon angebrochenen Reiches setzen, ohne diesen eine zu große oder umgekehrt eine zu geringe Bedeutung beizumessen; denn sie vertraut fest auf die gewisse Erfüllung der biblischen Verheißung des Reiches Gottes. Wenn Jesus wiederkommt, wird es in Macht und Herrlichkeit aufgerichtet, und in diesem Reich werden dann Friede und Gerechtigkeit miteinander völlig und dauerhaft verwirklicht sein (Psalm 85,11).
Abschließend möchten wir betonen, dass unsere Kritik an der Transformations-Theologie nicht nur einer irrigen Einzellehre und auch nicht den sie vertretenden einzelnen Theologen gilt. Wir betrachten diese vielmehr als unsere von einer bestimmten Strömung erfassten Brüder in Christus und möchten mit ihnen um die biblische Wahrheit ringen.
Doch geht es uns zugleich um eine dringende Warnung an die gesamte evangelikale Bewegung davor, durch die Aufnahme einer zur Ideologie werdenden Geschichtstheologie auf einen verhängnisvollen Irrweg zu geraten. Die heute wieder vielfach beachtete „Kurze Erzählung vom Antichrist“ des russischen Religionsphilosoph Wladimir Solowjew (1853-1900) sollte uns eine Warnung sein.
Dieser werde, so zeichnete es sich ihm ab, den Christen aller Konfessionen, ja allen Völkern ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit anbieten, doch auf Kosten der biblischen Wahrheit und des Bekenntnisses zu dem Mensch gewordenen Gottessohn und einzigen Herrn und Erlöser. Vor dieser drohenden Verführung, die in der endzeitlichen „Stunde der Versuchung“, über den ganzen Erdkreis (griechisch oikouméne!) kommenden wird (Off 3, 10), bewahre Jesus Christus, der Gute Hirte, seine ihm getreue Gemeinde!
Gomaringen, am 21. März 2013
Für das Rolf Scheffbuch-Symposion
Prof. Dr. Peter P. J. Beyerhaus DD,
Drs. Dorothea R. Killus
Die Hervorhebungen im Text wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im April 2013
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