Zwischen Gott und Satan (H.Thielicke)

Helmut Thielicke

ZWISCHEN GOTT UND SATAN

– Die Versuchung Jesu und die Versuchlichkeit des Menschen –

 

INHALT
1. Brot, Tempelzinnen und leuchtende Länder im Wüstensand

2. Die erste Versuchung: Die Realität des Hungers
3. Die zweite Versuchung: Das verlockende Schauwunder
4. Die dritte Versuchung: Jesu Reich von dieser Welt

Matthäus 4, 1 – 11

Die Versuchung Jesu Christi

Darauf ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, auf daß er vom Teufel versucht würde. Und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn hernach.
Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden! Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht.»
Darauf nimmt ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellt ihn auf die Zinne des Tempels und spricht, zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: «Er wird seinen Engeln deinethalben Befehl geben, und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht etwa an einen Stein stoßest.»
Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht geschrieben: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.» Wiederum nimmt ihn der Teufel mit auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und spricht zu ihm: Dieses alles will ich dir geben, wenn du  niederfällst und mich anbetest.
Da spricht Jesus zu ihm: Hebe dich weg von mir, Satan! Denn es steht geschrieben: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen!»
Da verließ ihn der Teufel; und siehe, Engel traten herzu und dienten ihm.

 

PRÄLUDIUM: Brot, Tempelzinnen und leuchtende Länder im Wüstensand

 

1. Vision der Wüste

 Die Geschichte, die so anhebt, bestürmt uns mit Bildern und Gedanken.

Mit Bildern: Wir sehen die Einöde, die Ferne von Menschen und Dingen, eine grenzenlose Weite und den Schatten des Geheimnisses. Und darin zwei Gestalten, die miteinander spielen um einen ungeheuren Einsatz. Oder kämpfen sie? Und worum geht der Kampf in dieser Einsamkeit und Ferne? Wo ist ein Preis?

Aber wir wissen es ja, worum der Kampf geführt wird: Hier, mitten in der Wüste, in der Ferne von allem wird um die Erde gekämpft und um den Menschen. Und diese Erde ist meine und deine Welt. Und dieser Mensch – das bin ich und das bist du. Und die da kämpfen, das ist Gottes Sohn und ist der Satan.

Eine Stunde später ist der Kampf entschieden. Geschlagen, verfemt und besiegt verläßt die eine der beiden Gestalten das Feld. In geheimnisvoller Vision sieht Jesus später der Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz (Luk.10,8). Das “Wetterleuchten dieses Blitzes, dieses Sturzes zuckt hier am Horizont der Wüste, als der Teufel flieht. Denn wahrlich: nun hat er die Flucht ergriffen und nur eine Zeitlang (Joh.12,21) noch darf er in seinem Exil vegetieren, darf er die Welt unsicher machen (Offb.12,9), jene Welt, deren heimlicher Fürst er ist und in deren Atmosphäre (Eph.2,2), in deren Nächten und Tagen er sich verbirgt und aus der er die Jünger mit seinen Nachhutgefechten quält (1.Tim.4,1), ihr Herz wankend zu machen strebt und zusieht, welchen er verschlinge.

Und die andere Gestalt in der Wüste? Schreitet sie so von dieser Walstatt, wie wir es erwarten: erhobenen Hauptes, bestärkt in ihrer Herrschaft, gekrönt als Sieger, mit einem Namen, der von nun an und sichtbar über alle Namen ist? (Phil.2,9)

Ach nein; wie anders ist dieser Sieg als die Siege der Menschen sind!

Die Gestalt erhebt sich und tritt in diesem Augenblick ihren Leidensgang an. Auch sie geht in die Welt. Und noch einmal wird der Kampf toben, noch einmal werden die Mächte der Tiefe gegen sie anbranden. Durch diese Welt, die ein Kriegsschauplatz ist und ein Kampffeld zwischen Gott und Satan, geht sie hindurch. Das Tor dieser Welt hat sie nun durchschritten, indem sie von ihrem ersten Siege aufsteht. Und der Kampf wird um die Menschen gehen, denen Christus begegnet, um die Zöllner und Pharisäer, um die geistlich Armen und die Klugen dieser Welt, um die reichen Jünglinge und die armen Männer, um die Proletarier und die Industriemagnaten, um die Hungernden und Dürstenden und die Satten und Sicheren – um dieser aller Seelen wird er kämpfen. Und er wird an ihnen sterben, für die er doch auferstanden ist, zu kämpfen. So geht der Sieger dieses Kampfes von dannen und geht geradewegs auf sein Kreuz zu, und es will scheinen, als ob Gott ihn verlassen hätte (Markus 15,34).

Ist er nicht doch ein heimlich Besiegter, ein heimlicher Bankrotteur und ein König mit verspielter Krone, als er diesen seinen Gang antritt von der Wüste zum Kreuz? Hat er vielleicht einen Pyrrhussieg errungen? Er, der nun den Weg des Kreuzes, des Schmerzes und der ewigen Verwundung geht und  nicht  den  Weg  der Glorie, den Weg des Triumphators, den Weg – – – Gottes (denn wie sollte Gott einen andern als den triumphalen Weg gehen können?!).

Vielleicht ist doch dieses Spiel in der Wüste unentschieden ausgegangen. Vielleicht hat auf ganz große Sicht doch der dunkle und große Gegenspieler die Welt in jenem Augenblick gewonnen und seine Herrschaft neu inthronisiert (wer meint es heute, im zwanzigsten Jahrhundert, nicht allerorten zu sehen?). – Alles scheint dafür zu sprechen.

Aber die Wüste sieht noch etwas, als beide Gestalten auseinandergehen: »Die Engel traten herzu und dienten ihm«. Es muß dennoch ein großer Sieg errungen sein . . .

2. Das Geheimnis der Versuchung: Der Mensch als der Gott Gottes

Wir beginnen zu ahnen, daß es in dieser Geschichte zwischen Christus und dem Teufel um uns selbst geht. Und so wollen wir auf das zu achten suchen, was hier in der Wüste uns gesagt ist und an uns geschieht. Denn es geht in dieser Geschichte um unser Schicksal: Jesus Christus, der hier kämpft, ist nicht nur der »Spiegel des göttlichen Herzens« (Martin Luther),  sondern  auch unseres Herzens (Phil. 2,7), ein Spiegel unserer Nacktheit und Blöße und Armut und Gefangenschaft (Matth. 25,35). Indem Jesus Christus hier in der Wüste ist und die Versuchung trägt, ist uns gesagt: Siehe, hier in diesem Leiden und in diesem Kampf ist Gottes Sohn dein Menschenbruder geworden. Denn er trägt und leidet hier das, was auch dein Leben bedrückt und wie sonst nichts auf der Welt bestimmt: Jesus leidet hier mit dir die Versuchung. Er zeigt dir, wie man das Leben an diesem seinem brennenden, seinem schrecklichsten Punkte aushält: in solcher Versuchung. Er, der hier dem Argen selbst gegenübertritt, zeigt dir, wo dieser tödliche Punkt deines Lebens liegt und wo die Rettung.

Wieso aber ist die Versuchung das, was unser Leben bestimmt, ja, was es am meisten bestimmt und gefährdet?
Denn so ernst steht’s doch mit der Versuchung. Wie
wäre sonst die Bitte zu begreifen: Führe uns nicht in
Versuchung!?

In der Versuchung sein, das heißt: ständig in der Lage sein, daß man Gott untreu werden möchte. Es heißt: ständig auf dem Sprunge sein, sich von Gott frei zu machen. Es heißt: ständig im Zweifel an Gott leben: »Wie kann ich deine Gebote erfüllen, du unheimlicher König? Laß mich von dir! Brechen nicht die Weisen darunter zusammen und die Propheten und Helden? Wie kann ich die Gedanken meines Herzens ändern (Matth.5,28), du schrecklicher Kündiger dieses  Herzens!? (Mk.2,8).  Ich bin doch nicht einmal Herr über meine Taten und muß sie ohnmächtig meinen Händen entgleiten sehen! (Röm.7,19) Wenn du Gott wärest, so könntest du dies alles nicht gebieten, so könntest du uns nicht schwarz machen und dann verlangen, daß wir weiß werden! Ja, solltest du über Gott sein? Sollte Gott wirklich gesagt haben? (1. Mo.3,1). Sollte dies schreckliche Gesetz nicht die Ausgeburt böser Phantasien sein?«

So nagt die Versuchung an unserem Herzen. Sie macht, dass wir auf dem Sprunge sind, von Gott frei zu werden. Wir zweifeln an seiner Gottheit und beginnen, uns unserer Menschheit zu erinnern. Oder die Versuchung kommt von einer anderen Seite auf uns zugeschritten:

»Wie kann Gott mir dies und jenes schicken? Gewiß: daß er mir eine Krankheit schickt, das begreife ich. Das ist sogar weise von ihm, denn ich hatte es nötig. Brauchte ich nicht einen Dämpfer? Brauchte ich nicht >Besinnung<? Brauchte ich nicht Schmerz, um daran zu reifen, und die Nähe des Todes, um das Leben zu begreifen, das ich – unwissend um seine Abgründe und um seine Grenze – durchstürmte? Gewiß: dies alles hatte ich nötig und muß ich für weise halten. Und weil so das Leiden weise und sinnvoll scheint, nun, so mag’s auch  von einer weisen und wissenden Vorsehung stammen, so mag es – von Gott kommen.«

Das sind meine Gedanken über Gott. Ich und meine Vernunft bestimmen über Gott. Ich und meine Vernunft wissen, wie Gott handeln »muß«, um wirklich Gott zu sein: er muß zum Beispiel weise (aber in mir verständlicher Form weise) sein, er muß sinnvoll und mir zum Besten handeln, Er muß mein Leben durch Freude — und vielleicht auch durch Leid reich und köstlich machen (wir klugen Menschen wissen ja auch etwas vom Sinn des Leidens!). Er muß unser Volk erhalten, denn dies unser Volk weiß sich zu einer Sendung in der Welt berufen, und darum ist Vorsehung und ist Gott nur dort, wo diese Sendung zur Erfüllung kommt. Gott muß dies, Gott muß das, wenn er wirklich Gott sein will. Gott muß Steine in Brot verwandeln. Er muß von den Zinnen des Tempels springen können, wenn er wirklich Gott sein will. So sind wir es, die Bedingungen stellen, denen Gott Genüge tun muß, damit wir ihn zu Gott ernennen können. Wir sind die Herren Gottes.

Aber in Wahrheit ist alles umgekehrt, was wir zu meinen
belieben. Es ist nämlich so – und diese Wahrheit klingt
erstaunlich einfach, wenn sie so »theoretisch« als Gedanke ausgesprochen wird -: es ist so, daß entgegen all
diesen Illusionen Gott unser Herr ist und daß seine
Gedanken höher sind als unsere Gedanken, und seine Wege höher als unsere Wege.

Aber grade weil diese Tatsache, die wir theoretisch so gerne zugeben, in der Wirklichkeit unseres Lebens so ganz anders aussieht, grade weil wir hier nämlich umgekehrt verfahren und nichts Geringeres als die Götter Gottes sein wollen, darum kommt nun der Zweifel: Denn wenn wir, die wir das Maß Gottes sein wollen, ihn nicht mehr verstehen bei seinem Tun, dann steht die Anfechtung auf: Sollte Gott wirklich gesagt haben? Sollte es wirklich Gott sein, der dies getan hat? Nein: wenn es einen Gott gäbe, wahrlich, so müßte er göttlicher handeln!

 

3. Hiob: Die Folter und das Stundenglas des Versuchers

Diesen Zweifel erfährt jeder, der das Leid, von dem wir sprachen, über das erträgliche und damit über das uns sinnvoll erscheinende Maß hinaus spüren mußte. Der Versucher schlug Hiob mit vielen Plagen: Er nahm seine Güter, seine Knechte, seine Kinder. Er stürzte ihn von der Höhe eines befriedigten und frommen Lebens (ach, wie leicht ist da fromm sein!) in den Schrecken entblößter und hungriger Armut. »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt« (Hiob 1,21). Ja: mit letzter Kraft errafft Hiob noch den Sinn des Geschehens, reißt er das Wort Gottes an sich, das ihn aus diesem Unglück anblickt, und klammert sich an seinen Trost: »Der Gott redet hier, der geben und nehmen kann. Wie hätte ich dies Geben und Nehmen Gottes aber je begreifen und ernst nehmen können, wenn er nicht auch genommen hätte, wenn ich nicht bitter von ihm geschlagen worden wäre -? Er wäre dann ein frommer Schmuck meines Lebens geblieben, und sein Dienst wäre wohl ein erhebender Kultus in meinem reichen Hause gewesen; aber eben ein >Schmuck<, der Gott in der >Sonntagsecke<. Gewiß: ich hätte redlich gelebt, meinen Nächsten und meine Freunde liebgehabt, ich hätte tapfer gearbeitet und mich gut mit ihm gestellt. Aber bei alledem wäre er doch nicht der wirkliche Herr meines Lebens gewesen: Er wäre nicht jener unheimlich reale Herr gewesen, der unerforschlich geben und nehmen kann und dessen Ratschluß zu hoch ist, als daß man ihn verstehen könnte (Hiob 42,3). Er wäre auf keinen Fall jener Herr für mich gewesen, dem in allem und unter allen Umständen recht gegeben hätte. Nein: Er wäre ein Herr für mich gewesen und geblieben, mit dem ich von Herzen gestritten, gehadert und gerechtet hätte«.

Das alles ahnt Hiob noch, als Gott ihm sein Liebstes und seine Lieben nimmt. Und er hält diesen frommen Gedanken noch fest, als der Versucher wiederum kommt und nicht nur Güter und Kinder nimmt, sondern ans Leben selber geht und Gebein und Fleisch antastet, als er an den Augapfel des Lebens rührt und ihn mit Schwären schlägt von der Fußsohle bis an den Scheitel.

So sitzt er in der Asche seiner verbrannten Güter und schabt sich die entstellte Haut und klammert sich noch einmal an die Stimme, die in all dem tönt: Auch das Böse, das Schreckliche, müssen wir aus seinen Händen nehmen, so wie wir das Gute ja auch von ihm geschenkt bekommen (Hiob 2,7). Oder sollte es keine Güte sein, wenn ein schmerzliches Schicksal uns lehrt, daß alles von Gottes Händen und Herzen zu uns hernieder kommt, Liebes und Leides?

Aber dann starrt ihn die nackte Sinnlosigkeit an, dann sieht er nur Asche und Schwären, klagende Freunde, brennenden Schmerz. Und im Hintergrund steht der Versucher und mißt mit der Sanduhr, gespannt, wann die Grenze   des   Möglichen, des Menschenmöglichen im Leiden überschritten sein wird: Die Sanduhr läuft; aber zunächst will Hiob reifer werden seiner Erkenntnis Gottes; er meint zu spüren, was Gott ihm durch all den zugefügten Schmerz sagen will. Aber der Versucher lächelt überlegen. Er wird das Spiel gewinnen. Er ist sich klar, daß zweierlei für ihn arbeiten wird: Die Zeit und der Schmerz.

Er weiß: Reifer werden wollen durch das Leid, das kann doch nur heißen, daß man sich das Leid »zur Lehre« dienen lassen will; so wie Hiob sich durch den Verlust seiner Güter darüber belehren lässt, dass sie ihm nicht gehören, sondern Gott, und daß Gott sie ihm nehmen kann, und daß Gott sich folglich als Herrn über Leben und Tod und Güter offenbaren will, wenn er so schmerzvoll in unser Leben fährt.

Der Versucher lächelt über diese fromme Regung. „Ja, – denkt er – wir wollen den Augenblick abwarten, wo das Leid den guten Hiob genügend in diesem Sinne >belehrt< hat. Das kann doch nicht lange dauern. Die frommen Weisheiten, die ihm im Unglück erwachsen und die man später einmal fett drucken wird – – nun, die werden verstummen, wenn das Leid weitergeht.« Jawohl: »wenn das Leiden weitergeht«. Der Versucher ist ein guter Psychologe, er rechnet so: Hiob meint, wenn er genügend aus seinem Leiden gelernt hätte (zum Beispiel, daß Gott gibt und nimmt und der Herr ist), dann müßte das Leiden wieder aufhören, weil es ja seinen Sinn erfüllt hätte. Denn wenn es einfach weiterginge, dann könnte er doch nichts mehr dazulernen, dann hätte es keinen »Sinn« mehr.

Und also läßt der Versucher, wenn er einen ernstlichen Angriff vorhat, das Leiden weitergehen, über die Spanne dessen hinaus, was der Mensch für sinnvoll hält. Wenn er meint, nun müsse es aufhören, nun habe er genügend gelernt, dann hört es gerade nicht auf, dann geht es sinnlos weiter. Die Zeit ist der unheimlichste Diener dieses Fürsten der Nacht. Sie macht uns mürbe. Nicht deshalb zunächst, weil sie so lang ist, sondern weil sie so sinnlos ist, weil das immer weiter dauernde Leid zu einer fratzenhaft höhnischen Frage wird: »Was sagst du nun?« – »Wo ist nun dein Gott«? (Ps.42,4) – »Meinst du noch immer, daß dir dies Leiden von Gott geschickt sei? Worin sollte denn sein Sinn noch bestehen? Wie könnte es denn jetzt noch, nach all den Monaten, nach all den Jahren, >zum Besten dienen<«? (Röm.8,28) – »Hältst du wirklich noch fest an deiner Frömmigkeit – noch immer … wie lange noch«? »Ja, sage Gott ab und stirb«!  

Das ist das eine Mittel des dunklen Versuchers: die Zeit. Die Zeit wird die Predigerin der Sinnlosigkeit. Sinnlosigkeit aber ist der stärkste Einwurf wider Gott. Denn wie sagten wir doch? Wir und unsere Vernunft (die Künderin des Sinns) machen uns von Natur zum Herrn und Richter Gottes. Wir sehen – kraft der Zeit – keinen Sinn mehr, erst recht keine höheren Gedanken. Darum: Sage Gott ab und stirb! Die Mittel des Versuchers sind plump und listig zugleich.

Er tut im Grunde nichts anderes, als daß er die natürliche Stellung des Menschen zu Gott in Rechnung stellt und sie zur äußersten Konsequenz vortreibt. Er macht einfach mit dem Menschsein des Menschen ernst: Der Mensch will von Natur Herr und Richter Gottes sein. Seine höheren Gedanken müssen immer dem entsprechen, ja müssen sich dem fügen, was der Mensch sich für Gedanken macht und für sinnvoll hält. Da tut der Versucher nichts anderes, als was wir bei Hiob sahen: Er fuhrt den Menschen mit Hilfe der Zeit, mit Hilfe der langen Dauer seines Leidens an einen Punkt, wo er das Leiden nicht mehr als sinnvoll und reifend und fördernd erkennen kann. Und das ist dann mit teuflischer Notwendigkeit auch der Punkt, wo sein Gottesglaube absurd wird, wo er Gott abschwört. Der Versucher sieht seinen Erfolg bei Hiob. Er sieht ihn bei den vielen, vielen Menschenkindern, er sieht um bei langen Kriegen (wie voll waren die Kirchen zu Beginn der letzten Weltkriege und wie leer waren sie an deren Ende!); er sieht ihn bei langen, unheilbaren und grauenvollen Krankheiten; er sieht ihn bei grausamem, unbegreiflichem Tod, dessen trauernde Hinterbliebene in die Anzeige drucken: Ein unbegreifliches Schicksal hat das getan … Dies alles sieht der Versucher und streichelt glücklich und mit triumphierender Gebärde das Stundenglas, in dem er diese Zeit gefangen hat.

 

4. Der Zweifler von Anbeginn

Und sein anderes Mittel ist der Schmerz. Das weiß jeder von sich selber. Das Leiden ist nur so länge erziehlich, wie wir bei klarem Verstande sind und uns Gedanken machen können, nur so lange, wie es uns – »zur Besinnung« dient. Aber diese Besinnung hört sofort auf, wenn  der  rein  körperliche  Schmerz  eine bestimmte Grenze überschreitet, die Grenze, hinter der wir ganz ausgefüllt von ihm sind: entweder so, daß wir krampfhaft die Zähne aufeinanderpressen oder laut schreien, oder auch so, daß wir – geschüttelt von Angst und Entsetzen – im Tal einer sekundenlangen Schmerzlosigkeit auf die nahende Welle eines neuen ungeheuren Schmerzes warten. Und jedes Unglück und jeder Kampf, im Schützengraben oder daheim im Bereich der politischen oder bürgerlichen Existenzfragen, in Kranken- und Irrenhäusern ist ein solcher Schmerz, der uns immer wieder an jene Grenze heranführt, wo wir »ausgefüllt« sind und wo die Frage als Frage verklingt.

Wie sollten wir da noch erbauliche Gedanken über Sinn und Unsinn, über Reiferwerden und Wachsen am Schmerz haben können?

Ja: das ist die andere These des Versuchers: Es gibt einen Grad des Leidens, wo man nicht mehr reifer wird an ihm. Und dieser Schmerz ist der andere Pfeil im Köcher des Feindes: der Schmerz, der einfach durch seine Stärke sinnlos ist. Welcher unheilbar und schrecklich Kranke und welcher im Trommelfeuer zermürbte, selbst fürs Fluchen zu schwache Soldat wüsste davon kein Lied zu singen, kein Lied zu schreien!

Und darum setzt auch der Mensch, der Gott mit seinem Sinnglauben das heißt doch nun: mit diesem Glauben an sich selber halten möchte, diesen seinen Gott ab, sobald er nichts anderes mehr ist als ein solcher Haufen in sich gekrümmten Wehs . . .

So ist der Mensch ein Zweifler und Versuchter von Anbeginn. Das hängt mit seinem Menschsein zusammen. Denn er ist ein Gefallener und Gesonderter und ist nicht mehr Gottes Freund. Er ist es nicht mehr, auch wenn er sich das tausendmal verschweigt und mit der Inbrunst des Hiob den Namen Gottes nennt; auch wenn er vom Weihrauchduft der Religionen umhüllt ist wie von einem Nebel, durch den man kaum noch das Blitzen des Cherubimschwertes sieht, das ihn von dem Garten zurückhält, in dem die Nähe Gottes war.

So muß er ein Zweifler sein vom Anbeginn dieser seiner Bahn und jedes Exemplar des Menschen von seiner Wiege an. Er ist immer der Hiob, dessen Glaube an Gott zerschellt: denn Gott ist anders, als dieser sein Glaube war. Dieser Glaube war ja nichts anderes als ein kluges Rechnen mit einer göttlichen »Gerechtigkeit«, mit einer Art sittlichen Weltordnung, die dafür sorgt, daß es dem Frommen gut und dem Bösen schlecht geht. Es war der Glaube daran, daß die »Weltgeschichte das Weltgerichte« sei, weil ein gerechter Gott diese Weltgeschichte in der Hand hielte.

Und siehe: Gott ist ungerecht – wohlverstanden: er ist im Sinne dieses Glaubens, dieses nun versuchten, in eine Zerreißprobe gestellten Glaubens ungerecht. Ja, Gott ist »ungerecht«: er setzt den frommen Hiob verarmt und entstellt in einen Haufen Asche, wo er sich seine Geschwüre schabt. Und währenddem geht es den Bösewichtern, den Gaunern, den Schiebern und Strebern gut, und die Sonne Gottes leuchtet – mit schmerzender »Ungerechtigkeit«! – über Böse und Gute (Matth.5,45).

Ja, Gott ist anders als dieser Glaube; denn dieser Glaube ist ein Glaube an den Sinn (zum Beispiel: an den Sinn des Leidens); und Gott ist plötzlich Un-Sinn; man versteht seine Wege nicht, und darum fragt man: Ist Gott überhaupt auf seinem Wege? Sollte Gott wirklich sein?

Dieser Glaube ist ein Glaube an die höchste Weisheit; und siehe, Gott ist Torheit (1.Kor.1,18). Dieser Glaube ist ein Glaube an die Glorie Gottes und an seine Herrlichkeit; und siehe: Gott naht uns verschmäht und verspeit und geheftet ans Marterholz. Dieser Glaube ist ein Glaube an das Wunder; und siehe: Gott schweigt (Matth.12,39) und steigt nicht vom Kreuze (Matth.27,40).

Dieser Glaube ist ein Glaube an das Große in und über der Welt; und siehe: Gott ist klein und ist Ärgernis (Jes.8,14).

Dieser Glaube stürmt voran und errafft das Gewand Gottes; und siehe: Gott kommt leise und von niemand bemerkt durch die Hintertür der Welt und ist im Stalle von Bethlehem.

Dieser Glaube ist ein Glaube an den Tag; und siehe:
Gott kommt zur Nacht, und den Klugen und Weisen ist es verborgen, aber die Hirten der Weihnacht, die
»Tumben«, die kennen ihn – und die Dämonen und 
Kinder.

Dieser Glaube ist eben immer, heimlich und unter der Decke, ein Glaube an den Menschen selber, und siehe: Gott ist Gott und nicht dieser Mensch.

Darum ist Mensch und sind wir alle Zweifler und Angefochtene von Anbeginn. Denn wir wissen: Dieser Gott zerschlägt uns erst, ehe er uns erhebt. Dieser Gott treibt uns mit Geißeln aus dem Tempel unserer Selbstanbetung und zerschmeißt den babylonischen Turm unseres Hochmutes, ehe er unser Vater wird. Dieser Gott stürzt uns in ein Meer der Unsicherheit über uns selbst und in Ziellose Unruhe, ehe er uns Frieden gibt.

Und mit diesem Gott wollen wir nichts gemein haben. Wir wollen billigeren Frieden. Und darum nehmen wir die Flügel der Morgenröte und fliehen zum äußersten Meer, fliehen in die Trunkenheit des Vergessens, in der wir uns selbst und den fragenden, verfolgenden Gott nicht mehr spüren. Wir fliehen in die Trunkenheit jenes Vergessens, wie es vielleicht unsere Arbeit gewährt oder der Betrieb, in dem wir untergehen, oder die Masse oder der Alkohol oder der Sexus oder das Zeremoniell der Masse, in dem wir begeistert, fanatisiert und von Fanfaren umtönt die Gottheit über dem Stadion oder der Riesenhalle zu sehen glauben: Ha, du bist unser!

Wir sind Zweifler von Anbeginn: Wir zweifeln an Gott in dem gleichen Maße, wie wir an uns selbst glauben; und wir glauben unbändig an uns selbst. Wir glauben zum Beispiel an unsere Unsterblichkeit, und das heißt doch wohl: Wir glauben an unsere Ewigkeit, an die Ewigkeit unseres Geschlechtes. Und darum beißen wir lachend in die verbotene Frucht: wer sollte uns schon etwas verbieten! Wer hätte schon das Recht, uns zuzurufen: Bis hierher und nicht weiter? – Gott etwa? Ha, wir sind seines Geschlechtes, und unser ist die Erde und das Paradies.

Wir glauben an unsere Ebenbürtigkeit mit Gott (1.Mose 3,5), und darum sprechen wir mit dem Versucher, mit dem Meister des Zweifelns: »Sollte Gott wirklich gesagt haben?« und zweifeln an Gott.

Die Stunde der Versuchung, das ist die Stunde, in der wir an uns selbst glauben, in der wir aufhören, an uns zu zweifeln, und eben darum an Gott zweifeln. Das ist unsere Stunde und die Macht der Finsternis (Luk.22,53). So lehrt die Heilige Schrift den Bruch des Menschen mit Gott.

 

5. Die Sehnsucht, von Gott frei zu sein

Auf dem Hintergrund dieser biblischen Sicht der Dinge müssen wir die Versuchungsgeschichte sehen. Wir verstehen nunmehr, warum der Mensch versucht und angefochten ist von Anfang an: weil er an sich selbst glaubt.

Und wir verstehen, was es nun letztlich heißt, daß der Mensch in der Versuchung ist: daß er nämlich ständig auf dem Sprunge ist, Gott untreu zu werden und sich zu Gott zu machen; daß er ständig wünscht, von Gott frei zu werden.

Dieser Wunsch, von Gott frei zu werden, ist die tiefste Sehnsucht des Menschen. Sie ist größer als seine Sehnsucht nach Gott. Ja: es wird uns sogar gesagt, daß in dieser Gottessehnsucht und mitten in der Frömmigkeit und sogar mitten im klüglich gebrauchten Wort Gottes selber, daß mitten in alledem die Absage, das Loskommen wollen von Gott da ist. Wie trieft doch der Versucher in der Wüste von Worten Gottes! Warum wettern und predigen sonst die Propheten wider die Götter und Götzen, wider die Kulte und Fetische, wider den Gott »Natur« und den Gott »Schicksal«? Weil all dies bequeme Götter, weil sie Ruhe- und Sicherheitsgötter sind, weil man sie schauen kann und nicht an sie zu glauben braucht, weil sie ja sagen zu dem, was der Mensch bejaht haben will, ja, weil sie die Nickegötter und die Urheber  unverbindlichen frommen Rausches und glückhafter Ekstasen sind. Deswegen: »Groß ist die Diana der Epheser«; deswegen: »Heil den andern Göttern«! »Auf zum Tanz um das Goldene Kalb«! »Baal, erhör’ uns«! »Schicksal, komme über uns!«

Das ist die ungeheure Monotonie, die durch alles Reden und Künden der biblischen Männer geht: Es gibt keine größere Sehnsucht des Menschen als den Abfall und die eigene »tiefe, tiefe Ewigkeit«. Das haben sie gewußt, daran sind die Märtyrer unter ihnen gestorben. Und diese Monotonie klingt noch wider aus dem »Kreuzige ihn, kreuzige ihn!«, das nur wie eine kurze dramatisch bewegte Welle über diesem ewig gleichen Grunde spielt.

Das ist das Geheimnis der Welt: daß sie so zwischen Gott und dem Widerspieler hängt und daß sie immer auf dem Sprunge ist zum Widerspieler hin. Das ist die Stunde der Versuchung. Es ist die Erdenstunde, die Stunde dieses Äons. Darum muß Gott an dieser Welt sterben. Darum markiert das Kreuz die Grenze zwischen Ewigkeit und Zeit. Gott und Welt stehen »übers Kreuz« zueinander. Das ist die Wahrheit, und die Bildnisse und Gleichnisse der Götter lügen.

Aber Gott kämpft um uns alle. Es ist ganz unbegreiflich, aber es ist so: Gott hat uns lieb. Wir können ihn nicht erobern, wir sind ja nur Fleisch und Blut; aber er ringt um uns, so sehr, daß die Stirne Jesu Christi von Schweißtropfen und von Blut benetzt ist.

Aber freilich: wir müssten diesen Kampf Gottes um unsere Seele, den die Bibel uns kündet, allzu schlecht begreifen, wenn wir ihn so verstünden, daß wir hier die Kämpfenden, die faustisch um Gott Ringenden, die Gottsucher wären1. Wir könnten Gott ja gar nicht suchen, wenn er uns nicht schon gefunden hätte, wir könnten ihn nicht lieben, wenn er uns nicht zuerst geliebt hätte.

Nein, wir sind nicht die Helden in diesem Kampf. Wir sind weniger Held und Heer als Schlachtfeld. Um uns wird gekämpft, denn wir sind die Fliehenden. Wir leben in der Stunde der Versuchung. Wir leben in einer Welt, die einen Herrn hat (Joh.12,31). Wir leben »auf dem Sprunge«. In diese Tiefe hinein ist Jesus zu uns gekommen. Hier hat uns der Aufgang aus der Höhe besucht. Diese Not, dieses Schicksal hat er mit uns durchlitten – hier in der Wüste. Wir haben damit den Hintergrund dieses Geschehens gemalt.

Nun blicken wir auf die beiden Gestalten im Vordergrund, die der Evangelist uns zeigt, auf Jesus und den Versucher. Jesus Christus ist zu uns gekommen, um die Versuchung, um unser Schicksal mit Gott zu erleiden und unser Bruder zu werden. Wir wollen zu ihm gehen in die Wüste, um zu sehen, was er hat leiden und kämpfen müssen, um dieser unser Bruder zu sein. Hier werden wir lernen, wer wir sind und wie es mit dieser unserer Welt steht. So geht die Bibel immer vor: Wie tief wir gefallen sind, wird uns an dem klar, was Gott hat aufwenden müssen, um uns zu helfen. Die Theologen sagen: Es wird in letzter Tiefe nicht am Gesetz, sondern am Evangelium deutlich.

Und so ist es auch hier: Wer ich bin, wer wir Menschen sind, das wird uns daran klargemacht, daß Jesus unser Leben an seinem tiefsten Punkte durchleben, daß er versucht werden muß so wie wir. Auch hier erfahren wir, wer wir sind: an der Größe dessen, was Jesus für uns aufgewendet und gelitten hat, indem er an unsere Stelle tritt.

Die Wüste ist unsere Welt; der Versucher ist unser Versucher; die vierzig Tage und Nächte – die sind unsere Zeit; und Jesus —: der sind wir, denn er steht hier an unserer Stelle. Wer sind wir also, o Gott, wer sind wir? 

 

6. Vom Geist in die Wüste geführt

Jesus ward vom Geist in die Wüste geführt. Dort fastete er vierzig Tage und gehörte der Einsamkeit.

Wir hören Ähnliches von Moses: Er war bei dem Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte und aß kein Brot und trank kein Wasser (2.Mo.34,28). Dort schrieb er die Tafeln des Bundes. Und mitten in dieser Einsamkeit redete Gott mit ihm von Angesicht zu Angesicht, so wie ein Freund mit seinem Freunde redet. In dieser Einsamkeit geschieht etwas von Gott her. Es ist die Stunde der Nähe Gottes.

Und auch der Mann Gottes, Elia, so erzählt die Schrift, wird in seiner Angefochtenheit, seiner Verzweiflung und Leere von Gott gestärkt und geht in Kraft der göttlichen Speise durch vierzig Tage und vierzig Nächte hindurch zum Berge Gottes. Dort erscheint dem Müden, Zerschundenen, Angefochtenen der Herr. Und er hat – wider Erwarten – nicht die Gestalt eines wilden Wettersturms  und hervorbrechender  Gewalten  der  Natur, nein: er hat das überraschende Gesicht eines stillen, sanften Sausens im Winde (1.Kö.19,12). Es ist anders, ganz anders, als der Prophet es erhoffte.

Und in der Reihe der biblischen Menschen, die wohl
nicht unbeabsichtigt ist und die wieder den Hintergrund für das Geschehen in der Wüste bildet, wird
nun auch Jesus in die Stille der vierzig Tage und
Nächte geführt, einer ungeheuren Begegnung zu. Aber
ehe er Gott gegenübertritt und ehe die Engel kommen,
um ihm zu dienen, und ehe die Freude des Himmels ihn
überglänzt, muß er erst dem »Andern« begegnen und
standhalten.

Keiner hat den »Andern« so gesehen, so furchtbar nahe, so unübersehbar wirklich wie er, keiner, Mose nicht und Elia nicht und kein Mensch. Und doch steht er hinter uns allen und ist der heimliche Fürst dieser Welt. Eben darum aber, weil er so der Fürst unserer Welt ist, stehen wir hier selber bei Jesus in der Wüste und wissen: Es geht hier um uns.

Es scheint mir sehr wichtig, daß der Versucher dem Herrn in der Einsamkeit, in der Wüste begegnet. Es ist eine unvorstellbare Einsamkeit: Nicht nur die Menschen fehlen, die Gefährten, die Eltern, Freunde und Fremden. Nein, auch die Dinge fehlen: Kein Verkehr umwogt ihn, keine Landschaft fesselt ihn, er kann nicht interessiert auf dies oder jenes zugehen und es betasten, er kann nicht arbeiten, er kann sich kein Vergnügen leisten. Es ist nichts da, nicht einmal Speise und Trank. Nur Sand und Wüste umgeben ihn.

Und hier, wo er von nichts abgelenkt, verführt, gefesselt werden kann, ausgerechnet hier wird er versucht -? Konnte der Versucher nicht einen günstigeren Augenblick erhaschen? Warum wählte er nicht die Stunde, als ihn das Volk zum König machen wollte (Joh.6,15)? Oder als er am Kreuze hing und die Möglichkeit hatte herabzusteigen (Mark.15,32)? Oder als er vor Pilatus stand und im Augenblick der höchsten Bedrängnis wußte: er würde mehr denn zwölf Legionen Engel alarmieren können? — Waren das nicht versuchlichere Stunden? Waren hier nicht Anreize, erregende Chancen und faszinierende Fernblicke in traumhafte Möglichkeiten? Und dennoch kommt der Versucher hier in die Wüste, in die größte aller Einsamkeiten, in eine Stunde, die gerade nicht – wie die anderen, späteren – im gefährlichen Zenit des Lebens liegt -?

Mir scheint, gerade diese Einsamkeit will bedacht sein. In ihr zeigt sich das Geheimnis der Versuchung. Sie ist nicht nur Bild und Staffage des biblischen Erzählers. Nein: »der Heilige Geist führt Jesum in die Wüste«. Wir müssen darüber nachsinnen, was diese Einsamkeit bedeuten mag. Wie sollte der Geist Gottes etwas »ohne Bedeutung« tun?

7. Das babylonische Herz

Was geht in uns vor, wenn wir versucht sind -? Am besten machen wir uns das an ganz einfachen und alltäglichen Formen der Versuchung klar, wie etwa daran, daß wir versucht sind zu lügen, zu stehlen, eitel zu sein und »anzugeben« oder auch die Ehe zu brechen. Zunächst – so scheint es – ist immer eine Gelegenheit da, die uns reizt und lockt, die uns »versucht«. »Gelegenheit macht Diebe«, sagt kurz und richtig die Volksweisheit. Dasselbe zeigt die Bibel mit scharf eindringendem Licht bei der Versuchung von Adam und Eva. Es ist eine überaus markante Gelegenheit zum Sündigen da: denn mitten im Garten steht ein Baum, von dessen Früchten man nicht essen darf. Er ist vom gefährlichen Reiz des Geheimnisses umlagert. Und sein Geheimnis ist ein ständiger Lockruf an den ewigen und unbändigen Drang im Menschen, jedes Geheimnis zu lüften. Es ist ein Lockruf an jene Neugierde, die Wissenschaft und Technik beseelt, die die Erde erobert und die auf ihrem untersten Grunde sogar das Geheimnis des Höchsten zu stören und »aufzuklären« strebt.

Aber der Apfel mit seinem lockenden Geheimnis war es trotz alledem nicht, der den Sündenfall »verschuldete«. Wer anders verschuldete ihn als Adam und Eva selbst? Nicht der Apfel war das gefährliche in dieser paradiesischen Stunde, sondern allein der Mensch war gefährlich. Seine Gier, daß er sei wie Gott, sein maßloser Hunger nach Eben-»bürtigkeit« mit Gott, die sich nicht genügen ließ am bloßen Gleichnis und an Eben-»bildlichkeit« — der brachte die Katastrophe.

So war nicht die Schlange gefährlich und nicht der Apfel; überhaupt nichts, was von außen kam, war ihm gefährlich, sondern allein er selbst, der Mensch, wurde sich gefährlich. Sein prometheisches Herz, das explodierte, das war sprengendes Dynamit. Was »von außen« kommt, das verunreinigt den Menschen nicht, das berührt ihn gleichsam nicht,  höchstens  wie eine Tangente, und gehört irgendwie nicht zu ihm. Aber was seinem Herzen entströmt: das ist er selbst. An seinem Herzen – an sich selbst! – kann er sterben und gnadenlos werden. »Denn aus dem Herzen kommen arge Gedanken: Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung (Matth.15,19)«.

Dann haben Apfel und Schlange nur noch ein kleines Stück Arbeit zu leisten: Der Apfel hat nichts zu tun, als dies übervolle, drängende Herz ein wenig anzulachen und bunt und lustig im Morgenwind sich wiegen zu lassen, um ein letzter, ein allerletzter Anstoß für dieses Herz zu sein, das auch schon vorher reif war für den frevlerischen Griff. Und die Schlange hat weiter nichts zu tun, als ein wenig Gift in dieses Herz zu träufeln und damit einen kleinen chemischen Prozeß anzuregen, durch den das Bild dieses Herzens sichtbar und deutlich wird, so wie das Bild einer photographischen Platte sich entwickelt, das ja auch vorher schon »da« ist.

Hier erkennen wird das Geheimnis der Versuchung: Der Versucher thront im Herzen selbst und erregt uns zu Diebstahl und Mord. Und die Gelegenheit, die Diebe macht, all das, was von außen kommt, das sind nur Hilfstruppen für seine Macht – aber nicht diese Macht selbst. Das erfahren wir immer wieder an uns selbst: Wenn wir versucht sind, um unserer beruflichen Karriere willen eine Überzeugung zu verleugnen; wenn wir lügen oder uns zum stummen Hunde machen wo wir reden müssten; wenn wir versucht sind, einen andern, der mehr kann als wir selbst, fortzuwünschen: wenn wir »ein Weib ansehen, ihrer zu begehren«, wenn dies alles in unserem Herzen aufsteigt, um im  nächsten  Augenblick  schauerliche Tat zu werden -, dann gelingt es uns vielleicht,  allem Drängen zum  Trotz, diese Gier zu bändigen und der Versuchung Herr zu werden. Dann zähmen wir uns vielleicht und tun statt der bösen Tat das, was die herkömmliche Sprache der Kirche als »gute Werke« bezeichnet. Und so kann es geschehen, daß ein Produkt, eben ein »Werk«, bei alledem herausspringt, dem man die Anfechtung und den schrecklichen Abgrund, in den es beinahe gestürzt wäre, nicht mehr ansieht.

Aber wer vermöchte sich dieser Werke zu rühmen? Wer von allen, die im Angesicht des Gesetzes Gottes, und das heißt: vor seinem Auge stehen, könnte es je vergessen, daß in ihnen all dies Abgründige als Möglichkeit steckte und schauerlich sein Haupt emporreckte: daß er ein Mörder war, indem er seinem Bruder zürnte; daß er ein Ehebrecher war, indem er ein Weib ansah, ihrer zu begehren; daß er einen Meineid schwor, indem er mehr sagte als ja, ja; nein, nein? Das Geheimnis der Versuchung liegt in uns selber, in den Gedanken unseres Herzens. Es liegt darin, daß wir »Versuchliche« sind.

8. Der sittliche Ausfall aus Babylon

Dies allein ist auch der Grund dafür, daß die sogenannten guten Werke uns nicht helfen können. Vielleicht ist es wirklich so, daß mit ihrer Hilfe unsere Versuchung überwunden wurde; vielleicht helfen wir wirklich einem armen Epileptischen, wo wir ihn wegen seiner abstoßenden Anfälle und seiner geistigen Versehrtheit lieber verachtet hätten. Vielleicht fangen wir uns im letzten Augenblick auf und erinnern uns, daß es Christus ist, der uns auch in diesem Bettlergewand begegnet, und daß sein schmerzvolles Kreuz auch über diesem armen Leben errichtet ist. Vielleicht helfen wir ihm nun, legen ihm die Hand auf den Kopf und gönnen ihm ein gutes Wort. Aber haben wir damit die Versuchlichkeit selber überwunden? Ist damit der Abgrund zugeschüttet, den wir im Augenblick der Versuchung in unserm Herzen gähnen sahen, als wir zu Mord und Lüge und Euthanasie bereit waren -? Weh dem, der dies meinte! Es wäre trügerische Illusion, zu meinen, dies »gute Werk« habe die Versuchung getötet und es könne also gerecht machen und man dürfe sich seiner rühmen vor dem, der das Herz kennt und dem dieses Herz in keinem seiner Wallungen und Schläge entgeht (1.Kor.1,29). Diesem Manne wäre zu sagen, daß sein gutes Werk (warum sollte es nicht wirklich gut, blendend gut sein?) mit all seiner Güte unter anderem eben auch die Tarnungsdecke ist für sein Herz, ja daß er sein böses Herz vor sich und anderen und Gott selbst in guten Werken verbirgt. Inwendig aber ist er voll Totengebeine, voller Heuchelei und Untugend.

Das ist der Fluch derer, die aus Werken gerecht werden wollen: sie überwinden mit der großen Tapferkeit der Pharisäer die Versuchung – – und bleiben dennoch Versuchte, bleiben solche, in denen der Abgrund gähnt  und die Wunde blutet und die Kette rasselt, mit der sie gefesselt bleiben. Kein Mensch kann über seinen Schatten springen.

Hier wird das Geheimnis der Versuchung ganz klar: Sie wird nicht von außen, nicht durch Äpfel und Schlangen und »Gelegenheiten« in uns hineingeworfen, so wie man eine Fackel in einen Tempel wirft: nein, wir selber sind die Versuchten und sind als Versuchte allen Gelegenheiten immer schon vorweg.

9. Die Fata Morgana des Herzens

Damit hängt es zusammen, daß man der Versuchung nicht entfliehen, sondern nur darum bitten kann, daß Gott uns nicht in die Versuchung führe; denn man kann nicht so vor ihr fliehen, daß man in die »guten Werke« hineinflieht, um durch solche »Werke des Gesetzes« Gott recht zu werden und ins reine mit ihm zu kommen. Das ist darum unmöglich, weil wir uns selbst ja immer mitnehmen, wohin wir auch fliehen mögen; und wir selbst — nun: wir bleiben ja immer die Versuchten, die auf dem Sprunge Liegenden, die ungeschützte Grenze. Und folglich können wir der Versuchung nicht so entfliehen, daß wir vor den Gelegenheiten fliehen und daß wir etwa die so sündhaft schöne Welt meiden in der törichten Meinung, daß die versuchliche Welt dort draußen sei und nicht vielmehr in uns selbst, in unserem babylonischen Herzen:

Das große Babylon ist nur ein Scherz,
Will es im Ernst so groß und maßlos sein
Wie unser babylonisch Herz.

Nein: es gibt keine Einsamkeit und keine Wüste, in die wir fliehen könnten, um der Versuchung zu entgehen: Wo wir sind, da ist die Welt; und unser Herz ist nichts anderes als der Mikrokosmos dieser Welt. Deswegen geht das Gelüsten und Versuchen und Reizen und Locken immer mit (Gal.5,17).

Es ist gut, sich das klarzumachen. Denn nur so erkennen wir, daß du und ich das Thema in allen Versuchungsgeschichten sind und nicht etwa die arge Welt »da draußen« oder die »bösen Buben« oder die Schlangen und Äpfel. Nein: du und ich sind gemeint, wenn von Versuchung die Rede ist: unser leibhaftiges Fleisch ist’s, das wider den Geist gelüstet. Unser »rechtes Auge« ist’s, das uns ärgert, und unsere Hand, die uns versucht.

Ich meine: hierin werde der große Sinn dessen deutlich, daß Jesus einsam und abgeschieden ist, daß er in die Wüste mußte, um versucht zu werden. Hier in der Wüste ist das unübersehbar einsame Gegenüber von Gottessohn und Versucher. Hier sind alle Mißverständnisse ausgeschaltet, als ob die Versuchung etwas Zufälliges wäre, als ob sie ein Stück Welt und ein wenig betörender Tand wäre. Ach, wo sollte in all dem Sand, in all der schweigenden Unendlichkeit etwas zu finden sein, das den Menschensohn locken und betören könnte?

10. Der Schrecken der Einsamkeit

Es ist der Mensch in ihm, der hier versucht ist »gleich wie wir« (Hebr.5,15). Es ist der Mensch in ihm, den hungert und der Berge von Brot sieht, die seine Qual stillen könnten (aber wo sollte in dieser Wüste wirkliches Brot sein, das ihn verführte -?). – Es ist der Mensch in ihm, der die Zinne des Tempels erblickte und seinem Ehrgeiz einen phantastischen Ausblick eröffnet sah (aber wie sollte in dieser Wüste der wirkliche Tempel gesehen werden können, dessen Zinne ihn verführt hätte? – Nein, der lauernde Ehrgeiz, eben der Gedanke des Herzens zauberte jenes Bild hervor; der Weg der Versuchung geht von innen nach außen, nicht umgekehrt, und der Tempel ist eine Projektion). – Es ist der Mensch in ihm, den danach hungert und dürstet, ein Herr und Gott dieser Welt zu sein, und siehe: schon steht er auf einem hohen Berg und sieht das leuchtende Land und hört die Verheißung, daß ihm dies alles gehören solle, wenn … (aber wo in aller Welt ist in dieser Wüste ein wirklicher Berg, von dem er herabsehen könnte, und wo sollen in dieser Wüste jene glänzenden Länder zu sehen sein -? Nein, der lauernde, auf dem Sprung liegende, tigerhafte Hunger nach einem unendlichen Reich, nach unbändiger Kraft und betörender Herrlichkeit, dieser heimliche und noch nicht ausgedachte Gedanke des Herzens malt hier das Bild unglaublicher Möglichkeiten: eine tolle Fata Morgana des Herzens).

Ja: der Mensch in ihm begehrt auf, ist versucht. Den Menschen in ihm gelüstet es — mitten in der lustlosen Umgebung. Deshalb sind hier alle Mißverständnisse ausgeschlossen. Deshalb ist es klar, wo die Versuchung sitzt: daß sie nicht draußen lauert, sondern drinnen ist, daß sie nicht vor uns ist, sondern daß sie von hinten kommt und im Rücken steht. Nicht irgendein Satan steht zwischen Gott und uns. Sondern wir selbst stehen zwischen Gott und uns (indem uns der Arge »hat«), so wie der Mensch in Christus hier zwischen ihm und Gott steht.

Und wissen wir Menschen dies selber nicht allzu gut? Wußte das nicht auch der reiche Jüngling? Es war in letzter Linie eben doch nicht der Reichtum, der zwischen Gott und ihm stand, sondern er selbst stand an dieser Stelle, er, der sich vom Reichtum besitzen ließ. Er selbst war es, der eben nicht besitzen konnte, als besäße er nicht, und der tödlich erschrak, als er alles verkaufen sollte, was er hatte.

Nicht sein Reichtum, sondern sein Verkauftsein an den Reichtum war der wunde Punkt 3. So ist auch der Mammon nicht die eigentliche Scheidewand zwischen Gott und uns, sondern wir selbst sind jene feurige Zone, indem wir von jenen falschen Herren besessen werden: Knechte, die sich verkauft haben und hörig sind ihrem Drange, Kaiser und König und Gott zu sein oder auch der Mann im Märchen (wie dies der lächelnde Knabe Humor dann nennt). – Es ist nicht der babylonische Turm, der uns von Gott trennt: er ist nur ein Gleichnis, ein nach außen projiziertes Gleichnis für unsern Willen, von Gott getrennt zu sein. Dieser Wille baut den Turm. 

11. Der verwundbare Punkt

Nur deshalb, weil wir selbst die Versuchten und Verwundeten sind, ist es zu erklären, daß wir alle (und gerade wir modernen Menschen) eine so maßlose Angst vor der Einsamkeit haben. Wir wissen: hier stehen wir vor uns selbst. Nun müssen wir uns ins Auge blicken, und wen fürchten wir mehr als uns selbst! Jetzt ist es nicht mehr möglich, alles Entscheidende unseres Lebens und alles, was uns beschuldigt, nach außen hin abzuschieben. Wir sagen: »Das Weib, das du mir zugesellt hast…« – das hat es vollbracht. Nein! du bist’s. – »Die Schlange betrog mich also, daß ich aß« (1.Mo.3,13). Nein! du hast dich betrogen! — »Das Schicksal in meiner Brust oder das kosmisch gefügte Schicksal dort draußen – das hat es getan«, so rufen die Tragödien. Nein! du bist’s, du ganz allein. — »Meine Veranlagung, die du mir gegeben hast, die war es« (wobei »Veranlagung« immer als etwas außer mir Bestehendes, von mir Ablösbares, mich Überwältigendes verstanden ist) -, so ruft der Angeklagte nach mildernden Umständen und beruft sich auf »§51«.

Deshalb fürchtet der unerlöste Mensch die Einsamkeit: weil all dies, worauf er sich berufen könnte, hier fehlt, weil er sich selbst hier in geheimnisvollem Doppelgängertum begegnet und sonst nur ein großes Schweigen herrscht. Ja: man kann diese Einsamkeit nur mit vorgehaltenem Kreuz betreten (Kol.1,13), so wie der Mensch des Mittelalters sich der dämonischen Macht mit dem Kruzifix erwehrte.

Dies ist das Geheimnis der Einsamkeit: daß hier der Mensch am Ort seiner tödlichen Versuchung steht und sich aus tausend Spiegeln anblickt wie einer, der gefangen ist in einem Prunksaal. Deshalb flieht der Student seine Bude, macht sich zum anonymen Bummelanten der Hauptstraße und verkriecht sich in die Cafes: er hat Angst vor sich selbst. Deshalb nimmt der einsame Wochenendfahrer wenigstens ein Koffer-Radio mit: der kleine Kasten gibt ihm die Illusion, daß er nicht allein sei.

Deshalb fliehen wir – und gerade auch wir Christen, je angefochtener wir sind – in die Arbeit, in den betäubenden Betrieb, in Genuß und Begierde, aber jedenfalls in etwas. Und ist diese Flucht nicht in unserm öffentlichen Leben – durch unser Jahrhundert hin und in allen Kulturstaaten – schon zu Programm geworden? Ist nicht alles organisiert, sogar unsere Freiheit? Steht nicht überall eine Menge bereit, in der wir untertauchen können, berauscht, entzückt, orgiastisch, rasend, selbstvergessen, alles preisgebend, so wie man nur in der Masse sein kann, die einen trägt und untergehen läßt wie eine ungeheure Woge und dabei maßlos, maßlos beglückt -?

Und ist dieser Lebensstil des zwanzigsten Jahrhunderts nicht ein schauerliches Zeichen dessen, daß wir gnadenlos geworden sind, daß wir nicht mehr allein zu sein wagen, sondern daß wir vor dem Antlitz Gottes, das uns auf unsere Identität festlegen könnte, fliehen in das bunte Treiben? Fliehen in den rasenden Programmablauf unserer Feier- und Werktage, fliehen in all das, worin man untergehen, mit dem man sich entschuldigen und »rechtfertigen« könnte, so wie Adam das tat: Siehe, der Zeitgeist, dem ich unterworfen war… Siehe die Masse, in deren Strom ich willenlos getrieben wurde … Siehe, siehe, siehe …

Das ist es: Man kann die Einsamkeit nicht ertragen,
weil das Verhältnis zu Gott nicht in Ordnung ist. In der
Stunde der Einsamkeit wird sichtbar, daß es nichts
zwischen Himmel und Erde gibt, worauf wir uns berufen
könnten. Und deshalb läßt man diese letzte Einsamkeit,
in der Jesus hier an unserer Stelle steht, nie aufbrechen,
sondern verhütet sie mit allen Mitteln. Man läßt es nie
zu ihr kommen, so wie man es auch nie dazu kommen
läßt, Gott dem Schöpfer gegenüberzutreten, sondern
immer zu den ungefährlichen Göttern, zu den vierfüßigen, kriechenden und fliegenden Tieren und zu
Bildnissen vom Menschen flieht. Aber im Grunde weiß der Mensch – in der Gesellschaft dieser
seiner Götter – eben doch, daß ein Gott ist, der uns
erkannt hat und ein verzehrendes Feuer ist, auch wenn
er es lebhaft vermeidet, sich ihm auszusetzen.

Liegt nicht auch hier das tiefste Geheimnis der Todesfurcht? Der Tod ist entscheidend dadurch charakterisiert, daß er die Stunde der größten Einsamkeit bringt.
Menschen und Dinge bleiben zurück. König und Bettler, reicher Mann und armer Lazarus sind ganz allein.
Es ist wie ein Fall von einer Leiter: wir greifen nach einer Sprosse; aber siehe, alle Sprossen sind weg und wir greifen blind in die Luft. Kein Geldbeutel ist da, den wir schwingen könnten und der behende unsere Schuldner bezahlte. Und die Masse, in der wir untertauchten, bleibt zurück – spätestens am Hügel unseres Grabes. Und der Zeitgeist (wie trug er uns doch und wie wenig konnte man sagen, wo wir aufhörten und er anfing!…), der Zeitgeist brütet über Wassern, denen wir längst, längst entrückt sind und die uns nun nicht mehr tragen. Das ist die tiefste Einsamkeit, und deshalb fürchten wir den Tod. Denn nun wird Gott uns haben, wenn wir ihn nicht haben. Und deshalb umhüllt und umfriedet auch die Dichtung diesen Tod mit versöhnenden Illusionen und träumt vom Übergang in eine andere Form dieses Lebens, mit neuen Schlupfwinkeln und Kampffeldern und Barrikaden, mit neuen Massen und Geistern und Taumelkelchen.

12. Jesus unser Schicksal

So fürchten wir also die Einsamkeit und den Tod, weil da die Stunde kommt, in der wir mit unserer Schuld allein sind und in der wir uns selbst zum Gericht werden. Und deshalb läßt sich der Tod und die Einsamkeit – illusionslos – nur so ertragen, wenn die Gnade Gottes unser Leben trägt und der unser Heiland ist, der Tod und Hölle und alle Mächte unter seine Füße getreten hat. Wir können in die Einsamkeit der Wüste nur so gehen und wir können uns selber nur so gegenübertreten, wie es hier der Sohn Gottes tut: daß wir das Wort für uns streiten lassen (Matt.4,7) und nicht unser Fleisch und Blut und das heißt letzten Endes: daß wir Gott für uns kämpfen lassen, weil wir ihn zum Freunde haben dürfen und in Frieden mit ihm sind. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? – Gott ist hier, Christus ist hier (Röm.8,33)!

So verstehen wir, warum Christus vom Geist in die Wüste geführt wird, um die Versuchung zu leiden gleich wie wir. Wir fürchten die Einsamkeit, die ja immer eine Einsamkeit vor den Augen Gottes ist, weil hier die Wahrheit unseres Lebens hemmungslos aufbricht. Dieses Aufbrechen der menschlichen Abgründe – und das heißt: der Abgründe zwischen Gott und Mensch -, das duldet hier Christus an unserer Statt. Jesus lebt uns unser Leben an seiner geheimnisvollsten Stelle, nämlich in seiner Einsamkeit, vor. Darum gibt es nun keinen Punkt unseres Lebens mehr, auch nicht den teuflischsten oder alltäglich fadesten, an dem wir noch einsam sein könnten, wenn wir Jesus zum Herrn haben. Er ist ja der Bruder unserer Anfechtung und Einsamkeit, er ist »der Mensch gleich wie wir«, er hat Gott in diese Einsamkeit herabgezwungen und den Versucher besiegt. Er ist Bruder und Herr. Darum wollen wir mit ihm in die Wüste gehen und die Stationen seiner Anfechtung und tödlichen Einsamkeit mit ihm durchwandeln, so wie fromme Pilger an den Stationen seines Leidens niederknien.

DIE  ERSTE  VERSUCHUNG:  DIE REALITÄT DES HUNGERS

Der Versucher trat zu ihm und sagte ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, daß diese Steine zu Broten werden!

13. Der Ort der Anfechtung: Das reale Leben
An dieser Versucherfrage ist ein Doppeltes charakteristisch. Einmal: Die Versuchung des Herrn ergibt sich nicht aus Spekulationen, nicht aus Widersprüchen oder Ungereimtheiten in der Gottesfrage – wie wir Heutigen uns wohl ausdrücken würden. Ihn zerreißt nicht die Frage, wie es sich zusammenreime, daß Gott auf der einen Seite in unfaßlicher Allmacht über den Menschen erhaben sei, und daß er auf der andern Seite ins Verborgene des Menschen hinabschaue und sich seiner eben doch annehme. Mehr noch: Diese Ungereimtheiten und Widersprüche versuchen ihn nicht. Und doch ist gerade er, wie es scheint, ein lebendiges Zeugnis dieser Ungereimtheit und vieler anderer Widersprüche, zum Beispiel gerade jenes Widerspruchs zwischen Gottes überweltlicher Majestät und seiner väterlich tröstenden Nähe. Ist nicht alles dies Ungereimte in ihm da: Gericht und Gnade, Gott und Mensch, Jüngster Tag und Stall von Bethlehem? Ist Christus nicht ein wandelndes Problem, ein einziges Knirschen sich reibender und aufeinanderprallender Gedanken? Muß er nicht darum auch der wandelnde Gegenstand aller Zweifel sein?

Doch dem scheint nicht so: die Anfechtung Jesu ergibt sich keineswegs aus Gedanken und Spekulationen über Gott oder sich selbst, sie ergibt sich überhaupt nicht aus dem Geiste, sondern die Anfechtung Jesu ergibt sich aus einer ganz realen Tatsache: aus dem Hunger. Er hat vierzig Tage und Nächte gefastet und nun hungert ihn. Und an diesem höchst realen Punkt bemüht sich der Versucher, seine Gemeinschaft mit Gott zu gefährden.

Das ist wichtig. Denn in Wahrheit ist unsere Gemeinschaft mit Gott niemals dadurch in Frage gestellt, daß uns diese oder jene Lehre, sagen wir kurz: daß uns das Dogma rationale Schwierigkeiten bereitete: daß wir etwa die Menschwerdung Christi nicht begreifen könnten oder daß uns die Gnade und das Richtertum Gottes intellektuell unvereinbar schienen. Gewiß sind diese Schwierigkeiten in bedrängender Fülle da. Aber etwas ist ebenso gewiß: daß aus diesen Intellektualitäten niemals der Bruch mit Gott und die Anfechtung entstehen. Sondern wenn jene rationalen Schwierigkeiten eintreten dann ist das immer ein Zeichen dessen, daß etwas viel Realeres nicht in Ordnung ist, nämlich unsere Gemeinschaft mit Gott, unser Leben vor seinem Angesicht. Und nachdem wir so mit Gott in Unordnung geraten sind und unser Leben von ihm abgeschnitten haben, »nachdem« dies alles geschehen ist, forschen wir nach Gründen – und die stellen sich auch geschwinde ein. Im ersten Kapitel des Römerbriefes wird uns geschildert, daß die Heiden Gott in den kriechenden und fliegenden Tieren zu erkennen meinen. Man könnte also sagen, und nichts anderes will Paulus auch hier sagen, wo die Heiden dem einen Herrn, der in kein Bildnis oder Gleichnis zu bannen ist, untreu geworden seien und daß sie also – um unseren Ausdruck nun anzuwenden – der »Versuchung« zur Untreue und Abgötterei verfallen wären. Spräche man aber mit diesen Heiden, so würden sie diese ihre Götzen und Mythen gewiß mit vielen guten Gründen zu verteidigen wissen. Sie würden mit guten Gründen dartun, warum sie an Gott dem Schöpfer (an diesem in der Bibel verkündigten Schöpfer) irre geworden, warum ihr Glaube an ihn erschüttert sei und warum sie nun bei Göttern und Götzen und Weltanschauungen Zuflucht gesucht hätten.

 

14. Der Wunsch als Vater der Gedanken über Gott

Und doch wären alle jene Gründe nicht der wahre Grund für die Anfechtung der Heiden und für den Fall des natürlichen Menschen in seine Götter- und Götzenreligion: Dieser eigentliche Grund liegt auf keinen Fall in den Erwägungen des Verstandes (der etwa zu kurzsichtig, intellektuell zu schwach wäre für die Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung). Sondern dieser Grund für die Anfechtung liegt in der ganzen Haltung des Menschen Gott gegenüber, liegt darin, daß sie konsequent es ablehnen, Gott zu preisen und ihm zu danken und also in alledem die schuldige Ehre zu erweisen.

