Reformatorischer Konsens (Nestvogel)

Wer oder was ist „reformatorisch“?


Auf der Suche nach dem „reformatorischen Konsens“

Wolfgang Nestvogel (2009)

Als wir im Jahr 2000 die Akademie für reformatorische Theologie (ART) gründeten, wurde lange überlegt, mit welchem Adjektiv unsere theologische Ausrichtung am besten zu beschreiben sei. Sollten wir uns „bibeltreu“ nennen, „evangelikal“, „reformatorisch“ oder einfach nur „evangelisch“? Welcher Begriff würde bei unseren Zeitgenossen des ausgehenden dritten Jahrtausends am stärksten mit genau den Inhalten verbunden werden, die uns am Herzen lagen? Mit welcher Formulierung könnten wir Missverständnisse so weit wie möglich ausschließen? Wie müßte ein Attribut beschaffen sein, das zugleich auffällig und seriös wäre? Wodurch könnten wir deutlich machen, sowohl im klassischen Strom der ewigen Kirche Jesu Christi zu stehen – als auch der aktuellen theologischen Mittelmäßigkeit mit paulinischem Kampfgeist (1.Tim 6,12) entgegentreten zu wollen?

Keiner von uns konnte das vorhersagen. Jede Entscheidung würde ihre eigenen Risiken und Chancen bergen. Jede Wahl würde Hoffnungen und Befürchtungen auslösen, würde die einen anziehen und andere abstoßen, würde Zustimmung, Kritik oder – schlimmstenfalls – Desinteresse provozieren.

Also nannten wir uns reformatorisch. Dieses Qualitätsmerkmal wollten wir der christlichen Öffentlichkeit so überzeugend erklären und so gewinnend ans Herz legen, daß viele darin die befreiende Antwort auf das theologische Durcheinander unter den Evangelikalen erkennen könnten. Reformatorische Theologie sollte für wahre Bibeltreue stehen. Würde das Wagnis gelingen?
Der Staatsrechtler Helmut Quaritsch hat daran erinnert, welch große Bedeutung „Begriffe“ in der geistigen Auseinandersetzung gewinnen können: Im Kampf der Geister ist die Besetzung eines Begriffs so wichtig wie im Kriege die Eroberung einer Festung. Wir wollten den Begriff „reformatorisch“ in diesem Sinne besetzen und seine bewährte Substanz neu zur Geltung bringen.

Viermal „allein“

1. Allein die Schrift (sola scriptura) – Allein die Bibel ist die maßgebliche Norm für Glauben, Denken und Leben. Die Klarheit der Schrift, die sich selbst erklärt, darf nicht durch menschliche Traditionen bevormundet werden. Allein durch den Inhalt der Schrift, gepredigt oder gelesen, wirkt Gott den rettenden
Glauben.

2. Allein Christus (solus Christus) – Jesu Christus, der am Kreuz stellvertretend
unsere Sünde sühnt, ist der einzige und völlig ausreichende Mittler und Retter,
neben dem es keinen anderen Heilsweg gibt.


3. Allein aus Gnade (sola gratia) – Gottes gnädige Zuwendung zum Sünder
geschieht völlig ohne jedes menschliche Verdienst. Der unter dem gerechten Zorn seines Schöpfers stehende Mensch wird durch Gottes souveränes Eingreifen in Christus gerufen und gerettet.

4. Allein durch den Glauben (sola fide) – Allein im persönlichen Glauben, der Gottes Verheißung traut, ergreift der Sünder die Rettung in Christus. Er verlässt sich nicht mehr auf die eigenen Taten, sondern empfängt geschenkweise die Gerechtsprechung und Rettung aus Gottes Gericht. Auch das neue Leben als Christ geschieht im Glauben, der Gott in Dankbarkeit dienen will.

In diesen Kernsätzen biblischer Wahrheit findet die Reformation die Antwort auf die Schicksalsfrage nach dem gnädigen Gott. Damit steht „im Mittelpunkt sowohl der Theologie als auch des christlichen Lebens … nicht der Mensch mit seinen Bedürfnissen, Erlebnissen und seiner Frömmigkeit“, sondern der dreieinige Gott und seine Ehre.

