Reinkarnation (Leuenberger)
Dr. Samuel Leuenberger
REINKARNATION
I. Kurzer geschichtlicher Überblick über das Vorhandensein von Reinkarnationsideen im abendländischen und östlichen Kulturkreis
II. Die konstruktive Seite der Reinkarnationslehre in psychologischer und ethischer Hinsicht am Beispiel der Anthroposophie
1. Die psychologische Seite: plausible Möglichkeit zur Lösung der Sinnfrage
2. Ansporn zu positivem Handeln zum Abtragen karmischer Schuld
III. Spannung zwischen dem Erlösungsverständnis der Reinkarnationslehre und dem biblischen Heilsverständnis sowie die sich daraus ergebende Problematik
1. Das Menschenbild und Gottesbild im esoterischen Reinkarnationsverständnis in bezug auf Erlösung
2. Das biblische Menschenbild und Gottesbild im Kontext der Erlösung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen
– Der folgende Beitrag wurde am 26. Oktober 1998 an der STH Basel als Vorlesung gehalten. –
I. Kurzer geschichtlicher Überblick über das Vorhandensein von Reinkarnationsideen im abendländischen und östlichen Kulturkreis
Es scheint mir wichtig, einen ganz knappen Überblick zu geben, auf welchen Kanälen uns die heutige Reinkarnationslehre erreicht hat. Meistens denken wir an die hinduistische Tradition, was Reinkarnationslehre betrifft. Der Einfluss der hinduistischen Tradition vermittels der Jugendreligionen ist aber relativ jung.
Die Wurzeln der Reinkarnations-Lehre für den abendländischen Kulturkreis finden wir im antiken Griechenland in einer Sammlung von Dichtungen, in der eine sehr populäre mythologische Gestalt den Mittelpunkt bildet, nämlich die Gestalt des bekannten Sängers und Musikers Orpheus. Um die legendäre Gestalt des Orpheus haben sich bereits im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert Anhängergemeinden gebildet. Die Verantwortlichen dieser Gemeinden waren häufig Personen mit einem priesterlichen Auftrag, die dichterische Werke verfasst hatten mit Orpheus als zentraler Figur. Später sind diese Werke in einer Sammlung von 24 Büchern in Umlauf gekommen und haben den Namen «Orphische Bibel» erhalten. Diese Sammlung ist von Otto Kern in einer wissenschaftlichen Ausgabe im Jahr 1922 in Berlin unter dem Titel «Orphicorum Fragmenta» veröffentlicht worden. Die meisten dieser Fragmente stammen aus dem 6. bis 4. vorchristlichen Jahrhundert. Verschiedene grosse Dichter und Philosophen haben die Reinkarnationslehre der sog. «Orphischen Bibel» entnommen. Unter den Dichtern müssen wir vor allem Pindar und Empedokles, von den Dramatikern Aischylos und Euripides hervorheben. Unter den Philosophen haben sich Pythagoras und Plato am meisten von den Orphikern befruchten lassen.
Gestützt auf die «Orphische Bibel» setzte sich eine Lehre durch, die ganz besonders Schule machte. Es handelt sich um die Lehre von der Dualität des Menschen in seiner widersprüchlichen Aufteilung in Körper und Geistseele. In den orphischen Schriften finden wir die Auffassung vom Leib des Menschen als einem Grab. Plato hat diese orphische Lehre in seinen Dialogen «Gorgias» und «Kratylos» aufgenommen. Im Leib drinnen toben tierische Kräfte, die als titanisch bezeichnet werden. Doch die Seele birgt in sich den lichthaften göttlichen und unsterblichen Funken. Orpheus bewerkstelligt mit seiner Gesangskunst die Kultivierung der chaotischen im Leib drinnen tobenden Kräfte. Ja, zu dieser Kultivierung des Titanischen im menschlichen Leib gehört, den unsterblichen Lichtfunken aus dem Körper zu befreien. Doch bis es zu dieser Befreiung des Lichtfunkens kommen darf, sind unzählige wiederholte Erdenleben notwendig.