Der wahre Grund für die Anfechtung der Heiden ist also eine ungeheuer reale Tatsache: ihr gestörtes Verhältnis zu Gott. Diese ungeheuer reale Tatsache formt nun (aber erst nachträglich!) ihre Gründe, formt ihre falsche Erkenntnis Gottes, formt ihre Bilder und Religionen, formt die Wolken ihres Weihrauchs. Die ungeheuer reale Tatsache, daß sie Gott nicht anerkennen, bestimmt ihre Erkenntnis Gottes. Und daß sie ihn so nicht wahrhaben wollen, spielt ihnen nun nachträglich Gründe genug in die Hand, mit denen sie ihren Willen legitimieren. Wenn irgendwo so gilt es hier, daß der Wunsch der Vater der Gedanken ist, ja daß er erschreckenderweise der Vater unserer Gedanken über Gott ist. Wie billig sind Gedanken und Gründe zu haben, und wieviel realer und mächtiger ist das Leben und sind unsere Wünsche, welche die Gründe hervorzaubern – so viele und so zeit- und wunschgemäße, wie wir nur wollen! Es wäre eine wertvolle Aufgabe, die Geschichte der Philosophie als eine Geschichte der Wünsche und die Geschichte der Geschichtsschreibung als eine Geschichte der Wunschbilder und endlich die Geschichte der Religionen als eine Geschichte der frommen Wünsche zu schreiben.

Das Entscheidende, was hier gesehen werden muß, ist dies: Zweifel und Anfechtung ergeben sich nie aus Gründen, aus intellektuellen Zweifeln; sondern genau umgekehrt ergeben sich die Gründe für den Zweifel aus der immer schon vorangegangenen Versuchung, aus der immer schon empfangenen Wunde. Und deshalb müssen wir Gott bitten, daß er uns erforsche und uns erfahren lasse, wie wir es meinen. Denn wir wissen es nicht. Wir kennen unser Herz eben gerade nicht. Wir wissen nur unsere Gründe, und die sind nur ein Schatten der wirklichen Gründe, und die sind gleichsam nur ihr ideologischer Überbau. »Die Überzeugung ist eigentlich das, was die Gründe trägt, nicht die Gründe das, was die Überzeugung trägt«, – sagt Kierkegaard. Es ist nicht nur beim Diplomaten, sondern es ist wohl bei jedem Menschen so, daß er sich in seinem Reden und Begründen mehr verhüllt als offenbart.

Die Kunst der politischen Rede überhaupt – sowohl beim kleinen Moritz wie bei der offiziellen Persönlichkeit – besteht deshalb immer darin, daß man Gründe für sein Handeln sucht und »vorgibt« und dies Handeln eben damit in seinen wahren Zielen – für sich behält.

Und die Kunst der Diplomatie oder, in anderer Weise, auch der Seelsorge und der Psychiatrie besteht allemal darin, die Gründe zu durchschauen, das Herz anzusehen und also das eigentliche Leben zu erkennen, das jene Gründe vorschickte. Hinter den Gründen zeigt sich erst das wahre Leben, und dieses Leben ist dann die eigentliche Realität, die die Gründe erst emportreibt. Wie wir sind (real sind!), so ist auch unser Gott; und deshalb: Wie wir sind, so sind auch die Gründe, mit denen wir unsere Götter verteidigen und mit denen wir an Gott dem Herrn zweifeln – sind die Gründe, mit denen der Versucher arbeitet.

 

15. Die Schattenkunst der Apologetik

Das ist grundlegend wichtig: Wer im Feuer der Versuchung und im Glutofen der Anfechtung ist, der ist in der Regel auch in einem inneren Kreuzfeuer der Argumente, d. h. der Gründe für und wider Gott, für und wider Christus. Aber es wäre töricht, aus dieser Not heraus nun eine Hilfe von weiteren Gründen und schlagkräftigen Gegenargumenten zu erwarten. Diese hohle Kunst der Gegenargumente, die Abhilfe aus Versuchung und Irrewerden bringen soll, nennt man Apologetik. Diese Apologetik will eine Wissenschaft sein, die den Glauben verteidigt, und zwar wider die Anfechtung verteidigt. (Als ob der Glaube etwas wäre, was verteidigt werden könnte – ausgerechnet von uns! -, und nicht vielmehr etwas, das immer im Angriff wäre und das durchaus nicht auf die Zweifelsfragen der Menschen patentierte Antworten gibt, sondern den Spieß umkehrt und von sich aus fragt, radikal fragt und den Menschen ins Herz trifft.)

Nein: Mit Gegenargumenten und Gegengründen, mit Diskussionen und Apologetik die Anfechtung vertreiben wollen, das hieße soviel, wie den Schatten mit dem Schatten verjagen wollen. Es geht um etwas viel Tieferes in der Versuchung. Es geht darum, daß unser ganzes Leben im geheimen von Gott los ist, daß wir seine Gnade und Herrschaft nicht wollen und daß dies alles dann auch in unserm Leben überaus leibhaftig offenbar wird: in seiner Hast und Unbefriedigung, in seiner Lieblosigkeit und Untreue und vor allem in dem maßlosen Schreien und Reden, mit dem wir dies alles übertönen und uns und andere belügen wollen. Darum geht es, darum allein: Die Grundrealität unseres Lebens, unsere Gemeinschaft mit Gott ist nicht in Ordnung. Und dieser schreckliche Zustand des Unfriedens mit dem, von dessen Liebe wir doch nicht loskommen, sucht nun nach Gründen, die ihn rechtfertigen. Die Versuchung sucht nach Gründen wider Gott – wie Küstenbewohner, die einen Damm aufwerfen wider die hereinbrechende See. Und die Gründe und Argumente steigen aus ihr empor wie giftige Dünste aus einem Sumpf. Der versuchte Mensch denkt versuchliche Gedanken. Aber hierbei ist eben das Versuchtsein die Hauptsache. Die Realität, um die es geht, ist nur und ausschließlich diese akute oder chronische Krise unserer Gemeinschaft mit Gott. Die Gedanken, Gründe und Argumente, die dabei auftauchen, sind dieser Realität gegenüber nichts als die Träume, die nur ein Symptom der eigentlichen Krankheit sind.

Hier wird es erst ganz klar, warum man die Versuchung nicht mit Gedanken, nicht mit Apologetik bekämpfen kann. Man würde sonst Dünste mit Dünsten (mit Weihrauchdünsten?) und damit den Teufel mit Beelzebub austreiben wollen. Nein: es geht doch um einen Sumpf, der auszuräumen, um eine höchst reale Störung der mächtigsten Realität, nämlich unserer Gemeinschaft mit Gott, die zu beseitigen wäre. Also geht es nicht um Gedanken, sondern um eine Tat, die notwendig ist; also geht es nicht um Gründe, die heranzuführen sind, sondern um die Gnade und das unermeßliche Erbarmen Gottes, das wir erbitten müssen. Darum können wir nur bitten: Führe uns nicht in Versuchung, wir können aber die Versuchung nicht durch Gründe widerlegen. Diese Bitte und diese Lehre, zu bitten, ist die einzige Waffe, die Jesus uns schenkt. Es gibt keine andere. Es gibt kein Bekenntnis und keine Theologie, überhaupt nichts, was mit Logos und »… logie« zu tun hätte, dawider. Denn wir selbst und unsere Gedanken sind ja alle dafür. Sie blasen alle letzten Endes in das gleiche Hörn mit dem, der im Garten Eden zu blasen und zu sprechen begonnen hat. Der einzige, der dawider ist, ist Gott selbst und sein Wort. Und darum können wir ihn nur bitten: »Es streit’ für uns der rechte Mann.« Denn wahrlich: hier gibt es keine Waffe und hier (an dieser Stelle) gibt es auch keine nervige Faust, die sie schwingen könnte, sondern hier sind wir Schlachtfeld.

16. Hunger und Zweifel

Dies alles lernen wir so aus Jesu erster Versuchung: Sie ergibt sich nicht aus Gedanken, sondern die versuchlichen Gedanken ergeben sich aus einer Realität: aus der Realität des Hungers. Und ist der Hunger nicht auch etwas, das an die größte Realität unseres Lebens rührt: an unsere Gemeinschaft oder unsern Bruch mit Gott? Sind wir mit knurrendem Magen zum Gebet bereit? Und wenn wir gar verhungern? Stirbt dann nicht die Gemeinschaft mit Gott, die Frömmigkeit, die Religion mit uns selbst, verhungern nicht die Götter mit, so wie sie mit-sterben und mit-verhungern müssen, wenn die Völker untergehen, die sie verehrten, oder wenn die Kulturen sich wandeln, in deren Rahmen sie lebten (»Christentum« und »Untergang des Abendlandes«)? So verkünden es ja die Jünger und Meister des religiösen Mythus laut und begründen damit den Primat der biologischen Lebenssubstanz vor der Religion.

Dies alles sind versuchliche Gedanken, die aus der Realität »Hunger« emporsteigen. Und wenn es auch Gedanken sind, die der Arge eingibt und mit denen er in die wunden und schwachen Stellen unseres Lebens einbricht, so ist es doch bezeichnend, daß eben das Leben selbst in seinem realen Bestand, in dem, was mit seiner Fristung und Sättigung oder auch mit seinem Untergang und seinem Verhungern zu tun hat, versucht ist, und daß von daher jene zweifelnden und versuchlichen Gedanken wie eine Sumpfblase aufsteigen.

Davon weiß auch Jesus, wenn er uns das Vaterunser sprechen lehrt: Denn hierin knüpft er die Bitte um das tägliche Brot zusammen mit der Bitte um das Reich Gottes. So hoch wertet der Realismus der göttlichen Gedanken unsere reale körperliche Existenz, so hoch steht ihm der Leib, ja so gleichnishaft wichtig wird er für ihn. Ist nicht das ewige Wort selber Fleisch geworden und hat sich an diese unsere Erde gebunden?

Hier am Leibe, an der Realität unseres Lebens, dort, wo es um Fressen oder Darben geht – dort ist die verwundbarste Stelle für den Stich des Versuchers. Von dort steigen die versuchlichsten Gedanken empor. Dort ist vielleicht auch die Stelle, wo der marxistische Mensch seine erste Versuchung erlitt – wenn wir wagend und tastend einmal davon reden wollen. Auch die »Dreigroschenoper« weist darauf hin: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.«

Die Versuchung entsteht immer an der Realität unseres Lebens. Und dennoch ist festzustellen, daß selbst jenes Leibliche und brutal Physische unseres Lebens nicht der letzte Grund der Versuchung ist. Sondern ihr letzter Grund ist die noch tiefere, noch realere Realität unserer Gemeinschaft und unseres Bruchs mit Gott. Diese Realität, daß die Gemeinschaft mit Gott verloren ist oder auf dem Spiele steht; diese Realität, daß verlorene Söhne! – in  der Fremde wandern und nicht mehr aus Gott leben: das ist der eigentliche
Grund aller Versuchung, das ist die Ursache dessen,
daß wir Angefochtene, Geschlagene und Zerschlagene
sind.

Demgegenüber sind dann jene äußeren Realitäten, wie etwa die brutale Gefährdung unserer physischen Existenz, die Krankheit, der Hunger, die tausend Bedrängnisse – nur der Anlaß, an dem jene abgründige Macht aufbricht; sie sind nur die Mittel, nach denen der Versucher Hiobs und Jesu Christi und aller Propheten und Weltkinder greift. Und auch die irdischen Minister dieses großen Gegenspielers gebrauchen zu allen Zeiten und Orten sehr gerne das Mittel, »den Brotkorb höher zu hängen«, benutzen das Mittel des Terrors und der Existenzbedrohung, um die Knechte Gottes zu versuchen. Aber jene Mittel könnten uns nichts anhaben, wenn wir — nicht versuchlich wären und wenn wir nicht in einem Äon wandelten, der auf dem Weg vom Sündenfall zum Gericht ist.

Das also ist die große Lehre, die uns der Hunger unseres Herrn erteilt: daß der Versucher ihn bei der Realität seines Lebens und nicht bei spintisierenden theoretischen Fragen packt. Wir können an dieser Stelle nur ehrfürchtig und mit tröstlicher Gewißheit erkennen, wie tief ihn Gott »ins Fleisch gezogen« hat: denn an diesem seinem Fleisch, an seinem und unserm Körper, erlebt er die Versuchung, hier und nicht in seinem Haupt, das an die Sterne rührt, beginnt die Krisis seiner Gemeinschaft mit Gott.

An keiner Stelle kommt uns Jesu Versuchung so nahe wie hier. Eine Versuchung, die aus Gefühlen und Gedanken bestände, bliebe uns fremd. Denn Gefühle und Gedanken sind bei jedem wieder anders. Aber was Hunger ist und Not, was Schmerz und Todesangst sind, das weiß oder ahnt jeder. So hat uns Jesus Christus als unser Bruder die Versuchung vorgelebt, hat Schmerz und Anfechtung von seinem Körper, von der »Existenzfrage« her erfahren.

Er hat uns vorgelebt und vorgelitten.

Die Anfechtung aus den großen Realitäten, aus Schicksalsschlägen, Ungerechtigkeiten, Erdbeben, Kriegen, Revolutionen, die hat er in jener Stunde durchlitten. Es war die Anfechtung aus dem Schweigen Gottes, aus der großen Stille um Gott, der ihn eben warten, »sinnlos« warten ließ in den Stunden des Hungers und ihm aus den Steinen kein Brot erweckte.

» . . . Gott schweigt – -?!« Das ist die große Anfechtung bei jenen Realitäten.

Dürfte Gott schweigen zur Ost-West-Frage, dürfte Gott schweigen zu dem Erdbeben in Lissabon, dürfte Gott  schweigen zum Sterben eines jungen, reichen Lebens, dürfte Gott schweigen – wenn er wirklich Gott wäre?

 

17. Der Teufel auf dem Boden der Tatsache »Gott«

Wenn Gott wäre:  das ist das zweite, was jene Versucherfrage bestimmt. »Wenn es einen Gott gibt, muß er dir jetzt Brot geben … Wenn du Gottes Sohn bist, mußt du jetzt sagen können, daß diese Steine Brot werden.«

Das entscheidend Wichtige an diesem neuen Gedanken ist dies, daß sich der Teufel auf den Boden der Tatsachen stellt. Er stellt sich sehr kaltblütig und wie selbstverständlich auf den Boden der Tatsache, daß es Gott gibt. Das tat schon die Schlange im Paradies, als sie die Versucherfrage stellte: »Sollte Gott wirklich gesagt haben – ?« Diese Frage bedeutet doch dies: »Liebe Eva: über Gott wollen wir nicht streiten. Er ist eine Tatsache, mit der wir rechnen müssen (wie Balsam tröpfelt das in die fromme Seele der Eva!). Auch darüber will ich nicht mit dir streiten, daß er wirklich gesprochen hat, daß es so etwas wie ein solches »Wort Gottes gibt« (was kann man mehr verlangen, jubelt’s in Eva, warum nicht freudig ja sagen und mitmachen?). Ach nein, liebe Eva, ich stehe auch auf dem Boden dieser positiven Tatsachen. Doch über etwas anderes muß ich mit dir reden – in aller Sachlichkeit natürlich und streng loyal! -, ob er nämlich gerade dies… gesagt hat, ob er zum Beispiel gesagt hat, daß »ihr nicht essen sollt von allerlei Bäumen im Garten«.

»Nun ja« – fährt die Schlange fort – »und wenn er es auch gesagt hat, auch dann bin ich noch bereit, mich mit dir auf den Boden der Tatsachen (nämlich der Tatsache dieses >Wortes<) zu stellen. Aber dann muß sich ein ernster, verantwortungsbewußter Mensch doch fragen, was er mit jenem Wort gemeint hat, ob es so wörtlich zu verstehen oder nur dem Sinne nach aufzufassen ist und ob es dann in deinem Fall nicht ganz anders angewendet werden muß« (1.Mo.3,5).

So redet die Schlange mit dem Weibe und sagt dies alles mit ergreifendem Aufblick gen Himmel, zugleich preßt sie die Kiefer ernst aufeinander; sie ist ganz Verantwortung, ganz Fassung.

Wahrhaftig: Die Schlange ist kein plumper bolschewistischer Atheist, der gleich mit seiner Höllentür in das paradiesische Haus fiel: Die Schlange ist durchaus gottgläubig. Die Schlange weiß sehr genau um Gott – und zittert (Jak.2,19). Aber freilich, sie ist listig und geschickt und bringt es fertig, daß sie nur mit dem Schwanze zittert, während ihr Schlangenantlitz ruhig und voll faszinierenden Bannes ist. Jedenfalls: Sie steht auf dem Boden der Tatsache »Gott«. Und das ist gerade das Unheimliche und Bedrohende, das Abgründige, das Höllische an ihr, daß sie von hier aus arbeitet (trägt sie nicht darum auch die Maske des Lichtengels? (2.Kor.11,14). 

Aber noch mehr! Sie steht sogar – warum nicht? – auf dem Boden der Tatsache, daß Jesus Gottes Sohn ist. In den Bedingungssätzen (»wenn du…«) rechnet der Verführer durchaus mit dieser Tatsache. Er ist durchaus darauf gefaßt, daß Jesus seine ja nur aus taktischen Gründen von ihm angezweifelte Gottessohnschaft nun unter Beweis stellt und einige repräsentative Wunder tut. Der Versucher ist gar nicht so unvornehm, den Herrn zu blamieren und ihn auszulachen, weil er das Wunder nicht fertig brächte.

Nein, diese Blamage und Bankerotterklärung ist keineswegs sein Ziel. Er hat durchaus positive, aufbauende Absichten. Sein Ziel ist ganz anders. Sein Ziel ist gerade, Jesus zum Wundertun, zum Erweis seiner Gottessohnschaft zu veranlassen! Aber warum denn? Was könnte hierbei denn des Teufels Geschäftlein sein? Nichts Geringeres als dies: daß er, der Teufel, es ja dann wäre, der ihm das Gesetz seines Handelns vorschriebe. Er wäre dann der eigentliche Machthaber. Er wäre dann der, in dessen Namen und zu dessen Ehre jene Wunder geschähen, dessen Namen und zu dessen Ehre dann Jesus Gottes Sohn wäre.

Das ist die grauenvolle Folge dessen, daß der Teufel auf dem Boden der Tatsache »Gott« steht. Deshalb ist er so gefährlich in seiner Tarnung. Deshalb ist er so gefährlich als Verführer in der Kirche, als »Irrlehrer«, weil hier seine Eigenschaft, auf dem Boden der Tatsache »Gott« und eines positiven Christentums zu stehen, am wirksamsten in Erscheinung tritt. Man kann geradezu sagen: Das ist das Teuflische am Teufel, daß er so auf dem Boden der Tatsache »Gott« steht. Darum gilt er als Lügner von Anbeginn. Darum gilt er als »Affe« Gottes. Darum kann man ihn mit Gott verwechseln.

 

18. Rechner und Ränkeschmied

So müssen wir gewissenhaft darauf achten, in welcher Art der Versucher hier auf dem Boden der Tatsache »Gott« steht. Wieso steht der Versucher anders darauf als etwa Jesus?

Dies scheint entscheidend dabei zu sein: Der Teufel steht wohl »auf«, aber nicht »unter« der Tatsache »Gott«. Er steht nicht im Gehorsam – als Knecht oder Sohn – unter Gott, sondern er stellt sich, soweit er kann, außerhalb seiner Hoheitszone und sieht ihn von außen. Er beugt sich nicht unter Gott— aber er rechnet mit ihm. Er rechnet mit ihm, wie ein kluger Schachspieler mit seinen Figuren oder besser: wie er mit dem Brett rechnet, auf dem er spielt. Gott ist ein wichtiger Faktor, er ist der Faktor in seinen Ränken. Und nur insofern steht er auf dem Boden der bitteren Tatsache »Gott«. Das bedeutet also nichts anderes als dies: Er rechnet mit ihm als einer Realität, die er in sein Spiel einbaut und die er als teuflischer Spieler so nur »von außen« sieht. »Von außen«, das bedeutet: Er sieht sie nicht aus dem Hause Gottes, im Lichte Gottes, er sieht sie nicht mit den Augen des Sohnes und des Knechtes (Joh.10,27), sondern er sieht sie eben – aus der Hölle. Was ist aber die Hölle anderes als dieses »Außerhalb« Gottes, als dieses schlechthinnige Ausgeschlossensein?

»Wenn Gott Gott ist und wenn du sein Sohn bist, dann müßte er und dann müßtest du doch jetzt diese und diese Konsequenzen ziehen. Jawohl: >Konsequenzen<, mein Lieber, denn ich drücke mich gern logisch und exakt, streng naturwissenschaftlich und dennoch populär aus. Zum Beispiel wäre hier in der Wüste nun die Konsequenz zu ziehen, daß du Brot machst…«

So rechnet der Teufel und spielt Schach mit Gott. So arbeitet er »von außen« her mit menschlichen und göttlichen Figuren. Und es ist gut, wenn man sich das Wort des Verführers einmal so in Gestalt eines logischen Exempels klarmacht: Gott wird unter seinen argen Händen zur Prämisse in einem Satz – der Teufel rechnet ja mit der Tatsache »Gott«! -, zu einer Prämisse, aus der man dann Konsequenzen zieht, die einem recht sind. Und was hätte dem hungrigen Menschen Jesus erwünschter sein können, als daß es gestimmt hätte: Aus Gott folgt, daß ich jetzt Brot kriege? Aus Gott folgt, daß es dem Gerechten gut geht und daß er nicht zu hungern braucht. Aus Gott folgt, daß Frömmigkeit Glück ist und nicht ein – menschlich gesehen – sinnloses Abenteuer mit dem Jenseits? Muß nicht jeder, der A sagt, auch B sagen? Und muß nicht jeder, der »Gott« sagt, auch dies andere sagen: Brot, Gerechtigkeit, Friede-?

So geht das Rechenexempel des Versuchers, in kluge Sätze der philosophischen Logik oder auch des natürlichen Menschenverstandes gehüllt, immer weiter: »Wenn es einen Gott gäbe, dann müßten seine Christen erlöster aussehen« (das ist: gleich: aus Gott folgt, daß man und daß die Welt erlöster aussieht).

Wenn es einen Gott der Liebe gäbe, dann dürfte es keine Kriege, keine Naturkatastrophen, keinen Krebs, keine Irrenanstalten geben.«

»Wenn es einen Gott der Gerechtigkeit gäbe, dann müßte ein Blitz herniederfahren und die Mörder und Blutschuldigen und Gewissenschänder aus allen Zeiten und Enden der Erde treffen – ja dann müßte wirklich die Weltgeschichte das Weltgerichte sein . . . «

Sollte Jesus Christus die erste Versucherfrage nicht vor dem Hintergrund all dieser andern Fragen und Rechenexempel gesehen haben? Sollte er nicht das düstere Heer dieser Zweifel und Anfechtungen auf den Fersen des Versuchers erblickt haben, jenes Heer, das nun wirklich die Luft erfüllt, und wie mit unzähligen Habichtschnäbeln auf das unbewaffnete Gewissen der Menschen niederstößt?

Doch wahrlich: all dies hat Christus in dieser Stunde, die nächst dem Kreuze die düsterste seines Lebens war, gesehen. Und wir dürfen sagen, daß er in dieser Stunde seinen Kreuzweg begann und die Sünde und die Zweifel der Welt in einem ersten mächtigen Ruck auf seine Schultern lud.

Es geht eine gerade Linie von dieser Stunde in der Wüste bis hin zu jener andern Stunde, da die Sonne ihren Schein verhüllte und der Vorhang im Tempel zerriß. Denn hier kam der Versucher noch einmal im Dunkel der Nacht auf das Kreuz zu und bildete einen klugen Rechensatz über die Tatsache »Gott«, zog ein faszinierendes Fazit: »Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab…« – »Merkst du nicht, du schmerzvoll Gekreuzigter, daß es aus deinem Berufe folgt, daß du herabsteigen und uns führen und das Gottesreich errichten mußt?« – »Merkst du nicht, Kirche des Kreuzes, merkst du nicht, du verfolgtes Häuflein, daß du nicht unter die Übeltäter und Staatsfeinde gehörst, unter die du gerechnet wirst? Siehst du nicht, wie der Allmächtige deine Verfolger segnet und in der Glorie ihrer Siege und Triumphe gepriesen sein will? Hier ist darum dein Platz, Kirche. Gott und dir und deinem Meister
gehört der Ehrenplatz in der Geschichte. Und dieser
Ehrenplatz ist dort, wo die Geehrten und Vergötterten
sitzen. Zu ihnen mußt du dich setzen. Zu ihnen darfst
du dich freudig bekennen. Denn sie hat Gott gesegnet.
Und aus dieser segnenden Bestätigung folgt, daß du
als Kirche dieses Gottes zu ihnen gehörst.«

»Gott ist ein Gott des Lichtes. Daraus folgt, daß du
bestimmt bist, an der Sonnenseite des Lebens zu wohnen: bei den Königen und Großen, bei den Weisen und
Starken, dort, wo die Volkesstimme laut ertönt und die
Gottesstimme preist, die aus ihr spricht. Dorthin gehörst du, dorthin! Denn aus Gott folgt — Glorie, nicht
Kreuz. Aus Gott folgt — Einigkeit mit der Welt, nicht
Ablehnung und Gericht. Darum, du Kirche des Gottes
Sohns: Steige herab, steige herab!«

Und nun steht Jesus vor diesem Rechenexempel, das so
niederschmetternd genau aufgeht.
Aber er weiß: Diese Folgerungen (diese erstaunlich
richtigen Folgerungen!) aus der Prämisse »Gott« sind
nicht nur dem Menschen in ihm, sondern vor allem dem
Teufel erwünscht. Denn was könnte dem Teufel erwünschter sein als – zwar den Gottessohn Gottessohn sein zu lassen, so wie ein siegreicher Revolutionär ja auch einen König beibehalten kann als seinen Popanz-, aber ihm dann das Gesetz des Handelns vorzuschreiben? Was könnte ihm lieber sein, als die Macht
des Gottessohnes in seine Gewalt zu bringen und ihn
nach seiner Pfeife tanzen zu lassen?

So hat er eine farbige, frohe Vision. Er meint, in die
Zukunft zu sehen, in eine Zeit voller Triumphe, die
sich alle aufbauen werden auf den einen Sieg, den er im
nächsten Augenblick nun erringen wird; so bewegen
sich leise seine Lippen, weil es ihn drängt, die betörende
Vision dieser Stunde in Worte zu fassen.
»Der Gottessohn und seine Kirche tanzen nach meiner
Pfeife! Sie sind auf der Sonnenseite des Lebens, auf der
Seite des Erfolges, auf der Seite der größten Machthaber zu finden, sie geben dem allem die religiöse
Weihe. Ja: dem Gottessohn und seiner Kirche diktiere
ich das Gesetz des Handelns; ich bestimme, was der
Allmächtige, segnen und wozu die Kirche amen sagen
muß; ich bestimme, wie die Kirche aufzufassen ist und
was aus dieser Auffassung folgt. Ich bestimme, was sich
aus alledem ergibt für Leben und Lehre der Kirche, für
ihre Öffentlichkeit, überhaupt für das ganze Verhältnis
der Kirche zu jenem Reich, dessen Herr ich bin: nämlich
zur Welt.«

 

19. Die teuflische Konsequenz

 Dies alles sieht Jesus. Er sieht, wie eifrig der Teufel darauf bedacht ist, das Gesetz des Handelns – auf dem Boden der Tatsache »Gott« in die Hand zu bekommen. Er sieht, wie seine Strategie mit den verblüffend aufgehenden Rechenexempeln: »Aus Gott folgt…« arbeitet. Aber er weiß auch, daß der Teufel hier blufft. Er weiß: wer diese teuflischen Konsequenzen aus der Prämisse »Gott« zieht, der hat schon jene Prämisse gefälscht.

Was der Teufel unter Gott und Gottessohn versteht, das ist eben nicht Gott, sondern der Affe des Teufels, den er springen und tanzen, Brot machen und von seinem Kreuz herabsteigen lassen kann nach seiner Manier. Dieser Gott ist nicht der Herr des Teufels, sondern sein Knecht. Er wird benutzt, um die ganz großen Dinger für ihn zu drehen und mit seinem gestohlenen Namen zu sanktionieren. Indem dieser kluge Stratege so seinen Apfelgott wie eine Marionette an seidenen Fäden tanzen läßt und ihm das Gesetz des Handelns diktiert, benutzt er ihn, um die Menschen in seine Macht zu bringen:

Er »benutzt« ihn als Opium für das Volk, um die irdischen Machthaber religiös zu glorifizieren. Er »benutzt« ihn, damit er ein religiöses Kitt- und Bindemittel sei. Er »benutzt« ihn als Gegenstand der mythisch religiösen Kulte, in denen die Zeiten das Idol ihrer Gottgleichheit anbeten und die große Messe von ihrer Ewigkeit zelebrieren. Und wie der Teufel dies alles unter der Decke biblischer und christlicher Worte tut, so kann er auch das Christentum selber zu einem solchen Mythus und zu solchem Opium machen. Er »benutzt« es, »benutzt« es, »benutzt« es. Und die Augen derer, die er als Herr seiner Welt betört, verlieren den Blick für das Blasphemische dessen, daß die göttliche Majestät hier das Mittel zu einem Zweck wird, und sehen nicht mehr die schaurige Verkehrung der Wahrheit: Von ihm, durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen. (Röm.11,36)

Wahrlich, der Versucher treibt ein gewiegtes Spiel. Er weiß: Wenn das Volk nicht für Gott da sein will, sondern Gott für das Volk da sein soll (so ähnlich wie die Wirtschaft mit Recht für das Volk da ist und nicht umgekehrt), dann ist das Volk auf seiner, des Argen, Seite, dann lebt es mitten im orgiastischen Kult und mitten in der frommen Zitierung heiliger Worte – zur größeren Ehre der Blasphemie.

Das ist der letzte Satz des Versuchers, der mit »Wenn…« beginnt. Und diesmal stimmt die Prämisse und stimmt die Konsequenz. Aber diesen Satz spricht er nicht aus. Er sagt ihn voller Triumph nur zu sich selber oder vergräbt ihn in seiner schwarzen Seele, dort, wo sie am tiefsten ist. Denn dieser Satz mit »Wenn…« ist die listige Pointe seiner Anschläge. Und die verrät ein kluger Stratege nicht, sie ist sein Geheimnis. Und wir wüßten sie bis auf den heutigen Tag nicht, wenn Christus nicht hier in der Wüste gestanden und dann an seinem Kreuz gehangen hätte und wenn er ihm nicht in Kampf und Leiden die letzte Tiefe seiner schwarzen Seele ausgeräumt und aller Welt offenbar gemacht hätte.

Wir ziehen das Fazit jener ersten Versucherfrage: Der Versucher steht eben nur scheinbar auf dem Boden der Tatsache »Gott«. In Wahrheit gebraucht er nur fromme Vokabeln, redet von Gott und Gottessohn und Religion, aber »von außen« her, von dort her, wo Gott konsequent: und kategorisch nicht anerkannt wird, auch wenn man ihn tausendmal kennt (und zittert!), von dort her, wo nicht ein Hauch jenes Geistes weht, indessen Namen wir allein Jesum einen Herrn und Gottessohn heißen können (1.Kor.12,3), von dort her also, wo die Hölle ist.

Und im Feuer dieser Hölle werden alle Begriffe umgeschmolzen: Gott wird – unter der Hand – Nicht-Gott. Christus wird Diener der dämonischen Glorie. Kreuz wird Bankerott. Wahrlich, es ist mehr als nur ein Symbol, nein, es ist der wahre Abgrund dieser Geschichte, daß die Versuchung beginnt mit: »Wenn du Gottessohn bist…« und daß sie schließt mit: »Wenn du niederfällst und mich anbetest…« Beides sind die Friedensbedingungen der gleichen dunklen Macht. Aber siehe, sie wird entmächtigt.

 

20. Der Gehorsam Jesu

So begegnet Jesus der teuflischen Konsequenzmacherei:»Es ist geschrieben: Der Mensch lebt nicht einzig vom Brot, sondern von jedem Wort, das von Gottes Mund ausgeht.«

Gewiß: der Hunger schreit in ihm. Und wie er selbst der Stellvertreter der Menschen ist, so ist auch sein Hunger der Stellvertreter aller Nöte und Bekümmernisse. Darum schreit mit seinem Hunger die ganze Not der Menschen in ihm, es schreien ihre Krankheiten und Schmerzen und das viele, viele Leid, der Jammer der Gefängnisse und Irrenhäuser, das Blut der Kriege, es schreit die Sinnlosigkeit von so vielem, und es schreien die Tränen von unendlich vielen Nächten.

Der Hunger des Gottessohnes ist ein unheimlicher Hunger, denn in ihm lebt die Qual aller Versuchung, die das Leid den Menschenbrüdern bereitet. Wirklich: er trägt das Leid der Welt. Die Stunde des Kreuzes hat ja begonnen. Und nun ist ihre erste Minute.

Gewiß, es schreit »Hunger« in ihm. Aber er weiß, daß nicht das geschaffene Brot es ist, das ihn stillt oder uns erhält. Nicht die Früchte des Feldes ernähren uns, nicht die prangenden Saaten, die wir im Sommer dankbar und ehrfürchtig durchschreiten, sondern Gott ernährt uns nur mit ihrer Hilfe. Es sind die Mittel seiner guten Hand.

Das bringen wir in unserem Erntedank zum Ausdruck: denn darin danken wir doch nicht dem Bauern oder der mütterlich fruchtbaren Natur, sondern mit diesen beiden und mit dem ganzen Kosmos danken wir der Güte des Herrn, der seine Hand aufgetan und alles, was lebet, mit seinem Wohlgefallen gesättigt hat.

Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land;
doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand.
Der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf,
und träuft, wenn wir heimgehen, Wuchs und Gedeihen drauf.

Der sendet Tau und Regen, und Sonn- und Mondenschein,
der wickelt Gottes Segen gar zart und künstlich ein,
und bringt ihn dann behende in unser Feld und Brot;
es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott.
(Matthias Claudius)

 

21. Die Larven Gottes

Es wäre eine arge Sünde und gehörte mit in das höllische Rechenexempel hinein, wenn wir unsere Hände und die Nahrung, die sie halten, mit Gott selber verwechseln wollten: das wäre nichts Geringeres als die Schändung des täglichen Brotes. Aber dieser Glaube an das Brot statt an den Vater, der es seinen Kindern gibt, liegt ebenso auf der Lauer wie der Glaube an die Schöpfung statt an den Schöpfer, an den Bauern statt an den Herrn des Bauern. »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr suchet mich nicht darum, daß ihr Zeichen gesehen habt, sondern daß ihr von dem Brot gegessen habt und seid satt geworden«, ruft Jesus in Bitterkeit aus, als er den Fünftausend zeichenhaft Nahrung gegeben hatte. Das Zeichen verliert in den argen Händen der Menschen seine Durchsichtigkeit, sie sehen nicht mehr den Meister dahinter, der mit ihm auf etwas zeigt und mit ihm Gott preisen möchte, sie fühlen nur noch das wohlige Gefühl vollkommener Sattheit, und so wird der Bauch ihr Gott und mit ihm das Brot und also die Gabe Gottes statt des Gebers.

Der Versucher verfährt mit der Gabe Gottes genau so wie mit Gott selbst. Auch hier stellt er sich auf den Boden der Tatsachen. Natürlich würde er bereitwillig erklären, sobald Jesus Brot aus den Steinen gemacht hätte: »Dies ist dein Werk und also auch Gottes Gabe (denn du bist ja Gottes Sohn). So darfst du deinen Hunger mit ihr stillen.«

Aber gleichwohl wäre an dieser Gabe Gottes, die so der Teufel bewirkt, eines anderes geworden, was sie eben zur Gabe des Teufels gemacht hätte: sie wäre Gott entrissen worden, sie wäre ein Zeichen des Ungehorsams und der Vertrauenslosigkeit geworden. Denn Jesus hätte in seinem Hunger mehr auf das Brot als auf Gott vertraut. Er hätte nicht mehr zu glauben gewagt, daß der Mensch von einem jeglichen Wort lebt, das aus dem Mund Gottes geht, und daß dieses Wort erhalten und nähren kann auf die vielfältigen Weisen, die seinem göttlichen »Es werde…« zur Verfügung stehen und von denen nur eine das Brot ist (Markus 8,1-9).

Er hätte nicht mehr zuerst nach dem Reiche Gottes getrachtet und nach seiner Gerechtigkeit und sich Brot und Fische, Butter, Fleisch und Obdach »zufallen« lassen. Nein, er hätte gierig nach diesen »Zu-fall«-Gaben gegriffen und mit der andern Hand – er war doch Gottes Sohn! – das Reich noch als Dreingabe zu behaupten gestrebt: Und so wäre dies Reich wirklich mit sich uneins gewesen. Denn der Versucher hätte die höllischen Ketten zerrissen und wäre mit starkem Fuß auf den Plan getreten, wäre der heimliche Usurpator des Reiches geworden.

So wäre dem Versucher, der auf dem Boden der Tatsache »Gott« steht, nicht nur die Fälschung Gottes, sondern auch die Fälschung seiner Gabe gelungen. Es gibt nichts zwischen Himmel und Erde – kein menschliches Werk, keinen edlen Willen, keine Gabe der Schöpfung, ja nicht einmal das Haus Gottes -, dessen er nicht mit diabolischer Tücke habhaft werden wollte und das nicht wehrlos, aus eigener Kraft wehrlos, seiner Bemächtigung preisgegeben wäre.

Aber mitten bei diesem klugen Versuch wird der Teufel geschlagen. Jesus tut das ganz einfach dadurch, daß er von seinem Hunger weggeht und sich auf der Burg Gottes und seiner Verheißung verschanzt, daß er sich auf jenes Wort, das  aus seinem Munde geht, stellt, wie auf eine trutzige Feste. Denn wahrlich: in diesem Worte weht der Odem, der Menschen und Dinge schafft und der die Gestalt der Erde erneuert.

In diesem Worte werden die Gedanken gedacht, die höher sind als unsere (Brot-, Fleisch- und Fisch) Gedanken, und die Wege gegangen, die höher sind als unsere (Sorgen- und Arbeits-) Wege. Gewiß: wir kennen diese Wege und Gedankt nicht, mit denen er uns führt. Wir kennen den Ort und die Zeit und die Art nicht, worin und wonach uns Gott sättigt.

Nein, wir sehen oft nur weichende Berge und fallende Hügel (Jes.54,8) und ein in Zorn verborgenes Angesicht. Wir sehen und spüren oft nur den Hunger. Aber wir kennen das Ziel, das Gott verfolgt, und die Verheißung, die unserem Glauben gegeben ist: Welche Wege der Vater auch gehen und welcher Mittel er sich bedienen mag, was immer als düstere Wolke vor Gottes Liebe zu hängen scheint (Röm.8,35): es ist dennoch die Liebe, die den Bund seines Friedens nicht hinfallen läßt, und welche die Geschichte seines Heiles, allen Irrsalen der Menschen zum Trotz, eben doch an seinem Throne zu Ende bringt.

Er ist der, der unsere Wangen frisch und rot macht, der den Kühen Weide und den Kindern Brot gibt und der den Seinen eben nicht eine Schlange, sondern einen Fisch, und nicht einen Stein, sondern Brot gibt. Gott will nicht, daß wir an seine Mittel glauben, mit denen er unser Leben sättigt – so daß wir meinen, nur vom Brot leben zu können -, sondern daß wir ihm glauben wie die lieben Kinder und zu ihm sagen: »An Mitteln fehlt dir’s nicht« (Paul Gerhardt).

Mit alledem will er nichts anderes als eben dies, was Jesus hier dem Teufel sagt: daß wir uns ganz dem Versprechen und der väterlich gütigen Zusage Gottes unterstellen. Und das heißt: daß wir nicht vom Brote leben, sondern von jenem Worte Gottes, das uns Brot und Leben verheißt und die Felder zur Sommerzeit golden wogen läßt!

 

22. Der Geist der Sorge

So können wir im Hunger und in der Ausweglosigkeit stehen, in der politischen oder kirchlichen oder privaten Ausweglosigkeit und in beklemmenden welthistorischen Perspektiven, ohne kleingläubig zu sein oder um Wege zu sorgen. So können wir auf den Wogen wandeln, ohne kleingläubig und dann auch versinkend nach Mitteln und Rettungsringen zu schauen, auf die wir unsere Hoffnung setzen (Matth.8,25).

Dieser Geist der Sorge, der unser Leben durchzieht, ist der Geist der Klein- und Falschgläubigkeit. Denn Sorge bezieht sich immer auf die Mittel, mit denen man allein meint, seine Sorge loszuwerden: Man ist besorgt um Lebens-Mittel, um finanzielle Mittel, um politische Mittel als die einzige Rettung, als den Weg aus der Ausweglosigkeit. Man lebt vom Brot allein; Sorge ist nichts anderes als die Anbetung dieser Mittel, als die Anbetung des Brotes — oder des irdischen Brotherrn, der den »Brotkorb höherhängen« kann.

So wird hier ganz und gar deutlich, warum die Sorge Klein- und Falschglaube ist. Sie ist innerhalb der Praxis unseres Lebens genau das gleiche, was die Götzenanbetung auf religiösem Gebiet ist: die Anbetung des Geschöpfes statt des Schöpfers, der Hilfe statt des Helfers, der Wege statt des Herrn, der Arznei statt des Arztes, des Brotes statt des sorgenden Vaters. Hüben und drüben ist Kleinglaube und Vergötterung die tragende Kraft. Wo man Gott zur Tür hinausjagt, da steigen die Gespenster zum Fenster herein, die Gespenster der Sorge und der anderen Götter.

Ist es nicht fromm, Götter zu haben und sie anzubeten? – Und doch kniet der Arge neben uns. Ist es nicht fromm, Brot zu machen (natürlich im Namen Gottes!) und es anzubeten? Und doch hat der Arge dies Brot zu Gott gemacht und es mit frommer Gebärde an seine Stelle gesetzt. Gott ist erschlagen mit dem Brot, das er seinen Kindern brechen wollte. Das ist das Kainszeichen an der Stirn der Sorge.

 

23. Die Fronten in unserer Brust

Dies ist so das große Bekenntnis, das Jesus hier ablegt: »Gottes Verheißung erhält mich, sie allein. Ich lebe im Glauben an sie und nicht im Schauen des Brotes. Nein, ich sehe kein Brot und bin am Verhungern; ich sehe kein Wasser und bin am Verdursten; ich sehe keine Menschen, die an mich glauben und doch soll ich ihnen das Reich bringen.«

»Ich sehe wie Abraham kein Vaterland und keine Freundschaft und keine Kinder, und dennoch glaube ich an deine Verheißung, daß du mir Kinder geben willst wie den Sand am Meer und wie die Sterne am Himmel. Allein dein Wort soll mein Bangen und Hoffen leiten, allein deine Verheißung,  allein deine Gnade,  lieber Vater, immer nur du allein bist meine Hoffnung –!« (1.Mo15,2). So glaubt Jesus nicht an das Brot, sondern an die Verheißung; er glaubt »an ein jegliches Wort, das aus dem Munde Gottes geht«. Und wenn dies Wort ihm nun Brot beschert in seinem großen Hunger, nun, dann wird er Gott danken, es brechen und mit Freuden essen. Und wenn das gleiche Wort ihm den Brotlaib versagt – dann wird er weiter hungern und der Verheißung Gottes glauben, daß er ein großes Werk mit ihm vorhat und daß er nicht verhungern wird. Das leibhaftige Wort Gottes – das allein ist der Herr dieser Stunde, von dem Jesus lebt.

Und so zeigt sich das Merkwürdige und Wunderbare: Jesus tut nichts weiter, als daß er dies Wort wider den Versucher antreten läßt und daß er selbst nichts weiter ist als ein treuer Gefolgsmann dieses seines Feldherrn. Es ist nicht Tapferkeit, Disziplinierung des Hungers, es ist nicht Widerstandskraft, Angriffsfreude, die er hier dem Versucher entgegenstellt (wer würde zu leugnen wagen, daß er dies alles auch und gleichsam nebenbei in jener Stunde besessen hätte). Dies alles ist ja nur »Fleisch und Blut« und hält dem Versucher nicht stand. Denn das, was die Versuchung von allem andern Kampf und vom Kämpferischen selbst unterscheidet, ist dies, daß sie sich im Menschen abspielt, daß sie das Herz des Menschen selber aufteilt in zwei Fronten, zum Beispiel hier in die Front: Treue zur Verheißung, Treue zur Treue Gottes, und auf der andern Seite in die Front der Zweifelsfrage: »Sollte Gott seine Verheißung wirklich so verstehen, daß du jetzt hungern mußt? Und nicht vielmehr so, daß dir jetzt Brot verheißen ist, daß du nur diesen Steinen zu sagen brauchst: Werdet Brot -?«. Es ist also gerade nicht so – wie bei allem sonstigen Kampf -, daß wir Menschen da in einer Front stehen und eine andere gegen uns heranmarschiert, so daß wir hier stehen und die andern dort; so daß wir – etwa – Christi wären und drüben käme der Antichristus, so daß wir – etwa – der Welt entnommen wären und drüben käme die Welt.

Ja, wenn es so wäre, dann könnte Tapferkeit und Einsatzwille helfen, und wenn es auch nur die Bereitschaft des Soldaten von Pompeji wäre.

Aber leider liegen die Dinge anders: Dies alles marschiert nicht von außen heran, sondern all dies marschiert auf der Stelle – mitten in unserer eigenen Brust: Der Antichrist ist darin, und die Welt ist darin, und die Grenzscheide zwischen ihnen und uns verläuft mitten durch unser eigenes Herz: Wir sind Welt und Reich Gottes; wir sind gerecht und Sünder zugleich. Das ist es ja: Wir sind immer schon Versuchte, der Versucher ist immer schon in unserm Herzen. Er kommt nicht als Feind, sondern als Freund. Und so hat er Schlüssel und Eintrittskarte und Vertrauen immer schon gestohlen und ist mittendrin. Er stand und steht ja doch auf dem Boden der Tatsache »Gott«. Er sagte so freundlich das gleiche, was wir auch schon immer gedacht hatten: »Sollte Gott wirklich gesagt haben? Sollte er es nicht so gemeint haben … ? Würde es ihm nicht entsprechen, wenn du jetzt dies und das tätest, statt sein Wort allzu wörtlich zu nehmen?«

Noch mehr: Der Versucher ist so sehr in unserm eigenen Herzen tief drinnen, daß seine Stimme nicht von der Stimme dieses Herzens selbst und vom Raunen und Rauschen unseres Blutes zu unterscheiden ist. Er ist so sehr darin, wie später Christus darin sein wird und wie wir in Christus sein werden. Wir dienen ja immer einem Herrn (Matth.6,24).

 

24. Das kosmische Schauspiel

Wer hätte das als Christ in dieser unserer Zeitenwende noch nicht erfahren und erführe es nicht immer wieder, daß unser Glaube und unsere Treue uns aus den Händen hinwegrinnt wie Sand, den auch die stärkste Faust nicht zu halten vermag? Oder wäre es anders? Sollten wir Gott so und in der Art treu sein können, wie man etwa einer Fahne treu ist, mit der zu stehen und zu fallen man geloben, und zwar ernsthaft geloben kann? Wie einfach wäre das Christsein – oder wie schwer? -, wenn es sich so verhielte! Aber es ist mitnichten so. Wir können gerade nicht treu sein, an diesem Punkt und aus eigener Kraft wahrhaftig nicht, nein! Denn jene Mythen und Kulte – das sind ja unsere Mythen und Kulte, das ist unser Herz, das hier schlägt, oder – wie man theologisch sagt – das ist der »natürliche« Mensch, der »Adam« in uns, der hier laut wird. Und was in unserm Herzen heimlich flüstert, das tritt uns von der Front der Antichristentümer und Menschenmythen her nur vergrößert und programmatischer entgegen und ist hier zur Fahne und zum offenen Bekenntnis geworden.

Deswegen können wir nicht mit Fleisch und Blut widerstehen, denn unsere Front ist zersetzt, und diese Welt liegt im Zwielicht zwischen Gott und Satan. Der Abgrund der Versuchung gähnt nicht vor uns, sondern in uns. Und darum können wir Gott nicht treu sein, sondern Gott muß uns treu sein. Darum können wir seine Hand nicht halten, sondern er muß unsere Hand halten. Deswegen können wir nicht für ihn kämpfen, sondern er muß für uns kämpfen (»Es streit’ für uns der rechte Mann…«). Darum können wir Gott nicht lieben, sondern er muß uns zuerst lieben (1.Joh.4,19).

Und erst nachdem dies alles an uns geschehen, aus unergründlicher Güte uns widerfahren ist, erst nachdem Gott uns seine Treue kundgetan und die Äonen gewandt und es Weihnachten hat werden lassen auf dieser armen Erde, erst jetzt kann es heißen: »Lasset uns ihn lieben . . .«. – »Nun sei auch du getreu bis in den Tod«. – »Nun preise auch du Gott an deinem Geiste und an deinem Leibe« (1.Kor.6,20)  – »Nun ergreife auch du den Schild des Glaubens, mit welchem du auslöschen kannst alle feurigen Pfeile des Widersachers« (Eph.6,16), denn siehe: dies alles ist an dir geschehen …

Und weil so unser Fleisch und Blut entmächtigt ist in seiner eigenen Kraft, darum lehrt Jesus uns, nicht im eigenen Namen dem Versucher zu widerstehen, sondern den göttlichen Helfer herbeizurufen. Er lehrt uns »Führe uns nicht in Versuchung… Erlöse uns von dem Argen«, damit jener Helfer uns bewahre und für uns streite und wir nun erst – nun erst! – hinter ihm dreinlaufen und treue Soldaten sind. Hier erst wird die ganze Tiefe dessen deutlich, was Jesus dem Versucher sagt:

Inmitten seiner Versuchung, inmitten dieses Kampfes der Mächte, in dessen Feuerlinie er steht, inmitten der Abgründe des Hungertodes und der Abgründe des (scheinbar gehorsamen) Ungehorsams, inmitten von alledem ruft er das Wort und die Verheißung Gottes auf den Plan, damit es den Versucher verschlinge, und tritt vertrauend in den Schirm und Schatten dieses Wortes. Das ist es eben: Er glaubt Gott auch da, wo er kein Brot sieht.

 

25. Unser Bitten und Gottes majestätischer Wille

Damit hat Jesus uns das Vertrauen auf seinen himmlischen Vater unter Schmerzen vorgelebt. Darüber hinaus lehrt er uns noch, unser Leben und unser Beten auf das gleiche Vertrauen zu gründen.

Wir dürfen um das tägliche Brot bitten. Und wir dürfen bitten um Hilfen und Auswege aus unseren Nöten. Über all dies dürfen wir mit unserm Vater im Himmel reden. Wir dürfen ihm sagen, welche Wege wir sehen, auf denen er uns helfen kann: das tägliche Brot für unsern Hunger, Arbeit für unsere Werktage, Stille bei unserer Nervosität, Gesundheit in unserm Leiden, den Freund in unserer Einsamkeit. Um all dies dürfen wir ihn bitten, und von alledem dürfen wir mit ihm sprechen, so wie die lieben Kinder mit dem Vater reden. Und doch hat er uns gelehrt, vor dieses unser Bitten immerfort ein Vorzeichen zu setzen: »Dein Wille geschehe!« und eine Bedingung gelten zu lassen: »Wenn es dein Wille ist« (Luk.22,42) — und dann dürfen wir wacker bitten, daß aus den Steinen Brot werde.

Aber ist diese Bitte »Dein Wille geschehe!« nicht doch eine heimliche Preisgabe dessen, was man gerade erbeten hat oder zu erbitten gedenkt? – Dem ist nicht so. Es heißt ja nicht: »Mir ist nicht geheuer bei meiner Bitte, lieber himmlischer Vater … Sie war nur provisorisch gemeint, und ich nehme sie lieber zurück… Ja, Vater, ich verzichte auf mein Brot. Dein Wille soll sich nicht an meine kleinen Wünsche binden. Dein Wille soll groß und erhaben über meine kleinen, kleinen Angelegenheiten hinwegbrausen… «

Dies alles will jene Bitte »Dein Wille geschehe!« gerade nicht sagen. Sondern sie bittet:

»Du verstehst mein Bitten besser, als ich es selbst verstehe. Du weißt, ob mir Hunger oder Brot nötig ist. Was auch immer komme, ich sage auf alle Fälle: >Ja, lieber Herr!<. Denn ich weiß, daß in allem, was immer kommen mag, Dein Wille mir Erfüllung schenkt – über mein Bitten und Verstehen.«

In diesen drei Wörtlein »Dein Wille geschehe!« sage ich also nichts anderes, als dies, was der Heiland in der Wüste spricht, wenn er sagt: Ich lebe vom Worte Gottes, ich lebe von der Verheißung — wie immer die Gestalt auch aussehen mag, in der sie in Erfüllung geht, ob die Steine nun Brot werden oder ob sie Steine bleiben und ob dann in der Nacht die Hilfe unversehens hereinbricht.

Ich sage mit jenen drei Wörtlein nichts anderes als dies: »Ich lebe von Deinem Willen, lieber Herr. Und ich weiß, daß, dieser Wille nichts anderes will, als Deine Verheißung erfüllen. Ja, Herr, Dein Wille ist Verheißung. Und so lebe ich nicht vom Brot allein. Ich habe um mein Bestes gebeten: daß Du mein Leben mir schenken mögest und mir mein tägliches Brot geben. Und ich weiß, lieber Herr, daß Dein Wille mein Bestes tut und mir Hunger und Brot zum Besten dienen läßt 1. So weiß ich, daß mein Bitten in Erfüllung geht.«

Das Vaterunser, das Jesus uns vorbetet, hat er in der
Wüste uns vorgehandelt. Er lebt von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht. Er lebt von
dem geschehenden Willen Gottes. Er lebt von der Verheißung. Und was er dem Teufel sagt, heißt nichts
anderes als dies: »Siehe, ich rufe den, der mich leben
läßt, auf den Plan. Mit ihm hast du es zu tun, nicht mit
mir. Er ist Sonne und Schild 2. Siehe, ich lebe ganz von
ihm und nicht von deinem Brot. Und darum, darum
allein bin ich Gottes Sohn. Aber das wirst du wohl nie
verstehen. Wie könntest du auch – – ?«

DIE ZWEITE VERSUCHUNG:

DAS VERLOCKENDE SCHAUWUNDER

Dann nahm der Teufel ihn mit in die heilige Stadt, stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sagte zu ihm: »Wenn du Gottes Sohn bist, dann stürz’ dich hinab. Denn es steht geschrieben: Er wird seine Engel zu dir hinbefehlen, und sie werden dich auf Händen tragen, damit du deinen Fuß an keinem Stein stoßest.« Jesus sagte ihm: »Wiederum steht geschrieben: Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen . . .«

26. Die Ehre Gottes und seines Wortes

Meist ist das, was der Teufel sagt, sehr fromm. Er geht auf dem Boden der Tatsache »Gottes« noch einen Schritt weiter. Denn es geht jetzt nicht mehr nur um die Ehre des Gottessohnes (»Bist du Gottes Sohn, dann bist du dir dies und das schuldig…«), sondern es geht um die Ehre Gottes selber: »Er wird seine Engel zu dir hinbefehlen«. Diese Macht Gottes wird man respektieren, und das heißt nach der Logik des Versuchers: »wirken« lassen und »zum Ausdruck« bringen müssen. Aber nicht nur dies ist hier wesentlich, daß es um Gott selber geht, an dessen Ehre dem Versucher so viel gelegen zu sein scheint; sondern darüber hinaus bekräftigt er seine Frage noch mit Gottes eigenem Wort: Es steht geschrieben . . .« – Kann man mehr tun?

Warum sollte Jesus nicht darauf eingehen? Das würde doch nicht, wie bei der ersten Frage, der Verheißung widersprechen! – Im Gegenteil! Man gäbe der Verheißung Gottes die Möglichkeit einer ungeheuren Demonstration! -Warum sollte er nicht von den Zinnen des Tempels springen, warum sollte er nicht im Namen Gottes zu einem der Berge sagen: Versetze dich und wirf dich ins Meer? Warum sollte er nicht vom Kreuze herabsteigen – – ad majorem Dei gloriam! — ? Und doch ist dies alles nichts andres als die Frage des Teufels! Wieso?

Wir wollen an dieser Stelle nicht abermals davon reden, daß der Teufel mit all seiner frommen Gebärde und seinen heiligen Worten nur das Gesetz des Handelns an sich reißen, daß er eben über die Macht Gottes verfügen möchte, indem er so an den »Ehrgeiz« Gottes appelliert. Diese Taktik ist ja schon überwunden und ist bereits schüchterner geworden in dieser zweiten Frage, auch wenn sie noch heimlich und dummschlau mitschwingt.

Nein, bei dieser zweiten Frage, die so fromm auf die Macht Gottes spekuliert, müssen wir noch ein Weiteres beachten, nämlich dies: Jenen Gott der Macht gibt es gar nicht. Er ist ein eingebildeter Götze der Menschen. Denn dieser Gott der Macht ist ein bequemer Gott: Er hat die Macht, und wir gebrauchen sie (oder lassen ihn seiner Wege gehen), so ähnlich wie hier der Teufel auf seine Art mit dem Gott der Macht umgeht – oder umgehen möchte.

 

27. Die Anbeter des »Gottes der Macht«

Warum das so ist, erkennen wir sofort, wenn wir die Anbeter des Gottes der Macht betrachten, jene Toren, die in ihrem Herzen sprechen: »Es ist – – so gut wie kein Gott, es ist nur ein Gott der Macht« (Ps.14,1). Wer kennte diese Anbeter nicht, wer hätte noch nicht mit ihnen gesprochen, an welchem Stammtisch, in welcher Gesellschaft, bei welcher Massenversammlung könnte man sie nicht hören?

Sie reden davon, daß ihr Gott hoch erhaben sei über die
menschlichen Züge eines redenden Gottes, von dem die
Sage geht, daß er etwas Schriftliches von sich gegeben
habe. Sie reden davon, daß ihr Gott der Macht verachtend und voller Ironie herabblicke auf das Duz-Verhältnis, mit dem die Kleinen und Zukurzgekommenen dieser Welt in der Gemeinschaft ihres persönlichen
und menschelnden Gottes zu stehen meinen – als
»Knechte«, als »Kinder«, als »Freunde«, als »Söhne«.
Aber ist dieser »Gott der Macht« und sind seine Freunde
nicht höchst verdächtig? Die Erhabenheit dieses Gottes
der Macht nimmt allzu leicht so gigantische Ausmaße
an, daß er auch über das erhaben ist, was wir das Privatleben nennen. Ihn kümmern weder die Sperlinge, die
Haare, die Lilien, noch die Gedanken unseres Herzens,
unsere heimliche und offene Revolution, ihn kümmert
nicht Wille und Werk und nichts von dem vielen, was vor der Sonne verborgen sein muß. Gewiß: er schläft
nicht und geht nicht spazieren und dichtet nicht, aber
er ist – erhaben.

Wenn es anders wäre — wie müßte es dann erklärt werden, daß jene Verehrer des Gottes der Macht so erstaunlich wenig, ja daß sie keine Konsequenzen aus diesem ihrem Gotte ziehen, daß man in ihrem Leben so wenig von ihm merkt?

Wie kommt es, daß er mit all seiner Macht doch eine so geringe Kraft, ein. so gewichtloser Faktor im Grau ihrer Alltage ist -? Wie kommt es, daß er nur bei ihren Feiern und in pathetischen Stimmungen – wirklicher oder erdichteter Art – genannt wird, um hier die himmlische Staffage und den Goldgrund, den frommen Zauber ihrer Stimmung zu bilden? »Droben über’m Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen.«

Wie kommt es, daß er nur dazu da ist, als Vorsehung die Gegenzeichnung zu dem zu leisten, was die Menschen immer schon getan und besiegelt haben und was sie nun sanktioniert sehen möchten? Wie kommt es, daß er so wenig als Wille und Gesetz und Gericht in den entscheidenden Stunden des Lebens erlebt wird, daß man statt dessen nur nachträglich seine Zustimmung einholt und dann laut proklamiert -, seine Zustimmung folglich zu dem, was man aller frommen Gebärde zum Trotz nach eigenem Gutdünken gedreht hat und in das man sich nicht hereinreden läßt?

Wie kommt es, daß die Anbeter des Gottes der Macht immer meinen können: Dieser Gott habe es mit dem Jenseits zu tun (dort sei er gut aufgehoben…), während sie das Diesseits zu gestalten hätten? Sie wissen: Der Spatz des Diesseits in der Hand ist besser als die Taube des Jenseits auf dem Dach.

O ja: die Anbeter des Gottes der Macht verstehen etwas von den Realitäten des Diesseits: Sie rechnen mit Gott, sie schalten ihn ein und aus und gleich, sie lassen ihn religiöse Komplexe abreagieren, die sonst zum gefährlichen Explosivstoff werden (Weiß man nicht aus historischer Erfahrung, daß außer der Magenfrage nichts so die Geschichte vorwärtspeitscht wie die religiöse Frage?). Sie mischen den Gott der Macht mit Opium.

Wahrlich, es ist verdächtig, daß auch der Teufel in der Wüste jenen Gott der Erhabenheit, jenen Gott der Macht kennt, ja daß er sich fröhlich auf ihn beruft und – wenn der Schein nicht trügt – sich völlig ungeniert von ihm fühlt. Die Existenz des Teufels scheint durchaus nicht unbequem in seiner Obhut. Warum denn auch? Wie sollte denn ein so erhabener Gott nicht imstande sein, sich auch einen Teufel zu leisten? Erhabenheit heißt doch unter anderem: alle Möglichkeiten umfassen. Warum nicht auch die Möglichkeit des Teufels, des Bösen? Gut und Böse, »Trug und Wahrheit sind am Baum der Menschheit nur die zwiegefärbten Blüten«. Wieviel mehr nicht dann am Baume Gottes -? Ist Mephistopheles nicht ein herrschaftlicher Diener -?

So ist es schon: Man hat seine Ruhe vor diesem Erhabenen, vor diesem Gott der Macht. Er ist ein bequemer Gott. Jeder von uns wünscht ihn sich in seinen müden Stunden – oder auch in der Stunde der Wildheit und des hemmungslosen Vorpreschens, in der Stunde, wo nur unser Blut rauscht und die Nerven fiebern und kein Gott uns im Wege stehen darf. Diese Stunden sind durchzittert von den Geburtswehen des Gottes der Macht, denn dieser Gott ist vom Menschen geboren. Und der Teufel weiß auch, warum er Ruhe vor ihm hat und warum er ihn als Versucher all seinen Opfern suggeriert. Er kennt als erster, vielleicht als Erfinder, das Urgesetz aller Religion, jenes Gesetz, das wir tausendfach bestätigt finden, wenn wir um uns und in uns blicken, jenes Gesetz, das man formulieren könnte: Je »erhabener« der Gott der Menschen ist, um so unverbindlicher ist er. Seine Unverbindlichkeit wächst mit dem Grad seiner Erhabenheit. Man braucht keine Furcht vor ihm zu haben, er stört die irdischen Kreise nicht. Dieser Gott ist nur Schmuck von Reden, aber nicht der Grund einer einzigen Tat. Er ist das Geschwollene an allem Pathos, er ist das Klingende an allen Schellen.

Aber Gott der Herr ist nicht dieser Gott der Macht, er ist nicht der »Erhab’ne«, mit dem wir unsere Reden schmücken und der so beglückend unverbindlich ist. Nein! Unser Gott hat einen Willen, einen heiligen Willen, er ist die leibhaftige Majestät.

Und es ist unter allen Umständen nicht so, daß zwischen Gott und uns nur eine unpersönliche dynamische Begehung, ein bloßes Kräfteverhältnis bestände; ein Verhältnis zwischen ihm als der unendlichen Kraft und Macht und uns als dem Minimum an Kraft, als dem kleinen Menschlein (wenn es so wäre, warum hätte dann Jesus nicht dankbar die göttliche Allmacht in Anspruch nehmen und das Schauwunder des Tempelsprungs vollziehen sollen?).

Nein, ein solches unverbindliches, neutrales Kräfteverhältnis liegt gerade nicht vor, sondern das Verhältnis des Fordernden zu dem Geforderten, des Heiligen zu dem Unheiligen, des Richters zu dem Gerichteten und des Vaters zu den Kindern.

