Die Wahrheit der Heiligen Schrift (Rodenberg)
Otto Rodenberg
Um die Wahrheit der Heiligen Schrift
Aufsätze zur existentialen Interpretation
– Leicht gekürzter Text. Horst Koch, Herborn
INHALT
A. Die existentiale Interpretation
I. Wie kam es zur Problemstellung der existentiellen Interpretation?
II. Die existentiale Interpretation in kritischer Darstellung
III. Versuch einer Wegweisung
B. Leitsätze zum theologischen Gespräch
I. Zur Genesis der Krankheitserscheinung
II. Zur Diagnose der Krankheitserscheinung
III. Zur Therapie der Krankheitserscheinung
C. Biblische Lehre und seelsorgerliche Vollmacht
I. Theologie und Seelsorge sind weithin gegen- und voneinander abgegrenzt
II. Theologie und Seelsorge gehören wesenhaft zusammen
D. Glaube an Jesus oder Glaube Jesu? (Ein Vergleich zwischen Judentum und moderner Theologie.)
Die Geschichtlichkeit der Bibel
Biblische Lehre und seelsorgerliche Vollmacht
Biblisches oder philosophisches Denken?
VORWORT
Als vor zwei Jahrzehnten die programmatische Schrift Bultmanns »Neues Testament und Mythologie« mit dem Untertitel »Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung« erschien, löste sie eine Diskussion aus, die über die herkömmlichen Grenzen hinausgehend bald alle Gebiete der theologischen Wissenschaft erfasste, weit hineinwirkte in das Leben der Gemeinde und dort auch unter den »Laien« viele Gemüter erhitzte, ja deren Einfluss über die Grenzen des deutschen Sprachraumes hinaus die theologische Arbeit der Ökumene einschließlich der jungen Kirchen zutiefst berührt.
Daß heute diese Diskussion alles andere als abgeschlossen ist, daß ihre Problematik vielmehr unter dem Thema der »existentialen Interpretation« in den Rang eines die Kirche reformierenden bzw. die Kirche zerstörenden Geschehens — je nach persönlicher Beurteilung — gerückt ist, wird man als Zeichen dafür werten müssen, daß es sich jedenfalls nicht um ein »Theologengezänk« handelt . . .
Otto Rodenberg, Rengshausen, am 6. September 1962
A. DIE EXISTENTIALE INTERPRETATION
Einige Vorbemerkungen:
Warum dies Thema? Soll hier lediglich dem, der dem theologischen Programm »Existentialer Interpretation« ohne die rechte Sachkenntnis gegenübersteht, Informationsmaterial vermittelt werden? Auch das ist eine rechtmäßige Aufgabe brüderlicher Handreichung. . . .
Aber diese Darlegung ist mehr als Information im Sinne »neutraler« Berichterstattung — sie ist ein Frontbericht. Wenn wir von dem Thema der existentialen Interpretation sprechen, dann wissen wir, daß hinter diesem theologischen Begriff unsere Brüder und unsere Söhne in einem Kampf stehen, der an die Grundfragen und Grundlagen unseres Glaubens rührt. Wir kennen diesen Kampf von unserem eigenen Gefordertsein auf Pfarrkonferenzen, wo es wenige theologische Gespräche gibt, in denen sich nicht die brennenden Fragen dieser Front zu Wort melden.
Wir sprechen nicht zuletzt über dieses Thema angesichts des immer offener und drängender werdenden Wunsches und Willens, die Gemeinde mit den neuen Wegen der Theologie vertraut zu machen. Die Gemeinde muß wissen, woran sie ist. Es ist gut und nötig, daß nicht nur die Theologen (um einmal die durch ihr Stadium theologisch vorgebildeten »Fachleute« so zu bezeichnen), sondern überhaupt die verantwortlichen und mittragenden Brüder und Schwestern der Gemeinde des Herrn über die Grundfragen unseres Glaubens auch denkerisch gefördert und gegründet werden. . . .
I. Wie kam es zur Problemstellung der existentialen Interpretation?
Ein Rückgriff auf frühe Ansätze bei der Entstehung der heutigen Problematik ist, auch wenn u. U. weit ausgeholt werden muß, kein Umweg. Im Gegenteil, angesichts der tiefen Kluft, die heute ein wirkliches Gespräch etwa zwischen Exegese und Dogmatik so notvoll macht, wird man gar nicht anders verfahren können. Diese Kluft ist nicht ausgedacht. Sie klafft zwischen kritischer Auslegung und systematischer Besinnung in einem Maße, daß der Eindruck nicht leicht abzuweisen ist, daß Dogmatiker und Neutestamentler zweierlei Neues Testament vor sich haben. Die gleiche Kluft trennt heute die theologisch-kritische Forschung von der glaubenden Gemeinde.
1. Reformatorische Akzente
Es war die bei Jeremia genannte lebendige Quelle, die die Reformatoren wiederentdeckten in der frohen Botschaft von dem für uns gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Christus. Von dieser Quelle her flossen die Ströme des lebendigen Wassers durch unser Land und in die weite Welt. Es war dabei nur verständlich und natürlich, daß die reformatorische Theologie aus der ihr geschenkten Wiederentdeckung ganz bestimmte Betonungen ableitete. Gegenüber der mittelalterlich-scholastischen Summentheologie betonen Luther und Melanchthon die Soteriologie (Heilslehre). Was Gott an uns gewendet hat, was er an uns tut, darauf richtet sich das reformatorische Interesse, mehr als auf andere Aussagen über Gott, seine Natur und seine Seinsweise. »Pro nobis — für euch«: das sind köstliche Worte für Luther, wie ein Blick in den Kleinen Katechismus lehrt. In diesen Worten sieht er auch die Anrede des Evangeliums, die die Antwort des Glaubens fordert. Man kann bei diesem Akzent der reformatorischen Theologie von einer Wiederentdeckung des existentiellen Bezugs der Heilstatsachen sprechen.
Der Betonung der Soteriologie entspricht die Wertschätzung der Predigt. Durchaus treffend stellt Cranach auf seinem bekannten Bild Luther predigend dar, den gekreuzigten Christus zwischen sich und der Gemeinde. Der Begriff »Predigt« ist gleichsam ein Lieblingsbegriff Luthers, was sich in der Verwendung dieses Wortes für acht verschiedene griechische und entsprechend viele hebräische Worte der Bibel ausprägt. Predigt aber ist nicht bloße Wiederholung — Schallplatte —, sondern Übersetzung, Auslegung, und darin Anrede hier und jetzt. So ist für den Prediger die kritische Arbeit am Text unerlässlich, und zwar mit allen Mitteln, die eine sorgfältige Erforschung der Gestalt und des Inhaltes der Texte fordert. Luther hat bekanntlich die Sprachgelehrsamkeit humanistischer Wissenschaft nicht verachtet, sondern für seine Arbeit an der Bibel in Dienst genommen. Unablässig hat er an der Aufgabe, die Bibelbotschaft zu übersetzen und zu predigen, gearbeitet. Insofern kann man von einer ständigen grundsätzlich für nötig gehaltenen und praktisch geübten Interpretation der Bibel in der reformatorischen Theologie sprechen.
Diese Freiheit im Umgang mit der Schrift hat ihre Wurzeln freilich nicht, wie es in der theologischen Wissenschaft seit 200 Jahren der Fall ist, in einem prinzipiell behaupteten Recht der emanzipierten, autonom gewordenen Vernunft zu radikaler Kritik, sondern in der Begegnung mit der lebendigen Quelle, mit dem lebendigen persönlichen Gott. Diese reformatorische Wurzel echter, auch kritischer Schriftauslegung ist nicht gleichbedeutend mit dem, was heute theologische Wissenschaft heißt. Luthers Christusbegegnung und Christusverständnis kam nicht aus radikalem kritischem Fragen, wie es die theologische Wissenschaft um der Wahrhaftigkeit willen fordert, sondern aus seinem Ringen und Fragen nach dem gnädigen Gott. Luthers Freiheit, die Bibel nach dem auszulegen, »was Christus treibet«, war legitime Folge einer persönlichen Christusbegegnung. In der wissenschaftlich-kritischen Theologie dagegen wird die Freiheit des autonomen Verstandes zur Voraussetzung gemacht, mit der Bibel umzugehen wie mit jedem anderen Buch. Daß hier ein grundlegender Unterschied besteht, ist nicht zu übersehen.
Natürlich wird ein Unterschied zwischen Luthers Schriftauslegung und der der historisch-kritischen Methode nirgends bestritten. Die entscheidende Frage ist aber, ob es sich dabei um die Entfaltung von keimhaft Angelegtem handelt, so daß die historisch-kritische Methode als die folgerichtige Fortsetzung des reformatorischen Ansatzes gelten könne — so Ebeling (in Wort und Glaube, 1960) — oder ob ein innerer Bruch vorliegt, der es verbietet, beide in ein Verwandtschaftsverhältnis zu setzen. …
In großartiger Weise wird ferner der Akzent existentieller Zielrichtung des Evangeliums aufgenommen von Kierkegaard. In Frontstellung gegen die erstarrte Orthodoxie will er das Christentum »gleichzeitig machen«. Darin versteht sich Kierkegaard selbst nur als »Korrektiv« zur bestehenden Lehre, wie er sagt, als »das bisschen Zimt zur Speise«. Die Tatsachen der christlichen Offenbarung werden von ihm einfach vorausgesetzt, nämlich der christlichen Dogmatik entnommen. In der heute häufigen Bezugnahme auf Kierkegaard wird das freilich meist übersehen.
Auch der andere Akzent reformatorischer Theologie, die Wertschätzung der Predigt und im Zusammenhang damit die Freiheit der Schrift gegenüber, in der die Männer der Reformation keiner Inspirationstheorie bedurften, findet ihre ebenbürtige Fortsetzung in der völlig unorthodoxen Freiheit, in der Zinzendorf mit der Bibel umging, und zwar aus der gleichen Quelle wie vor ihm Luther: aus der erfahrenen Wirklichkeit des deus revelatus in Christus. Welche Freiheit gleicher Herkunft atmen doch auch die Schriften M. Kählers, insbesondere sein bis heute oft genannter Vortrag: »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus.« Da wird eindeutig eine aus Furcht geborene Sicherung der Schriftautorität durch das System der Verbalinspiration abgewiesen. Da wird klar erkannt, daß das Neue Testament Predigt ist und gepredigt werden will. Und da ist der lebendige, geglaubte, erkannte, persönliche Christus Jesus die Quelle. Wir glauben nicht an Christum um der Bibel willen, sondern an die Bibel um Christi willen — dieser Satz zeigt deutlich, daß die Beziehung zwischen Ereignis, Wort (Predigt) und Glauben nicht umkehrbar ist.
Um Missverständnisse zu vermeiden muß begrifflich klar unterschieden werden: »existential« ist nicht »existentiell«. Zur Begriffserklärung hilfreich ist G. Bornkamms Definition: »Existentiale Interpretation ist eine Auslegung, die nach dem Verständnis von menschlicher Existenz in einem Text fragt. Der Begriff stammt von Heidegger. Existentiell ist ein Reden und Hören in eigener, konkreter Betroffenheit.«
2. Philosophische Hypotheken
Uralt, nämlich so alt wie die christliche Botschaft selber, ist der Einspruch der Philosophie gegen die Denkmöglichkeit der Offenbarung Gottes in Christus. Diese Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist für die denkgeschulten Griechen Torheit (1. Kor. 1, 23). »Finitum non capax infiniti« = Das Endliche ist nicht imstande, Unendliches in sich aufzunehmen. Die im Evangelium bezeugte Wirklichkeit der Offenbarung Gottes in Christus sprengt alle Systeme. Es hat der christlichen Botschaft auch nicht geschadet, daß durch die Jahrhunderte den »Griechen« diese Botschaft eine Torheit war. Auch heute könnte uns als Boten des Evangeliums philosophischer Einspruch gleichgültig lassen, wenn nicht die Theologie selber sich dem philosophischen Schema der Denkmöglichkeit bzw. -unmöglichkeit geöffnet hätte, und sei es auch nur in dem Sinne, daß sie für ihre Botschaft einen Beweis schuldig sei. Dieses aber geschieht, und zwar etwa seit der gleichen Zeit, als es eine theologische Wissenschaft (im Sinne modernen Wissenschaftsbegriffes) gibt. …
Kants erkenntnistheoretische Begrenzung der reinen Vernunft — an sich natürlich sinnvoll, da unsere Sinne wie unsere Vernunft der Kritik bedürftig sind — wird in ihrer Übertragung auf die Offenbarung des lebendigen Gottes in der Geschichte zur verhängnisvollen Hypothek deutscher Theologie bis zur Gegenwart.
Schlatter sagt dazu: »Von nun an stand es, soweit der Kantianismus herrschte — und das war in Deutschland der ganze Bereich der Universitätsbildung — fest, daß man von Gott nichts wissen könne und alle sogenannte Gewißheit Gottes unkontrollierbar und zweideutig sei. Das wurde für Ungezählte ein schweres Hemmnis, das dem glaubenden Verhalten gegen Gott widerstand. Der Glaube an Gott erschien von vornherein als irrational … Man hat schon oft Kant >echt protestantisch< genannt und ihn mit Luther zusammengestellt … Das missverstandene >durch Glauben allein< stellte die Verbindungslinie zwischen dem Luthertum und dem Gottesgedanken Kants her. War nicht damit unsere ganze Beziehung zu Gott auf das Glauben zurückgeführt? … Aber eben dies ergab den radikalen Unterschied zwischen Luther und Kant, der nicht verdeckt werden darf. Luther hatte für seinen Glauben einen bestimmten Inhalt. Er wußte, wo er Gott vernahm, wo sich ihm seine Gnade bezeugte, wodurch er somit zum Glauben berufen und ermächtigt war, auf welchen Grund hin er glaubte. Woher nahm der Glaube Kants seinen Inhalt? Was verschaffte ihm irgendeine Aussage über Gott? Die >Vernunft< bildet dieses Ideal!«
Bei Kant üben nun allerdings nicht nur erkenntniskritische Überlegungen, wie sie für philosophisches Denken angemessen sind, den Wächterdienst an der Grenze menschlicher Erkenntnis aus. Bei ihm spielt auch der Widerspruch des »natürlichen Menschen« gegen die christliche Botschaft eine wesentliche Rolle, sich gleichsam in seiner Person und seinen Aussagen zu grundsätzlicher Klarheit verdichtend. Prinzipiell lehnt Kant die sühnende Stellvertretung, wie sie das N. T. bezeugt, ab. »Schuld kann nicht von einem anderen getilgt werden. Sie ist keine transmissible Verbindlichkeit.« Zuflucht zur Gnade sei Ausflucht vor der moralischen Forderung. Zuspruch der Gnade sei »Opium fürs Gewissen«. Beide, die erkenntniskritische oder skeptische Komponente seines Denkens und die antichristliche Komponente seines moralisch-religiösen Denkens wirken zusammen. So erscheint Schlatters Bemerkung über die Christologie der Kantianer, bei der es nicht um Unterordnung unter Jesus Christus, sondern um Gleichgestaltung mit ihm in Übernahme seines Gottesverhältnisses gehe, zutreffend. »Es war eine Christologie ohne Metaphysik. Durch diese Wendung unserer Geschichte ist es zum Merkmal des heutigen Protestantismus geworden, daß wir nicht nur Verneinung und Bejahung Jesu unter uns haben, sondern zwei Christologien, die des Kantianismus und die des N.T.«
»Daß die Philosophen die Väter und Führer der neuen Frömmigkeit waren, gab ihr an den Universitäten und in der Literatur einen kräftigen Vorsprung, so daß sie allein das Merkmal der Wissenschaftlichkeit erhielt, während die ursprüngliche Form des Christentums von nun an als Reaktion erschien.« (Schlatter)
Diese philosophische Hypothek, die der Theologie innerhalb des deutschen Sprachraumes aufgelegt wurde, wird im innerdeutschen Gespräch oft nicht so deutlich erkannt. Sie tritt aber um so klarer ins Licht in der Begegnung mit christlichen Theologen Asiens oder aus den USA.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die von dem amerikanischen Theologen Richard Niebuhr aufgestellte Forderung nach einer Kritik der historischen Vernunft. Die Übernahme des Kantschen Skeptizismus in die theologische Wissenschaft kennzeichnet Niebuhr als verhängnisvoll. »Das Dogma der reinen Vernunft ist nicht in der Lage, dem Protestantismus jene Art der Erkenntnis der christlichen Ursprünge zu geben, die sein Leben und seine Lehre erfordern.«
Welches sind die Auswirkungen der philosophischen Hypothek in der Verquickung des Kantschen Skeptizismus mit der historisch-kritischen Theologie?
a) Tiefes Misstrauen gegenüber metaphysischen Aussagen
Wenn in der Reformationszeit alles Interesse theologischen Denkens auf das geht, was Gott an uns gewendet hat (also auf die Soteriologie), dann doch unter ungebrochener Respektierung dessen, was Schrift und kirchliche Bekenntnisse über die Wirklichkeit Gottes vor und außerhalb unserer Existenz sagen. In diesen alten Lehraussagen über das Sein Gottes (Ontologie) sahen die Reformatoren das Geheimnis, das nicht »begriffen«, sondern angebetet werden will. Man denke an Luthers Weihnachtslieder. In dieser Sache tritt im Verfolg der Kantschen erkenntniskritischen Ablehnung jeder Gotteserkenntnis ein tiefgreifender Wandel ein. Vor alle metaphysischen, ontologischen und dogmatischen Aussagen der traditionellen christlichen Dogmatik wird der Riegel erkenntniskritischer Skepsis geschoben. Was hinter dem Riegel ist, geht »mich« als Person nichts an, ich kann darüber keine gültige Aussage machen. Was »mich« betrifft, gehört in das Gebiet der praktischen Vernunft. Damit wird die Erkenntnisform aller für mich Gültigkeit beanspruchenden theologischen Aussagen, ehe noch die Inhaltlichkeit der Offenbarung zu Worte gekommen ist, in den Bereich des Subjektiven bzw. Praktischen verlegt.