In den alten Mysterienkulten zu Eleusis musste dem einzuweihenden Mysten in einem dunklen Raum drinnen ein gewaltiges Lichterlebnis widerfahren. Der Sinn dieses Lichterlebnisses bestand darin, im vorwegnehmenden Sinn die Vereinigung des im Leib gefangenen Lichtfunkens mit dem göttlichen Urmeer zu erfahren. Der Myste war sich dessen bewusst, dass das Eintreffen dieser Wirklichkeit einer Vereinigung des Lichtfunkens mit dem göttlichen Urmeer unzählige Reinkarnationen in Anspruch nehmen würde.
Pythagoras übernahm die Reinkarnationslehre aus der «Orphischen Bibel», und Plato wurde die orphische Lehre der wiederholten Erdenleben über Pythagoras vermittelt. In verschiedenen Dialogen verarbeitet Plato die Reinkarnationslehre. Eine besonders markante Stelle in bezug auf die Reinkarnationslehre finden wir im 10. Kapitel von Platos Staat. Plato stellt uns dort einen Mann namens «Er» vor. Dieser «Er» erzählt, was im Jenseits mit einem Verstorbenen passiert. Plato lässt «Er» erzählen, wie nach dem Tod der Verstorbene sich einem Gericht stellen muss, das seine Taten streng beurteilt. Die Seele muss eine tausendjährige Wanderung in der Unterwelt auf sich nehmen. Nachdem diese 1000 Jahre verstrichen sind, versammeln sich alle Verstorbenen auf der sog. Seelenwiese und lassen sich für die nächste Verkörperung zurüsten. Nach den Aussagen dieses «Er» wählen die Verstorbenen für ihre nächste Inkarnation Tiergestalten, um die Schuld eines vergangenen Lebens abzubüssen. Die Seelen erinnern sich aber nicht an ihre früheren Erdenleben, was damit zusammenhängt, dass sie vor ihrer nächsten Wiederverkörperung aus dem Fluss «Sorgelos» Wasser trinken müssen.
Plato lehrt, dass es eine Möglichkeit gäbe, aus dem Rad der Wiedergeburten auszubrechen. Die Voraussetzung dazu ist allerdings, sich philosophischen Studien zu widmen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass das Ausbrechen aus dem Rad der Wiedergeburten an Vegetarismus gebunden sei. Diese Auffassung finden wir bei Orpheus in seiner Rolle, die er bei Aristophanes und Euripides spielt. Zum Vegetarismus gehört auch die Askese.
Interessant ist u.a., dass wir den Stufengedanken finden, der bereits in den orphischen Schriften vorhanden ist. Durch die asketisch-vegetarische Lebensweise kommt man im nächsten Erdenleben auf eine höhere Stufe.
Von dieser Sicht liessen sich die Gnostiker stark beeinflussen. Die Gnosis weist viel orphisches Gedankengut auf in der Modifikation von Pythagoras und Plato. Die Einflüsse der Mysterienkulte sind ebenfalls sehr wichtig.
Das Stufendenken, wie wir es bei den Orphikern finden, taucht bei den Gnostikern in modifizierter Form auf in der Unterscheidung von Hyliker oder Sarkiker, Psychiker und Pneumatiker. Nur der pneumatische Mensch vermag mit seinem Lichtfunken zum göttlichen Urmeer aufzusteigen. Die Sarkiker bleiben in der Sinneniust befangen. Die Psychiker lassen sich von den Emotionen gefangen nehmen. Nur die Pneumatiker dienen wirklich dem Geist.
Interessant sind die verschiedenen Typen von Gnosis: So kennen wir die simonitische Gnosis mit ihren Anhängern von Simon Magus. Simon gehört ins 1. nachchristliche Jahrhundert. Wir vernehmen weniges über ihn im achten Kapitel der Apostelgeschichte. Er brüstete sich, er sei die grosse Kraft Gottes. Die Apologeten überliefern uns einiges über die simonitische Gnosis. Hippolytus aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert schreibt in seinen Büchern gegen die Irrlehrer über Simon Magus, er habe gelehrt, im Menschen gäbe es eine unermessliche Kraft, ein unendliches Potential. Diese Kraft kann aber erst zur Entfaltung gelangen, wenn die Seele in verschiedenen Erdenleben von Körper zu Körper wechselt. In der simonitischen Gnosis ist also der Reinkarnationsgedanke deutlich vorhanden.