 

28. Wille und Macht Gottes

Dies alles beschreibt man ein wenig abstrakt, wenn man vom »persönlichen Gott« redet, das heißt von einem Gott, der einen persönlich was angeht … Darin soll vor allem die Abgrenzung liegen gegen den Gott der bloß neutralen und unverbindlichen Kraft, gegen den nur »All-Mächtigen«. Wir machen uns den unendlichen Abstand Gottes des Herrn von diesem neutralen Kräftegott am besten so klar, daß wir daran denken: Gott der Herr ist Wille, ist persönlicher, uns fordernder Wille. Darum bitten wir ihn ja auch: »Dein Wille geschehe« und sagen nicht bloß – wie die unbeteiligten Zuschauer des Kräftespiels sagen -: »Die Vorsehung geht ihren Gang.«

Und diesen Willen Gottes verschweigt der Teufel. Denn diesen Willen haßt er, und diesen Willen tut er kategorisch nicht. Er weigert sich ja, »unter« Gott zu stehen. Er steht nur »auf« der Tatsache Gott. Er steht »außerhalb« – so sahen wir – als der klug Beobachtende, als der Rechner und Ränkeschmied. Nur darum redet er doch vom Gotte der Macht, von jenem Gott, der so unverbindlich ist und mit dem er schalten und walten kann. Und das war auch der Grund, warum der Teufel den Willen Gottes verschweigt, jenen totalen Willen, der uns in Beschlag legt und über uns verfügt, mit dem wir gerade nicht schalten und walten können.

Der Teufel weiß, daß dieser Wille Gottes die eigentliche Gefahrenzone für ihn ist. Er weiß, daß er – der Teufel – unter diesem Willen erst ganz zum Teufel wird, so gewiß er nun offen die Rolle des Gegenspielers ergreifen muß. Im Angesicht der Heiligkeit wird der Teufel erst ganz Teufel. Im Angesicht des Gesetzes – und das heißt: im Angesicht der leibhaftigen Majestät Gottes – wird die Sünde erst ganz Sünde (Röm.7,13) Im Angesicht des Gottessohns stehen die Dämonen mit doppelter Wucht auf (Matth.8,29). Unter diesem Willen ist das »Spiel« beendet. Darum muß man – so denkt der Teufel – diesen Willen in die Hand bekommen. Man muß sich seine Macht dienstbar machen. Hier in der Wüste ist die beste Gelegenheit dazu. Es wäre töricht und allzu zynisch, zu diesem Gottessohn vom »heiligen Willen Gottes« zu reden. »Das Predigen steht mir schlecht«, denkt der Teufel, »und außerdem könnte ich meine gefährlichsten Karten dabei aufdecken …« – Darum verschweigt er den Willen Gottes, und darum redet er lieber vom Gott der Macht. Und darum provoziert er diese Macht. »Er wird seinen Engel zu dir befehlen! (wahrlich, er hat doch die Macht dazu!)« …

Gelingt diese Provokation, so ist der Staatsstreich geglückt. Er diktiert dann – wie wir sahen – das Gesetz des Handelns. Er triumphiert dann über diesen Willen Gottes. Es ist eine unerhörte Möglichkeit, die der Versucher hier hat, eine Aussicht, wie sie niemals ein Mensch besaß: Für die Menschen ist der Gott der Macht nur ein Hirngespinst oder ein frommer Traum oder eine Tendenzdichtung (Opium für das Volk usw.). Aber der Teufel hat hier die Chance, aus diesem erdichteten Gott Wahrheit werden zu lassen, fürwahr eine teuflische Perspektive: Gelingt die Versuchung des Gottessohns, springt er vom Tempel, so ist der Wille Gottes in seinem Bann, so ist dieser Wille durch ihn auf die Erde und in die Hölle gezwungen. Er befiehlt, und Gott handelt. Er kommandiert: und der Gottessohn springt, und sein Vater schickt helfende Engel. Hier wird das gleiche, was wir früher schon sahen, aus einer noch düstereren Perspektive deutlich: Hier ist Gott wirklich zum willenlosen Gott der Macht geworden. Und er, der Teufel, ist dann der Wille. Und ihm gehört eben darum auch — die Macht. Er ist dann der mächtige Ministerpräsident und Gott seine königliche Puppe.

Das ist das Geheimnis dieser Stunde: Der Gottessohn, der das Reich bringt und die Wende der Äonen, steht vor dem Satan, steht in der Versuchung. Und siehe: In dieser Stunde ist dies Reich in Gefahr. Kann es eine größere Bedrohung geben, als diese Stunde sie bringt -? Wem wird das Reich gehören, wenn diese Stunde vorüber ist, wem — von beiden?

Aber Jesus entreißt dem Versucher sein Geheimnis, das er so klüglich verschwiegen hat. Er weiß, daß er ganz und gar unter dem Willen seines Vaters im Himmel steht, daß er gekommen ist, diesen Willen und sein Gebot zu verwirklichen. Er erinnert sich ferner daran, kein Befehl seines Vaters ihn von der Zinne zu springen heißt. Er weiß, daß er mit der Macht seines Vaters und mit seiner eigenen Macht niemals spielen darf – das heißt: daß er nichts aus bloßem Vergnügen und ohne Befehl tun darf, sondern daß er in jedem Moment allein – allein! – von Gottes Geboten und von seiner Verheißung lebt. Diese Macht Gottes dient ja nur seinem Befehle und ist das Instrument seiner Verheißung.

Jesus aber weiß mit aller Bestimmtheit: Diesen heiligen Willen Gottes würde er verletzen und verlästern, wenn er im Namen eines vermeintlichen Gottes der Macht vom Tempel herabspränge. Denn spränge er – wider alle Weisung – herab, so würde er Gott auf die Probe stellen, ob er seine Verheißung wahr macht; er würde begierig schauen, ob Engel kämen, die ihn herabtrügen; es wäre ein Augenblick namenloser Spannung; es wäre die Kraftprobe Gottes.

Und hier würde das innerste Motiv dann deutlich, das ihn zu dieser Kraftprobe triebe; es wäre das Mißtrauen, wäre der Unglaube: »Sollte Gott wirklich gesagt haben – « »Und wenn er es gesagt hat, sollte er wirklich tun können, was er sprach? Ich habe ein Recht, das zu wissen. Ja: Ist Gott es mir nicht schuldig? – ist Gott (!) es mir (!) nicht schuldig? – – ist Gott nicht mein Schuldner –  – bin ich nicht gottebenbürtig? – – hab’ ich nicht auch ein Recht darauf, zu wissen, was gut und böse ist? – hab’ ich nicht auch ein Recht darauf, Gottes Macht zu gebrauchen? – – muß ich nicht herabspringen? – – wer verbietet mir festzustellen, ob Gott meines Vertrauens würdig ist, der ich ihm vertraue, daß er mich auf Fittichen seiner Engel herunterträgt?«

Diese Gedanken ließ der Versucher gar langsam durch Jesu Seele ziehen, jeden einzeln und alle nacheinander. Da war die Wüste plötzlich ein Paradies, und neben ihm standen Adam und Eva. Vor den beiden hing der Apfel des Lebensbaumes, lieblich anzusehen, erregend, verheißungsvoll. Und in diesem Augenblick leuchteten die Zinnen des Tempels vor dem Gottessohn auf, ein paradiesisches Schauspiel: lockend, erregend, verheißungsvoll.

Aber Jesus wendet sich ab, wo Adam und Eva zugriffen. »Er lebt von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.« Er lebt in dieser Stunde von dem Wort: »Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen.«

 

29. Der fromme Dämon

Das Abgründige an dieser zweiten Versucherfrage ist dies, daß sie so fromm ist. Sie ist frömmer als die erste, weil sie nicht nur mit einer religiösen Phrase und dem schlechten und rechten Gebrauch der Tatsache »Gott« arbeitet, sondern weil sie die Bibel zitiert und Gott »beim Wort nimmt«.

Das ist die gefährlichste Maske, die der Teufel besitzt: die Maske Gottes. Sie ist noch schauerlicher als das Kleid des Lichts. Von ihr hat Luther etwas gewußt. Vor ihr ist er zu Tode erschrocken. Er sah sich gleichsam von Gott umringt. Er mußte vor Gott (vor diesem maskierten Dämon) zu Gott fliehen. Diese Flucht gehört zu den letzten Geheimnissen seines. Glaubens. Man muß in der Wüste bei Jesus Christus gestanden haben, um ein wenig davon zu ahnen. Auch Luther tritt der Anfechtung entgegen, mit Worten der Heiligen Schrift; er will das Wort für sich streiten lassen. Aber das ist keine einfache Sache.

Denn nun erfährt er, daß der gegen ihn aufgestandene Fürst der Dämonen so bewaffnet ist mit Bibelsprüchen bis an die Zähne, daß seine eigene Kenntnis der Heiligen Schrift vor ihm zerrinnt. Und so muß er das wahre Wort um sich selber kämpfen lassen. Er selbst muß Schlachtfeld sein.

Ja: das Wort Gottes, Frömmigkeit, Kultus, Religion, Wunder und Zeichen sind die mächtigsten Waffen des bösen Feindes. Nach der Offenbarung Johannis ist der menschliche Vertreter der Satansherrschaft, der mächtige Repräsentant des Antichristentums auf Erden, nicht ein Feind der Religion, sondern umduftet vom Weihrauch seines Kultus und umgeben von den Ordnungen der neuen Religion, die das totale Leben durchdringen, so daß niemand kaufen und verkaufen kann ohne das Malzeichen, dieses Herrn (Offb.13,11-17).

Und gerade dort ist der Versucher am mächtigsten, wo er an der Stelle Gottes und Jesu Christi zu stehen scheint, wo man sagt: »Siehe, hier ist Christus, siehe, da ist Christus« (Matth.24,23)

Wir müssen dies Geheimnis der widergöttlichen Macht noch tiefer durchdringen: Es wird hier allem Anscheine nach doch offenkundig, daß man Gott gegen Gott ausspielen kann, daß es möglich ist, mit dem einen Wort das andere totzuschlagen: »Es steht geschrieben«, sagt der Versucher. »Es steht wiederum geschrieben«, antwortet der Gottessohn. Und hier könnten wir lange fortfahren, denn hier wird ein Geheimnis des Wortes selbst offenkundig:

»Es steht geschrieben«: »Schaffet (und das heißt doch: schaffet ihr) mit Furcht und Zittern, daß ihr selig werdet…«

»Wiederum steht geschrieben«: »Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen«. (Phil.2,12-13)

An diesem Wort des Philipperbriefes kann man sich das
Geheimnis, das wir hier andeuteten, klarmachen. Wenn irgendwo, so ist hier die
höchst versuchliche Möglichkeit gegeben, Gott gegen
Gott auszuspielen. Sie ist gegeben, sobald man von
außen sieht und also wieder in der teuflischen Perspektive verweilt. Und ist es nicht immer schon so gewesen,
daß die Häretiker und Irrlehrer und Dämonen mit
Hilfe jenes Wortes, und gerade nicht mit Hilfe dröhnender antichristlicher Parolen in die Kirche eingeschlichen sind – -?

Da stehen die einen und sagen: Es liegt alles daran, daß wir schaffen mit Furcht und Zittern. Auf, laßt uns »gute Werke« tun, wir wollen die Hälfte unserer Güter den Armen geben, wir wollen die Gebote halten: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis reden, du sollst niemand täuschen, ehre Vater und Mutter; wir wollen dies alles halten von unserer Jugend auf (Mark.10,20) – -; mit Furcht und Zittern wollen wir’s tun, damit wir selig werden. Und noch mehr: Wir wollen mit Furcht und Zittern Gott suchen gehn; er soll der Kampf unserer Tage und die Sehnsucht unserer Nächte sein. Wir wollen unsere Seele auf die Streife nach dem Ewigen senden und wollen nicht rasten und ruhn, bis sich Gott unserm Kampfe ergibt – -, auf daß wir selig werden.

Aber spüren wir nicht – wenn wir so reden -, wie hier Gott gelästert wird und wie diese Lästerung doppelt schrecklich ist, weil sie in seinem Namen geschieht? Ist Gott wirklich ein Gegenstand unseres Erringens und Strebens, und können wir ihn wirklich in die Abhängigkeit von unserer Leistung zwingen und also wiederum heimlich und klug über ihn verfügen?

 

30. Das Wort Gottes im Zwielicht

Es ist die uralte Geschichte: Wenn wir nicht gehorsame Knechte dieses Wortes sind und demütig darunterstehen, sondern umgekehrt nach teuflischer Manier dieses Wort zum Knecht unserer Lust machen, dann wird dieses göttliche Wort mitten in unserer argen Hand zu einem zerrenden Dämon, der diese Hände emporreißt, bis sie zur geballten Faust wider Gott werden. Und wir können noch meinen, wir grüßten Gott mit jener erhobenen Faust und täten ihm einen »Gottes«-Dienst.

Und da stehen die andern und sagen: »Nein, Gott ist’s, der in uns wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen. Hinweg mit eurem Streben und Gottsuchen, hinweg mit eurer Werkerei! Wir treiben den wahren Gottesdienst: Wir legen, voller Ergebung in jenen schaffenden Willen Gottes, die Hände in den Schoß und warten auf das große Wunder, daß Gott kommt, daß er zu uns spricht. Und wenn er kommt, nun – dann werden wir schon sein heimliches Wirken an unserer Seele spüren. Was sollen wir auch schon tun -?«

Und so verfälschen sie ebenfalls dieses Gottes Wort und schlagen ihn mit dieser seiner eigenen Rede. Sie spielen Gott wider Gott aus. Und die Zaungäste des Reiches Gottes sagen achselzuckend: »Mit Bibelworten kann man alles beweisen.« Und tatsächlich ist ja durch diese populäre Devise jene abgründige Wahrheit bekanntgeworden, die Wahrheit: daß wir Gott gegen Gott ausspielen können.

So geht der Teufel wieder vor nach seinem Zuschauer- und Rechnerprinzip: »Aus Gott folgt.« Und hier also folgt aus Gott oder soll aus Gott folgen entweder das, was die Bibel als Gesetzes- und Werk-Gerechtigkeit brandmarkt, oder das, was jener quietistische Standpunkt ausdrücken sollte, der die Hände in den Schoß zu legen befahl und aus eingebildeter »Ruhe in Gott« alles seinen Gang gehen lassen wollte.

Es sind immer die gleichen Schliche des großen Verführers: Er scheint Gott bei seinem Wort zu nehmen, und doch dreht er ihm dies Wort im Munde herum. Denn man kann Gott nur bei seinem Worte nehmen, wenn man sich unter und nicht über dieses Wort stellt. Nur so erfahren wir, wie beides zusammengehört: der Imperativ, der Befehl des heiligen Gottes: »Schaffet, schaffet ihr!« und der Indikativ, die Aussage: »Ich bin’s, der in euch wirkt, beides: das Wollen und das Vollbringen. Ich bin das A und O, und ich bin der Ozean, der von allen Seiten an das Gestade eurer Zeit schlägt.«

Wer wagte angesichts dieses lebendigen Gottes zu sagen: »Du wirkst alles, damit bin ich entlastet? Denn du bist’s ja allemal, der mich hat schuldig werden lassen.« – Oder wer wagte angesichts des lebendigen Gottes zu sagen: »Du sagst ja selbst: Schaffet!? So laß mich nur alleine machen. Ich werde ohne dich selig, ich komme ohne dich in Ordnung.« – Nein: keiner kann dies wagen, der vor ihm steht und unter das zweischneidige Schwert seines Wortes gedemütigt wird.

Nur hier – unter dem Wort und gedemütigt unter seine Autorität – erfahren wir, wie die Wahrheit Gottes immer auf zwei Füßen steht. Auf der Verheißung: Ihr seid dem Gesetz abgetötet durch meine Gnade (Gal.2,19) und zugleich auf dem Befehl: Darum seid nun von euch aus Knechte der Gerechtigkeit (Röm.6,4). Oder: Ihr seid teuer erkauft, darum führt euch in eurem Leben so auf, wie es dem Eigentum Gottes geziemt, das heißt: Preiset Gott an eurem Leibe und in eurem Geiste, welche sind Gottes (1.Kor.6,20)!

Und in diesem Gehorsam, in dieser Demut wird auch verständlich, daß beide Tatsachen zusammengehören, um die hier in der Wüste gerungen wird: daß Gott seine Engel zum Gottessohn befiehlt und daß dennoch von diesem Sohne Gottes gefordert sein kann, daß er diese Hilfe nicht provoziere, daß er still seinen Weg gehe und nur das tue, wozu er Befehl hat.

So muß Jesu Antwort dem Teufel unverständlich sein, denn er steht ja nicht unter dem Wort, sondern knetet es zu diabolischen Figuren, wie man eine Masse Ton formt. Er sucht sich die »passenden Worte« heraus und setzt sie zusammen wie ein Kind die Steine seines Baukastens. Welche Weltanschauung und Ketzerei im Abendland hätte sich nicht in dem gleichen Sinne auf die Bibel berufen und täte das noch -?

 

31. Das Wort als Autorität

Wie konnte aber Jesus annehmen, daß ausgerechnet sein Bibelwort von größerer Autorität sein und nicht in den Verdacht kommen sollte, daß es beliebig herausgegriffen sei im Sinne des Wortes: »Mit der Bibel kann man alles beweisen … und mit der Bibel kann ich nun auch – Gott sei Dank! – beweisen, daß ich jenen gefährlichen Sprung von der Tempelzinne, jenes Glaubenswagnis nicht zu exerzieren brauche, ja, daß ich’s nicht einmal darf? Welches Glück, daß mir dieses Wort noch rechtzeitig einfiel: Du sollst Gott nicht versuchen! Nun kann ich mich vor jenem Wagesprung drücken, und kein Mensch kann mir nachweisen, daß ich im Namen der göttlichen Majestät gekniffen hätte. Ich hab’ mich allzu gut durch das Bibelwort gedeckt. O ja: ich bin dem Teufel an Schläue gewachsen. Auch ich kann die Bibel geschickt und im rechten Augenblick auf das Kampffeld manövrieren.« – Ein feines Florettgefecht mit lauter Worten Gottes!

Aber wenn es so wäre – warum sollte dann die Waffe und der Stich Jesu besser sitzen und überlegener sein als die Wortwaffe und des Teufels?

Das Wort Gottes, das Jesus hier dem Teufel entgegenhält, hat allein darum höhere Autorität, weil es für ihn, für Jesus selbst, Autorität ist und er darunter steht.

Das Wort Gottes ist eben nur so lange Wort Gottes und so lange Autorität, wie wir selber demütig und gehorsam, als Jünger Jesu Christi, unter ihm stehen (Eph.3,1). »Gebrauchen« wir es, sagen wir aus klugen Zweckgründen »Herr, Herr!«, dann wird dieses Wort aus einem Worte Gottes zu einem Wort des Satans. Deswegen sagt Jesus zum Volke (Luk.6,46): »Was heißt ihr mich Herr, Herr! und tut nicht, was ich euch sage!?« Das heißt doch: Ihr gebraucht wohl fromme Worte; ihr verdreht die Augen gen Himmel und scheint mit dem lieben Gott auf du und du zu stehen; ihr redet die Sprache Kanaans; ihr sagt »Herr, Herr!« und »Gott spricht!« —; und doch ist dies alles Lüge und gemeine Satanslist. Denn ihr tut ja gerade das nicht, was jenes Wort will, und nehmt ihm so seine Autorität.

So kommt es, daß jene autoritätslos gebrauchte Verheißung, Gott werde seine helfenden Engel schicken, im Munde des Versuchers wahrhaftig zum Teufels-Wort wird. Und so ist es immer gewesen und geblieben. Die Zeitungen, Bücher und Kampfschriften der Feinde Gottes – natürlich stehen auch sie auf dem Boden der Tatsache »Gott«, natürlich haben auch sie »Religion im Leib!« -, diese Zeitungen und Bücher laufen ja über von Zitaten der Schrift, aus dem Zusammenhang gezupft, zur höllischen Fratze verzerrt. Es ist nicht Gott, sondern der Affe Gottes, der hier spricht — mit geliehenen und zum Krüppel geschlagenen Worten des Herrn selber.

So gebraucht dieser Affe Gottes immer dieselben Listen und wechselt nur die Gestalt, in der er uns begegnet. Einmal kommt er als Pfaffe mit geölter, verführerischer Stimme, einmal in heldische Pose sich setzend, einmal gereckt und imponierend wie das Standbild eines Reformators und eines religiösen Befreiers! Wie demütig weiß er »Herr, Herr!« zu sagen; wie erleuchtend klingen seine Worte: »Siehe, hier, siehe, da ist Christus!«; wie befreiend seine Bibelzitate; wie schmalzig klingt sein Harmonium oder wie donnernd seine kultische Riesenorgel.

Aber wir wissen nun, warum diese Worte zum Wort des Versuchers werden, warum sie keine Autorität haben. Wir wissen nun, warum Jesus allein hier die Vollmacht, die zerschmetternde Vollmacht hat zu sagen: »Wiederum steht geschrieben . . . nein, dies allein und sonst nichts steht geschrieben.«

 

32. Mächte und Knechte

Dies Wort hält Jesus wie ein gebietendes Panier in der Schlacht wider den Teufel hoch. Diesem Panier folgt er, und in seinem Zeichen gewinnt er den Kampf. Aber indem dieses Panier des Siegers nun einsam über dem Schlachtfeld steht, enthüllt sich zugleich der letzte strategische Rahmen, in dem dieses ganze Geschehen steht: Es geht hier nicht um ein Schicksal, das zwischen der dämonischen Macht, also zwischen jener obersten Realität nächst Gott, und dem Menschen, dem Menschen Jesus zum Beispiel, sich vollzieht. Sondern die Hauptakteure in diesem Kampf sind Gott und der Arge.

Und der Mensch ist eingeschaltet in diesen Kampf, wird der Bundesgenosse und Knecht entweder des einen oder des andern. Wir sind ein Instrument, auf dem entweder Gott spielt oder der Arge. Wir sind Soldaten, die entweder von Gott befehligt werden oder vom Argen. Wir stehen immer (auch der, welcher dies schreibt, zusammen mit dem, der es liest) in jemandes Diensten und Sold, entweder des einen oder des andern (Röm.6,16). Wir haben alle einen »Schatz«, an dem unser Herz hängt, der unser Herr ist. Und dieser Schatz ist entweder Gott oder der Arge (Matth.6,21). Von diesem Entweder-Oder befreien uns nicht unsere Werke, unsere Lebensleistung. Wir sahen: auch dies alles kann heimlich (tief im Herzen) wider Gott und zur eigenen Ehre vollbracht sein und so gerade im Dienst des Argen stehen. Von diesem Entweder-Oder befreit auch nicht die sonnig-tumbe und doch so naiv-schlaue Meinung, als seien wir frei: »Wir sollen jemandes Knechte und immer schon andern hörig sein als uns selbst?«, so fragt die Naivität erstaunt und rhetorisch und klug. Sie kann nur bitter oder humorvoll jene Unterstellung auslachen; und sie beginnt, sich stolz der zwei menschlichen Beine zu erinnern und des Hauptes, das bei dem Menschen oben sitzt und an die Sterne rühren kann und das Haupt eines Titanen ist.

Jawohl: Wir gehören immer einem Herrn und schwimmen immer auf einer Woge, die im Ozean Gottes oder im Ozean des Argen ist. Es ist sogar manchmal so, daß auch der »natürliche Mensch« einen Moment lang diese Tatsache ahnt, auch wenn er nicht weiß, von wannen sie kommt und wohin sie treibt. Gelegentlich sieht er, wie der einzelne Mensch seine Meinung vom Zeitgeist ins Ohr geflüstert bekommt oder von der Masse und wie er (der sonst im Leben ein besonnener Mann ist, auf dessen Urteil man Häuser bauen kann) in eine Masse gestellt, von deren Dynamik emporgerissen wird und heute »Hosianna« und morgen »Kreuzige!« mit ihr schreit und daheim im Kämmerlein dann fassungslos in den Spiegel starrt: Bin ich das, der da gerufen hat, ich, Hans Schulze? Ja, es war wohl so: über mir hat es gerufen, um mich herum, durch mich hindurch, die Nerven waren elektrisch geladen, die Atmosphäre hat geglüht, es rief und schrie durch mich hindurch, und meine Stimme war wohl auch darunter. Der Mensch dieser Welt redet hier von »Massensuggestion«, ohne daß er freilich weiß, was er damit sagt. Dies heißt aber doch – im Licht unserer Geschichte und ihres Entweder-Oder betrachtet – nichts anderes als dies: Hier ist über dem Menschen eine bannende Einflüsterung (Suggestion), die ihn als gebieterische Stimme lenkt. So kam es (»es« »kam« »so«), daß er tat, was diese bannende Stimme wollte. So schrie er: »Kreuzige!« Dabei war er der Meinung, er selbst sei es, der hier schrie und der den Entschluß gefaßt und den Willen habe zu schreien. Und doch schrie er auf Befehl. Und doch war er im Banne der unsichtbaren Geister in der Luft. Und doch war er jemandes Knecht — welches Herrn?

 

33. Technik als Werkzeug und Technik als »Macht«

Es gibt noch andere Erscheinungen, an denen auch dem »natürlichen Menschen« eine kleine Ahnung davon aufgehen kann, wie wir geritten werden, wo wir meinen, Reiter zu sein: Ist nicht die Technik auch so ein Reiter? Offenbar ist sie in unsere Hand gegeben, damit wir mit ihr die Erde beherrschen (1.Mo.1,26) . Gott gab sie als ein Mittel in unsere Hand. Aber ist nicht im Turmbau zu Babel zum ersten Male das Dynamit explodiert, das in jenem Mittel – oder im Menschen, der es gebraucht? – verborgen liegt, ein Dynamit, das losbricht, sobald es mit dem Funken des menschlichen Ehrgeizes und seiner titanenhaften Hybris zusammentrifft?

Denn die Technik ist doch ein Ding, das zu Größe und Macht erheben, ja, das dem Menschen zu einer Burgfeste wider Gott werden kann. Und sobald der verantwortliche Ingenieur »Mensch« dies alles an sich geschehen läßt oder vielmehr: sobald er dies »mit Hilfe« der Technik tut (nicht als ob die Technik an sich böse wäre!), gibt er sich dem Argen preis und legt sich mitsamt seiner technischen Mittel in seine Hand.

Ist nicht irgend so etwas in der Menschheit geschehen? Meint man es nicht mit Händen greifen zu können? Wer wagte heute noch zu sagen, daß die Technik, jenes Mittel der menschlichen Macht, wirklich noch ein Mittel wäre, das der Mensch in Händen hielte und über das er verfügte? Wer müßte nicht – wenn auch mit Schrecken – erkennen, daß es heute gerade umgekehrt ist, daß die Technik den Menschen hat, daß sie gleichsam losgebrochen ist und aus einer Macht in des Menschen Hand zu einer Macht über den Menschen geworden ist? Hat sie nicht im neunzehnten Jahrhundert schon die entscheidenden wirtschaftlichen und politischen Bewegungen hervorgerufen (wobei nur das Schlagwort »Kapitalismus« als ein Symptom dieser Ereignisse beschworen sein soll)?

Wäre das Entstehen des »vierten Standes« ohne die technisch bedingte Industrialisierung zu denken …?

Wäre der Marxismus ohne das Aufkommen des »vierten Standes« zu denken? Und wäre wiederum auch nur eine einzige der heute die Erde in Atem haltenden Mächte, die religiös fundiert sind, ohne den dämonischen Unruheherd des Bolschewismus zu denken, selbst wenn sie sich dazu aufgerufen wissen, ihn zu bekämpfen; selbst wenn sie mir eine Antwort auf ihn sein wollen, aber eben eine erzwungene Antwort und eine in ihrer Haltung nicht zuletzt durch diesen Gegner bestimmte Antwort?

Hier wird es deutlicher denn irgendwo:

In letzter Linie ist die Technik einer der entscheidenden Faktoren, die das Gesetz des Handelns unserem Jahrhundert diktieren. Und auch die gewaltigsten »Wundermänner«, wie Luther sie nennt, wirken, in diesem
Lichte gesehen nur wie Männer, die auf dieser Woge
schwimmen, die von dieser Seenot auf den Plan gerufen
sind (und wahrlich auch von vielen andern!) und einige
Barken zimmern.           

Unter diesem Aspekt gesehen ist es eine gefährliche Illusion, daß »Männer die Geschichte machen«. Ach nein! Wir schwimmen alle in dem gleichen Schiff, aus dem niemand aussteigen kann. Und in diesem Schiff sind einige Kapitän und Offizier. Sie lenken das Schiff über die Woge der erregten, in ihren Abgründen zitternden Zeit. Das ist alles, was sie auszeichnet, mehr nicht. Das andere ist Wahnbild und Traum der Angst. Denn das Meer diktiert das Gesetz des Handelns. Und das Meer tobt nach Gesetzen, über die wir nicht verfügen. Und eines dieser Gesetze ist die Technik, jene wild gewordene, dem Menschen aus der Hand geratene Technik, vor der er Deckung suchen muß und aus deren entfesselter Kraft er immer noch das Beste herauszuholen sich bemüht.

Wir wagen mit alledem keine Geschichtsdeutung. Nur dies scheint hier beispielhaft klar zu werden: daß der Mensch immer jemandem gehört, daß es ihn hat, daß erniemals der Herr des Meeres ist, sondern höchstens ein imponierender Schwimmer in seinen Wogen. Damit ist aber herzlich wenig gesagt. Es kommt vielmehr alles darauf an, das Geheimnis der Herrschaft zu erkunden, in deren Dienst wir stehen. Und darüber redet unser Text.

Er spricht davon, daß es zwei Herren gibt, deren Knechte wir sein können, entweder des einen oder des andern. Einen werden wir lieben, den andern werden wir hassen (Matth.6,24). Einem werden wir verfallen sein: entweder als Knechte dem Argen oder als Kinder dem Vater, der uns rettet (In wessen Dienst stehen wir — etwa durch Vermittlung jener Mächte, auf denen wir schwimmen und die uns hienieden schon haben? Unter welchem Vorzeichen geschieht das alles, wem »gehört« dies alles, wem von beiden —? Wer aber könnte diese Frage beantworten? Und wer dürfte sie anders beantworten als durch die Bitte: »Dein Reich komme« – »Erlöse uns von dem Argen«!?).

Um dieses Kräftespiel geht es. Es ist der Kampf Gottes um unsere Seele, es ist sein stürmisches Anklopfen an die verschlossene, von einem andern schon verschlossene Tür unseres Herzens (Luk.12,32-Off.3,20). Es ist das Aufgehen seines Lichtes über der Finsternis, deren heimlicher Herrscher wider dieses Licht kämpft und es nicht begreifen läßt (Joh.1,5).

Es ist gut, den Kampf Gottes um unsere Welt einmal so als den Kampf der Mächte zu verstehen und nicht immer den Menschen in falscher Eindeutigkeit als den Kämpfer und damit als vermeintlichen Mittelpunkt dieses Geschehens zu begreifen. Das alles müssen wir uns klarmachen, wenn wir die Hintergründe dieses Kampfes in der Wüste begreifen wollen. Wir sind zu aufgeklärt, zu besessen von dem Gedanken, daß wir das Maß aller Dinge und das Thema der Weltgeschichte seien und daß deshalb auch wir die Kämpfenden, die um Gott Kämpfenden wären, als daß wir diese Hintergründe von selbst begriffen.

Es geht hier eben um einen Ort — und damit ist jener Hintergrund angedeutet —, an dem nicht wir kämpfen, sondern an dem wir umkämpft sind, so sehr, daß Gott für uns bluten kann, daß er am Kreuze hängt. Und im Abendmahl feiern wir dieses Blut und diesen Tod als das Zeichen der Gemeinschaft mit ihm; als Zeichen dessen, daß wir ihm gehören und aller andern Hörigkeit entrissen sind; als Zeichen dessen, daß Gott für uns ist und daß so keine Macht im Himmel und auf der Erde und in der Hölle wider uns sein und uns von Gott scheiden darf (Röm.8,31). Das ist der letzte strategische Rahmen dieses Geschehens. Das ist der Kampf Gottes und des Versuchers um unsere Seele.

Aber wir wissen, wer in diesem Kampfe immer schon gesiegt hat. Wir wissen, wer in dieser Wüstenstunde siegen wird. Wir wissen es, auch wenn wir als Umkämpfte und Angefochtene durch diese Weltzeit schreiten, bis wir Gott in seiner Glorie schauen von Angesicht zu Angesicht. Wir wissen es, auch wenn wir in dem Kampfe, der uns verordnet ist (in unserem Herzen oder draußen in der Welt oder in der Kirchengeschichte), blutende Köpfe haben und nicht glauben wollen, daß wir im Heer des Siegers sind und daß der Sieg schon errungen ist in jenem Kampf, den wir noch kämpfen. Das ist die frohe Nachricht inmitten der Schrecken der Endzeit, und das ist die göttliche Labung, die den Hufschlägen der apokalyptischen Reiter standhält.

So blicken wir auf den Sieger in diesem Kampf und auf den entscheidenden Augenblick seines Sieges, auf das dritte und letzte Stadium. Aber wir wissen schon: Wer zuletzt gekrönt wird, der ist Sieger. Und dieser letzte wird Jesus Christus sein.

 

DIE DRITTE VERSUCHUNG: JESU REICH VON DIESER WELT

Da nahm ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: »Dies alles will ich dir geben – wenn du niederfällst und mich anbetest.« – Da antwortete ihm Jesus: »Hinweg von mir, Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten und ihm allein dienen!«

34. Die leuchtende Landschaft

Der Versucher rückt mit dem letzten Angriff hervor. Königskronen blinken, Staaten stehen bereit, von ihren Göttern und Götzen zu lassen und Christus als Haupt anzunehmen. »Die Erde für Jesus Christus« klingt es verheißungsvoll in Jesu Ohren. Er hört ein Rauschen wie von vielen, vielen Fahnen. Eine Chance von unerhörtem Ausmaß! Er soll die Erde nicht schmerzlich erringen und im steten Kampf um sie bleiben müssen, er soll nicht immer nur über »Jerusalem« zu weinen brauchen, er soll nicht immer nur gekreuzigt werden, es soll nicht immer so bleiben, daß die Finsternis ihn nicht begreift, es soll nicht immer nur der Schmerz Gottes seine Brust zerreißen, der Schmerz über diese Welt: Nein, hier kommt die Welt selber her, hier sieht er sie leuchtend vor sich liegen und seiner Hand dargeboten: Jerusalem, die Schmerzensstadt, das mächtige und schon müde werdende Römerreich, das junge Germanien und die vielen, vielen andern Dörfer und Städte und Länder. Sie alle tun ihre Tore weit auf, und dieses Auftun scheint wie von fernem Singen begleitet: »Siehe, dein König kommt zu dir!« Und er, niemand anders als er, der Christus, soll dieser König sein. Und die Tore der Welt sind weit auf getan für die Bewegung, die er auf Erden entfachen wird und die man das »Christentum« nennt. Man wird nicht mehr von diesem Christentum abfallen: Alles, was in Raum und Zeit diese Erde erfüllt, wird ihm gehören: »Siehe, dein König kommt zu dir!«

Aber ist dieser Gesang nicht eine Parodie? Die Parodie auf einen Gesang, der ihm aus der eigenen Zukunft entgegen dringt: »Siehe, dein König kommt zu dir«? Dort singen sie wahrhaftig von seinem Königtum und streuen Palmen und jubeln ihm zu und wissen sich nicht zu lassen vor taumelnder Huldigung. Ist das nicht die Erfüllung dessen, was der Teufel ihm hier verheißt: die jubelnde Erfüllung seines purpurnen Königtums und seine Inthronisation als Herr dieser Erde?

O nein! Es ist der Weg zum Kreuze. Es ist der Weg zum Bankrott des Königtums oder zu jenem ironischen Königtum, dessen Majestätsbrief als Fetzen am Kreuze hängt: »Dies ist der Juden König!«. Dann wird die grölende Menge dem Barabbas zujubeln und nicht ihm (Matth.27,16). Welches von beiden ist nun das wirkliche Königtum und welches die Parodie? Ist das Königtum am Kreuz die Parodie auf dieses reale öffentliche Königtum, das ihm hier in der Wüste angeboten wird, oder – ist es umgekehrt -?

 

35. Der Globus in der teuflischen Hand

Aber da fällt es wie Schuppen von seinen Augen, und erschaudernd muß er sehen, wie diese Erde, die ihm angeboten wird, ein Globus ist in der Hand des Teufels, und wie der Teufel diesen Globus verführerisch dreht und vor ihm glitzern läßt. Nur in der Gestalt dieses Globus wird ihm die Erde angeboten. Und das Gesicht des Verführers lächelt hinter der kleinen Kugel, hinter dem            Apfel, der so lieblich anzusehen und so lustig ist, weil er so mächtig macht(1.Mo3,6). Der Verführer weiß:

»Wissen« und »Macht«, das sind seine besten Reißer! Das, was man so bildlich sich klarmachen kann, steckt deutlich in dem lapidaren Sätzlein, mit dem der Verführer sein Angebot schließt und das so leicht überlesen wird wie der Briefschluß »Hochachtungsvoll!« oder »Mit besten Grüßen!«. Denn es ist so, wie wenn der Verführer sich schon wieder abgewandt hätte von Jesus, um selbst ganz gebannt in die leuchtende Landschaft zu blicken, und wie wenn er sich nun doch noch ein letztes Mal mit einer kleinen Wendung seines Kopfes zu Jesus hinwendete und ganz beiläufig flüsterte: Natürlich nur, wenn du niederfällst und mich anbetest!

Dann wendet er sich vermutlich wieder ab, stellt sich gleichgültig und hofft, daß Jesus dies kleine Zusätzlein nicht gehört und seinen Pferdefuß übersehen habe. Der Teufel weiß nämlich, daß man den Menschen Gelegenheit geben muß, etwas zu überhören, daß man ihnen goldene und moralisch erleichternde Brücken zur Sünde bauen muß. Er weiß, daß es töricht wäre zu sagen: »Hör’ mal her, du Gottessohn: ich möchte, daß du mir untertan wärest. Unterschreibe zunächst mit deinem Blut. Dafür will ich dich so oder so entschädigen.« Nein! So nicht! Man muß das Gewissen von Gottes- und Menschensöhnen sehr vorsichtig, taktisch klug behandeln. Man muß dem Gewissen Gelegenheit geben, etwas nicht gehört zu haben oder nicht zu bemerken. Das, was man eigentlich will – so denkt der Teufel -, das muß man flüstern und dabei in eine andere Richtung blicken. Jesus hat das sofort durchschaut und gemerkt, daß der Nebensatz »So du niederfällst und mich anbetest« recht eigentlich der Hauptsatz war, daß es die Karte war, auf die der Verführer alles gesetzt hatte.

Aber der Verführer, der nachher allein auf den Trümmern seiner Hoffnungen sitzt, denkt: »Was mir bei dem Herrn nicht gelungen ist, das kann ja bei den Knechten noch glücken. Ich werde das Experiment an der Kirche dieses Christus jedenfalls immer neu machen. Das »Christentum« wird mein Todfeind bleiben. Aber ich werde doch nicht so dumm sein und das dem Christentum sagen! Nein, dann wird dieses Christentum höchstens hellhörig, dann wird sein Gewissen lebendig, dann fühlt es sich zum status confessionis1  aufgerufen. Diesen Status hasse ich mehr als alle Weihwasserkessel und Weihrauchgerüche. Sind die Menschen ihm erst verfallen, dann kann man gar nichts mehr mit ihnen machen. Dann lassen sie sich verbrennen, in Stücke reißen, von den Löwen fressen, kreuzigen, schlachten, hängen, ehe sie vor mir niederfallen und mich anbeten. Nein, den status confessionis muß ich vermeiden, koste es, was es wolle!

Wie ich das mache -? Da gibt es höllisch einfache Rezepte: Man muß nichts anderes tun, als den Gottes- und Menschensöhnen, den Kirchen und Christentümern Gelegenheit geben, zu übersehen und zu überhören, daß sie im status confessionis sind, man muß alles, was damit zu tun hat, in die Neben- und Nachsätze und zwischen die Zeilen drängen und sie dann nachher damit überraschen, daß sie sich — mir verschrieben haben.

 

36. Die Vision Jesu auf dem sehr hohen Berg

Ob der Teufel wohl noch oft jammern muß, daß seine Taktik jämmerlich Schiffbruch leidet – wenn auch nie wieder so furchtbar wie hier in der Wüste? Ob er noch öfter merken muß, daß er es nicht nur mit den Christen, sondern mit dem lebendigen Gott zu tun hat? Wird er mit seinen Neben- und Nachsätzen und seinen Tarnungsmanövern siegen?

 » … so du niederfällst und mich anbetest.«  Das war der kleine, scheinbar achtlos hingeworfene Nebensatz. Und doch steht dieser Nachsatz hinter allem als heimliche Bedingung:

»Du kannst Brot haben, du Sohn Gottes – so du niederfällst und mich anbetest.«

»Du kannst dich durch ein Wunder der Welt kundtun und von den Zinnen des Tempels herabspringen – so du niederfällst und mich anbetest.«

»Du kannst alle Reiche der Welt haben mit ihrer Herrlichkeit — so du niederfällst und mich anbetest.«

Was mag hierbei durch Jesu Seele gegangen sein —?
Nicht als ob wir dies Geheimnis ermessen dürften. Aber wir dürfen die Möglichkeiten ermessen, die sich seinen Augen boten, und einen Moment vor den Perspektiven erschauern, die seinen Augen erschlossen waren.

Da stand er auf einem »sehr hohen Berg« und sah seine Jünger aus allen Zeiten, die da wußten: »Dieser Jesus (das heißt: ich, der ich hier oben stehe), dieser Jesus hat das entscheidende und lösende Wort für die Welt zu sagen.« Und nun sah er, wie sie die verstockten Menschen gewaltsam zum Hören dieses Wortes bringen und wie sie seiner Lehre mit Gewalt zum Sieg verhelfen wollten. Die Fürsten und unbekannten Soldaten der Kirche würden seinen Namen zur Fahne der Gewalt, zu einer heiligen Fahne machen, und sie würden diese Fahne vorantragen und unter ihr sterben – auf tausend kleinen und großen Kreuzzügen und Kreuzrückzügen. War das alles nicht ähnlich dem, was er hier billiger haben konnte und was er, doch ablehnen mußte? Würden die Menschen diesen Verzicht begreifen? Oder würden vielleicht auch die, welche das Licht begriffen hatten, ihn doch wieder verwerfen, wenn sie solchen unerhörten Verzicht sahen?

Er sah Kulturen und Jahrhunderte, die seinen Namen trugen. Er sah »christliche Staaten«. Er, der nicht wußte und nie wissen würde, wohin er sein Haupt legen sollte, der hier in einsamer Wüste hungernd und dürstend darbte, er sah Prunk und Repräsentation, die man in seinem Namen entfaltete.

Dies alles sah er. Und dahinter stand das Kreuz als die andere Möglichkeit. Waren die Länder nicht eine berauschende Möglichkeit? Konnte er sie nicht seinem heiligen Ziel nutzbar machen? Warum sollte das Ja zu diesem Angebot denn heißen müssen, seiner Aufgabe untreu werden? Gewiß: Sein Reich war nicht von dieser Welt; aber wäre es nicht gut, auch diese Erde schon jenem kommenden Äon unterwerfen?

Dies alles mochte Jesus in diesem Augenblick bedenkt Es war der Augenblick, in dem er – kaum am Anfang schon im Zenit seines Lebens zu stehen schien. War er nicht auf einem sehr hohen Berg — wo würde er im nächsten Augenblick sein, wo — dort unten?

Von welchem der vielen Könige und Statthalter dort unten, die ihm auf einen Wink hin jetzt die Füße küssen würden, wird er verfolgt und gequält und – gekreuzigt werden?

Alle diese Reiche mit ihrer Herrlichkeit und dem Prunk ihrer Fürsten sah Jesus. Und dann sah er auch das andere, das Dunkle seiner eigenen Zukunft, und Fragen stiegen vor ihm auf:

Warum sollte Gott immer so wehrlos sein auf dieser Welt? War er nicht der Herr? Warum durfte man Ihm lästern und seinem Sohn ins Gesicht speien?

Sollte die Bewegung, die er auf Erden entfachen würde, sollte das »Christentum« nicht eine Weltanschauung sein können, der ganze Völker, Kultur und Jahrhunderte zusammenhielt?

Sollte er etwa nur ein Ferment der Zersetzung auf dieser Erde sein, ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses, woran sich die Geister immer nur scheiden und auseinandergehen? So wie ein Brückenpfeiler den Strom scheidet, der hoch an ihm emporbrandet?

Und wenn Jesus dies auch nicht selber gedacht hat, seine Jünger aus allen Zeiten und Völkern haben gehadert mit diesem Gedanken und haben mit dem schimmernden Anblick gerungen, der sich vom Gipfel der Berge aus bot, auf denen sie standen und auf die sie immer neu geführt wurden. Gewiß: dieser Jesus war gekommen, daß er ein Feuer anzünde auf Erden. Aber war dieses Feuer nicht zu schwach, um die Erde in Asche zu legen und die neue Welt herabzuzwingen? Und war es nicht zu stark, um erstickt werden zu können? Und, war es nicht also ein Unruheherd, eine flackernde, irritierende, die Menschen in Atem haltende, sie schmerzende Flamme?

So dachten und denken die Christen, wenn sie nach ihrem Meister auf jenen »hohen Berg« geführt werden und mit Gott hadern.

 

37. Die Verzagtheit der Christen

Jesus sah dies alles. Er sah, daß es so kommen würde. Er sah, wie die Menschen verzweifelten über seine Wehrlosigkeit, seine Verborgenheit und seine unkönigliche Knechtsgestalt: »Wie lang hältst du unsere Seele auf? Bist du Christus, so sage es uns frei heraus«, sag’ es uns offen, machtvoll, imponierend, unbezweifelbar, so riefen die Menschen. »Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten« – so haderten sie und warteten auf eine neue Fahne, auf ein offen und glanzvoll erhobenes Panier, für das sie gerne gestorben wären.

Er sah – welch ein Gegenstück zu den leuchtenden Reichen da unten! -, er sah die Kreise der zwei oder drei, die verzagt und angefochten waren ob ihrer Machtlosigkeit. Würden sie noch glauben können, daß durch Gott, zu Gott und von Gott alle Dinge seien, wenn man so wenig von ihm und seinem Sohne merkte? Er sah die Jünger, wie er beim Abschied ihren Blicken entschwand und sie alleine zurückließ. Er hörte seinen eigenen Ruf: Eli, Eli, lama asabtha das heißt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mark.15,34).

Warum mußte er die Welt in Unruhe setzen und doch so ohnmächtig sein, ja gerade durch seine Ohnmacht (durch das Mysterium der Ohnmacht Gottes) solche Unruhe stiften?

Vielleicht oder bestimmt war es ja richtig, daß die Menschen dieser Welt Rebellen und Empörer sind, daß unfromm in ihrem Herzen sind, ihre eigenen Götter anbeten und nicht nach Gott fragen. Aber wäre es nicht barmherziger und besser, wenn Gott dies Geheimnis für sich behielte, statt es durch seinen Sohn, durch Apostel und Propheten in diese Welt hineinzurufen und dann so still auf die Menschen zu warten? Und wenn er’s schon ruft, nun, warum dann nur vom Kreuz her und nicht mit donnernder Himmelsstimme, von Schwert und Macht und Königreichen begleitet, so daß die Menschen hören müssen, um der Barmherzigkeit willen dies Geheimnis hören müssen?!

Ach, es war schwer, nur ein Gekreuzigter zu sein. Es war schwer, nur ein Stein zu sein, der in den Tümpel der Welt gefallen ist und der nun immerfort seine Kreise zieht, während er selbst nicht mehr gesehen wird.

Dies alles flüstert der Teufel dem Gottessohn zu, mit Worten, Gebärden und mit der Demonstration seiner Herrlichkeit. Dann wendet er sich wieder ab. Denn man muß das, was man gesagt und demonstriert hat, auch nachwirken lassen. Man muß die Menschen dem Hader ihrer Seele überlassen. Der Versucher weiß, daß er in dieser Seele seinen besten Stützpunkt hat.

 

38. Der Zusammenprall des Verführers mit Gott

Aber da geschieht die Antwort von Jesus her. Eine Antwort, die den Teufel herumfahren läßt. Und diese Antwort geschieht, wie alle andern Antworten geschehen waren: nämlich so, daß Jesus Christus zurücktritt vom Mittelpunkt des Kampfes, daß er hinter Gott tritt. Denn er weiß, es ist Gott, um den und mit dem hier gekämpft wird. So stellt Jesus Christus den Rahmen dieses Geschehens heraus, indem er hinter Gott zurücktritt. Er gibt diesem Kampfe die Perspektive, aus der er allein gesehen werden kann, von der aus allein die Mächte sichtbar werden, die hier im Streit sind. Aber Jesus tritt genau so hinter Gott zurück, wie er es schon früher tat, nämlich so, daß er dabei unter sein Wort tritt: »Es steht geschrieben«.

Und in diesem Worte heißt es: »Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen«. Der Herr wird hier auf den Plan gerufen. Weiß der Teufel, was das bedeutet? Ahnt er jetzt, mit wem er sich eingelassen hat? Ahnt er, was es heißt, daß er gegen Christus antritt, in dem doch Gott selbst ihm die Stirne bietet und mit dem Schwerte herniederfährt? – Und ahnt er, was es heißt, die Kirche jenes Christus zu verfolgen, die sein Leib ist (1.Kor.10,16); und das Volk Gottes anzurühren, das er behütet wie seinen Augapfel (5.Mo.32,10), und die Jünger jenes Christus zu bedrängen, die doch mit ihm gestorben, sich selbst und der Sünde abgestorben sind und nun in ihm leben ( und Christus in ihnen (Gal.2,20)?

Ahnt er, mit wem er ein Spiel begonnen hat und daß es nicht Fleisch und Blut ist, das sich als mächtiger Arm ihm entgegenreckt und ihn hinwegschlägt vom Berg hinab in seine düsteren Täler und Abgründe: »Hebe dich hinweg von mir, Satan!« -? Ahnt er; daß er erkannt ist, wenn er mitten in die Kirche einbricht, daß er selbst dann erkannt ist, wenn der Husarenstreich ihm gelingt, Apostel und Bischöfe und Generalsuperintendenten in feierlichem Zuge vor sich hergehen zu lassen -? Wie es auch dann ihm entgegendröhnt: »Hebe dich, Satan, von mir! Du bist mir ärgerlich. Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist!« -?

Ja: Der Versucher mag ahnen, daß er nicht in Fleisch gestochen hat, sondern daß er auf den lebendigen Gott, auf den Herren selber getroffen ist. Er hat das Statut gehört, daß der Gottessohn Mensch geworden ist, ja daß er versucht ist gleich wie wir und daß alles, was gegen die Seinen geschieht, gegen ihn selber geschieht. »Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an« (Sach.2,12; 1.Joh.5,18). Das ist gerade der Rahmen dieses Geschehens, der hier deutlich wird, der Rahmen: Gott und Satan; und der Mensch als Schwert des einen oder des andern; als Augapfel des einen oder des andern; aber nicht selber als Thema; Gott ist das Thema.

 

39. Das Geheimnis der Wehrlosigkeit Jesu

Was heißt das alles? Doch wohl dies:

Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden, ist an unserer Stelle und mit uns zusammen als unser Bruder und Gefährte vom Argen bedrängt. Das ist, in den dürren Worten des Dogmas gesprochen, zunächst das Geheimnis dessen, warum Gott so wehrlos scheint auf dieser Welt, warum er am Kreuz so wehr- und klagelos sich seinen Feinden preisgibt und anspeien und töten läßt. Das ist das Geheimnis dessen, daß Jesus hier die Mächte und Königreiche verschmähen muß, warum er arm bleibt und ohne Waffen und den Menschen – dargeboten. Seine Wehrlosigkeit gehört zum innersten Wesen seines Berufs:

Sein Beruf besteht darin, daß er die Liebe Gottes verkündet, nein, daß er diese Liebe bringt, daß sie leibhaftig in ihm selber da ist: »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab…« (Joh.3,16). Und diese Liebe ist darum so unbegreiflich in ihrem Wunder, weil sie besagt:

Siehe, da ist Gott an deiner Seite als dein Bruder, ein Mensch geworden gleich wie du. Und der da zu deiner Rechten geht, Mensch, das ist der Gott, den du verleugnest in allen deinen Werken, Worten und Gedanken, ohne den du leben und vor dem du Ruhe haben und sicher sein willst, vor allem, weil du ihn fürchtest. Du gleichst jenen, die rufen: »Haltet den Dieb!«, denn du sagst: »Gott ist tot!«, und siehe: Du selbst bist tot, bist schon längst an Gott und von ihm weg gestorben und vegetierst dahin, wie deine Götter vegetieren (trotz aller Aktivität deines Lebens!). – Du berufst dich auf deine Größe und Tatkraft, Mensch? Ach, sind nicht auch deine Götter und Ideologien groß und imposant, voll Goldes und vieler Kunst und hoher Gedanken, und sind dennoch tot, und sind Nichtse, wenn du auf den schaust, der alles ist, und sind versunken, wenn dir der kund wird, der das Nichts rief, daß es »sei« ? – So bist du selber tot, Mensch, vor dem lebendigen Gott, mitsamt deinen Göttern.

Und weißt du, worin dieser dein Tod besteht? Er besteht darin, daß du keine Gemeinschaft mit Gott hast. Und darum mußt du immer wieder zuerst an Gott sterben, so wie Menschen und Kreaturen sterben müssen, die in den Umkreis seiner Majestät kommen und den heiligen Berg berühren: das ist deine Krankheit zum Tode. Und tot sein, das heißt hier: daß Gott dir unendlich ferne rückt, ja, daß er über den Horizont deines Lebens hinaus flieht und du keine Gemeinschaft mehr mit ihm hast und nun umherirrst. Deinen Religionen, Mensch, nachgehen und die Tröstungen deiner Weltweisheit studieren, heißt nichts anderes, als den Spuren dieser Irrsal nachgehen.

Und siehe: Nun ist dieser ferne Gott dir in unbegreiflicher Liebe nahegekommen. Wo du ihn nicht greifen konntest, hat er dich ergriffen. Wo du ihn nicht suchen konntest, hat er dich gefunden. Wo du ihn verfolgtest, hat er dich geliebt.

Du fragst, wie das geschah? Es geschah so, daß Gott zu dir niederfuhr, daß er dich aufsuchte. Es geschah so, daß er dein Bruder wurde. Es geschah so, daß er sich selbst in den Abgrund stellte, der zwischen dir und ihm gähnt und den du im Trotze aufgerissen hattest. Es geschah so, daß er mit dir in eine Reihe rückte, daß er an Gebärden als ein Mensch erfunden ward, daß er versucht ist gleich wie du und ich und mit dir und an deiner Seite den Argen erträgt. Es geschah so, daß er deine Einsamkeit auf seine Schultern nimmt, deinen Tod stirbt, deine Angst kostet, dein Gefängnis ertragen und selber gefangengenommen hat, – auf daß sich kein Fleisch rühme (Eph.4,8).

Begreifst du nun, was Gottes Wehrlosigkeit auf dieser Welt bedeutet? Begreifst du, daß sie das Zeichen seiner Liebe, seiner Bruderschaft mit dir, das Zeichen seiner – Menschwerdung ist? Ahnst du, daß es ein Opfer Gottes ist, das Opfer, das hier kund wird? Er gibt sich dir hin, und was du aus ihm gemacht hast, das zeigt das Kreuz. Aber ist das Kreuz nicht darum — trotz allem! – sein größtes Liebeszeichen? Steht es nicht eben am Ende seines Liebesweges zu und mit dir -? Und ist nicht auch das noch Liebe – wehrlose Liebe -, daß er im Kreuze enthüllt, wie du im tiefsten Herzen zu ihm stehst: nämlich ablehnend, unbegreifend, ohne Gegenliebe, und wie er in einer letzten Demonstration seiner wandellosen Liebe und deines wandellosen Hasses – an dir stirbt?

Gott muß am Menschen sterben, damit dieser Mensch sein Herz erfährt und damit er geprüft und enthüllt sieht, was er selber nicht von sich weiß oder nur dunkel ahnt8. Gott muß für den Menschen sterben, damit dieser Mensch zugleich und über all dies hinausdas Herz Gottes erfährt und erkennen darf, daß es ihm ganz geöffnet und voller Evangelium ist. Das ist das Geheimnis von Gottes Wehrlosigkeit.

40. Gnade und Gericht in Jesu Wehrlosigkeit

Und wenn dies Geheimnis umschrieben werden solldann ist es nur möglich mit einem neuen Geheimnismit dem geheimen Wort »Gnade«. Es ist Gnade, daßGott, der ferne Gott, zum Menschen kommt, sich ihmhingibt und damit das Preisgegebensein an ihn erträgt.Es ist Gnade, wenn er aus dieser Verhüllung und Maske – und wahrlich: mehr als Maske! —, aus dieser Maskedes Bruders, des Knechtes, des Gekreuzigten, des Versuchten, des – Wehrlosen je und je hervorstößt und mitten im Bettlergewand und unter »der Decke des Kreuzes« als der Herr aller Herren und König allerKönige sichtbar wird (Matth.16,16).

Gott ist im menschgewordenen Wort, ist in Christus offenbar, leibhaftig da. Das ist Gnade. Aber daß er uns in dieser Verhüllung – dir und mir – offenbar und niemit Bettlern und Religionsstiftern verwechselt wird, wie unsere blöden, gehaltenen Augen es möchten, das ist wiederum Gnade. Es ist alles Gnade: daß Christus da ist und daß er für uns da ist; daß das Licht in die Finsternis kam und daß er zu uns und zu mir kam (wie hätten wir es sonst erkennen können?). So hat es Luther gewußt und wieder und wieder bezeugt: Gottes Gnade ist Wehrlosigkeit und nicht Macht; sie ist Kreuz und nicht Glorie; sie ist leiser Wind und nicht Erdbeben oder Feuer, sie ist zu »glauben« und nicht zu »schauen«, sie ist Geschenk des Geistes und nicht offene Demonstration.

Dies alles ist Gottes Gnade mit ihrem Geheimnis. Und ihr tiefstes Geheimnis ist dies, daß sie immer zugleich Gericht ist, ja, daß sie stets auch diese andere, düstere Seite besitzt: Denn ist es nun nicht so, schrecklicherweise so, daß man sich vor dieser Gnade verstecken kann, daß man sie – gerade weil sie so wehrlos ist – verlästern und sich wider sie entscheiden darf, während dies alles vor der weltlichen Macht, vor den »Reichen und ihrer Herrlichkeit« nicht möglich ist? Darf man nicht ungestraft reden von dem »imaginären Herrn«? Darf man nicht ungestraft diese wehrlose Gnade und den wehrlosen Herrn zu allem und jedem mißbrauchen, zu falschem Schwören, zu kluger Religionspolitik, zu goldenen Schmuckstücken, zu frommem Nervenkitzel oder auch zum Sündenbock, dem man die angebliche Fehlentwicklung des Volkes oder gar der abendländischen Geschichte aufhalsen darf? Und kein Blitz fährt hernieder.  Nein,  das  Lamm geht zur  Schlachtbank (Jes.53,7) – immer neu, immer neu -, und seinen Missetätern geschieht nichts, was man ja sehen könnte.

Die Gnade Gottes ist eine Anfrage an die Welt, und nun hat die Welt (und das sind doch wohl wir, die wir hier schreiben und lesen) die Antwort. Und dann kommt der Tag Gottes – da ist es mit dem Fragen vorbei, da ist Gott allein und nur noch — der Antwortende. Und seine Antwort ist Wehr und Waffe, Feuer und Macht, Erdbeben und Sturm. Der Wehrlose wird aller Welt als der Allmächtige kund, als der, der dieser Allmächtige immer schon war.

Der ohne Königreiche und ohne die Herrlichkeit dieser Welt unter uns weilte, trug doch diese Erde in seiner Hand. Der ärmer war und heimatloser als die Füchse, war doch aller Kreaturen Herr. »Ich (der Allmächtige!) bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich (der Allmächtige!) bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich (der Allmächtige!) bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich (der Allmächtige!) bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich (der Allmächtige!) bin krank und gefangen – bin wehrlos — gewesen, und ihr habt mich nicht besucht« (Matth.25,42).

Dann werden sie fragen: Wo warst du denn? Wir sahen dich ja nicht! Wir sahen nur Kreuz und Niedrigkeit, wo wir Glorie erwartet hätten! Wo war deine Legitimation? Wer sagte es uns denn, daß du es warst? Es gibt so viele Lügenpropheten und Pseudokönige! Dann wird der Herr auf die lange Reihe seiner Knechte deuten, auf die Verfolgten, die Nackten, die Bloßen, die Hungernden und Dürstenden, die Gekreuzigten und Verbrannten, die doch seinem Leib angehörten, in denen man seinen Augapfel antastete und ihn selber quälte und kreuzigte und verachtete.

Und nun kommt die Antwort: »Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir nicht getan«.

So ist alle Wehrlosigkeit des Gottessohnes und seiner Gnade eine Weissagung auf seinen Tag, auf die offene Gottesherrschaft, die hier erst angebrochen und heimlich da ist und als verachteter Lazarus an der Hintertür der Welt wartet, weil der reiche Herr im Hause nicht will, daß sie seine Portale durchschreite. Sie wartet und erbebt in heimlicher Macht, denn alles ist ihrer. Es rieselt schon im Gebälk des Hauses, und ein Zittern wie von abgründigen Mächten schüttelt wieder und wieder die Säulen und Fassaden.

Aber der reiche Mann meint: das Stampfen seines gewaltigen Fußes täte dies alles. Und er legt kostbare Teppiche über den Stein, damit das Grollen der Tiefe ihn nicht mehr störe.

EPILOG
Als Jesus dies alles gesagt und wider den Teufel ausgerichtet hatte, »da verließ ihn der Teufel und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm«.

Welcher Schluß dieser Stunde! Und was beschließt diese Stunde in sich an Abgründen und Himmelreichen! Christus war »versucht gleich wie wir« – das ist das eine Wunder dieser Stunde. Denn weil er so versucht ist, hat er »Mitleiden mit unserer Schwachheit«, haben wir einen Bruder in der tiefsten Gefahr unseres Lebens. Es gibt nun keinen einsamen Punkt dieses Lebens mehr.

Doch liegt noch ein anderes Wunder in alledem: »Er ist versucht gleich wie wir – –  doch ohne Sünde.«

Können wir ermessen, was das heißt? Wir denken an unsern Ausgangspunkt, wir denken daran, daß Jesus in die Wüste, in die Einsamkeit mußte, um versucht zu werden, und nicht – wie es doch nahe lag! – in die Welt der sündlichen, verführerischen Gelegenheiten. Das war uns ein Hinweis auf den Sinn der Versuchung. Denn wir sahen: Das Geheimnis der Versuchung ist die Versuchlichkeit des Menschen. Dies Geheimnis liegt in ihm, nicht außerhalb  seiner, zum Beispiel nicht in den sündlichen Gelegenheiten. In ihm gähnt der Abgrund, auch wenn er ihn tausendmal überspringt. Er ist vom Diebstahl versucht, weil er ein Dieb ist, auch wenn er faktisch nicht stiehlt. Er ist zum Töten versucht, weil er ein Mörder ist, auch wenn er faktisch den Bruder nicht erschlägt.

Die Möglichkeit also, daß wir überhaupt in die Versuchung zur Lüge, zum Diebstahl, zum Ehebruch kommen können, zeigt uns schon, daß wir lügnerische Geschöpfe sind. Wir kommen aus dieser Grundverfassung unseres Lebens nicht heraus, auch wenn wir uns totsiegen gegen die Lüge und wenn wir die Wahrheit mit allen Kräften des Leibes und der Seele erkämpfen. Die Versuchung zur Lüge bleibt; der Abgrund in uns gähnt; die Sünde lauert in unerbittlicher Gier.