H. J. Iwand hat in einem bemerkenswerten kleinen Aufsatz (»Wider den Missbrauch des >pro me< als methodisches Prinzip in der Theologie«) gezeigt, daß mit der seit Kant in der Theologie erfolgten Umdeutung des soteriologischen »pro me«, das bei den Reformatoren untrennbar zum Inhalt der Offenbarung gehört, zum methodischen Prinzip »subjektiven«, interessierten, existentiellen Erkennens die Grundposition reformatorisch-biblischen Denkens verlassen ist. Er sagt: »Die Gewißheitsfrage des Glaubens … drängt sich in den Vordergrund und scheidet sich von der speziellen Dogmatik, welcher die ebenso unmögliche wie auch nicht mehr entscheidende Aufgabe zufällt, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus in ein bereits festgelegtes System des Nicht-Objektivierbaren einzubauen. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Arbeit nur durch Umdeutung der christlichen Glaubenssätze auf die menschliche Existenz als solche gelang. In Wahrheit ist damit die Dogmatik (Glauben und Lehre) zugunsten der Reflexion (Glauben und Verstehen) um ihren Sachgehalt gebracht, was kein Geringerer wie Hegel mit größtem Schmerz und im Bewußtsein des Unvermögens, darin als Philosoph Wandel zu schaffen, gesehen und gesagt hat (Religionsphilosophie, Schlusswort XII, S. 354 ff.)
Daß diese Entobjektivierung aus erkenntnistheoretischer Skepsis Hand in Hand geht mit Enthistorisierung, wie sie Kant in seiner Religionsphilosophie vollzieht, ist nur natürlich. Da ist die Offenbarung Gottes in einem Menschen, d. h. in diesem einen, konkret-individuell existierenden Menschen Jesus von Nazareth, nicht nur nicht entscheidend, sondern geradezu hinderlich. Es ist in Auswirkung dessen in der theologischen Forschung seit 150 Jahren von geradezu bedrängender Aktualität, wie durch das Auseinanderreißen von untrennbar Zusammengehörendem eine Alternative ausgebaut wird, deren Überwindung mir eine der vordringlichsten Aufgaben theologischer Arbeit unserer Zeit zu sein scheint. Diese Alternative wird uns alsbald weiter beschäftigen.
b) Das Wort von der »Unaufweisbarkeit« bekommt verhängnisvollen Einfluss
Schon der Begriff des »Beweises« ist innerhalb der Theologie eine gefährliche Sache. Er ist dem N. T. fremd. Mit dem Begriff des Beweises verwandt ist der Begriff »behaupten«. Das N. T. kennt auch diesen nicht. Im N. T. wird nichts behauptet, sondern bezeugt (Joh. 1, 18 u. a.). Der sogenannte Schriftbeweis im N. T. trägt seinen Namen zu Unrecht. Er hat an keiner Stelle die Aufgabe, eine etwa fehlende historische Legitimation zu ersetzen. Der Schrift»beweis« ist selbst Verkündigung. Insbesondere dient er innerhalb der Verkündigung dazu, zu verdeutlichen, daß jeder, der die Botschaft von Jesus Christus ablehnt, in Widerspruch zur Schrift gerät. Auch die bekanntermaßen in der Debatte um die Entmythologisierung immer wieder vollzogene Verknüpfung des Ärgernisses der christlichen Botschaft mit dem philosophischen Gedanken der Unaufweisbarkeit bedeutet eine Verschiebung verhängnisvoller Art. Das eigentliche Skandalon der christlichen Botschaft im N. T. ist nicht die Unaufweisbarkeit als solche, sondern vielmehr die Erniedrigung dessen, der für uns zur Sünde gemacht wurde. Mit Bodelschwinghs Worten: » … als der Freie ward zum Knechte und der Größte ganz gering, als für Sünder der Gerechte in des Todes Rachen ging.«
»Der göttlichen Wesens war, erniedrigte sich selbst… bis zum Tode am Kreuz« (Phil. 2, 6 ff.) — das ist das Ärgernis des Kreuzes. Wird hier der philosophische Gedanke der Unaufweisbarkeit herangebracht, dann muß an das erste Drittel des eben zitierten Satzes als eine metaphysische Aussage ein Fragezeichen gemacht werden. Denn — so heißt es — wer metaphysische Behauptungen aufstellt, muß den Beweis für sie erbringen, muß dieselben »verifizieren«. Dies ist natürlich nicht möglich. Was aber nicht verifiziert werden könne, dürfe nicht als Wirklichkeit behauptet werden. Das ist ein Trugschluss des zu Unrecht auf das Gebiet der Offenbarungsgeschichte übertragenen modernen wissenschaftlichen Denkens.
Das ist die philosophische Hypothek: ein gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit der Offenbarung Gottes in der Geschichte, ein gebrochenes Verhältnis deshalb auch zu reformatorischer Heilsgewißheit, die sich auf diese Wirklichkeit gründet. Von diesem gebrochenen Verhältnis her wird die nun darzustellende Entwicklung der historisch-kritischen Theologie zur gegenwärtigen Problemstellung zutiefst beeinflußt.
3. Motive und Meilensteine auf dem Wege zur existentiellen Interpretation
a) Es wird eine unechte Alternative aufgestellt
Der Verkündigungscharakter des N. T. wird in Gegensatz zu bloßem Bericht gestellt. Die Frage »Was ist passiert?« sei deshalb falsch gestellt, weil das N. T. am Ereignis nicht interessiert sei. Es wird also nicht mehr nach dem faktischen Geschehensein der in der Bibel berichteten Ereignisse gefragt, sondern nur noch nach deren kerygmatischer >Bedeutsamkeit<. Damit ist die ganze historische Tatsachenfrage, welche die Theologie seit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelwissenschaft so sehr in Atem gehalten hat, auf eine verblüffend einfache Weise zwar nicht gelöst, aber gegenstandslos geworden. Alles berichtete Geschehen als solches wird irrelevant und kann der radikalsten historischen Kritik preisgegeben werden. Theologische Relevanz hat nur die kerygmatische Bedeutsamkeit für meine eigene Geschichte. Dieser Enthistorisierung gegenüber ist die Entmythologisierung ein vergleichsweise harmloses Unternehmen.
Der Ereignischarakter der neutestamentlichen Zeugnisse wird relativiert bzw. geleugnet. Um nur eine, freilich zentrale Aussage der modernen Theologie zu nennen: »Der christliche Osterglaube ist an der historischen Frage nicht interessiert« (Bultmann). Die damit aufgestellte Alternative zwischen Verkündigung und Bericht ist unecht. Sie ist es nicht nur im N. T., sondern auch heute, im Vollzug heutiger Predigt. Es mag freilich vorkommen, daß gepredigt wird, ohne daß das, was gepredigt wird, wahr ist auch im Sinne des Mitgeteilten. Aber eines kann man doch nicht behaupten: daß ein Prediger an der Wahrheit und Wirklichkeit dessen, was er predigt, grundsätzlich nicht interessiert sei. Seltsamerweise wird dies für das N. T. als literarischem Niederschlag urchristlicher Predigt behauptet. …
Käsemann sagt: »Die Evangelien sind nicht primär als Tatsachenbericht zu verstehen, weil sonst ihr Verkündigungscharakter ausgeschaltet wäre.«
Gegen eine solche Alternative zwischen »Tatsachenbericht« und »Verkündigung« erheben sich schwerwiegende Bedenken, die aus dem Neuen Testament nicht begründet werden können. Sie wurden in Entstehung und Anwendung gefördert durch einseitige Übernahme der existentiellen Aussagen reformatorischer Theologie, durch einseitige Übernahme des Kierkegaardschen Korrektivs, ohne den inhaltlichen Bezug, der bei Kierkegaard keine Abwertung erfahren hatte. Sie bewirkt eine Einebnung und Auflösung aller echten theologischen Spannungen, die die Geschichte des christlichen Glaubens begleiteten, etwa der Spannung zwischen der Natur Christi und seiner Bedeutung für mich, zwischen dem Ereignis der Vergangenheit und der Vergegenwärtigung im Ereignis der Predigt. …
Aber es ist ja nicht letztlich der exegetische Befund, der das Material abgeben könnte für so weitgehende Behauptungen, das N. T. sei an dem Geschehensein dessen, was es bezeugt, uninteressiert. … Das Kreuz zum Beispiel ist kein Zeichen, das für Jesus erfunden wurde; es ist ein Zeichen, das sich ganz in das römische Denken einfügte. Daß jenes eine Kreuz für uns entscheidend wurde, lag in der Person dessen, der daran starb. …
b) Verkündigung und Ereignis werden identifiziert
Christliche Verkündigung ist ohne Ereignung in der Geschichte unmöglich. Sie wäre sonst Religion wie andere Religionen. Dies ist der modernen kritischen Theologie natürlich nicht entgangen. Über den Versuch der liberalen Väter, aus dem zeitgeschichtlichen Gewande eine zeitlos gültige Wahrheit herauszuschälen, bei deren Verkündigung man gänzlich ohne konkretes historisches Faktum auskommen könnte, ist man hinausgekommen. Man sieht es jetzt im Geschehen der Verkündigung selber. Die Verkündigung, das Kerygma, ist selber das Heilsgeschehen. …
Bezeichnend für die Gleichsetzung von Verkündigung und Ereignis ist das Verständnis von Johannes 1,14 – einer auch für die »Kerygma-Theologie« entscheidenden Aussage. »Das Wort ward Fleisch« – geschieht diese Fleischwerdung im Wort der Verkündigung oder aber im durch das Wort der Verkündigung bekundeten Ereignis? Infolge der Abwertung des historischen Ereignisses überträgt man das ganze Gewicht historischer Faktizität auf das Geschehen der Verkündigung. Die damit vorgenommene Betonung des Wortes, der Verkündigung, wird aber dem Zeugnis der Bibel nicht gerecht. Ihr Zeugnis dient dem fleischgewordenen Wort Jesus Christus.
Er selbst, Jesus von Nazareth, der Christus, ist Inhalt der Botschaft, ist das Ereignis in der Geschichte, aufgrund dessen christliche Verkündigung erst möglich ist, und welches christliche Verkündigung als Ereignis in der Geschichte zu bezeugen hat.
Letzte Folge der Gleichsetzung von Verkündigung und Ereignis ist zwangsläufig der Verlust des Ereignisses. Das heißt aber: der Logos von Johannes 1, 14 ist nicht mehr der mir als lebendige Person begegnende Jesus Christus, sondern nur noch ein Anspruch der Verkündigung. Jesus Christus ist nicht mehr »wahrer Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren«. Dann aber ist auch der Heilige Geist nicht mehr wahrer Gott und Herr, sondern fällt zusammen mit dem Wort der Verkündigung oder womöglich sogar mit dem Akt gläubiger Zustimmung zum Wort. Aus dieser Entpersonalisierung des Logos folgt zwangsläufig, daß eine persönliche Beziehung des Menschen zum lebendigen Herrn Jesus Christus als des Jüngers zum Meister, welches mehr ist als nur ein bildhafter Ausdruck für ein jeweiliges Verhalten zum Wort der Verkündigung, hinfällig und unmöglich ist.
Diese Kerygma-Theologie sagt also: das »Faktum«, das die historische Einmaligkeit christlicher Botschaft sichert, ist der Text. In ihm ist das Kerygma enthalten. Um nun den Text richtig zu interpretieren, muß ich das Kerygma in ihm herausfinden. Aber wie? Wir erinnern uns, daß Luther von seiner lebendigen Begegnung mit Christus her imstande war, die Schrift recht auszulegen. Wenn aber solche persönliche Beziehung mangels eines konkreten Gegenüber nicht möglich ist, muß nach einer Methode gefragt werden, die als Auslegungsprinzip dienen kann. Diese Auslegungsmethode findet die Kerygmatheologie im sogenannten hermeneutischen Zirkel. Der Text wird nach dem Kerygma befragt. Vom Kerygma her wird alsdann der Text interpretiert.
c) Der moderne Mensch steht im Blickfeld
Alle Verkündigung geschieht zum Menschen hin und um des Menschen willen. Das ist selbstverständlich. Daß nun der Mensch heute in so großem Ausmaße der Botschaft der Kirche entfremdet ist, ist eine oft besprochene Tatsache. Was ist es denn, das den modernen Menschen von der Kirche fernhält? Seine Verstandesnöte! Daß er »nicht mehr all das glauben kann, was man von ihm in bezug auf Gott, Jesus und die Bibel zu glauben verlangt«. Also muß man ihm »seine falschen Anstöße am christlichen Glauben nehmen und ihm dazu verhelfen, daß er mit gutem Gewissen glauben kann, ohne dabei intellektuell unredlich zu werden« (Zahrnt). …
Daß der moderne Mensch zur Bibel keinen unmittelbaren Zugang finden könne, gilt demnach als ausgemacht. »Die Bibel sei ihm ein sehr fernes Buch.« — »Welche Zumutung, all das zu glauben …« (Ebeling).
Wir fragen zurück: Ist das wirklich so? Sind die vielen tausend bibellesenden Christen aus allen Schichten unseres Volkes, darunter viele »Intellektuelle«, denn keine »modernen« Menschen? Ist der Zugang, den sie seit und in der persönlichen Begegnung mit dem lebendigen Herrn Jesus Christus zur Bibel fanden, Einbildung? Oder Anmaßung? Oder Schwärmerei? Oder haben all die Menschen die heute mit der Bibel leben, diesem ihrem Zugang zur Bibel einfach das »sacrificium intellectus« gebracht, d.h. ihren Verstand geopfert? (Käsemann: »wie Schwärmer es [das sacrif. intell.], freilich geblendet und überwältigt, zu bringen leicht bereit sind.«)
Als Beispiel dafür, wie anders die Dinge liegen, wenn der Zugang zur Bibel durch den Herrn Jesus Christus gefunden wurde, sei das Zeugnis Arthur Richters in seinem 73. Rundbrief (Juli 1962) angeführt: »Das Geheimnis der Menschwerdung Jesu soll göttliches Geheimnis bleiben. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, es verstehen oder korrigieren zu wollen. Seitdem ich einen leisen Schimmer der Größe Gottes verspürt habe, seitdem ich an mir und vielen anderen erlebt habe, wie Gott heute mit Menschen umgeht, seitdem ist die Frage der Jungfrauengeburt kein Problem mehr. Sie ist nicht gelöst, wie man eine mathematische Aufgabe löst, sondern die ganze Fragestellung hat sich aufgelöst, sie ist nicht mehr da. Die Lösung kam zu mir als Auflösung der Frage. Das ist etwas ganz anderes, als ein krampfhaftes Opfer des Intellekts. Es ist im Grunde eine praktische Folge des ersten Satzes des Glaubensbekenntnisses: >Ich glaube an Gott!< Darin ist eingeschlossen das Recht Gottes, unbegreifliche Dinge zu tun, ohne sie neugierigen Leuten zu erklären.«
Natürlich soll nicht verkannt werden, daß es diese intellektuellen Schwierigkeiten gibt, wenn auch nicht erst beim »modernen« Menschen, sondern bereits zur Zeit des Paulus. (1. Kor. 15, 35 ff. geht Paulus auf solche Fragen ein, wie sie damals auftraten.) Es ist nur die Frage, ob die Folgerung, die daraus gezogen wird, es müsse entmythologisiert werden, damit der moderne Mensch wieder glauben könne, richtig ist.
Es mag in dem Zusammenhang auch bedacht werden, wie die von A. Köberle gestellte Frage nach der Reaktion der Ärzteschaft auf Bultmanns Versuch, dem modernen Menschen den Glauben zu erleichtern, beantwortet wurde. Dafür aus dem bereits zitierten Buch des Arztes H. Gödan »Die Unzuständigkeit der Seele« eine Probe:
»Die Theologie der Entmythologisierung versucht krampfhaft, einen Kontakt zu dem sogenannten modernen Menschen zu finden… Sie ist ein auf dem wissenschaftlichen Sektor sich zeigendes Symptom einer Störung, die wir in der individuellen Diagnostik Kontaktschwäche nennen. Der Kontaktschwache möchte gern; aber er setzt falsch an.«
An anderer Stelle spricht Gödan von der »hermeneutischen Dystonie Bultmanns« – er meint ein Überwiegen der Steuerung zugunsten des modernen Menschenverständnisses. »So können Ärzte und Naturwissenschaftler das Vorgehen Bultmanns nicht begreifen: Er gibt auf seinem Wissenschaftsgebiet gerade das preis, was unabdingbar dazu gehört, nämlich das faktisch Vorgegebene zu rekonstruieren und dabei auch Ungewisses zu ertragen; und er übersieht notwendige Rückkoppelungen zwischen der Seele, die des echten Mythos bedarf, und dem Geist, der auf Fakten angewiesen ist und nicht auf das Verständnis seiner selbst. Darum ist es nur natürlich, wenn sich der Organismus der Theologie gegen eine hermeneutische Dystonie wehrt, und zwar nicht nur um seiner selbst willen, sondern weil dieser Organismus ein gesundes Gleichgewicht innerhalb seiner hermeneutischen Regulationen braucht um des modernen Menschen willen und um der anderen Wissenschaften willen, deren Lasten er mittragen muß. Die Theologie hat jeder einzelnen Wissenschaft gegenüber eine ähnliche Aufgabe wie der Seelsorger gegenüber dem einzelnen Menschen. Es gibt ein verborgenes Sehnen nach einer Theologie der exakten Wissenschaften, denn diese Wissenschaften ahnen bereits, daß der gleiche Mensch, der der Natur die Geheimnisse der Rückkoppelung ablauscht und technisch anwendet, darüber vergißt, daß der, der die Kybernetik studiert, dabei selbst des kybernetes, des Steuermanns, bedarf.« (Gödan verweist an anderer Stelle darauf, daß die Rückkoppelungsmechanismen der modernen Automation nichts anderes sind als Nachahmungen feinster innerer Vorgänge in der Natur (im körperlichen Geschehen, zwischen Sexus und Scham, zwischen Seele und Geist usw.).
So spricht also ein moderner Arzt! — Indessen wird vom Theologen unentwegt vom »Wirklichkeitsverständnis der Neuzeit«, von seinen »neuen Denkvoraussetzungen« her gefordert, die christliche Botschaft und Lehre diesem »Geist der Neuzeit« entsprechen zu lassen.