Auch in der Gnosis des Basilides finden wir den Reinkarnationsgedanken. Basilides spricht der Sache nach bereits vom Karma, obschon er diesen indischen Begriff nicht braucht. Der bekannte spätantike Theologe Clemens v. Alexandrien schreibt in seinem Hauptwerk «Die Teppiche» folgendes über Basilides:
“Basilides geht von der Annahme aus, dass die Seele zuvor in einem andern Leben gesündigt hat und hier die Strafe dafür erleidet, und zwar die auserwählte Seele ehrenvoll durch das Märtyrertum, die andere aber, indem sie durch die ihr angemessene Strafe gereinigt wird.“
Für Basilides gibt es kein Leiden von Unschuldigen. Der Sühnemechanismus von verschiedenen Reinkarnationen ist nötig. Das sind nur wenige Beispiele für die Reinkarnation aus der spätantiken Gnosis.
Basilides vertritt übrigens die Auffassung, dass Menschen in einer kommenden Reinkarnation in Tierleiber eingehen können.
Der bedeutendste Kirchenvater, Augustinus, war eine zeitlang Anhänger der manichäischen Gnosis. Im Manichäismus finden wir auch jene Auffassung, ungeläuterte Seelen müssten in einen Tierleib hineinschlüpfen und so ihr negatives Karma abtragen.
Im Konglomerat der Gnosis finden wir die wichtigsten Elemente, die zu Wurzeln geworden sind für die Esoterik im Mittelalter und in der Neuzeit.
Eine interessante mystische Bewegung innerhalb des Judentums hat sich im 13. Jahrhundert in der Provence und in Spanien entwickelt. Es ist die mystische Richtung der «Kabbala». Die Kabbala kennt eine Art von Buchstabenmystik, die der Gnosis des Markos, einer Gestalt aus dem 2. Jahrhundert, ähnlich ist. Die wichtigste Schrift der Kabbala ist das Buch «Bahir». Dort finden wir die Seelenwanderung deutlich vertreten. Interessant sind in diesem geheimnisvollen Buch auch die Hinweise auf die verschiedenen Hüllen des Menschen zusätzlich zu seinem physischen Leib. Der Sache nach geht es um Astral und Ätherleib.
Zur Zeit der Aufklärung haben vor allem der Theologe Joh. Gottfried Herder sowie die Dichter Lessing und Goethe mit dem Reinkarnationsgedanken sympathisiert.
In der spiritistischen Bewegung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgekommen ist, wird die Lehre der Reinkarnation allgemein vertreten; zu Beginn dieses Jahrhunderts insbesondere von der Theosophie der Helena Blavatzky und in der Anthroposophie Rudolf Steiners.
II. Die konstruktive Seite der Reinkarnationslehre in psychologischer und ethischer Hinsicht am Beispiel der Anthroposophie
1. Die psychologische Seite: plausible Möglichkeit zur Lösung der Sinnfrage
Die Reinkarnationslehre verstehen viele als Hilfe, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden, die mit dem Fragekomplex der Gerechtigkeit zu tun haben. Denken wir beispielsweise an all jene Personen, die in ein Umfeld hineingeboren worden sind, wo ihnen keine Möglichkeiten offen standen, ihre Gaben zur Entfaltung zu bringen, weil es an guten Schulen und am Geld fehlte. Weshalb Startmöglichkeiten derart unterschiedlich sind, bleibt ein Rätsel. Aber wir müssen verstehen, dass diese Tatsache die Frage nach der Gerechtigkeit in besonderem Ausmass aufwirft.
Oder stellen wir uns Personen vor Augen, die ein anspruchsvolles Studium abgeschlossen haben und nun unversehens von einem betrunkenen Autofahrer angefahren werden und durch die schweren Verletzungen für den Rest dieses irdischen Lebens denkbehindert und invalid bleiben. Da stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit mit aller Vehemenz.