Das ist die erschütternde Lehre von der Versuchung. »Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes«(Röm.7,24)?

Hier wird das letzte, das tiefste Wunder von Jesu Versuchung offenbar, das unbegreifliche Wunder, das anzubeten ist: daß er versucht ward ohne Sünde. Es ist das Wunder, das ihn über uns erhebt und sein Wesen nicht darin erschöpft sein läßt, daß er bloß unser mitleidender Bruder ist: Weil er versucht ist gleich wie wir, ist er in unsere tiefste Niedrigkeit eingegangen. Aber weil diese Versuchung nicht ein Zeichen dafür war, daß ein Abgrund in ihm gähnte und daß der Satan schon irgendwie in ihm steckte, sondern weil diese Versuchung über ihn, den Reinen, Sündenlosen, kam und er durch sie hindurchschritt, unberührt, wie später durch die Volksmenge, die ihn greifen wollte, darum ist er der Herr der Versuchung, der königliche Sieger. Sündlos und dennoch versucht – das ist ein Rätsel, dessen unser Verstand niemals mächtig wird.

So sehen wir ihn mitten in seiner Niedrigkeit hoch erhöht über alles Menschliche. Wir sehen ihn erhöht als den Herrn, der die Sünde unter die Füße getreten hat, als den Hohenpriester, der mehr ist als alle Priester des Menschen -geschlechtes in ihrer Verfallenheit an Sünde und Tod.

So haben wir einen doppelten Trost: Weil Christus unser Bruder ist, sind wir nicht einsam in unserer Versuchung. Er leidet sie mit uns in alle Tiefen hinein, die Satan ersonnen hat.

Und weil er der Herr ist, der jenseits aller Sünde in der Reinheit des Himmels steht, darum dürfen wir ihn bitten, daß er uns vor der Versuchung bewahre. Wir sind seiner Liebe in alle Ewigkeit gewiß. Christus schreitet nicht nur zu unserer Rechten wider Tod und Teufel, sondern er hält uns auch aus seiner ewigen Höhe, weil er der Herr ist.

Das Geborgensein unter seiner Macht gibt uns jenen Frieden, den die Welt nicht zu geben und zu nehmen vermag. Wie klein ist doch der Friede, den die Welt gibt! Vielleicht daß es die Ruhe derer ist, die glauben, den Sinn des Weltgeschehens entschleiert zu haben, und die sich friedvoll darein schicken, weil sie einen Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht fanden — oder daß es die uninteressierte Gleichgültigkeit derer ist, die kommen lassen, was da kommt. Der Friede Jesu aber, den die Welt nicht geben und nicht nehmen kann, ist der Friede jener doppelten Gewißheit, daß Christus der Herr des Geschehens ist, das um uns brandet, der Herr auch jener Tiefe im menschlichen Geschehen, die wir als Versuchung, als Hangen zwischen Gott und Satan fanden. Und er ist der Friede jener anderen Gewißheit, daß Christus auch in jenem Geschehen, in jener Tiefe bei uns ist.

Herr und Bruder, König und Gefährte, herrschend und mitleidend: das ist das hohe Wunder von Jesu Heilandsmacht. Wir schreiten unter diesem Wunder wie unter dem Himmel, der uns überwölbt, wo immer wir stehen mögen. Wir leben im Namen dieses Wunders. Jesus unser Herr und Bruder! Das schenkt uns den Frieden, der höher ist als alle Vernunft.

Die Hervorhebungen im Text wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im Februar 2014

 

www.horst-koch.de  –  info@horst-koch.de

 

ANHANG

Helmut Thielicke wurde 1908 in Barmen geboren. Nach einem Studium in Greifswald, Marburg, Erlangen und Bonn erfolgte die Promotion in Theologie und Philosophie. Thielicke ist Ehrendoktor der Universitäten Heidelberg und Glasgow. 1936 wurde er mit dem kommissarischen Ordinariat für Systematische Theologie und Religionsphilosophie in Heidelberg betraut. 1940 ist Thielicke durch das Nationalsozialistische Regime abgesetzt worden und mit Reichs-Reise- und Redeverbot belegt worden. Bis Kriegsende war Thielicke dann Pfarrer in Ravensburg und Leiter des Theologischen Amtes der Württ. Landeskirche. 1945 wurde er ordentlicher Professor in Tübingen, 1951 Rektor der Universität und Präsident der Rektorenkonferenz. 1954 erfolgte die Berufung an die Universität Hamburg und als Prediger an St. Michaelis.

 

                 

 

 

 




Gottes Gebot im Chaos dieser Zeit (Huntemann)

Georg Huntemann

 

Der verlorene Maßstab

 –  Gottes Gebot im Chaos dieser Zeit  –

 

Vorwort

Die unübersehbare Auflösung herkömmlicher Normen und Ordnungen erzwingt Antwort auf die Frage: »Was sollen wir tun?«
Maßstäbe ethischer Entscheidung, die noch bis vor kurzem als unantastbar galten, werden »hinterfragt« und verschwinden im Unbestimmbaren der »Gesellschaft«. Umso dringender ist aus biblischer Verantwortung das Hören auf den Willen Gottes.
Hat auch die »Gesellschaft« den Maßstab der Unterscheidung zwischen »Gut und Böse« verloren? Die Christen werden umso dringender nach dem endgültigen Maßstab für rechtes Handeln und den Sinn des Lebens fragen.  . . .

Bremen, im Januar 1983    Georg Huntemann

 

Teil I  Ohne Offenbarung kein Ethos

Bilanz eines moralischen Bankrotts

Unsere moderne Gesellschaft ist eine »wertelose« oder wertverlorene Gesellschaft. Was wir tun und diskutieren, geschieht nicht mehr auf dem Grund solcher Werte, die als absolute Werte für alle verbindlich wären. Deswegen leben, denken und handeln wir am Rande des Bodenlosen. Wir leben ethisch von der Hand in den Mund. Weil wir keine Maßstäbe mehr haben, leben wir in der Angst davor, wie und wohin es weitergehen soll.

Eine Repräsentativbefragung des Emnid-Instituts Anfang 1981 über illegale Hausbesetzungen ergab, daß nur 51 Prozent der Bürger der Bundesrepublik Hausbesetzungen als widerrechtlich verurteilen. 44 Prozent der Bundesbürger mit Abitur oder Universitätsabschluß sympathisieren mit illegalen Hausbesetzungen, während nur 32 Prozent der Arbeiter die Besetzungen leerstehender Wohnungen bejahen. Von allen befragten Jugendlichen wiederum sind nur 29 Prozent der Meinung, daß Haus- und Wohnungsbesetzungen unrechtmäßig seien.

Nach Besitz, Bildung, Geschlecht und Generation variieren Wertmaßstäbe, die für die Alltagspraxis unmittelbare Anwendungsbedeutung haben. Sie irritieren die Politiker, denen verbindliche Orientierungsdaten fehlen. Der Pluralismus der Meinungen führt zu einem Pluralismus der Werte, der Rechtsverbindlichkeit und Rechtseinheit aufhebt.

Für die Befolgung und Sicherung eines noch geltenden Rechtes kann der Staat nicht mehr garantieren. Schon jetzt gibt es neben dem offiziell geltenden Recht immer größer werdende Bereiche eines »revolutionären« Rechtes. Im bürgerkriegsähnlichen Scenarium der »Straße« und in den Subkulturen ganzer Wohnblocks oder Stadtteile werden rechtlose oder rechtswidrige »Freiräume«. geduldet. Der Staat muß Rechtswidrigkeiten dulden, weil er durch fortschreitende Rechtsverfremdung seiner Bürger dazu gezwungen wird.

Vom Auftreten dieser Ereignisse kann nur überrascht sein, wer noch nicht eingesehen hat, daß Moral und Recht schon lange nicht mehr von einer absoluten, d.h. für alle Zeiten und Räume geltenden Ordnung, sondern von einem general acceptance bestimmt werden. In der modernen Gesellschaft läßt sich nur soviel an Moral und Recht durchsetzen, als von dieser Gesellschaft akzeptiert wird.

Moral und Recht degenerieren nicht nur in der big society, sondern auch in der Kirche, die bislang als Hüterin einer absoluten Moral bei jenen galt, die das Treiben moderner Theologie noch nicht durchschaut hatten. Dazu ein Beispiel: In 1. Timotheus 3,12 heißt es über die Diakone in der Urgemeinde: »Die Diakone sollen jeder ein Mann einer Frau sein, den Kindern und ihren eigenen Häusern gut vorstehen.« Offensichtlich wird hier von einem Diakon nach göttlichen, eben biblischen Normen nicht nur erwartet, sondern verlangt, daß er verheiratet ist, Familie hat und dieser Familie vorsteht. Heute, 1981, meint der bekannte Berliner Theologe Helmut Gollwitzer, daß es »unmenschlich« und »unmoralisch« sei (IDEA 48/81), einen Diakon wegen seines Berufes zu nötigen, seine Freundin zu heiraten, mit der er seit acht Jahren außerehelich zusammenlebt. Der Weg in die Ehe könne — so Gollwitzer — nur erhofft, aber nicht reglementiert werden. Neben dem »Recht des Ordnungsraumes Ehe und Familie« wird es also auch in der Kirche den zu tolerierenden Unrechtsraum »freie Partnerschaft« für Diakone und dann sicherlich eines Tages auch für Pfarrer und Bischöfe geben. Und ganz sicherlich wird man sich dann auf ein general acceptance in der Großkirche berufen können.

Diese kleinen Beispiele zeigen, wie z.B. Eigentum und Ehe aus herkömmlichen Rechts- und Ordnungsräumen entlassen werden.

Gibt es überhaupt noch einen »Rechts- und Ordnungsraum«? Anders gefragt: Haben wir noch ein absolutes Recht mit Unterscheidung von Gut und Böse, vor dem es kein Ansehen der Person gibt, vor dem also alle Menschen gleich verantwortlich sind?

In den sechziger Jahren wurde diese Frage in England — damals am »Phänomen Homosexualität« — mit einem gewaltigen Aufmarsch an Argumenten durchgestritten. Dabei stellte L.A. Hart (»Law, liberty and morality«, 1963) die These auf, daß es eine alle Menschen verpflichtende Moral gar nicht mehr gäbe. Der moderne Staat müsse von einer pluralistischen Moral ausgehen . . .

Moral und Gemeinwohl werden also auseinanderdividiert! Bigamie, Homosexualität, Abtreibung — um diese Probleme ging es damals in England — berühren nach dieser Auffassung das Gemeinwohl nicht!  . . .

Die Gesellschaft will einen Anspruch darauf haben, unmoralisch zu sein. Ja, die Rechtsordnung einer Gesellschaft müsse so formuliert werden, daß herkömmlich verstandene Unmoral (Gotteslästerung, Zersetzung elterlicher Autorität, Okkupation fremden Eigentums, Bigamie, Homosexualität, Tötung ungeborenen Lebens usw.) als akzeptable Ordnung beurteilt würde. Mittlerweile hat also das »general acceptance« den Anti-Moralisten unter den Juristen vollauf recht gegeben. Auch die sogenannte schweigende Mehrheit ist zwar immer noch für law and order, aber erst kommt order und dann law, und über morality kann man dann immer noch reden.

Die »schweigende Mehrheit« hat nicht begriffen, daß zum Beispiel ihr mehr oder weniger angesammeltes Eigentum nicht geschützt werden kann, wenn Bigamie und Homosexualität bejaht und die Familie verneint wird. Die konsequente Ganzheitlichkeit des Ethos als christliches, biblisch geoffenbartes Ethos wird weder erkannt noch anerkannt.

Während der herkömmliche Rechtsstaat durch unantastbare Werte, die ihren Ursprung im biblischen Offenbarungsethos hatten, geprägt war, ist der moderne Staat mit seiner Mammutgesetzgebung nur noch eine Sozialregulation für eine moderne Gesellschaft in einer »unbegrenzten Erwartungssituation« mit Ansprüchen auf Selbstverwirklichung um jeden Preis. Gut ist, was der meist lustbetonten und konsumorientierten Gesellschaft dient. Diese lustbetonte Erwartungshaltung setzt einen Druck von Ansprüchen frei. Die »unbegrenzte Erwartungssituation« bildet sich zumeist an defekter Basis, also immer dort, wo bereits ganze Gruppen aus herkömmlicher Moral ausgestiegen sind. Kinder, Schüler, Studenten (im »Anti« zur Familie erzogen), Geschiedene, Frauenbewegte, sexuelle Minderheiten, Hausbesetzer, Fremdarbeiter werden in ein Anspruchsdenken eingeführt, das die bestehende Rechtsordnung immer nachhaltiger abbröckeln läßt.

Solange dieses verzehrende Glücksverlangen durch immer neue Verhaltensmuster befriedigt werden konnte, funktionierte dieses System. Gibt es aber entweder keine »Standards« der Glücksrealisierung mehr oder kann die Gesellschaft mangels Leistung und Energie diese Glücksansprüche nicht mehr erfüllen, dann ist das System bedroht, und es stellt sich — heute für alle europäischen Staaten — das Problem der Regierbarkeit einer Gesellschaft, wobei dann die »schweigende Mehrheit« auch plötzlich entdecken muß, daß sie ohne das Dach eines zugleich verpflichtenden, aber auch schützenden Ethos unsicher dahinlebt.

Neid und Gier sind legitime Kinder der Frustration und destabilisieren die ohne Prinzipien nunmehr recht- und ordnungslos gewordene Gesellschaft. Die Gesellschaft des »Habens« will nicht nur nichts hergeben, sondern sie will noch mehr haben. Der Kampf um das Haben führt über die Verschuldung einer Gesellschaft zum Bankrott mit dem drohenden Konflikt eines Kampfes aller gegen alle um den schäbigen Rest. Der Staat wird nur noch verschwommen als Ordnungsfaktor zur Erhaltung eines politischen Gemeinwesens verstanden, schon gar nicht mehr ist er Institution eines absoluten Rechtes. Daß aber Ordnung ohne ein absolutes Recht nicht überleben kann, wird in der nächsten Zukunft in bitterer Weise zu lernen sein. Das Thema unserer kommenden Jahrzehnte ist die Konsequenz der Zerstörung der Moral, die einst die Voraussetzung dafür war, daß wir leben und überleben konnten.

Die Destruktion des Ethos der Offenbarung

Warum mußte es so kommen, wie es kam? Die gegenwärtig so offenkundige Auflösung unseres herkömmlichen Ethos mit den gesellschaftsauflösenden Folgen kann gar nicht überraschen, wenn man die schon lange wirkende Zerstörung des biblischen Ethos beachtet. Die neuzeitliche europäische Moralphilosophie hat das Zueinander von Gebot und Gebieter, Ethos und Offenbarung systematisch und mit dämonischer Konsequenz kaputtgemacht.

Der Kernprozeß der Demoralisierung, der heute in den emanzipatorischen Bewegungen (z.B. die Negative Dialektik der Frankfurter Schule — vergl. dazu mein Buch »Die Zerstörung der Person«, 1981) seinen Höhepunkt bereits überschritten hat, begann in dem Augenblick, als die Moral »enttheologisiert«, vom offenbarten Wort der Bibel abgetrennt wurde. Die geschichtlichen Ursprünge dieses Kernprozesses können im Rahmen dieses Buches nicht dargestellt werden. Aber aus diesem heute praktisch abgeschlossenen Kernprozeß der Entkerygmatisierung des Ethos ragt eine Philosophie heraus, die wie keine andere das Ethos eines liberal-bürgerlichen Christentums belieferte. Dabei hat Immanuel Kant vor sein unchristliches Gebäude mit unvorstellbarer List eine christliche Fassade errichtet, die alle Voraussetzungen für die Degeneration des christlichen Ethos schuf, dessen letzte Konsequenzen wir heute erleben.

Immanuel Kant ist der Klassiker unter den Klassikern der gegenchristlichen deutschen Philosophie. Kein Mißverständnis: Kant ist nicht der Vater des Bankrotts christlicher Ethik, er ist aber in der Abfolge der vielen Ereignisse ein Modell, ein gefährliches, weil letztlich so heimtückisches Beispiel, an dem die unterschwellige Entwurzelung des christlichen Ethos dargestellt werden kann.

Kant hat, das ist »seine Tat«, die Maxime (höchsten Grundsatz) 
des Ethos vom Gehorsam in den Willen, vom Worte Gottes in die 
Vernunft gelegt. Kants Ethik ist der bewußte Schritt von der Heteronomie zur Autonomie des Ethischen: Die Sittlichkeit soll sich 
gründen auf die praktische Vernunft, sie soll hinfort jene Grundsätze festlegen, die den Willen und damit das Handeln bestimmen.
 Diese »Imperative« — so meint Kant — sind in jedem Menschen 
angesprochen, und sie sind unbedingt (kategorisch), also für alle
 Menschen unter allen Umständen, eben als »kategorische Imperative« gültig.           

Die Sittlichkeit ist also nach Kant auf die Selbstgesetzgebung des Willens gegründet, die die Vernunft begreifen kann. Diese Selbstgesetzgebung ist aller menschlichen Vernunft einsichtig. In der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 1785, schreibt Kant: »Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werden? Wo nicht, so ist sie verwerflich, und das zwar nicht um eines dir oder auch anderen daraus bevorstehenden Nachteils willen, sondern weil sie nicht als Prinzip in einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung passen kann.« In der »Kritik der praktischen Vernunft«, 1788, wurde das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« dann so formuliert: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann.«

Der Wille setzt also eine allgemeine Moral für ein general acceptance. Schon Kant hat die Moral der Gesellschaft zugeordnet. Da ist kein Wert an sich, keine Ordnung an sich — alles ist zugeordnet dem Gemeinwohl, letztlich dem Willen der Gemeinschaft, dem die Vernunft folgt. Die Vernunft richtet sich nach dem Willen der Gesellschaft.

Die Lüge verbietet sich — meint Kant —, weil sie, wäre sie allgemeines Gesetz, gesellschaftliches Miteinander unmöglich machen würde. Selbstmord verbietet sich, weil dadurch die menschliche Gattung überhaupt ein Ende finden würde. Eigene und fremde Glückseligkeit wird durch die Sittlichkeit gefördert, darum ist sie nach Kant einsichtig. Weil der Mensch diesen sittlichen Willen hat, existiert er »übersinnlich«. Als moralisches Wesen, das aus sich Ethos setzt, hat er Anteil an Gott selbst. Aber zuerst die Moral, der das Gute setzende Wille, dann kommt die Religion. Moral ist Religion. Der moralische Mensch ist der wirklich religiöse Mensch. Die Konsequenz ist dann: Was nicht im Sinne der autonomen Moral moralisch ist, das ist auch nicht religiös!

Man beachte den geistesgeschichtlichen Zusammenhang: Ein Jahr nach Erscheinen der »Kritik der praktischen Vernunft«, 1789, wurden von der Nationalversammlung in Paris die Menschenrechte deklariert, die Bastille erstürmt, die Königsgewalt aufgehoben, Kirchengut eingezogen, Standesunterschiede abgeschafft, sechzig Milliarden »Assignaten« (rasch verfallendes Papiergeld) herausgegeben, die nur mit 3,2 Milliarden gedeckt waren. 1793, im Erscheinungsjahr der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, wurde in Notre-Dame zu Paris der Kult der Vernunft verkündet, von der Frau des Jakobiners Momoro die »Göttin der Vernunft« dargestellt, die Kirchen geschlossen, der christliche Gottesdienst abgeschafft — alles dies nach Kants Urteil das »Erwachen der Vernunft aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«.

Kants Programm: Es gibt eine Vernunftreligion, die sich inhaltlich völlig mit der natürlichen Moral deckt. Moral ist Religion, und Religion ist Moral. Zur damaligen Beruhigung für alle Christenmenschen seiner Zeit meinte Kant, daß das Christentum die einzige moralische Religion sei. Diese Meinung wurde zum Grundsatz der Geheimreligion der Gebildeten, insbesondere der vielen Lehrer und Gymnasialprofessoren, deren Schüler im Konfirmandenunterricht ihrer Kirche immer seltener biblische Botschaft hörten.

Aber was ist das für ein Christentum, dessen Moral nach Kant identisch ist mit der Moral der reinen praktischen Vernunft?
Es ist eben ein Christentum als »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Das Böse (der Sündenfall als geschichtliches Ereignis wird verneint) sei — so meint Kant — die sinnliche Triebfeder, die dem Sittengesetz widersteht. Aber — so träumte Kant, der die Radikalität der Erbsünde leugnete — der Mensch habe aus sich die Kraft, das Böse zu überwinden. Das geschehe durch eine »Revolution der Gesinnung«, die Jesus vorgelebt habe. Buße, Wiedergeburt, also Christ-Werden sei nichts anderes als solche Revolution der Gesinnung. Die Geschichte, die Heilsgeschichte, die Existenz Jesu seien im Grunde bedeutungslos für die Moral und damit für das Wesen des Menschseins überhaupt. Glaube sei nichts anderes — so der Königsberger Philosoph —, als daß das Ideal des vollkommenen Menschen in den Willen aufgenommen werde.

Glaube ist nach Kants Meinung Gesinnungsänderung, Glaube ist letztlich Wille. Erlösung bringt der Wille, den der neue Mensch will, wenn er auch im Schmerz unter dem noch unvollkommenen, alten Menschen und dessen Triebbestimmungen leiden muß. Erlösung wurde in der Philosophie Kants zur Selbstüberwindung, die — so meinte er — Jesus in den Evangelien vorgelebt habe. Es geht nicht darum, an den Opfertod Christi zu glauben, sondern in sich durch den Willen das Opfer zu vollbringen, ein neuer Mensch zu werden — das ist Erlösung. So lehrte Immanuel Kant, und so lernte eine Vielzahl von Generationen eines verbürgerlichten Christentums, das heute fassungslos der Konsequenz dieser Moralrevolution gegenübersteht.

Der in der Bibel offenbarte Nomos muß nach der Moralphilosophie Kants so ausgelegt werden, daß er mit der Moral der reinen praktischen Vernunft übereinstimmt. In der Methodenlehre der »Kritik der reinen Vernunft«, 1781, schreibt Kant mit nicht zu überhörendem Protest gegen das Offenbarungsethos:
»Wir werden, soweit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als Gebote Gottes ansehen, weil wir dazu innerlich verbunden sind.« Dabei aber merke man auf: Nicht binden wir uns innerlich an die Gebote, sondern die Gebote haben sich — wenn die reine praktische Vernunft es nach ihren Maßstäben zuläßt — an uns zu binden!
Der Maßstab liegt — das ist die Grundregel der praktischen Vernunft — in uns selbst! Von daher gewinnt Kant seine selektive Methode, die Bibel subjektiv, nach seinen Maßstäben von »gültig und ungültig« auszulegen. Er hat damit für etliche Theologengenerationen die listenreichen Grundlagen für »historische wissenschaftliche Kritik« geschaffen. Denn hinfort wurde alles historisch kritisch irrelevant, was den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Immanuel Kants widersprach.

Die Heilige Schrift ist vom Menschen gemacht — meint Kant. Verpflichtend sei sie nur soweit, als sie aus der Vernunft stammendes, autonomes Ethos bestätigt. Alles andere seien irrelevante Kultvorschriften, die nur zufällig und deswegen in jeder Weise zu verändern seien. Die Bibel müsse selektiv nach dem Maßstab der Vernunft gelesen werden. Was nicht durch Vernunft einsichtige Moral ist, sollte als bedeutungslos ausgeschieden werden. Dazu gehören fast alle Gesetze und Heilstaten der Bibel. Die Geschichte ist als solche überflüssig, denn Moral ist unmittelbar evident.

So, wie Kant es wollte, wurde es dann in der Großmacht des deutschen theologischen Liberalismus zur Tat. Hinfort wurde mit dieser oder jener Abschwächung unter Belassung dieses oder jenes Wunders die eine oder andere übrig gebliebene geschichtliche »Bedeutsamkeit« der Bibel interpretiert. Der Ökumeniker Kant sah schon die eine große, alle Menschen umfassende Welteinheitskirche mit kritischer Exegese nach den Grundsätzen der Religion der Vernunft kommen. Daher stellt er die Mahnung auf: »Alles, was man außer dem guten Lebenswandel der Menschen noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.« Und dazu gehörte nach Kant auch das Gebet: »Es sei ein ungereimter und zumeist vermessener Wahn, durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plan seiner Weisheit abgebracht werden könnte.«

Wir finden hier, wo das Gebet analog moderner Theologie ein Gespräch des Menschen mit sich selbst ist, auch schon alle Elemente einer modernen zeitgenössischen Ethik. Sie ist deontisch, also gegen das Zueinander von Ordnung und Sein, Offenbarung und Schöpfung, Heilstaten und Erlösung. Nicht nur in der Sprache, ganz sicherlich auch in der Sache hängt Kant immer noch mit einem Finger der linken Hand an der christlichen Substanz. Inhaltlich erkennt Kant Sinn und Bedeutung etwa der Zehn Gebote an. Sein Pathos der Freiheit ist immer noch ein Abglanz jener Freiheit, die die Bibel meint. Immanuel Kant ist kein Marcuse, dessen retrogressive Sexualethik den Asketen von Königsberg mit blassem Entsetzen erfüllt hätte.

Inhaltlich ist vieles von Kants Moral noch im Rahmen des biblischen Ethos. Aber der Kernprozeß der Kantschen Moralphilosophie nimmt den heute greifbaren Umsturz aller Werte nicht nur vorweg, sondern setzt ihn mit Schwung in Gang.
Durch die bewußte Lösung des Ethos von der Geschichte und damit von der Anrede und von dem Anspruch Gottes setzte Kant den Maßstab der Unterscheidung von Gut und Böse in den Menschen selbst.

Kant stellte ganz und gar seine Ethik unter die Proklamation G.E. Lessings (»Über den Beweis des Geistes und der Kraft«, 1777): »Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.« Was aus der Geschichte, insbesondere aus der Heilsgeschichte kommt, ist zufällig, nur die Vernunftwahrheiten sind notwendig. Konsequenterweise ist dann das durch Geschichte vermittelte Offenbarungsethos auch nur zufällig, es ist nicht notwendig und verbindlich.

Ethos wird nicht gehört, es wird nicht im Gehorsam befolgt. Ethos wird »gesetzt«, es wird »gemacht«. Der Gang ist also nicht der, daß die Offenbarung wie ein zweischneidiges Schwert mich in Frage stellt — womöglich bis zur Krise und dann zur Umkehr meines Daseins —, sondern die subjektive Moral stellt die »zufällige Geschichtswahrheit«, also die Offenbarung Gottes, in Frage und verlangt, daß sie sich ausweise vor den Ansprüchen der autonomen, eben sich selbst setzenden Moral. Wie im Urfall Adam Gut und Böse erkennen, das heißt aus sich selbst setzen wollte, um Gott gleich zu sein — genauso geht es in der Moralphilosophie Immanuel Kants.

Warum führt dieser Weg in den moralischen Bankrott, und was ist die Motivation einer antibiblischen Willensethik?

Um die Frage zu beantworten, sei zunächst daran erinnert, daß Kant das Ethos, also die Entscheidung über Gut und Böse, in den Willen verlegte: Die Maxime des Willens sollte zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können. Durch den freien Willen, der durch nichts in Abhängigkeit geraten kann und soll, überschreitet der Mensch die sinnliche, durch die Gesetze der Natur bestimmte Welt. Der Wille ist das »Jenseits« aller Erscheinungen, der Wille ist das Metaphysische, im Grunde das Sein selbst. In der Moral — deswegen ist Kants Ethik so bedeutungsvoll — wird der Wille zum Sein.

In der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 1785, schreibt Kant: »Es ist überall nichts in der Welt zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille… Der gute Wille ist nicht durch das, was er ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.h. an sich gut und ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zugunsten irgendeiner Neigung nur immer zustande gebracht werden könnte.« Der Wille hat »seinen vollen Wert in sich selbst«.

In zwei bedeutungsvollen Aufsätzen hat Martin Heidegger in den fünfziger Jahren die abendländische Philosophie als eine Philosophie des Willens charakterisiert. Durch die Philosophie Kants sollte die Moral — wie die Religion — durch die Vernunft für alle Menschen zwingend einsichtig gemacht werden. Welche Bedeutung der Wille für die abendländische Metaphysik hat, zeigt Martin Heidegger an einigen treffenden Beispielen:
Schelling schreibt in den »Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit«, 1809: »Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als das Wollen. Wollen ist Ursein, und auf dieses (das Wollen) allein passen alle Prädikate desselben (des Ur-Seins): Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden«. Denken ist Wollen!

Heideggers Kritik dieser durch den Willen zur Macht motivierten Metaphysik gründet in der Erkenntnis, daß jetzt am Ausgang der abendländischen Metaphysik eben die Philosophie sich ihrer eigenen Motivation als Wille zur Macht bewußt wird. Heidegger sieht dabei in Friedrich Nietzsche gerade diese Erkenntnis aufbrechen, daß alle Metaphysik, aber damit eben auch Moralphilosophie, auf dem Willen beruht, den Nietzsche als Willen zur Macht verstand.

Der Wille ist — so meint Heidegger im Banne der Gedanken Nietzsches — nicht wesentlich »für« etwas, sondern er ist ein Wille »gegen« etwas. Der Wille in der ausgehenden abendländischen Philosophie ist Wille zur Macht, ein Wille, der Gott und Schöpfung nicht annimmt. Der Wille ist gegen das, was ist — gegen die Welt als vorgegebene Schöpfung, die er ändern will, und er ist gegen das offenbarte Ethos, das er als Begrenzung seines Daseins verneint.

Nietzsche erkennt die Motivation des Willens — es ist die Rache —, die Rache gegen das, was ist: »Dieses, ja dies allein ist Rache selbst: Des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ,Es war’.« Dieser Durst nach Rache an allem, was ist, charakterisiert Heidegger so: »Das Irdische, die Erde und alles, was zu ihr gehört, ist das, was eigentlich nicht sein sollte und im Grunde auch kein wahres Sein hat«.

In diesem Gang der Überlegungen liegt eine schwere Anklage gegen das Wesen neuzeitlichen Denkens: Es wollte über diese Welt herrschend werden, weil es diese Welt nicht hinnehmen wollte.

Im Banne dieses Willens als rächender Wille zur Macht steht die neuzeitliche Moral.
Moral ist Selbstverwirklichung. Sie ist aus auf Herrschaft über Menschen und Dinge — sie ist es gerade da, wo sie sich als Nächsten- und Fernstenliebe, als Pflicht und Vaterlandsliebe oder als soziales Engagement tarnt. Die Moral sollso meinte Nietzsche — den Willen zur Macht in hinterlistiger Weise tarnen.

Auf die Frage, was gut ist, antwortet Nietzsche (»Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte«, 1888):
»Alles, was den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? Alles, was aus der Schwäche stammt.«

Für Nietzsche ist die christliche Moral zunächst gegen diesen Willen zur Macht. Aber die christliche Moral unterdrückt diesen Willen nur, sie kann ihn nicht aufheben. Als verkappter und verkrüppelter Wille zur Macht lebt er gerade im christlichen Ethos weiter. Von daher gesehen ist christliche Moral nach Nietzsches Meinung die Moral des Willens zur Macht im Ressentiment:
»Wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist gut, wenn wir nichts tun, wozu wir nicht stark genug sind. Die Klugheit niedrigsten Ranges hat sich dank jener Falschmünzerei in den Prunk der entsagenden, stillen, abwartenden Tugend gekleidet, als ob die Schwäche der Schwachen eine Tat, ein Verdienst wäre…« (»Genealogie der Moral«, 1887).

Daß Nietzsche die autonome, sich selbst setzende Moral als Willen zur Macht enttarnte, ist seine Entdeckung. Daß er dann diesen Willen zur Macht nicht als Irrweg verurteilt, sondern als das Wesen und den Sinn alles Guten besingt, ist nicht nur sein Irrtum — es ist der Irrweg der neuzeitlichen Moral überhaupt. Der Wille moderner Gesellschaft zur unbedingten Selbstverwirklichung um jeden Preis und ohne Verantwortung vor dem absoluten Recht, der Gruppenkampf gesellschaftlicher Mächte in der ethisch und rechtlich pluralistischen Gesellschaft bestätigt Nietzsches Dechiffrierung der Moral.

Ohne rechtfertigenden Glauben können die Menschen niemals etwas aus Liebe zu Gott tun, sondern nur aus Eigenliebe und der Furcht vor Verdammnis. Im Neuen Testament werden »Rühmen« und »Ehre«, die nur die Sättigung des Fleisches wollen (Kol. 2,23), als solcher Wille zur Selbstverwirklichung entlarvt. Rühmen ist fleischlich (vergl. 1. Kor. 1,29; 2. Kor. 11,18), es steht als Selbstdarstellung in Gottes Verlorenheit gegen das geistliche Leben, das Kraft aus Gott gibt. Jede ichbezogene, selbstdargestellte Moral und jede sie begleitende Religion als »Frömmigkeit« im weitesten Sinne ist verkappter Wille zur Macht. Auch dies hat der in pietistischen Kreisen groß gewordene Nietzsche helläugig durchschaut.

Verborgen blieb ihm das Ethos als Anruf Gottes, Ethos als Umkehr, Ethos aus Vertrauen auf Gott und die Möglichkeit der Kreuzigung des Fleisches mit seiner mehr oder weniger mächtigen Gier nach Macht. Der geistliche Bruch, der von Gott ausgeht, der Exodus aus dem Fleisch in die Heiligkeit und Willenhaftigkeit Gottes, blieb Nietzsche verborgen. Den fleischlichen Bruch, die permanenten Frustrationen ebenso wie permanente Ressentiments, den geilen Willen zur Macht in der Tarnung religiöser Gebärde hat er für alle Christen zur Lehre und Mahnung durchschaut.

 

Biblisches Ethos als Heils- und Offenbarungsethos

Das biblische Ethos hat Gott »geredet«. Auf dem Berge in der Wüste redete Gott zu Mose und gab seine Gebote ohne Verhandeln, ohne Begründung — einfach als Befehl.

Gott redet und handelt: Er führte Abraham aus Haran durch sein Wort, und er führte Israel aus Ägypten durch sein Wort. Er bereitete Abraham und Israel den Weg aus der Gefangenschaft der Heiden und ihrer Götter in die Freiheit der Gemeinschaft mit ihm selbst. Die Gebote beginnen mit einer heilsgeschichtlichen Erinnerung: »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Lande Ägypten aus dem Sklavenhause herausgeführt habe…« (2.Mose 20,2). Das Gebot markiert den Weg aus der Sklaverei in die Freiheit! Gott hat Abraham, hat Israel erwählt, herausgeholt aus der unseren ganzen Planeten packenden Sklaverei, um durch sein Wort, durch seinen Bund, durch die Erwählung in der Finsternis ein Zeichen der Freiheit, einen hellen Schein des Lichtes zu setzen.

Die Freiheit liegt ausschließlich im erwählenden Handeln Gottes. Er hat das Volk in die Freiheit geführt — es hat sich nicht selbst befreit —, es hätte sich nicht einmal selbst befreien wollen und schon gar nicht befreien können. Dieses Ereignis liegt nicht im »natürlichen Lauf der Welt« — es bricht als ein unmißverständliches Zeichen ein in die Geschichte dieser Welt.

So wie die Freiheit ausschließlich im erwählenden Handeln Gottes liegt, so ist sein Gesetz, sein Gebot, ausschließlich Sache seines Wortes und seines Auftrages, seiner Verheißung und seines Tuns.

Das erste Gebot heißt: »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben« (2. Mose 20,3). Den hebräischen Text würde man noch besser übersetzen mit »Du sollst gegen mich« oder »mir zum Trotz« keine anderen Götter haben! Es gibt natürlich Götter! »Wenn es wirklich sogenannte Götter, sei es im Himmel oder auf Erden, gibt, wie es denn viele Götter und viele Herren gibt — so gibt es doch für uns nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zum ihm…« (l.Kor. 8,5), schreibt Paulus an die Gemeinde zu Korinth. Die sogenannten Götter sind dämonische Mächte, denn was die Heiden opfern, »opfern sie Dämonen und nicht Gott« (1.Kor.10,20).

Gott gibt die Freiheit und gibt das Gebot — die Dämonen, sie sind Götter wider die Freiheit und wider das Gebot. Die Heiden, die zur Zeit des alttestamentlichen Gottesvolkes lebten, hatten beides nicht, weder die Freiheit noch das Gebot Gottes.

Gebot und Freiheit, Gesetz und Heil, stehen in einem Zusammenhang. Das Gebot gilt nicht in dem Sinne, als ob es eine eigene gegenseitige Abmachung zwischen Gott und Volk als eine Art Vorleistung für die Freiheit wäre. Sondern weil Gott sich selbst als der gnädige Gott über sein Volk erbarmt hat, kann dieses das Gebot überhaupt hören und annehmen. Israel konnte durch die Gnade Gottes hören und tun, was die Heiden nicht hören und auch nicht tun konnten. Im Gegensatz zu allen an die Vernunft appellierenden Moralphilosophien ist das Ethos der Bibel rational weder faßbar noch ableitbar, sondern nur gegeben durch das Wort des erwählenden Gottes.

Ohne Gebieter kein Gebot! Daß keine Götter gegen Gott verehrt werden, daß niemand ein Bild von Gott macht, daß der Name Gottes nicht mißbraucht wird — diese Gebote stehen in einem Zusammenhang damit, daß Vater und Mutter geehrt, die Ehe nicht gebrochen, der Mitmensch nicht ermordet, die Wahrheit gesagt und das Eigentum geschützt wird. Anders ausgedrückt: Es gibt kein Ethos ohne das Hören auf Gott und ohne das Vertrauen^ auf sein Wort. Es geht in jedem Fall, in jedem Satz und in jedem Wort um Gottes Gebot. Das biblische Ethos ist ganz und gar heteronomes, dem Menschen angetragenes, nicht autonomes, in seinem »Inneren« vorfindliches Ethos.

Die Konsequenz hört sich noch unerbittlicher an. Außerhalb der Bibel ist kein Ethos, keine Moral, keine Sittlichkeit, sondern die Unsittlichkeit. Biblisches Ethos ist nicht ein von den »zufälligen Geschichtstatsachen« entlassenes oder unabhängiges Ethos. Biblisches Ethos stammt aus der »Erfahrung«, (gerade das verneinte Kant) des handelnden, eben Geschichte machenden Gottes! Es geht auch nicht um ein »Wortgeschehen« (wie der Hermeneutik-Theologe Ebeling so abstrus formulierte), sondern um reales Geschehen. So wahr der Exodus auch Durchzug durch die Wassersäulen des Meeres war, so wahr ist und bleibt jede Vergeltung für jede Verfehlung gegen das Gebot, das Gericht Gottes selbst, also erfahrbare Realität!

Damit ist der Zusammenhang von Glauben und Gesetz unauflösbar. Weil Gott Ehre und Dank verweigert wurden, weil die Menschen in »ihren Gedanken in eitlen Wahn verfielen und ihr unverständiges Herz verfinstert wurde«, gab Gott sie dahin, »in die Gelüste ihrer Herzen« (Röm. l,21). Die Zerstörung der Moral ist die Konsequenz des Abfalls von Gott, so wie die Aufrichtung der Moral durch die Gebote Gottes die Konsequenz des gnädigen Erbarmens Gottes ist. Der gebietende Gott ist der allmächtige, rettende und verwerfende, über Raum und Zeit, über alle Räume und Zeiten gebietende Gott. Das bedeutet nun ganz praktisch und unmittelbar in unsere Situation hineingesprochen: Das biblische Ethos ist ohne den in der Bibel bezeugten Gott nicht zu haben. Stirbt in den Herzen der Glaube an Gott, stirbt das biblische Ethos. Religionsphilosophisch ausgedrückt: Die Religionskrise des Christentums ist die Moralkrise unserer gegenwärtigen Welt.

Auch Nietzsche hat die Moralkrise als Religionskrise gesehen. Auch wenn wir seinem Werturteil nicht folgen, ist diese seine Diagnose überzeugend. Für unser Thema ist deswegen die Story vom »tollen Menschen« in der 1882 erschienenen »Fröhlichen Wissenschaft«eine ausgezeichnete Veranschaulichung, so daß wir diese »Legende« hier ganz zitieren:

»Habt Ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« — Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. »Ist er denn verlorengegangen?«, sagte der eine. »Hat er sich verlaufen wie ein Kind?«, sagte der andere. »Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? Ausgewandert?« — So schrien und lachten sie durcheinander.

Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?«, rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet — ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? — auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unserem Messer verblutet — wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat — und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« — Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: Auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch.

»Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert — es ist noch nicht bis zu den Ohren gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne — und doch haben sie dieselbe getan!« — Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gestellt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«

In dieser unheimlichen Legende spricht Nietzsche aus: Der »Tod« Gottes, daß also Gott in der modernen Welt nicht mehr geglaubt wird, ist Mord und damit Schuld. Das Nein zu Gott ist ein gewolltes Nein. Es ist nicht Tragik oder Zufall, sondern Tat. Der Tod Gottes kettet die Erde von der Sonne los, die schlechtweg totale Desorientierung ist die letzte Konsequenz: Es gibt kein Oben und kein Unten, kein Rechts und kein Links. Gott ist nicht mehr in der Mitte des Kosmos, also ist er nicht mehr der Gebieter über Recht und Unrecht. Daß das eine zum anderen gehört, spricht diese Geschichte nur allzu deutlich aus: Menschen, die Gott töteten, müssen selbst Götter werden, selbst Gut und Böse setzen — eben »sein wie Gott« selbst. Daß dieses Ereignis noch als unterwegs verstanden wird, während die Kirchen aber schon lange — wenn auch noch gepflegte — Grabmäler Gottes sind, bedeutet doch für die Interpretation unserer Situation: Erst allmählich kommt es zum schleichenden Zerfall des christlichen Ethos, das in dem Maße unlebendig wird, als die Gebote ohne Gebieter gelebt oder verlebt werden. Biblisches Ethos, in dem der Wille Gottes nicht mehr gehört, erkannt und geglaubt wird, ist ein totes, unlebendiges, ist kein biblisches Ethos mehr.

Biblisches Ethos ist offenbartes Willensethos. Der Bund Gottes mit den Menschen ist der Wille Gottes! Also nun ganz im Gegensatz zu Kant und zur modernen Willensmetaphysik: Wille Gottes. Heil, Erlösung und Versöhnung sind Wille Gottes!
Dieser Wille Gottes wurde sichtbar in Christus, der den Willen des Vaters tat (Joh. 4,34). Er sagt von sich, daß es seine Speise sei, den Willen des Vaters zu tun, der ihn gesandt habe, und ausdrücklich heißt es dann (Joh. 5,30): »… Ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen, der mich gesandt hat.« Und dann noch einmal (Joh. 6,38): »… Nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.«

Alle, die nach dem Willen Gottes das Heil im Glauben erkennen, werden von Jesus »gesammelt«. Sie werden nicht verlorengehen: Der Sohn, der den Willen Gottes lebt, macht lebendig, wen er will (Joh. 5,21). Und: »Das ist der Wille meines Vaters …«, sagt Jesus, »…daß jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, ewiges Leben habe« (Joh. 6,40). Den »Willen tun« meint nicht eine ethische Pflichterfüllung als Voraussetzung für die Gemeinschaft mit Gott. Wer den Willen tut, ist vom Willen Gottes ergriffen. Das ist auch der Sinn der Vaterunser-Bitte: »Dein Wille geschehe.« So wie im Himmel, soll nun im Erwählten der Wille Gottes geschehen — aus dem Vertrauen zu dem Willen Gottes. Der Bittende öffnet sich dem Willen Gottes: »Dein Wille geschehe, so wie im Himmel, also auch auf Erden« (Matth. 6,10). Ethos ist der Wille Gottes. Ethos ist nur in der Aufnahme des Willens Gottes durch sein Wort möglich.

Ist nun das Leben ohne das Gesetz Gottes ein Leben ohne Moral? Haben nur Christen Ethos? Gab und gibt es nicht unter den Heiden vor und nach Christus sittlich überzeugende und beispielhafte Menschen? Ist die Humanität wirklich nur an das offenbarte Gesetz Gottes gebunden? Sprechen nicht nachweisbare Tatsachen gegen dieses unbedingte Zueinander von Gebieter und Gebot, Offenbarung und Ethos (vergl. hierzu Exkurs Nr. 4)?

Das Ethos der Heiden ist erotisch (im weitesten, platonischen Sinne dieses Wortes). Es ist Selbstverwirklichung. Das durch Sympathie und Antipathie geleitete Miteinander instrumentalisiert Menschen, Worte und Dinge zur Selbstverwirklichung im glückhaften Ausfüllen der eigenen Existenz: in der Lust, in der eigenen Ehre, in der eigenen Selbstbestätigung. Im erotisch-heidnischen Ethos sucht der Mensch sich selbst — oder im Willen zur Macht noch mehr als sich selbst, nämlich die Steigerung, Transzendierung seines Selbst. Das vorchristliche Ethos der Heiden hing am Geschick der Götter. Weil sie nicht frei waren, konnten sie Freiheit auch nicht geben (vergl. Huntemann, »Die Zerstörung der Person«, 1981).

Der nachchristlich-heidnische Mensch kennt keine Verantwortung in der Entscheidung zwischen Gut und Böse, er kennt nicht einmal mehr Selbstverwirklichung, weil ihm im Kollektivethos Entscheidung abgenommen und eine Rolle zugeordnet wird, die zu spielen er gezwungen ist. Das freundliche Lächeln des Verkäufers wird jäh wie ein Automat abgestellt werden können, wenn es nichts mehr zu kaufen oder zu verkaufen gibt. Die Opferbereitschaft des Parteifunktionärs wird wie Fett in der heißen Pfanne verdampfen, wenn die ihm vom Kollektiv gegebene Funktion nicht mehr funktioniert.

Damit ist nicht gesagt, daß alles, was der Mensch tut, böse ist, so wie der Teufel böse ist. Alle Schöpfung, so auch der Mensch, bleibt auch in der Feindschaft gegen Gottes Gebot Schöpfung Gottes. Aber der Mensch ist gefallener Mensch, er lebt im Nein zu Gott, im Ja zu den Göttern. Diese Gottesfeindschaft fällt wie ein Schatten auf alles, was er tut, aber fällt eben wie ein Schatten auf ein ursprünglich Gutes, eben von Gott Geschaffenes. Nicht zu entwirren aber sind das Gute und das Böse, kein guter oder vollkommener Bereich kann angegeben, gezeigt, abgebildet, als ein Besitz vorgezeigt werden. Gut und Böse, Schöpfung und Gottesfeindschaft, Humanität und Dämonie sind durch den Fall miteinander unentrinnbar verschlungen. Alles steht, lebt und webt im Schatten der Sünde.

In diesem Sinne versteht sich der Satz des Propheten Jeremia: »Verflucht ist der Mensch, der auf Menschen vertraut und Fleisch zu seinem Arm macht, während sein Herz von dem Herrn weicht!« (Jer. 17,5). Dagegen heißt es: »Gesegnet ist der Mann, der auf den Herrn vertraut und dessen Hoffnung der Herr ist« (Jer. 17,7). Derselbe Prophet Jeremia bekennt aber auch ebenso unmißverständlich die einzige Begegnung mit Gott im Hören seines Wortes: »Verflucht ist der Mann, der nicht gehorcht den Worten dieses Bundes, die ich euren Vätern geboten habe zu der Zeit, da ich sie aus dem Lande Ägyptens, aus dem Schmelzofen herausführte, indem ich sprach: Höret auf meine Stimme und tut nach allem, was ich euch gebiete, so sollt ihr mein Volk sein, und ich will euer Gott sein …« (Jer.11,3). Dieses »Hören auf meine Stimme« wird zum Leitwort der Prophetie in dem Sinne, daß es außerhalb dieses »Hörens« kein Heil, d.h. doch für unser Thema, kein Gebot, keine Ordnung und keine Gerechtigkeit gibt.

Das offenbarte Gesetz Gottes ist ein Ganzes, das nicht nach subjektivem Ermessen selektiv aufgelöst werden kann.

Die von Theologen konstruierte Unterscheidung zwischen Moral-, Judizial- und Zeremonialgesetze kennt das Alte Testament nicht. Die allgemeine und fast unbestrittene Auffassung in herkömmlicher Theologie ist, daß die selektiv aus dem Alten Testament herausgeholten Moralgesetze, vor allem die zehn Gebote, für alle Menschen schlechthin verbindlich seien, während die Judizial-Gesetze (Luther: »Der Juden Sachsenspiegel«) zeitlich begrenzte, nur für die Situation des Volkes Israel verpflichtende Gesetze wären, wie zum Beispiel die Gesetze über Sklaverei, die Strafgesetze (Steinigung einer Ehebrecherin) usw. Vollends wurden dann die Zeremonialgesetze, d.h. also Gesetze, die das Opfer, die Heiligkeit und Reinigung gebieten (z.B. Reinigungsvorschriften nach Menstruation, Pollution, Heilung vom Aussatz usw.), endgültig als überholt und für unsere Zeit bedeutungslos abqualifiziert.

Es ist aber das alttestamentliche Gesetz ein Ganzes, und aus dieser Ganzheit kann unmöglich zwischen Moral-, Zeremonial- und Reinheitsgesetzen unterschieden werden. Die zehn Gebote enthalten auf der »Ersten Tafel« überhaupt kein Moralgesetz in dem Sinne, wie man heute Moral als Ordnung zwischenmenschlicher Beziehung versteht, sondern ausschließlich Bundesgebote für das Zueinander von Gott und Gottesvolk, während das letzte Gebot, nach dem die Frau neben Haus und Hof, Magd und Vieh Besitz des Mannes ist, nach der eben dargestellten Weise theologischen Rechnens doch dann wohl unter die vollends »überholten« Judizial-Gebote fallen müßte. Die zehn Gebote, herkömmlich als Musterbeispiel für das Moralgesetz verstanden, enthalten — wenn man den theologischen Programmierern von heute folgt — Heiligkeits- und Judizial-Gesetze. Nirgendwo im Alten Testament erkennen wir grundsätzlich, klar, sauber und endgültig nach unseren Maßstäben getrennt, was eben im Bundesgebot, das Gott und den Nächsten umfaßt, miteinander nicht aus Versehen, sondern nach eigener innerer Logik verflochten ist.

Dieses »ganze« Gesetz des Alten Testamentes gilt unmittelbar auch heute, es sei denn, daß Christus es erfüllt und verwirklicht hat. In der Bergpredigt sagt ausdrücklich Jesus über das alttestamentliche Gesetz (Matth. 5,17): »Meinet nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wirklich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.«

Die alttestamentliche Ordnung von Schuld und Sühne, der durch das alttestamentliche Gesetz geordnete Ritus des Bundesvolkes im Kult, offenbart die Realität von Schuld und Sühne. Das Opfer Christi ist die Erfüllung des alttestamentlichen Opfers, das die Realität der Schuld wach hielt und das erlösende Opfer Christi als Typus darstellte und in den Opferhandlungen gleichsam verkündigte. Die alttestamentliche Zeremonie angesichts von Schuld und Sühne im Zusammenhang des gesamten alttestamentlichen Gesetzes hat heute eine unersetzbare, ganz und gar nicht überholte und äußerst wichtige mahnende Erinnerung für unsere Zeit: Das Ethos ist eben nicht Sozialregulation, das »Verletzen«, dieses Ethos ist nicht Funktionsstörung eines Milieus, sondern Schuld gegen Gott und den Nächsten, und Schuld muß gesühnt werden. Wir verlieren heute beides, weil beides einfach nur zwei Seiten derselben Realität sind: Das Gebot und die Schuld, das Recht und die Versöhnung. Wir werden (und sind schon) in gleicher Weise eine rechtlose und unversöhnte und damit ganz und gar heidnische und unfreie Gesellschaft.

Auch die Unterscheidung zwischen Rein und Unrein im Heiligkeitsgesetz des Alten Testamentes geht uns unmittelbar an. Die nirgends im Alten Testament begründete Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren soll doch deutlich machen, daß die Schöpfung eine gefallene Schöpfung ist, in der die Kreatur in Sehnsucht wartet auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Denn der Nichtigkeit wurde das Geschaffene unterworfen, nicht freiwillig, sondern um dessen willen, der es ihr unterwarf; auf die Hoffnung hin, daß auch das Geschaffene selbst befreit werden wird von der Knechtschaft des Verderbens zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes (Röm. 8,19—22).

Kampf um das Dasein, Krankheit und Tod sind nicht »natürlich«, sie sind nicht als »gegeben« hinzunehmen, sondern Zeichen einer gefallenen, eben unreinen, aus der Reinheit der Gottesunmittelbarkeit herausgefallenen Natur. Die Heiligkeitsgesetze des Alten Testamentes verneinen — und dieses sollten wir in diesem Jahrhundert mehr hören denn je — jeglichen Naturalismus — sei es in Gestalt der antik-polytheistischen Fruchtbarkeitsmythen und deren Kulte oder der Gestalt nachchristlicher Ideologie. Das Alte Testament war und ist der größte Feind des Naturalismus, der Verklärung und Vergöttlichung der Natur, die im Rassismus, Biologismus und Materialismus unserer Tage leider ihre Triumphe feiert.

Als Petrus in seiner Vision zu Joppe sich weigerte, Unreines zu essen, hörte er den Befehl: »Was Gott für rein erklärt hat, das erkläre du nicht für gemein« (Apg. 10,15). Die Zürcher Übersetzung »rein erklären« ist hier trunken vom Moralverständnis des Liberalismus. Ekatharesen muß übersetzt werden mit »gereinigt hat«. Also, »was Gott gereinigt hat«, soll Petrus nicht gemein machen. Die zwiespältige, durch die Götter, die Nichtse, also durch Dämonen okkupierte Welt wurde gereinigt von Gott, »der die Gewalten und die Mächte gänzlich entwaffnet hatte …« und in Christus über sie triumphierte (Kol. 2,15). Weil dieses geschehen ist und unter ausdrücklichem Hinweis darauf, daß es eben geschehen ist, erklärte der Kolosserbrief: »… so soll euch nur niemand richten in Speise oder Trank« (Kol. 2,16).

Im Herrschaftsbereich Christi – und wirklich nur hier – ist die Schöpfung frei geworden. Aber das alttestamentliche Reinheitsgesetz erinnert uns permanent daran, daß sie eben frei »geworden« ist, daß die Okkupanten der Schöpfung im Kampf gefangen geführt wurden, aber noch nicht vernichtet sind. Freiheit von der Schöpfung ist nicht selbstverständlich, sondern wird im Gottesreiche erkämpft: Es kann keine Freiheit von der Bindung zwiespältiger Schöpfung geben, wo das Reich Gottes nicht angenommen, sondern verworfen wird. Der Naturalismus als Rassismus, Biologismus und Materialismus steht vor der Tür, wo das Reich verneint wird.

Noch ein anderes Beispiel für die Ganzheitlichkeit des alttestamentlichen Bundesgesetzes: Das alttestamentliche Gottesvolk kannte die Sklaverei — ein Beispiel aus dem sogenannten Judizialgesetz des Alten Testamentes. Sklaverei ist im Alten Testament die totale Abhängigkeit des Menschen vom Menschen. In diesem Sinne gab es und gibt es Sklaverei überall auf der Welt. In 2. Mose 21 und in 5. Mose 15 werden Gebote über die Sklaverei ausgesprochen, die ganz deutlich das Ziel haben, die totale Abhängigkeit des Menschen vom Menschen aufzuheben, weil sie gegen die Gottesebenbildlichkeit gerichtet und immer so oder so mit Schuld verhaftet ist.

Wenn der israelitische Sklave als Gefährte und Bruder des aus der ägyptischen Gefangenschaft befreiten Gottesvolkes gesehen und behandelt wird, wenn er im siebten Jahre, also im Sabbatjahr, freigelassen werden soll, wenn überhaupt jeder Israelit, der seinen Besitz (wenn auch durch Schuld) verlor, im Jubeljahr, also im fünfzigsten Jahr, wieder sein Eigentum zurückerhalten muß, dann wird hier eben nicht nur zeitbedingt, sondern — wohlgemerkt im Judizialgesetz — für alle Zeiten deutlich geboten, daß Armut und Sklaverei nicht Schicksal, sondern Schuld, nicht bleibendes Verhängnis, sondern zu überwindender Mißstand der Heillosigkeit sein müssen. Daher ist unübersehbar, daß der Weg in die Freiheit nur für den hebräischen, nicht für den heidnischen, unter der Macht der Götter lebenden Sklaven beschritten werden konnte. Freiheit ohne Befreiung durch Gott, die im Glauben angenommen und gelebt wird, ist im biblischen Ethos undenkbar. Die unmittelbare Bedeutung auch dieser sogenannten Judizialgesetze im Alten Testament ist doch, daß Schuld und Herrschaft des Menschen über den Menschen ebenso in einem Zusammenhang zu sehen sind, wie Freiheit und Befreiung durch Gott.

Diese wenigen Beispiele sollen deutlich machen, daß die Gebote des Alten Testamentes nicht zu »haben« sind, sie können nicht humanisiert, atheistisch »instrumentalisiert« werden. Die Gebote setzen das Sein in Gott voraus! Ohne ein Sein in Gott kein Ethos! Die Verflechtung von »Religion und Moral« im Alten Testament (und ganz gewiß auch im Neuen Testament) ist keine zu entmythologisierende Rückständigkeit, sondern eine eindringliche Klarstellung und Wesenserhellung darüber, daß ohne Gott kein biblisches Ethos sein kann — die Entwicklung unserer modernen, gleichzeitig atheistischen und unmoralischen Gesellschaft bestätigt diese Erkenntnis in erschreckender Weise.

 

Biblisches Ethos als Schöpfungs- und Ordnungsethos

Wo immer in der Theologie die alttestamentliche Erkenntnis, daß die Natur eine gefallene Natur ist, vergessen wurde, stiegen die Grundwasser des heidnischen Naturalismus. Das konnte auch angesehenen und »konservativen« Theologen passieren. Ein Beispiel dafür ist Adolf Schlatter, der auf die »Deutschen Christen«, die »neben« der Bibel in konsequent-naturalistischer Manie Blut und Boden zur Offenbarungsquelle erhoben, einen nachhaltigen Eindruck gemacht hat.

Adolf Schlatter, der »große Tübinger« der zwanziger und dreißiger Jahre, wollte aus den unmittelbaren Begebenheiten von Natur, Geschichte und Volk einen ebenso unmittelbaren Weg zu Jesus: Ein Weg also ohne den Bruch der Sündenerkenntnis. Kirche und Theologie sah er in freudig bejahter Abhängigkeit von den natürlichen Gegebenheiten des Volkstums, und gern sprach er in diesem Zusammenhang von einer »Volkstheologie«. »Das ist die heilsame Kraft im Ruf >Totaler Staat<, daß er gegen alle eigensüchtigen Vorbehalte kämpft, mit denen wir uns der Gemeinschaft entziehen …«, meinte Schlatter — gern gehört zu jener Zeit. Die unmittelbare, natürliche, eben nicht durch das Gebot Gottes gerufene, nicht durch den Bruch der Sündenerkenntnis gewordene Christlichkeit ist eine Scheinchristlichkeit, die jeder ideologischen Unterwanderung gegenüber offen ist.

Diese »Volkstheologie« Schlatters konnte und wollte der »Fremdbestimmung« des alttestamentlichen Gesetzes nicht freundlich gegenüberstehen, wie es in dem Büchlein von Schlatter »Wird der Jude über uns siegen? Ein Wort für die Weihnachtszeit«, Freizeitblätter Nr. 8, 1935, zum »feierlichen« Ausdruck kam. Die Mildlinge unter den Theologen drückten sich vorsichtiger aus. Auch für sie galt das Zueinander von Ethos, Natur und Volkstum. Für sie hatte jedes Volk seinen eigenen Nomos (Naturgesetz). Der Nomos des alttestamentlichen Gottesvolkes war dann ein Nomos unter vielen anderen. Die Konsequenz war und ist die Relativierung des alttestamentlichen Gesetzes. Genau diese Sicht ergibt sich auch aus der kontextualen Ethik, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen wird, denn sie will nicht nur alttestamentliches, sondern biblisches Ethos überhaupt im Zusammenhang mit anderen Kulturen, insbesondere mit afrikanischen und südamerikanischen Kulturen verstehen, wobei dem Ethos eben dieser Kulturen normative Geltung zugesprochen wird. Seit der Kirchenkonferenz »Kirche und Gesellschaft« von 1966 wird die Einheit von Menschheit und Kirche als Ziel in der ökumenischen Bewegung verfolgt. Die kirchliche Einheit wird dabei als Typus einer menschlichen Einheitszivilisation verstanden. Das alte liberale Postulat – ein Gott, eine Moral, eine Menschenbrüderlichkeit – lebt auf. Die Aufklärungsmoral, ihre Philosophie und Theologie ist hier in einem radikalen Aufbruch – eine Menschheit, ein Menschheitsethos. Dabei wird das alttestamentliche Ethos ein in vieler Hinsicht zu korrigierender Sonderfall in der Pluralität ethischer Systeme. So wie die Einheitszivilisation als Zielvorstellung der Kirche vorgeordnet wird, so wird eine Welteinheitsmoral dem biblischen Ethos über- und vorgeordnet.

In den dreißiger Jahren gab es Widerstand gegen die naturalistische Ethik, wie sie durch die damalige ideologische Konzeption motiviert war. Heute haben wir solche Widerstände gegen ähnliche Formen des Naturalismus und der Relativierung des Alten Testamentes kaum oder gar nicht. Jedenfalls müssen wir in diesem Zusammenhang naturalistischer Ethik in den dreißiger Jahren die Position Karl Barths sehen, insbesondere seinen Protest gegen die analogia entis, also gegen jeden Versuch, Gott und sein Handeln aus der Analogie zum natürlichen Geschehen zu verstehen. In gleicher Weise kämpfte er auch gegen jeden Versuch, irgendwelche Anknüpfungsmöglichkeiten auf seiten des natürlichen Menschen oder der natürlichen Moral entdecken zu wollen, auf denen dann das Gebäude der Gnade errichtet werden könnte. In seiner gegen Emil Brunner gerichteten Schrift »Nein. Antwort an Emil Brunner« schrieb Barth 1934, daß der Heilige Geist, der vom Vater und dem Sohne ausgeht, keines anderen »Anknüpfungspunktes« bedarf als dessen, den er selbst setzt. Alles, was »christlich« ist, ist es als solches ausschließlich durch die Offenbarung Gottes.

Wenn nur da, wo das Wort Gottes gehört wird, christlich gelebt, gedacht und Politik gemacht werden kann, und wenn gerade dieses Hören nur auf einen doch sehr kleinen Kreis, eben auf die kleine Schar der bekennenden Christen beschränkt bleibt, wie steht es dann um den Raum außerhalb der Kirche? Wie steht es mit denen, die das Wort eben nicht mit Ernst hören oder doch nur schwach nur aus der Ferne vernehmen? Wie steht es mit dem, was wir christliches Abendland nennen und doch auch irgendwie immer noch haben? Darauf hat damals Karl Barth eine die Situation klärende Antwort gegeben. Am 6. Juli 1941 sprach er inmitten einer vom Krieg bedrängten Schweiz vor 2000Mitgliedern der »Jungen Kirche« am Thuner See über die Präambel der Schweizer Verfassung, die mit den Worten beginnt: »Im Namen Gottes, des Allmächtigen«. In diesem Vortrag stellt Barth zunächst einmal ernüchternd fest, daß es weder eine heilige noch eine christliche Schweiz gäbe. Aber so wie im Alpenglühen eine untergegangene Sonne ihr Licht in den Bergen widerscheinen läßt, so lebe die Schweiz im Lichte der Botschaft der Offenbarung Gottes auch dann, wenn diese nicht mehr unmittelbar gehört, aber in den von diesem Wort einst geprägten Strukturen des Lebens »nachträglich« wahrgenommen wird. Abendland als der Widerschein des Evangeliums Christi war für Barth damals verteidigenswert — nicht die natürliche Religion oder die natürliche Moral.