Daß dies nicht oder nicht ausreichend geschehe, sei die Ursache für die Wirkungslosigkeit der christlichen Predigt: »Es ist zu fragen, ob nicht die weitverbreitete Abgestandenheit der kirchlichen Verkündigung, ob nicht ihr Unvermögen, den Menschen der Gegenwart anzureden damit zusammenhängt, daß man sich davor fürchtet, die Arbeit der historisch-kritischen Theologie in sachgemäßer Weise fruchtbar werden zu lassen …« (Ebeling)
Man möchte zurückfragen, ob denn das Geheimnis der großen Erweckungsprediger und Evangelisten darin bestanden habe, daß sie die vom Geist der Neuzeit aufgeworfenen Probleme genügend durchreflektiert hätten? Könnte nicht, wenn schon die heutige Predigtnot als leider nicht zu leugnende Tatsache zitiert wird, das Studium der Erweckungsgeschichte der letzten Jahrhunderte praktischere Anregungen geben, als der ständige Versuch, dem Wirklichkeitsverständnis des modernen Menschen als einer absolut gesetzten Größe zu entsprechen! Würde nicht ein solches Studium, etwa an Hand der Untersuchung O. Rieckers »Das evangelistische Wort«, immer wieder zeigen, daß nicht das Eingehen auf den Geist der Neuzeit, sondern ganz schlicht gesagt das Wirken des Heiligen Geistes die Durchschlagskraft der Verkündigung erzeugte, nach der wir uns alle sehnen?
Ebelings Bemerkung »In der Neuzeit hat der christliche Glaube die Selbstverständlichkeit eingebüßt, mit der er mehr als ein Jahrtausend lang in der abendländischen Geschichte gegolten hatte« ist doch einfach so nicht richtig. Der christliche Glaube war nie selbstverständlich, auch im vergangenen Jahrtausend nicht. Und andererseits bleibt es gültig, daß Jesus Christus auch den modernen Menschen durch sein Blut erkauft hat, daß er auch für den modernen Menschen die Tür und der Weg und die Antwort auf alle Lebensprobleme ist. Wenn der Mensch von heute das vielfach nicht wahrnehmen will, dann liegt das nicht an seiner Modernität, sondern wie zu allen Zeiten an seiner Verlorenheit. Er kann das Reich Gottes nicht sehen. …
II. Die existentiale Interpretation in kritischer Darstellung
1. Was ist und was will »existentiale Interpretation«?
Zunächst muß mit Rücksicht auf die immer wieder vorkommenden Begriffsverwechslungen abgrenzend klargestellt werden: Existentiale Interpretation ist nicht einfach eine existentielle Anrede, etwa entsprechend einer evangelistischen Ansprache, so sehr sie auch an der Frage des existentiellen Betroffenseins bei Verkündiger und Hörer interessiert ist. Existentiale Interpretation ist vielmehr eine Methode der Auslegung, die von der Voraussetzung ausgeht, daß der Text so wie er dasteht, nicht ohne weiteres das sagt, was er eigentlich sagen will. Diese Voraussetzung ist skeptischer Natur. Und zwar zeigt es die Skepsis, das Mißtrauen gegenüber der Wahrheit, daß nämlich das, was im Text gesagt ist, einfach wahr sei, die zu der Frage nach einer hinter den Textaussagen liegenden, erst zur Sprache zu bringenden »kerygmatischen« Wahrheit führt, wodurch die Wahrheit des Gesagten relativiert wird zugunsten der Wahrhaftigkeit des sich im Text Aussprechenden. Und ebenso ist es die Skepsis gegenüber der Geschichte, daß nämlich Ereignisse der Vergangenheit als solche für uns heute wirkmächtig und verpflichtend sein könnten. Bultmann sagt etwa: »Das Kreuz ist für uns als Ereignis der Vergangenheit kein Ereignis des eigenen Lebens mehr«.
Diese Skepsis, ein gebrochenes Verhältnis zur außerhalb meiner selbst liegenden Wirklichkeit und zur Geschichte, die wir als die philosophische Hypothek des heutigen Denkens bezeichneten, ist eine ernste Zersetzungserscheinung unserer Zeit, ihre Tendenz geht dahin, daß uns alles genommen wird, letzten Endes wir selber. Sie ist buchstäblich eine Krankheit zum Tode. Erst von dieser skeptischen Voraussetzung her bekommt die Frage nach einer Auslegungsmethode, in der Wahrheit und Geschichte nach dem in ihnen enthaltenen Seinsverständnis befragt werden, ihr Gewicht. …
Niebuhr hat darauf hingewiesen, wie diese ganz verschiedenen Motive — Anstoß am antiken Weltbild und philosophische Skepsis gegenüber objektivierender Rede- und Denkweise — bei Bultmann ständig ineinander übergehen.
Um nun hindurchzustoßen durch zeitbedingte — mythologische — Textaussagen zu dem eigentlich Gemeinten, um gleichermaßen der Bedeutsamkeit historischer Ereignisse, deren wirkliches Geschehensein uns heute nicht mehr zu glauben zugemutet werden könne und dürfe, auf die Spur zu kommen, bietet sich die »existentiale Interpretation« als Auslegungsmethode an. Sie stammt von M. Heidegger. In Heideggers Analyse menschlicher Existenz spielen die sogenannten »Existentiale« eine wesentliche Rolle. Sie bilden gleichsam die Strukturelemente menschlichen Existierens, so etwa »Sorge«, »Angst«, »Freude« u. a. Als besonders wesentliches »Existential« wird das »Verstehen« bezeichnet, und zwar nicht nur als das Verstehen in dem Sinne, daß einem etwas einleuchtet, sondern als Verstehen seiner selbst.
Das Selbstverständnis ist in der existentialen Interpretation deshalb ein Schlüsselwort. Mit dem Aufdecken des Selbst- oder Seinsverständnisses, das einem Text oder einer berichteten geschichtlichen Tatsache zugrunde liegt, glaubt man das Eigentliche fassen zu können, anhand dessen man alsdann Text und Tatsachen interpretieren kann. »Existential« ist also eine Interpretation darin, daß sie nach dem Verständnis menschlicher Existenz, nach dem Seinsverständnis fragt. Die bei solcher Befragung unter die existentiale Lupe genommenen Tatsachen behalten hinsichtlich ihres Geschehenseins nur noch eine relative Bedeutung. Indessen bedeutet das nicht, daß sie gestrichen (»eliminiert«) werden. Sie werden vielmehr »interpretiert«, was in der Begründung dieser Auslegungsmethode unermüdlich betont wird. In der Tat hegt ja hier der wesentliche Unterschied gegenüber der alten sogenannten liberalen Theologie, die um der zu findenden zeitlosen Wahrheit willen ganze Partien der Überlieferung zu streichen, d. h. zu eliminieren, bereit war. Nein, jetzt wird nicht mehr eliminiert, jetzt wird interpretiert. Man braucht ja auch nicht mehr zu eliminieren, wenn man sich darauf geeinigt hat, daß es für die Ausrichtung der Botschaft heute belanglos ist, ob etwas Vergangenes, auf das man sich bezieht — etwa eine Wundergeschichte oder die Heilstatsache der Auferstehung Jesu Christi — wirklich passiert ist oder nicht. So wird man den leidigen Vorwurf eines »Subtraktionsverfahrens«, den sich die liberale Theologie hatte gefallen lassen müssen, los.
Bultmann sagt dazu: »Die entmythologisierende Interpretation will gerade durch die Kritik die eigentliche Intention der biblischen Schriften zur Geltung bringen… Ihre Kritik am biblischen Schrifttum besteht nicht in der Elimination der mythologischen Aussagen, sondern in ihrer Interpretation; sie ist kein Subtraktionsverfahren, sondern eine hermeneutische Methode.«
Daß dem so ist, soll nicht bestritten werden. Die Frage ist nur, ob die hermeneutische Methode der existentialen Interpretation nicht in der Relativierung des Ereignischarakters der großen Taten Gottes auf eine Umdeutung hinausläuft, die einem schwerwiegenden Substanzverlust gleichkommt. Diese Befürchtung legt sich besonders nahe an einer Stelle, an der die »Interpretation« augenfällig zu einer Verkürzung führt: in der Stellung dieser Theologie zu der noch ausstehenden großen Heilstat, der Wiederkunft Jesu Christi. Was man bei Tatsachen der Vergangenheit kann, kann man bei in der Zukunft liegenden Geschehnissen nicht so ohne weiteres: sie auf ihre Bedeutsamkeit, auf das in ihnen zum Ausdruck kommende menschliche »Seins-Verständnis« befragen. Darum kann die Umdeutung, die in der existentialen Interpretation mit den vergangenen Ereignissen geschieht, an dieser Stelle nicht ganz so leicht verborgen bleiben. Hier liegt ja nicht einmal ein sogenannter »Bericht« vor, sondern lediglich Prophezeiungen, die — so sagt man — schon in der Urchristenheit nicht eingetroffen sind. Hier wird darum auch in der Theologie Bultmanns und seiner Nachfolger ohne viel Umschweife gestrichen. Nach Bultmann sind alle zeitlich-eschatologischen Aussagen des Johannesevangeliums Zufügung eines Redaktors in Angleichung an die traditionelle Eschatologie. Ebeling nennt das Lehrstück von den »Letzten Dingen« fatal und bezieht sich mit dieser Abweisung ausgerechnet auf Matth. 6, 34 Nach Conzelmann ist keine der Aussagen Jesu von seinem Kommen und dem Reiche Gottes zeitlich gemeint. Alles, die zukünftigen Gottestaten ebenso wie die vergangenen, werden hineingedrängt in das Geschehen der Verkündigung heute, in welchem sich die Fleischwerdung des Wortes, die Versöhnungstat, die Auferstehung, das Kommen Jesu zum Gericht ereignet.
Darum fragen wir:
Ist eine Interpretation, welche die Tatsachen, die sie interpretieren will, nicht mehr als Tatsachen respektiert, sondern von einem Vorverständnis ausgeht, nach welchem es bei diesen Tatsachen nicht um ihr tatsächliches Geschehensein, sondern vielmehr nur um das in ihnen zum Ausdruck kommende Seinsverständnis gehen dürfe, noch »Interpretation« im ursprünglichen Wortsinn, nämlich Verdolmetschung? Dann müßte jedenfalls die Botschaft, die interpretiert, also verdolmetscht werden soll, in ihrem inhaltlichen Bezug, an dem sie selbst aufs höchste interessiert ist, unangetastet bleiben. Wenn aber dieser inhaltliche Bezug, an welchem dem N. T. entscheidend gelegen ist, in klarem Gegensatz zur Auffassung der Menschen des N. T. als naiv, vorkritisch und vorwissenschaftlich angesehen wird, dann tritt mit der zu interpretierenden Botschaft eine Veränderung ein, die man nicht mehr Interpretation nennen darf, wenn man sich nicht dem Vorwurf der Falschmünzerei aussetzen will. E. Fuchs schreibt: »Wir machen es uns also zur Aufgabe, das sote-riologische Denken, gerade das im Neuen Testament anzutreffende, an der Kategorie der Tatsache orientierte soteriologische Denken durch ein existentiales, an dem Existential Welt orientiertes Denken zu überwinden oder wenigstens zu korrigieren.«
Hier wird bewußt mehr als Interpretation im Wortsinn gefordert. Hier geht es um Umdeutung. Daß trotzdem von Interpretation gesprochen und immer wieder beteuert wird, es würde im Gegensatz zur »liberalen« Theologie nichts eliminiert, das macht die heutige Situation so undurchsichtig. Es gehört zu den charakteristischen Kennzeichen unserer theologischen Situation, daß sie kaum noch von dem Fachtheologen innerhalb der Kirche klargemacht werden kann, geschweige denn dem gläubigen »Laien« verständlich ist.
Künneth sagt dazu: »Die Angst vor objektiven Tatsachen führt diese Theologie in eine geradezu auffallende Verlegenheit, über die >großen Taten Gottes< in unmißverständlicher Klarheit zu reden… Einig ist man sich darüber, daß jeder Offenbarungsrealismus verworfen werden muß, aber darum bleibt auch die Wirklichkeit von Jesus Christus im Nebel ohne die unerläßliche Profilierung.«
Aber gibt es nicht vielleicht doch noch tiefere Beweggründe für das Unternehmen der existentialen Interpretation?
Mit großem Nachdruck wird seitens mancher Theologen der als »Interpretation« bezeichnete tiefgehende Wandel der Auffassung der christlichen Botschaft mit der dringlichen Überwindung des Subjekt-Objektschemas begründet und verknüpft. Der Glaube dürfe es nicht mit objektiven Tatsachen zu tun haben, weil er sonst zu einer bloßen »fides historica«, zum »Fürwahrhalten« herabsänke, das bereits Luther abgelehnt habe. Es bleibt dann aber nur die Frage unbeantwortet, wie man sich erklären soll, daß sowohl das Neue Testament als auch Luther eindeutig »an der Kategorie der Tatsache orientiert« sind, ohne daraus einen Glauben im Sinne bloßen Fürwahrhaltens abzuleiten.
Bedeutet die Tatsächlichkeit eines Geschehens denn von vornherein seine Objektiviertheit? Für das Neue Testament wie für Luther ist das zu verneinen. Daß da von Tatsachen gesprochen wird, bedeutet keineswegs Befangenheit im metaphysischen Denken, sondern ist bezeichnend für biblisches Denken. Biblisches Denken aber steht in ständigem Bezug zu den magnalia Dei, den großen Taten Gottes. Deren Realität ist mit dem modernen Begriff der historischen Tatsache (d. h. feststellbar mit den Mitteln oder Methoden und unter den Voraussetzungen der modernen Wissenschaft) nicht zu fassen. Das bedeutet aber gerade nicht, daß nun doch ein Fragezeichen an diese Realität gemacht werden müsse. Vielmehr gehört das Fragezeichen an die Voraussetzungen der modernen Wissenschaft. Ist das moderne wissenschaftliche Denken der Wirklichkeit angemessen, um die es in der Bibel geht? Erst dann wäre es in echtem Sinne »wissenschaftlich«.
Es geht vielmehr um den Gegensatz zwischen philosophischem und biblischem Denken. Vom biblischen Denken her erklärt sich die Orientierung an Tatsachen, ohne daß daraus einfach eine fides historica entspränge. Es sind die biblischen Wurzeln der Theologie Luthers, die entstanden ist »im Achten auf die Eigenart des biblischen Sprachgebrauchs im Unterschied zum philosophischen bzw. scholastischen«, die ihn instand setzen, mit gleichem Nachdruck von den glaubenbegründenden Heilstaten zu reden wie von dem glaubenweckenden Geschehen der Predigt. Für Luther wie für das N. T. ist das kein Gegensatz, wohl aber für die moderne Theologie, und zwar aus philosophischen Prämissen. Dabei ergibt sich aus der (philosophisch begründeten) Opposition gegen das althergebrachte Subjekt-Objekt-Schema eine äußerliche Ähnlichkeit zum biblischen Denken, dem dieses Schema ja gleichfalls fremd ist, die überaus verwirrend ist. Man könnte dieses moderne Verständnis des N. T. und Luthers als das genuine ansehen, wenn es nicht im Gegensatz zur Bibel und zu Luther so allergisch gegen die »Tatsachen« wäre. An dieser Stelle aber, und vielleicht nur an dieser, enthüllt es sich als das, was es ist: Philosophie.
Als Ergänzung auch hier wieder die Stimme des Arztes. Gödan sagt: »Wenn Bultmann behauptet, daß es im Wesen des Kerygmas liege, daß nach der historischen Zuverlässigkeit des Überlieferten nicht gefragt werden darf, dann wird jener wesentlichen Funktion des menschlichen Geistes nicht Rechnung getragen, die nach Fakten verlangt, so wie der Körper nach bestimmten Nahrungsstoffen. Wenn dem Menschen die geschichtliche Begegnung mit dem Christus kata sarka nicht gelingt oder ihm als unmöglich bezeichnet wird, dann schafft er sich andere Christoi kata sarka, und an diesem Ersatz wird er erkranken… «
Die aufgezeigte Umdeutung des an Tatsachen orientierten Evangeliums zu einer am Seinsverständnis orientierten Anrede ist gefährlich. Hier liegt eine Tarnung vor, die schon zahllosen Gliedern der Gemeinde des Herrn Jesus Christus zum Fallstrick (Skandalon) geworden ist. Diese Tarnung ist ein bezeichnender Ausdruck der heute verbreiteten Vernebelung. Es bedarf darum dringend klarer Wegweisung, wie sie in unserer Darlegung versucht wird.
2. Der hermeneutische Zirkel in der existentiellen Interpretation
Schon in der oben dargestellten Gleichsetzung von Verkündigung und Ereignis, die für die sogenannte Kerygma-Theologie bezeichnend ist, stellte sich zwangsläufig die Frage nach dem methodischen Prinzip zum Herausfinden des Kerygmas. In gegenseitiger Korrelation steht die Suche des Kerygmas anhand des Textes und die Auslegung des Textes anhand des Kerygmas. Schon bei dieser Methode hatten wir einen wesentlichen Unterschied gegenüber Luther, insofern diesem bei seiner persönlichen Beziehung zum Herrn Jesus Christus ein Ausgangspunkt gegeben war, der sich in seinem Umgang mit der Bibel bewährte. Auch unter diesem Ausgangspunkt ist eine Korrelation in gewisser Weise typisch: In der Schrift lerne ich Jesus Christus kennen, und aus der an der Schrift genährten Gemeinschaft mit Jesus Christus kommt die Freiheit zum Umgang mit der Schrift.
Hier liegt der innerste Nerv unserer ganzen Problematik: Persönliche Beziehung zum Herrn Jesus Christus oder methodisches Prinzip als Schlüssel zur Schriftauslegung?
In immer neuer Weise kommt bei Luther zum Ausdruck: Nur einen scopus, nur einen kritischen Kanon läßt er für die Auslegung der Schrift gelten, nämlich Jesus Christus. Im Blick auf die Auslegung der Gleichnisse gilt, der Weg führt nicht über die Gleichnisse zu Jesus, sondern über Jesus zu den Gleichnissen.