Die Reinkarnationslehre lässt sich als Bewältigungsstrategie in solch schweren Fragen gut einsetzen, wenn wir vom rein menschlichen Denken ausgehen. Viele unlösbare Probleme können bis zu einem gewissen Grad eingeordnet werden im Licht dieser Lehre. Anhänger der Reinkarnationslehre argumentieren folgendermassen: Sie meinen, dass Personen mit schlechtem Karma aus einem vorhergehenden Erdenleben durch vordergründig unerklärbare Schicksalsschläge eine Zeit der Buße durchgehen müssen. Das in früheren Erdenieben Versäumte können vom Schicksal schwer heimgesuchte Menschen nachholen und damit ihr Karma verbessern. In der nächsten Wiederverkörperung wird die Entwicklungsstufe dann höher sein.
2. Ansporn zu positivem Handeln zum Abtragen karmischer Schuld
In der Anthroposophie von Rudolf Steiner soll die Reinkarnationslehre enorme positive ethische Impulse bieten. Mit einer anthropologischen Sicht, bei der die Gleichwertigkeit aller Menschen im Blickfeld steht, will man in Waldorfschulen etwa dazu beitragen, dass Kinder ihre Gaben optimal entfalten können. Durch das Ausloten der eigenen Fähigkeiten in einem kreativen und auf den einzelnen eingehenden Unterricht bietet man den Schülern eine Hilfe an zum Abtragen karmischer Schuld. Dadurch soll für das kommende Erdenleben ein schnellerer Aufstieg ermöglicht werden. Es ist dann auch wirklich hervorragend, was Anthroposophen in ihren Heimen für schwer geistig behinderte Menschen leisten. Von der Geduld, die sie für solch benachteiligte Menschen aufbringen, können wir sehr viel lernen. Für anthroposophisch orientierte Menschen, denen der Trost des Evangeliums noch nicht aufgegangen ist, kann die Reinkarnationslehre bis zu einem gewissen Grad Motivation und Trost geben durch die Hoffnung, dass für diese schwer behinderten Personen einmal eine positive Wendung ihres Schicksals kommen wird.
Denken wir auch an die anthroposophische Medizin mit ihren Weleda-Produkten. Die Reinkarnationslehre motiviert dazu, ja nicht karmische Schuld zu vergrößern, sondern sie abzubauen, indem menschenfreundliche Medikamente verabreicht werden, nicht Produkte mit schädlichen Nebenwirkungen, mit denen man den Profit auf Kosten des Mitmenschen vorantreiben möchte. Aus anthroposophischer Sicht ist eine aggressive Medizin, die mit ihrem Medikamentenverkauf in die Hände großer machtgieriger Konzerne spielt, mitverantwortlich für negative Karmabildung bei all denen, die solche Medikamente in grossen Mengen nur um des Profites willen abzusetzen versuchen.
Das Gleiche gilt für die Demeterprodukte, Nahrungsmittel, bei denen gerade auch vom Karmagedanken her darauf geachtet wird, dass diese auf gar keinen Fall mit Giftstoffen gestreckt werden.
Für Anthroposophen ist es weiterhin eine Unmöglichkeit, ein Kind abzutreiben. Dadurch würde man einem Kind eine Inkarnation wegstehlen, die es zum Abtragen seiner karmischen Schuld nötig hätte. Es gäbe in dieser Hinsicht noch vieles aufzuzählen, was in engstem Zusammenhang mit dem Karmagedanken steht.
Gehen wir nur ganz kurz zu den Scientologen. Diese sind überaus aktiv in ihrer Werbung. Sie reden vom unermesslichen Potential im Menschen, das weitgehend brach liege und durch geeignete Psychotechniken zur Entfaltung gebracht werden müsse. Wir finden bei den Scientologen ebenfalls die Überzeugung von der Notwendigkeit wiederholter Erdenleben, die für das Ausloten des im Menschen liegenden Potentials vorausgesetzt werden müssten. Mit den richtigen Psychotechniken und dem Besuch vieler Kurse sollen Menschen mit der Zeit jene Stufe erklimmen, wo sie über Raum und Zeit, über Materie und Energie stehen werden. Der Mensch wird über die vielen wiederholten Erdenleben den Grad der Gottheit erreichen. Durch solche und ähnliche Versprechungen lassen sich viele, vor allem junge Erwachsene, bezaubern.