Herausgefordert zum Bekenntnis

Wenige Jahre zuvor, 1996, hatten Kollegen in den USA ihre theologische Überzeugung in ähnlicher Weise zum Ausdruck gebracht. Ihr Beispiel kann uns bis heute eine Hilfe zum Verständnis unserer eigenen Situation sein.
Herausgefordert durch die geistlichen Auflösungserscheinungen in weiten Teilen der evangelikalen Bewegung, verbanden sich diese bekannten Prediger, Professoren und Autoren zu einer Allianz Bekennender Evangelikaler (engl. Alliance of Confessing Evangelicals – ACE). Die Grundlage ihres Bekennens dokumentierten sie in der Cambridge Declaration von 1996. Darin werden die gleichen sola-Bestimmungen gebraucht, denen wir soeben in BK 3 begegnet sind. Hinzu kommt eine fünfte Exklusivformel, die das letzte Ziel von Gottes Heilswerk benennt: soli Deo gloria (Allein Gott gebührt alle Ehre).

Ein besonderes Kennzeichen dieser reformatorischen Allianz ist die Herkunft ihrer Protagonisten, die aus verschiedenen evangelischen Denominationen stammen, zu ihnen zählen u.a. Anglikaner, Baptisten, Reformierte, Lutheraner. Aktueller Präsident ist der presbyterianische Theologe Ligon Duncan, zu den weiteren Mitarbeitern und Unterstützern gehören z.B. Donald Carson, John MacArthur, Albert Mohler, John Piper und R.C. Sproul.
Diese weithin bekannten Verkündiger wissen sich verbunden durch „den großen evangelikalen Konsens, der aus der protestantischen Reformation erwachsen ist“ und bekennen sich gegenüber der Öffentlichkeit zu ihrem „gemeinsamen evangelikalen und reformatorischen Glauben“.

Der Zusammenhang zwischen Bibel und historischen Bekenntnissen

Die Mitglieder der ACE schätzen den Wert der „Symbole und Bekenntnisse als Bezeugungen der biblischen Wahrheit“. Hier ist sowohl an die protestantischen Bekenntnisse wie z.B. Westminster Bekenntnis, die Katechismen Luthers, Heidelberger Katechismus, Konkordienbuch, Lehrregel von Dordrecht als auch an die frühen Bekenntnisse von Nicäa (4. Jh.) und und Chalcedon (5. J.) zu denken.

Zugleich betonen sie die absolute Vorrangstellung der Bibel und unterwerfen sich “allein der Schrift als einzigem endgültigen Maßstab für Glauben und Leben“. Die Theologie im Gefolge der Reformatoren hatte diese Über- und Unterordnung auf folgende Formel gebracht: Die Bibel ist die normierende Norm (norma normans), die alles bestimmt und entscheidet. Die Bekenntnisse sind normierte Normen (norma normata), die sich an der Bibel auszurichten haben und ggfs. von dorther zu korrigieren sind.

Unter dieser Voraussetzung ist es möglich, selbst wenn die verschiedenen Bekenntnisse (z.B. von lutherischer oder reformierter Seite) nicht in allen einzelnen Fragen völlig übereinstimmen, dennoch eine tragfähige gemeinsame Basis zu haben, weil alle Beteiligten die Heilige Schrift als endgültigen Maßstab und ausschlaggebende Richtschnur anerkennen.

Evangelikal = Reformatorisch?

Ligon Duncan hat im Rahmen der Vorstellung des ACE erläutert, warum man im Namen immer noch den vielfach mißbrauchten Begriff „evangelikal“ aufnehme: Er drücke die herausragende Bedeutung aus, welche dem Evangelium („evangel“) von der Rechtfertigung des Sünders zukomme. Außerdem sei dieser „Spitzname“ bereits von den protestantischen Reformatoren des 16 Jhs verwendet worden. Heute betone man damit außerdem die herausragende Bedeutung, die das evangelistische Zeugnis für den Dienst der Gemeinde Jesu habe.
Mit ähnlicher Begründung hat Martyn Lloyd-Jones schon 1971 in einem Vortrag vor Mitgliedern der Internationalen Studentenmission (IFES) den Begriff „evangelikal“ beansprucht als schlichte Bezeichnung eines “normalen” Christen: Wir sind überzeugt, daß letztlich der evangelikale Glaube (evangelical faith) der einzige zutreffende lehrmäßige Ausdruck für den christlichen Glauben an sich ist (…) Nur wo dieses geglaubt und gepredigt und ausgebreitet wird, können Männer und Frauen bekehrt und der Gemeinde Jesu hinzugefügt werden.