Die »Werte«, von denen wir heute noch gern und intensiv leben, wie Ehe, Familie, Freiheit, Eigentum, Gleichheit aller vor dem Gesetz und Gerechtigkeit, sind nicht natürlich, sie stehen in der Abhängigkeit von der Offenbarung Gottes. Diese Offenbarung Gottes wird durch die bekennende, eben rechtgläubige Kirche in der Welt verkündigt. Und wo dieses Wort gehört wird, können Werte leben. Das Abendland, sagen wir das christliche Abendland, ist in dem Sinne nur ein Ereignis gewesen, es hat sich immer nur dann ereignet, wenn es bereit war, das Wort Gottes anzunehmen, und wenn eine Kirche so lebendig war, daß sie dieses Wort auch vernehmlich verkündigen konnte.

Die Ordnungen der Schöpfung (die Schöpfung ist eine geordnete Schöpfung) sind durch das Wort geordnet, sie zerfallen, wenn das Wort Gottes nicht nur nicht mehr gehört, sondern nur noch verachtet und verneint wird.

Das Zueinander von Wort und Schöpfung ist nach dem Urteil der Bibel die Achse allen Seins. Durch das Wort ist die Welt geschaffen, durch das Wort ist sie geordnet, durch das gebietende Wort wird sie immer wieder in die Ordnung gebracht. Gottes Wort bewahrt die Welt vor dem Chaos. Petrus bezeugt (2. Petr. 3,5), daß »vor alters die Himmel und die Erde aus Wasser und durch Wasser ihren Bestand erhalten, vermöge des Wortes Gottes«. Im Hebräerbrief wird ausdrücklich bezeugt, daß wir durch den Glauben (aber eben auch nur durch ihn) erkennen, »daß die Welten durch ein Wort Gottes bereitet worden sind, damit nicht etwa aus wahrnehmbaren Dingen das Sichtbare entstanden sei« (Hebr. 11,3). Das Wort schafft (vergl. Joh. 1,3: »Alle Dinge sind durch dasselbe geworden, und ohne das Wort ist auch nicht eines geworden, das geworden ist«) aus dem Nichts die Schöpfung, und was durch das Wort geschaffen ist, kann durch nichts als durch das Wort erkannt werden. Das gilt für die Schöpfung, das gilt für das Ethos — alles ist in diesem Wort.

Das Wort Gottes als Ethos ist im Grunde Bewahrung, Erhaltung und Sinnerfüllung der Schöpfung. Ethos und Schöpfung, das Wort, das gebietet, und das Wort, das schafft, sind eines. Das Gebot als Wort Gottes bringt Ordnung in die Unordnung. Das Gebot »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden« bringt Wahrheit in die Verstellung durch die Lüge. Das Gebot »Du sollst nicht ehebrechen« stiftet die Ehe als Personalisation gegen depersonalisierende Retrogression. Wer gegen das Gebot lebt, lebt gegen die Schöpfung, denn das Gebot ist die Ordnung der Schöpfung.

Im Lichte des offenbarenden Wortes wird allein der Gang der Welt erkannt. Im biblischen Ethos ersehen wir allein den Sinn der Schöpfung — das »Du sollst« ist einem Sein zugeordnet. »Du sollst nicht ehebrechen« bedeutet, daß du in der Ordnung der Ehe allein sinngemäß deine Geschlechtlichkeit leben kannst. »Du sollst Vater und Mutter ehren« bedeutet die frohe Botschaft, daß in der von Gott gesetzten Autorität ein Leben in Friede, Geborgenheit, im Zueinander von Autorität und Liebe möglich wird. »Du sollst nicht stehlen« will Schöpfung als Eigentum, ohne das Freiheit und schöpferische Entfaltung undenkbar sind, bewahren. Gebote quälen nicht, sondern sie schützen Lebensordnungen, die allein menschenwürdig sind. Die Gebote sind Gottes Kampf um die Schöpfung in der sündigen Zerfallenheit der Welt, Licht gegen Finsternis, Sein gegen Nihilismus.

Im Anschluß an das dritte Gebot lesen wir: »Denn ich, dein Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Geschlecht an den Kindern derer, die mich hassen, der aber Gnade übt bis ins tausendste Geschlecht an den Kindern derer, die mich lieben und meine Gebote halten« (2. Mose 20,5-6). Das will sagen: Das Leben gegen die Gebote bringt Zerstörung der Humanität. Das Nein zum Gebot zerstört nicht nur das Leben des einzelnen hier und jetzt. Die Verneinung der Gebote bedeutet die Zerstörung einer Lebensstruktur, und diese Zerstörung wirkt sich aus an den Kindern, also an denen, die einmal die bösen Früchte eines gesetzlosen Unlebens ernten und mit Tränen essen müssen. Zerstörung von Familie, Ehe, Eigentum ist darum eben nicht nur eine Angelegenheit des einzelnen oder die Moral einzelner Gruppen, die die Rechtsprechung der Gesellschaft nichts anginge, sondern die Erhaltung oder Nichterhaltung dieser Strukturen geht die ganze Gesellschaft an, entscheidet über ihr Sein und Nichtsein, geht auch die Zukunft an, die davon bestimmt sein wird, ob sie einst lebens-  und gemeinschaftsträchtige Schöpfungsordnungen oder nur deren Trümmer übernehmen kann. Ohne die vom Gebot Gottes geschützten Strukturen des Lebens kommt als bittere Notwendigkeit die Verfehlung des Lebens. Kinder ohne die Familie oder aus einer kaputten Familie sind eben kaputte Kinder. Ende des Eigentums ist das Ende der Freiheit und Minderung aller Leistung, also Elend. Dem Mord an Ungeborenen folgt mit unheimlicher Konsequenz die Zerstörung des Lebens der Kranken, Schwachen und Altgewordenen.

Die Gebote Gottes sind also aus den Erfahrungen eines sinnerfüllten beziehungsweise sinnverfehlten Lebens nachprüfbar. Die Gebote sind verifizierbar in ihrer Entsprechung zur Wirklichkeit der Schöpfung. Weil die Schöpfung gefallene Schöpfung ist, bedarf sie der Offenbarung ihrer Ordnung. Zwiespältige Schöpfung wird auch in diesen Ordnungen kein immer sprudelndes Glück erlauben, aber sie wird Wohltat der Schöpfung und damit Abglanz der Herrlichkeit Gottes vermitteln.

Die hier vorgetragene Ethik meint und bekennt Ethos als Offenbarungs- und Ordnungsethos. Diese Position ist heute vereinsamter denn je. Moderne theologische Kritik sitzt in anderen Booten und strebt nach anderen Gewässern. Aber es sind flüchtige Boote und seichte Gewässer im Nebel des Unbestimmten. Aus einem Ozean von Stimmen hören wir den radikalen Urschrei des einst in Hamburg tätigen ehemaligen Pastors Dr. Schulz, dessen radikale Offenheit ausspricht, was viele andere genauso meinen, aber entweder nicht aussprechen oder nur mit theologischer Lyrik verdecken können. Paul Schulz schrieb in der Wochenzeitung »Die Zeit«, 1973, Nr. 24:

»Es liegt daran, daß die althergebrachte Ehetheorie, die aufbaut auf dem sechsten Gebot »Du sollst nicht ehebrechen«, für die Bedürfnisse einer sich emanzipierenden Gesellschaft einfach nicht mehr ausreicht. Mag diese Form einmal in der Vergangenheit die Lebenswirklichkeit abgedeckt haben – heute ist sie als alleingültiger Maßstab nicht mehr funktionsfähig. … Deshalb gilt es, die Theorie zu brechen, die Absolutheit der Normen außer Kraft zu setzen. Es gilt, den Menschen aus dem erstarrten Normenkorsett zu befreien auf eine offene Verantwortung hin. Es gilt überhaupt, erst einmal herauszufinden, was der Mensch heute denn selber möchte, von sich aus will. Er muß in seinen Erwartungen, in seinen Wünschen durchsichtig werden, damit sich sein Leben nicht nach früher festgelegten Schemen abspult, sondern nach offenen Möglichkeiten entfaltet.«

Gegen Ordnung und Offenbarung, gegen die »Absolutheit der Normen« setzt diese Ethik »Bedürfnisse einer sich emanzipierenden Gesellschaft«, »offene Verantwortung«, das Wollen »von sich aus«, »Wünsche«. Hier ist »Ethos« die Verantwortung gegenüber Wünschen und Bedürfnissen; also ist Gut und Böse wieder in den Willen des Menschen nach Selbstverwirklichung gelegt. Es ist alles nicht neu, wenn man von der unverhohlenen Akzentuierung der »Bedürfnisse« absieht. Man sprach am Beginn der zwanziger Jahre von einer Bedürfnisreligion und meinte damit den Protest gegen eine Theologie, die sich nicht nach menschlichen Bedürfnissen richtet. Wir haben heute eine Bedürfnisethik und ganz sicherlich auch eine Bedürfnisreligion, die genauso eine plumpe Herausforderung der Offenbarung Gottes ist, wie die Bedürfnisreligion gestern, heute und zu allen Zeiten.

Gegen die Gebote Gottes wird eine Menschlichkeit ausgespielt, von der man nicht weiß, was sie ist, was sie will, woher sie kommt und wohin sie geht. Wünsche und Bedürfnisse, die sich selbst noch nicht entdeckt haben, und Möglichkeiten, die sich noch, gar nicht angemeldet haben, also imaginäre Vermutungen genügen, um das Gebot Gottes in die dunkle Ecke zu stellen. Die lustigen Ethiker unserer Tage fahren in einem kleinen Boot auf einem unendlichen Ozean; sie wissen nicht, wohin die Reise geht. Sie orientieren sich nach dem »Bedürfnis«, das sie dann Glück oder Menschlichkeit nennen.

Im Grund geht es hier um Leerformeln, die allenfalls durch die Willkür jeweils erfahrener Bedürfnisse ausgefüllt werden. Menschlichkeit, Friede, Geschwisterlichkeit sind leere Formeln. Die Ethik des Bedürfnisses ist eine Ethik des Nihilismus. Der Nihilismus steht am Ende einer jeden Bewegung, die nein sagt zur Schöpfung und ihren Ordnungen. Die Götter, die Dämonen sind Nichtse, sie nichten an, was ist. Sie zerstören, was Gebote schützen und erhalten. Die Alternative zum Gebot Gottes ist die Revolution des Nihilismus. Unterirdisch ist sie schon lange am Werk in der Zerstörung des Zueinander von Offenbarung und Ethos, Gebot und Ordnung, Sollen und Sein. 

 

EXKURS Nr. 1

Systematik allgemeiner Moral- und Zeitkritik

– Grenzen und Möglichkeiten –

Seit dem Fall ist der Mensch im Widerspruch zu sich selbst, deswegen ist menschliche Gesellschaft nie ohne Kritik an sich selbst gewesen, weil sie nie ohne inneren Widerspruch war. Der normale Fluß einer immerfort dahinplätschernden Moralkritik ist heute allerdings zu einer Sturmflut radikaler Selbstinfragestellung angeschwollen. Der Widerspruch in der Gesellschaft wird als Zerfall einer ganzen Kultur erfahren.

Der Typ einer vornehmlich konservativen Zeit- und Moralkritik ist Arnold Gehlen (»Moral und Hypermoral«, 1970). Seine Charakterisierung unserer gegenwärtigen, wertezerfallenen Welt ist beachtlich für unsere Arbeit. Wir fassen zusammen:

1. Wesentliches Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaft ist das Fehlen jeder verbindlichen ethischen Autorität. Toleranz in der modernen Gesellschaft bedeutet, daß ethische »Diskordanzen« unbedingt als erträglich hochgejubelt werden müssen. Der »Übergang von der Toleranz in den Nihilismus des Gelten-lassens« ist nach Gehlen offensichtlich. Die Verneinung ethischen Absolutheitsanspruches mit der »Toleranzbreite der Konzessionen« schafft die grundsätzliche »Geneigtheit zum Wegsehen«. — Human heißt heute, alles gelten lassen — inhuman heißt, ethische Autorität anrufen wollen.

2. Entbehrung und Leiden sind Unwerte. Die Gesellschaft, vor allem die Repräsentanten dieser Gesellschaft, also der Staat, muß unbedingt allen Wünschen entsprechen. Regel ist die »Ethisierung des Ideals des Wohllebens«. An die Stelle von Geduld, Leidensfähigkeit, Leistung und Gerechtigkeit tritt die »Sozialregulation«, jede Spannung zwischen Illusion und Realität, Wunsch und Wirklichkeit muß schnellstens ausgeglichen werden. Der Staat wird dabei zu einer »Mischung von Supermarkt, Apotheke, Kirche und Paradies«. … »Störende Hemmungen des Genusses am Ichsein müssen ebenso verschwinden wie die Überragung durch andere, die dieses Vergnügen beeinträchtigen könnten.«

3. Unsere Gegenwartszivilisation ist nach Gehlen eine hedonistische, also lustbetonte Zivilisation mit einem »Automatismus zunehmender Glücksgefräßigkeit«. Bei der Versorgung mit Glück »wird stillschweigend der Staat als Vermittler des Glücksanspruches« verstanden, wobei diese Ansprüche unbegrenzt ausweitbar sind, weil andere als hedonistische Lebensmaßstäbe fehlen und der Verzicht auf hedonistisch verstandenes Glück um jeden Preis verhindert werden muß.

4. Die rationale Verdampfung der Werte, der Versuch, das Ethos rational abzuleiten (schon bei Kant), »löst die Treuepflicht zu außerrationalen Werten« auf, hebt die Bindungen durch Kritik ins Bewußtsein, wo sie zerarbeitet und verdampft werden, und stellt Formeln bereit, die Angriffspotential, aber keine konstruktive Kraft haben wie in den Reden vom »neuen Menschen« oder von der »Unmenschlichkeit der Herrschaft«. Was übrig bleibt, ist — nach Meinung Gehlens — dann nur noch die Aggression, die im Grunde diese rationale Verdampfung und die neuen »Angriffs-Werte« motiviert. Also geht es letztlich um den »Umsturz der Werte«. Zu den Überlegungen Gehlens möchten wir hier hinzufügen, daß das Motiv der Rache — wie Nietzsche es formuliert —, also die Rache gegen alles, was ist, offensichtlich eine entscheidende Motivationskraft in der Zerstörung des herkömmlichen Ethos ist. Es bleibt also ein aggressiver Nihilismus. Das aber ist offensichtlich eine schmerzhafte Form des Unterganges einer Kultur.

5. Das »humanitär-eudämonistische Ethos« ruiniert das »Treue-und Pflichtethos« des Staates. Gehlen zitiert in diesem Zusammenhang Forsthoff, der die entscheidende Wende der Bundesrepublik darin sieht, daß »nicht mehr das finanzielle Leistungsvermögen des Staates, sondern das Volumen des Bruttosozialproduktes zum Maßstab der sozialen Umverteilung« (alles soziale Handeln ist Umverteilung) genommen wurde. »Das bedeutet die Auslieferung der staatlichen Entschließungen an die Bedingungen des Wirtschaftens schlechthin, und damit hat die Bundesrepublik nach der äußeren auch die innere Souveränität verloren: In welchem Sinne man sie noch als Staat bezeichnen will, ist eine Frage der Benennung.« Damit tritt an die Stelle des »Dienst- und Pflichtethos« das »humanitär-eudämonistische Ethos« — der Kampf der Gruppen um ihre Beute zerreißt alle jene Werte, die im Positiven die Gesellschaft binden. Der Staat ist nicht Wahrer des Rechtes, sondern er reguliert die Verteilung der Beute.

6. Der Humanitarismus verkennt die realen Bedingungen des Menschseins. Er verkennt, daß der Mensch nicht nur gut, sondern daß er auch böse ist. Konservative Gesellschaftskritiker, zu denen auch Arnold Gehlen gehört, weisen auf diese Realitäten immer hin, auch wenn sie nichts vom eigentlichen biblischen Sündenverständnis und von Versöhnung und Erlösung wissen wollen. Aber diese Erkenntnis ist einleuchtend: Das illusionäre »Menschliche« wird nun zu einem Wert an sich: »Wer jeden Menschen schlechthin in seiner bloßen Menschlichkeit akzeptiert und ihm schon in dieser Daseinsqualität den höchsten Wertrang zuspricht, kann die Ausbreitung dieses Akzeptierens nicht mehr begrenzen, denn auf dieser Bahn gibt es keinen Halt. Die Handlungen und Gedanken der Menschen, ihre Bosheiten, Tugenden und Laster, Künste und Spiele, Klugheiten und Narrheit — nichts wird von der Geltung ausgenommen, außer allein die Behauptung und Haltung, die erkennen läßt, daß irgend etwas nicht gelten soll — wer das sagt, hat Vorurteile und kommt nicht in Betracht.«

In diesem Zusammenhang zitiert A. Gehlen Hannah Arends Feststellung, »daß zum ersten Mal in der Geschichte alle Menschen sich allen Menschen gegenübergestellt sehen, ohne den Schutz unterschiedlicher Umstände und Lebensbedingungen.« Jeder wird hier ohne seine ihn zum Individuum machende Geschichte gesehen, jeder wird zwangsweise klassifiziert nach den Maßstäben dieses Humanitarismus, seinem Menschenbild und seinen Taktiken der Sozialpsychologie und sogenannten Verhaltenswissenschaften. Ohne Schutz und ohne Recht wird jeder zur Schraube in der Maschine der Sozialregulation, die auf Anpassung aller an alle drängt. Zum Humanitarismus gehört nach Gehlen auch die »Gegnerschaftsunfähigkeit«, da durch ein general acceptance alle Spannungen zum Ausgleich gebracht werden müssen. Es geht um den nivellierenden Ausgleich »der Welt-, Selbst- und Gotteserfassung zwischen den großen Kulturbereichen«, also um die Vorordnung — so interpretieren wir hier Gehlen — der Einheit vor der Wahrheit:
»Indem nun die öffentliche Sprache fast aller Sender und Zeitungen dieser Welthälfte auf dieselben Begriffe einschwenkt, zieht sich die Wirklichkeit in den Schatten zurück, sie kann dem Gesetz nicht entgehen, daß jede Bestimmtheit Verneinungen enthält …« — Die spannungslose, durch repressive Toleranz in jedem Fall angepaßte Gesellschaft, die nicht einmal mehr den Kampf zwischen Gut und Böse zuläßt, weil es ja eigentlich das Gute und Böse gar nicht gibt, will alles, was ist, zum Neutrum regulieren — das ist die Schreckensvision der Welteinheitswohlfühlgesellschaft.

7. Das Zueinander von Ethos und Individualität erstickt in den Superstrukturen moderner Gesellschaft. »Adoptierte Meinungen und Gesinnungen« werden als eigene erlebt, die Persönlichkeit »kann nichts Wirkliches mehr verändern«. Frei zu sein ist nur noch eine Fiktion, weil die ethische Verantwortung für Geschehensabläufe in der Gesellschaft immer mehr dem einzelnen »enteignet« wird. Der so lautstark gepriesene mündige Mensch ist im Grunde der bürokratisch verwaltete Mensch. Gehlen erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß 50 Prozent der modernen Umgangssprache in England und Amerika auf 34 Grundworte zurückgingen. Heutige Autoren von Büchern und Drehbüchern gebrauchen weniger und einfachere Worte nicht nur, weil die Massenkultur das Lernen, Lesen und Schreiben und damit auch Hören verwässert und vereinfacht, sondern vor allem, weil die Realitäten, der persönliche Erfahrungsraum, die Variationsbreite individuellen Erlebens, immer kleiner werden.

Es kommt zu einer »zeitungshaften« Bewußtseinsstruktur. Der von den Medien stimulierte Konsument denkt vornehmlich plakativ und schablonisiert. Diese Art von Fremdbestimmung ist unsittlich, denn Adoption ist keine Konvention — würden wir als Christen zu Gehlens Diagnose hinzufügen. Stimulierung durch Massenmedien bringt Rollenspiele, aber keine durch Entscheidungen getragenen Wertvermittlungen. Die »Mundwerksburschen-Frivolität« der Medientechnokraten hat ihre Ursache in einer bodenlosen Gewissenlosigkeit. Meinungen werden übernommen und propagiert, ohne daß sie individuell ethisch verkraftet und verarbeitet wurden. Diese »Mundwerksburschen-Frivolität« ist nach Gehlen Kennzeichen einer Schicht in der Gesellschaft, die als eine Art »Gegenaristokratie« moralisiert, ohne Verantwortung zu haben, und mit einer utopistischen Erwartungspropaganda staatliches Handeln in die Realitätsferne zwingt, also letztlich zum Bankrott führen muß.

Arnold Gehlens Kultur- und Moralkritik, wie sie hier kurz skizziert wurde, ist Muster einer konservativen Gesellschaftskritik, die im Autoritätsverlust, Utopismus, Kollektivismus und Hedonismus die entscheidenden Elemente des Zerfalls unserer Zivilisation sieht. Konservative Gesellschaftskritik dieser Art steht aber leider auch im Sog einer Offenbarungsverfremdung. Begriffe wie Pflicht, Verzicht und Autorität sind inhaltlich nicht immer, oft sehr wenig, manchmal gar nicht mit biblischen Offenbarungsaussagen gefüllt, oder sie sind aus dem Heilszusammenhang der Bibel herausgerissen. Zum Beispiel steht Eigentum als Sollgehalt in der Bibel in einem Gesamtzusammenhang, der gleichzeitig diesen Schöpfungsbereich als Schöpfungswohltat wie auch als Gefahr des Heilsverlustes beschreibt. Konservative Moralkritik lebt oft aus der Sekundärmoral, vom Abglanz, aber eben nicht selbst vom Licht des Offenbarungswortes. Sie ist wenig dynamisch, oft strukturell verkrustet, kennt nicht die permanente Infragestellung durch das Wort, kann zynisch werden, weil sie den Trost der Offenbarung vermissen muß. Konservative Moralkritik verkennt leicht die Verwurzelung aller Moral im Glauben an den das Heil bringenden Gott, und sie verkennt — pessimistisch wie sie ist — die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Umkehr als tiefgreifendes Bußgeschehen.

Konservative Moralkritik ist eben keine orthodoxe Moralkritik, so wie politischer Konservativismus und kirchliche Orthodoxie zweierlei sind.

Als Exponent einer als revolutionär zu beurteilenden Moralphilosophie und Moralkritik (nun wirklich einer unter sehr vielen anderen) wird für diese Arbeit Erich Fromm vorgestellt (»Die Furcht vor der Freiheit«, 1945, und »Haben und Sein«, 1976). Wie die neo-anarcho-marxistische Frankfurter Schule der negativen Dialektik (vergl. hierzu G. Huntemann, »Die Zerstörung der Person«, 1981) sieht Fromm — nun ganz und gar im Gegensatz zur konservativen Moralkritik — in der Autorität, im autoritativen Moralanspruch die Ursachen des moralischen Zerfalls. Adams Ungehorsam gegen Gott mag im Urteil der Kirche eine Todsünde sein, meint Fromm, »vom Standpunkt des Menschen jedoch ist dies der Beginn der menschlichen Freiheit« (in: »Die Furcht vor der Freiheit«).

Diese These Fromms wurde zum Mammutprogramm der die ganze westliche Welt packenden und schüttelnden sogenannten emanzipatorischen Bewegungen. Die Gegenposition zum reformatorischen Christentum ist ausgesprochen:
»Indem Luther also das Volk von der kirchlichen Autorität befreite, machte er es einer weit tyrannischeren Obrigkeit unterwürfig: Der Autorität eines Gottes, der — als wesentliche Vorbedingung zur Erlösung — auf zeitloser Unterwerfung und Auslöschung des Individuellen selbst bestand«, meint Fromm.

Diese radikale Verneinung des reformatorischen Prinzips und damit des Christentums überhaupt ist motiviert bei allen emanzipatorischen Moralisten durch die radikale Verneinung des biblischen Zueinander von Gott und Autorität, Gebot und Heil, Schuld und Vergebung. Diese emanzipatorische Bewegung (emancipo heißt: den Sohn aus der väterlichen Gewalt entlassen) liegt durchaus noch in der Linie von Kants Programm einer autonomen, eben vom Menschen selbst gesetzten und nicht heteronomen, also von Gott gegebenen Moral. Die Moralkritik der emanzipatorischen Moralphilosophie ist von daher immer auf der Suche nach verborgenen oder gar sich offen auslebenden und energisch zu bekämpfenden autoritativen Strukturen.

Auch Fromm kritisiert den radikalen Hedonismus der gegenwärtigen Industriegesellschaft, ihr Streben nach einem »Maximum an Lustempfindungen« (in »Haben oder Sein«). Fromm meint: »Wir führen gegenwärtig das größte je unternommene gesellschaftliche Experiment zur Beantwortung der Frage durch, ob Vergnügen (als passiver Affekt im Gegensatz zu den aktiven Affekten Wohlbefinden und Freude) eine befriedigende Lösung des menschlichen Existenzproblemes sein kann« (in: »Haben oder Sein«). Lustbetontheit als konsumtives Lustverlangen setzt Passivität mit Abhängigkeit voraus, also ist sie eine der Ursachen für Fremdbestimmung, Autorität und Herrschaftsstrukturen.
Das Gefährliche und Inhumane dieses Hedonismus in der modernen Industriegesellschaft ist nach Fromms Meinung, daß dieser Humanismus auf ein »Haben« von Dingen und Menschen aus ist. In seiner Kritik am »Haben« beruft Fromm sich auf die Bibel. Im Sabbat (die Ruhe von allem Tun, das auf »Haben« abziele) und in der prophetischen Vision der Freiheit, der »Ungehindertheit durch Besitz« … »durch die messianische Mission, die Frieden und Überfluß versprach, ohne daß es nötig sei, Menschen von ihrem Lande zu vertreiben«, sieht Fromm das Sein im Kampf gegen die »Habenstruktur« (in: »Haben oder Sein«). Aber ebensogern orientiert sich Fromm — wie alle Emanzipatoren von Marcuse bis Borneman — an der Vorbildlichkeit primitiver Kulturen. Die besitzlose Sexualität, also die Sexualität in freier Partnerschaft ohne die Zwänge der Ehe, also ohne die Habenstruktur, bringt — so meint Fromm — das Glück.

Fromm meint bei den primitiven Zivilisationen die Vorbilder des Glücks gefunden zu haben:

»Eine große Zahl der sogenannten primitiven Kulturen hat keine sexuellen Tabus. Da sie ohne Ausbeutung und Unterdrückung leben, brauchen sie nicht den Willen des Individuums zu brechen. Sie können es sich leisten, Sex nicht zu stigmatisieren und sexuelle Beziehungen ohne Schuldgefühle zu genießen. Das Bemerkenswerte ist, daß die sexuelle Freiheit in diesen Gesellschaften nicht zu sexuellen Exzessen führt, sondern daß sich nach einer Periode relativ kurzfristiger sexueller Beziehungen Paare zusammentun, die kein Verlangen nach Partnertausch haben, die aber ungehindert auseinandergehen können, sobald die Liebe erlischt. Freude an der Sexualität ist bei diesen nicht besitzorientierten Kulturen ein Ausdruck des Seins, nicht das Resultat sexueller Possessivität« (in: »Haben oder Sein«).

Das Glück, das wahre Sein, so wie Fromm es sich vorstellt, ist ein mehr oder weniger mystisches Eintauchen oder ein Sich-fallen-Lassen in ein Wohlfühl-Nirwana. Fromm meint — bezeichnenderweise hier in Übereinstimmung mit Horst E. Richter — über das Sterben: »Die Anleitung zum Sterben ist in der Tat dieselbe wie die Anleitung zum Leben. Je mehr man sich des Verlangens nach Besitz in allen seinen Formen und besonders seiner Ichbezogenheit entledigt, umso geringer ist die Angst vor dem Sterben, da man nichts zu verlieren hat« (in: »Haben oder Sein«).  . . .

Die nichtchristliche Moral und Zeitkritik der Gegenwart ist zunächst motiviert durch die Erkenntnis, daß unsere Gesellschaft eine Krise auf Leben und Tod durchschreitet. Sie ist sich der Abgründigkeit unseres Daseins wohl bewußt. Ihr fehlt aber jede Möglichkeit, die letzten und eigentlichen Ursachen sowie die gegebene Möglichkeit der Überwindbarkeit dieser Krise zu erkennen. Der nichtchristlichen Zeitdiagnose fehlt der absolute Maßstab der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Heil und Unheil. Darum sind die von ihr aufgewiesenen Auswege selbst Irrwege, die die Katastrophe nicht abwenden, sondern letztlich mehren. Es kann nach dem christlichen Ethos kein anderes Ethos mehr geben. Nach dem christlichen Ethos gibt es nur noch das Nihil. Der Weg der modernen Ethik vom Deismus bis in die Gegenwart ist in seinem Wesen Destruktion, die Verneinung des Guten, das Gott geboten hat.

 

EXKURS NR. 2

Zum Kernprozeß der Entkerygmatisierung des biblischen Ethos

Die Kantsche Moralphilosophie ist natürlich nur eine Wegmarkierung im Prozeß der Entkerygmatisierung des biblischen Ethos. Entkerygmatisierung meint, daß das Ethos aus dem Offenbarungs- und damit Heilsgeschehen der Bibel herausgerissen wurde. Die Anfänge dieses Prozesses liegen im englischen Deismus, die geschichtlichen Wurzeln gehen zurück auf die italienischen Häretiker der Spätrenaissance und auch auf den niederländischen Arminianismus, der Erlösung in Selbsterlösung verfälschen wollte. Die Inter-Kommunikation im damaligen Europa zwischen Humanisten, Arminianern und Millenisten kann man sich nicht lebhaft genug vorstellen.

Im englischen Deismus des 17. Jahrhunderts hat die sogenannte Frühaufklärung schon so etwas wie einen klassischen Ausdruck und Abschluß gefunden. Ganz offensichtlich steht die Kantsche Moralphilosophie unter einem direkten Einfluß dieser Bewegung. Schon 1624 hatte Edward Herbert Baron Cherbury Naturreligion und natürliche Moral in ein faszinierendes System eingepackt. Für ihn ist der Gott der natürlichen Religion ohne Zorn und Rache, er greift in den Lauf der natürlichen und damit auch des menschlichen Lebens nicht ein. Bewußtsein der Sünde, Glaube an die vergebende Gnade, Frage nach der Gewißheit des Heils werden angesichts der Verneinung der Heilsgeschichte für ihn bedeutungslos. An die Stelle Gottes tritt die Natur. Die Rede über die Natur bleibt im Ungewissen, Natur und Gott werden nicht identifiziert. Paul Hazard beschreibt dieses Verständnis der Natur in seiner »Krise des europäischen Geistes«, 1939, folgendermaßen:

»Die Natur ist sehr weise. Die Natur macht nichts umsonst. Die Natur schießt nie über das Ziel hinaus. Die Natur hat nie Überfluß an Überflüssigem, noch ermangelt sie des Notwendigen. Die Natur ist Erhalterin ihrer selbst. Die Natur heilt die Leiden, die Natur sorgt stets für die Erhaltung des Universums. Die Natur verabscheut das Leere …«

Die Natur ist das Sein, das Ursein! Gott ist die anonym gewordene Quelle dieses Urseins. John Locke, John Tolland, Anthony Collins und Matthew Tindal mögen im einzelnen über Natur, Mensch und Religion, vor allem über den Erkenntnisweg zum Wesen der Natur, verschieden geurteilt haben, gemeinsam ist ihnen allen die prinzipielle, auf Offenbarung verzichtende Erkennbarkeit der Moral, der Glaube an eine gute, geordnete, eben nicht gefallene Natur und an ein ebenso geordnetes und gutes Menschsein. Es gibt, daran glauben alle, zwar keine Heilsgeschichte, die sich im Handeln Gottes und in der Umkehr (Wiedergeburt) des Menschseins gründet, aber ein Fortschreiten der Natur. Heilsgeschichte wird horizontalisiert zur Evolution, die dann später durch Wissenschaft der Natur einsichtig gemacht werden kann und soll.

Es ist — schreibt Paul Hazard — »die Vorstellung von einer Natur, der man noch abstreitet, daß sie vollkommen gut ist, die jedoch mächtig und geordnet ist und mit der Vernunft in Einklang gebracht werden kann: folglich eine Naturreligion, ein Naturrecht, eine natürliche Freiheit, eine natürliche Gleichheit; eine Moral, die sich in mehrere Moralanschauungen aufspaltet, und der Rückgriff auf den moralischen Nutzen, um eine Moral der anderen vorziehen zu können; ein Recht auf Glück, auf ein Glück auf Erden; der Frontalangriff gegen die Feinde, welche die Menschen hindern, hier auf Erden glücklich zu sein, gegen den Absolutismus, den Aberglauben, den Krieg; eine Wissenschaft, die den unbegrenzten Fortschritt des Menschen und demzufolge seine Glückseligkeit auf Erden gewährleistet, die Philosophie als Führerin im Leben: Das sind, scheint es, die Veränderungen, die vor unseren Augen vor sich gegangen sind; das sind die Ideen und Willensrichtungen, die schon vor Abschluß des 17. Jahrhunderts ihrer selbst bewußt geworden sind und sich vereinigt haben, um gemeinsam die Doktrin vom Relativen und Menschlichen zu bilden«.

Der Kern dieses Prozesses ist die Leugnung der Sündenverfallenheit und der Glaube an die Selbsterlösungsmächtigkeit menschlicher Existenz vor allem durch die Vernunft und durch den Willen. »Es bedarf also keines Anspruchs der Erfahrung, um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbild zu machen; sie liegt als ein solches schon in unserer Vernunft«, schreibt Kant in seiner »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Keine Offenbarung als Ereignis in der Geschichte, weder das Ereignis der Gesetzgebung durch das Wort noch die erlösende Heilstat Christi sind von Bedeutung — das sind »zufällige Geschichtswahrheiten«, wie Lessing es formuliert. Sie illustrieren nur die Vernunftswahrheit, aber begründen sie nicht. Was der Mensch sein soll, weiß er aus der Vernunft, und was er kann, erfährt er durch die Kraft und Mächtigkeit seines Willens: »Denn wenn das menschliche Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein, so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können. Der Satz vom angeborenen Bösen ist in der moralischen Dogmatik von gar keinem Gebrauch« (»Religion innerhalb der Grenzen …«).

Die neukantische Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte die Renaissance der Kantschen Philosophie mit einer allerdings ganz entscheidenden Akzentuierung, die zu einer dualistischen Weltauffassung führte. Der Gang der Natur ist im Neukantianismus den Gesetzen der Natur deterministisch unterworfen. Hier gibt es weder Wunder noch Ethos noch Freiheit. Die Natur ist jenseits von Gut und Böse, sie ist ein gewaltiges Neutrum, das sich allerdings evolutionär steigert zum Gigantischen in den »ungeahnten Möglichkeiten« der technokratisch-sekundären Welt. Wissenschaft hat es mit dieser wertneutralen Welt zu tun, ist also Wissenschaft von der Erforschung, von der Vermehrung der Ameisen bis zur historischen Quellen- und Literarkritik der Bibel. Und diese Wissenschaft ist immer wertneutral. Sittlich und damit »Gott verbunden« ist der Mensch nur in seinem Gewissen, in dem er allerdings noch ewige und absolute Werte entdecken kann. Seinsurteile, Metaphysik (das betonte insbesondere die sogenannte westdeutsche Schule des Neukantianismus), also Aussagen über das Wesen der Welt, sind eigentlich irrelevant, aber die Moral, die Welt der Werte schafft noch Raum für eine sich um Gott und das Böse mühende Philosophie.

Mit Albrecht Ritschl und Adolf von Harnack strömt diese neukantianische Philosophie in die Theologie. Das »Wesen des Christentums« ist Moral: Alle Aussagen über die Welt, über das Sein, sind Metaphysik, verbotene Spekulation. Weltanfang und Weltende interessieren nicht, im Lauf der Dinge waltet kein Gott — aber im Gewissen, da, wo wir das Gute und die Liebe erfahren, vernehmen wir das sanfte Rauschen einer ferngerückten Ewigkeit.

Für die neukantianische, eben liberale Theologie im 19. Jahrhundert ging es um die ethische Erneuerung des Menschen. Biblische Aussage ist für sie im »Wesen« diese Erneuerung. Ihre Aussagen über Schöpfung und Endzeit, Tod und Auferstehung, Himmel und Hölle werden als Metaphysik, Seinsurteile, also irrelevanter Mythos abqualifiziert. Das Ethos der Bibel wird herausgerissen aus dem Heilsrahmen der Bibel, es wird eben »entkerygmatisiert«. Gleichzeitig wird Ethos immer mehr eingeengt auf den persönlichen, privaten Bereich, der seinerseits umspült wird von den weiten Wassern einer autonomen, eben wertneutralen Wirklichkeit. Naturwissenschaft, aber bald auch Wirtschaft und Politik, sollen auch ihre »autonomen« Gesetze haben, während die Bergpredigt in Haus und Hof, Bibel- und Häkelkreisen still und bescheiden dahinfristet. Diese liberale Theologie wurde zu ihrer Zeit schuldig an der Zerstörung des Ethos in unserer gegenwärtigen Kultur.

 

EXKURS NR. 3

Motivation natürlicher Moralität im Willen zur Macht

Über Nietzsches Entdeckung, daß Denken (Metaphysik) und Handeln (Moral) durch nichts anderes als durch den Willen zur Macht motiviert seien, sollten Christen sich nicht allzusehr verwundern. Adams Moralität, sein Wille zur Erkenntnis von Gut und Böse, im hebräischen Wortsinn seine Absicht Gut und Böse zu »setzen«, entspringen seiner Gier, so zu sein wie Gott: »Ihr werdet wie Gott sein und bestimmen, was gut und böse ist« (1. Mose 3,5). Adams Sündenfall war motiviert durch den Willen zur Macht.

Für Nietzsche ist »Wahrheit« nicht die Übereinstimmung der Erkenntnis mit einer dem Erkennen gegenüberstehenden Wirklichkeit. Wahrheit ist für ihn nichts anderes als eine Art und Weise des Sehens der Wirklichkeit, die dem Willen zur Macht verfügbar gemacht werden soll: »Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und das  zu entdecken wäre — sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat« (in »Wille zur Macht«). Das Bewußtsein ist ein Instrument des Willens zur Macht, das in den animalischen Funktionen (biblisch würde man sagen in der Fleischlichkeit) angelegt ist: »Die animalischen Funktionen sind ja prinzipiell millionenfach wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseinshöhen: Letztere sind ein Überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen. Das ganze bewußte Leben — der Geist, somit die Seele, samt dem Herzen, samt der Güte, samt der Tugend: In wessen Diensten arbeitet es denn? In der möglichsten Vervollkommnung der Mittel (Ernährung — Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktion: Vor allem der Lebenssteigerung« (in »Wille zur Macht«).

Es gibt für Nietzsche also keine objektive Wahrheit, kein absolutes Sein, alles ist im Fluß des Werdens und Vergehens, und zwar in der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

Im Gegensatz zu Kants Ethik ist für Nietzsche Moral nichts anderes als Wille zur Selbstverwirklichung. Darüber schrieb Nietzsche in »Jenseits von Gut und Böse«, 1886, und in der »Genealogie der Moral«, 1887. Diese letztere Schrift setzt Ethos in die Autonomie des Menschen, der »Herr des freien Willens« ist. Der durch den Instinkt aus freiem Willen geleitete, allen Herausforderungen standhaltende Mensch hat nach Nietzsche positive Tugenden, die Nietzsche allerdings sehr widersprüchlich beschreibt. Die Moral des Herrenmenschen, wie Nietzsche sie in der »Genealogie der Moral« entwickelt, kann in diesem Rahmen nicht dargestellt werden, wohl aber — als Ergänzung zum Hauptteil — seine Kritik an der christlichen Moral, die er als »Niedergangs-Instinkt« beschreibt: »Der Wille zum Nichts ist Herr geworden über den Willen zum Leben!« Dieser Wille zum Nichts ist aber eigentlich ein Wille zur Macht, aber er ist der Wille zur Macht jener, die schlecht weggekommen sind, es ist der Wille zur Macht der Schwachen gegen die Starken. Von daher wird für Nietzsche christliche Moral eine Moral des Ressentiment, »… die höchste und darum die schlimmste Form der Moral, denn das ist ihre Intention: Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Mut entmutigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnutzen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnot verkehren will, daß es die vornehmen Instinkte giftig und krank zu machen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selbst kehrt — bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zugrunde gehen«.

Die Moral — insbesondere die christliche Moral — ist also für Nietzsche ein Instrument der Lebensuntüchtigen, um als Lebensuntüchtige zu überleben: »Die Moral ist geradezu unmoralisch wie jedwedes andere Ding auf Erden; die Moralität ist eine Form der Unmoralität.« Durch diese Moral wird der höhere Typ Mensch in seinem Willen zur Macht verleugnet. Durch Ressentiment und morbide Lust der Zerstörung, durch Zähmung, Schwächung, Entmutigung, Verzärtelung, Entmannung wird er kaputt gemacht. Dieses alles kann von Nietzsche auch unter dem Begriff Dekadenz eingeordnet werden. Moral als christliche Moral — und Nietzsche fand ja Moral in Europa als quasi christliche Moral vor —, ist Ausdruck der Dekadenz.

Im »Antichrist« von 1888 operiert Nietzsche mit diesem Begriff gegen das Christentum, indem er dessen moralische Werte als Dekadenz-Werte abqualifizierte, die in jedem Falle lebensfeindlich seien: »Wenn irgend etwas unevangelisch ist, so ist es der Begriff Held. Gerade der Gegensatz zu allem Ringen, zu allem Sich-im-Kampf-Fühlen ist hier Instinkt geworden. Die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral (Widerstehe nicht dem Bösen! Das tiefste Wort der Evangelien, ihr Schlüssel im gewissen Sinne), die Seligkeit im Frieden, in der Sanftmut, im Nicht-Feind-sein-Können.« Moral als Instrument des Ressentiments sieht Nietzsche — sicherlich auch in unschöner Erinnerung an hautnahe Begegnung mit Pietisten aus der Vater-Pfarrhaus-Welt — folgendermaßen:

Ich halte eine gewisse Art, die Augen aufzuschlagen, an ihnen nicht aus. — … »Richtet nicht!«, sagen sie, aber sie schicken alles in die Hölle, was ihnen im Wege steht. Indem sie Gott richten lassen, richten sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selbst; indem sie die Tugenden fordern, deren sie gerade fähig sind — mehr noch, die sie nötig haben, um überhaupt oben zu bleiben —, geben sie sich den großen Anschein eines Ringens um die Tugend, eines Kampfes um die Herrschaft der Tugend. Wir leben, wir sterben, wir opfern uns für das Gute (die Wahrheit, das Licht, das Reich Gottes); in Wahrheit tun sie, was sie nicht lassen können. Indem sie nach Art von Duckmäusern sich durchdrücken, im Winkel sitzen, im Schatten schattenhaft dahinleben, machen sie sich eine Pflicht daraus. Als Pflicht erscheint ihr Leben in der Demut, als Demut ist es ein Beweis mehr für Frömmigkeit… ach, diese demütige, keusche, barmherzige Art von Verlogenheit! Für uns soll die Tugend selbst Zeugnis ablegen… Man lese die Evangelien als Bücher der Verführung mit Moral: Die Moral wird von diesen kleinen Leuten mit Beschlag belegt — sie wissen, was es auf sich hat mit der Moral … die Menschheit wird am besten genasführt mit der Moral…

Nietzsche sieht die Christen mit ihrer Moral in einem listigen Krieg. Die Krieger sind raffiniert, rachsüchtig und Giftmischer, denn hinter der christlichen Fassade meint Nietzsche elementare Leidenschaften entdeckt zu haben, vor allem Selbstsucht und Brutalität. Also ist auch die christliche Moral der Dekadenz nach Nietzsche in einer allerdings verdeckten Weise Wille zur Macht als Rache gegen das, was schön und stark ist.

Nietzsches Verfluchung des Christentums im »Antichrist« gründet sich auf dem Vorwurf des »Willens zur Korruption«. Christen leben — ethisch beurteilt — in einem korrumpierten Willen zur Macht: »Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht … ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die eine große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist — ich heiße es den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit …«

Was einmal Karl Barth über Feuerbach sagte, mag auch für Nietzsche gelten: Er ist ein »helläugiger Spion«, der die Verfleischlichung (sprich Veranthropologisierung) des biblischen Ethos erkennbar macht. In der Tat gibt es tatsächlich Christentum als Ressentiment, es gibt die Ausübung des christlichen Ethos aus Rache gegen das, was ist. Diese Instrumentalisierung wird immer ganz und gar zwangsläufig dann geschehen, wenn das Gebot vom Gebieter, das Gesetz vom offenbarenden, gebietenden und heilenden Gott getrennt wird, wenn biblisches Ethos autonomisiert wird, nachdem es vorher entkerygmatisiert worden ist.

Die Heuchelei ist ein von Christus angeprangertes Phänomen. Heuchelei ist die sich ganz und gar innerlich und sehr fromm gebende Instrumentalisierung der Moral durch einen verdeckten Willen zur Macht. Christus entlarvt die Heuchelei im Beten (Matth. 6,5), im Fasten, aber auch in der Askese, im Verzicht (Matth. 6,16). Er entlarvt Heuchelei im moralischen Urteilen (Matth. 7,5; Luk. 6,42).

Die bedrohliche Herausforderung dieser das christliche Ethos instrumentalisierenden Heuchelei, die wie ein dunkler Schatten auf das Leben der christlichen Gemeinde fällt und ihre unheimliche Versuchung war, wird in der theologischen Ethik zu wenig beachtet, obgleich die Bibel, insbesondere Christus selbst, diese gefährliche Verhöhnung Gottes offen anprangert. Heuchelei als Benützung christlicher Offenbarung zum Zwecke fleischlicher Selbstverwirklichung geschieht immer dann, wenn das Gegenüber-Sein zum anderen, eben zu Gott, zum Haben Gottes und damit zur Verbildlichung Gottes umfunktioniert wird. Christsein ist ein Ereignis, das Gott bewirkt und gerade darum immer das Empfangen voraussetzt. Wir sind Feinde Gottes im Willen zur Macht. Wir sind Freunde Gottes durch das Ereignis seiner uns annehmenden Liebe, die Kraft und Herrlichkeit schenkt. Die Spannung von Licht und Finsternis dabei zu verneinen, weil Licht vermeintlich »gehabt« und Finsternis sträflich verdrängt statt überwunden wird, bedeutet Heuchelei. Glaube ist dann kein wirkliches Vertrauen mehr. Der sich nicht mit dem Vertrauen identifizierende sogenannte Christ beobachtet nur noch seine Rolle, also sich selbst. Er hält sich an sich selbst fest. Es fragt sich, ob Nietzsches »Antichrist« nicht auch und gerade jenen »Antichristen« beschreibt, der das »Sein in Christus« zu einem »Haben« des Christus pervertiert hat.

Eine subjektive Verformung christlicher Existenz, die ganz und gar das Christsein aus einer erfahrbaren, zu beobachtenden Haltung ableitet, die eine psychologisch faßbare Rolle als Christsein vorschreibt (sich selbst und anderen), wird der Hypokrisis zwangsläufig verfallen. Weil man — meistens doch in arminianischer (die Gnadenwahl Gottes ausschließender) Irrlehre verfangen — das Heil in eigener Leistung erreichen will (man bedenke hier die Strapazierung des Wortes »Entscheidung«), wird das Spielen dieser Rolle zu einem Leistungszwang. Die Motivation, diese Rolle zu spielen, kommt dann nicht aus der Begegnung mit Gott, sondern kann wirklich durch Ressentiments geboren werden. Es kann wirklich so sein, daß man die Rolle des Christen spielt, weil es keine andere Weise der Selbstverwirklichung für den Betreffenden in dieser Welt gibt. Die verkappte Selbsterlösung endet in der Frustration, das Versagen der frommen Rolle bringt Haß gegen Gott und damit Aggression gegen den Nächsten, den man so quälen will, wie man von seinem eingebildeten Gott gequält wurde.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen bibelverlorener »Frömmigkeit« und autonomem Moralismus. Beide haben geistesgeschichtlich sehr oft eng nebeneinander gestanden. Beide stehen im Schatten eines voluntativen Subjektivismus, beide leben in ihrer Weise aus dem Willen zur Macht. In der Interpretation von Römer 7 im zweiten Teil wird dieses ungemein wichtige Thema noch weiter zu bedenken sein. In diesem Kapitel sei jedenfalls daran erinnert, daß biblisches Ethos der Schöpfung, dem Sein, dem Leben, der Schönheit und der Kraft zugeordnet ist. Das Gebot zerbricht nicht die Schöpfung, sondern erhält, bewahrt und steigert sie — zerbrochen wird der Wille, der gegen Gott und gegen die Schöpfung das Nichts setzen will. Dieses Zerbrechen aber wird verwandelt durch die Wiedergeburt in Kraft und Herrlichkeit. Das Kreuz ist Ohnmacht auf dem Wege zur Vollmacht. Das konnte und wollte Nietzsche nicht verstehen. Oft werden wir auch einen bibelverlorenen Pietismus daraufhin befragen müssen, ob er nicht selbst manchmal diese Wahrheit von Kreuz und Auferstehung verändert hat.

 

EXKURS NR. 4

Natürliches Ethos im Neuen Testament?

Zur Exegese von Römer 2,14—16

Im Plädoyer für eine »natürliche« Ethik wird gern und oft mit selbstverständlicher Übereinstimmung Römer 2,14—16 als exegetischer Kronzeuge herbeigerufen, weil man hier eine Stelle gefunden zu haben meint, die eindeutig die Anerkenntnis einer natürlichen Ethik durch den Apostel Paulus belegt:

»… Denn wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur tun, was das Gesetz enthält, so sind diese, die das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, da sie ja zu erkennen geben, daß das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, indem auch ihr Gewissen dies bezeugt und ihre Gedanken sich untereinander anklagen oder auch verteidigen…« (Röm. 2,14—16).

Die Heiden sind ohne das Gesetz sich selbst ein Gesetz, sie tun es aus Physis. Das Gesetz ist in ihr Herz geschrieben. Also gibt es doch — so meinen die Verteidiger einer natürlichen Ethik — das Zueinander von Natur und Herz, von Natur und Moral. Kann man sich eine bessere Begründung für eine »natürliche Ethik« wünschen?

Im Anschluß an Karl Barths leidenschaftliche Verneinung dieser Art von Sinnerhebung von Römer 2 hat sich eine die natürliche Gottes- und Gebots-Erkenntnis verneinende Exegese ihren mühsamen Weg bahnen müssen.

Das Mühsame dieses Weges liegt nicht darin, daß es so unendlich schwer wäre, den Sinn dieses Textes zu erheben, sondern daß der Zugang zum Neuen Testament in der protestantischen Theologie gemeinhin durch einen Dschungel von Neukantianismus und Kantianismus hindurch immer wieder verfehlt wurde.

Es stellt sich ganz einfach vor allen anderen Fragen eben die Frage: Wen meint der Apostel Paulus mit »Heiden«? Sind hier die Heiden als die Ungläubigen, die der Offenbarung Gottes nie begegneten, gemeint oder die Heidenchristen, an denen sich die Prophetie des Jeremia (31,33) erfüllt? Jeremia prophezeite für die kommende Heilszeit: »Das ist der Bund, den ich nach jenen Tagen mit dem Hause Israel schließen will, spricht der Herr: Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und es ihnen ins Herz schreiben; ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.«

Diese Aussage ist eine eschatologische, in die Zukunft weisende Heilsaussage für das erwählte Gottesvolk. Jeremia denkt hier an eine zukünftige Heilszeit. Sollte nun Paulus an dieser Stelle seines Römerbriefes wirklich meinen, daß ausgerechnet die Heiden schon haben, was Israel für die Zukunft eines neuen Bundes verheißen wird? Jene Heiden sollten den Heilswillen Gottes, wie er sich im Gebot ausspricht, erkennen, von denen der Apostel ein Kapitel vorher sagen mußte, daß »ihr unverständiges Herz verfinstert wurde« (Röm. 1,21), weil sie Gott nicht die Ehre gaben und eben deswegen der Zorn Gottes »über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen« gekommen ist (Röm. 1,18)? Was nützt einem »unverständigen Herzen« das »Gesetz im Herzen«?

Eine natürliche Gotteserkenntnis — darüber kann es gar keinen Zweifel geben — schließt Paulus grundsätzlich aus. Darüber hat Barth in den ersten Bänden seiner Dogmatik zweifellos zu Recht und mit Erfolg eine Armada von groß und klein gedruckten Zeilen in Marsch gesetzt. Aber — so frohlockt die natürliche Ethik — deswegen können die Heiden dennoch ein »Sittengesetz« haben. Wenn die Heiden Gott auch nicht kennen, sittlich können sie dennoch den Maßstab der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, eben eine autonome Moral »besitzen«. Hier waltet die alte Leidenschaft: Es gibt ein Ethos ohne Gott und ohne seine Offenbarung. Die Bibel aber weiß von der Erkenntnis Gottes und seines Gesetzes nur durch die Offenbarung.

Darüber hinaus versteht sie die Erkenntnis des Gesetzes als ein endzeitliches Ereignis. Jesaja schreibt (51,7—9):

»Alsbald naht sich mein Heil, geht aus meine Rettung, und meine Arme richten die Völker. Auf mich harren die fernsten Gestade, auf meinen Arm warten sie. Erhebet eure Augen gen Himmel und schauet auf die Erde drunten; denn die Himmel werden zerfetzt wie Rauch, und die Erde zerfällt wie ein Gewand, und ihre Bewohner sterben wie Mücken; doch meine Rettung wird auf ewig bestehen, und mein Heil wird nicht aufhören. Höret mir zu, die ihr das Recht kennt, du Volk, das meine Weisung im Herzen trägt.«

Über den Rest Israels sagt Ezechiel (11,19—20):

»Und ich werde ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in ihr Inneres legen; und ich werde das steinerne Herz aus ihrem Leibe herausnehmen und ihnen ein fleischernes Herz geben, damit sie nach meinen Geboten wandeln … dann werden sie mein Volk sein, und ich werde ihr Gott sein.«

So wie sich die Weissagungen Joels (Joel 2,28—32) über das Ausgießen des Geistes an der Urgemeinde erfüllt haben (Petrus sagt, daß sich im Pfingstgeschehen erfüllt hat, was durch den Propheten Joel gesprochen worden ist — Apg. 2,16), so erfüllen sich die Verheißungen Jesajas und Jeremias über das »Gesetz in den fleischernen Herzen« ebenfalls in der Gemeinde des neuen Bundes. Die Heidenchristen leben in einer neuen, heilsgeschichtlichen Wirklichkeit und damit in einer neuen und anderen Erfahrung des Gesetzes Gottes. Das Gesetz hat eben seine Heilsgeschichte, wie im nächsten Kapitel noch weiter zu bedenken sein wird.

Das Gewissen, von dem Paulus (Röm. 2,14—16) schreibt, ist als Syneidesis das Mitwissen mit Gott. In diesem Falle ein Wissen um den Willen Gottes, wie er sich in seinem Gebot bekundet. Das Gewissen setzt von sich aus keine Werte, wie im Neukantianismus unerbittlich gelehrt wurde, sondern es meldet nur die von Gott gegebenen Werte. Im neuen Bunde geschieht das durch das Sein in Christus und in der Kraft des Heiligen Geistes.

 

EXKURS NR. 5

Das klassische Nein

Der Protest in der »Zwischentheologie« von Karl Barth

Karl Barths Theologie ist eine »Zwischentheologie«, eine Theologie zwischen den Zeiten. Als solche hat sie sich von Anfang an verstanden, und das ist sie auch geblieben. Barth war das Nein zum neukantianischen, subjektiven Liberalismus des 19. Jahrhunderts, zum Kulturprotestantismus mit seinem Und-Christentum: Christentum und Natur, Christentum und Kultur, Christentum und Sozialismus. Barths Theologie wollte ein Ja sein zum Worte Gottes in der Ablehnung aller natürlichen Theologie und Ethik. Mit geradezu prophetischem Blick hat Barth, insbesondere in den dreißiger Jahren, die vielseitige und untergründige Zerstörung des Christentums erkannt. Seine Theologie des Wortes oder der Offenbarung konnte aber die Misere des Protestantismus nicht überwinden, und Barth war auch keine »reformatorische Figur«, weil er sich von den Stricken der Bibelkritik mit ihren letztlich neukantianischen Voraussetzungen nicht lösen konnte. Das Unbestimmte (z.B. angesichts der Endzeit), das Formalistische (der sogenannte Christomonismus), das Spannungslose (der fast horizontalisierende, quasi-allversöhnungstheologische Triumphalismus), die sich um Entscheidungssätze oft geradezu herumdrückende Weitschweifigkeit des Ausdrucks (eine Art theologischer Lyrik in der kirchlichen Dogmatik) schwächten Barths Lebenswerk, je üppiger die »Kirchliche Dogmatik« wurde.

In der Ethik hat Barth zunächst einen Durchbruch weg von der natürlichen Vernunftmoral zur Offenbarungsethik in Gang gesetzt. Das alles geschah in unmittelbaren, bitteren und kämpferisch durchgetragenen Erfahrungen mit einer sich an Kultur, Volk, Geschichte, Blut und Boden synthetisierenden deutschen Theologie in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts. Diesen Aufstand von unten in einer Theologie, die fast lüstern auf die ideologische Kraftprotzerei ihrer Zeit sah, hat Barth — hier nun wirklich als Lehrer der Kirche — in biblischer Vollmacht bekämpft. Karl Barth selbst hat seine Dogmatik, die eigentlich mehr als eine imposante Dichtung gelesen werden sollte, nicht als Abschluß, sondern als Eröffnung einer neuen theologischen Aussprache verstanden. Diese Aufgabe hat sie für die deutschsprachige Theologie kaum erfüllt, zumal sich diese Theologie heute in einer Misere befindet, daß Barth am Ende seines Lebens meinte, über das alles »nicht die kleinste Träne« weinen zu müssen.

1922 hat Barth zum ersten Mal in dem Vortrag »Das Problem der Ethik in der Gegenwart« (in »Das Wort Gottes und die Theologie«, 1924) sein Anliegen in der theologischen Ethik der Öffentlichkeit vorgestellt: »Weil Gott Ja sagt in seinem gnädigen, offenbarenden Wort, darum stehen wir als Christen im radikalen Nein zu allem, was gegen oder ohne dieses Wort sich zum Maßstab für Ethos setzen will.«

In seinen Ethikvorlesungen 1928 entfaltet er diesen Ansatz weiter. Ethos ist Besinnung auf das Wort Gottes mit besonderem Blick darauf, daß und wie dieses Wort den Menschen in Anspruch nimmt. Dabei geht es nicht um das von den Menschen in Anspruch genommene, sondern um das den Menschen in Anspruch nehmende Wort Gottes. Redlich und konsequent kommt Barth zu einer klaren und eindeutigen Markierung seiner Offenbarungsethik. Der Mensch handelt gut, sofern er als Hörer des Wortes handelt, und der Gehorsam ist das Gute. »Also kommt das Gute aus dem Hören und eben aus dem göttlichen Sprechen.«

Barth mußte von diesem Ansatz aus dem römisch-katholischen Prinzip der analogia entis, als ob es eine Entsprechung zwischen Gott und Mensch gäbe, ohne wenn und aber widersprechen. 1931 formulierte Barth den mittlerweile klassisch gewordenen Satz: »Ich halte die analogia entis für die Erfindung des Antichrist und denke, daß man ihretwegen nicht katholisch werden kann. Wobei ich mir zugleich erlaube, alle anderen Gründe, die man haben kann, nicht katholisch zu werden, für kurzsichtig und unernsthaft zu halten« (in »Kirchliche Dogmatik«, I, 1).

Wenn Gott nicht durch das Medium Welt erkannt werden kann, wenn es neben dem Worte Gottes keine Offenbarung Gottes gibt, dann kann es neben dem durch das Wort geoffenbarten Gebot kein »und« geben. Es kann und darf nicht heißen Gott »und« das Volk, Gott »und« der Staat, Gott »und« die menschliche Existenz. In dem Aufsatz »Das erste Gebot als Axiom«, der bezeichnenderweise 1933 geschrieben wurde, sieht Barth in diesem »und« die Versuchung aller Versuchungen in der »Un-Theologie« seiner Zeit: Neben der Offenbarung Gottes kann und darf es keine andere Instanz geben, an der wir uns ethisch orientieren können. Das Nein zu diesem Wort, zu diesem Axiom des Ethos, das sich im ersten Gebot ausspricht, bedeutet in letzter Konsequenz die Auflehnung gegen das Ethos überhaupt und damit »Nihilismus«. Das Nein zum offenbarenden Gott ist das offene Tor der Götzen, der Dämonen und Nichtse. Auf diesem Wege sah er die nationalsozialistische Bewegung 1933. Deswegen pflichtete auch Barth der Analyse des Nationalsozialismus durch Hermann Rauschning bei, der die nationalsozialistische Ideologie als Weltanschauung des Nihilismus verstand. Barth erkannte ganz klar die Aufgabe für seine Zeit: Durch die Tarnung des Und-Christentums drangen die Götter in die Kirche ein — nicht nur zur Zerstörung dieser Kirche, sondern auch zur Verneinung der Humanität.

Das Nein zu diesem Nihilismus und das Ja zum Zueinander von Offenbarung und Humanität wurde das große Thema der Barthschen Ethik und Dogmatik der späteren Jahre. In der Barmer theologischen Erklärung von 1934, insbesondere in der Verwerfung des ersten Artikels (»Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottesoffenbarung anerkennen«) hat dieses Anliegen Barths seinen nun wirklich klassischen Ausdruck gefunden.

In dem am 8. Oktober 1935 in Barmen von Barth wegen Redeverbots nicht selbst gehaltenen, sondern von Pastor Immer verlesenen Vortrag »Evangelium und Gesetz« sah sich Barth motiviert durch die — wie er meinte — ausschließliche Negativfunktion des Gesetzes in der lutherischen Theologie. Durch die einseitige Betonung des usus pädagogicus, durch den das Gesetz unsere Sünde, unsere Feindschaft gegen Gott und den Nächsten in schmerzlicher und zur Buße, zur Gnade und zum Vertrauen in die Versöhnung rufender Weise deutlich macht, ging nach Barth der Heilscharakter des Gesetzes als solcher verloren. Barths Argumentation: Das Gesetz ist nicht das dem Evangelium bloß vorlaufende »Unwichtige«! Barth wollte das Gesetz mehr als ein Ganzes und vor allem auch seinen Ort in der Heilsgeschichte beachtet und verstanden sehen.

Heißt es doch im ersten Gebot, daß Gott der befreiende, aus der Sklaverei herausführende Gott ist! Die Deklaration dieser ganz eindeutig frohen Botschaft, also das Evangelium, geht dem Gesetz, das dann ja erst in der Aufzählung der zehn Gebote folgt, voran. Weil — so meint Barth — Gottes gnädiges Handeln unser menschliches Handeln mit aufgreift und auf dem Wege in die Freiheit unser Tun mit einbezieht, deswegen folgt das Gesetz dem Evangelium.