Kann man dieses »Hingewandtsein zu Christus, im Gebet zu ihm« noch weiter interpretieren? An diesem innersten Quellort des Glaubens kommt die untersuchende und beschreibende Reflexion an ihre Grenzen. In der gebotenen Abgrenzung gegen »Individualismus und Schwärmertum« ist freilich zu sagen, daß bei Luther diese persönliche Beziehung zu Jesus Christus immer auf die Schrift bezogen, nie von ihr gelöst wird. Luther kennt keine Unmittelbarkeit ohne das Wort der Schrift. Das wäre Schwärmertum. Aber er kennt die Unmittelbarkeit zu Christus durch das Wort der Schrift, per verbum. Sie ist für ihn Maßstab und Ausgangspunkt theologischer Arbeit, weil Jesus der Anfänger und Vollender des Glaubens ist.
Das gehört zu den Eigentümlichkeiten des biblischen Wortes, — und zwar weil es nicht bloßes, leeres Wort, sondern Wirklichkeit als lebendiges Wort des lebendigen Gottes ist —, daß es sich dem kritisch forschenden Geist entzieht, sich dagegen dem aus der Tiefe anklopfenden, betenden Suchen aufschließt, wo und wann Gott will, nicht also als zwangsläufiges Ergebnis eigener wissenschaftlicher Gründlichkeit. Dieser unserer Situation hinsichtlich des Wortes Gottes sollten wir uns als Theologen nicht schämen, und zwar dies um so mehr, als wir darin beispielhaft für alle andere echte Wissenschaft stehen. Auch auf anderen Gebieten »weltlicher« Wissenschaft wird Wirklichkeit nicht erkannt als selbstverständliches Resultat menschlicher Bemühung und damit sozusagen in unsere Hand gegeben. Vielmehr ist Wirklichkeitserkenntnis auf allen Gebieten letztlich immer nur Geschenk dessen, der allein Wirklichkeit setzt und erhält, des Schöpfers. Daß die Theologie darin für andere Wissenschaft die Funktion des »Salzes der Erde« und des »Lichtes der Welt« hat, sollte uns als Theologen besonders davor warnen, dem Handwerkszeug hermeneutischer Methodik mehr Gewicht zuzugestehen, als ihm zukommt, damit nicht unter der Hand aus der Theologie ein »nach Weisheit fragen« wird (1. Kor. 1, 22).
Tritt das methodische Prinzip an die Stelle der persönlichen Beziehung zum Herrn Jesus Christus, wie es für den hermeneutischen Zirkel bezeichnend ist, so wird die Frage unabweisbar, wie man in den Zirkel hineinkommt. Die Frage nach dem Anfang ist deshalb auch der eigentlich wunde Punkt in der Anwendung des hermeneutischen Zirkels. Die umkehrbare Korrelation bleibt notwendig in Ungewißheit.
Die Sache wird allerdings durch die Hinzunahme existentialer Kategorien um einiges griffiger. Als »Maßstab« des Zirkels steht jetzt das Seinsverständnis zur Verfügung. Der hermeneutische Zirkel unter Anwendung der existentialen Interpretation sieht dann so aus:
Vom Befund der Quellen aus ist zu dem in ihnen zum Ausdruck kommenden Seinsverständnis vorzustoßen, und von diesem Seinsverständnis aus der Befund der Quellen kritisch zu interpretieren.
Man betrachte unter dieser Frage einmal einige Aussagen der jüngeren Zeit: E. Fuchs kritisiert den »heute beliebten, wie ein Tabu wirkenden und doch so törichten Begriff der >Heilstatsache<: Dem lebendigen Glauben ist dergleichen fremd. Er reflektiert nicht über Tatsachen, sondern er schafft sie allenfalls.« Ebeling: »Glaubensgrund ist das, was den Glauben Glauben sein läßt und den Glauben dabei erhält, daß er wirklich Glaube bleibt, worauf also der Glaube letztlich angewiesen ist.«
Überhaupt fällt auf, wie häufig im Verlauf der Anwendung der existentialen Interpretation der Glaube als Subjekt ganzer Satzreihen auftritt. Ganz abgesehen vom Gesichtspunkt des Sprachgefühls — man wird manchmal den Eindruck nicht los, als sei der Glaube personifiziert! — muß hier doch gefragt werden, ob etwa unter dem Zwang des fehlenden Angelpunktes dem Glauben eine Rolle zufällt, die er nicht spielen kann, wenn er eben Glaube bleiben will. Schniewind sagte: »Der Glaube weiß nichts von sich selbst zu sagen«, und wir möchten ergänzen: dafür aber um so mehr von dem, an den er glaubt!
Nüchtern und klar stellt dazu der moderne Arzt fest: »Es ist aber gerade die christliche Botschaft, die uns vor unseren eigenen Glaubensanstrengungen schützen will, denn sie gilt auch dort, wo ich nicht mehr glauben kann oder wo ich falsch glauben muß. Nicht nur vom theologischen, sondern auch vom ärztlichen Gesichtspunkt aus gesehen, ist es gerade das Gesunde des christlichen Glaubens, daß alles, worauf es ankommt, bereits vollzogen ist, daß es gerade nicht auf den Akt ankommt, sondern auf den Inhalt, daß ich sogar an Gottes gute Botschaft glauben darf, wo ich sie nicht mehr glauben kann. Es handelt sich hier um einen Glauben unabhängig von unserem Glauben-können.« Der Arzt verweist sodann auf Röm. 5, 6, also die Vorgegebenheit des Heils vor Erkenntnis und Predigt. Er gibt ferner den Hinweis, daß bei Glaubensstörungen oft gerade der Wille fehl am Platze ist und die Störung nur verschlimmert. »Hier hilft dann tatsächlich nur eines, das einfache Wissen um ein Faktum, das unabhängig von mir und meinem Glaubenkönnen wirkt und gültig ist.«
Daß im hermeneutischen Zirkel etwas fehlt, dessen scheint sich die neutestamentliche Theologie nach Bultmann selbst bewußt zu sein. Man fragt wieder nach dem »historischen Jesus«. Manchen scheint in dieser Entwicklung etwas sehr Hoffnungsvolles zu liegen. Man sagt dann etwa: »Seht, die theologische Forschung kehrt ganz von selbst zu ihren Fundamenten zurück.« Wir müssen diese Entwicklung eher tragisch nennen. Es liegt über ihr ein Zwiespalt. Unter den Voraussetzungen, mit denen die theologische Wissenschaft antrat, nämlich nur das als gesichert gelten zu lassen, was historisch-kritischer Forschung zugänglich ist, verbietet sich die Rückfrage hinter das Kerygma der Urgemeinde selbst. Der literarische Niederschlag der urchristlichen Predigt ist nun einmal das Früheste, was für wissenschaftliche Forschung greifbar ist.
Man könnte von daher fragen, wie denn ein Historiker (im Sinne moderner Wissenschaft) überhaupt hinter dieses Kerygma zurückfragen kann. Seltsamerweise ist jedoch diese Rückfrage schon innerhalb der Kerygma-Theologie immer wieder geschehen, auch schon vor der genannten neueren Entwicklung, nur nicht etwa, um den Glauben zu begründen, sondern um eine solche Begründung des Glaubens unmöglich zu machen, um dem Glauben alle »Stützen« zu nehmen. Es kommt darin ungewollt als Frucht historischer Skepsis zum Ausdruck, daß dem Glauben »etwas« fehlt, um seiner selbst gewiß zu werden.
Etwas anders liegt es in der genannten neueren Entwicklung (seit 1953). Sie wird durch das Wort Ebelings in besonders charakteristischer Weise gekennzeichnet: »Würde die historische Jesus-Forschung tatsächlich nachweisen, daß der Glaube an Jesus keinen Anhalt an Jesus selbst hat, so wäre dies das Ende der Christologie.«
Was wird dann aber unter »Jesus selbst« verstanden? Fuchs versteht »Jesus selbst« im Blick auf Jesu Verhalten. »Sein Verhalten war der eigentliche Rahmen seiner Verkündigung.« Es sei »das Verhalten eines Menschen, der es wagt, an Gottes Stelle zu handeln«. Die von Jesu Predigt und dem urchristlichen Kerygma geforderte Entscheidung sei dann »einfach das Echo derjenigen Entscheidung, die Jesus selbst getroffen hat«.
Damit wird bei Fuchs die Rückfrage nach dem historischen Jesus unternommen im Zuge der Purifizierung des Glaubens gegenüber allen dogmatischen Sicherungen. Diese Reinigung des Glaubens sei bereits im N. T. angebahnt. Er vergleicht etwa Röm. 4 (reiner Glaube, ohne inhaltlichen Bezug) mit 1. Kor. 15.
Von daher wird das Ergebnis der Rückfrage nach dem historischen Jesus bei Fuchs verständlich: Es geht um Jesu Glauben als Beispiel reinen Glaubens. »An Jesus glauben heißt der Sache nach, Jesu Entscheidung wiederholen.« Glauben wie Jesus, sich entscheiden wie Jesus! Das ist »Jesus selbst« bei Fuchs. Als Folgerung ergibt sich für Fuchs: Die dogmatische Folgerung der Rückfrage nach dem historischen Jesus könne deshalb also eigentlich keine Christologie, sondern müsse eine Lehre vom Wort Gottes sein. Das aber ist wieder die so bezeichnende Gleichsetzung von Wort Gottes und Heilsgeschichte!
Ebeling kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Zunächst: Die Rückfrage nach dem historischen Jesus ergibt keinerlei Glaubensgrundlage. Jesus ist der Anfänger und Vollender des Glaubens als »Zeuge des Glaubens«. Er versteht unter »Zeuge des Glaubens« Jesus in seinem Gottesverhältnis, nicht in seiner rettenden Tat. Christlicher Glaube müsse Glaube im Sinne Jesu sein. So wird Ebelings Satz verständlich: »Die Frage nach dem historischen Jesus ist die Frage nach dem Sprachgeschehen, das der Grund des Glaubensgeschehens ist.«
Der neue Rückgriff auf den historischen Jesus ist also kein an historischen Fakten interessierter, sondern er soll die Struktur des Glaubens erhellen, sie an Jesus selbst messen, indem gefragt wird, was bei Jesus zur Sprache gekommen ist. Der Glaube wird illustriert am historischen Jesus. Was Glaube ist, könne man bei Jesus lernen.
Gilt das aber nicht ebenso von Abraham? So spricht das Neue Testament jedenfalls von Abrahams Glauben. Dann ist das »Sprachgeschehen« also nicht, wie man hätte vermuten können, eine Art »Inverbation« anstelle der Inkarnation des Gottessohnes (Joh. 1, 14), sondern ein Ausdruck für Jesu Gottesverhältnis, das in ihm zur Sprache kommt, und das von uns aufgenommen, wiederholt werden muß, damit es wieder zur Sprache kommt.
Nach alledem ist die Frage nach »Jesus selbst« aber nicht anders verstanden denn als Frage nach seinem Selbstverständnis, nach seinen Existentialen. D. h. es geht darin um das, was Glauben ist, abzulesen am Gottesverhältnis Jesu. Dieser Aspekt entspricht im Ansatz der alten »Leben Jesu-Forschung« des 19. Jahrhunderts. Damals fragte man nach Jesu »innerem Leben«, seiner »Persönlichkeit«, heute entsprechend einer existentialphilosophischen Anthropologie nach dem »Selbstverständnis«. — Welch seltsamer Kreislauf!
3. Folgerungen
In der Liebe zu Jesus, in der Antwort des von Jesu Liebe überwundenen Herzens als Ganzopfer eigener Hingabe an diesen Herrn Jesus Christus ist die einzige Quelle aller großen, weltdurchdringenden Bewegungen unter christlichem Namen zu sehen, von der Ausbreitung der christlichen Botschaft in den Anfängen bis zu den missionarischen und diakonischen Bewegungen der Neuzeit. »Hast du mich lieb?« fragt Jesus. »Weide meine Schafe!« (Joh. 21, 15 ff.). Hast du mich lieb? Dann gehe in die Fiebersümpfe Afrikas als Bote meiner Liebe! Hast du mich lieb? Dann nimm dich der Verkommenen und Verwahrlosten an! Hast du mich lieb? Dann gib dein Leben in meine Hand und werde Diakonisse! Missionsgesellschaften, Diakonissenhäuser, Werke der Barmherzigkeit der Inneren Mission, ja alle lebensträchtigen Zweige der Kirche sind aus dieser einen Quelle entstanden, der Liebe zu Jesus.
Mit dem Verlust der persönlichen Beziehung zum Herrn Jesus Christus fällt aber auch der einzige Trost im Leben und Sterben dahin. In der Todesnot muß die Eigentumsfrage gelöst sein, und dazu bedarf es des bezahlten Lösegeldes, des gebrachten Sühnopfers, des stellvertretenden Sterbens unter dem Gerichtszorn Gottes. Und das alles ist nicht ohne die Person des Christus als des unschuldigen Lammes möglich, wenn anders es sich nicht um eine bloße gedankliche Konstruktion handeln soll, die notwendig ohne Gewißheit und Kraft bleibt. Wenn es um die persönliche Beziehung zu Jesus Christus geht, dann steht nicht weniger als alles auf dem Spiel.
Man muß das wohl selbst erlebt und erlitten haben, um den grundlegenden Unterschied zwischen biblischer Erlösung und existentialer Eigentlichkeit in seinem ganzen Ausmaß zu sehen. Es gibt hier keinen Kompromiß, etwa mit der Begründung, es ginge bei der existentialen Interpretation doch auch um evangelistische Verkündigung. Als Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist uns klargeworden: Es ist bei aller begrifflichen Ähnlichkeit ein anderer Jesus, den wir meinen, und von dem die existentiale Interpretation spricht. Es ist deshalb auch ein anderes Evangelium. Der existentiale Ruf zur Entscheidung ist ohne befreiende, erlösende Kraft, weil ihm die Wirklichkeit des lebendigen Herrn Jesu Christi und seines vollbrachten stellvertretenden Opfers fehlt. Spricht man ohne diese geschichtliche Wirklichkeit von der Rechtfertigung des Sünders, dann ist das ein Wort, dem die »Deckung« fehlt wie einem wertlos gewordenen Geldschein. Daran wird auch nichts geändert, wenn durch eine entmythologisierende Interpretation unbestritten dem modernen Menschen Verstandesnöte erleichtert werden, ja er sogar vom vielgenannten »sacrificium intellectus« erlöst wird. Das ist gar keine wirkliche Erlösung, weil die Macht der Sünde viel tiefer sitzt als im Intellekt. Tausendfältig hat sich dagegen gezeigt, daß mit der wirklichen Erlösung auch viele Verstandesnöte sich wie von selbst lösten.
Ohne die Deckung durch die volle Wirklichkeit des persönlichen, gekreuzigten und auferstandenen Herrn – wobei man hinzufügen muß: auch des wiederkommenden Herrn! – ist aber existentiale Interpretation ein aus menschlichem Wollen und Laufen geborener Methodismus, der sich anmaßt, Funktionen zu übernehmen, die der Heilige Geist sich selber vorbehalten hat.
III. Versuch einer Wegweisung
Ein Wort zur heutigen theologischen Lage soll sich nicht in der Kritik der existentialen Interpretation erschöpfen. Es soll deshalb auf der Grundlage des Dargestellten noch versucht werden, Grundlinien aufbauender theologischer Arbeit aufzuzeigen, die uns heute mehr denn je aufgetragen zu sein scheint.
1. »Herr, wer bist du?«
So fragt Paulus, als sich ihm Jesus offenbarte (Apg. 9, 5). Es ist dies die entscheidende Frage am Anfang der »theologischen Existenz« eines der größten Theologen, den die Gemeinde Jesu Christi gehabt hat. Schriftgelehrter war Paulus schon vorher, geeifert um Gott hatte er schon vorher, aber mit Unverstand, was ja nicht heißt, daß er vorher seinen Verstand nicht angewendet habe. Aber ohne Erleuchtung von oben ist menschlicher Verstand eben Unverstand, vollends in der Erkenntnis Gottes. Christlicher Theologe wurde Paulus erst unter dieser Frage: »Herr, wer bist du?«
Es ist dies die entscheidende Frage aller christlichen Theologie. Sie ist vorrangig gegenüber anderen Fragen der Entfaltung, der Weitergabe, der Übersetzung usw. Sie kommt auch vor der Frage nach der Autorität der Schrift.
Die Autorität der Schrift war für Paulus nie fraglich gewesen. Sie war auch den Schriftgelehrten nicht fraglich. Was aber hat den Schriftgelehrten ihr Pochen auf die Schrift geholfen? Micha hat sie nicht zur Anbetung nach Bethlehem geführt (Matth. 2,3 f.). Sie erhoben aus der Schrift, daß aus Galiläa kein Prophet ersteht (Joh. 7, 41) und hielten dafür, aus Nazareth könne nichts Gutes kommen (Joh. 1, 46); sie vernahmen ihr Zeugnis für Jesum nicht (Joh. 5,39 f.), denn sie verstanden weder sie noch die Kraft Gottes (Matth. 22, 29 f.); den Rätseln ihrer Weissagung aber standen sie ratlos gegenüber (Matth. 22, 41 f.). Nur diejenigen, welche Jesum im Glauben als den Christus erfaßten, fanden sich mit dem Nazarenus zurecht (Matth. 2, 23), entdeckten das Zeugnis für den Aufgang aus Galiläa (Matth. 4,12 f.) und lernten nach dem Erweis der Kraft Gottes an dem Auferweckten, daß diesem Mose und alle Propheten Zeugnis geben. Es geht auch heute nicht zuerst um die Frage der Autorität der Schrift. Die wird auch auf seiten der existentialen Theologie nicht geleugnet. Es geht um die Frage: »Herr, wer bist du?« Daß Paulus diese Frage stellt, ist bereits eine Frucht der Offenbarung, die ihm widerfuhr (Gal. 1,16). Es geht darum auch heute um die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, um die Wirklichkeit, um die Einmaligkeit, um die Verbindlichkeit dieser Offenbarung. Es ist deshalb letzten Endes auch nicht die Schriftfrage oder die Wunderfrage oder die Frage der Hermeneutik, die uns von der existentialen Interpretation trennt. Es ist die Gottesfrage!
Es war auch für Luther die Gottesfrage, an der sich alles entschied, die ihn zum Theologen machte, die nicht das Ergebnis, sondern der Ausgangspunkt seiner Existenz als Theologe war. War es bei Pascal anders? Offenbarung des lebendigen Gottes, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Vaters unseres Herrn Jesu Christi, des deus revelatus, ist Anfang und Grundlage wahrer Theologie.