Sie kennen möglicherweise von Begegnungen auf der Strasse die Hare Krishna Mönche mit ihren kahl geschorenen Köpfen und den orangenen Gewändern. Sie tanzen in der Öffentlichkeit zu einem Zitterinstrument und rufen den Namen der Gottheit Krishna an. Bei den Hare Krishna Mönchen hat die Reinkarnationslehre einen sehr hohen Stellenwert. In dieser hinduistisch geprägten Jugendreligion, die in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts in den Westen gekommen ist, spielt der Vegetarismus eine extreme Rolle. Wer Tierfleisch konsumiert, wird in der nächsten Inkarnation in eines der Tiere verwandelt werden, dessen Fleisch er konsumiert hat. Tiere massenhaft für die Gaumenlust des Menschen zu schlachten, ist ethisch unverantwortbar. Auch dem Tier gegenüber schuldet der Mensch eine grosse Ehrfurcht. Das Tier ist nicht Materie, über die man einfach verfügen dürfte.
III. Spannung zwischen dem Erlösungsverständnis der Reinkarnationslehre und dem biblischen Heilsverständnis sowie die sich daraus ergebende Problematik
1. Das Menschenbild und Gottesbild im esoterischen Reinkarnationsverständnis in bezug auf Erlösung
Verallgemeinernd können wir sagen, dass die Esoterik, also die Gnosis unseres Jahrhunderts, den Menschen grundsätzlich als von Natur her guten Wesens versteht. Der Mensch trägt den göttlichen Lichtfunken in sich, und durch wiederholte Erdenleben soll dieser Lichtfunke wieder zum Ursprungsort, zum göttlichen Lichtmeer zurückfinden. Allerdings sieht die Esoterik die Gottheit nicht als Person, sondern vielmehr als ein Energiefeld. Man spricht vielfach vom Göttlichen. Das Göttliche beinhaltet kein Du, das als Gegenüber ansprechbar wäre. Das Göttliche ist ein kaltes Prinzip, das von geradezu mechanischen Gesetzmässigkeiten bestimmt wird. Erlösung ist Befreiung von der Materie. Die Materie, nichts anderes als verdichteter Geist, muss sich wieder verdünnen und in reine Geistigkeit verwandeln. Auf Verdichtung muss Entdichtung folgen. Hiermit ist Materie und auch der menschliche Leib entwertet.
Die Bewusstseins und Erkenntnisschulung, die in der Reinkarnationsideologie eine enorme Rolle spielt, führt zu einer Abstufung verschiedener Menschenklassen. Man teilt die Personen nach Bewusstseinsstufen ein. Das kann sehr leicht zu geistigem Hochmut führen.
2. Das biblische Menschen und Gottesbild im Kontext der Erlösung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen
Nach dem biblischen Menschenbild hat Gott den Menschen ursprünglich gut geschaffen. Durch eine freiwillige Loslösung von Gott, durch den Sündenfall, kommt es dann zu degenerativen Prozessen im irdischen Leben wie Krankheit, Alter, Zerfall und Tod. Die Loslösung von Gott zeigt sich im Willen des Menschen, selber das Maß aller Dinge sein zu wollen, was sich wiederum in destruktiven Machenschaften zeigt, etwa in Form von Rücksichtslosigkeit und Menschenverachtung.
Das biblische Menschenbild steht in engstem Zusammenhang mit dem Gottesbild. Gott ist das grosse Du, das sich als Einheit in drei Personen zeigt, also in einer lebendigen, dynamischen, innergöttlichen Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist oder anders gesagt von Schöpfer, Erlöser und Paraklet. Die zweite Person löst sich aus der innergöttlichen Geborgenheit heraus und kommt um unseretwillen in unsere menschliche Dimension herab und opfert sich stellvertretend für uns Menschen, um die Schuld der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für alle die hinwegzunehmen, die sich Ihm in Dankbarkeit anvertrauen. Den Fluch, welchen die Menschen durch ihre Absonderung heraufbeschworen haben, nahm Jesus am Kreuz als für uns rettende Tat auf sich. Paulus beruft sich in Gal 3, 13 auf jene alttestamentliche Aussage aus Dtn 21, 23, in der jeder Gehängte als von Gott verflucht qualifiziert wird. Diesen Fluch hat Jesus bis zur scheußlichen Konsequenz der Gottverlassenheit durchstehen müssen. Was dieser Fluch für uns Menschen erwirkt hat, artikuliert Paulus folgendermaßen: Er hat den, der von keiner Sünde wusste, um unseretwillen zur Sünde gemacht, auf dass wir in Ihm jene Gerechtigkeit erlangen, die vor Gott gilt (2. Kor 5, 21).