Barths legitimes Anliegen jedenfalls war, gerade in jener Zeit, Ethos als Offenbarungsethos gegen alle anderen Mächte und Gewalten in der Mitte, in dem Kernprozeß des christlichen Glaubens, nicht nur als Negativum, sondern als die positive Aussage Gottes zu bekennen. In der Erwählungslehre der »Kirchlichen Dogmatik«, II, 2, hat Barth dieses Zueinander von Evangelium und Gesetz noch tiefer begründet. Ethos ist nun »Ethik der Gnade«, und auf die Frage: »Was sollen wir tun?« gilt die Antwort: »Wir sollen tun, was dieser Gnade entspricht.« Weil das Gebot immer das Gebot des gnädigen Gottes ist, ist es immer auch schon erfülltes Gebot. Das Gebot ist in Christus erfüllt, der der heiligende Gott und der geheiligte Mensch in einem ist. Die Konkretion, also die Erfüllung des Ethos — anders ausgesprochen —, was Ethos überhaupt sein soll, ist in Christus Gestalt geworden.

In der Lehre von der Schöpfung, im dritten Teil seiner Dogmatik, brachte Barth dann seine Ethik zu einem Abschluß. Zu der Ethik von der Versöhnung, die für den vierten großen Hauptteil seiner Dogmatik vorgesehen war, kam es nicht mehr.

Das Gebot hat es mit Schöpfung zu tun. Das ist Thema in der »Kirchlichen Dogmatik«, III, 4. Der insbesondere in der lutherischen Theologie gebrauchte Begriff Schöpfungsordnung aber wird von Barth verneint, statt dessen spricht Barth von »Schöpfungsbereichen«. Barth will — und hier bleibt er ganz seinem Ansatz treu — dem Worte Gottes gegenüber selbständige und natürlich erkennbare Ordnungen oder Gesetzmäßigkeiten nicht zulassen. Barth bestreitet selbstverständlich nicht, daß Gott für seine Schöpfung Ordnungen vorgesehen hat. Die Ordnungen aber sind »Bereiche, in welchen Gott gebietet und in welchen der Mensch gehorsam oder ungehorsam ist«. Wichtig ist ihm, daß es keine wertneutralen Bereiche der Schöpfung gibt. Vielmehr gibt es »Strukturen des Menschseins«, für die es einen ganz und gar absoluten Maßstab gibt. Das ist Christus selbst — der wahre Gott und der wahre Mensch.

Das Bekenntnis zur Offenbarungsethik in der Theologie Karl Barths leidet wie seine Theologie in all ihren Aussagen unter der Unbestimmtheit des »Wortes Gottes«, die mit seiner ausdrücklichen Verneinung der Verbalinspiration zusammenhängt. Es gibt für Karl Barth kein unfehlbares, irrtumsloses Gotteswort. Selektive und symbolisierende Exegese sind auch bei Barth die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Barth, der sich — je später, je leidenschaftlicher — als Gegner lutherischer Theologie verstand, ist gerade eben dem lutherischen Materialprinzip »alles was Christum treibt« (allerdings mit einer gehörigen Portion Neukantianismus) erlegen.

Die Wahrheit ist Christus — meint Barth. Aber was wissen wir von Christus, wenn nicht durch das unfehlbare Wort von ihm, über ihn und zu ihm hin. Hier hat ihn der theologisch-bürgerliche Liberalismus nicht freigelassen. Barths Exodus aus dem 19. Jahrhundert soff im Schilfmeer des Kritizismus ab. Von daher versteht sich sein »Formalismus«, der sich sehr oft zu einer gewissen Leerformelhaftigkeit seiner Theologie steigern konnte. In die Leerräume dieser Leerformeln konnten dann viele Schüler Barths eindringen, um sie mit ihrer Theologie der Revolution, der Hoffnung oder der konsequenten horizontalen Allversöhnung auszufüllen. Der reformierte Amerikaner Cornelius van Til hat in seinem Buch über Karl Barth, »The New Modernism«, 1946, die Fehlperspektiven in der Barthschen Theologie aufgedeckt und eine für reformierte Theologie weitgehendst adäquate Beurteilung Barths ausgesprochen.

 

Teil II

Christliches Ethos ist Reichsgottesethos

Ethos und Reichsgotteswirklichkeit

Die anklagende Frage, was sich durch die Ankunft Jesu Christi auf dieser Erde geändert habe, hat die Gemeinde Christi nun bald seit zweitausend Jahren begleitet. Schon Johannes der Täufer ließ Jesus durch seine Jünger fragen, ob er der »Kommensollende«, also der Bringer des messianischen Zeitalters sei oder nicht. Jesus beantwortete die Frage nicht mit theoretischen oder allgemeinen Erörterungen, sondern mit dem Hinweis auf für jedermann sichtbare und ganz erstaunliche Realitäten: »Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und Armen wird die frohe Botschaft gebracht, und selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt« (Matth. 11,5).

Die prophetische Verheißung des messianischen Friedensreiches – so lehrte Jesus in der Auslegung von Jesaja 61 in der Synagoge zu Nazareth — hat sich in seinem Kommen erfüllt. Jesajas messianische Prophetie lautet: »Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat. Der Herr hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung zu verkünden und den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen zu befreien und zu entlassen und ein angenehmes Jahr des Herrn zu verkündigen.« Dazu sagt Jesus in der Synagoge von Nazareth (Luk. 4,21): »Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren.« Jesus ist der mit dem Geist des Herrn Gesalbte, also der Messias, der Christus, der das angenehme Jahr des Herrn bringt.

Der Anbruch des Reiches Gottes ist der Sieg über die Mächte der Finsternis: »Wenn ich dagegen durch den Geist Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Oder wie kann jemand in das Haus des Starken hineingehen und ihm den Hausrat rauben, wenn er nicht zuvor den Starken bindet?« (Matth. 12,28). Die Bindung, ganz zweifellos aber nun doch nicht die Vernichtung der satanischen Macht, ist eines der entscheidenden Ereignisse in der Ankunft Christi. Aus diesem buchstäblich »überwältigenden« Ereignis erwächst die Vollmacht der Jünger Jesu: »Wenn ihr aber hingeht, so predigt: Das Reich der Himmel naht. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!« (Matth. 10,7).

Das Reich Gottes hat zwar einen sichtbaren Einbruch, aber noch nicht eine ebenso sichtbare Vollendung: »Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es beobachten könne, man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist in eurer Mitte« (Luk. 17,20). Das Reich Gottes ist räumlich nicht so zu lokalisieren, wie man Holland oder die Schweiz lokalisieren kann. Das Reich Gottes ist in eine gottfeindliche Welt eingebrochen, und es realisiert sich immer nur da, wo sich die Christuswirklichkeit ereignet. Reichsgotteswirklichkeit ereignet sich in Christus und in der Vollmacht seiner Jünger, also immer dort, wo das Reich gepredigt wird, wo Kranke geheilt und Tote auf erweckt werden und die Dämonen weichen müssen. Das Reich ist gegenwärtig, aber es existiert im Kampf, im Anbruch und in der Spannung zu einer Welt, die dieses Reich nicht will! Dieses Reich ist also immer ein angebrochenes und ein noch kommendes, zur Vollendung sich durchringendes Reich. Die Vollendung ist dann der neue Himmel und die neue Erde in der Wiederkunft des Messias. Kreuz und Auferstehung gehören zum Anbruch oder besser noch zum Einbruch dieses Reiches in die gottesfeindliche Welt — die Wiederkunft Christi bringt die Vollendung dieses Reiches. Das Abendmahl ist das Mahl der Gegenwart des Reiches und damit der Gegenwart des Christus, es ist aber auch das Mahl der Wanderung auf das Ziel der Vollendung zu: »Denn ich sage euch: Ich werde es nicht mehr essen, bis es in seiner Vollendung gefeiert wird im Reiche Gottes. … Ich werde von jetzt an vom Gewächs des Weinstocks nicht trinken, bis das Reich Gottes gekommen ist« (Luk. 22,16).

Das Christentum lebt im »Es ist vollbracht« (Joh. 19,30) und im »Dein Reich komme« (Matth. 6,10). In dieser Spannung lebt der Christ. Manch eine Irrlehre hat ihre Ursache darin, daß diese Spannung, diese Dialektik des Reiches Gottes zwischen dem »schon jetzt« und dem »noch nicht« verneint wird.

Die Christusherrschaft ist angebrochen, die Mächte des Bösen sind real besiegt: Das gilt für die ganze Welt, für die Gläubigen und Ungläubigen, es gilt auch für das »böse Geschlecht«. Aber diese Christusherrschaft ist zwischenzeitlich: »Wenn aber der unreine Geist aus dem Menschen ausgefahren ist, durchzieht er wasserlose Orte und sucht eine Ruhestätte und findet keine. Dann sagt er: Ich will in mein Haus zurückkehren, aus dem ich gegangen bin. Und wenn er kommt, findet er es leer, gesäubert und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt sieben andere Geister mit sich, die schlimmer sind als er, und sie ziehen ein und wohnen dort. Und es wird nachher mit jenem Menschen schlimmer als vorher. So wird es auch mit diesem bösen Geschlecht sein« (Matth. 12,43).

Zunächst geht es in dieser Aussage um eine individuelle Heilsgeschichte, das Böse kehrt zurück, wenn keine Bindung an die Gotteswirklichkeit in Christus geschah, es gibt keine Neutralitätszone zwischen Gott und Satan. Die Nennung des »bösen Geschlechtes« aber erweitert dieses Individualgeschick zur universalen Heilsperspektive. Der Sinn dieser heilsgeschichtlichen Aussage ist doch, daß dieses von der direkten Macht des Bösen befreite menschliche Geschlecht die Wiederkunft des Bösen in der Eskalation der zerstörerischen Macht gequält und quälend erfahren wird. Die Macht des Bösen ist gebunden. Wo immer das Reich Gottes war und wirklich verkündigt wird, folgt auf die Bindung nun auch die »Vertreibung« des Bösen als Befreiung durch das Gottesreich. Wo diese Befreiung nicht geschieht, da geschieht auch nicht das Reich Gottes, denn das Ereignis des Reiches Gottes, seine Verkündigung und Annahme im Glauben ist Entdämonisierung. — Die Endzeit aber ist nicht Expansion, sondern Konzentration des Reiches, das menschliche Geschlecht als solches wird nicht nur das Ende der Befreiung von der Macht des Bösen, sondern auch und bitter schmerzlich die triumphierende Rückkehr des Bösen erfahren. Endzeit ist antichristliche Zeit, sie ist Eskalation aus der Spannung zwischen Licht und Finsternis, Reich Gottes und Reich des Satans, Zeichen der Wiederkunft Christi und Wunder des Antichrist. Das Reich Gottes entwickelt sich also nicht zu seiner Vollendung, sondern es wird so einbrechen wie ein Blitz einschlägt: »Denn wie der Blitz vom Osten ausfährt und bis zum Westen leuchtet, so wird die Wiederkunft des Sohnes des Menschen sein« (Matth. 24,27).

Der Anbruch des Reiches und das Ereignis dieses Reiches sind nicht die Angelegenheit einer Sekte. Die dialektische Realität des Reiches bestimmt den Gang aller Ereignisse sowohl als Natur- als auch als Heilsgeschichte. Es gäbe weder »Beherrschung« der Naturkraft durch die Technik noch eine wenigstens relative politische Ordnung angesichts des Abgrunds der Anarchie, wenn die Macht des Bösen nicht gebunden wäre. Die einzige Alternative zum Ereignis des Reiches Gottes ist das Ereignis des Nichts. Daß überhaupt etwas ist und nicht das Nichts, liegt im erhaltenden, bewahrenden, das Böse bindenden Handeln Gottes. Das Böse ist immer nur die reale Verneinung, also Zerstörung des von Gott Geschaffenen: Für das Leben ist es der Tod, für den Leib ist es die Krankheit, für die Einsicht ist es die Blindheit.

Das Reich Gottes ist das Geschick der Welt. Aber nicht alle, sondern nur wenige, nur eine Minderheit, sind Bürger dieses Reiches Gottes, weil sie seine Wirklichkeit im Glauben und in der Wiedergeburt angenommen haben. Der Weg in dieses Reich Gottes ist die Wiedergeburt: »Wenn jemand nicht von oben her geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Joh. 3,3).

Von neuem, besser von »oben« (anothen) geboren werden ist schon das Ereignis des Reiches Gottes, ist Sterben der Welt, Bindung des Bösen, Wegtragen der Schuld, Ankunft der Kraft Gottes. Wiedergeburt ist Kreuzigung der Welt, des Fleisches und bringt neues Leben in der auferweckenden Kraft des Geistes. Reich Gottes und Umkehr als radikale Umkehr in der Kreuzigung des Fleisches gehören zusammen: »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist da; kehret um und glaubet an das Evangelium« (Mark. 1,15). Ohne Umkehr keine Realitätserfahrung des Reiches Gottes. Zum Reiche Gottes gehört nur, wer die Realität dieses Reiches Gottes real erfährt. Diese Realität beschreibt Paulus (Röm.6,1-11) folgendermaßen:

»Was sollen wir nun sagen? Wollen wir in der Sünde verharren, damit die Gnade noch größer werde? Das sei fern! Die wir der Sünde abgestorben sind, wie sollten wir ferner in ihr leben? Oder wisset ihr nicht, daß wir alle, die wir auf Christus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir sind also durch die Taufe auf seinen Tod mit ihm begraben worden, damit, wie Christus in Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt worden ist, so auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit der Ähnlichkeit seines Todes verwachsen sind, so werden wir es auch mit der Auferstehung sein, indem wir das erkennen, daß unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, damit der Leib der Sünde kraftlos gemacht werde, auf daß wir nicht mehr der Sünde dienen. Denn wer gestorben ist, der ist von der Herrschaft der Sünde losgesprochen. Sind wir aber mit Christus gestorben, so vertrauen wir darauf, daß wir auch mit ihm leben werden, da wir wissen, daß Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt. Der Tod hat keine Herrschaft mehr über ihn. Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde ein für allemal gestorben; was er aber lebt, das lebt er für Gott. So sollt auch ihr euch als solche ansehen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus, unserem Herrn.«

Das Reich Gottes wird gelebt durch jene, die in Christus sind. Das Wesen des Reiches Gottes ist der Leib Christi, »denn wir sind in einem Geiste alle zu einem Leibe getauft worden …« (1. Kor. 12,13). Die Taufe ist das Begrabenwerden mit Christus und das Auferwecktwerden mit Christus, die Einpflanzung in den Leib Christi und damit das Eingehen in das reale Wesen des Reiches Gottes.

Das Reich Gottes ist ein Prozeß, eine Bewegung in der Welt und in der Existenz der einzelnen Gläubigen. Diese Dynamik des Reiches Gottes in der Welt ist die Dynamik des Vergehens und des Kommens. Die alten Mächte des alten Äons sind noch, aber sie vergehen. Die Herrscher dieser Welt werden zunichte (1. Kor. 2,6). Die alte Zeit ist noch, aber über diese Zeit ist das Ende der Zeit gekommen (1. Kor. 10,11). Die alte Welt ist im Vergehen, die neue Welt ist — wenn auch noch verborgen — im Kommen (2. Kor. 5,17). Das Vergehen der alten Welt und ihrer Herrlichkeit erfährt der Christ als ein Leiden, eine Traurigkeit, die im Gegensatz zur Traurigkeit der Welt nicht den Tod, sondern Heil und Leben bringt. Der Glaubende lebt schon nicht mehr als Ich, sondern Christus lebt in ihm, aber was er eben doch noch im Fleische lebt, das lebt er im Vertrauen, im Glauben an den Sohn Gottes, an Christus, der sich in Liebe für ihn dahingegeben hat.

Die Zeit der Erfüllung des alten Bundes ist gekommen: Das Opfer des Tempels gilt nicht mehr in der Realität des Reiches, denn Christus hat ein für allemal geopfert und versöhnt.

Die Existenz in der Dynamik des Reiches ist eine dialektische Existenz. Das Reich Gottes ist eine Realität, es bringt ein neues Sein: Versöhnung als Vernichtung der Schuld am Kreuz, Kreuzigung des Fleisches und seiner auf Selbstverwirklichung abzielenden Macht, das neue Leben in den Realitäten von Liebe, Glaube, Hoffnung, Freude und Vergebung. Aber so wie das Reich Gottes immer in der gottfeindlichen Welt ist, so ist es im Blick auf den einzelnen Bürger dieses Reiches doch immer im Kampffeld der Fleischlichkeit. Die Ungerechten (1. Kor. 6,9), Fleisch und Blut (1. Kor. 15,50), die Unzüchtigen, Götzendiener, Zauberer, Zornigen, Streitsüchtigen, Zwieträchtigen, Neidischen und Sektenmenschen, die da saufen und fressen und huren (vergl. Gal. 5,19), werden das Reich Gottes nicht erben. Doch der Apostel weiß auch, daß »das Fleisch gelüstet wider den Geist, den Geist aber wider das Fleisch. Denn diese liegen miteinander im Streit, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt«. Reich Gottes ist Dialektik, aber auch christliche Existenz ist Dialektik. Dialektik ist nicht Dualismus. Existenz im Reiche Gottes ist keine Aufschlüsselung der Person in einen heiligen und einen unheiligen Teil, die beide, wenn auch feindlich, aber stetig und ruhig nebeneinander ihr Wesen und Unwesen treiben könnten. Die dialektische Existenz ist kein Sich-Abfinden, kein Zechen auf Christi Kreide, keine Zwiespältigkeit, der man ruhig und gelassen, wenn auch seufzend zusehen könnte.

Der Kampf zwischen Reich Gottes und alter Welt, also zwischen neuem und altem Äon, geht durch den Christen hindurch. Er selbst ist dieser Kampfplatz. Er weiß allerdings, daß dieser Kampf in der Wiedergeburt entschieden wurde, es geht nicht mehr um einen Entscheidungskampf (der ist gewesen), sondern um einen Vernichtungskrieg gegen das Böse. Es geht nicht um die Überschreitung des Jordans, sondern um die Einnahme eines schon besiegten Landes nach der Eroberung Jerichos. Der Christ ist frei von der Sündenmacht und kämpft dennoch gegen diese Sündenmacht: Wir wissen, daß jeder, der aus Gott gezeugt ist, nicht sündigt, sondern die Zeugung aus Gott bewahrt ihn, und der Böse rührt ihn nicht an (1. Joh. 5,18). Aber hiermit ist nur eine Seite der dialektischen Existenz des Christen ausgesagt: Im selben Brief beschreibt der Apostel Johannes die andere Seite des dialektischen Christseins: »Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst irre, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünde bekennen, ist er treu und gerecht, so daß er uns die Sünde vergibt und uns von aller Ungerechtigkeit reinigt …« (1. Joh. 1,8). »…Wenn jemand sündigt, haben wir einen Beistand beim Vater, Jesus Christus, den Gerechten. Und er ist das Sündopfer für unsere Sünden, aber nicht nur für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt« (1. Joh. 2,1).

Das Reich Gottes ist Freiheit von der Sünde, so wahr Christus ohne Sünde war, und das Reich in der Welt ist Kampf gegen die Sünde, so wahr Christus die Sünde am Kreuz getragen hat. Der Christ sündigt nicht, weil er in Christus ist und die Sünde nicht will! Der Christ sündigt, weil er im Fleisch ist und die Vollendung noch nicht erreicht hat.

Die klassische Stelle zu diesem Thema ist das siebte Kapitel des Römerbriefes. Dort heißt es in den entscheidenden Versen:

»Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt. Denn das Wollen ist zwar bei mir vorhanden, das Vollbringen des Guten aber nicht. Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das führe ich aus. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt« (Röm.7,18).

Hier spricht der Apostel nicht über sein vorchristliches Dasein. Römer 7 ist keine Rückschau, sondern dialektische Beschreibung gegenwärtiger Reichsgottesexistenz. Der innere und äußere, der fleischliche und der geistige Mensch in einer Person bewirken diese dialektische Spannung als Qual: »Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?« (7,24). Das Sein ist ein Sein zum Tode, denn Reich Gottes ist die Beschleunigung der Vergänglichkeit des alten Äons und des alten Daseins, das nun quälend erfahren wird. Das Gute erkennen und wollen kann nur der Christ! Nur er kann überhaupt die Geist-Fleisch-Spannung im Licht der Reichsgotteswirklichkeit erkennen! Dialektische Reichsgottesexistenz ist mortificatio, ein leidendes Sterben des alten Menschen, aber auch vivicatio, das Lebendigwerden des neuen Menschen durch die Gewißheit des Christussieges. Erlösung ist als Sterben und Auferwecktwerden mit Christus nicht ein »Haben«, sondern ein »Sein«, und das Sein ist nicht ein punktueller, statischer, also einmalig »abgeschlossener« Zustand, sondern ein dialektisches Werden.

Luthers erste der 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 hat diese Erkenntnis als reformatorische Erkenntnis deklariert: »Da unser Herr und Meister spricht: Tut Buße usw., hat er gewollt, daß das ganze Leben des Gläubigen Buße sein soll.« Mortificatio und vivicatio sind ein einmaliges entscheidendes Ereignis in der Wiedergeburt, sie bleiben aber wirksam bis zum Tode im nicht endenden Heilsgeschehen als fortwährendes Ereignis des Seins in Christus.

Daß diese Spannung zwischen Geist und Fleisch, Reich Gottes und Weltwirklichkeit nicht dualistisch statisch, sondern dialektisch dynamisch zu verstehen ist, ergibt sich auch dadurch, daß Paulus Christen sowohl als »Fleischliche« wie auch als »Geistliche« anreden kann.

»Ihr jedoch seid nicht im Fleische, sondern im Geiste, wenn anders Gottes Geist in euch wohnt. Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein …« (Röm. 8,9), schreibt Paulus an die Römer. An die Brüder in Korinth aber schreibt Paulus, daß er mit ihnen nicht reden kann »als mit Pneumatikern, sondern als mit Sarkikern (Fleischlichen), als mit Unwürdigen in Christus« (1. Kor. 3,1) … »denn noch seid ihr fleischlich. Denn wo unter euch Eifersucht und Zank sind, seid ihr da nicht fleischlich und wandelt nach menschlicher Weise?« (1. Kor. 3,3). Eifersucht und Zank sind, als Beispiele der aggressiven Struktur fleischlicher Wirklichkeit, ja gerade jene Daseinsweisen, die in den Lasterkatalogen des Apostels vom Reiche Gottes ausschließen. Denn dort heißt es: »Offenbar aber sind die Werke des Fleisches, welche sind:   Unzucht,   Unkeuschheit,   Ausschweifung,   Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Zornausbrüche, Ränke, Zwieträchten, Parteiung, Neid, Völlerei, Schwelgerei und was dem ähnlich ist, wie ich zum voraus gesagt habe, daß die, welche solche Dinge verüben, das Reich Gottes nicht erben werden« (Gal. 5,19ff).

Es könnten noch sehr viele andere Aussagen aus dem Neuen Testament angeführt werden, die eben diese Dialektik der Reichsgottesexistenz ausdrücken. Es ist zwecklos, diese Dialektik aufzulösen, um aus der begrifflich nicht zu fixierenden Dynamik des »Werdens« einen zu begreifenden Status des »Habens« zu machen. Das Reich Gottes kann nicht beobachtet werden, so daß man sagen könnte, es sei hier oder da greifbar. Das Reich Gottes ist im Christen im Anbruch. Weil er geistlich ist, lebt er in diesem Reiche, weil er noch fleischlich ist, lebt er von diesem Reiche. Nicht der Christ ergreift das Reich, sondern das Reich ergreift ihn.

Zum Thema Heiligung muß die biblische Aussage erkannt werden, daß der Heilige Geist kein psychologisch beschreibbarer Habitus ist, sondern eine Person in der trinitarischen Gottheit. Heiligung ist Parusie, also Ankunft des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist nicht ein zu entdeckendes und aufzuweckendes Strukturelement unserer Seele, ist keine zu fördernde natürliche Begabung, sondern immer nur zu empfangende Gabe des dreieinigen Gottes in unserer »geistlichen Armut«. Der Heilige Geist kommt zu denen, die Arme en pneumati (Matth. 5,3), also »geistlich arm« sind.

Wo diese Dialektik des Daseins im Reiche Gottes verkannt, geleugnet oder weginterpretiert wird, triumphiert das Fleischliche mit seinem hinterlistigen Willen zur Macht. Das reformatorische Christentum, Luther zu allererst, hat die dialektische Spannung des Christseins wiederentdeckt. Der Gerechtfertigte aus dem Glauben lebt noch als Sünder: »Simul iustus et peccator.«

Die Gewißheit des Heils (und das reformatorische Christentum bekennt die Heilsgewißheit) beruht weder auf Werken, noch auf psychologischer Selbstbeobachtung eines gewissen Heiligkeitsgrades, sondern allein auf dem Glauben. Auch das reformatorische »simul iustus et peccator« muß vor einem statisch-dualistischen Mißverständnis bewahrt werden. Das Kernanliegen soll immer wieder deutlich werden: Auch der durch den Glauben Gerechtfertigte bleibt ein Sünder. Die Heilsgewißheit beruht nicht auf der vermeintlich so oder so erlangten Vollkommenheit der Heiligung, sondern allein auf dem Glauben, also auf dem Vertrauen in die Versöhnung und Erlösung durch Christus. So weit so gut.

Aber iustus und peccator laufen nicht wie zwei Parallelen nebeneinander her, die sich erst in der Unendlichkeit vereinen. Der im Glauben gerechtfertigte Sünder ist ein »dynamischer Sünder«. Er ist ein »dynamischer Sünder«, weil er in der mortivicatio und vivicatio, im Sterben und im Auferstehen mit Christus real in eine ihn verändernde Heiligung hereingeholt wird. Rechtfertigung und Heiligung gehören zusammen: Heiligung nicht als »Haben«, sondern als ein dialektisches Sein, als ein Werden im Reiche Gottes. Calvin nennt dieses Sein im Reiche Gottes Gemeinschaft mit Christus: »… So haben wir darin ein ausreichend klares Zeugnis, daß wir zu den Erwählten Gottes zählen und zur Kirche gehören, wenn wir mit Christus Gemeinschaft haben« (»Institutio von 1536«).

Für die Ethik stellt sich nun die Frage, welche Bedeutung das Gesetz Gottes für die neutestamentliche Reichsgotteswirklichkeit hat. Brauchen wir noch das Gesetz, wenn wir in der Wirklichkeit des Reiches Gottes von der Realität des Heiligen Geistes erfaßt werden?

Das Zeremonial- und Heiligkeitsgesetz ist erfüllt durch Kreuz und Auferstehung Christi. Hat die Freiheit des Heiligen Geistes den »tötenden Dienst« des Buchstabens, auch des sogenannten Moralgesetzes aufgehoben?

Hat das Alte Testament, haben insbesondere die fünf Bücher Mose im Reiche Gottes keine Bedeutung mehr? Hebt die Wirklichkeit des Reiches Gottes das Gesetz Gottes auf?

Bevor wir auf diese ernste Frage im dritten Kapitel eingehen, soll im nächsten Kapitel am Irrweg der Ethik einer sogenannten modernistischen Theologie aufgezeigt werden, wie brennend aktuell diese Frage gerade heute geworden ist.

 

Ethos und Häresie  –  die Verweltlichung des Gottesreiches

Die deutsche Theologie im Schatten der Kolossalfigur Immanuel Kants eliminierte aus der Bibel alles, was in der Religion »außerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« sein Unwesen zu treiben schien. Die sogenannte »historische Kritik« an der Bibel war das »befehlsausführende Organ«, um alle Aussagen, die der autonomen Moral widersprachen, als unechte, zeitbedingte »Gemeindetheologie« aus Jesu Taten und Worten herauszuschneiden. Der durch diese kritische Methode demontierte Jesus von Nazareth war schließlich und endlich der Jesus innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, das heißt der im Sinne der Kantschen Moralphilosophie eben moralische Jesus, »der Jesus der Bergpredigt« im Gegensatz zum Jesus der Heilstaten, das heißt doch auch des Versöhnungstodes und der Auferstehung.

Die sogenannte orthodoxe Barthianische Theologie hat diese babylonische Gefangenschaft an den Kanälen des Kantianismus nicht durchbrochen. Sie ist im Gestrüpp der Philosophien des 19. Jahrhunderts hängengeblieben, obwohl gerade die Barthianische Theologie immer wieder triumphierend beschwor, daß sie die Fragestellungen des 19. Jahrhunderts endgültig aufgebrochen habe und zu ganz anderen Weisen theologischen Denkens durchgestoßen sei.

Für die moderne, und leider nicht nur protestantische sondern auch »ökumenische« Theologie wurde jene listenreiche Erfindung zum Maßstab aller Maßstäbe, daß man kühn und allumfassend, den alten theologischen Liberalismus verachtend, nur noch von der »Offenbarung«, dem »Worte Gottes« ausgehend, Theologe sein wollte. Offenbarung, Wort Gottes und Gehorsam gegenüber diesem Worte Gottes waren die Leitmotive dieser Theologie, die in dem stolzen Bewußtsein lebt, am Anfang einer neuen Ära der Kirchengeschichte zu stehen.

Das Verschmitzte und Listenreiche dieser im Schatten Karl Barths operierenden Theologie besteht darin, daß man Offenbarung und Wort Gottes abstrahierte aus Raum und Zeit. In einer für alle Welt unverständlichen Weise wurde unterschieden zwischen Geschichte und Historie. Karl Barth konnte im »Credo«, den Utrechter Vorlesungen von 1934, in einer von Protestanten so noch nie gehörten biblischen Tiefe das Offenbarungsgeschehen der Jungfrauengeburt auslegen. Das Wort »geschah« den holländischen Studenten zu Utrecht. Aber ob sich wirklich in Raum und Zeit eine Jungfrauengeburt ereignet hatte, das war und ist für Barthianische Theologie eine historische Frage, die für den Glauben letztlich irrelevant ist. Das »Wie« der Schöpfung der Welt, der Sündenfall Adams als Ereignis in Raum und Zeit und die Endzeit, die Wiederkehr Christi, sind als »Historie« belanglos, nur als »Geschichte« bedeutsam. Entscheidend ist jeweils nur, daß Gott die Welt geschaffen hat, daß wir Sünder sind, daß unsere Zukunft offen ist zu Gott. Geschichte »geschieht« an mir und zu mir. Nur so weit ist sie wichtig. Wie der Gang der Ereignisse von Natur und Menschheit an sich war, soll außerhalb unseres Bedeutungshorizontes bleiben. Barths und vielmehr noch seiner Schüler Christentum ist ein »Christentum innerhalb der Grenzen der Existenz«. Das Wort, zu unserer Existenz gesprochen, sagt uns, daß wir Sünder sind. Die Offenbarung Gottes soll nach Meinung dieser Theologie nicht »hinterfragt« werden. Das Wort als solches ist die Offenbarung, dabei bleibt es gleichgültig, ob das Offenbarungsgeschehen wirklich durch Ereignisse in Raum und Zeit gedeckt ist oder nicht. Wort Gottes und das biblisch bezeugte Ereignis in Raum und Zeit werden gerade so in dualistischer Weise auseinandergerissen. Offenbarung und Historie sind — und hier immer noch in der Erfüllung Kantscher Postulate — voneinander getrennt.

Die an Karl Barth anknüpfende Theologie kann bis heute ohne zu stottern Offenbarung sagen, ohne Offenbarung im Sinne der Bibel als Zusammenhang von Wort und geschehenem Ereignis zu meinen. Das Handeln Gottes in der Geschichte, in Raum und Zeit, die Kernaussage biblischer Botschaft, wird verneint. Eschatologie, also Endzeit, bedeutet im Nebel dieser Nur-Wort-Theologie, daß sich hier und jetzt das Wort Gottes für mich ereignet. Die biblische Botschaft der Endzeit ist letztlich nur ein Symbol für die Erfahrung der Ankunft Gottes »hier und
jetzt«. Die historischen Fakten von Auferstehung und Wiederkunft verlieren sich in einem weiten Horizont der Irrlehre. Weil
das Wort vom Faktum gelöst wird, ist es nun in den Händen unendlich einfallsreicher Theologen zu einem Instrument ebenso unendlich einfallsreicher Interpretationen geworden. Das unheimlich Bodenlose der »hermeneutischen Streitigkeiten« im dritten
Viertel dieses Jahrhunderts, das Hin- und Hergerissenwerden im
Chaotischen des »Wortgeschehens« (G. Ebeling) hat schließlich
zu einer Willkürlichkeit im Umgang mit der Bibel geführt, von der
Barth sich selbst am Ende seines Lebens mit Grauen abgewandt
hat.

Dieses Verhängnis einer aus Deutschland fast die ganze offizielle theologische Welt einnehmenden dualistischen Theologie fällt wie ein dunkler Schatten auf die Ethik. Die nachbarthianische Ethik ist vor allem dadurch charakterisiert, daß sie den neutestamentlichen, heilsgeschichtlichen Rahmen verraten hat. Die barthianische Theologie lebt nicht von der Eschatologie im Sinne der Erwartung der Wiederkunft Christi (die übrigens Karl Barth am Ende seines Lebens doch erwartet hat). Theologie, die mit der Wiederkunft Christi im Untergang dieses Äons, dieser Erde und dieses Himmels ernst macht und die endzeitlichen Aussagen in Gesellschaft und Recht wirklich als endzeitliche Phänomene reflektiert, wird als »apokalyptisch« abqualifiziert.

Das Reich Gottes war im Fortschreiten der nachbarthianischen Theologie eben nicht das Reich zwischen Ankunft und Wiederkunft Christi. Reich Gottes wurde hier zu einem »aufgegebenen« Reich, das sich in dieser Gesellschaft, auf dieser Erde zu verwirklichen habe. Das Reich Gottes ereigne sich eben im »hier und jetzt«, ich lebe als Christ schon im Reich Gottes — in jeder Situation meines Lebens. Die »Situation« wird zum »Ereignis des Reiches Gottes«.

Hier liegt die theologische Basis der in der heutigen Theologie so allmächtigen Situationsethik. (Deren klassische Vertreter u.a. sind: J. Fletcher, J.D. Pike, J. Sittler, A.T. Robinson, P. Tillich, R. Niebuhr, D. Sölle). Die Situationsethik proklamiert das Ethos der vom alten Gesetz befreiten Kinder Gottes. Das Reich Gottes ist da, alles Alte, so das Gesetz des alten Bundes, ist vergangen. Gekommen ist die Liebe. Sie bleibt nach Meinung der Situationsethiker einziger Maßstab für ethisches Handeln. »Allein Liebe und Vernunft sollen entscheiden, wenn es hart auf hart geht«, meint Fletcher (»Moral ohne Normen«, 1967).

Die Liebe ist in der Situationsethik autonom, die autonome Liebe steht über der Heteronomie aller Normen. Diese Art von Subjektivität steht ganz und gar in der Linie der Autonomiebestrebungen der Ethik Immanuel Kants und seiner Schüler, wenn natürlich auch bei ihnen diese Autonomie »willenhafter« ausgefüllt war als in der »glücksorientierten« Situationsethik der neuzeitlich weichen Welle des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts. Denn Glück und Liebe gehören in der Situationsethik zusammen. Fletcher schreibt: »Für die christliche Situationsethik bedeutet Seligkeit, Gottes Wille zu tun, wie es im höchsten aller Gebote enthalten ist.« Handeln aus Liebe ist Glück — im Reiche der Situationsethik. Liebe und Gerechtigkeit sind dasselbe, die Situationsethik möchte die quälende Trennung zwischen Liebe, Lust, Glück und Gerechtigkeit abschaffen. Diese Werte sollen zur Freude der Menschen, die ganz und gar als erlöste Gotteskinder verstanden werden, wieder vereinigt werden.

Die Konsensusethik der Frankfurter Schule ist Fleisch und Bein vom Fleisch und Bein der Situationsethik. Fletcher nennt in diesem Zusammenhang ausdrücklich außereheliche Beziehungen, Partnertausch bei Eheleuten, Abtreibung u.s.w. als Möglichkeiten dieses Konsensus aus der Liebe: »Gut und Böse wohnen in einer Sache oder einer Tat nicht von Haus aus inne, sondern sie ergeben sich aus der Situation … was dem anderen Menschen hilft, das ist gut, was ihm schadet, das ist schlecht… die leitende Norm christlicher Entscheidung ist die Liebe, sonst nichts … nur der Zweck rechtfertigt die Mittel, sonst nichts …«, meint Fletcher.

Für das Glück der größtmöglichen Zahl kann der einzelne geopfert werden: Sind in einem Rettungsboot zwei Menschen zuviel, dann können diese zum Überleben der größeren Zahlen dem Tode überlassen werden. Es gibt das Opfer für das Glück; auch Christus war, meint Dorothee Sölle (in »Phantasie und Gehorsam«, 1968), der glücklichste Mensch. Glückliche Menschen haben Phantasie und Spontanität, die eben entscheidende Bauelemente eines glücklichen Lebens sind. Das Prinzip der Ethik ist die Vermehrung des Glücks, meint Dorothee Sölle, und fordert, daß Situationen so verändert werden, daß sie in jedem Fall das Glück bringen können.

Diese Art Ethik kann auch antizipatorische Ethik genannt werden, weil sie das »Glück« des Gottesreiches vorwegnehmen will. Dabei muß immer wieder daran erinnert werden, daß diese Theologie Reich Gottes nicht »apokalyptisch« verstanden wissen will. Für diese »deontische« Ethik ist das Reich keine übernatürliche Wirklichkeit, die einmal am Ende der Welt offenbar wird, sondern es ist ein sich in dieser Welt durch Liebe, Glück und Phantasie in der Gemeinschaft horizontal verwirklichendes Reich. Die biblische Erwartung des Reiches Gottes wird umfunktioniert zur Utopie einer repressionsfreien, glücklich-liebenden Bruderschaft. Nach dem »Prinzip Hoffnung« auf Utopie, auf das Paradies auf Erden hin wird gegenwärtige Wirklichkeit in Frage gestellt. Die Spontanität der Glückskinder treibt ihr ernstes Spiel mit den verpönten Ordnungen der Christenbürger: Das Reich ist in der Konzentration von Phantasie, Spontanität, Glück, Liebe und Lust schon angebrochen. Aus der Bibel entnehmen diese glückshungrigen Blumenkinder die »frohe Botschaft«, daß dieses Reich eben nicht nur möglich, sondern im Grunde seit Christus, der ja nach Dorothee Sölles Meinung ein glücklicher Mensch war, schon wirklich da ist und daß es auch die letzte Verwirklichung aller Träume vom Glück bringe. Liebe ist das Motiv, das im Gegensatz zur Schöpfungsordnung und auch im Gegensatz zu den Offenbarungsordnungen wie Eigentum, Familie, Ehe usw. zur repressionsfreien Schwester- und Brüderlichkeit hinanführen solle und könne.

Es geht in dieser Ethik um die Realisierung einer neuen Gesellschaft, einer Art Reichsgottesgesellschaft, die aus dem breiten Konsens von quasi-christlichen, soziologisch-emanzipatorischen und auch außerchristlichen religiösen Erfahrungen aufgebaut wird.

Dieses messianische Reich ist das kollektive Reich des »wir«, behauptet G. Winter in seiner »Grundlegung einer Ethik der Gesellschaft«, 1970. Der »Wir-bezug« ist die Voraussetzung für die Verwirklichung des Ich, das ist das Ziel der Geschichte. Du bist nichts, die Gruppe ist alles. Das Reich Gottes ist die Bruderschaft auf Erden — allerdings ist es eine Bruderschaft ohne den Vater und ohne den Sohn. Im »Wortgeschehen« heißt es zwar noch »Gott« und »Christus« — aber das sind nur Symbole für die Reichsgotteserfahrung im »Wir«. Ein »Wir« ohne Gottvater und ohne die »existierende«(!) Gegenwart Christi ist aber nichts anderes als ein sich selbst organisierendes Kollektiv, das sich mit babylonischem Hochmut selbst Gott nennt.

War für Karl Marx das Proletariat die Ausgangsbasis revolutionärer Umgestaltung, so sind es für diese antizipatorischen Ethiker die »Armen«, von denen die Evangelien reden. Proletariat und »Arme« erfahren leidend — so meint die nach Revolution dürstende antizipatorische Theologie — die Verfremdung gegenwärtiger repressiver kapitalistischer Gesellschaft. Die Armen sind prädestiniert für die Koinonia-Gruppe, die die Gesellschaft zum »Reiche Gottes« hin mit sozialem und politischem Druck transformieren. Die aktuellen christlichen Gruppen werden zu einem Laboratorium der christomarxistischen Revolution. Spätbarthianische Allversöhnungslehre, Theologie der Hoffnung und der Revolution, antizipatorische, kontextuale und Koinonia-Ethik laufen hier munter durcheinander und miteinander.

Der Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus hat in seiner geradezu klassischen theologischen Dokumentation, vor allem im Blick auf die ökumenische Bewegung, die »Theologie der Armut« dargestellt und sie nach ihrer eigentlichen Motivation befragt (»Aufbruch der Armen«, 1981). Seine Ausführungen über das »kontextuale« Bibelverständnis machen deutlich, daß es dieser christomarxistischen »Theologie« nicht um Hingabe, Gehorsam, Vertrauen gegenüber dem Worte Gottes geht. Vielmehr werden praktisch herausgerissene Texte der Schrift subjektivistisch so lange gequält, bis sie die gewünschte »Veränderung« im Sinne der »Reichsgottesrevolution« bewirken. Beyerhaus beschreibt diese Art von Auslegung der Bibel wie folgt (in »Aufbruch der Armen«):

»Die ökumenische Theologie geht grundsätzlich — im Gefolge der von Kant beeinflußten transzendentalen Erkenntniskritik — mit der gesamten neuzeitlichen Theologie davon aus, daß wir es in den biblischen Schriften nicht mit objektiv feststehenden Mitteilungen göttlicher Selbstoffenbarung zu tun haben. Man sieht darin vielmehr Bezeugungen menschlicher Erfahrung von Geschehnissen, die von den Verfassern als Reden oder Handeln Gottes gedeutet wurden. Es gibt keine Offenbarung transzendenter Wirklichkeit an sich, sondern immer nur einen subjektiven Reflex eines Geschehens, wie es sich »für mich« darstellt.«

In all diesen theologischen Bewegungen ist die neutestamentliche Spannung des Gottesreiches zwischen Ankunft und Wiederkunft »einhorizontalisiert« zur Evolution oder Revolution einer versöhnten und erlösten Gesellschaft. Christen sollen als Revolutionäre jedoch wissen, daß die Menschheit erlöst »ist« und daß sie aus dieser Erlösung die Konsequenz der Revolution für eine neue Gesellschaft zu ziehen habe. Das Symbol für die Erlösung ist in dieser kontextualen Ethik die Auferstehung Christi, in ihr ist »mythologisch« die Möglichkeit des Aufbruchs vorgebildet. Die Konkretisierung dieses Mythos soll dann die Vergesellschaftung des Mythos, der revolutionäre Aufbruch des »Wir« zum herrschaftsfreien, sozialen Paradies sein. Rudolf Bultmann verstand Mythos als Wortgeschehen für die Existenz. Die moderne revolutionäre Theologie unterscheidet sich von seiner Existenztheologie dadurch, daß sie das Wortgeschehen umsetzt in die politische Aktion der Gruppe. Auf die Entmythologisierung der Bibel folgt nun die Verpolitisierung der Bibel. Kontextuale Ethik, Situationsethik, Gott-ist-tot-Theologie, Theologie der Befreiung und Theologie der Hoffnung sind Äste an einem Baum.

Die Theologie der Befreiung sieht nicht nur das Reich Gottes, sondern Gott selbst als eine sich in der Welt realisierende Universalidee. Die »mythologische Anschauung« dieser Idee ist im Urteil Hegels Christus, in dessen »Gottmenschlichkeit« Gott und Mensch sich — allerdings nur »religiös« erfahrbar — vereinen. Diese mythologische Vereinigung soll nun realisiert werden. Während für Hegel die Entfaltung der Gottesidee ihren Zielpunkt in seiner eigenen absoluten Philosophie bereits erreicht hat, liegt für die Theologie der Befreiung dieses Ziel in der Zukunft, eben als »Zukunft Gottes«. Die Zukunft ist nach Meinung des Christomarxismus nicht die Erfüllung der Verheißung Gottes, sondern Gott ist die Erfüllung der Zukunft in dem Sinne, daß dieser Gott überhaupt erst in der Zukunft »zu sich selbst kommt«. Auch Gott ist in einer Evolution, er muß sich gesellschaftlich erst noch verwirklichen. Gott »erfüllt sich« in der Humanität einer kommenden herrschaftsfreien sozialistischen Gesellschaft.

Eine Bedeutung spielt für die Theologie oder besser Theosophie der Befreiung der Exodus, also der Auszug Israels aus der Sklaverei Ägyptens in die Freiheit. Dieser Exodus Israels wird nun horizontalisiert und wird zum Symbol für die Konkretion Gottes in einer zukünftigen Welt. Exodustheologie, dieses Kernschlagwort der Theologie der Befreiung, meint also nicht, daß Gott sein Volk in die Zukunft führt, sondern daß die Zukunft einen gesellschaftlichen Zustand realisieren wird, der als vollkommener Zustand dann Gott »genannt« werden kann.

Diese erträumte Zukunft ist eine sozialistische Zukunft ohne Herrschaft. Bekehrung ist dann die Hinwendung von der Herrschaft zur Freiheit, von den Mächtigen zu den Unterdrückten, von den Reichen zu den Armen, um mit ihnen den Prozeß der Befreiung revolutionär in Gang zu bringen. Das Leiden der Unterdrückten wird zum Motiv der Revolution. Denn Exodus, Befreiung, sei nicht Erwartung sondern Aktion. Diese Aktion soll sich gegen das Übel aller Übel richten, und das Übel aller Übel heißt »Herrschaft«.

Herrschaftsstruktur meint in der Sprache der Theologie der Befreiung Herrschaft des Menschen über den Menschen. Jegliche Ungleichheit in der Gesellschaft (die Feministen haben uns darüber belehrt, daß sie darunter auch die schöpfungsgegebene Ungleichheit zwischen Mann und Frau meinen) ist nach Auffassung dieser Befreiungstheologie der Ansatz zur Herrschaft des Menschen über den Menschen. Das von ihm erträumte Reich Gottes hingegen ist die utopische klassenlose Gesellschaft, und der Klassenkampf ist der Exodus aus der alten Herrschaft in diese neue Gleichheitsgesellschaft. Das Ziel ist in der letzten Konsequenz der neue Mensch. Es geht dieser trotzkistisch beeinflußten Theologie nicht um Veränderung der sozialen Struktur im Sinne einer bloß politischen Revolution, sondern um den endlosen Weg in eine endlose Zukunft, in eine niemals zum Abschluß und zur Ruhe kommende Neuschöpfung des Menschen.

Gott als Schöpfer und Gebieter, so wie ihn die Bibel bezeugt, ist für die Evolutions- und Revolutionstheologie ein Symbol der Repression. Die Theologie der Befreiung ist anti-theistisch und beruft sich dabei auf Ernst Bloch, der — wie Hegel — im »Seinwollen des Menschen wie Gott«, also im Gehorsam zum Aufruf der Schlange als der Macht des Bösen den Anfang des Weges in die Freiheit sieht. Wer an Gott den Schöpfer und Gebieter glaubt, lebt noch in der Fremdbestimmung, die es in der Utopie der Befreiungstheologie nicht geben soll. Christus ist Symbol jenes menschlichen Geistes, der erwacht ist, um die repressiven Strukturen zu bekämpfen, denn Christus soll nun der erste Mensch gewesen sein, der Gott nicht über, sondern in sich hatte, der Gottmensch. Christus habe dieses alles noch in religiösen Kategorien erlebt und ausgesprochen, heute gehe es nach Meinung der Theologie der Revolution darum, diese Gottmenschlichkeit politisch in einer neuen Menschheits-Gesellschaft zu verwirklichen.

Nun wird der Exodus zum Auszug aus dem herkömmlichen Christentum mit seinen herkömmlichen Herrschaftsstrukturen, das heißt seiner repressiven Wirklichkeit des Himmels und des Gottes. Die Armen und Unterdrückten, derer Christus sich erbarmt hat, werden zu Untergrundkulturen und konspirativen Gruppen umfunktioniert, und ihre Aufgabe ist es, herkömmliche Wertsysteme aufzusprengen und den Anfang einer herrschaftsfreien Ära zu legen.

Dabei ist »herkömmlicher Glaube an Gott« nach Meinung von Ruben Alves nicht Freiheit, sondern Domestizierung des Menschen! Der Tod Gottes allein — so Alves — bringt Freiheit für Welt, Geschichte und Zukunft. Alves will die Säkularisierung und Desakralisierung der Welt, damit der Mensch frei wird für das Experiment einer neuen Gesellschaft. Um des Heiles des Menschen und der Erde willen soll Religion, sollen Glaube an Gott und Offenbarung Gottes zerstört werden. Die letzte Konsequenz in diesem Prozeß ist eine kontextuale Ethik. Die revolutionäre kontextuale Ethik bedeutet Aufruf zum Klassenkampf. Dieser Klassenkampf wird in Gang gebracht durch Interaktion von Gedanke und Tat. Was diese Interaktion nun bewirken soll, läßt sich schnell sagen: Es ist die Teilhabe am Klassenkampf. Denn kontextuale Ethik bedeutet im Klartext, die praktische Bedeutung der Bibel von heute zu erkennen, und das ist nichts anderes als die revolutionäre Aktion im Sinne eines militanten Befreiungskampfes.

Schon auf der Weltkirchenkonferenz von Uppsala 1968 wurde durch diese kontextuale Theologie ein neues Verständnis von Häresie kreiert: Wer an dieser Praxis, also an dieser Interaktion, an diesem Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker nicht teilnimmt, ist ein Häretiker.

William R. Le Roy (»Liberation Theology«) hat die Umstrukturierung biblischer Heilsaussagen zu Begriffen der Theologie der Revolution gut herausgearbeitet:

 

Heil wird zur politischen Befreiung.

Christologie wird Liebe zum Nächsten aus der Identität mit Gott.

Buße wird das Nein zum gegenwärtigen Status quo der Gesellschaft.

Heiliger Geist wird menschlicher revolutionärer Geist.
Eschatologie wird Utopie, Endzeit wird zur offenen Zukunft.
Kirche wird Weltgemeinschaft als kollektive Welteinheitszivilisation.
Sakramente werden zu Symbolen menschlicher Solidarität.
Bekehrung wird sozialistische Aktivität im Klassenkampf.

 

Diese Theologie der Befreiung entstand nicht in Mußestunden für selbstgefällige Beschäftigung an idyllischen Schreibtischen. Sie wurde motiviert durch das Elend einer sogenannten Dritten Welt. Die Säkularisation des »christlichen Abendlandes« zur hochindustriellen Konsum- und Leistungsgesellschaft machte herkömmliches, »bürgerliches« Christentum im höchsten Maße fragwürdig. Die moderne evolutions- und revolutionstheologische Ethik aber bringt selbst die Säkularisation der Wirklichkeit des Reiches Gottes. Sie mindert das Elend nicht, sondern eskaliert die Verwirrung in den trüben Schatten des von ihr propagierten Atheismus. Der Kampf um die Gerechtigkeit — auch mit Gewalt — kann biblisch grundsätzlich nicht verneint werden. Aber wer Inhalte der Offenbarung zugunsten der Utopie einer kollektiven »Wir-Gesellschaft« leugnet, verliert die Legitimation, sich in diesem Kampf auf das Christentum zu berufen. Das alles ist dann nicht Ausbreitung des Regnum Christi, sondern Wiederkehr des Regnum Diaboli.

 

Ethos zwischen Ankunft und Wiederkunft

 

Im Prinzip hat Albert Schweitzer recht, wenn er das Ethos der Urgemeinde »Interims-Ethik« nennt. Er meint damit ein Ethos zwischen Ankunft und unmittelbar erwarteter Wiederkunft des Christus. Schweitzer versteht dieses Ethos als ein entweltlichendes Ethos, weil alle Erwartungen nicht auf innerweltliche Bereiche, sondern auf das ganz Andere des Reiches Gottes gesetzt werden. Die Naherwartung — so meint Schweitzer — gebiete kein Engagement in dieser Welt für diese Welt, weil die Urgemeinde aus der Erwartung lebt, daß sie noch das Ende der Welt erleben würde.

Diese Ethik im Rahmen einer konsequenten Eschatologie steht und fällt mit der Wirklichkeit einer — übrigens nach Meinung Schweitzers nicht eingetretenen — urgemeindlichen Naherwartung. Eine solche Naherwartung (d.h. Wiederkunft Christi noch in der Zeit der Gemeinde) aber kennt das Neue Testament nicht. Dennoch ist das Ethos des Neuen Testamentes und damit des Christentums Interims-Ethos, weil es ein Ethos zwischen Ankunft und Wiederkunft Christi, zwischen Anfang und übernatürlicher, plötzlicher Vollendung des Reiches Gottes in der Wiederkunft Christi ist.

Dieses Ethos der Zwischenzeit ist ein Ethos aus dem Sein in Christus. Der Christ selbst ist schon im Reiche Gottes, weil er in Christus ist, aus ihm lebt und handelt. Das Sein in Christus geht allem Handeln voraus, das wir christliches Handeln, Ethos nennen. »Ist somit jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist neu geworden« (2. Kor. 5,17).

Das Sein in Christus ist Begegnung mit Christus durch die Teilhabe an seinem Kreuz und an seiner Auferstehung. Kreuzigung als Krise zum Tode und Auferstehung als Kraft für ein neues Leben sind reale, erfahrbare, das Christsein begründende Faktoren des Daseins, die auch Wiedergeburt oder Bekehrung genannt werden können. Paulus drückt diesen Kernprozeß des Christseins so aus: »Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, aber nicht mehr als ich, sondern Christus in mir. Was ich aber jetzt im Fleische lebe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat« (Gal. 2,20).

Glaube und Liebe sind die entscheidenden Elemente der Begegnung mit Christus. Durch diese Begegnung mit Christus wird der
Kernprozeß der Reichsgotteswirklichkeit im Dasein des einzelnen
Christen in Bewegung gebracht. Christus ist
weder eine Idee noch ein Prinzip noch eine »Jesuserinnerung«
noch ein Meditationssymbol, sondern eine existierende, persönliche Realität im Gegenüber zur Welt und zum Menschen. Er ist
gleichzeitig der Ferne und der Nahe, er ist wahrer Gott und wahrer
Mensch. Seine Nähe, seine sich vergegenwärtigende Kraft von
Kreuz und Auferstehung bewirkt das heilige Pneuma Gottes. Der
Heilige Geist ist die von Gott und Christus ausgehende und in den
Gläubigen einbrechende Dynamis, die im Gläubigen und in der
gläubigen Gemeinde Christus vergegenwärtigt. Ohne  den Heiligen
Geist gäbe es nur eine Jesus-Erinnerung, aber kein neues Sein in
Christus, während Kreuz und Auferstehung nur ein vergangenes
(historisches) Faktum, aber kein den Gläubigen hier und jetzt umwandelndes Ereignis wären.

Ethos im Reich Gottes ist Ethos aus Liebe im Glauben und auf Hoffnung. Der Glaube ist tätig durch die Liebe (Gal. 5,6), der Glaube konkretisiert sich in der Liebe. Nach 1. Korinther 13,13 bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei, am größten aber unter diesen ist die Liebe.

Die Liebe ist eine neue Realität des Reiches Gottes und damit der christlichen Existenz. Die Liebe der Christen ist Teilhabe an der Liebe Gottes. 1. Johannes 4,16: »Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe, und wer in
der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« Die Liebe
Gottes als Agape ist grundsätzlich anders als die Liebe der Menschen (Eros), die nicht zum Reiche Gottes gehören. In Johannes
17,26 bittet Christus, daß die Liebe, die Gott zu ihm hat, auch in
seiner Gemeinde sein möge. Paulus bekennt (Röm. 5,5), daß die
Liebe Gottes »ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist«.

Liebe im Neuen Testament ist eine überweltliche, durch den Heiligen Geist gewirkte Gabe Gottes. Diese Liebe ist die Erfüllung dessen, was das offenbarte Gesetz Gottes immer wollte und will: »So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung« (Röm. 13,10). – »Das ist mein Gebot, daß ihr einander lieben sollt, wie ich euch geliebt habe. Größere Liebe hat niemand als die, daß er sein Leben hingibt für seine Freunde« (Joh. 15,12).

Was charakterisiert diese Liebe als Agape Gottes, und worin unterscheidet sich diese Liebe Gottes vom Eros, also von der Liebe der Welt?

Das Neue Testament hat für Liebe das Wort Agape, die griechische Philosophie sagt Eros, wenn sie über Liebe reflektiert.

Stellen wir zunächst die Frage: Was ist Eros?

In Platos »Symposion« wird Eros als Sohn des Gottes Poros und der Göttin Penia vorgestellt. Penia ist die Göttin des Mangels, Poros ist der Gott lebensgieriger Selbstverwirklichung. Eros ist also, mythologisch gesehen, der Weg aus der mangelnden zur völligen Selbstverwirklichung. Eros ist Verlangen nach dem anderen, weil er den anderen oder das andere als Instrument seiner Selbstverwirklichung gebraucht. Dieser Egoismus im Eros ist auch und gerade da — wenn auch in subtiler Weise — kräftig und mächtig, wo er sich »sublimiert«, also nach »höheren« und »geistigen Werten« strebt. Denn Eros meint in letzter Konsequenz nicht die leibliche Sinnlichkeit als solche, so wenig Sarx (Fleisch) im Neuen Testament das leibliche, geschlechtliche Begehren als solches meint.

In der »Politeia« zeigt Plato den Stufenweg des Eros: Zunächst ist er libidinös motiviert im Sinne damaliger griechischer Kulturwelt, also sexuelle Begierde zum begehrenswerten Knaben, also homoerotisch fixiert. Eros erhebt sich dann von diesem sinnlichen Begehren zum geistigen Begehren; von dem süßen Knaben als Individuum geht der Weg zum allgemeinen Guten und Schönen. Von der unmittelbaren Sinnlichkeit »läutert« sich Eros zur klassischen Dreieinigkeit der Humanität empor: zum Wahren, Guten und Schönen. Schlußendlich — das zeigt Plato im »Phaidros« — steigert sich der Eros vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, er schwingt sich empor zur Ideenwelt, zum eigentlichen Sein, zur reinen Idee, die nicht hienieden, sondern im Himmel zu suchen und zu finden ist, während alles Irdische nur als kümmerlicher Schatten, trauriges Abbild dieser überirdischen Ideen dahinkümmert.

Das Endziel dieses erotisch motivierten Weges aller Philosophie, aller Kultur überhaupt, ist die Erhebung der Seele — alles andere ist auf diesem Weg nur ein Instrument dieser Erhebung des Ich.

Dieser Eros ist die Motivation des Denkens — aber auch des Handelns. Das griechisch-platonische Ethos — und ganz sicherlich nicht nur dieses — ist erotisches Ethos. Dieses erotische Ethos kennt — in der Konfrontation zur neutestamentlichen Agape — nicht die Liebe zum Nächsten um des Nächsten willen.

Der Nächste ist im erotischen Ethos also nur Mittel zum Zweck des geistigen Genusses und der Selbsterhebung. Karl Barth hat das Unchristliche und Inhumane dieses Eros erkannt: »Der erotisch Liebende hat das andere nur zum Schein gern! Weil der Mensch sich in der Auflehnung gegen Gott selbst zum Ziel erhoben hat, lebt er ohne Verantwortung gegenüber Gott nur im Verlangen nach seiner Selbstverwirklichung«.

Das höchst zu erstrebende Gut des Eros ist Gott. Der platonische Gott kann nur zögernd Gott genannt werden. Man sucht nach anderen, neutraleren Ausdrücken. Denn dieser Gott steht unbeweglich in sich, er ist stumm und ohne Regung. Weil er alles hat, braucht er nichts. Er braucht auch keine Liebe, denn Liebe ist ja nur eine Selbstverwirklichung, die einen Mangel ausfüllt. Es gibt bei Plato eine Liebe von unten nach oben, aber nicht eine Liebe von oben nach unten. Es gibt Liebe als Selbstverwirklichung, aber nicht als Barmherzigkeit. Das vollkommene, stumme, lieblose Sein ist schon der tote Gott, den Nietzsche erst in unserer Zeit zu finden meinte. Dieser (gegen das zweite Gebot) in das Bild, in den Begriff gezwungene Gott der platonischen Philosophie ist der tote Gott, der in einem Grabe der Beziehungslosigkeit ruht, so wie der Eros in seiner puren Selbstverwirklichung schließlich in das Grab der Icheinsamkeit führt.

 

Verwechslung von Agape mit Eros war und ist die Katastrophe der christlichen Gemeinde. Da wird dann »Christentum« zum Konsum, wird die Gemeinschaft zum Genuß, der Pfarrer wird ästhetisch verbraucht, Wohltun wird zur Selbstbefriedigung, Taufe, Trauung und Bestattung zur narzistischen Selbstverklärung, »Heiliger Abend« zum stimmungsvollen Sichhinaufschwingen zu den Höhen des Friedens im schauervollen Verkosten des Ewigen, das die Sinne religiös trunken macht. Sympathie und Antipathie statt Liebe zerreißen die Gemeinde, die nur dann von Bruderliebe getragen werden kann, wenn die väterliche Agape Gottes empfangen wird.

 

Erotik »haben wir«, sie gehört zum »Bestand des Fleisches«, sie ist angelegt in der Libido — der natürliche Mensch ist der erotische Mensch. Die Agape haben wir nicht, sie kann nicht gemacht, nicht stimuliert werden. Wo immer Verkündigung stimuliert, psycho-technisch anbiedernd »auftritt«, ist sie als vererotisierende Verkündigung der Todfeind des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Agape als Werk Gottes in der Gabe des Heiligen Geistes durch die Begegnung mit Christus ist die Ankunft in einem Kairos, in einem heilsgeschichtlichen Augenblick, den nur Gott geschehen lassen kann. Denn die Agape ist nicht vom Menschen, sondern von Gott her.

 

Wenn das Neue Testament die Liebe Gottes meint, sagt es Agape. Diese Liebe Gottes haben wir daran erkannt, daß er »sein Leben für uns gab« (1. Joh. 3,16). Agape erbarmt sich gerade des »Wertlosen« und des Verlorenen. Die Agape Gottes ist eine erwählende, erlösende und damit aus dem Verderben herausholende Kraft der Barmherzigkeit. Die Agape liebt ohne jeden Grund, ohne »dafür« belohnt zu werden. Denn Gott braucht und kann nicht belohnt werden. Die Agape ist aus dem Nichts heraus erwählende Liebe Gottes. Diese Liebe, die eben nicht machbar ist, wird im Glauben, im Vertrauen, in der Begegnung mit Gott durch das Wort empfangen. Dabei ist grundsätzlich jeder Gedanke an ein Verdienst ausgeschlossen.

 

Es wird wohl übersehen, daß diese Liebe die Liebe des erwählenden Gottes seine neue Schöpfung ist. Weil die Liebe des Christen zu Gott grundlos ist im Ursprung, weil sie freie Schöpfung und Gabe Gottes ist, deswegen ist sie auch ebenso grundlos in ihrer Hingabe, denn sie hat ihren Grund ja nicht in sich, sondern allein in der Erwählung Gottes: Wir nehmen nicht Gott an, sondern Gott nimmt uns an.

Die Liebe des Christen ist antwortende Liebe auf die immer zuvorkommende Liebe Gottes: »Laßt uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt« (1. Joh. 4,19).

Agape wird ganz anders erfahren, gelebt und erlebt als Eros. Eros ist ein sich aufschwingendes Begehren im Willen zum besitzenden Haben. Agape ist demütiges, sich ganz und gar hingebendes Empfangen. Eros ist Liebe im Angebot seines Ich (Eros hat immer etwas zu bieten) als eines anzupreisenden Wertes. Agape hingegen ist ganz und gar vom Ich weggehendes, sich nur auslieferndes Nichtsein an das Pleroma, die Fülle Gottes. Im Lobgesang der Maria hat das Erheben der Seele und das Frohlocken des Geistes (Luk. 1,46) seinen Ursprung im »Hinsehen« Gottes auf die »Niedrigkeit seiner Magd« (Luk. 1,48). Die »Gewaltigen« werden »von den Thronen gestoßen, und Niedrige erhöht« (Luk. 1,52), denn Gott nimmt sich seines Knechtes Israel nur aus »Barmherzigkeit« (Luk. 1,54) an. Der Lobgesang der Maria ist undenkbar in der Eros-Kultur der Heiden, unvergleichlich in der Darstellung der Agape Gottes, die eben nicht »Werte« sucht, sondern ruft »dem, was nicht ist, daß es sei« (Röm. 4,17).