Später wird er hinzufügen, daß ein Christ (bzw. der im obigen Sinne “Evangelikale”) noch vor seiner konfessionellen Zugehörigkeit immer zuerst Christ als solcher ist:
 Er mag Baptist sein oder Presbyterianer oder Anglikaner, aber in erster Linie vor allem anderen und vor allem ist er evangelikal.
In diesem Sinne hat Ligon Duncan daran erinnert, daß die Bezeichnung „evangelical“ für ein biblisch geprägtes Christsein bereits verwendet wurde, noch bevor bevor der Begriff „protestantisch“ populär war.

Die Beispiele erinnern uns daran, daß jeder Begriff seine eigene Geschichte hat. 
Ob „evangelikal“, „protestantisch“ oder „reformatorisch“ – keines dieser Wörter versteht sich von selbst. Man muß sie immer wieder daraufhin überprüfen, ob sie von den Adressaten in dem Sinne verstanden werden, wie sie von den Benutzern gemeint sind. Angesichts dieser Geschichte plädiere ich dafür, auf Seiten der reformatorischen Bewegung den Begriff „evangelikal“ nicht aufzugeben, sondern ihn wie Martyn Lloyd-Jones zu behaupten und offensiv zu definieren. Andernfalls würde man ihn völlig an den Neoevangelikalismus ausliefern. Dieser dürfte versucht sein, den Begriff „wie eine Festung zu besetzen“ (Quaritsch) und sich als wahrer Erbe der evangelikalen Tradition auszugeben. Schlimmer könnte man die theologischen Zusammenhänge kaum verwirren.
Wenn wir die Begriffe aber besonnen gebrauchen, könnten „evangelikal“ und „reformatorisch“ sich gegenseitig klären und erklären.

Was hat „reformatorisch“ mit den Reformatoren zu tun?

Die Reformatoren traten sich nicht als Begründer eines neuen Glaubens an die Öffentlichkeit, sondern wollten die alten biblischen Wahrheiten in Erinnerung rufen, welche durch die römisch-katholische Tradition verdeckt und verfälscht worden waren.

Dabei verstanden sie sich – so wurden Luther und Calvin nicht müde, zu betonen – vor allem als Ausleger der Heiligen Schrift. Ihr Anliegen war Bibeltreue im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre eigenen Schriften und die unter ihrem Einfluß entstehenden Bekenntnistexte hielten sie dagegen nicht für unfehlbar. Alles sei an der Schrift zu prüfen und von dorther zu korrigieren (sola scriptura).
Die Reformatoren wollten nicht im geringsten als letztgültige Autorität der reformatorischen Sache gelten. Das wäre nichts anderes gewesen als die Rückkehr in Strukturen des bekämpften Römischen Lehramtes, das sich dreist neben und schließlich.über die Schrift stellte. Evangelische Predigt dagegen bindet ihre Hörer an die Schrift selbst als ultimative Norm.

Daraus erwachsen das Recht und zugleich die Grenze der evangelischen Bekenntnisse. Reformatorisches Denken führt den Einzelnen zuletzt vor die geöffnete Schrift, Sie ist unsere letzte Instanz, an der sich auch die besten von Menschen verfaßten Texte messen lassen müssen. Luther verlangt,
… mit aller Lehrer Schriften zur Bibel zu laufen und allda Gericht und Urteil über sie [die anderen Schriften] zu holen; denn die Bibel ist allein der rechte Lehenherr und Meister über alle Lehre und Schrift auf Erden.

Zuletzt schauen wir also nicht auf die Reformatoren, sondern mit ihnen in die Schrift. Die endgültige Antwort erwarten wir nicht von Luther oder Calvin, sondern mit ihnen von Mose, Jesus und Paulus, also von jenen, aus deren Mund und Händen wir Gottes Wort empfangen.
Diese konsequente Unterscheidung zwischen Gottes- und Menschenwort betont auch die ACE in ihrem Bekenntnis zum sola scriptura:
Wir bekräftigen, daß die irrtumslose Heilige Schrift die einzige Quelle der geschriebenen göttlichen Offenbarung ist, sie allein kann das Gewissen des Menschen binden. Die Bibel allein lehrt alles, was zur Rettung von Sünde nötig ist und ist der (einzige) Maßstab, an dem alles christliche Verhalten gemessen werden muß.
Daraus folgt eine entschiedene Abgrenzung: Wir verwerfen, daß irgendein Bekenntnis, Konzil oder eine Einzelperson das christliche Gewissen binden darf, daß der heilige Geist unabhängig von oder im Gegensatz zu den Aussagen der Bibel redet, oder daß persönliche geistliche Erfahrung jemals eine Quelle göttlicher Offenbarung sein könnte.