Was uns an diesen zitierten Stellen so wichtig ist, ist die so klare zwischen den Zeilen steckende Absage an eine karmische Hypothek. Der Mensch kann nichts von seiner Schuld selber abtragen. Das ist in der Stellvertretung geschehen. Das Inkrafttreten für den einzelnen erfolgt aber nicht automatisch, sondern durch die persönliche Inanspruchnahme dieses Heilsgeschehens.
Von einer sehr interessanten Begebenheit hören wir in Joh 9. Dort begegnen wir einem von Geburt her blinden Mann. Die Jünger stellen eine seltsame Frage, die vielleicht darauf hinweist, dass von der vorchristlichen Gnosis her die Idee von Karma und Reinkarnation herumgegeistert ist. Die Jünger fragen also: «Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren worden ist?» Die Antwort von Jesus darf uns sehr zu denken geben: «Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden.»
Die Möglichkeit besteht allerdings auch, dass die Jünger vom jüdischen Verständnis der Erbsünde her diese Frage gestellt haben. Denken wir nur an jene Aussage von David im 51. Psalm: «Siehe, in Schuld bin ich geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen.»
Wenn ein wirkliches Abbüssen von karmischer Schuld nötig wäre, dann würden die plötzlichen Krankenheilungen, die durch Jesus geschehen sind, keinen Sinn ergeben. Die Heilungen wären dann so etwas wie eine Störung des karmischen Haushaltes. Jesus spricht auch immer wieder kranken Menschen die Vergebung der Sünden zu, ohne Vorbedingung im Sinne einer zu erbringenden Leistung. Man vergleiche als Beispiel Matthäus 9, 13!
Jesus heilt häufig Menschen aus einem niedrigen sozialen Umfeld: Aussätzige, Lahme, auch Kinder, Stumme, Epileptiker alles Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht nützlich machen konnten. Von Schuld, die zuerst bei den zu heilenden Menschen abgebüsst werden müsste, spricht Jesus nicht.
Wichtig ist auch, dass das Neue Testament für die christliche Gemeinde keine Abstufungen kennt in bezug auf niedrige oder hohe Erkenntnisgrade, so dass daraus Klassen gemacht würden. Prinzipiell sind alle, die sich an Jesus halten, Geschwister, die einander mit ihren mannigfachen Gaben dienen. Überhaupt gilt das Dienen als etwas Wichtiges. So sagt Jesus in Mt 23, 11 folgendes: «Wer unter Euch groß sein will, der sei Euer Diener.»
Auf karmischem Denken beruhende Abstufungen sind dem Neuen Testament fremd. So sagt Paulus in Gal 3, 28: «Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob Ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: in Christus seid Ihr alle eins. Gehört Ihr aber zu Christus, dann seid auch Ihr Nachkommen Abrahams und habt Anspruch auf alles, was Gott ihm zugesagt hat.
Die Gnosis und mit ihr viele esoterische auf karmisches Denken gründende Ideologien machen den Aufstieg in höhere geistige Sphären von bestimmten Psychotechniken und den damit verbundenen übersinnlichen Erlebnissen abhängig. Paulus macht aber geltend, dass man in Christus auch als intellektuell bescheidene Person das Wesentliche hat. Das kommt besonders deutlich in 1. Kor 1, 28 zum Ausdruck: «Sehet doch nur Eure Berufung an, Ihr Brüder; nicht viele Weise nach dem Fleische, nicht viele Mächtige, nicht viele Leute von vornehmer Geburt, sondern was vor der Welt töricht ist, hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache, und was vor der Welt schwach ist, hat Gott erwählt, damit er das Starke zuschanden mache, und was vor der Welt niedriggeboren und was verachtet ist, hat Gott erwählt, das, was nichts gilt, damit er das, was gilt, zunichte mache, auf dass sich kein Fleisch vor Gott rühme.»