Entscheidende Aussagen über die Liebe lesen wir in 1. Korinther 13,4—7: »Die Liebe ist langmütig, sie ist gütig; die Liebe eifert nicht, die Liebe prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf, sie tut nichts Unschickliches, sie sucht nicht das ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht an; sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber mit der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles.« — Alle diese Aussagen über die Agape stehen im scharfen Gegensatz zum Eros der griechisch-platonischen Philosophie.

Die Liebe ist die neue und ganz andere Motivation des Ethos im Reiche Gottes. Diese Agape ist vor allem zur Feindesliebe fähig. Die Agape Gottes ist ja Liebe zum Feind Gottes, die Agape ist Feindesliebe. Diese Feindesliebe erotisiert den Feind nicht, macht ihn nicht wertvoll, will und kann nichts »Liebenswertes« an ihm entdecken wollen. Der Feind ist als Feind geliebt! Feindesliebe, ja die Agape überhaupt, wird im Zusammenhang mit Haß erfahren.

 

Gott ist Liebe und Zorn. Gott haßt den, der den Frevel liebt (Ps. 11,5). Gott haßt die Versammlung der Boshaften (Ps. 26,5), er haßt jene, die sich an eitlen Götzen festhalten (Ps. 31,7), und er haßt das gottlose Wesen (Ps. 45,8). Wenn wir den Herrn lieben, müssen wir auch als Christen das Böse hassen (Ps. 97,10); wir hassen die, die Gott hassen (Ps. 139,21), wir sind aufgerufen, das Böse zu hassen und das Gute zu lieben (Arnos 5,15), wir hassen den Argen und hangen dem Guten an (Röm.12,9).

Was nun? Sollen wir gleichzeitig hassen und lieben? Ist die in Christus gebotene Feindesliebe die Gleichzeitigkeit von Liebe und Haß als eine Art »gemischten Gefühls«? Oder ist die Liebe, wie die überwältigende Mehrheit der mit Gefühlen nicht immer allzu reich versehenen Theologen meint, gar kein Gefühl, gar keine Erfahrung, keine das Herz ergreifende Zuwendung zum Feind, sondern nur eine kalte Pflichtübung? Wäre der Unterschied zwischen Eros und Agape dann etwa der, daß Agape mit unserer Innerlichkeit, mit »Herz und Nieren« gar nichts »zu tun« hätte? Wäre also die Agape im Gegensatz zum hochtemperierten Eros nur dessen »kalte Schwester«? Wären die Christen also fahler, grauer und weniger temperiert als die Heiden?

 

Wir haben zu diesen so aller Welt bekannten Aussagegehalten des christlichen Glaubens noch weitere Fragen: Wie kann überhaupt die Liebe befohlen werden, wie soll man die Gebote denn ausführen: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Matth. 5,43)? Wie soll auf Befehl geliebt werden, wenn doch die Liebe eben nicht machbar ist? Angequälte, einsuggerierte und in Rollen vorgespielte Liebe ist geheuchelte Liebe — es ist die Liebe, vor der der Apostel Paulus warnt, wenn er ganz dringend erwartet, »daß die Liebe ungeheuchelt sei« (Röm.12,9).

 

Wenn die auch den Feind liebende Liebe, wenn also die Agape weder durch Pflicht (als quasi Selbsterlösung) noch durch die dem Feind verbliebene Faszinationskraft oder Würdigkeit in Gang gebracht werden und auch nicht durch Wunsch und Selbstverwirklichung emporgejubelt werden kann, und wenn sie dann auch und vor allem keine subtile Form des Masochismus sein soll — was bringt dann die herzliche und ungeheuchelte Liebe zum Feind in Bewegung? Die Antwort ist einfach:

 

Es ist das Wunder Gottes, das allein die Liebe bewirkt — ohne irgend eine andere Ursache. Liebe geschieht als ein Wunder Gottes. Die Feindesliebe ist Ereignis Gottes im Reiche Gottes. Der Feind ist, wenn er geliebt wird, ein Bruder — die Liebe hebt die Feindschaft auf. Aus dem Feind wird der Freund: »Euch habe ich gesagt, daß ihr Freunde seid« (Joh. 15,15), denn Christus hat sein Leben gelassen für die Freunde (Joh. 15,13).

 

Das Gebot der Feindesliebe will sagen, daß es im Reiche Gottes ganz gewiß nicht die Machbarkeit, aber eben doch sehr wohl die Möglichkeit der Feindesliebe gibt. Im Reiche Gottes kann sich Liebe zwischen Feinden »ereignen« durch die Kreuzigung des Fleisches und die Heiligung im Geiste, die allein Gott bewirken kann — wo und wie er will. Feindschaft wird dann zur Bruderschaft, zur Freundschaft in Christus. Ohne die beiderseitige Wiedergeburt bei Freund und Feind, und bei Feind und Freund, denn der eine ist dem anderen der Feind, d.h. ohne Sterben und Auferstehen mit Christus, ist die Verwandlung der Feindschaft in Freundschaft, des Hasses in Liebe nicht möglich. Christen lieben eben nicht die Welt, sie sind nicht Freunde der Welt (Jak. 4,4: »Die Freundschaft mit der Welt ist Feindschaft wider Gott«), sie lieben weder den Bösen noch den, der das Böse tut! Die Feindesliebe ist ein Prozeß im Anbruch des Gottesreiches, der Feind wird zum Bruder — ein Vater —, beide können einander lieben, weil Gott sie beide erwählend zuerst geliebt hat. Die Feindesliebe ist ein Sollgehalt im Reiche Gottes, der aber nur durch Gott selbst erfüllt werden kann — wann, wo und wie er will. Christen strengen sich also nicht an, um den Feind zu lieben, sondern sie warten im Vertrauen auf das Wunder, das die Liebe zum Feinde ermöglicht. Die Feindesliebe ist schließlich immer Liebe zwischen Christen, die Liebe zum Feind ist die in mir wirkende Agape Gottes, die im Feind Glaube, Liebe und Hoffnung, das Sein in Christus, bewirkt.

 

Feindesliebe ist erwählendes Handeln Gottes! Feindesliebe ist creatio ex nihilo, Schöpfung aus dem Nichts. Sowenig irgendein Christ den Zeitpunkt der Schöpfung bestimmt hat, so wenig kann der Zeitpunkt der Schöpfung der Liebe als Wunder »bestimmt« werden, denn Liebe ist Gnade und kein »Gemächte«, sie ist von Gott geschaffenes Sein und kein »Haben«. Von daher gesehen ist es eine Absurdität, Feindesliebe als Instrument einer politischen Pragmatik zu »handhaben«. Feindesliebe läßt sich so wenig manipulieren, wie sich das Wunder Gottes manipulieren läßt.

Alles, was aus der Liebe, also aus der Agape geschieht, ist gut. Die Liebe ist aber die Erfüllung des Gesetzes — warum dann noch das alttestamentliche Gesetz, wenn im Reiche Gottes die Liebe waltet? Ist nicht durch das Sein in der Liebe das Gesetz in das Herz des Gläubigen geschrieben, so daß er ohne den Buchstaben des Gesetzes leben kann? Stimmt das »Vergeltungsgesetz« des Alten Testamentes inhaltlich mit der neuen Liebes- und Vergebungsordnung des Reiches Gottes überein?

»Daß also aufgrund des Gesetzes niemand bei Gott gerecht gesprochen wird, ist offenbar, denn nur der aus dem Glauben Gerechte wird leben« (Gal. 3,11). Diese Aussage des Apostels meint doch, daß es unmöglich ist, durch die Erfüllung des Gesetzes, durch den vollkommenen Gehorsam vor Gott bestehen zu können. Abraham ist nicht durch die Erfüllung des Gesetzes, sondern durch Glauben gerecht geworden: »Wie denn auch Abraham glaubte und es ihm zur Gerechtigkeit gerechnet wurde« (Gal. 3,6). Der Glaube Abrahams ist ein Glaube an die Verheißung Gottes: Er sollte einen Erben haben. Abraham hat gegen alle Hoffnung geglaubt, er hat vertraut, wo nach menschlichen Maßstäben nichts zu hoffen war: Wie sollte er aus dem ersterbenden und welkenden Leibe der Sarah einen Erben bekommen?

Abraham glaubte an Gott im Angesicht des Nichts. Abraham, der Vater der Gläubigen, glaubte an den Gott, »der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft …« (Röm. 4,17). Abraham hat im Vertrauen, also aus Gnade, als der von Gott Geliebte, aus Liebe gehandelt. Das Ethos Abrahams war motiviert durch Glauben. Warum also Gehorsam gegenüber dem Gesetz? Das Gesetz des Mose gab es zur Zeit des Abraham noch nicht. Warum überhaupt das Gesetz, fragt Paulus, und antwortet:

 

»Der Übertretungen wegen wurde es, bis der Nachkomme komme, dem die Verheißung gegeben ist, hinzugefügt, indem es angeordnet wurde durch Engel mit Hilfe eines Mittlers« (Gal. 3,19). Das Gebot Gottes ist gegeben worden wegen der Feindschaft gegen Gott, vor allem um diese Feindschaft offenbar zu machen, damit hat »die Schrift alles unter die Sünde zusammengeschlossen« (Gal. 3,22). Das Gesetz ist ein Erzieher, der unmißverständlich klarmacht, daß sie in der Feindschaft gegen Gott und seine Ordnung und damit auch in der unerbittlichen Konsequenz gegen seine Schöpfung leben.

 

Das Gesetz Gottes offenbart aber auch den Willen Gottes, damit wir leben (5. Mose 4,1: »… daß ihr danach tut, damit ihr am Leben bleibet …!«). Im Hören dieses Gesetzes erfahren wir unmißverständlich, daß es unser Untergang ist, wenn wir nicht auf dieses Gesetz hören.

 

Christen bestehen aber nicht dadurch, daß sie das Gesetz Gottes erfüllen! Sie vertrauen auf die Gnade und damit auf die rettende, heilende, vergebende Kraft Gottes, die in Christus vollends offenbar wurde. Diesem Glauben hat Abraham schon vor dem Kommen des Verheißenen gelebt! — »Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister. Denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen« (Gal. 3,25).

 

Während nun für den Juden die Realität der Sünde die Erfüllbarkeit der Thora (also des Gesetzes) durch Reue (teschunah) nicht ausschließt, ist bei Paulus die Radikalität der Sünde in einer Weise erkannt, daß die Möglichkeit der eigenen, von Gott anzuerkennenden Gerechtigkeit ausgeschlossen wird.

 

Nun die entscheidende Frage: »Heben wir also das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Vielmehr halten wir das Gesetz aufrecht« (Röm. 3,31). »… Somit ist das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig und gerecht und gut« (Röm. 7,12). Wir halten also fest:

Das Gesetz ist ein Zuchtmeister, und das Gesetz ist gut!

Das Gesetz ist nicht aufgehoben, und dennoch schreibt Paulus, daß er nicht unter dem Gesetz steht (1. Kor. 9,20) und daß die vom Geist Getriebenen »nicht unter dem Gesetz« sind (Gal. 5,18).

Die für die christliche Ethik entscheidende Frage ist, ob Liebe und Gesetz, Heiliger Geist und Gesetz einander ausschließen, ob Christen nur durch Liebe motiviert handeln, etwa so, wie es die Situationsethik zum theologischen Programm erhoben hat, oder ob sie unter dem Gehorsam des Gesetzes bleiben. Diese Frage ist unmißverständlich durch Paulus beantwortet worden in dem Sinne, daß Glaube und Gesetz einander nicht ausschließen, sondern einander zugeordnet wird.

Christus hat Strafe und Fluch getragen. Hier ist das Gesetz nicht abgeschafft, sondern erfüllt. Der Unterschied zu allem Laxismus und Modernismus einer sogenannten Situationsethik ist der: Sünde und Strafe werden nicht negiert, sondern Sünde wird vergeben und Strafe stellvertretend durch Christus weggelitten. Vergebung und Freiheit vom Fluch des Gesetzes aber kann es nur in der Reichsgotteswirklichkeit geben, in der durch Glauben die Vergebung im sühnenden Leiden Christi angenommen wird.

Im Gleichnis von der Ehebrecherin (Joh. 8) wurde von den Pharisäern eine Szenerie in Gang gesetzt, »um ihn zu versuchen, damit sie ihn anklagen könnten« (Joh. 8,6). Was war aber der Zweck dieser Versuchung? Der Zweck war, das Ethos der Reichsgotteswirklichkeit, das Ethos vergebender und versöhnender Liebe, also die Erfüllung des Gesetzes in Christus zu verneinen. Weil in Christus diese Reichsgotteswirklichkeit gegenwärtig war, konnte Christus die Strafe der Steinigung versöhnen. Die »Versucher« sind vom Gesetz selbst angeklagt (sie werfen keine Steine), sie selbst haben das Gesetz verraten und können es nicht vollstrecken.

 

Die ganz praktische Konsequenz ist, daß Christen in der Reichsgotteswirklichkeit der Liebe, Vergebung und Versöhnung nicht vor weltliche Gerichte gehen. »Gewinnt es jemand unter euch, der eine Streitsache mit dem anderen hat, über sich, vor den Ungerechten sich richten zu lassen und nicht von den Heiligen? Oder wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? … Nun ist überhaupt schon das ein Fehler an euch, daß ihr Rechtshändel untereinander habt. Warum laßt ihr euch nicht lieber Unrecht tun …?« (1. Kor. 6,1—2.7).

 

Im Reiche Gottes gilt also die Vergebung. In diese Reichsgotteswirklichkeit hat Christus die Sünderin von Johannes 8 einbezogen. Wer aber im Reiche Gottes beharrlich im Unrecht verharrt, wird ausgeschlossen: »… Oder wisset ihr nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht ererben werden?« (1. Kor. 6,9).

 

Der permanent »Böse« wird also nur dadurch bestraft, daß er aus der Reichsgottesgemeinschaft ausgeschlossen wird — dieser Ausschluß aus der Gemeinde ist die einzige Vergeltung, die es für die Gemeinde als Gemeinde geben kann. Wer nicht zum Reiche Gottes gehört, der muß von ihm ausgeschlossen werden: »Ihr sollt nicht Gemeinschaft haben mit jemandem, der sich Bruder nennen läßt und ein Unzüchtiger oder Habsüchtiger oder Götzendiener oder Lästerer oder Trunkenbold oder Räuber ist; mit einem solchen sollt ihr nicht einmal essen. Denn was soll ich die, die draußen sind, richten? Richtet nicht ihr die, welche drinnen sind? Die aber, welche draußen sind, wird Gott richten. Schaffet den Bösen aus eurer Mitte hinweg« (1. Kor. 5,11—13).

 

Es gibt also ein Draußen und Drinnen; das Reich Gottes ist nicht die Welt, sondern es ist in der Welt, und was für die Gemeinde der »Heiligen«, der aus der Welt »Herausgeschnittenen« gilt, kann nicht für die Welt gelten, so wie das, was für die Welt gilt, nicht auch für die Gemeinde Christi gelten kann.

Für die, die nicht in Christus sind, gilt das Gesetz Gottes auch als vergeltendes Gesetz, denn diese hat die Versöhnung und Erlösung nicht oder noch nicht ergriffen. Für die im Unglauben Beharrenden ist die Strafe nicht oder noch nicht weggelitten! Die moderne Theologie als allversöhnende, das Reich Gottes in die Welt einfließen und verdampfen lassende Evolutionstheologie verkennt das Wesen des Reiches Gottes und vermischt alten und neuen Bund, Reich Gottes und die Welt. An dieser Unterscheidung aber hängt das Prinzip christlicher Ethik.

 

Wir halten fest: Für die außerhalb des Reiches Gottes Lebenden gilt das vergeltende Gesetz Gottes. Dieses Gesetz Gottes ist nicht das natürliche Recht, die autonome, allen Menschen erkennbare Sittlichkeit, sondern das von Gott, von seinen Engeln verordnete (Gal. 3,19) und von seiner Gemeinde verkündigte Gesetz.

 

Das Ethos (und damit Recht und Gesetz) im sogenannten christlichen Abendland war und ist Verkündigung der Kirche, und es wird nur so lange gelten, wie es diese Verkündigung der Kirche gibt. Die Gerechtigkeit des Staates, seine vergeltende Schwertgewalt, von der Paulus in Römer 13 schreibt, ist jene Gerechtigkeit, die durch die Mächte vermittelt wurde, die Paulus im 3. Kapitel des Galaterbriefes anspricht. Die Angeloi von Galater 3 sind identisch mit den Exousiai von Römer 13! Nicht nur die Christen, auch die Heiden sind diesen Exousiai, diesen das Gesetz Gottes vermittelnden Mächten unterworfen. In Römer 13 meint der Apostel Paulus nicht das natürliche Recht, sondern das Gesetz, das von den Engeln den Menschen gegeben wurde und nun durch die Verkündigung der Kirche den heidnischen Völkern vermittelt wird (vergl. Anhang zu Römer 13).

 

Das Ethos der Bergpredigt ist das Ethos des Reiches Gottes. Das unheimliche Mißverständnis der Feindesliebe und des »Widerstehet nicht dem Bösen!« als allgemein-humane Weltverhaltensregel verkennt in gleicher Weise die Sündenwirklichkeit des Menschen wie die Reichsgotteswirklichkeit Christi. Die Demutsgesten vieler Politiker, die sich auf das Ethos der Bergpredigt im Sinne eines Idylle-stiftenden »Seid umschlungen, Millionen« berufen, verneinen in hochmütig-enthusiastischer Weise die Geschichte des Heils, zu der Gott diese Welt berufen hat.

 

Die Kernaussage der Bergpredigt, um die es hier geht, ist folgende:

»Ich aber sage euch, daß ihr dem Bösen nicht widerstehen sollt; sondern wer dich auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den anderen dar«; und: »Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bittet für die, welche euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters in dem Himmel seid!« (Matth. 5,39.43—45).

Diese Gebote der Bergpredigt können nicht getrennt werden von dem, der sie gebietet — das ist der Bringer des Reiches Gottes — der Messias. Über ihn sagt Jesaja (50,6):

»Den Rücken bot ich denen, die mich schlugen, und die Wangen denen, die mich rauften, mein Angesicht verhüllte ich nicht, wenn sie mich schmähten und anspien. — Aber Gott der Herr steht mir bei; darum bin ich nicht zuschanden geworden. Darum machte ich mein Angesicht kieselhart und wußte, daß ich nicht beschämt würde. Er, der mir Recht schafft, ist nahe; wer will mit mir hadern?«

Die Hingabe an den Feind lebt aus der Gewißheit, daß Gott es ist, der das Recht schafft. Der sich dem Feinde hingibt, gibt sich für den Feind hin. Jesaja schreibt über den Messias und sein Leiden: »Er hatte weder Gestalt noch Schönheit, daß wir nach ihm geschaut, kein Ansehen, daß er uns gefallen hätte. Verachtet war er und verlassen von Menschen, ein Mann der Schmerzen und vertraut mit Krankheit, wie einer, vor dem man das Antlitz verhüllt; so verachtet, daß er uns nichts galt. Doch wahrlich, unsere Krankheit hat er getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen; wir aber wähnten, er sei gestraft, von Gott geschlagen und geplagt. Und er ward doch durchbohrt um unserer Sünden, zerschlagen um unsrer Verschuldungen willen; die Strafe lag auf ihm zu unsrem Heil, und durch seine Wunden sind wir genesen« (Jes. 53,2—5).

Nur im Glauben an diese Wirklichkeit des Messias allein kann das Ethos der Bergpredigt gelebt werden. Ethos der Bergpredigt ist Sein in Christus, nur durch die Kraft, die durch dieses Sein empfangen wird, durch diese übernatürliche Kraft, ist Ethos der Bergpredigt möglich.

Die Bergpredigt ist Predigt vom Reiche Gottes. Im vorangehenden vierten Kapitel des Matthäusevangeliums (Vers 23) heißt es über Jesus: »Und er zog umher in ganz Galiläa und lehrte in ihren Synagogen, predigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volke.« Worte und Taten Christi melden also den Anbruch des Gottesreiches und die Seligpreisungen, mit denen die Bergpredigt beginnt, sind Seligpreisungen über die, die zum Reiche Gottes gehören (Matth. 5,1—12). Die Armen im Heiligen Geiste, die Trauernden, die Sanftmütigen, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, die Barmherzigen, die, die reinen Herzens sind, die Friedensbringer, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden — sie alle sind im Prozeß der Wiedergeburt zum Reiche Gottes. Alle die so Angesprochenen sind nicht »Träger oder Besitzer von Tugenden«, die man erkämpft haben muß, um in das Reich Gottes einzugehen, sondern all diesen »Gesegneten« wird das Heil zugesprochen, weil sie, so wie sie sind, durch Gott in das Reich eingebracht werden. Die Seligpreisungen melden Charakteristika der Reichsgottes- und damit der Wiedergeburtswirklichkeit.

 

Wenn (Matth. 5,3) gesagt wird, daß den »Armen im Geist« das Reich Gottes gehört, dann ist diese »Armut im Geist« die durch den Ruf Gottes bewirkte Offenheit für die Ankunft des Heiligen Geistes, die sie eben zu Gliedern dieses Reiches Gottes macht. Diese Seligpreisung ist eine Verheißung an jene, die schon im Kernprozeß der Wiedergeburt zum Reiche Gottes leben, das nicht für die »religiös Satten«, sondern für die nach Gott Hungernden und Dürstenden bereitet ist.

 

Diesen Bürgern des Reiches Gottes wird gesagt, daß sie das Salz der Erde (5,13) sind, ihnen wird verheißen, daß sie das Licht der Welt (5,14) sein sollen.

 

Jesus bringt für dieses Reich kein neues Gesetz (ein neues Gesetz bringt immer nur der Antichrist), sondern die Gerechtigkeit im Reiche Gottes erfüllt das Gesetz Gottes. Die Gerechtigkeit des Reiches Gottes ist anders und besser als die sogenannte Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten, die den Sinn des Gesetzes Gottes verfehlen und in das Reich Gottes nicht eingehen werden.

 

Liebe zu den Feinden ist Reichsgottesethos, das nur in der Liebe möglich ist. Nur in der Teilhabe an seinem Leiden, das Schuld wegträgt, kann Schuld überwunden werden. In der Bergpredigt heißt es: »Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid« (Matth. 5,44). Söhne Gottes aber sind nur die, die der Geist Gottes treibt (Röm. 8,14). Nur da, wo der »Geist unserem Geist Zeugnis gibt, daß wir Gottes Kinder sind« (Röm. 8,16), kann die Kindschaft im Reiche Gottes verwirklicht werden. Ausdrücklich betont der Apostel, daß wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist Gottes Kinder sind (Röm. 9,8). Nur die, die im Glauben sind, sind Söhne Abrahams (Gal. 3,7). Feindesliebe ist also keine goldene Regel für die Welt, kann es und darf es nicht sein, denn die Feindesliebe setzt die Sohnschaft im Reiche Gottes voraus.

 

Nur im Reiche Gottes, nur in der Wirklichkeit des leidenden Gottesknechtes ist die Macht des Bösen überwunden. Daß wir dem Bösen nicht widerstehen sollen, scheint in einem Gegensatz zu stehen zur Aussage des Apostels Petrus (1. Petr. 5,9), daß wir dem Bösen »im Glauben widerstehen sollen«. Aber das ist im Grunde ein Kommentar zu der Bergpredigt in dem Sinn, daß der Kampf gegen die Macht des Bösen nicht unser, sondern Christi Kampf ist. Durch die Reichsgotteswirklichkeit sind Christen in Christus; an und in ihnen vergegenwärtigt sich das Kämpfen, Leiden, Siegen und Auferstehen des Heilandes. In den Gleichnissen vom Weinstock (Joh. 15), in den Aussagen des Paulus über die Taufe (vor allem Röm. 6) wird dieses Einssein zum Ausdruck gebracht. Diese Gemeinschaft mit Christus gipfelt in der Botschaft (Gal. 2,20): »Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt im Fleische lebe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat.«

 

In diesem Zusammenhang versteht sich die Aussage: »Ich aber sage euch, daß ihr dem Bösen nicht widerstehen sollt, sondern wer dich auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den anderen dar …« (Matth. 5,39). Aus der Vollmacht der Siegesgewißheit kann sich die Überwindung des Bösen so ereignen, kann das Reich Gottes so mächtig werden, daß eben in der Christuswirklichkeit das Böse in seiner zwischenmenschlichen Gestalt vernichtet wird. Da ist keine Strategie des Quietismus entwickelt, keine masochistische Orgie inszeniert, sondern der Triumph des Gottesreiches wird hier in der Bergpredigt dargestellt: Aggression wird in Frieden verwandelt, so daß ich, sicher über Ohrfeigen und Beleidigungen hinwegschreitend, die Gemeinschaft der Brüder in Christus aufrichten kann. Das Leiden, das ich in dieser Überwindung des Bösen erfahre, ist dann nicht mein Leiden, sondern das Leiden Christi, das mich trägt.

 

Die Bergpredigt ist hier nicht Gesetz, sondern Evangelium, die frohe Botschaft von der neuen Möglichkeit des Reiches Gottes, die — schon in der Bergpredigt — vom Auferstehungstriumph Christi lebt! Der in der Bergpredigt lehrende Christus ist der zum Kreuz und in die Herrlichkeit der Auferstehung schreitende Christus. Gott hat durch Christus die Macht des Bösen zur Schau gestellt! Das »Widersteht-nicht-dem-Bösen« bleibt sinnlos, wenn es nicht vom Triumph Christi über die Macht des Bösen her verstanden wird, wie er im Kolosserbrief zum Ausdruck kommt: »Denn nachdem er die Gewalten und Mächte gänzlich entwaffnet hatte, führte er sie öffentlich zur Schau und triumphierte über sie« (Kol. 2,15). Nur im Lichte dieses Triumphes kann die Bergpredigt verstanden werden.

 

Fassen wir das Ergebnis zusammen: In einer dreifachen Weise lebt der Christ zwischen Ankunft und Wiederkunft Christi unter dem Gebot Gottes:

 

1. Das in der Bibel geoffenbarte Gesetz Gottes ist die Grundvoraussetzung menschwürdigen Lebens auf dieser Welt für alle Völker. Dieser sogenannte »Usus politucus« ist aber nur da möglich, wo die Verkündigung des Wortes Gottes auch möglich ist. Das Gesetz Gottes ist nicht »Natur«, sondern Offenbarung.

 

2. Das Gesetz Gottes ist und bleibt Anklage auch für den Christen. So wahr der Christ auch als Christ Sünder bleibt, so wahr wird er am Gesetz Gottes erkennen, daß er aus der Gnade und versöhnenden Vergebung allein vor Gott bestehen kann. Die radikale Formulierung des Gesetzes in der Bergpredigt (z.B.: »Jeder, der eine Ehefrau ansieht, um sie zu begehren, hat ihr gegenüber in seinem Herzen schon Ehebruch begangen«, Matth. 5,28, und: »Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen sein«, Matth. 5,22) zerstört die Illusion, als könnte der Christ ohne diese Vergebung leben. Auch für den Christen gilt der usus pädagogicus.

 

3. Die Kraft der das Leben wandelnden Gnade Gottes, die Gaben des Heiligen Geistes wie Glaube, Liebe und Hoffnung sind nicht gegen, sondern für das Gebot Gottes. Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes. Das Gesetz ist und bleibt Norm für das Handeln des Christen; es hat für ihn nicht allein die erdrückende Anklagefunktion, sondern ist Wegweisung für ein sinnvolles Leben, das mit Dank gegen Gott gelebt wird. Hier erfahren wir die ursprüngliche, »evangelische« Bedeutung des Gesetzes als Bund Gottes mit seinem erwählten Volk. Durch die Kraft der Erlösung in der christlichen Gemeinde kommt das Gesetz zur Entfaltung seines eigentlichen Zieles.

Wie sich diese Verwirklichung des Gesetzes in der Konfliktsituation, in sittlichen Entscheidungen, darstellt, soll im folgenden Kapitel ausgeführt werden.

Ethos im Konflikt

Die qualvolle Spannung zwischen Gut und Böse wird deutlich in der ethischen Entscheidung, die zumeist unerwartet und ganz sicher auch unerwünscht wie ein listiger Überfall in den »normalen« Lebenslauf einbrechen kann. Die so in einer ganz konkreten Situation erfahrene Wirklichkeit des Ethos als Entscheidung zwischen Gut und Böse meldet sich im Konflikt. Dieser Konflikt stellt sich nicht als eine problemlose Wahl zwischen mehr oder weniger angenehmen Möglichkeiten dar. Der Konflikt als ethischer Konflikt meint die Entscheidung zwischen zwei Werten, die sich zunächst beide als einander widersprechende Möglichkeiten in der Notwendigkeit des Tuns oder Lassens aufdrängen. Jedes Menschenleben, das bewußt gelebt wird, kennt diese Konflikte.

Jeder dieser Konflikte hat seine Einzigartigkeit, denn er steht innerhalb des Ganzen des Lebenslaufes eines jeden einzelnen, und jedes Leben ist anders. Es kann deswegen in einer christlichen Ethik nie eine sogenannte Kasuistik geben, die aus einer programmierten Kolossalspeicherung die jeweils anzunehmende Lösung des Konfliktes abruft. Deswegen kann nur mit dem Vorbehalt der jeweils nicht faßbaren individuellen Situation an Beispielen verdeutlicht werden, was ein Konflikt ist: Überlebende einer Schiffskatastrophe haben in einem überbelasteten Rettungsboot einen Menschen zuviel an Bord. Das Boot droht zu sinken. Etwa fünfzig Menschen sterben, oder einer wird geopfert.
Ein anderes Beispiel: Eine Mutter wird nach sicherer Diagnose bei der Geburt des zu erwartenden Kindes sterben, wenn keine Abtreibung vorgenommen wird.
Oder: In einem besetzten Land halten sich in einem Haus Juden versteckt, und nur durch gezielte Lüge können diese Menschen vor dem Verderben gerettet werden.
Oder: 1933 tritt ein für lange Zeit Arbeitsloser und damit in eine Krise seiner Person geratener Angestellter der Partei Hitlers bei, um dadurch Arbeit zu bekommen und seine kränkelnden Kinder aus einer feuchtdunklen Kellerwohnung zu befreien.
Oder: Eine vergewaltigte Vierzehnjährige will den Fötus abtreiben lassen, weil sie meint, sonst seelisch kaputtzugehen.
Oder: Bauern beschließen den bewaffneten Aufstand, weil sie das ius primae noctis, das Recht zum ersten geschlechtlichen Verkehr mit der Braut eines »Hörigen« durch den Feudalherrn, nicht hinnehmen können und wollen.
Oder: Ein erfahrener Jurist entschließt sich zur Mitarbeit an den Nürnberger Rassengesetzen des Dritten Reiches, um für die Juden durch diese Mitarbeit in der »Rechtsprechung« zu retten, was noch zu retten ist.
Oder: Ein erfahrener Fachmann nimmt in der Regierung eines korrupten und inhumanen Regimes ein Ministerium an, um eine Hungerkatastrophe für dieses Land abzuwehren.
Oder: Ein Prüfender entschließt sich zur ungewöhnlichen Milde im Examen, um einem Kandidaten zu helfen, der im Falle des Nichtbestehens Selbstmord begehen würde.

In all diesen Fällen steht Wert gegen Wert: Das Leben des einzelnen gegen das Leben vieler. Das Leben der Mutter gegen das Leben des ungeborenen Kindes, Lüge gegen das Leben unschuldig Verfolgter, politische Gesinnung gegen praktische Hilfe, Gerechtigkeit gegen Barmherzigkeit, Würde der Frau gegen »repressive Autorität« usw.

In einem echten Konflikt begegnen einander Faktoren. Das sind Fakten, die sich zu einer Scheidung im Sinne einer Entscheidung aufdrängen und damit zu ethischen Entscheidungsfaktoren werden. Es muß geschieden, ausgewählt werden: Die Fakten melden die Härte des Konfliktes, weil das Ausscheiden eines Faktors objektiv gegen das Gebot Gottes ist: Wenn ein Kind abgetrieben wird (das Faktum Kind als Entscheidungsfaktor also ausgeschieden wird), um das Leben der Mutter zu retten, dann ist diese Abtreibung objektiv (als bewußte und geplante Tötung) Mord. Der Konflikt meldet die Frage, ob eine schuldlose Lösung überhaupt möglich ist, ob nicht vielmehr jede Entscheidung in einem echten Konflikt die Bereitschaft zur »Schuldübernahme« unumgänglich macht.

Bevor auf diese — im wahrsten Sinne des Wortes quälende — Problematik eingegangen wird, stellt sich noch eine andere Frage: Warum kann und muß es überhaupt solche Konflikte geben? Wie ist es möglich, daß das Licht der von Gott gebotenen Gerechtigkeit und Ordnung durch den Konflikt in so unheimlicher Weise verdunkelt wird?

Jeder echte Konflikt hat seine Ursache in der Zwiespältigkeit dieser Welt. Der Konflikt meldet konkret die Zwiespältigkeit der Schöpfung.
Zwiespältigkeit meint die Spannung zwischen Gut und Böse,
Gott und Satan, Licht und Finsternis in der Welt und in jedem Menschen. Der Konflikt ist deshalb nicht Zufall oder Ausnahme, und die ethische Entscheidung ist nicht einsamer, dramatischer Höhepunkt, sondern er ist die aufgegebene Herausforderung einer Welt, die im Schatten des Bösen lebt.
Ethos steht also im Konflikt,
das heißt in der aufgegebenen Spannung zwischen Herausforderung und Antwort.

Die Erfahrung dieses Konfliktes ist im Gegensatz zum Dahindämmern der Heiden im Banne der Faszinationskraft ihrer Götter ein Charakteristikum christlicher Existenz. Erst das Reich Gottes in seiner Vollendung, also in der Wiederkehr Christi, ist ohne Konflikt. Das Reich Gottes auf dieser Erde ist Kampf, ist der Prozeß des permanenten Konfliktes. Ein Konflikt ist also nicht Zufall oder Schicksal, sondern die stürmische und bohrend drängende Anmeldung des Bösen, das triumphierend fragt, wo denn und wie denn sein sich im Konflikt ausbauender bedrohlicher Herrschaftsbereich wohl überwunden werden könnte. Im so verstandenen Konflikt wird offenbar, wie Ethos Reichsgotteskampf gegen die Macht der Finsternis ist. Konflikte können deswegen auf keinen Fall bedeuten, daß sie eine collisio obligationun, also ein Zusammenstoß von Geboten in dem Sinne seien, als ob sich biblisches Ethos widersprechen könne. Der vom Konflikt Überfallene wählt nicht aus einer Vielfalt von interessanten ethischen Möglichkeiten, sondern er wählt zwischen Sein und Nichtssein, Himmel und Hölle, Gut und Böse.

Ein Konflikt ist niemals unlösbar. Im Konflikt soll der Christ nicht zusammenbrechen, sondern er soll ihn überwinden. So wahr das Reich Gottes seinen Weg auf dieser Welt zu seinem Ziele nimmt, so wahr wird jeder Bürger im Reiche Gottes seinen persönlichen, zunächst gerade ihn angehenden Konflikt auf dem Wege dieses wandernden Gottesvolkes lösen:
Das wandernde Gottesvolk ist Dynamik zum Ziel. Der einzelne darf die Gewißheit haben, daß er zu diesem Ziel hin mitgenommen wird und daß von diesem Ziel her seine Entscheidung eigentlich schon gelöst ist. Die Überwindung ist die Verheißung dessen, der überwunden hat (1. Joh. 5,4): »Was von Gott geboren ist, überwindet die Welt!«
Der ethische Konflikt wird als Herausforderung der Welt überwunden. Ein Konflikt kann nicht ohne »Wunden«, ohne »Verwundung« überwunden werden. Dieses Verwinden eines Konfliktes wird nicht ohne Zusammenhang mit Schuld sein: »Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden« (Offb. 3,5). Der Überwindende braucht das Kleid der Reinigung, die Gabe der Vergebung. Ethos und Heil, sittliche Entscheidung und Vergebung stehen in einem unauflösbaren Zusammenhang.

Im Blick auf die Lösung eines Konfliktes gebraucht der holländische Ethiker Jochem Douma den Begriff Kompromiß. Der Kompromiß — so meint dieser reformierte Theologe — liegt zwischen einem Minimum des Erreichbaren, hinter das man nicht zurückgehen darf, und einem Maximum, das auf dieser Welt, in der wir auf Hoffnung leben, nicht erreicht werden kann.

Der Ausdruck Kompromiß für die Auflösung eines Konfliktes ist aber — auch in der Sache — fragwürdig, und noch schlimmer wäre es, wenn man von einer theologischen Kompromißethik sprechen würde. Der Terminus Kompromiß hat im deutschen Sprachraum eben etwas »Kompromittierendes« an sich. Im deutschen Sprachgebrauch von »Kompromiß« schwingen Resignation und Anpassung mit. Im Kompromiß liegt etwas »Statisches«, ein Sichabfinden mit Gegebenheiten, wie sie nun einmal da sind. Das kann aber nicht der Sinn des Reichsgottesethos sein. Ethos drängt auf Verwirklichung des Reiches Gottes in einer gefallenen Welt, es ist nicht ein Sichtabfinden mit Herausforderungen, sondern ein Überwinden in dem Sinne, daß die Lösung eines Konfliktes uns als Bürger des Reiches Gottes wirklich weiterbringt zum Ziele der Heiligung.

Die Auflösung eines Konfliktes »endet« nicht mit einem Kompromiß, sondern führt zu einem Ziel, zum Telos, das Gott setzt, so daß — wenn wir schon einen Namen wählen — eher von einer Telos-Ethik als von einer Kompromißethik in diesem Zusammenhang gesprochen werden sollte.

Weil dieser Telos, das Ziel, auf das hin die ethische Entscheidung gefällt wird, durch die Spannung von Gut und Böse in der Zwiespältigkeit unseres Daseins hindurch muß, geht es um eine dialektische Telos-Ethik. Diese Telos-Ethik ist in der Dialektik von Herausforderung und Antwort durch folgende Elemente bestimmt:

1. Ausgang ist der notwendige Konflikt zwischen zwei Möglichkeiten des Handelns, die eine Entscheidung unumgänglich machen.

2. In diesem Konflikt weiß sich der Entscheidende verantwortlich gegenüber Gott, der durch sein unfehlbares Wort seinen Willen bekundet. Jede Entscheidung geschieht aus der Verantwortung nicht gegenüber einer Summe von Geboten, sondern gegenüber dem Gott, der diese Gebote geboten hat. Die christliche Entscheidung eines Christen ist durch das Vertrauen in diesen sich offenbarenden Gott motiviert.

3. Wer im Reiche Gottes lebt, lebt aus Liebe, Glaube und Hoffnung. Also sind Glaube, Liebe und Hoffnung in der Überwindung eines Konfliktes die »Entscheidungsträger«. Glaube, Liebe und Hoffnung sind keine Motivation »aus sich«, sondern sie sind »geworden« aus der Begegnung mit dem geoffenbarten Gott.

4. Die Entscheidung angesichts eines Konflikts ist bestimmt durch das Ziel. Der Christ entscheidet sich in der Verantwortung vor Gott für Gott und sein Handeln.

Wer sich gegen ein »Ordnungssystem« erhebt, in dem Frauen »legal« vergewaltigt werden dürfen und die Herrschaft des Menschen über die Menschen ihre Triumphe feiert, wählt als Ziel die Gerechtigkeit und Freiheit und wählt als legitimes Mittel die Zerstörung der Repression im System der Gewalt. Durch Vertrauen auf ein Ziel (Wille) des offenbarenden Gottes wird jede ethische Entscheidung motiviert sein. Der Kampf gegen Unterdrückung ist z.B. das legitime Mittel zum Zweck der Befreiung. Der Zweck als das offenbarte Zielgebot Gottes heiligt dann die Mittel. Jehus Aufstand gegen Ahab war bestimmt durch dieses Ziel der Gerechtigkeit und der Freiheit von den repressiven Götzen Isebels. Das legitime Mittel der Gewalt brachte Isebels und der Götzen Tod (»Jehu handelte aber mit Hinterlist, um die Diener des Baal umzubringen« 2. Kön. 10,2).

Das andere Beispiel einer theologischen Auflösung des Konfliktes ist die Hure Rahab. Über die »Hure Rahab« schreibt Jakobus: »Ist aber nicht ebenso auch die Dirne Rahab aus Werken gerecht gesprochen worden, weil sie die Boten aufnahm und auf einem anderen Weg hinaus ließ?« (Jak. 2,24—25). Aber die Hure Rahab betrog ihre »Obrigkeit«, sie belog die Gesandten des Königs von Jericho, weil sie das Versteck der Kundschafter Israels nicht nur nicht preisgab, sondern zur Entfaltung der subversiven Manöver der »Staatsfeinde« direkt beitrug. Die Kundschafter Israels waren gekommen, um eine Eroberung vorzubereiten, die in einer totalen Ausrottung dieses Königreiches enden sollte. Die Hure Rahab beging also Hochverrat. Dieser Hochverrat war ein Instrument zur Verwirklichung jenes Zieles, das im Heilsplan Gottes beschlossen lag. Die Prostituierte Rahab wußte im Unterschied zum König von Jericho, also im Unterschied zu ihrer Obrigkeit, »daß euch der Herr das Land gegeben hat, denn ein Schrecken vor euch hat uns befallen, und alle Bewohner des Landes sind vor euch verzagt… Denn der Herr, euer Gott, ist oben im Himmel und unten auf Erden« (Jos. 2,9). Aus der totalen Vernichtung Jerichos wurde die Hure Rahab gerettet. Rahabs Entscheid im Konflikt zwischen Staatstreue und dem Heilshandeln Gottes war auf das Reich Gottes gerichtet. Ihr Glaube an dieses Reich, an dieses Ziel, löste den Konflikt und rettete ihr Leben. Sie ging ein in das Reich der Ahnen, aus denen der Messias kam. Der Unterschied zur Theologie der Befreiung liegt in diesen Beispielen darin, daß das Handeln am offenbarenden Willen Gottes orientiert ist, so wie er sich im Gesetz darstellt.

5. Ein Konflikt kann nicht ohne Schuld und damit auch nicht ohne Vergebung überwunden werden. Denn in jedem Fall geht es ja nicht darum, wieviel Schuld dieser oder jener bei der Lösung dieses oder jenes Konfliktes »hat«, sondern daß dieser und jener in der Schuld ist. Sünde ist ja nicht ein Haben, sondern ein Sein. Die Hure Rahab hatte nicht Schuld, sondern sie war in der Schuld. Auch sie hätte dem Gericht über Jericho verfallen müssen, wenn sie nicht durch den Glauben an den Gott Israels gerettet worden wäre. Und in ihrem Konflikt zwischen der »Obrigkeit« Jerichos und dem wandernden Gottesvolk hat sie die Schuld des Verrates ihrer Obrigkeit auf sich genommen.

Es liegt ein tiefgreifender Sinn in der Aussage, daß der, der handelt, schuldig wird. Dieses Schuldigwerden liegt einmal darin, daß Christen auch als Erlöste und Geheiligte bei allen Entscheidungen auch immer noch durch das Fleisch mit motiviert sind —, es gibt keine noch so »edlen« Entscheidungen, in denen nicht das Fleisch in seiner Fleischlichkeit leidenschaftlich mitschwingen würde. Das Schuldigwerden liegt aber auch darin, daß die Entscheidungssituation immer eine Situation aus einer gefallenen Welt darstellt. Die Situation der gefallenen Welt kann nicht in die Situation des Paradieses verwandelt werden — jede Entscheidung auf ein Ziel erreicht ja das Ziel niemals ganz. Die Lösung eines Konfliktes schafft keine vollkommene Reichsgotteswirklichkeit. Es gibt in der Lösung eines ethischen Konfliktes Gewißheit, aber niemals Sicherheit. Diese Gewißheit bedeutet, daß der Handelnde im Einklang mit dem Willen Gottes auf das Ziel Gottes hin sich entscheidet. Sie bedeutet aber auch, daß er in dieser Entscheidung der Vergebung Gottes bedarf.

In der Lösung eines Konfliktes muß das Gewissen erforscht, die Motivation des Handelns offenbar werden. Fleischliche Gier und Rachsucht können gerade in einer theologischen Ethik grausame Scherze treiben. Die theologische Ethik ist christliche, also Bekehrungs- und Wiedergeburtsethik. Die theologische Ethik setzt die Bekehrung zu Gott und die Kreuzigung des Fleisches und damit aller selbstgerechten Motivation voraus. Der Schmerz eines Konfliktes liegt vor allem in der Kreuzigung des Fleisches, auf daß nicht Selbstverwirklichung, sondern das Reich Gottes zum Ziele kommt. Die Hure Rahab hatte die Kreuzigung ihres Fleisches (jedenfalls in dieser politischen Dimension) erfahren, als der Schrecken des nahenden Gottesvolkes über sie kam. Sie handelte nicht nur um ihr Leben, sondern auch, um ihre Seele zu retten. (Hebr. 11,31: »Wegen ihres Glaubens kam Rahab, die Dirne, nicht mit den Ungehorsamen um …«) Diese Kreuzigung des Fleisches bewirkt Gott an seinen Auserwählten, solange sie leben. Das Durchtragen und Überwinden eines Konfliktes ist in sich die schmerzhafte Erfahrung der Kreuzigung des Fleisches. Aber die ethische Entscheidung steht ja nicht auf der Sicherheit oder ängstlichen Unsicherheit des Fleisches, sondern auf dem Vertrauen, das die Entscheidung vor Gott gewählt hat und von ihm zum Ziele geführt wird. Das Ergebnis der Lösung eines Konfliktes kann ja niemals im voraus berechnet, sie kann immer nur der Fügung Gottes anvertraut werden. Daß der politische Verrat der Hure Rahab einem Sieg Israels dienen würde, konnte sie sich nicht ausrechnen. Ihre Entscheidung war nicht durch Berechnung, sondern durch Vertrauen motiviert. Allein Vertrauen gibt die Gewißheit (Gewissen als syneidesis, als ein Mitwissen mit dem Willen Gottes) für das rechte Handeln. Nicht das Berechnen, das immer an der offenen Zukunft Gottes zerbricht, sondern Vertrauen kann Konflikte lösen. Die Entscheidung im Vertrauen ist dann eine Entscheidung im Geiste, in der Erleuchtung durch Gott im Lichte seines Wortes.

Ethisches Handeln braucht das »Konfliktbewußtsein«. Die Faktoren eines Konfliktes müssen klar als solche ausgemacht werden. In der praktischen, unmittelbaren ethischen Entscheidung geschieht das natürlich alles mehr oder weniger unbewußt. Aber die Faktoren melden sich, sonst gäbe es nicht Schmerz und Qual der Entscheidung. Die theologische Ethik hat diese Faktoren als solche zu reflektieren. In einem magnetischen Feld ordnen sich die Eisenspäne durch die Polarisierung. Genauso werden sich in einem ethischen Feld die Faktoren eines Konfliktfeldes dem Ziele des Gottesreiches zuordnen. Die Sabbatheilungen Christi sind Zeichen einer Dynamisierung des Ethos auf das Ziel des Reiches Gottes. Die Heilungen Christi am Sabbat sind allerdings keine Konfliktlösung in dem Sinne, wie Christen Konflikte überwinden. Christus löst nicht einen Konflikt, sondern er gebietet aus der Vollmacht, er schafft Reichsgotteswirklichkeit.

 

Alle Konfliktmodelle, die hier angeführt wurden, sind im Wirkungsbereich Christi undenkbar. Wenn Überlebende einer Schiffskatastrophe in einem Rettungsboot einen Menschen opfern müßten, um zu überleben, würde Christus diese Konfliktlösung nicht gestatten. Er würde dem Meere »gebieten« und durch diese Reichsgotteswirklichkeit alle Verlorenen retten. Christus hat Konflikte nicht überwunden, sondern er hat neue Wirklichkeiten geschaffen. Die Schuldhaftigkeit unserer ethischen Entscheidung offenbart sich an der Vollmachtslosigkeit und Kraftlosigkeit unserer Existenz im Vergleich zu der weltverändernden Macht des Heilandes. Unsere Schuld ist unsere Schwachheit, unser Kleinglaube. Weil er aber diese Schuld — auch im Blick auf unsere ethischen Entscheidungen — getragen hat, können wir überhaupt handeln.

Christus ist das Ziel, wir folgen dem Ziel. Dieses Ziel ist entscheidend. Wir erkennen es am Beispiel des Sabbat: Wenn Christus Kranke heilt am Sabbat gegen die öde Moralität der Pharisäer, »teleogisiert« er den Sabbat, er hebt den Sabbat nicht auf, aber er gibt dem Sabbat das Ziel. Der Menschensohn, der Christus, ist nicht für den Sabbat, sondern der Sabbat ist für den Christus. Christus in seinem Heilshandeln setzt die neue Reichsgotteswirklichkeit. Aber wir können diese Reichsgotteswirklichkeit niemals so erfüllen, wie er sie erfüllt hat — und das wird unsere Schuld bei der Lösung eines jeden Konfliktes sein.

Einen anderen uns zunächst sehr herausfordernden Aspekt in der Verwirklichung des Reichsgottesethos erkennen wir am Beispiel von Lukas 14,26: »Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine Brüder und seine Schwestern und dazu auch sein Leben haßt, kann er nicht mein Jünger sein.«

Hier werden die Gebote zur Autorität der Eltern, zur Ordnung der Ehe und sogar zum Schutz des Lebens unter einen neuen Telos gestellt. Sie werden in die Reichsgottesdynamik einbezogen. Das fünfte Gebot »Du sollst Vater und Mutter ehren« und Jesu Aufruf, daß ein Christ in der Nachfolge Vater und Mutter hassen könnte, scheinen zunächst einander radikal widersprechende Gebote zu sein, die einen ebenso radikalen Konflikt zwischen den »Werten« Familie und Jesusnachfolge anmelden könnten. Also gibt es doch einen Konflikt zwischen den Geboten Gottes, in diesem Falle einen Konflikt zwischen Nachfolge und Familie oder Ehe?

In der Tat ist der Konflikt zwischen Nachfolge und der Schöpfungsordnung Familie ein sehr häufiger und sich quälend darstellender Konflikt, und die Aussage Jesu zeigt eindeutig, daß dieser Konflikt nur im Blick auf das Ziel der Reichsgotteswirklichkeit, also der Nachfolge, entschieden werden kann. Aber der Aufruf Jesu meint mehr als die Zielsetzung für die Lösung eines Konfliktes. In diesen grundsätzlichen Aussagen werden die Schöpfungsordnungen Familie und Ehe in eine neue Sinngebung hineingestellt, in die Nachfolgeordnung des Reiches Gottes. Familie und Ehe stehen im Reiche Gottes nun unter der Wirklichkeit von Kreuz und Auferstehung und empfangen von daher Kraft und Sinngebung. Wenn sich diese Sinngebung in der Familie oder in der Ehe nicht erfüllt, dann muß sie eben gegen Familie und Ehe gesucht und gelebt werden.

Was immer dem Reiche Gottes entgegensteht, muß um des Zieles des Reiches Gottes willen verneint werden. Ehe und Familie (genauso wie Besitz und sogar das eigene Leben) werden damit nicht verneint oder in einen Gegensatz zum Reiche Gottes gestellt. Sondern diese Ordnungen oder Werte werden in die Reichsgotteswirklichkeit integriert, sie sind nun wie die Eisensplitter in einem magnetischen Feld ausgerichtet zum Magneten, sie sind — wenn das einmal so theologischkühl formuliert werden darf — Faktoren in einem ethischen Feld, dessen Magnet die Reichsgotteswirklichkeit ist.

Ethos im Konflikt bedeutet heute vor allem auch die Konfrontation zwischen christlichem und modernem Ethos in allen Bereichen des Daseins. Konflikte können christliche Existenz heute vor allem dadurch bedrohen, daß eine staatliche Gesetzgebung und Rechtsprechung christlichem Ethos direkt widerspricht. Die christliche Gemeinde wird eine Eskalation solcher Konfliktsituationen erwarten müssen.

Dafür ein Beispiel: Nach dem am 1. Juli 1977 in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getretenen Eherecht entfällt bei einer Scheidung das Urteil nach Schuld und Sühne. An die Stelle des Schuldprinzips trat das Zerrüttungsprinzip, nachdem eine Ehe gescheitert ist, »wenn die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, daß die Ehegatten sie wieder herstellen«. Eine Ehe muß auch dann geschieden werden, wenn ein Partner dieser Scheidung widerspricht. In diesem Falle wird die Ehe nach dreijähriger und in Härtefällen nach fünfjähriger Trennungszeit geschieden (Fristenautomatik).

Während bei der Anwendung des Schuldprinzips nur der schuldige Teil für den Unterhalt des geschiedenen Partners aufkommen mußte, wird seit 1977 ohne Rücksicht darauf, wer zum Scheitern der Ehe beigetragen hat, der finanziell Stärkere zur Kasse gebeten. Ein in der Ehe treu gebliebener Partner kann durch den ehebrecherischen Partner nicht nur zur Auflösung der Ehe, sondern darüber hinaus auch noch zur Finanzierung einer als ehebrecherisch zu beurteilenden Partnerschaft, die vielleicht sogar das Scheitern der Ehe verursacht hat, gezwungen werden. Mit anderen Worten: Der christliche Ehepartner, der treu zur Ehe stand, kann mittelbar gezwungen werden, den ehebrecherischen Liebhaber seines Ehepartners zu finanzieren.

Eine Gesellschaft, die absolute Werte in Frage stellt, muß ihr »Werte-Vakuum« zwangsläufig auch jenen aufdrängen, die, wie die Christen, absoluten Werten gegenüber verpflichtet sind. Das »neutrale« Nein zu absoluten Werten schlägt automatisch um in eine aggressive Zerstörung dieser Werte. Hier offenbart sich die Wahrheit der Bibel, daß eine Gesellschaft ohne Gerechtigkeit gar nicht existieren kann.

 

Wenn eine Gesellschaft Homophile »gleichwertig« in eine Lebensordnung integrieren will und die herkömmliche Ehe der homophilen Partnerschaft gleichsetzt, dann entsteht ein Konflikt, ebenso wenn z.B. eine christliche Schule sich weigert, einen homophilen Lehrer einzustellen — weil das für den wertneutralen Staat eine Indiskriminierung wäre.

 

Dies ist nur ein Beispiel unter vielen anderen, das die Werteverlorenheit moderner Gesellschaft meldet. Vor allem im Blick auf die Lebensordnungen Ehe, Familie und Eigentum beobachten wir in der Gesetzgebung die krebsartige Ausweitung solcher Ungerechtigkeitsstrukturen, die Ausgangspunkte für zahllose schwerwiegende Konflikte sind. Eine emanzipatorische Ideologie führt zu einer emanzipatorischen Gesellschaftsordnung. Das meint in letzter Konsequenz, daß eine emanzipatorische Gesellschaft den modernen Menschen aus allen Ordnungen Gottes entlassen will. Unmittelbar bedeutet das für die Familie, daß Väter und Mütter ihrem Erziehungsauftrag, den sie vor Gott zu verantworten haben, nicht mehr nachkommen können. Sie sind mehr oder weniger gezwungen, ihre Kinder in staatlichen Schulen den Indoktrinationen dieser christentumsverfremdenden Emanzipation auszuliefern. Sie müssen Gesetze akzeptieren, die aus diesem emanzipatorischen Geiste heraus ihnen die Kinder gleichsam wegnehmen.

Nach einem anderen Beispiel können heute in vielen modernen Staaten Ärzte gezwungen werden, einen Abortus provocatus zu betreiben, weil Abtreibung nicht als Mord ungeborenen Lebens, sondern als Heilung und Schwangerschaft als Krankheit abqualifiziert (und von Krankenkassen bezahlt) werden und damit folgerichtig (in der Logik des Bösen) die Verweigerung der Abtreibung als unterlassene ärztliche Hilfeleistung bestraft werden kann.

In totalitären Staaten, in denen das kollektive Menschenrecht dem individuellen Menschenrecht übergeordnet wird und sich alles »Recht« an einer unchristlichen Ideologie orientiert, können diese Konflikte zu unerträglichen Lasten werden. Ein Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum der dreißiger Jahre ist Karl Barth, der sich weigerte, theologische Vorlesungen mit dem Hitlergruß zu beginnen und — wenn auch nur vorübergehend — den Beamteneid ohne Vorbehalt zu unterschreiben. Dieses Beispiel ist angesichts dessen, was Christen an Verfolgungen erleiden mußten und müssen, keineswegs dramatisch; aber im Gesamtzusammenhang der damaligen Diskussion wird an ihm eines ganz deutlich: Es ist zunächst nicht der direkte Angriff auf das Christentum, auf seine Glaubenssubstanz, der die Konfliktsituation bereitet (dann ginge es ja auch nicht um Konflikt, sondern um Bekenntnis), sondern es geht um eine indirekte Herausforderung in dem Sinne, daß Lebens- und Gesellschaftsstrukturen entstehen, die als solche mehr indirekt als direkt wegen ihrer antichristlichen Struktur die Zwiespältigkeit dieser Welt zur Eskalation treiben.

Die Konflikte in einem totalitären, antichristlichen Staat sind so mannigfaltig wie die Lebensentscheidungen selbst. Immer geht es um die Grundsatzfrage, wie weit sich der Christ diesem unchristlichen Gesellschaftssystem anpassen kann, um seinen Lebensauftrag, seinen Beruf, seine Verantwortung für die Familie wahrnehmen zu können — um überhaupt zu überleben.

Wo ist die Grenze der Anpassung — das ist die Frage. In diesem Zusammenhang wird oft auf die Gestalt Naemans, des Syrers, verwiesen, der nach Israel zum Propheten Elisa kam, um sich vom Aussatz heilen zu lassen. Der Heide Naeman gelobte: »Dein Knecht will nicht mehr anderen Göttern Brandopfer und Schlachtopfer darbringen, sondern nur dem Herrn« (2. Kön. 5,17). Naeman war durch das Heilungswunder des Elisa zum Glauben an den Gott Israels gekommen. Naeman hatte bekannt, »daß es keinen Gott gibt auf der ganzen Welt als in Israel« (2. Kön. 5,15). Aber Naeman mußte zurück in das Land anderer Götter, in ein Land, in dem die Verehrung dieser Götter Pflicht war, also in ein »totalitäres« Land. Angesichts dieser Wirklichkeit bat der syrische Beamte Naeman um Verständnis für äußere Anpassung an den heidnischen Staatskult. Naeman sagte zum Propheten Elisa:

»Denn dein Knecht will nicht mehr anderen Göttern Brandopfer und Schlachtopfer darbringen, sondern nur dem Herrn. Doch darin wolle der Herr seinem Knecht verzeihen: Wenn mein König in den Tempel Rimmons geht, um dort anzubeten, und sich dabei auf meinem Arm stützt und auch ich dann im Tempel Rimmons niederfalle, wenn er daselbst niederfällt, so möge der Herr doch deinem Knechte in dieser Sache verzeihen! Er sprach zu ihm: Zieh hin in Frieden« (2. Kön. 5).

In der Auslegungsgeschichte dieser Stelle sehen die einen eine Billigung des Verhaltens Naemans durch Elisa, während andere in Elisas Friedenswunsch keine Billigung und Zusicherung der Gnade Gottes sehen, sondern lediglich ein jegliches Urteil völlig offenlassendes Anbefehlen an die Gnade Gottes. Wie auch immer im einzelnen diese Stelle ausgelegt wird, deutlich ist doch jedenfalls, daß Elisa hier den Naeman nicht verurteilt und der vom Aussatz befreite Syrer auch nicht wieder in seine Krankheit zurückfällt, sondern geheilt bleibt.

 

Das Problem Naemans ist das Problem vieler Christen heute im totalitären Staat. Sie alle werden sich an die Worte Jesu erinnern (Matth. 10,32): »Wer immer sich nun zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem werde auch ich mich bekennen vor meinem Vater in den Himmeln. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den werde auch ich verleugnen vor meinem Vater in dem Himmel.« Der Konflikt der Christen in der modernen Welt in allen Bereichen seines Lebens ist in dem Augenblick gegeben, da das Bekenntnis seines Glaubens angesichts einer modernen atheistischen Zivilisation auf dem Spiele steht. Ethisches Handeln im Alltag ist bis in die kleinsten Dinge des alltäglichen Lebens dann zu einer Frage des Bekennens geworden. Dieser Konflikt findet darin seine »Lösung« (und das ist sicherlich auch der Sinn des Urteils über Naeman), daß jede Handlung, die eindeutig Gott verneint, also eindeutig gegen das erste und dritte Gebot verstößt, Verrat am Reiche Gottes ist. (Um Mißverständnisse auszuschließen, ist gleich darauf hinzuweisen, daß dieser Verrat — wie wir am Beispiel des Petrus sehen — nicht Sünde wider den Heiligen Geist ist! Vergl. Matth. 26,24.)

 

Daß Naeman seinem König als hoher Beamter beim polytheistischen Staatskult zur Seite steht, indem er an diesem Staatskult teilnimmt, ist keine Leugnung des Gottes Israels. Eine Leugnung wäre es gewesen, wenn er sich deutlich und für alle unmißverständlich durch Worte oder Gebärde zu den Göttern Syriens bekannt hätte. Das tat Naeman aber nicht.

 

Auch der Apostel Paulus wurde in der Gemeinde Korinth mit dieser Problematik konfrontiert (1. Kor. 10,28). Wer in Korinth Fleisch kaufte, der kaufte in der Regel solches Fleisch, das von Opfertieren stammte, die für einen der zahlreichen Götter der damaligen antiken Welt geopfert wurden. Sollten die Christen nun deswegen überhaupt kein Fleisch mehr essen? War das Essen dieses Götzenopferfleisches ein Bekenntnis zu den Göttern der Antike und ein Verrat am Gott der Bibel und an Christus? Auf diese Frage antwortet Paulus: »Wenn euch aber jemand sagt: Das ist Opferfleisch, so esset nicht um deswillen, der darauf hingewiesen hat, und um des Gewissens willen. Ich rede aber nicht vom eigenen Gewissen, sondern von dem der anderen …«

 

Damit ist doch gemeint: Wenn jemand bei einer Mahlzeit Götzenopferfleisch ißt, kann ihm das in gar keiner Weise schaden, zumal er weiß, daß es keine Götzen gibt. Wenn aber andere, die ausdrücklich darauf hingewiesen haben, daß es sich um Götzenopferfleisch handelt, in diesem Essen des Götzenopferfleisches ein Bekenntnis zu den Götzen sehen könnten, dann darf der Christ um des Gewissens der anderen willen an diesem Mahle nicht teilnehmen.

 

Die Aussagen des Apostels bezeugen hier einen Triumph der Freiheit. Es gibt keine Götter, sie sind Nichtse, dämonische Mächte, die schon in Christus besiegt sind. Sie können Christen nicht überwältigen. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob sie Götzenopferfleisch essen oder nicht. Christen können frei, gelassen und weitherzig und keineswegs ängstlich und engherzig im Schatten der entmachteten Götter leben. In der altheidnischen und neuheidnischen Welt geht der Christ frei durch die Riten und Marotten gottferner Erfindungskraft hindurch. Hier kann er (hoffentlich ruhig) schlafen, essen, trinken und arbeiten. Nur eines kann er nicht: Er kann die Götzen und Ideologien nicht anbeten, das heißt er kann sie nicht in einer Weise bejahen, die Christus verleugnet!