Das Schriftprinzip ist die methodische Voraussetzung aller reformatorischen Theologie. Dieser Zugang würdigt die Tradition der Reformatoren, ist aber nicht in dem Sinne traditionalistisch, daß es ihm um die Verehrung und Gedächtnispflege der Reformatoren als solcher gehe. Das wäre das letzte, was jene gewollt hätten. Vielmehr verstehen wir diese Männer als Lehrer, Glaubensväter und Brüder in Christo, nicht als Offenbarer oder Heilsbringer.
Auf dieser Basis ist es erst möglich, die mancherlei Widersprüche und Uneinigkeiten zwischen den Reformatoren und reformatorischen Konfessionen einzuordnen und in geistlich verantworteter Weise gelassen mit ihnen umzugehen.

Diskurs unter Brüdern
In dem hier dargelegten Verständnis markiert der Begriff „reformatorisch“ sowohl eine Grenze als auch, innerhalb dieser Grenze, einen freien Raum für den brüderlichen Austausch und das Ringen um das jeweils rechte Verständnis der Schrift.
Ein prominentes Beispiel für solches reformatorische Ringen um die rechte Schrifterkenntnis ist die Frage der Taufe. Die Akademie für reformatorische Theologie (ART) hat sich hier eindeutig positioniert und die Taufe von Unmündigen als mit dem biblischen Zeugnis vereinbar erklärt. Dennoch sind bei uns nicht nur Lutheraner oder Reformierte als Studenten eingeschrieben, sondern auch solche, die aus einem baptistischen, brüdergemeindlichen oder mennonitischen Hintergrund kommen, Und selbst unter den Gastdozenten befinden sich nicht nur Vertreter der Kindertaufe. Sie respektieren aber die Position der ART, weil wir uns durch die reformatorischen Grundlagen verbunden wissen. Wir sprechen uns nicht gegenseitig die reformatorische Ernsthaftigkeit ab, sondern wägen die Argumente und tragen einander auch in den Unterschieden. So bewährt sich der reformatorische Konsens.

Noch manche andere Frage läßt sich benennen, bei der theologische Kampfgenossen, die sich auf dem Fundament der reformatorischen Überzeugung begegnen und die einander als Brüder achten, zu unterschiedlichen Antworten kommen. Ich nenne nur als ein weiteres Beispiel die Eschatologie, das Verständnis der Endzeit und die Haltung zu Israel. Dazu gibt es z.B. in der Theologischen Erklärung keine Festlegung. Der Verfasser dieser Zeilen ist davon überzeugt, daß der HERR Jesus bei seiner Wiederkunft das 1000-jährige Reich auf dieser Erde aufrichten wird (Millennium). An diesem Punkt gibt es unter den Kollegen z.T. unterschiedliche Auffassungen. An einer Akademie muß darüber offen und fair diskutiert werden können, mit der Bibel in der Hand. Dabei bestreiten wir uns nicht gegenseitig die reformatorische Bemühung um das rechte Verständnis der Schrift.

Der postmoderne Zeitgeist feiert solche Unterschiede als bereichernde Vielfalt, eine Bewertung, der wir uns nicht anschließen können. Ich würde mir wünschen, daß möglichst jeder zu den Ergebnissen kommt, von deren Richtigkeit ich überzeugt bin. So fühlt wohl jeder, der an einer Diskussion beteiligt ist. Ich möchte gern den anderen für meine Position gewinnen und bringe meine biblischen Gründe vor. Aber wenn das Gegenüber sich (noch) nicht überzeugen läßt, ist damit doch nicht der reformatorische Konsens aufgekündigt. Wir wollen dennoch gemeinsam für eine bibeltreue, reformatorische Theologie eintreten, wie sie oben skizziert wurde.