2. »Woher weiß ich das?«
Wie kommt es dazu, daß die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, die geschehen ist in der Menschwerdung des Sohnes, als die Zeit erfüllt war, vom Menschen erkannt und geglaubt wird, so daß er fortan von der Frage »Herr, wer bist du?« bewegt wird? Bekanntlich ist dies nach dem Wort Jesu zu dem bekennenden Petrus nicht eine Möglichkeit für Fleisch und Blut (Matth. 16, 17), sondern ein Wunder des Heiligen Geistes. »Niemand kann Jesum einen Herrn heißen außer durch den Heiligen Geist« (1. Kor. 12,3; vgl. auch 1. Kor. 2,9 f.).
3. Das Zeugnis der großen Taten Gottes
Es bleibt die Aufgabe der Boten des Herrn, den zu bezeugen, der sie errettet hat. »Ihr werdet meine Zeugen sein« (Apg. 1, 8). Für dieses Zeugnis gilt:
a.) Es gibt keine Alternative zwischen Bericht und Verkündigung. Sie ist, wie gezeigt wurde, dem N. T. selber fremd. Sie widerspricht den Quellen. Sie ist ebenso für die Ausrichtung der Predigt heute gegenstandslos.
b.) Das Evangelium ist mehr als Entscheidungsforderung. Evangelium ist die frohe Botschaft vom stellvertretenden, sühnenden Opfer des Sohnes als des Opferlammes am Kreuz für uns. So wahr in dieser Botschaft eine Anrede an uns liegt, ist sie doch nicht zuerst Anspruch, sondern Zuspruch und Freispruch. Wenn das nicht mehr ohne allen Vorbehalt verkündigt wird, dann wird aus dem Ruf zur Entscheidung »Gesetz«, das vom kategorischen Imperativ nicht mehr zu unterscheiden ist. »Gott hat uns verordnet zur Kindschaft« (Eph. 1, 5). Kinder aber entscheiden sich nicht, Kinder lassen sich beschenken.
c.) Die Ausschließung der Neutralität ist keine menschliche Möglichkeit. Das heißt, daß die Botschaft »ankommt«, eine Entscheidung (für oder gegen) herbeiführt und nicht alles beim alten bleibt, ist nicht in unsere Hand gegeben, also auch nicht durch theologische Arbeit zu garantieren oder herbeizuzwingen. Es geht hier vielmehr um die Frage der Vollmacht. H. Kemner erzählt von dem halbwüchsigen Jungen, der beim Überbringen einer Einladung zur Evangelisation an den Direktor eines großen Werkes, durch gutmütigen Spott völlig verwirrt, nur noch stammeln kann: »Aber du bist doch auch ein Sünder, und für dich ist der Heiland doch auch gestorben!« Dies Wort wurde in seiner Unmittelbarkeit dem Direktor Anstoß zu einer Hinwendung zum Evangelium. Vollmacht ist Unmittelbarkeit zu Gott. Diese kann nie gemacht, sondern nur geschenkt werden.
d) Die Theologie wird ihre Aufgabe nicht erfüllen können, wenn sie nicht in dienender, gliedhafter Verbundenheit zur Gemeinde des Herrn Jesus Christus steht und innerhalb der dem Leibe Christi gegebenen Vielfalt der Gaben ihren Platz ausfüllt. Dazu bedarf es der Zu-, Ein- und Unterordnung des Denkens unter den Gehorsam Christi (2. Kor. 10, 5). Das Denken muß dienen, nicht herrschen. In der Begegnung mit dem persönlichen Christus wird das Denken nicht geopfert, sondern befreit.
Schlatter sagt: »Die Geschichte des griechischen Denkens wird tief von dem Satz des Paulus getroffen: Die Erkenntnis macht eitel; sie baut nicht, sie bläht auf; die Liebe baut. Es war ein Merkmal des griechischen Denkens, daß sich mit dem Denken ständig der Machtwille verband. Wissen ist Macht… Daraus entstand das stolze Selbstbewußtsein des Klugen und die entehrende Verachtung des Dummen… Auch Paulus lehrte seine Gemeinden denken, nicht nur wiederholen, was er ihnen vorgesagt hatte. Denn das Werk Gottes stand vor ihm, das sein Auge zu unermüdlicher Wahrnehmung fesselte. In Christus wußte er die Schätze der Weisheit verborgen, damit sie dort von uns gefunden werden. Die Briefe des Paulus sind deshalb heute noch der mächtigste Erwecker einer nie endenden Denkfreudigkeit. Wo die Liebe Gottes in das Herz des Menschen ausgeschüttet war, gab es ein starkes Interesse an der Richtigkeit des Denkens. Der Machtwille ist beseitigt, und die Grenze des Geheimnisses bleibt unangetastet. Voran geht die göttliche Tat, dann erst folgt das sie deutende Wort; das erste ist die Wahrnehmung, dann erst ist uns ein Urteil gegeben.«
B. LEITSÄTZE ZUM THEOLOGISCHEN GESPRÄCH
1. Theologie ist eine Funktion des Leibes Christi. Sie dient der Gemeinde unter der Herrschaft des Hauptes, des Herrn Jesus Christus. Sie ist auf die Gemeinde angewiesen, wie die Glieder eines Leibes aufeinander angewiesen sind.
2. Entfremdung zwischen der glaubenden Gemeinde und theologischer Forschung ist eine Krankheitserscheinung am Leibe Christi. Durch diese Krankheit ist die Theologie wie die Gemeinde gleichermaßen gefährdet.
I. Zur Genesis der Krankheitserscheinung
3. Das philosophische Denken der Neuzeit bemächtigt sich der christlichen Offenbarung (der einmaligen Sendung des Sohnes vom Vater in der Fülle der Zeit).
4. Im engen Zusammenhang damit entsteht eine bestimmte Art theologischer Wissenschaft (im Sinne des modernen Wissenschaftsbegriffes). Ihre Voraussetzung ist die autonome Vernunft, ihr Arbeitsmittel die Hypothese, ihr Gegenstand die Bibel, die grundsätzlich wie jedes andere Buch behandelt werden muß.
5. Der Weg dieser Theologie führt zu folgenden philosophisch bedingten Irrtümern:
a. In Abwertung historischer Tatsachen in ihrer heilsgeschichtlichen Relevanz wird die Verkündigung der Heilswahrheit in Alternative gesetzt zum Interesse an den Heilstatsachen.
b. Um die historische Kontingenz des christlichen Glaubens festzuhalten, werden Verkündigung und Ereignis identifiziert: Das Heilsgeschehen ist das Wortgeschehen.
c. In der sich aus beidem zwangsläufig ergebenden hermeneutischen Reflexion wird die eigentliche Intention reformatorischer Theologie gesehen.
6. Die denkerische Bewältigung der mit der Hermeneutik gegebenen theologischen Aufgabe wird für möglich gehalten. Gleichzeitig greift eine tiefe Resignation hinsichtlich eines allgemein gangbaren Zuganges zur Bibel und eine potenzierte Problematik hinsichtlich ihrer Verständlichkeit um sich.
II. Zur Diagnose der Krankheitserscheinung
7. Die von der Hermeneutik geforderte Interpretation führt, weil sie mehr als Exegese, auch mehr als Begriffskritik, Textkritik oder Literarkritik, vielmehr Sachkritik ist, zu schleichendem Substanzschwund der christlichen Botschaft infolge Umdeutung ihres Inhaltes. Dies zeigt sich an folgenden Erscheinungen:
a. Der Zugang zur Bibel geht verloren. Diese Erscheinung ist eine Folge zweihundertjähriger, im »Geiste der Neuzeit« betriebener theologischer Wissenschaft, taugt also nicht zur Begründung weiterer Konsequenzen derselben.
b. Die Frage, wer Jesus für uns ist, wird problematisch. Diese Erscheinung straft die von der modernen Theologie vollzogene Selbstidentifizierung mit der reformatorischen Theologie Lügen.
c. Mit dem Verlust des »solus Christus« in seiner inhaltlichen Bedeutung entsteht eine Hypertrophie des Glaubensbegriffes, die diesen zur Existenzhaltung verfälscht.
d. Der Abwertung heilsgeschichtlicher Tatsachen der Vergangenheit entspricht der Verlust einer tatsächlichen Zukunft, d. h. aber Verlust der Verheißungen Gottes für die Welt.
8. Die Vollmachtlosigkeit der christlichen Verkündigung heute wird von der modernen Theologie zwar deutlich gesehen, aber durchaus unzutreffend erklärt, nämlich auf den Mangel an Verständlichkeit zurückgeführt. Die starke Betonung der Verstehensfrage verfehlt die Wirklichkeit des Menschen, die nicht darin besteht, daß ihm Gott nicht verständlich ist, sondern daß er nicht will, daß Gott Gott ist.
9. Die Sachkritik der existentialen Interpretation führt zwangsläufig zur Destruktion aller nach Form und Inhalt verbindlichen Lehraussagen, wobei es der Willkür des einzelnen überlassen bleibt, das Bekenntnis der Kirche existential zu interpretieren und, wo nötig, umzudeuten.
10. Die jüngst neu in Gang gekommene Rückfrage nach dem historischen Jesus bringt infolge des für sie bezeichnenden Nebeneinander von Optimismus und Pessimismus keinen befreienden Fortschritt der theologischen Forschung.
III. Zur Therapie dir Krankheitserscheinung
11. Unser Ringen geht nicht gegen die theologische Forschung, sondern für und um sie, zugleich aber auch um den Leib Christi, als dessen Glieder wir uns wissen, und um die für sein Wachstum und seinen Dienst wesentlichen »Zuteilungen« der Geistesgaben (1. Kor. 12, 4).
12. Es bedarf der Zu-, Ein- und Unterordnung des Denkens unter den Gehorsam des lebendigen Herrn Jesus Christus. Er ist der Arzt.
Es bedarf unter den Weisungen des Arztes der Buße über aller geschehenen Verletzung der Ehrfurcht der Gemeinde vor dem »kündlich großen Geheimnis« der Offenbarung Gottes im Fleisch, aber auch der Buße über alle geschehenen unsachlichen, persönlich verletzenden Seitenhiebe aus der Gemeinde auf die Theologen.
Es bedarf unter der Zuteilung des Geistes der sachlichen, verantwortlichen Mitarbeit der Gemeinde an der Aufgabe theologischer Forschung, aber ebenso der vorurteilslosen, helfenden Teilnahme der theologischen Lehrer am erwecklich-missionarischen Leben der Gemeinde.
Es bedarf zur Überwindung der »Unwirklichkeit in der Kirche«, von der Theologie und glaubende Gemeinde gleichermaßen wissen, nicht zuerst einer neuen Sprache, einer religiösen oder nicht-religiösen Begrifflichkeit, sondern vor allem eines neuen Geisteswehens, einer Erweckung in Theologie und Gemeinde, in der die Wirklichkeit des lebendigen Herrn, die Botschaft und Glaube meinen, evident würde für Theologie und Gemeinde.
C. BIBLISCHE LEHRE UND SEELSORGERUCHE VOLLMACHT
Lukas 4,14 ff
»Und Jesus kam wieder in des Geistes Kraft nach Galiläa… und er kam nach Nazareth und ging in die Schule nach seiner Gewohnheit am Sabbat und stand auf und wollte lesen. Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und da er das Buch auftat, fand er den Ort, da geschrieben steht: »Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn.<… Und er fing an, zu sagen zu ihnen: Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren.«
»Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren.« Gleichzeitigkeit — das scheint mir die Klammer zu sein zwischen biblischer Lehre und seelsorgerlicher Vollmacht. Gibt es das denn: Gleichzeitigkeit? Trennt uns denn nicht der »garstige Graben«, von dem Lessing sprach, von den Ereignissen der Vergangenheit? Kann man diesen Graben so einfach überspringen? Für den modernen Menschen seit Lessing ist Vergangenheit etwas, das »passiert«, d.h. vorübergegangen und damit versunken und oft genug vergessen ist. Für biblisches Denken ist die Vergangenheit in der Gegenwart mitgesetzt. Nichts Vergangenes geht verloren. Vergangenheit ist gegenwartsmächtig und insofern gleichzeitig. Problematisch ist das erst für den Menschen, der in philosophischer Abstraktion den Zugang dazu verloren hat, daß Vergangenheit unerbittlich die Gegenwart bestimmt, über die Jahrtausende hin. Es ist eine Abwertung der Geschichte, aus der heraus gefragt wird, wie »zufällige Geschichtstatsachen« wirkmächtig, gleichzeitig für den Glauben werden können.
Wieviel Mühe und Anstrengung hat die theologische Wissenschaft seit Lessing an dieses Problem gewandt! Ist dieses Problem nicht auch heute der eigentliche Motor vieler methodischer Bemühungen in der Theologie um Vergegenwärtigung? Aber es sind die griechisch-philosophischen Denkvoraussetzungen, aus denen die Schwierigkeiten kommen. Für biblisches Denken ist Gleichzeitigkeit ein Grundelement. »Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.« Für biblisches Denken ist es gar kein Problem, mit den großen Taten Gottes aus der Vergangenheit gleichzeitig zu sein.
Der Unterschied liegt, sprachlich gesehen, im Zeitverständnis. Der Grieche hat eine im Grunde räumliche Zeitauffassung, die sich ausprägt in Wortbildungen wie »Zeitraum«, »Zeitabstand«, »Zeitpunkt« usw. Des Hebräers Zeitverständnis ist rhythmisch und inhaltlich bestimmt, ohne dabei über zeitliche Dauer zu reflektieren. »Ein jegliches hat seine Zeit… « (Pred. 3,1 ff.). — Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht — von Geschlecht zu Geschlecht. Chronos ist der Gott der Griechen. Der Gott der Bibel ist der »Ich bin, der ich bin«. Er ist gleichzeitig und macht durch seinen Geist gleichzeitig. …
Wer diese Gleichzeitigkeit nicht kennt, der kennt die Wirklichkeit nicht, die die Bibel bezeugt. Nicht Aufhebung der raum-zeitlichen Vergangenheit, sondern Wirksamwerden tatsächlicher Vergangenheit. »Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren.«
Nicht nur beim Zeitverständnis geht es darum, die Bedeutung des biblischen Denkens im Unterschied zum griechisch-philosophischen neu zu erfassen. In der Verschmelzung beider Denkweisen, die man als Schicksal des abendländischen Christentums bezeichnen kann, wurzeln nahezu alle Probleme theologischer Lehrbildung wie auch die Nöte vollmachtloser Seelsorge und Verkündigung. Tertullians Frage »Was hat Jerusalem mit Athen zu tun? « — ist durch den Gang der Kirchengeschichte nicht beantwortet, sondern nur noch brennender geworden.
Unser Wissenschaftsbetrieb ist, wo es um Theologie geht, eine durchaus fragwürdige Sache. Die Vorherrschaft des Intellekts, die absolute Fraglosigkeit der historisch-kritischen Methode, die Bedeutung des Gütezeichens »wissenschaftlich« (bzw. »unwissenschaftlich«) in der theologischen Diskussion, – das alles stammt ans dem Griechentum. Beide, rechte theologische Lehrbildung und seelsorgerliche Vollmacht als zusammengehörende Funktionen des Leibes Christi, bedürfen dringend der Neuerfassung vom biblischen Denken her. Es geht heute sehr dringlich um die Erkenntnis, die uns Pascal in seinem Memorial überliefert hat: »Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit, Gewißheit, Empfinden, Freude, Friede. Gott Jesu Christi, Deum meum et Deum vestrum… « Und dann: »Nur auf den Wegen die das Evangelium lehrt, ist er zu finden.« Blitzartig erhellen diese Bekenntnisworte Pascals die Situation: Ein Bündnis zweier Weisen der Gotteserkenntnis, aber dieses Bündnis ist untragbar.
I. Theologie und Seelsorge sind weiterhin voneinander abgegrenzt
Unsere theologischen Fakultäten praktizieren seit Jahrhunderten die Trennung der Disziplinen. Da führt die »Poimenik«, die Lehre von der Seelsorge, neben den anderen, den Hauptfächern, wie AT-und NT-Theologie, Dogmatik oder Kirchengeschichte, ein Rand- und Schattendasein. Ein Student der Theologie beschäftigt sich wohl mit Seelsorge erst dann, wenn er aufs Examen lossteuert. Theologie und Seelsorge haben wenig oder nichts miteinander zu tun.
Die gleiche Trennung begegnet uns in der nahezu selbstverständlich gewordenen Abgrenzung von »Wissenschaft« und »Erbauung«. Dabei will ich einer falschen Erbaulichkeit nicht das Wort reden. Rechte, biblische Erbauung ist ein durchaus theologisches Geschehen. Und Theologie in rechtem Sinne müßte auch erbaulich sein. Die Trennung von »wissenschaftlicher« und »erbaulicher« Literatur ist grundsätzlich illegitim, jedenfalls vom biblischen Denken her.
Ich bin aus eigener Erfahrung der letzten Monate in der Lage, das beispielhaft zu belegen. Auf den Aufsatz über die »Existentiale Interpretation« bekam ich mancherlei Zuschriften. Bei der Kritik scheint mir am bemerkenswertesten in unserem Zusammenhang, daß mir vorgeworfen wurde, daß ich aus der wissenschaftlichen in die zeugnishafte Denkweise verfallen sei. Das sei unzulässig.