Was gleich auf diese Stelle folgt, ist so wichtig. Nach 1. Kor 1, 30 erhält man in Jesus alles. Es heisst dort, Jesus sei uns zur Weisheit gemacht von Gott, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung. Diese Stelle widerspricht radikal karmischem Denken. Die Gerechtigkeit ist also nicht etwas, das durch lange Arbeitsprozesse über riesige Zeiträume hinweg zustande kommt, sondern sie ist etwas in Christus durch den Glauben Geschenktes.
In diesem Zusammenhang scheint mir auch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg in Mt 20 sehr aufschlussreich zu sein. Diejenigen, die die Arbeitslast des ganzen Tages getragen haben, werden denen, die sich noch im letzten Moment anstellen ließen, lohnmässig gleichgestellt. Hier wird die Großzügigkeit, aber auch die Unberechenbarkeit Gottes deutlich herausgestellt.
Meines Erachtens stellt aber das dem bereuenden Schächer am Kreuz von Jesus zugesprochene Gnadenwort das überzeugendste biblische Argument gegen die Reinkarnationslehre dar. Was konnte schon der Schächer an gutem Karma aufweisen? Überhaupt nichts. Und ausgerechnet ihm wird von Jesus gesagt: «Heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein.»
Sehr wichtig scheint mir auch noch in den Reinkarnationsideologien zu sein, dass sich der Mensch beim Erlangen der Erlösungsstufe in seiner Individualität auflöst. Dem Erlösungsgedanken der Reinkarnationsideologie fehlt die Ganzheitlichkeit, weil von einer Erlösung der leibhaften Dimension nicht die Rede ist. Die Materie muss sich ja in reinen Geist zurückverwandeln, wobei die grosse Leere wie ein Abgrund gähnt: das grosse göttliche Du als persönliches Gegenüber fehlt. Die so viel gepriesene Holistik in der sich mit Reinkarnationsideen groß machenden Esoterik verrät damit, dass das eigentlich Wesentliche des holistischen Anliegens fehlt: die Wiederherstellung von Leib, Seele und Geist als Geschenk der unergründlichen Liebe Gottes, damit dem Menschen die wahre Anbetung in der himmlischen Liturgie möglich wird.
Der Autor.
Pfr. Dr. Samuel Leuenberger wurde 1942 als Sohn eines reformierten Pfarrers in Moutier geboren. Bereits in den Teenagerjahren machte sich bei ihm ein starkes Interesse am römischen Katholizismus bemerkbar. Dank seiner wertvollen Kontakte mit einem katholischen Jugendseelsorger erhielt er die Möglichkeit, mehrere Jahre in einem Benediktinerkollegium zu studieren und dort im Jahre 1964 die Matura zu absolvieren. Seine Auseinandersetzung mit dem Katholizismus fand eine notwendige Ergänzung durch die Studienjahre an der evangelischreformierten Fakultät in Bern. Ein Auslandssemester in Oxford 1966/67 führte auch zur eingehenden Beschäftigung mit dem Anglikanismus. Nach dem Staatsexamen in Bern folgten zwei Studienjahre in den USA, in die auch ein einjähriges Gemeindepraktikum eingeschlossen war. In den USA entdeckte Samuel Leuenberger erweckliches Christentum, dessen Impulse er in seiner Tätigkeit als landeskirchlicher Pfarrer in der Schweiz weiterzugeben versucht. 1975 begann er mit seiner Doktorarbeit und promovierte im März 1984 in Stellenbosch / Südafrika. Während der Auseinandersetzung mit seiner Doktorarbeit wurde er von der Richtigkeit der reformatorischen Wahrheit überzeugt.
– Die Hervorhebungen im Text sind von mir. Horst Koch, Herborn –
www.horst-koch.de
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