Da wir auch als Christen Sünder sind, werden uns solche Meinungsunterschiede begleiten, bis der HERR wiederkommt. Unser Denken und Erkenntnisvermögen leidet unter den Folgen des Sündenfalls, wir bleiben – trotz aller Erleuchtung durch den Heiligen Geist – fehlbar und irrtumsfähig. Wir erkennen noch „stückweise“ und brauchen Geduld miteinander.

Zugleich müssen wir darauf achten, daß die Geduld und gegenseitige Rücksichtnahme, sowie die Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit den Brüdern, nicht zu lehrmäßiger Indifferenz oder Verwischung der Grenzen führt. Nach unserer Überzeugung stellen z.B. die fragwürdigen Lehren und Praktiken der Charismatischen Bewegung eine so starke Gefährdung für die Gemeinden dar, daß ihnen gegenüber eine klare Abgrenzung erfolgen und keine Zusammenarbeit stattfinden sollte. Damit wird den Mitgliedern solcher Bewegungen nicht grundsätzlich das Christsein abgesprochen. Wir halten aber nach wie vor für geboten, was die Berliner Erklärung vor 100 Jahren im Hinblick auf die damalige Pfingstbewegung und einen ihrer führenden Vertreter (Pastor Paul) feststellte. Nachdem man dessen „unbiblische Lehren“ abgelehnt hat, heißt es:
Wir lieben ihn als Bruder und wünschen, ihm und der Schar seiner Anhänger in Wahrheit zu dienen. Es ist uns ein Schmerz, gegen ihn öffentlich Stellung nehmen zu müssen.

Reformatorische Schutzgemeinschaft
Der reformatorische Konsens lebt von den fundamentalen gemeinsamen Überzeugungen. Sie haben die Substanz, auch über die einzelnen konfessionellen Grenzen hinweg – lutherisch, reformiert, baptistisch, brüdergemeindlich, anglikanisch usw. – eine echte und belastbare geistliche Gemeinschaft zu stiften. Das macht die verschiedenen evangelischen Konfessionen nicht überflüssig, dadurch werden die noch bestehenden Positionsunterschiede nicht einfach übersprungen – aber es nimmt ihnen die trennende Wirkung.
Solcher reformatorischer Konsens verbindet zu geistlicher Bruderschaft, die sich dann auch in der gemeinsamen Abgrenzung artikuliert – nämlich gegen jenen Strömungen, die wir oft als Neoevangelikalismus bezeichnet haben. Der Neoevangelikalismus unterscheidet sich von der klassischen evangelikalen Position dadurch, daß er deren reformatorische Substanz Schritt für Schritt auflöst.
Darum muß sich die reformatorische Position immer wieder in der Konfliktbereitschaft gegenüber geistlichen Fehlentwicklungen bewähren, so z.B.
- in der theologischen Grundsatzkritik an den pragmatisch bestimmten Gemeinde- Konzeptionen von Hybels, Warren und den verschiedenen Emerging-Church- Perspektiven;
– in der damit verbundenen Ablehnung eines verkürzten Verständnisses von Evangelisation, bei dem die Betonung menschlicher Bedürfnisse und die vermeintliche „Relevanz“ der Botschaft ein unzulässiges Übergewicht gegenüber der Predigt des Kreuzes Christi erhalten (das geht oft einher mit einer Verharmlosung des Sündenverständnisses);
– im Festhalten an der klassischen evangelikalen Position gegenüber dem Katholizismus;
- in der Ablehnung einer zu starken Gewichtung des politischen Engagements, wie es z.B. von der Micha-Initiative der Evangelischen Allianz forciert wird.

Suche nach den Brüdern
Die Kritik an Mißständen und Fehlentwicklungen ist nicht das Lebenselixier der reformatorischen Bewegung, sondern eine unvermeidliche Last, die um Christi und seiner Gemeinde willen getragen werden muß. Sie erspart uns auch nicht gegenseitige brüderliche Korrektur und die Bereitschaft, aufeinander zu hören und zu achten.
Die Suche nach dem reformatorischen Konsens ist eigentlich die Suche nach den Brüdern. Der Druck der geistlichen und geistigen Kämpfe, zu denen wir durch den Zeitgeist herausgefordert sind, soll uns nicht in Selbstisolation, Separatismus und Selbstgerechtigkeit treiben, sondern in die Nähe der Brüder. Ja, wir wollen „unseres Bruders Hüter sein“, so wie wir selbst die Hut der Brüder brauchen.