Solche Kritik wurzelt in der üblich gewordenen Abgrenzung von Theologie und Seelsorge. Das aus der Kirchengeschichte genugsam bekannte Auseinanderfallen von »Lehre« und »Leben«, von Orthodoxie und Pietismus, ist ein Beispiel unter vielen. Somit ergibt sich folgender Schluß: Die Abgrenzung von Theologie und Seelsorge ist eine Folge griechisch-philosophischer Abstraktion. …
Die gleiche Verschiedenheit liegt beispielsweise vor im Begriff der »Wahrheit«. Im griechischen Denken ist es das Unverborgene, das Erkennbare, das man »logisch«, vernünftig, begrifflich, theoretisch klarmachen kann. Wahrheit, im Hebräischen »aman« (davon abgeleitet unser »Amen«), ist Zuverlässigkeit, Festigkeit, Gewißheit, nicht wie im Griechischen auf Sachverhalte bezogen, sondern auf Personen. Gottes Treue ist Wahrheit. Wahrheit und Treue sind, wenn man so sagen soll, keine Sachverhalte, sondern Personverhalte. Die Pilatusfrage »Was ist Wahrheit?« ist aus griechischen Denkvoraussetzungen gestellt. Jesu Zeugnis »Ich bin die Wahrheit« ist nur vom Hebräischen her zu verstehen. Der Gegensatz von Wahrheit auf griechischem Boden ist Irrtum, auf biblischem Boden Lüge. Der Grieche hat die Wahrheit gefunden, wenn er logische Beweise bekommt. Der Mensch der Bibel hat die Wahrheit gefunden, wenn er sagen kann: »Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält… «
Der Grieche fragt nach der Denkbarkeit einer Sache, der Hebräer fragt nach ihrer Wirklichkeit. Der Grieche sucht das System, der Hebräer sucht Gewißheit. Die Abgrenzung der Theologie als abstrakter Wissenschaft von der Wirklichkeit des Lebens, um die der Seelsorger weiß, ist aus griechischem Geist geboren. Über ihr waltet der unpersönliche Gott der Philosophen, nicht der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Schlatter sagt: »Vom Griechen stammt das Denkideal her, das wir auf unseren Universitäten heute noch betätigen. Denken ist Macht, das ist der griechische Satz. Wer richtig denkt, handelt richtig. Der Hellene ist keineswegs in seinem Denken von der praktischen Zielsetzung völlig abgewendet; wenn er sich für die Dinge interessiert, so weiß er sehr wohl, daß daraus positive Erträge erwachsen. Damit verbindet sich eine ungebrochene Zuversicht zur Denkfähigkeit des Menschen. Der Grieche weiß nichts von einer Bedingtheit des Denkens durch die realen Vorgänge; er greift jedes Thema an, er hat für alles eine Lösung. Er ist der typische Rationalist; was wir an Rationalismus in der Kirche haben, ist alles unmittelbar die Fortsetzung des hellenischen Denkens.«
Die Abgrenzung der Theologie von der Seelsorge rührt an den Kern der Problematik unserer heutigen Situation in Theologie und Gemeinde. Eine Lösung ist nicht zu erwarten, wenn nicht das griechisch-philosophische Denken in der Methode theologischer Arbeit von seinem Absolutheitsanspruch hinweg wieder den Platz zugewiesen bekommt, der ihm zukommt, nämlich den des funktionellen Dienens. Das ganze Unternehmen der Hermeneutik ist griechischen Ursprungs. Die wissenschaftlich-theologische Arbeit geschieht aus griechischer Tradition, um der Sache willen, der Erkenntnis der Sache dienend. Wenn aber im Neuen Testament die Sache, um die es geht, »nahezu identisch mit einer Person ist, mit Jesus Christus, dann liegt doch der Schluß ganz nahe, daß ein sachbezogenes Denken, wie es das griechisch-wissenschaftliche Denken nun einmal ist, dem »Gegenstand« des Glaubens bzw dem Gegenüber des Glaubens nicht angemessen ist.
II. Theologie und Seelsorge gehören wesenhaft zusammen
Die innere Korrelation von Lehrbildung und seelsorgerlicher Vollmacht beruht auf dem, was auf biblischem Boden unter Theologie und unter Seelsorge gemeint ist. Beide Begriffe weisen in biblischem Verständnis aufeinander hin. Dies ist in mehreren Abschnitten zu entfalten.
1. Theologie hat in der Bibel seelsorgerliche Bestimmung.
Es ist auffallend genug, daß Paulus gerade als Theologe ausdrücklich auf die Mittel griechischer Argumentationsweise verzichtet (1. Kor. 1, 17 bis 2,16). »Nicht mit hochtönenden Worten, mit klugen Gedanken bin ich gekommen. Auf >Weisheit< habe ich keinen Wert gelegt. Aber das Zeugnis von Gott habe ich euch weitergegeben.« Unnötig zu betonen, daß dies bei Paulus nicht den Verzicht auf Theologie überhaupt bedeutet. Wer wird das dem Paulus nachsagen wollen? Hier wirkt sich die Grundverschiedenheit aus, die wir bereits betrachteten. Der Grieche treibt Denkarbeit in erkenntnistheoretischer Abstraktion. Seine Lieblingswissenschaft ist die Geometrie. Da muß alles schön aufgehen in Voraussetzung, Behauptung und Beweis. Ganz anders auf biblischem Boden. Beim Hebräer ist auch das Denken konkret, blutvoll, lebenswirklich, seelsorgerlich bestimmt. Darum haben die Propheten und Apostel auch keine Beweise geführt, die wir als logische Beweise anerkennen würden, vielmehr haben sie Gleichnisse erzählt. Die Gleichnisse der Bibel entsprechen den logischen Beweisen der Griechen.
Hinter der »Theologie« der Gleichnisse steckt die Erkenntnis der Wirklichkeit des Menschen, dessen innere Bollwerke, die er zu seiner Selbstrechtfertigung unwillkürlich aufbaut, durch logisch-intellektuell schlüssige Gedankengänge nicht ohne weiteres zu überwinden sind. Denken wir an Nathan, wie er zu David kommt. Es ist nicht so einfach, einen Menschen von seiner Schuld zu überführen. Auf dem Wege des Beweises, mit theologischer Denkschärfe allein, geht das meistens nicht. Da geht es um eine tiefere Schicht des Menschen. Da geht es um Bollwerke der Finsternis, die man frontal mit den Mitteln des Verstandes nicht überwinden kann. Und darum erzählt Nathan ein Gleichnis. Und die Überzeugungskraft dessen, was er sagt, ist ungleich größer als die eines messerscharfen Verstandesargumentes. »Du bist der Mann!« Das ist im Unterschied zu griechisch-philosophischer Abstraktion seelsorgerliche Theologie.
Oder denken wir an eines der kürzesten Gleichnisse Jesu: »Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner, einer schuldete 500 Groschen, der andere 50. Da sie aber nicht hatten, zu bezahlen, schenkte er’s beiden. Sage an… « (Luk. 7,41 f.). In drei Sätzen steht alles da, und es ist einfach nicht abzuschütteln, was da an überführender Lebenswirklichkeit auf Simon zukommt. Das ist Theologie in seelsorgerlichem Bezug, deren Überzeugungskraft nicht auf dem Wege über den Verstand geht — obgleich dieser natürlich nicht ausgeschaltet ist! —, sondern über das Gewissen.
Wurzelhaft seelsorgerlich motiviert erscheint auf dem Grunde biblischen Denkens auch vieles, was an Wiederholungen in den theologischen Aussagen der Bibel zu finden ist. Vom logischen Denken her spricht man da gar zu rasch von »Doubletten«, etwa Matthäus 22, 1 ff. und Lukas 14, 16 ff., wobei nur eines »ursprünglich« sein könne. Warum? Die Lebenswirklichkeit in der Seelsorge weiß sehr wohl um Sinn und Notwendigkeit auch je und dann abgewandelter, wiederholter Aussagen. Wiederholung ist ein im biblischen Denken verbreitetes und seelsorgerlich bestimmtes Mittel theologischer Aussage. Der bekannte »Parallelismus membrorum« der hebräischen Sprache ist nichts anderes als eine sprachliche Ausprägung dieses Sachverhaltes. …
2. Richtige Theologie kommt in der Bibel nicht allein aus richtigem Verstehen
Das Buch Richter berichtet: Nach Gideons Sieg über die Midianiter kommen etliche zu Gideon: »Sei Herr über uns, du und dein Sohn… « (Richter 8, 22). Gideons Antwort ist saubere, klassische Theologie: »Ich will nicht Herr über euch sein, mein Sohn auch nicht, sondern der Herr soll Herr über euch sein.« Völlig einwandfrei! Im nächsten Vers erbittet sich dann Gideon die erbeuteten goldenen Stirnbänder. Nicht einwandfrei ist Gideons Stellung zum Golde. Und was dann daraus wird, zeigt, daß nun auch die Theologie nicht mehr einwandfrei ist.
Seinsfragen, Existenzfragen sind oft untergründig bestimmend für Erkenntnisfragen. Die Seelsorge offenbart, warum mancher in seiner Erkenntnis nicht weiterkommt, vielleicht blockiert ist. Wenn ihm aber an der bestimmten Stelle aus seiner Sünde, aus einer Gebundenheit herausgeholfen ist, dann fallen viele Erkenntnisprobleme in sich zusammen wie ein leerer Sack. Was vorher »nicht nachzuvollziehen war« (so sagt man doch heute!), ist dann auf einmal gar kein Problem mehr.
Von J. Tobias Beck ist das Wort überliefert: »Das Denken ist gefangen im Leben.« Das Wort ist wahr. Es ist mir selbst so gegangen, daß ich voller intellektueller Probleme aus dem Krieg zurückkam. Vieles davon, das meiste ist zusammengerutscht, als Jesus in meinem Leben Wirklichkeit wurde als der Befreier, der Gefangene losmacht. Seinsfragen sind oft bestimmend für Erkenntnisfragen.
Ich meine, das habe auch Paulus vor Augen, wenn er von der Decke vor den Herzen der Kinder Israel spricht, und diesen Mangel an Erkenntnisvermögen als Folge einer Entscheidung bezeichnet (2. Kor. 3,15 f).
Thielicke erzählt in seiner Auslegung der Urgeschichte von einem Studenten der Theologie, der in der Zeit des Dritten Reiches nach einem anfänglich guten Start seines Studiums eines Tages auf einmal voller Probleme zu ihm gekommen sei. Als ihm dann schließlich trotz mancher Gespräche auf seine Problemfragen nicht die lösende Antwort zuteil wurde, habe er das Theologiestudium aufgegeben. Einige Monate später landete er bei der SS. Viel später stellte sich dann heraus — er selbst hat es bezeugt —, daß ihn damals die SS mit vielerlei verlockenden Angeboten umworben hatte, ihm Karriere, Vorteile und dergleichen geboten hatte. Und da er vor seinen eigenen Augen nicht abtrünnig werden wollte, waren die Probleme gekommen. Sie waren, wenn auch damals für ihn unbewußt, nichts anderes als ein moralisches Alibi für seinen Wechsel von der Theologie zur SS.
Richtige Erkenntnis ist nicht allein Sache des Intellekts. Richtige Erkenntnisbildung, theologische Lehrbildung steht deshalb notwendig in Zusammenhang zur Ganzheit des Menschenbildes. Dies aber erschließt sich nur in seelsorgerlichem Horizont. Heinrich Kemner sagt: »Wenn unsere Zeit nun geradezu klassisch genannt werden kann in dem Bemühen, den modernen Menschen dadurch zu erreichen, daß man seinen gedanklichen Fragen und Nöten auf der Ebene theologischer Dialektik begegnet, so ist dieser Weg doch nur unter Begrenzung und gewissen Voraussetzungen verheißungsvoll. Gedankliche Bewegungen sind nur möglich bis zu der Grenze, an der deutlich wird, daß die Not des Menschen keine Denk-, sondern Existenznot ist. Den Menschen sehen heißt sein Elend sehen.«
Um Mißverständnissen zu begegnen, sei klargestellt: Natürlich ist das Bemühen um Verständlichmachung nicht unnötig, insbesondere auch nicht die Aufgabe, intellektuellen Schwierigkeiten helfend und erklärend, womöglich lösend zu begegnen. Gerade die seelsorgerliche Liebe gebietet das. Wenn Paulus sich als ein Schuldner der Griechen und der Nichtgriechen wußte (Röm. 1,14), dann sind wir nicht weniger den griechisch-humanistisch geprägten Menschen unserer Zeit verpflichtet. Gerade diesen gegenüber muß der Theologe aber wissen, daß das Wesen des Menschen im Griechentum nicht nur anders als in der Bibel, sondern unzutreffend gesehen wird. Der Mensch ist nicht nur »Vernunftwesen«: — homo sapiens —, sondern Geschöpf Gottes, Ebenbild Gottes, aber gefallen, erlösungsbedürftig, auch in seinem Erkenntnisvermögen. Auf griechischem Boden konnte das in seiner Tiefe nicht erfaßt werden. Diese Erkenntnis ist eine Frucht der Offenbarung des lebendigen Gottes. Diese aber geschah nicht in Hellas, sondern in Israel. Auch hier gilt: »Das Heil kommt von den Juden« (Joh. 4,22). Gen. 3 und Röm. 7 wurden von Israeliten geschrieben. Das ist kein Zufall.
Der Theologe ist nicht dem Gott der Philosophen verpflichtet. Er steht in der Verantwortung vor dem lebendigen Gott, der sich in Israel offenbart hat. Darum ist er gehalten, bei allem Eingehen auf die Denknöte des Menschen dennoch diese nicht zum Maßstab seiner interpretierenden Arbeit zu machen, wenn anders er nicht doch wieder einem philosophischen Ansatzpunkt verfallen und damit dem Menschen die eigentliche Hilfe schuldig bleiben will.
Der Arzt wird die Diagnose nicht vom Patienten stellen lassen, wenngleich dessen Angaben für das Erkennen des Schadens auch nicht gleichgültig sind. Das heißt: Auch wenn der Mensch sich selbst als Vernunftwesen versteht und darum die Lösung seiner Verstandes- und Problemfragen für wichtiger hält als die Frage nach dem gnädigen Gott, wird der Theologe als Seelsorger darin das religiös-philosophisch irregeleitete Selbstverständnis des Menschen als seine Krankheit zum Tode erkennen, das auf dem Boden biblischer Offenbarung unvergleichbar gekennzeichnet ist mit dem Wort: »Ihr werdet sein wie Gott, wissend um Gut und Böse… « Gerade weil in der Autonomie des Wissens der Aufruhr des Menschen, auch des religiösen Menschen, gegen Gott seinen Ansatzpunkt hat, darum ist richtige Theologie nicht allein Sache richtigen Verstehens.
3. Theologie ist eine Gabe des Heiligen Geistes zu erlöster Denkarbeit innerhalb des Leibes Christi
Der Begriff »Theologie« kommt bekanntlich im N. T. nicht vor. Die Aufgabe aber, um die es in der Theologie geht, hat ihren Ort in der Aufzählung der Geistesgaben in 1. Korinther 12. Unter den Zuteilungen der Geistesgaben nennt Paulus dort (Vers 8) die beiden, »zu reden von der Weisheit« und »zu reden von der Erkenntnis«. Diese stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit anderen Gnadengaben, der Krankenheilung, der Geisterunterscheidung, der Prophetie usw., und nicht zuletzt im Zusammenhang mit Kapitel 13, wo alle Erkenntnis der Liebe untergeordnet wird. Damit wird, wenn man einmal so sagen soll, in Vers 8 Seelsorge und Theologie zusammengeordnet. Damit werden beide in den großen Zusammenhang der Funktion des Leibes Christi gestellt.
Somit wird vollends deutlich, dass Theologie so gut wie Prophetie oder Geisterunterscheidung charismatisch bedingt ist, also nicht ohne weiteres menschlich-intellektueller Tätigkeit zugängig und verfügbar ist. Ich habe die Zuversicht, daß gerade die historisch-kritische Forschung, wenn sie kritisch genug ist, diesen für Sinn und Möglichkeit theologischer Arbeit grundlegenden Sachverhalt nicht wird übersehen können. Er steht im N. T. nicht vereinzelt da. Er findet sich 1. Korinther 2 sowohl wie Matthäus 16,17 oder Epheser 1, 17 ff.
Nach Epheser 3, 18 soll die Erkenntnis der Liebe des Christus nach ihrer Länge, Breite, Höhe und Tiefe »mit allen Heiligen« zustande kommen. Damit ist nicht nur gemeint, daß solche Erkenntnis allen Heiligen zugeleitet werden soll; sondern daß sie nur »mit allen Heiligen«, also in der gegenseitigen Funktion des Leibes Christi als ein denkendes, vernehmendes Verarbeiten dessen, was Gott der Kirche gegeben hat, möglich wird.
Nur vom Leibe Christi her, aufgrund der Gesamtheit der dem Leibe Christi gegebenen Gnadengaben, ist die Aufgabe theologischer Lehrbildung lösbar. Und auch seelsorgerliche Vollmacht gibt es nicht »absolut«, losgelöst von der Gliedschaft am Leibe Christi, sondern nur innerhalb der Gemeinde.
4. Biblische Seelsorge ist nicht anders als theologisch zu begründen.
Wie biblische Theologie seelsorgerlich bestimmt ist, so hat Seelsorge in der Bibel ihren Ort im Gesamtgefüge der gesunden Lehre. Der Begriff »Seelsorge« kommt in der Bibel nicht vor. Das platonisch-idealistische Mißverständnis, als ginge es in der Seelsorge um einen Teilbezirk des Menschen, seine Seele (wobei Leib und Geist ausgeklammert bleiben könnten), liegt außerhalb des biblischen Horizontes. Nicht eine partielle Handlung ist es, die man als Seelsorge bezeichnen könnte. Vielmehr ist das Gesamtzeugnis der Bibel, insbesondere das Neue Testament, ein Dokument seelsorgerlichen Dienstes.
Dies wird in viele einzelne Wurzeln und Fasern hinein veranschaulicht, wenn man der Auffassung Schlatters zustimmt, daß bei dem wiederholten, oft in Zusammenhang mit »verkündigen« gebrauchten Begriff »lehren« die »seelsorgerliche Unterweisung der Gemeinde und des einzelnen« gemeint ist. Diese Erkenntnis ist von großer Tragweite. Lehre im Neuen Testament ist Seelsorge!
Damit stehen wir abermals an einer Stelle, an der der Einbruch griechisch-philosophischen Denkens folgenschwere Fehlentwicklungen heraufbeschworen hat. Der Grieche versteht unter Lehren das Vermitteln eines Stoffes. Wissensvermittlung fordert auf der einen Seite die systematische Aufgliederung des Lehrstoffes in Paragraphen o. ä. Deren Summe ist dann die Lehre als möglichst geschlossenes System. Die andere Seite solcher Auffassung vom Lehren ist dann folgerichtig das Für-wahr-Halten des gelehrten Stoffes.
Im Bereich profaner Wissenschaft ist uns dieses griechische Verständnis der »Lehre« als Vermittlung abstrakter Kenntnisse selbstverständlich. So lernen wir die Lehrsätze der Mathematik oder die Satzlehre einer Sprache. Aber so kann man die Geheimnisse Gottes nicht lernen. Philosophie ist lehrbar. Religion kann man auch lehren und lernen. Die Geheimnisse des Reiches Gottes und des Glaubens zu vermitteln, dazu bedarf es der Haushalterschaft über Gottes Geheimnisse (1. Kor. 4,1).
Biblisches Lehren ist nie nur abstrakte Wissensvermittlung, sondern Anleitung zum Gehorsam des Glaubens. Jesus selbst lehrte seine Jünger, aber sein Lehren ist von bloßer Wissensvermittlung grundverschieden. Im Gegensatz zu der veräußerlichten Kasuistik der Schriftgelehrten ist Jesu seelsorgerliches Lehren ausgerichtet auf Gottes Heilsplan, auf Gottes Handeln, wie es die Schrift bezeugt. »Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren!« Die Vollmacht, mit der Jesus lehrte, hat ihr Geheimnis in der Gegenwart Gottes. Auch religiöse Kasuistik, auch philosophische Theorie kann sich Gottes bedienen. Was aber hier nur der Begriff ist, ist in Jesu Lehre Gottes Name. »Habt ihr nicht gelesen, was euch gesagt ist: >Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs<? Gott aber ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Darum irret ihr sehr.« Nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten.
Lehren heißt Seelsorge üben in der Gegenwart Gottes, unter der vorgegebenen Wirklichkeit der Heilstaten Gottes, der erfüllten Zeit, in Gleichzeitigkeit. Denn Sein Name ist nirgends als in seinen Heilstaten zu finden. >Ich werde bei euch sein, wie ich bei euch sein werde< — das ist sein Name.
Von dieser Erkenntnis biblischer Lehre als Seelsorge her erklärt sich vieles, was sonst problematisch bleiben müßte. Daß die Apostel kein geordnetes Lehrsystem hinterlassen haben, ist für logisches Denken gewiß ein Mangel. Statt dessen schrieben die Apostel Briefe. Im Brief wird die Aussage ganz anders als in einer abstrakten Lehrschrift vom persönlichen Gegenüber des Briefempfängers bestimmt. Auch die Evangelien sind eigentlich »Briefe«! Und es ist bezeichnend, daß die »dogmatischen« Aussagen etwa des Paulus überall in seinen Briefen, oft sogar mitten in den sogenannten paränetischen Abschnitten verstreut sind. Wieviel einfacher wäre es für den systematischen Theologen, wenn er die Lehre des Paulus, etwa seine Eschatologie, schön geordnet und übersichtlich in einem eigenen Lehrstück fände. Für biblisches Denken wäre dies jedoch weltfremd und lebensfern.
Entsprechend biblischem, personbezogenem Denken sagt Paulus von der Mitte, der Offenbarung Gottes im Angesichte Jesu Christi her je und je, was zu sagen nötig ist. Zu den Korinthern gehen ganz andere Aussagen als zu den Thessalonichern, zu den Römern andere als zu Timotheus. Sind deshalb seine Aussagen weniger »wahr«, weil sie hier und da eben nicht widerspruchslos harmonisierbar sind? Nur ein abstraktes Wahrheitsdenken kann das behaupten. Und mit einem solchen, dem griechisch-philosophischen Erbe, das bis zur Gegenwart so dominierend geworden ist, verfehlt man die Wirklichkeit, welche die Bibel meint.
Lehre nach biblischem Verständnis gehört untrennbar zusammen mit dem Leben. Wird Lehre als Seelsorge verstanden, was sollte dann ein echter Pietismus gegen die Lehre einzuwenden haben? Daß auch der Pietismus gegenüber der Gefahr lehrbegrifflicher, »orthodoxer« Erstarrung aus griechischem Denken nicht immun war und ist, ist uns deutlich genug bewußt. Griechisches, philosophisches, letztlich eigenmächtiges Denken macht vor keiner Position halt. Sein Wesen ist die Trennung des rein Gedanklichen vom Leben, des Denkaktes vom Lebensakt. Dann aber wird auch richtiges Denken falsch, unwirklich, abstrakt.
Andererseits wird bloße »Lebenshilfe«, wenn sie gelöst wird von der theologischen Mitte und Begründung, notwendig kraftlos, salzlos, blutleer. Darum sind in den Apostelbriefen häufig gerade die seelsorgerlichen Ermahnungen durchsetzt von theologischen Kernworten. Mitten in den Erwägungen um das rechte Verhalten zu den Fest- und Speisegebräuchen bezeugt Paulus die Herrschaft des gekreuzigten und auferstandenen Herrn über Lebende und Tote (Röm. 14, 9). Die Ordnung des Sammel- und Kollektenwesens – für uns vielleicht oft eine leidige, mehr äußerliche Frage – wird durchleuchtet von der Bezeugung des aus himmlischer Herrlichkeit arm gewordenen Heilands (2. Kor. 8, 9). Die Frage der Geschlechtlichkeit wird unter die erlösende Botschaft des bezahlten Lösegeldes gestellt (1. Kor. 6, 20). Ähnlich die soziale Frage (1. Kor. 7, 23 und 1. Petr. 2, 21 f.). Gemeindestreitigkeiten stehen im Licht der Selbstentäußerung des ewigen Gottessohnes (Phil. 2), Zungensünden im Licht der Wiederkunft (Eph. 4,30), das Leid um Verstorbene wird überstrahlt von der Zukunft des Herrn (1. Thess. 4,13 ). Überall ist die theologische Aussage Mitte und Lebenskraft seelsorgerlichen Handelns.
In diesem Zusammenhang bedarf es nun noch eines klärenden Wortes im Blick auf die heutige durch den Einbruch des Existentialismus in die Theologie verursachte Lage und ihre Folgen für die Seelsorge. Das Unternehmen der existentialen Interpretation hat seinen Ursprung nicht zuletzt darin, daß die erstarrten Lehrbegriffe beanstandet werden. Ebenso soll das damit verbundene Verständnis des Glaubens als bloßen Für-wahr-Haltens überwunden werden. Man wird gut tun, diese Zielsetzung nicht vorschnell abzutun, jedenfalls ihr nicht apologetisch zu begegnen, um so die Lehre in ihrer Vollständigkeit zu sichern. In diesem ihrem antidogmatischen Ansatzpunkt liegt die nicht zu bestreitende Stoßkraft der existentialen Interpretation begründet. Auch daß im Existentialismus das herkömmliche Subjekt-Objekt-Schema philosophischen Denkens in Frage gestellt wird, ist ohne Zweifel innerhalb der Philosophie ein beachtlicher Fortschritt. Wir haben keine Veranlassung, dieses zu bestreiten. Alle lehrbegrifflich erstarrte Orthodoxie, auch pietistische Orthodoxie, muß die darin unüberhörbar gestellte Frage erkennen.
Wie geschieht aber nun dieser Versuch, dogmatisch-theologische Begriffe auf »existentialem« Wege aus ihrer Erstarrung zu wecken? Der Dornröschenkuß, der dieses Wunder zustande bringen soll, ist die Frage nach dem Selbstverständnis. Dieses müsse, so fordert die existentiale Interpretation, als die eigentliche Triebkraft hinter der dogmatischen Begrifflichkeit entdeckt und von ihm aus die heute entsprechende Aussage neu geprägt werden.
Nun wäre wahrlich auch gegen eine Neuprägung allzu abgegriffener dogmatischer Münzen nichts einzuwenden. Die Frage ist nur, welches der Maßstab für dieses doch fraglos tief einschneidende Geschehen sein soll. Der Maßstab wurde schon genannt: das Selbstverständnis. Dies ist aber nach wie vor ein philosophischer Schlüssel. Er entstammt bekanntlich der Philosophie Heideggers.
Daß innerhalb der modernen Philosophie eine Wendung stattgefunden hat von den traditionellen ontologischen zu existentialen Kategorien, von der Metaphysik zur Existenzerhellung des Menschen, hat jene begriffliche Ähnlichkeit zum biblischen Denken mit sich gebracht, die so schwer zu durchschauen ist. So kann die existentiale Theologie behaupten, das Neue Testament habe bereits in sich selbst die Tendenz zur existentialen Interpretation, etwa im Johannesevangelium. Aber was da an existentialer Struktur entdeckt wurde, ist doch wohl nichts anderes als biblische Denkweise in griechischem Gewand. Die Verwandtschaft beruht darauf, daß nun auch philosophischerseits Wahrheit nicht »objektiv«, sondern nur »in geschichtlicher Begegnung« für erkennbar gehalten wird.
Der fundamentale Unterschied bleibt des ungeachtet der von Philosophie und Theologie. Indem die existentiale Interpretation das Selbst-Verständnis zum Maßstab der Interpretation macht, d. h. einen philosophischen Begriff, der bei aller Abwandlung letztlich doch aus griechischem Geist gezeugt ist, erweist sie sich als Philosophie, d. h. als Erzeugnis des Menschengeistes, dem das Geheimnis des lebendigen Gottes verschlossen bleibt.
Der Preis, der für das »Passen« des neuen Schlüssels zur biblischen Schatzkammer gezahlt werden muß, ist der Verlust der Heilstatsachen. Hier betont die existentiale Interpretation mit Leidenschaft, diese seien für biblischen Glauben nicht grundlegend. Um dieses behaupten zu können, muß man nicht weniger als die Heilsgeschichte in Vergangenheit und Zukunft weginterpretieren. Darum die Opposition gegen die von Lukas angeblich vorgenommene Historisierung. Darum das kategorische Streichen der futurischen Eschatologie. Darum auch die Entmythologisierung der in der biblischen Heilsgeschichte von 1. Mose 3 bis Offenbarung 22 grundlegenden Sühnopfertheologie.
Man wird dem biblischen Begriff des Sühnopfers eine ausschlaggebende Stellung im Ganzen der Bibel schlecht bestreiten können. Ich habe seinerzeit, als ich noch der existentialen Interpretation zustimmte, in einer gründlichen Arbeit die Entmythologisierung der neutestamentlichen Aussagen vom sühnenden und stellvertretenden Opfer Jesu Christi unternommen. Dabei wurde deutlich, daß es so gut wie keine Schrift des N. T. gibt, die diese Sühnopfer- und Stellvertretungstheologie nicht mehr oder weniger entfaltet enthält. Oft finden sich ihre Spuren mitten in seelsorgerlichen Ermahnungen. Entsprechend dem existentialen Schlüssel sah das Ergebnis meiner Arbeit so aus:
– Das neue Selbstverständnis des Glaubenden äußert sich in der Deutung des Kreuzes als Sühnopfer bzw. als Stellvertretung, nicht aber ist etwa umgekehrt die sühnende Stellvertretung Jesu Christi Quelle des neuen Selbstverständnisses. Das bedeutet in der Folge: Das »für uns« des N. T. ist Begrifflichkeit, nicht mehr als das, gewählt als Gefäß der Botschaft von denen, die glauben, nicht aber Tatsache, die den Glauben erst ermöglicht. –
Diese kurze Angabe meines damaligen »Ergebnisses«, welches mir mit sehr guter Beurteilung bestätigt wurde, mag genügen, um zu zeigen, mit welchem Preis existentiale Theologie ihren Versuch, erstarrte Satzwahrheiten neu lebendig zu machen, bezahlen muß. Es ist der Verlust des Fundamentes für den Glauben. Es ist der Verlust der seelsorgerlichen Vollmacht, aus der heraus allein ein erschrockenes Gewissen getröstet werden kann.
Es wird damit letzten Endes gerade das verfehlt, was das Unternehmen von Anfang her bestimmte: dem modernen Menschen einen neuen Zugang zu verschaffen zum Leben aus Glauben. Denn wenn dieser Mensch nun wirklich aufgrund der neuen Begriffe von der Verkündigung »erreicht« wird (wofür m. E. der Beweis auch noch aussteht!) — wer wir ihn dann erlösen aus seinen Gebundenheiten unter Mammon, Sexus, Kollektiv, Süchten, Magie und anderen Mächten?
Wenn die Heilsgeschichte Gottes mit dem für uns erwürgten Lamm als Mitte und Ziel nur eine zeitgebundene Begrifflichkeit für die Entfaltung des neuen Selbstverständnisses war, gibt es für ihn keine Hilfe. Begriffe können kein Fundament abgeben, sondern nur Realitäten. Der Verlust seelsorgerlicher Vollmacht, insbesondere der Lösegewalt bei Gebundenheiten, ist das bittere Resultat einer Erneuerung der Theologie aus philosophischen Quellen. Philosophische Weisheit hat noch nie Vollmacht gehabt, Dämonen auszutreiben. Es ist auch nicht verwunderlich, daß solche Vollmachtslosigkeit von den Vertretern dieser Theologie nicht gesehen bzw. nicht anerkannt wird. Der Mensch wird hier ja nicht in seiner Verknechtung unter die Mächte gesehen, sondern so, als seien seine Verstandesnöte angesichts altertümlicher Vorstellungen seine Hauptschwierigkeit.
Die Wirklichkeit des Menschen wird ohne Blick für die ihn bindenden Mächte und Gewalten gesehen, das aber heißt letztlich unwirklich. Unsaubere Geister, Bindung unter Sucht und Gier, okkulte Mächte sind alles andere als mythologische, überholte Vorstellungen. Jeder Seelsorger, der der hier vorliegenden Realität begegnet, wird wissen, daß es gar nicht so einfach ist, ein erschrockenes Gewissen zu trösten, es sei denn durch die blutig reale Wirklichkeit des stellvertretenden Sühnesterbens des Gotteslammes. Verlorene, unter ihre Geschlechtlichkeit, an den Alkohol gebundene, in Zaubereisünden verstrickte Menschen sind durch bloße Begriffe, auch durch modernisierte Begriffe, nicht zu lösen. Die Realität des Starken weicht nur vor der Realität des Stärkeren. Darum steht vollmächtige Seelsorge in notwendigem Zusammenhang zu einer Theologie der Tatsachen. Und der Verlust der Heilstatsachen bedeutet zwangsläufig Verlust seelsorgerlicher Vollmacht. …
Die »großen Taten Gottes« sind uns in der Bibel nicht als dogmatisches System bezeugt. Es geht bei ihnen nicht um Quantität, um eine abgeschlossene Summe, um Vollständigkeit. Der hebräische Zahlbegriff ist nicht durch Addition erklärbar, sondern qualitativ bestimmt. Der Begriff »alle« ist bei uns Plural und quantitativ. Im Hebräischen bedeutet »Kol« Ganzheit — Fülle. Im Blick auf die Fülle der Heilstatsachen bleibt unser Erkennen Stückwerk. »So sie aber sollten eins nach dem anderen geschrieben werden, so könnte wohl die ganze Welt die Bücher nicht fassen, die dann geschrieben werden müßten« (Joh. 21,25). Es geht um eine entschlossene Zuwendung zum biblischen Denken, um eine Hermeneutik, die nicht dem griechisch-philosophischen Denken entstammt, sondern die ihre Methode und ihre Anwendung der Schrift selbst entlehnt. Biblische Hermeneutik denkt von der glühenden Mitte aus: dem Dornbusch, der Wolkensäule, der Stimme aus dem Feuer, dem Heiligtum, der Erscheinung, dem — Angesicht. Siehe, hier ist euer Gott. Es wäre verlockend, mit Beispielen aufzuzeigen wie der >Leerlauf der Predigt<, über den man auch bei uns ernstlich klagt, aufgefangen und geheilt werden kann, sobald die Bibel bis ins Detail biblisch, d. h. nicht rezitierend und nicht aktualisierend, sondern in ihrem eigenen Raum, innerhalb ihres eigenen hermeneutischen Horizontes zu verstehen suchen — wenn wir sie israelitisch, d. h. nach ihrer eigenen Geltung, zu hören und zu dolmetschen unternehmen.
Das aber bedeutet Neuerfassung der Bedeutung des Alten Testamentes und seiner Sprache für biblische Theologie und Seelsorge. Es mag für Martin Luthers innere Entwicklung von nicht geringer Bedeutung gewesen sein, daß seine exegetische Arbeit gerade bei einem alttestamentlichen Buch begann. Wenn man sein Ringen auf den letzten Begriff gebracht hat: Befreiung der Theologie von der Philosophie, weil Theologie aufhört, Theologie zu sein, sobald sie in die philosophische Umklammerung geraten ist, dann kann die Bedeutung des Alten Testamentes schwer überschätzt werden.
Wie mancherlei sprachliche Eigentümlichkeiten des Hebräischen für das rechte Verständnis der biblischen Offenbarung hilfreich sein können, haben wir im Laufe unserer Untersuchung an manchen Stellen gesehen. Natürlich wird damit nicht eine besondere Eignung des Hebräischen behauptet, die Offenbarung Gottes fassen zu können, sondern umgekehrt wird kund, daß die Offenbarung Gottes in Israel sich der Sprache dieses Volkes in besonderer Weise eingeprägt hat. Damit wird ein Stücklein der unbegreiflichen Erwählung Gottes offenbar. Auch braucht der des Hebräischen nicht Kundige nicht traurig zu sein. Die biblische Gedankenwelt wird ihm auch in guten Übersetzungen so reichlich begegnen, daß ihm der eigene »hermeneutische Horizont« der Bibel zu Gesicht kommen kann. Dem Theologen wird überdies in Kittels »Theologischem Wörterbuch« ein unvergleichliches Mittel in die Hand gegeben, das seine besondere Bedeutung gerade darin erweisen kann, daß es das griechische Vokabular des N. T. durch Hinzufügung der hebräischen Äquivalente in den ureigenen Raum der Bibel stellt.
Abschließend sei bemerkt, daß die Aufgabe, die Theologie aus philosophischer Umklammerung zu lösen, einem Kampf gleichkommt, den wir nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben. Auch das war zur Zeit Luthers nicht anders. Dies hängt letztlich damit zusammen, daß das griechisch-philosophische Denken wurzelhaft religiöser Natur ist. In unserer Welt stellt der Glaube an die Wissenschaft »die beherrschende Religion unseres Zeitalters dar« (C. F. v. Weizsäcker). Wir werden diesen Kampf nicht führen können als Wissende, sondern nur als Glaubende. Das schließt in sich die Erkenntnis, daß nicht wir, sondern nur Er selbst, Jesus, recht behalten wird.
D. GLAUBE AN JESUS ODER GLAUBE JESU? (Ein Vergleich zwischen Judentum und moderner Theologie)
Der jüdische Gelehrte Schalom Ben-Chorin hat in seinem Rundfunkvortrag »Jüdische Fragen um Jesus Christus« gesagt: »… der Glaube Jesu, der aus diesem wunderbaren Gebet, dem Vaterunser, spricht, das so manche jüdische Parallele hat, einigt uns – aber der Glaube an Jesus trennt uns.« Es wirft ein beachtliches Licht auf die mitten durch die Gefilde auch der christlichen Theologie gehende Kluft, was hier der Jude in seiner Begegnung mit der christlichen Botschaft ausspricht. Einige Sätze seien als Beispiel zitiert:
»Den fleischgewordenen Logos haben wir nicht erwartet, und er wurde uns nicht verheißen. … Wir kennen keinen Sohn Gottes und erwarten ihn nicht für die Zukunft, sondern wir wissen allzumal, daß wir alle >Kinder des lebendigen Gottes< sind und daß Er unser aller Vater und unser König ist … Jungfrauengeburt und Gottessohnschaft in einem einmaligen exklusiven Sinn sind für das hebräische Denken, das von der Bibel Alten Testamentes herkommt, etwas ganz Unvollziehbares. Der Gott des Judentums ist nicht nur transzendental, sondern auch extramundan: er steht außerhalb und über seiner Welt und spricht nur in gestaltloser Offenbarung – in Feuer und Sturm, aus dem Dornbusch und in der Stille des Elia – zum erwählten Menschen. Aber er wird nicht Mensch, und wir können nicht begreifen, warum er Mensch werden sollte.«
»Der Kirchenvater Irenäus hat den Christen eine schöne Antwort auf diese Frage gegeben: >Gott ist in Jesus Christus geworden, was wir sind, damit er uns vollkommen zu dem mache, was er ist.< Aber lange vor Irenäus und lange vor Jesus wurde uns in der Thora gesagt: >Ihr sollt heilig sein, denn heilig bin Ich, der Herr, euer Gott.< Die Imitatio Dei war und ist Israel aufgetragen. Sie war uns lange schon aufgegeben, ehe es den Begriff der Imitatio Christi gab.« »Wir bedürfen nicht eines Gott-Menschen, der als Mittler zwischen uns und unserem Vater im Himmel stünde, denn Gott nimmt den reuigen Sünder an – ohne jede Vermittlung.« »Niemals kann ein anderer, nicht Moses und nicht Jesus oder ein Künftiger, das Gesetz für mich erfüllen. Ich selbst muß es tun. Da tritt kein anderer für mich ein – ich selbst muß es in der Bewährungsprobe dieses Lebens erfüllen.«
Man wird die Stellung des Juden, wie sie sich in solchen Sätzen ausdrückt, im Blick behalten müssen bei der Betrachtung der für die Theologie von heute wichtigen Frage: »Glaube an Jesus oder Glauben wie Jesus?« Nahezu alle dem modernen Denken in der Theologie zweifelhaften Aussagen werden hier auch von jüdischer Seite abgewiesen. Keine Gottessohnschaft im eigentlichen Sinn, – als »Titel« ist der Begriff »Sohn Gottes« natürlich auch dem Juden bekannt und verständlich. Der Titel ist ihm kein Ärgernis, sondern die Wirklichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater. Darum: Keine Inkarnation, jedenfalls nicht im eigentlichen, von jeher der christlichen Botschaft eigentümlichen Sinn der göttlichen Menschwerdung »… et homofactus est«, sondern – so sagt der Jude – »Gott spricht nur in gestaltloser Offenbarung. Also: Sprachgeschehen, Wortgeschehen, und in diesem Sinne Inkarnation. So kann es auch der Jude begreifen. Es ist ihm in diesem Sinne kein Ärgernis mehr. Wenn aber keine Menschwerdung, dann auch keine Stellvertretung und Sühnung, kein Eintreten eines Mittlers für den sündigen Menschen, vielmehr Imitatio Dei im Sinne der aufgetragenen und nicht ablösbaren Gesetzeserfüllung – »ich selbst muß es tun«!
In den Worten des Juden unserer Tage begegnet uns der Widerspruch des Juden von damals, dem das Wort vom Kreuz, an dem der ewige Gottessohn unsere Sünde an seinem Leibe richten ließ, zum Ärgernis wurde. Der Anstoß des Juden von heute, in welchem sich die Tragödie der Decke vor den Herzen der Juden damals (2. Kor. 3,15) fortsetzt, zeigt deutlich genug, worin das Ärgernis besteht, dessen glaubender Überwindung Jesu Seligpreisung gilt: »Selig, wer sich nicht an mir ärgert« (Matth. 11, 6).
Das Ärgernis – und wir können ergänzen: die Torheit für die Griechen! – liegt darin, daß der lebendige Gott in dem Kind in der Krippe und dem Mann am Kreuz stellvertretend und sühnend den Gerichtszorn über unsere Schuld auf sich selbst nahm und also bezahlte, was wir nicht! bezahlen konnten. Diesen Jesus hat Gott auferweckt, damit gleichsam das Siegel auf das vollbrachte Erlösungswerk setzend. Dieser Jesus Christus ist nun des Gesetzes Ende. Der Glaube an ihn macht gerecht, nicht aber eine Nachahmung seines Glaubens.
Wir ließen Schalom Ben-Chorin als Vertreter des heutigen Judentums zu Wort kommen. Es kann nicht verwundern, daß er Jesus von Nazareth nicht als den sehen kann, als den ihn der christliche Glaube bekennt. Fleisch und Blut können nicht erfassen, wer Jesus ist. Dies kann man nur mit jener schmerzenden Traurigkeit des Herzens feststellen, die Paulus über seine Brüder aus Israel empfand, welche den nicht erkannten, in dem Gottes Heilsgeschichte ihr Ziel findet (Röm. 9,1 ff.).
Von bedrängender Aktualität wird aber dieser Schmerz für uns heute, wenn wir in der Entwicklung der christlichen Theologie der letzten Jahrhunderte den gleichen Widerspruch gegen das Ärgernis des Kreuzes am Werke sehen, der den Juden von damals und von heute bestimmt. Auf die frappierenden Parallelen bestimmter theologischer Entwicklungen zur jüdischen Stellung zum Evangelium hinzuweisen, ist die Aufgabe dieses Aufsatzes.
Die gleichen Fragen wie die des Juden säumen die Geschichte der theologischen Wissenschaft seit Lessing und Reimarus. Ein tiefes Mißtrauen gegen die Gottessohnschaft Jesu als Wirklichkeit, d. h. also gegen die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus greift um sich. Fleisch und Blut können sie nicht fassen. Menschliche Vernunft wird aber zum Maßstab der Wirklichkeit auch des Glaubens erhoben. Die Leben-Jesu-Forschung versucht unter diesem Maßstab herauszubekommen, wer Jesus wirklich war. Konnte dabei etwas anderes herauskommen als bestenfalls das, was auch der Jude sieht und anerkennt: Jesus als der große Bruder, der einzigartige Mensch, der beispielhaft Glaubende? Was die christliche Botschaft darüber hinaus durch die Jahrhunderte gesagt hat, war es nicht »nur« Dogmatik? War nicht die Hellenisierung des Christentums schuld an der Überwucherung der einfachen Lehre Jesu mit dogmatischen Zumutungen, die Jesus selbst ganz ferngelegen hatten? Hat nicht Paulus bereits diese Dogmatisierung des einfachen Evangeliums begonnen? So kam es in der Entfaltung der sogenannten liberalen Theologie zu dem berühmten Satz Harnacks: »Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium.«
War überdies, wie die religionsgeschichtliche Forschung feststellte, der Begriff »Sohn Gottes« nicht ein hellenistischer Titel? Als Titel brauchte er ja nicht eine Wirklichkeit auszusprechen, vielmehr besagt die Deklarierung als Titel, daß es sich nur um eine begriffliche Ausprägung nachträglicher Bewertung handele, auf die man ebenso gut verzichten, die man vielleicht besser durch modernere, unanstößigere Begriffe ersetzen könne.
Daß Gott in der Fülle der Zeit seinen Sohn gesandt habe, daß dieser als Jude geboren und Jesus genannt wurde, daß dieser Jesus, versucht wie wir, doch ohne Sünde, als das unbefleckte, wahre Lamm Gottes am Kreuz geschlachtet und aus dem Grabe erweckt wurde, daß er als der Richter wiederkommen wird, – diese Geschichte der Großtaten Gottes wird zum »Exempelbuch der Moral, die Moral zum Formelbuch der Geschichte« (Schleiermacher). Die allgemeinen Wahrheiten werden als das Wesentliche den zufälligen Geschichtstatsachen entnommen. Gott ist aller Menschen Vater. Er vergibt dem reuigen Sünder, ohne weiteres, ohne Vermittlung oder »Sühne«. Wir sind alle »Kinder Gottes«, beauftragt, die göttlichen Gesetze zu erfüllen. Stellvertretung ist dabei unmöglich und unsittlich. »Schuld kann nicht von einem anderen getilgt werden. Sie ist keine transmissible Verbindlichkeit« — so sagt Kant, den man als den Philosophen des Protestantismus bezeichnet hat. Müßte man ihn nicht zutreffender den Philosophen des Judentums nennen? Die von Kant bestimmte deutsche Pflichtethik ist tief verwandt der Gesetzesreligion des Judentums.
Noch umfassender muß es gesagt werden: Die liberale Theologie steht in unübersehbarer Nähe zum Judentum, gerade wo es sich gegen die christologische Mitte der Botschaft der Kirche wendet.
Seltsame Übereinstimmung mit der Stellung des Juden zur Botschaft der christlichen Lehre zeigt sich auch in der für die Theologie des 20. Jahrhunderts kennzeichnenden Betonung des Kerygmas. Gott spricht! Im Wort offenbart Er sich. Das ist gut biblisch, darum auch ein so neuer Klang nach der Epoche der allgemeinen Vernunftwahrheiten. Dominus dixit – das kann aber ebenso auch der Jude sagen. Worin liegt dann das für christlichen Glauben Spezifische in Gottes Reden? Hebräer 1 gibt darauf die eindeutige Antwort: »Nachdem Gott vorzeiten manchmal und auf mancherleiweise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn… « Demgegenüber erinnern wir uns daran, was Schalom Ben-Chorin sagt: »Gott spricht nur in gestaltloser Offenbarung… aber er wird nicht Mensch!«
Betrachten wir nun aber, in welcher Richtung die sogenannte kerygmatische Theologie in ihren Aussagen geht: Bultmann betont unermüdlich den Ereignischarakter der Verkündigung. Statt der geschehenen Offenbarung muß es nach Bultmann heißen: geschehende Offenbarung. Gott offenbart sich im Menschenwort. Dieses Geschehen ist immer nur jetzt. Es ist kein Ereignis, das je Vergangenheit werden könnte. Würde das nicht auch der Jude bejahen und annehmen können? Das Ärgernis der geschehenen Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus von Nazareth hat sich auf merkwürdige Weise verschoben. Es ist (bei Bultmann) nicht mehr das Ärgernis an Jesus, der der Christus ist, an seiner Person, an seiner einzigartigen Sohnschaft, die er als sühnendes Opfer auf den Altar legte, als er am Kreuz starb. Es ist jetzt das Ärgernis in der unaufweisbaren Anrede der Verkündigung, hinter die zurückzufragen bereits Unglauben, negative Entscheidung bedeute. Dies erst sei das echte Ärgernis, vor dem sich der Mensch entscheiden müsse. Solche Entscheidung bedeute, das Kreuz Christi als das eigene übernehmen, mit ihm gekreuzigt werden. Erst in solcher Entscheidung könne es als das Kreuz Christi verstanden werden. »Nicht weil es das Kreuz Christi ist, ist es das Heilsereignis, sondern weil es das Heilsereignis ist, ist es das Kreuz Christi.«
Die Einmaligkeit, die Exklusivität der Offenbarung Gottes in seinem Sohn, wie sie dem Juden als das eigentliche Ärgernis christlicher Predigt begegnet, ist hier in einer Weise modifiziert worden, die es dem Juden sehr viel leichter machen dürfte, seine Fragen um Jesus Christus in den Fragen der christlichen Theologie wiederzuerkennen. Was sollte das Wortgeschehen oder Sprachgeschehen für den Juden schließlich noch Anstößiges enthalten? Zumal wenn das bei Bultmann so bezeichnende »Mitgekreuzigtwerden« keinerlei Bezug auf ein bereits vollbrachtes sühnendes und stellvertretendes Opfer mehr enthält, sondern praktisch auf eine Imitatio hinausläuft. Die kennt auch der Jude! Und er weist darauf hin, daß er solche Imitatio länger kenne und – wer will da widersprechen? – ernster nehme als die christliche Kirche weithin.
So besteht auch kein Grund mehr, wieso sich der Jude an Aussagen der existentialen Theologie des letzten Jahrzehntes »ärgern« sollte. »An Jesus glauben heißt der Sache nach, Jesu Entscheidung wiederholen.« Jesus ist Zeuge des Glaubens durch sein Gottesverhältnis. Was Glaube sei, das könne man bei Jesus lernen. Was bei Jesus selbst Glaube war, habe sich nach Ostern durchgehalten in der Verkündigung der Kirche (Ebeling). Das alles kann auch der Jude annehmen, ohne deshalb zum Christen zu werden. »Der Glaube Jesu einigt uns«, sagte Schalom Ben-Chorin. Gibt es in dieser modernen Theologie aber noch »Glaube an Jesus« in einem vom »Glauben Jesu« als nachzuahmendem Beispiel unterschiedenen Sinne? Erst dann kann dem Juden gegenüber mit Recht von christlicher Theologie gesprochen werden. Erst dann wird christliche Theologie die missionarische Dimension erfüllen können, zu der sie dem Auftrag ihres Herrn entsprechend beauftragt ist, an Israel sowohl als an der Völkerwelt und den Weltreligionen, »zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.« Die Frage der missionarischen Kraft der christlichen Botschaft Israel gegenüber ist ein wesentlicher Prüfstein ihrer Vollmacht oder Vollmachtslosigkeit. Die Theologie wird gut tun, an ihrer Gesprächssituation mit Israel abzulesen, ob und inwieweit sie der christlichen Verkündigung das rechte Rüstzeug für ihre missionarische Aufgabe darreicht. Natürlich zeigt sich das nicht nur daran, ob diese Verkündigung angenommen wird. Es kann sich ebenso darin erweisen, daß sie abgelehnt wird, weil sie »ärgerlich« ist Das N. T. ist dafür selber Beispiel genug. Es bezeugt von dem größten Apostel Jesu nicht, daß er das Evangelium verfälscht oder hellenisiert habe, sondern daß er »immer kräftiger wurde und die Juden in die Enge trieb, und es bewährte, daß dieser ist der Christus« (Apg, 9,22).
Was bedeuten aber nun die aufgezeigten Parallelen jüdischer Fragen um Jesus Christus zu den genannten Entwicklungen in der modernen Theologie? Treffen diese Parallelen den Sachverhalt, dann ist dies zugleich klärend und hilfreich. Klärend für unsere heutige Situation ist das von Paulus im Blick auf Israel gesagte Wort von der Decke vor dem Angesicht bzw. dem Herzen (2. Kor. 3). Nicht nur für Israel gilt es, sondern gleichermaßen auch für den Theologen, der sich mit den Urkunden der Offenbarung Alten und Neuen Testamentes beschäftigt, daß ohne das Wunder der erleuchteten Augen für die Offenbarung Gottes in Jesus Christus der Mensch, auch der Schriftgelehrte oder Theologe, nichts versteht und verstehen kann. »Wenn es sich aber bekehrte zu dem Herrn, so würde die Decke abgetan« (2. Kor. 3, 16). Dieses Wunder kann nicht vom Menschen gemacht oder gewirkt werden. Es ist aber für rechte theologische Erkenntnis schlechterdings unerläßlich. Und es kann erbeten werden, in der Bitte um den Heiligen Geist, der die Erfüllung verheißen ist.
Hilfreich kann die Parallele unerleuchteter Theologie zum Judentum darin sein, wenn sie uns zeigt, wie Paulus um dies sein Israel gerungen hat. Er hat ihnen nicht in pedantischer Engherzigkeit die Bruderschaft gekündigt. Er hat ihnen, seinen Brüdern aus Israel, nicht den Glauben abgesprochen. In der Tat besteht ja ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Juden und einem ungläubigen Heiden. Man kann diesen Unterschied Röm. 9.1 ff. nachlesen. Trotzdem hat Paulus aber auch die andere Grenze, die zwischen ihm, dem durch Gottes Gnade gläubig gewordenen Juden und seinen Brüdern nach dem Fleisch, nicht verwischt. Sein ganzes Leben war ein inbrünstiges Ringen um seine »Brüder«, daß sie wirklich »Brüder in Christo« würden. Damit ist für die heutige Situation gegenüber Israel und gegenüber der der jüdischen Fragestellung so verwandten Einstellung der modernen Theologie ganz wesentlich der Weg gezeigt.
Bis hier der von mir vorgenommene Auszug aus dem Buch UM DIE WAHRHEIT DER HEILIGEN SCHRIFT. Teil E, Ein Briefwechsel mit Theologen, wurde wegelassen. Die Hervorhebungen im Text wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im Sommer 2013.
Weitere Beiträge:
1. Der Sohn – Beiträge zum theologischen Gespräch der Gegenwart, von Pfr. Otto Rodenberg
2. Jesus – Gott und Mensch – von Walter Rominger
3. Jesus ist Gott, von Michael Kotsch
4. Kennen Religionen den wahren Gott?, von Peter Beyerhaus
5. Der Triumph des Gekreuzigten, von Erich Sauer
6. Der Dreieine Gott, von B. Philberth
7. Die Bibel – Gottes Wort, von Dave Hunt
8. Jesus – Sein Leben und Werk, von Th. Flügge
9. Original oder Fälschung, von Eta Linnemann
10. Die Reformation, von Aleksander Radler
11. Die Inspiration der Bibel, von Rene Pache
12. Die Bibel – Das Buch der Heilsgeschichte, von Erich Sauer