 

Die Aussage des Apostels hat auch Bedeutung für die Verantwortung der Christen gegenüber denen, die ihm in der Familie anbefohlen sind. Ein Christ wird in einer neuheidnischen Welt erfahren müssen, daß die ihm anbefohlenen Kinder Wege gehen, die nicht seine Wege sind. Die Gesetze eben dieser modernen Zivilisation werden es ihm nicht gestatten, durch Verbote dort Einfluß zu nehmen, wo er Einfluß nehmen möchte. Er wird sich aber mit dem fünfzehnten Kapitel des Lukas-Evangeliums trösten, in dem der Vater die Heimkehr des verlorenen Sohnes erlebt. Emanzipation wird in mancherlei Weise hingenommen werden müssen, ohne daß der, der sie hinnimmt, dadurch schuldig wird. Es besteht für ihn ja keine Möglichkeit, sich direkt gegen die Verdikte der Emanzipation aufzulehnen. Die Lösung des Konfliktes zwischen der Verantwortung des Christen und der emanzipatorischen Verfremdung seiner Kinder wird sich dadurch lösen, daß er auf die Heimkehr des Emanzipierten hoffen darf, daß er das Seine dazu beitragen darf, daß der Weg zurück gefunden wird durch Liebe, Ermahnung und Gebet.

 

Das Umfeld des einzelnen Christen und damit auch der Gemeinde ist wie in der Zeit der Urgemeinde heidnisches Umfeld. Die Situation ist heute aber endzeitlich in dem Sinne, als die Dämonen nunmehr vermehrt zurückkehren. Die Urgemeinde erlebte den Kairos der Freiwerdung durch Bindung der Dämonen, das heidnische Terrain wich zurück. Wir leben heute jedoch in der Rückkehr der Dämonen, das heidnische Terrain baut sich wieder um uns auf. Die Christen von heute und morgen werden eine bedrückende Verflechtung mit einer Kultur erfahren, die gegen das Gesetz Gottes lebt und den Göttern, also den Dämonen unterworfen ist.

 

Wir werden bewußt an der heidnischen Struktur dieser Welt, an der Unstruktur der Gesetzesverlorenheit leiden, aber im Leiden, in der »Verwundung« können wir »überwinden«, weil wir von der Wahrheit getröstet und vom Zielpunkt dieser Wahrheit mit Hoffnung erfüllt werden. Christen leiden eben nicht sinnlos, sondern sinnvoll. Ihre Traurigkeit bewirkt nicht — wie die Traurigkeit dieser Welt — den Tod, sondern als göttliche Traurigkeit die Seligkeit (2. Kor. 7,10). Aus dieser Sicht ist Ethos im Konflikt — gerade im Konflikt mit der neuheidnisch-modernen Welt — leidendes Ethos. Oder anders gesagt: Die Auflösung eines Konfliktes, der sich aus der Spannung zwischen Reich Gottes und Welt herausfordernd ergibt, ist eine leidende Auflösung. Als solches stellt sich unser Handeln dar als ein Handeln unter dem Kreuz mit der Verheißung, daß Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. Diese Dialektik ist unumgänglich, sie liegt im Wesen des Christseins zwischen Ankunft und Wiederkunft Christi. Sie wird aufgehoben, wenn das Reich Gottes in Herrlichkeit vollendet ist, wenn wir nicht mehr im Glauben, sondern im Schauen sind.

 

EXKURS NR. 1

Ethos als Bundes- und Reichsgottesethos

Christliches Ethos ist Bundesethos und als solches Offenbarungsethos: Das Gesetz ist Offenbarung von Gottes Willen gegenüber seinem erwählten Volk. Die eine Offenbarung im Alten und im Neuen Testament ist ebenso der eine Bund Gottes mit seiner erwählten Gemeinde. Insbesondere die reformierte Theologie geht davon aus, daß Gott, den Abfall des Menschen voraussehend, Christus von Ewigkeit her für die Erlösung seiner erwählten Gemeinde vorherbestimmt hat. Für Zwingli z.B. ist bedeutsam, daß es nur eine Erwählung und auch nur eine Rede an dieses erwählte Gottesvolk gibt, zu dem ganz und gar auch das alttestamentliche Gottesvolk gehört, »damit wir mit jenen ein Volk und eine Kirche seien. Es gibt also nur ein Volk Gottes, nicht zwei… Der Glaube Abrahams und der unsrige sind eine Einheit. Weil Gott unveränderlich derselbe ist, ist er ebenso unser Gott, wie er Abrahams Gott war, und wir sind sein Volk, wie Israel sein Volk war… Wir sitzen als Christen aus den Heiden mit den Erzväter zusammen im Himmelreich«.

In diesem Sinne schrieb Zwingli an Urbanus Rhegius, daß auch Abraham durch Christus gerettet wurde. Unterschied zwischen altem und neuem Bund ist nur, daß für uns heute der verheißene Christus der erschienene Christus ist.

Bullinger, der Nachfolger Zwinglis in Zürich, betont, daß der Unterschied der Testamente nicht das Wesen, sondern nur die äußere Form beträfe. Von hier aus konnten Zwingli und Bullinger folgern, daß der christliche Glaube der älteste sei, denn von Abraham an seien schließlich alle, die glauben, Christen gewesen. Das Gesetz Gottes war diesen erwählten Gläubigen in das Herz gegeben. Nur wegen des Ungehorsams, den Israel im Auszug aus Ägypten gegen Gott lebte, wurde das Gesetz auf steinerne Tafeln geschrieben und auch das Zeremonialgesetz festgelegt. Diese Weise der Gesetzesmitteilung sei — so meinten Zwingli und Bullinger in Erinnerung an Galater 3,19 — also nur »zwischen hereingekommen«.

Auch Calvin läßt keinen Zweifel darüber, daß es vor Christus mit Israel in Abraham einen Gnadenbund gab. Den Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament sieht auch Calvin nicht in der Substanz, sondern im modus administrationis (in der Weise des Ausdrucks), denn die Verheißungen im Alten Testament seien noch mit irdischen Schattenbildern verknüpft. So sei der neue Bund »kein anderer als der von Gott wieder aufgerichtete alte Bund, den das Volk Israel gebrochen habe«, »Christus ist das Fundament des göttlichen Bundes, der uns im Alten und im Neuen Testament bezeugt wird«. Das Gesetz, insbesondere das Zeremonialgesetz, betreibe die Erwartung des kommenden Christus. Die Opfer des Alten Testamentes stünden schon im Zeichen des einen Opfers, das Christus am Kreuz dargebracht hat, denn die Versöhnung in Christus sei ewig, für alle Zeiten, für Vergangenheit und Zukunft: »Obgleich die Zeremonien nicht mehr im Gebrauch sind, so wird ihr Wesen und ihre Wahrheit doch für uns aufrecht erhalten durch die Person dessen, auf dem ihre Erfüllung besteht« (Calvin, »Corpus Reformatorum«, 9, 747).

Das Gesetz des Alten Testamentes in seiner Ganzheit ist also im Urteil reformierter Theologie für die christliche Gemeinde nicht abgetan, sondern als das in Christus erfüllte Gesetz »voll gegenwärtig« und gültig bis zur Wiederkunft Christi.

Das Reich Gottes beginnt mit Versöhnung und Erlösung in Christus, in der Sammlung der Gemeinde der Gläubigen, den Versöhnten und Erlösten, mit den großen Zeichen Christi, der Austreibung der Dämonen, Heilung der Kranken und dann vor allem mit Kreuz, Auferstehung und Ausgießung des Heiligen Geistes. Schon der Anbruch des Reiches Gottes bedeutet das Vergehen dieser Welt: »Das Wesen dieser Welt vergeht« (1. Kor. 7,31). Christliche Existenz steht in dieser Spannung zwischen dem schon beginnenden Reiche Gottes und der vergehenden Welt, zwischen dem Triumph Christi und der Feindschaft des Bösen gegen seine Gemeinde.

Das Reich Gottes ist für die Gemeinde auf dieser Welt ein Interims-Reich zwischen Ankunft und Wiederkunft Christi, und von daher ist christliches Ethos ein Interims-Ethos! Das Interims-Reich liegt in einem Spannungs- und Kampffeld zwischen dem im Himmel herrschenden Christus und der überwundenen, aber noch nicht vernichteten Macht des Bösen.

Dieses Ethos im Konflikt hat die Verheißung des Triumphes! Also immer wieder Konflikt — aber auch bis zur endzeitlichen Krise auch immer wieder Sieg! Theologische Ethik sollte von daher, also heilsgeschichtlich gesehen, als Konflikt-Ethik verstanden werden. In einem Konflikt war, ist und bleibt das Reich Christi mit dem Reiche der Welt, also mit der Obrigkeit, dem Staat oder – wie man heute sagt – mit der Gesellschaft. Diese Spannung
zwischen Weltreich und Gottesreich ist ein Schwerpunktproblem
christlicher Ethik.

Die sogenannte lutherische Zwei-Reiche-Lehre, die eigentlich erst wieder in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts ausgegraben und — zumeist mißverständlich — propagiert wurde, betont ganz energisch, daß das weltliche Reich unter dem Gesetz Gottes steht, wie es im Dekalog seinen letztgültigen Ausdruck gefunden habe. Das weltliche Reich ist bei Luther jedenfalls nicht, wie immer wieder mißverstanden wird, ein autonomes, dem Kräftespiel der Sünde überlassenes Feld.

Das geistliche Reich, die Kirche, ist nach Luther ein Gnadenreich: Evangelium, Vergebung und Gnade bestimmen diese Wirklichkeit.

Das weltliche Reich hingegen ist Gesetz und Vergeltung durch die Macht des Schwertes nach dem Maßstabe des Rechts. Das natürliche Recht und das offenbarte Gesetz wurden von Luther — wie übrigens auch von Calvin — in einem wenig komplizierten Zusammenhang gesehen, was sicherlich mit der damaligen Selbstverständlichkeit eines vorgegebenen Ethos im sogenannten christlich-abendländischen Kulturbereich zusammenhing. Eine Infragestellung dieses absoluten Rechtsanspruches, den wir aus unserer modernen Erfahrung erkennen, war für die damalige Zeit undenkbar.

Zwingli hat in seinem Brief an Ambrosius Blauro von 1528 (»Corpus Reformatorum«) das Zueinander von Staat und Kirche dynamisch und flüssiger gesehen als Luther. Bewußt wendet er sich gegen Luthers Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Reich: »Regnum Christi non est externum«, also »das Reich Christi ist nicht äußerlich« — diesen Grundsatz Luthers kann Zwingli nicht akzeptieren. Im Gegensatz zu Luther verneint Zwingli, daß die Kirche als Reich Christi nicht in die äußeren Angelegenheiten des Staates einzugreifen habe. Für Zwingli, »ganz abendländisch« gedacht, sind es ja Christen, die sowohl im weltlichen als auch im geistlichen Regiment sitzen. Das Gottesvolk umfaßt Staat und Kirche! (Ganz wesentlich anders war es bei Luther ja schließlich auch nicht, wenn er die Fürsten — wenn auch durch die »Not« getrieben — zu »Notbischöfen« der Kirche einsetzte!)

Christen im weltlichen und im geistlichen Regiment bilden nach Zwingli einen Corpus, der Leib ist der Staat, die Seele ist die Kirche. Nun wird bei Zwingli dem christlichen (aber auch nur diesem!) Staat die Schwertgewalt auch über die Kirche übertragen. Der Staat muß die Kirche schützen, und er wird sie leiten, indem er auch in ihren inneren Angelegenheiten um die Wahrheit besorgt ist. Aber das widerfährt nur jenem Staat, der der Stimme des »Propheten Zwingli« folgt!

Martin Bucher hat in seinem »De regno Christi« von 1557 mit unvorstellbar großem Einfluß auf das westliche Europa die Gedanken Zwinglis abschließend systematisiert. Der Staat (das war damals für Bucer die Monarchie) verwirklicht mit der Kirche die Reichsgottesherrschaft auf dieser Erde. Die Kirche bekommt dabei fast den Charakter eines Instrumentes des Staates. In allen äußeren Ordnungen steht die Kirche unter der Gewalt des christlichen Staates, also der christlichen Monarchie, um die Gottesherrschaft auf dieser Welt im Kampf gegen den Antichristen zu verwirklichen. Denn das Interims-Reich ist das Tausendjährige Reich, die Herrschaft der Gläubigen über die Ungläubigen, der Triumph über die Macht des Bösen, die Hure Babylon und den Antichristen.

Calvins Beurteilung des Zueinander von Staat und Kirche war nüchterner. Reich Gottes ist erlösende Herrschaft Gottes, durch die die Welt wieder in ihre ursprüngliche, von Gott gewollte Ordnung zurückgebracht werden soll (»Restitutio«). Seit der Himmelfahrt Christi, seit seiner Erhöhung zur Rechten Gottes, breitet das Reich sich aus. Nun geht es in der Reformation um eifrige Betreibung in der Ausbreitung des Gottesreiches. Das Tausendjährige Reich hat durch die Reformation gleichsam einen »Verwirklichungsschub« bekommen. Nicht nur die Kirche, die ganze Weltordnung soll auf die Ordnung Gottes gebracht werden. Calvin verwischt dabei nicht Reich Gottes und Reich der Welt, geistliches und weltliches Regiment. Beide Bereiche werden aber dynamisch aufeinander bezogen. Calvin wußte, daß es ein weltliches und ein geistliches Regiment gibt, an das weltliche Regiment wurde er ja immer wieder in Genf durch den Rat der Stadt schmerzlich erinnert. Aber das geistliche Regiment, die Kirche, ist die eigentliche Kernzelle, die Motivationskraft für die Verwirklichung des Tausendjährigen Reiches, das eigentliche Instrument der Gottesherrschaft. Denn Gottesherrschaft in dieser Welt ist die Herrschaft der Gläubigen. Die Kirche verkündigt den Gläubigen und den Ungläubigen das Evangelium und das Gesetz. Nur die erwählte Gemeinde hört das Evangelium, sie allein versteht das Gesetz und lebt es aus Dankbarkeit gegenüber der Wohltat des Evangeliums. Die Welt hingegen, die Ungläubigen, gehorchen dem Gesetz als einer »Fremdbestimmung«, die nichtsdestotrotz ihnen zu einem geordneten Leben verhilft. In dem Zueinander von Staat und Kirche, weltlichem und geistlichem Regiment ist also, wie G. Schrenk richtig feststellt, »die geistlich bestimmte, durch die Herrschaft Gottes geprägte innere Überlegenheit der Gemeinde über Staat und Gesellschaft im Calvinismus immer die Voraussetzung«.

Einen Dualismus zwischen Glaube und Welt kennt der Calvinismus nicht. Calvinistische Theologie und Philosophie haben in gleicher Weise die Welt offengelegt für ein Erkennen und Handeln aus der Kraft des Glaubens. Für die gegenwärtige holländische, calvinistische Philosophie gibt z.B. der Heilige Geist auch die Möglichkeit, »Gottes Gesetze auch im Bereich der Schöpfung zu erkennen«. Was später die calvinistische Philosophie entfalten sollte, liegt im Ansatz bei Calvin vor: Das Denken und Forschen im Reiche des Christus empfängt die Fähigkeit der Erkenntnis der Welt und ihrer Ordnung in der Kraft des Heiligen Geistes.

In der Kraft des Heiligen Geistes kann also der Christ (und natürlich nur er) die Ordnung dieser Welt, so wie sie von Gott vorgesehen ist, erkennen und in der Sprache zum Ausdruck bringen. Von der Versöhnungskraft Christi, von der Erleuchtung des Heiligen Geistes profitiert also auch die Welt. Die Welt ist selbst nicht Licht, aber sie wohnt neben dem Licht und empfängt von daher auch Wärme und Helligkeit, denn es ereignet sich christliches Abendland. Um ein Mißverständnis auszuschließen: Der Heilige Geist erleuchtet nicht die Heiden! Aber die Heiden profitieren davon, daß Christen, erleuchtet durch die Kraft des Heiligen Geistes, die Ordnung in dieser Welt erkennen und ihr gemäß handeln. Beherrschung der Natur durch Wissenschaft und Technik wäre ohne die Voraussetzung christlicher Religion undenkbar gewesen.

Im Blick auf dieses dynamische Zueinander von Welt und Gemeinde kann das weltliche Regiment bei Calvin eben nicht nur ein »weltlich Ding« sein. Weltlich Regiment soll im Lichte der Wahrheit Gottes geschehen. Die Herrschaft Christi, also der »Christokratie«, sollen die Könige der Länder und die Räte der Stadtrepubliken dienen, sie sollen für die Verbreitung seines Reiches sorgen und den Antichristen abwehren. Der Friede in einem Lande ist — nach calvinischer Lehre — nicht nur dann bedroht, wenn die Gebote Gottes mißachtet werden, sondern auch, wenn der christliche Gottesdienst unterdrückt oder behindert wird. Der Staat hat nicht nur die Pflicht, für die Kirche besorgt zu sein, sondern er muß mit Gewalt gegen ihre Feinde kämpfen (vergl. die Hinrichtung des Ketzers Servet in Genf durch das weltliche Regiment auf Antrag der Gemeinde). Die Obrigkeit muß sich klar für die christliche Lehre entscheiden — tut sie es nicht, dann ist sie gegen Christus. Gegen eine Gott ungehorsame, tyrannische Obrigkeit aber gilt das Recht des legitimen Widerstandes: »Bald erweckt er aus seinen Knechten öffentliche Rächer und rüstet sie mit seinem Befehle aus, daß sie die lasterhafte Herrschaft zur Strafe ziehen und das auf ungerechte Weise unterdrückte Volk aus dem Elend der Knechtschaft befreien« (»Opera Selecta«).

Viele reformierte Kirchen sind Calvins Urteil über das Zueinander von Staat und Kirche gefolgt. So heißt es im 36. Artikel des Niederländischen Glaubensbekenntnisses (»Confessio Belgica«) von 1561:

»Wir glauben, daß unser gütiger Gott — wegen der Verwerflichkeit des menschlichen Geschlechts — Könige, Fürsten und Obrigkeiten verordnet hat, weil er will, daß die Welt durch Gesetze und öffentliche Gewalt regiert werde, damit die Zügellosigkeit der Menschen bezwungen werde und alles in guter Ordnung unter den Menschen zugehe. Dazu hat er der Obrigkeit das Schwert in die Hand gegeben, daß die Bösen bestraft und die Frommen beschützt werden (Röm.13,4). Ihre Aufgabe ist es, nicht nur die öffentliche Ordnung und die Polizei zu handhaben und zu überwachen, sondern auch, den heiligen Kirchendienst unter ihren Schutz zu nehmen, alle Abgötterei und falschen Gottesdienst abzuwehren, um das Reich des Antichristen zugrunde zu richten und das Reich Jesu Christi zu fördern; dafür zu sorgen, daß überall das Wort des Evangeliums gepredigt und so Gott von einem jeden gelehrt und gedient werde, wie er es in seinem Wort gebietet.«

Von einer Demokratie ohne Ehrung des Namen Gottes, ohne seine Thora, würden sich die reformierten Väter — würden sie heute leben — mit Grauen abwenden. Es wäre für sie Despotismus, das Gegenteil von der Verwirklichung der Gottesherrschaft, die in der Welt durch das Gesetz Gottes und in der Gemeinde durch die Wiedergeburt in Christus verwirklicht wird. Staatliche Vollmacht und dabei Zersetzung des biblischen Ethos ist für die klassische reformatorische Theologie ein Widerspruch in sich.

Die gegenwärtige Destruktion des Ethos könnte das Ende der Ausweitung der Gottesherrschaft und die Ankunft der Gesetzlosigkeit und die Eskalation antichristlicher Macht bedeuten. Es gibt nicht mehr die Herrschaft der Gläubigen über die Ungläubigen, sondern die Gemeinde Christi findet sich als Minderheit in einer atheistisch-anti-thoraistischen Welt. Demokratie ist weitgehend Herrschaft einer antithoraisierten Gesellschaft und damit nach dem Maßstab der klassischen, reformierten Sozialethik eben despotisch.

Diese nachkonstantinische Situation der Christenheit wird vor allem in der Ökumene nicht nur nicht erkannt, sondern konstantinische Theologie wird weiter propagiert, nun allerdings ohne Nomos und Logos, dafür mit ideologischer Überfremdung der letzten Reste einer biblischen Theologie. Kontextuale Exegese und Horizontalisierung des Reichsgottesverständnisses geben die Motivationen für diesen Neokonstantinismus in der modernen Theologie.

Die Horizontalisierung des Reichsgottesverständnisses bedeutet in letzter Konsequenz, daß das Reich Gottes sich in dieser Welt evolutionär oder gar revolutionär verwirklichen soll. Die Voraussetzungen für diese Horizontalisierung schuf Oscar Cullmann mit seinem Verständnis der Zeit in biblischer Heilsgeschichte (O. Cullmann, »Christus und die Zeit«, 1948). Daß von Ewigkeit (Äon) im Plural gesprochen wird, bedeutet für Cullmann, »daß sie nicht aufhören, daß Zeit nicht Zeitlosigkeit bedeutet, sondern unendliches und daher für den menschlichen Verstand unfaßbares Weitergehen der Zeit, oder besser gesagt, unbegrenzte Aneinanderreihung begrenzter Weltzeiten, deren Aufeinanderfolge nur Gott zu übersehen vermag …, so stehen sich auf neutestamentlichem Boden nicht Zeit und Ewigkeit gegenüber, sondern begrenzte Zeit und grenzenlose, unendliche Zeit« (»Christus und die Zeit«). Nach Cullmann wird sich das Reich Gottes in der unendlichen Folge der Zeiten ohne Bruch zwischen Zeit und Ewigkeit dieser und einer ganz anderen neuen himmlischen Schöpfung verwirklichen.

Für Oscar Cullmann, den Großvater der Theologie der Befreiung, geht das Weltgeschehen auf in die Heilsgeschichte, die Weltgeschichte wird zur Heilsgeschichte, und die Heilsgeschichte wird zur Weltgeschichte: »Für diese Gegenwart ist aber nach urchristlichem Glauben gerade die Tatsache charakteristisch, daß die Welt bereits in das Heilsgeschehen in der aufgezeigten Weise einbezogen ist …« Christus habe die Dämonen gebunden, und er würde sie auch noch vernichten. Zwar ist jetzt noch Kampf und Spannung, aber im Laufe der Zeiten wird nach Cullmann die Verchristlichung eben dieser Zeit und dieses Raumes triumphieren. Jetzt schon stehe die Welt »unbewußt in Christi Herrschaft«, und die Kirche »hat es aller Welt zu verkünden, daß alle unter der Herrschaft stehen, ob sie zur Kirche gehören oder nicht«. Die Kirche weiß, was die Welt noch nicht weiß (und zum immer wieder neuen Entsetzen dieser Art von Theologie auch nie wissen wird), daß sie versöhnt und erlöst sei, daß die Allversöhnung und Allerlösung stattgefunden habe, daß für alle der Anfang gemacht und das Ende erreicht sei.

Erst heute erkennen wir die Konsequenzen des Zeit- und Raumverständnisses von Oscar Cullmann.

Peter Beyerhaus kann in seinem Buch »Aufbruch der Armen« (1981) im Blick auf unsere Situation feststellen: »Diese grundlegende Unterscheidung zwischen Heilsgeschichte und Weltgeschichte ist nun in der gesamten neuen ökumenischen Theologie der letzten zwanzig Jahre preisgegeben worden.« Für diese moderne Theologie ist in Christus nur »deutlich« geworden, was der Prozeß der Weltgeschichte ohnehin ist: Der Weg zur Freiheit und Menschenwürde, wie sie im Sinne einer emanzipatorischen Anthropologie verstanden wird. Diese Welt selbst soll auferstehen in eine neue Gesellschaft.

Peter Beyerhaus hat in seinem genannten Buch ein geradezu überwältigendes Arsenal von Belegen dafür zusammengeschleppt, daß ökumenische Neukonstantiner eindeutig die Tendenz einer evolutionären Verwirklichung des Reiches Gottes im Zeichen einer »humanen« Gesellschaftsordnung in dieser Zeit und in diesem Raum, also das Paradies auf Erden, betreiben. Eine »trinitarische« Begründung will der Metropolit Ortha Tias bringen: »Die theologische Grundlage für eine klassenlose Gesellschaft ist die klassenlose Gottheit selbst als eine klassenlose Kernfamilie. Durch den Sohn werden wir in die göttliche Familie adoptiert, um gleichermaßen an seinem Reichtum teilzuhaben«. Die Vergottung des Menschen — so meinen diese »Human-Theosophen« — sei die Entklassifizierung des Menschen — alle sind gleich in Gott. Eben die klassenlose Gesellschaft in dieser Zeit und in diesem Raum — das ist für ökumenische Theologie das Reich Gottes auf Erden!

Daß man sich für dieses grandiose Phantasieprojekt nicht auf die Heilige Schrift berufen kann, weiß man. Mit dem listenreichen Projekt einer »Kontextualen Exegese« möchte man dennoch das christomarxistische Projekt der Neuen Welt mit Bibelzitaten schmücken. Wie geht das? Die Bibel soll im Zusammenhang
(Kontext) mit den sozialen und kulturellen, vor allem auch neomarxistischen Perspektiven von heute »zusammen« gelesen werden. Dabei ist die Bezeichnung »kontextual« geradezu dämonisch, denn die einzelnen biblischen Aussagen werden nicht im
Zusammenhang mit den anderen Aussagen der Bibel gelesen, sondern sie werden gerade aus diesem gesamtbiblischen Zusammen
hang herausgerissen, um dann in den Kontext mit Ideologien und
Religionen gestellt zu werden. Die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« wird heute »ausgebaut« zu einer »Religion innerhalb der Grenzen der Sozialrevolution«. Auf dem Trümmerhaufen der sogenannten historischen Kritik, die biblische Aussagen durch Analyse und Synthese aus dem ursprünglichen Kontext herausriß, ist es eine mittels kontextualer Konstruktionen neue Religion geworden, die der Sozialregulation im Sinne des religiösen Kommunismus angepaßt ist.

 

Im »Offenbarungsverständnis« gegenwärtiger Theologie gibt es eigentlich keine Offenbarung an sich, sondern immer nur die »Erfahrung« der Offenbarung in einer bestimmten Zeit unter bestimmten Umständen. Auch die Situationsethik hängt an dieser Situationsexegese bzw. Situationsoffenbarung. Es geht im Trend der »Weltchristenheit« nicht um den Wortlaut der Schrift, sondern um ihre jeweilige politische Relevanz für das soziale Engagement. Es geht also nicht darum, was der Text an sich sagt, sondern was er für mich heute bedeutet, denn die Offenbarung ist ja in dieser »Theologie«, insbesondere in der »Theologie der Ökumene«, in einem permanenten Fluß. Was gestern oder vorgestern »offenbart« wurde, muß nach dem Maßstab gegenwärtiger »Offenbarungserfahrung« neu, d.h. schlußendlich auch anders verstanden werden, als es ursprünglich in der Bibel gemeint war. Auch die Erfahrung anderer Religionen, auch die Interpretationen moderner Revolutionäre sind »Offenbarungsgeschehen«. Denn in einer Theologie, die sich »prozessual« versteht, für die der Prozeß der Offenbarung und damit die immer neu zu geschehende Reflexion über die Offenbarung nicht abgeschlossen sind, ist selbst die Wahrheit, ja ist auch Gott noch nicht »fertig«.

 

Die Verweltlichung des Reiches Gottes, bzw. der Offenbarung und auch der christlichen Theologie, hat heute ihren Höhepunkt erreicht. Das alles ist die Perversion dessen, was biblisch-reformatorisches Verständnis von Welt- und Heilsgeschehen meint.

Die Verhorizontalisierung des Reiches, die Identifizierung von »Humanität« und »Reich Gottes« ist »Enthusiasmus« im Urteil reformatorischer Theologie, ist Proklamation des falschen Christus, der durch falsche Propheten zerredet wird. Die Verhorizontalisierung des Gottesreiches kann sich wohl auf den religiösen Liberalismus des 19. Jahrhunderts berufen, aber nicht einmal auf die Theologie Karl Barths, die im Gegensatz zu Cullmann sehr wohl durch die Spannung von Zeit und Ewigkeit, Raum und Unendlichkeit bestimmt war. Der Gedanke einer Ausklammerung der anderen Wirklichkeit Gottes zugunsten der nur einen Wirklichkeit des eindimensionalen Menschen liegt Barth fern. Folgende Sätze seien den Modernisten unserer Tage vor Augen gehalten:

»Gott unterscheidet sich in seiner Überzeitlichkeit dadurch von einem bloßen Inbegriff oder Prinzip der Zeit, daß er auch vorzeitlich und auch nachzeitlich ist, daß er also nicht wie ein solches Prinzip an unsere Zeit gebunden ist, daß diese vielmehr in seinen Händen und zu seiner Verfügung ist« (»Kirchliche Dogmatik«).

 

EXKURS NR. 2

Ethos und Heiligung

Der Kampf zwischen Geist und Fleisch in christlicher Existenz

Die klassische Formulierung reformatorischer Theologie simul iustus et peccator meint, daß auch der Christ als Gerechtfertigter und als Wiedergeborener ein Sünder ist und bleibt. Diese Formulierung ist eine Wesensaussage reformatorischen Christentums von Luther bis Calvin. Dieser reformatorische Realismus steht im Gegensatz zur römisch-katholischen Tradition und zu manchen im Grunde eine Rekatholisierung des reformatorischen Aufbruches bewirkenden protestantischen Heiligungsbewegungen. Hier wie da wird die Radikalität der Sündenverfallenheit verkannt. Durch die Taufe (so im römischen Katholizismus) bzw. durch die Bekehrung oder Wiedergeburt (so bei manchen Richtungen des Heiligungs-Pietismus) könne die Erneuerung der vollen Reichsgottesherrlichkeit verwirklicht werden, der Christ lebe nicht mehr im »Interim«, also zwischen Schon-Sein und Noch-Nicht-Sein, zwischen Gegenwart und Hoffnung, sondern in der bereits geschehenen Vollendung.

Unlängst hat Erich Mauerhofer, Dozent für Neues Testament an der F.E.T.A. in Basel, in einer Dissertation an der Theologischen Hochschule in Kampen (»Der Kampf zwischen Fleisch und Geist bei Paulus«, 1980) nicht nur exegetisch gründlich, sondern auch im Dialog mit dem Anliegen der Reformation diese Grundsatzproblematik christlicher Existenz in bewunderungswürdiger Weite und Tiefe aufgegriffen.

Das exegetische Kerngeschehen liegt im Verständnis des siebten Kapitels des Römerbriefes, also in der Beurteilung der paulinischen Spannung zwischen Fleisch und Geist, im Christwerden und im Christsein. Perfektionistische Bewegungen des Protestantismus sahen die Möglichkeit des Sieges über alle Sündenmacht so radikal, daß z.B. die fünfte Bitte des Vaterunsers (»Vergib uns unsere Schuld…«) und 1. Johannes 1,8 (»Wenn wir sagen, daß wir keine Sünder haben, führen wir uns selbst irre…«) nach ihrer Meinung keine Bedeutung mehr für wiedergeborene Christen hätten. Die Heiligungserfahrungen werden verschieden bewertet in den mannigfaltigen Heiligungsbewegungen, aber die Möglichkeit einer die Sünde (Fleischlichkeit) überwindenden Heiligkeit bis zur Erfahrung des reinen Herzens spricht doch in viele dieser Heiligungsbewegungen (wenn auch bei mannigfaltiger Akzentuierung) hinein.

Ganz im Gegensatz dazu steht Luthers Aussage zum siebten Kapitel des Römerbriefes, an die Mauerhofer neben einer sorgfältig zusammengestellten Fülle anderen Materials in seiner Monographie erinnert. In seiner Römerbriefvorlesung sagte Luther (Ausgabe von E. Ellwein von 1927):

Siehe nun, es ist so, wie ich oben sagte: Die Heiligen sind gleichzeitig damit, daß sie gerecht sind, Sünder. Gerecht sind sie, weil sie an Christus glauben, dessen Gerechtigkeit sie deckt und ihnen zugerechnet wird. Aber Sünder sind sie, weil sie das Gesetz nicht erfüllen, nicht ohne sündige Begier sind, sondern sie sind wie Kranke, die unter der Pflege des Arztes stehen, Kranke, die wirklich und wahrhaftig krank sind, aber anfangsweise und in Hoffnung gesund oder besser gesund gemacht, d.h. im Begriffe stehend, gesund zu werden.

 

Im großen Katechismus zum 3. Artikel schrieb Luther:

 

Einstweilen aber, solange die Heiligkeit erst anfangsweise da ist und erst täglich zunehmen muß, warten wir darauf, daß unser Fleisch getötet und mit allem Unflat begraben werde, aber heilig hervorkomme und auferstehe zu ganzer und völliger Heiligkeit in einem neuen, ewigen Leben. Denn für jetzt bleiben wir erst halb und halb rein und heilig; deshalb muß der Heilige Geist immerfort an uns arbeiten durch das Wort und täglich Vergebung austeilen bis auf jenes Leben, wo es keine Vergebung mehr geben wird, sondern ganz und völlig reine und heilige Menschen: Voller Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, von der Sünde, dem Tod und allem Unglück befreit und losgemacht, in einem neuen, unsterblichen und verklärten Leib. Siehe, das alles soll des Heiligen Geistes Amt und Werk sein: Auf Erden fängt er die Herrlichkeit an und mehrt sie täglich durch die zwei Stücke, die christliche Kirche und die Vergebung der Sünde; wenn wir aber der Verwesung anheim fallen, wird er in einem Augenblick es ganz vollenden und uns ewig dabei erhalten durch die letzten zwei Stücke.

 

Schon hier erkennen wir, daß Rechtfertigung und die Wirklichkeit christlicher Existenz nicht dualistisch nebeneinander stehen. Luther weiß von einem Prozeß der Heiligung, der im sündigen Menschen durch die Kraft des Heiligen Geistes bewirkt wird.

 

Auch Zwingli versteht die Freiheit von der Sünde als Frucht der Vergebung und nicht als Ergebnis der Heiligung. Hierzu bringt Mauerhofer ein aussageträchtiges Zwinglizitat:

 

»Denn jeder, der aus Gott geboren ist, sündigt nicht (1. Joh. 5,18); wer aber dem Evangelium glaubt, ist aus Gott geboren. Folglich sündigen die durch das Evangelium Wiedergeborenen nicht, d.h.: Ihre Sünden werden ihnen nicht zu Verdammnis und Tod angerechnet; denn Christus hat sie mit dem Preis seines Todes bezahlt. Denn, mögen wir auch, solange wir in diesem Leibe fern vom Herrn auf Erden wallen, nicht ohne Begierde sein können und darum nicht ohne Sünde, so ersetzt doch Christus, da er ja unser ist, alle unsere Ohnmacht …«

 

Zwingli und Calvin beurteilten Römer 7 wie auch Luther: Der Geist bleibt im Schatten der Sündenmacht. In der »Institutio« bringt Calvin noch einen anderen sehr bedeutenden Aspekt in die Diskussion über Römer 7. Dazu schreibt er:

 

Ganz deutlich wird dies alles aus den Schlußworten des Apostels: »Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen; ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinem Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt …« (Röm.7,22). Wer anders soll einen solchen Widerstreit in sich tragen als der, der aus dem Geiste wiedergeboren ist, aber zugleich die Überbleibsel des Fleisches mit sich schleppt! So hat auch Augustin, der diese ganze Stelle anfangs auf die Natur des Menschen beziehen wollte, seine Auslegung als falsch zurückgenommen. … Wollen wir aber annehmen, der Mensch habe auch ohne die Gnade gewisse, wenn auch noch so geringfügige Regungen zum Guten — was sollen wir dann dazu sagen, daß der Apostel uns für unfähig erklärt, »etwas zu denken als von uns selber?« (2. Kor. 3,5). Was sollen wir dem Herrn antworten, der durch Mose sagen läßt, alles Dichten und Trachten des menschlichen Herzens sei immer nur böse? (1. Mose 8).

 

Wer also Römer 7 als Aussage über den natürlichen, noch nicht wiedergeborenen Menschen versteht, der würde eben diesem natürlichen Menschen die Fähigkeit zubilligen müssen, daß er die Möglichkeit des Kampfes gegen das Böse und die volle Erkenntnis des Bösen und auch die Willenskraft für diesen Kampf gegen das Böse mitbringen könnte. Calvin weist in diesem Zusammenhang in seiner »Institutio« darauf hin, daß eine solche Beurteilung von Römer 7 eine gehörige Portion natürlicher Theologie und Selbsterlösung mit sich bringen müßte. Diese hohe Einschätzung der gefallenen Kreatur, diese Möglichkeiten der Natur des unbekehrten! Sünders würden aber nach reformatorischer Auffassung dem Sündenrealismus der Bibel, der totalen Verderbtheit der in Adam Gefallenen, widersprechen und die Bedeutung und Kräftigkeit des Versöhnungs- und Erlösungswerkes Christi abschwächen.

 

Alle Bekenntnisvorschriften der Reformation haben diesen Grundsatz des simul iustus et peccator durchgehalten. Die Kernaussagen in diesem siebten Kapitel des Römerbriefes ab Vers 14 lauten:

 

Wir wissen ja, daß das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich unter die Sünde verkauft. Denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht; denn nicht, was ich will, das führe ich aus, sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so stimme ich dem Gesetz bei und erkenne an, daß es gut ist. Nun aber vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt. Denn das Wollen ist zwar bei mir vorhanden, das Vollbringen des Guten aber nicht. Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das führe ich aus. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. … Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn! Also diene ich nun selbst mit meinem Innern dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde.

 

Die Kernfrage zu diesem Text ist: Spricht hier der Apostel von seinem Elendszustand vor der Bekehrung, oder meint er hier den wiedergeborenen Christen? Kennt auch der Christ diese Spannung zwischen Fleisch und Geist? Kann auch der Christ noch sündigen?

 

»Hier spricht der nicht wiedergeborene Christ, der Apostel Paulus erinnert an seine Vergangenheit« — sagen mit Nachdruck viele Heiligungsperfektionisten. »Hier klagt der bekehrte und wiedergeborene Apostel«, bekennen uni sono die reformatorischen Theologen, gleichzeitig als Nachfolger Calvins, Zwinglis und Luthers. Auch alle reformatorischen Bekenntnisschriften haben sich dieser Lehre der Reformatoren angeschlossen.

 

Der Text des siebten Kapitels des Römerbriefes ist in seinen Aussagen eindeutig, vor allem wenn man darauf achtet, daß der Apostel, der in den voraufgegangenen Versen in der Vergangenheitsform gesprochen hatte, ab Vers 14 in der Gegenwartsform spricht. Es ist vom Text her deswegen unverständlich, daß die griechischen und bis Augustin auch die lateinischen Kirchenväter diese Aussagen des Apostels als Erinnerung an die Zeit vor seiner Wiedergeburt mißverstanden und daß in der Neuzeit, also seit dem Aufkommen der Aufklärung und des Pietismus vor allem durch Spener und Francke, dem voraugustinischen Verstehen der Texte wieder Nachdruck verliehen wurde und daß der Pietismus seitdem sehr oft in der Auslegung von Römer 7 in einer merkwürdig einmütigen Gemeinschaft mit der modernen historischen Kritik aller Schattierungen steht.

 

Deswegen waren Karl Barth und Friedrich-Hermann Kohlbrügge, jeder in seiner Weise, Einsame ihrer Zeit, als sie den reformatorischen und damit auch eigentlichen Sinn von Römer 7 wiederentdeckten. Kohlbrügge war einsam im Wuppertaler Erweckungsgebiet des 19. Jahrhunderts und Karl Barth im moralischen Liberalismus seiner Zeit. Beide haben die augustinisch-reformatorische Deutung von Römer 7 durchgehalten und eigentlich auch wieder für unsere Zeit neu entdeckt.

In seinem Buch »Das 7. Kapitel des Römerbriefes«, 1893, schrieb Kohlbrügge: »Denn es geht hier darum, ob man das Gesetz beibehalten soll oder nicht, um dadurch fromm und selig zu werden. Ich bekenne es Euch frisch heraus, und Ihr mögt Euch daran prüfen, daß der Geist Gottes in Euch wohnt — wer aber den Geist Christi nicht hat, der ist nicht sein —: Ich und das Gesetz sind Gegensätze, wie Grab und Paradies, denn ich bin fleischlich…«

Die Feindschaft zwischen Fleisch und Geist bleibt — so meint Kohlbrügge — auch bei dem wiedergeborenen Christenmenschen! Der wiedergeborene Christenmensch kann das Gesetz nicht erfüllen. Der Christ ist eben auch als ein solcher ganz und gar Sünder! Es geht eben bei Kohlbrügge darum, daß auch der allerfrömmste Mensch sich selbst als vollkommen sündig ansehe und darum nicht in der Lage sei, auch nur einen einzigen Schritt auf dem Wege zur Heiligung zu gehen. Er ist nur in Christus heilig, und diese Heiligkeit wird in seinem Leben offenbar, solange er in Christus und Christus in ihm ist. Seine guten Werke sind dann die Früchte seiner Heiligung. Je mehr er in Christus sei, um so mehr Heiligung. Aber das könne man nicht eine Förderung auf dem Wege der Heiligung nennen. Dazu sei der Gegensatz zwischen Fleisch und Geist, zwischen absoluter Unreinheit und absoluter Heiligung zu radikal.

 

Die ganze Wucht der Kohlbrüggeschen Lehre wird deutlich, wenn man den Schluß von Kohlbrügges Lehrrede über den dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses »Ich glaube an den Heiligen Geist« liest. Dort heißt es: »Der Herr, der Gott ist, zerbricht die vollen Fässer. Er macht die halbvollen ganz leer, und was ganz leergelaufen ist, das wird er reinigen und füllen mit sich selbst und seinem ewigen und unvergänglichen Schatz nach seinem Verbundsgelübde: Ich will sagen zu >Nicht-mein-Volk<: Sei mein Volk, und das wird sagen: O mein Gott« (Hosea 2,23).

Kohlbrügge weiß also sehr wohl um Heiligung. Aber diese Heiligung ist bei Kohlbrügge ein Ereignis der Gegenwart Gottes im total sündigen Menschen, es ist ein Ereignis: Nicht ein Haben, sondern ein Sein in Christus: Und dieses Ereignis des Seins in Christus geschieht und muß immer wieder geschehen, solange der Christ auf dieser Erde lebt, also als Sünder lebt, der gerechtfertigt ist und in dem sich Heiligung ereignet!

Der von Kohlbrügge später mächtig angesprochene Karl Barth schrieb im Römerbrief (»Der Römerbrief«, 5. Aufl. 1926):

»Gerade wer sich zu Christus bekennt, wird das wissen: Ich werde die Sünde, ich werde die Verfälschung des Gesetzes durch die Sünde, ich werde die Existenz des wunderlichen Heiligen, der sein möchte wie Gott und der daran bei lebendigem Leibe sterben muß, von mir aus nie hinter mir lassen. Ich bin und lebe im Fleisch und bin und bleibe in diesem Sein und Leben dem Gesetz der Sünde und des Todes unterworfen.«

Die Erkenntnis der Fleischlichkeit, das Verkauftsein unter die Sünde, die ganze Möglichkeit dieser Spannung ist ja nur dem Wiedergeborenen möglich. Das drückt Luther auch in seiner Römerbrief-Vorlesung mit der erhellenden Bemerkung aus: »Denn das ist das Merkmal eines geistlichen und weisen Menschen: Er weiß, daß er fleischlich ist, und er mißfällt sich, er haßt sich selber und preist das Gesetz Gottes, daß es geistlich ist. Wiederum ist dies das Merkmal eines törichten und fleischlichen Menschen: Er weiß, daß er geistlich ist, aber er gefällt sich selber, er liebt seine Seele in dieser Welt«.

 

Aber wie kann ein Wiedergeborener von sich sagen, daß er unter die Herrschaft der Sünde verkauft sei (Röm. 7,13), wenn es doch andererseits diesem Wiedergeborenen verheißen wird, daß er der Sünde gestorben sei (Röm. 6,10)? Wie kann da noch Macht der Sünde und des Fleisches sein, wenn doch so klar und eindeutig gerade auch in den Paulinischen Schriften von der Heiligung und der Ohnmacht der Sünde geschrieben wird (z.B.: »Die wir der Sünde abgestorben sind, wie sollen wir ferner in ihr leben« Röm. 6,2)?

Der wiedergeborene Mensch — so schreibt Mauerhofer in seiner für den Heiligungsprotestantismus gründlichen Argumentation — lebt heilsgeschichtlich im neuen Äon, und die Zwangsherrschaft der Sünde ist gebrochen. Der alte Mensch ist »in einmaliger und abgeschlossener Weise mitgekreuzigt. … Der Gläubige braucht nicht mehr zu sündigen.«  Also meint Mauerhofer: Der Gläubige kann, aber er braucht nicht zu sündigen im Kampf zwischen Geist und Fleisch. Daß Gottes Wille sich zentral auf unsere Heiligung richtet, betont Mauerhofer und zitiert dabei O.S. von Bibra: »Das ist im Protestantismus weithin übersehen worden. Und das hängt ursächlich mit der billigen Gnade zusammen, die zum Kennzeichen der Reformationskirchen geworden ist.« Die Konsequenz ist für Mauerhofer, daß die Begierden des Fleisches keineswegs zur Tat kommen müssen.

Daß in den Kirchen der Reformation nicht erst seit heute »billige Gnade« verkündigt wurde und wird, ist leider wahr. Der Schmerz und die Freude der Wiedergeburt werden nur selten Inhalt evangelischer Predigt — auch das ist wahr. Daß die lutherische Spannung vom Gesetz und Evangelium nicht mehr spürbar ist im sogenannten »Verkündigen« landeskirchlicher Gottesdienste, ist auch leider eine Tatsache. Diese Kritik wird angenommen. Dennoch müssen wir auf die bleibende Spannung zwischen Fleisch und Geist — so wie sie in der Reformation verstanden wurde — beharren.

 

Die Aussagen des Neuen Testamentes begründen dieses Verständnis der Reformation im Zueinander von Geist und Fleisch. Abgesehen von den bereits zitierten Aussagen im ersten Johannesbrief (1. Joh. l,8ff) geht durch die Evangelien die Spannung christlichen Daseins hindurch im Nebeneinander von Fleisch und Geist, von altem und neuem Äon, Christuszeit und Weltzeit. Christen haben in der Welt Angst, die nur durch Christus überwunden wird, und sie erfahren eben, daß der Geist willig, aber das Fleisch schwach ist. In 2. Korinther 10,3 bekennt der Apostel, daß »obwohl wir im Fleische wandeln, führen wir unseren Kampf doch nicht nach der Art des Fleisches …«.

 

Dieses »im Fleische wandeln« ist nun eben nicht spannungslos, denn in Galater 5,17 bekennt der Apostel: »Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch. Denn diese liegen miteinander im Streit, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt.« Und im Philipperbrief (3,12) bekennt sich der Apostel zum Werden, aber nicht zum Haben seines Seins in Christus.

 

Zu diesen Aussagen des Apostels Paulus über das Zueinander von Sünde und Heiligung schreibt Nygren: »Frei von der Sünde« und »sündlos« sind in der Tat zwei weit voneinander verschiedene Dinge. Wenn man Paulus fragen würde, ob der Christ »frei von der Sünde« sei, dann würde er mit einem unbedingten Ja antworten. Würde man ihn aber fragen, ob der Christ »sündlos« sei, so würde er ebenso unbedingt mit Nein antworten. Worin liegt denn der Unterschied? Offenbar darin, daß man in beiden Fällen mit verschiedenen Sündenbegriffen arbeitet. Die Lehre von der Sündlosigkeit geht von einem moralischen Sündenbegriff aus. Für sie besteht die Sünde im moralischen Fehltritt, den der Christ nach ihrer Meinung durch die neue seelische Beschaffenheit, durch den neuen seelischen »Habitus« , der ihm in und mit der Bekehrung gegeben worden ist, überwinden kann. Durch diese neue Ausrüstung erhalte der Mensch die Möglichkeit, ein Musterbild der Tugendhaftigkeit zu werden, bei dem keine moralischen Mängel mehr zu entdecken seien. Wenn Paulus dagegen sagt, der Christ sei »frei von der Sünde«, dann spricht er von etwas ganz anderem. Die Sünde ist für ihn nicht in erster Linie der moralische Fehltritt des einzelnen, sondern die Sünde ist eine Macht, unter deren Knechtschaft sich der Mensch befindet. Daß der Christ »frei von der Sünde« ist, bedeutet für Paulus, daß die Sünde durch Christus von ihrem Thron gestürzt ist. Es geht hier nicht darum, daß es uns gelungen sei, mit der Sünde fertig zu werden, so daß sie sich jetzt weniger bei uns in Erinnerung bringe und wir uns allmählich dem Stadium der Sündlosigkeit näherten. Die Freiheit von der Sünde ist vielmehr eine Frucht der Tat Christi; von ihm ist die Sünde geschlagen und besiegt worden. Wer an Christus glaubt, steht nicht mehr unter der Macht der Sünde. Sie hat einen anderen Herrn, unter dessen Befehl er steht.

 

Christus hat die Sünde besiegt. Das bedeutet die Befreiung von der Sünde durch die Versöhnung am Kreuz: Wir sind freigesprochen — keiner kann die Auserwählten Gottes anklagen! (Röm. 8). Im Blick auf unsre zeitlich-menschliche Wirklichkeit aber ist die Sünde zwar besiegt, aber — solange wir noch im Fleische leben — nicht vernichtet: Auf Hoffnung sind wir erlöst (Röm. 8,24)!

 

Paulus, wenn er von der fleischlichen Beschaffenheit des Christen spricht, verwendet als Ausdruck sarkinos und nicht sarkikos: Der Christ ist nicht fleischlich, aber er ist noch im Fleische! Diese Dialektik ist begrifflich nicht auflösbar. Der Christ lebt ja nicht in einem Nebeneinander von Geist und Fleisch, sondern in einer dialektischen, dynamischen Spannung von Fleisch und Geist! Das dramatische Christenleben ist wesentlich geschieden von der tödlichen Spannungslosigkeit der Ungläubigen.

 

Auch Mauerhofer spricht ja vom Kampf zwischen Geist und Fleisch im Wiedergeborenen. »Gerade weil er dem neuen Äon angehört, muß sein Leben, solange er noch im Fleisch, im alten Äon lebt, ein beständiger Kampf gegen die Sünde werden …, vom Gesichtspunkt des Gesetzes aus bleibt der Christ, solange dieser  Äon dauert, immer ein Sünder. Ist er durch Christus der Gerechtigkeit von Gott her teilhaftig und damit in den neuen Äon eingeführt worden, so steht er gleichzeitig noch immer im alten. Treffend ist diese doppelte Stellung des Christen nach Paulus so formuliert worden: Er ist simul iustus et peccator, sowohl gerecht als auch Sünder.«

 

Wer jetzt noch angesichts genuin reformatorischer Theologie von »billiger Gnade« oder vom »Zechen auf Christi Kreide« oder von »Schaukelpferdeexistenz« spricht, versteht reformatorische Anthropologie nicht nur dualistisch falsch, weil Fleisch und Geist ja nicht friedlich nebeneinander, sondern dialektisch-militant gegeneinander leben. Nein, solch eine Kritik reformatorischer Theologie verkennt vor allem auch die Tiefe des reformatorisch-biblischen Sündenverständnisses. Hier wird die Sünde radikal gesehen, und die Gnade wird in all dem umso übermächtiger. Reformatorisches Christentum hat eben ein radikales Verständnis der Sünde, sowohl im Blick auf die Welt als gefallene Welt als auch im Blick auf den Menschen als Heiden, aber auch im Blick auf den Christen als Wiedergeborenen eingebracht.

 

Auch ein nicht unumstrittener Mann wie Demos Shakarian, den man gut und gern zu den Bedeutenden der modernen Pfingstbewegung (die doch viel eher einem Heiligungsperfektionismus zuzuordnen ist) zählen kann, mußte folgende, sicherlich mit vielen Vorbehalten, Kommentaren und Anfragen zu versehende Äußerung machen, die er in seinem Buch »Die glücklichsten Menschen auf Erden« (5. Auflage 1979) wie folgt niedergeschrieben hat:

 

»Das war das erste, aber keinesfalls das letzte Mal, daß Rose und ich auf das Phänomen stießen, daß ein Mann, der einen gewaltigen gottgewirkten Dienst an den Menschen tat, persönlich ein erschreckendes Leben führte. Manchmal war das Problem wie bei Smith das Geld. Manchmal waren es die Frauen. In anderen Fällen war es Alkohol oder Drogensucht oder sexuelle Perversion.

 

Warum segnet Gott den Dienst solcher Männer? Ist es die Kraft seines Wortes, die unabhängig von dem Menschen, der es verkündet, wirkt? Oder ist es der Glaube der Hörer? Ich weiß es nicht.

 

Zwei Dinge sind jedoch sicher. Die Menschen, die in solchen Versammlungen ihr Herz und Geld Gott gaben, haben deswegen nicht ihren Lohn verloren, auch wenn das menschliche Werkzeug Mängel hatte; und die Worte, die ich aussprach, ohne sie selbst zu verstehen, haben sich sehr bald als wahr erwiesen. …«

 

Die paulinisch-reformatorische, sagen wir doch lieber christliche, Dialektik von Geist und Fleisch ist der Todfeind des religiösen Subjektivismus, denn der Grund des Heils wird in keiner wie auch immer zu erfahrenden Zuständlichkeit des seelischen Innenlebens, sondern durch Vertrauen in Christus erfahren: »… Was ich aber jetzt im Fleische lebe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat« (Gal. 2,20).

 

Heiligkeit ist im paulinisch-reformatorischen Christentum kein Streß, keine Übung, sondern die Ankunft des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist nicht seelische Befindlichkeit, sondern Person in der trinitarischen Gottheit! Der Heilige Geist kommt wie ein helles und erlösendes Licht befreiend in die Dunkelheit der Sündenmacht. Paulinisch-reformatorisches Christentum hat eben nicht ein subjektivistisches, sondern ein parusiologisches, zum Ereignis der Ankunft offenes Verständnis der Heiligung und des Heiligen Geistes.

 

Weil der Christ im erfüllenden Licht des Heiligen Geistes und damit der Heiligung existiert, die Sünde als Sünde erkannt, niemals gewollt, immer nur erlitten, im Schmerze der Reue überwunden und in der Vergebung vernichten wird, ist eben der Christ frei von der Macht der Sünde. Seit Christi Kreuz und Auferstehung ist er der Sünde gestorben. Von daher verstehen wir alle Aussagen des Neuen Testamentes, die eindeutig verneinen, daß der Christ noch ein Sünder sei.

 

In der Wiedergeburt starb die Sünde, nur noch als Todesschatten kann sie das Leben des Christen begleiten.

 

Diese dialektische Struktur des Christseins kann weder in eine psychologische noch in eine begriffliche »Figur« eingebracht werden; sie ist für jede Weise des Denkens unauflösbar und für alle Psychologie unfaßbar, weil sie eben nicht vom Fleisch, sondern nur vom Geist eingesehen werden kann.

 

Aus dieser Dialektik des Christentums ergibt sich für die Ethik, daß auch das Gesetz dialektisch, als Anklage der Sünde, als usus pädagogicus erfahren und gleichzeitig (im Sinne des tertius usus legis) in Dankbarkeit gegen Gottes Gnade zur Verwirklichung seines Zieles gelebt wird. Es ist deshalb unmöglich diese doppelte Bedeutung des Gesetzes als Zuchtmeister auf Christus und Regel des neuen Lebens zu leugnen. Die Aussage über die Liebe in Römer 13,8-10 und Galater 5,14 sind in dieser Hinsicht unmißverständlich. Die Liebe tritt nicht an die Stelle des Gesetzes, sondern ist dessen Zusammenfassung.

 

Das neue Sein in dem Ereignis des Heiligen Geistes, die Führung und Fügung des Heiligen Geistes bewirken die Erfüllung des eigentlichen, durch den Buchstaben nicht zu erkennenden, den Heiden verborgenen Sinn des Gesetzes Gottes. In der ethischen Entscheidung, vor allem aber im ethischen Konflikt, ist der Heilige Geist dem Gesetze zugeordnet — er gibt die Entscheidung. Ohne den Heiligen Geist, also ohne Heiligung bliebe nur tötende Gesetzlichkeit (wie sie die Pharisäer hatten) oder fleischliche Willkür. Der Heilige Geist, der uns überhaupt erst die Schrift verstehen läßt, öffnet auch unsere Augen für den Sinn des Gesetzes, er sagt uns, was das biblische Gebot in einer besonderen Situation unseres Lebens gerade von uns erwartet.

 

EXKURS NR. 3

Ethos als Begegnung durch das Wort

Das alttestamentliche Gottesvolk lebte aus der Begegnung mit Gott durch das Wort: »Höre Israel: Der Herr, unser Gott, ist ein Herr!« (5. Mose 6,4). Diese Begegnung mit Gott durch das Wort ist auch Begegnung mit dem Willen, dem Gesetz Gottes: »Höre, Israel, die Satzungen und Rechte, die ich euch lehre, daß ihr danach tut, damit ihr am Leben bleibet …« (5. Mose 4,1).

Israel kannte keine natürliche Erfahrung Gottes, etwa durch Meditation, Ekstase — keine sogenannte »Unmittelbarkeit« in der Emotionalität oder Intellektualität. Das alttestamentliche Gottesvolk weiß nichts vom erfühlten oder begriffenen Gott.

Für dieses Jahrhundert hat Martin Buber als jüdischer Religionsphilosoph auch Christen daran erinnert, daß Wahrheit im Sinne der biblischen Offenbarung Begegnung ist, und zwar Begegnung durch das Wort. Der aus dem Urwald mystischer Lebensphilosophie ausgebrochene Martin Buber hatte erkannt, daß in der Mystik das Ich und die Welt »entwerden«. In seiner Reifephase entdeckte Buber, daß Wirklichkeit überhaupt nur als Rede im Gegenüber da sei und nicht in der mystischen Verschmelzung erfahrbar wird (vergl. hierzu sein Hauptwerk »Ich und Du«, 1923).

 

Religion als mystisches Einswerden ist »der hybride, subjektive Hochmut« aller Mystik, die auch in Nietzsche fortlebt. Die Vergottung des Menschen in seinen höchsten Augenblicken weicht der Erkenntnis von der objektiv gegenüberstehenden Realität Gottes, die den Menschen beruft. »Gott ist dem Menschen das große Gegenüber, das Du an sich« (H. Kohn, »Martin Buber«, 1961).

 

Die Begegnung zwischen Du und Ich ist dynamisch, sie liegt in der Freiheit Gottes, sie ist weder in einem Bild noch in dem Begriff zu systematisieren oder festzuhalten. Die Freiheit Gottes — so folgert Martin Buber — schließt jeden überschaubaren oder gar magisch oder begrifflich manipulierbaren Mechanismus aus. Durch die Wahrheit als Begegnung im Wort wird die Erfahrung von Wahrheit zu einem dialogischen Vorgang, »bei dem man nicht vorher weiß, was der andere sagen wird. Das dramatische Denken, das Sprachdenken tritt an die Stelle des monologisch-abstrakten logischen Denkens. Es ist ein Denken der Beziehung, ein Denken der Begegnung. Es entspricht der Wahrheit der Korrelation, der wechselseitigen Aufeinanderbezogenheit von Ich und Du und Es« (Kohn, a.a.O.).

 

Der Mensch findet sein Ich erst dann, wenn er das Du Gottes findet. Ganz radikal ist dieser Weg im Leiden Hiobs vorgezeichnet. Entscheidend ist nicht, daß Hiobs Ich bestätigt, daß seine Fragen ihre entsprechende Antwort finden, sondern die entscheidende Rettung liegt darin, daß Gott selbst erscheint in seiner Rede: »Nichts ist erklärt, nichts ausgeglichen, das Unrecht ist nicht Recht geworden und Grausamkeit nicht milde. Nichts ist geschehen, als daß der Mensch wieder Gottes Anrede vernimmt« (»Judentum und Kultur«, 1951).

 

Der die Rede Gottes Vernehmende ist zugleich der Gott Antwortende. Leben als Antwort auf das Wort Gottes, Handeln als Antwort auf den im Gesetz offenbarten Willen Gottes ist verantwortendes Leben und Handeln. Ethik ist von daher — als Ethos der Begegnung — Verantwortungsethos. Die Verantwortungsethik ist eine dem Willen Gottes verantwortliche Ethik, damit entfällt die Unterscheidung Max Webers zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik, weil sie die dynamische Du-Ich-Relation im biblischen Ethos nicht akzeptiert.

 

Im Gegensatz zum Ethos der Verantwortung steht das sich selbst setzende Ethos der Autarkie, wie wir es u.a. bei Kant kennenlernten. »Diese Autarkie des religiös-sittlichen Menschen ist gerade das Vollmaß der Sünde«, schreibt der von Martin Buber beeindruckte Emil Brunner (»Der Mensch im Widerspruch«, 1941), »neben dem die moralische Verkommenheit der Zöllner und Huren sozusagen harmlos erscheint, weil ihnen wenigstens ihre Ohnmacht einigermaßen bewußt ist und sie von der Gefahr, sich selbstgerecht vorzukommen, frei sind. Das moralisch-gesetzliche Verständnis der Verantwortlichkeit, das mich auf mich selbst stellt, ist gerade der Gipfel des Mißverständnisses der Verantwortlichkeit.«

 

Ethos der Begegnung muß konsequenterweise die natürliche Ethik ausschließen. Darum ist es inkonsequent, wenn der Begegnungstheologe Emil Brunner meint, daß das Gesetz Gottes »allen Menschen ins Herz eingepflanzt ist«. Aber er schwächt auch ab: »Es ist durch die Sünde gleichsam verschüttet. Es muß darum neu geoffenbart werden.«

 

Nach Luther gibt es nicht nur eine natürliche Erkenntnis des Gesetzes, sondern auch eine natürliche Erkenntnis Gottes — allerdings nur des Gottes der vergeltenden Gerechtigkeit und nicht des Gottes der Gnade. Nun gibt es natürlich auch bei Alt- und Neuheiden eine Moralität, ein Unterscheiden zwischen Gut und Böse. Aber — so argumentiert Brunner — »aus dem göttlichen Wesensgesetz ist ein Sollgesetz geworden. Aus dem Sein-aus-Liebe und in Liebe ist das Leben in den Zwiespalt von Sollen und Sein geraten… Sünder heißt: Der Mensch tut jetzt nicht mehr, was Gott will, sondern was er will. Gesetz heißt: Auch der Mensch, der tut, was er will, hört nicht auf, unter Gottes Willen zu stehen, nur daß jetzt dieser Gotteswille für ihn nicht mehr Lebensgeschenk, sondern todbringende Forderung ist.«

 

Dieses Vorbeileben am geoffenbarten Gesetz Gottes muß aber radikaler gesehen werden, als es bei Brunner gesehen wird. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, so wie sie der natürliche Mensch vernimmt, ist belastet durch den Willen zur Selbstverwirklichung im Sinne des erotischen Menschen. Daß Welt und Menschheit immer noch so bestehen, wie sie bestehen, beruht nicht auf dem »Restbestand« eines »dem Herzen eingepflanzten« Ethos oder einer natürlichen Gotteserkenntnis, sondern auf der die Schöpfung erhaltenden Gnade Gottes. Aber auch dieses dürfen wir nicht verkennen? Der das Wort und so auch das Gesetz nicht hörende Heidenmensch hat — wenn auch durch die Sünde pervertiert — ein Ethos! Dieses »Haben« aber ist ein »Festhalten« an der Feindschaft gegen Gott. Das offenbare Gesetz in seinem unbedingten Sollen wird, wo immer es gehört wird, die Ich-Verkrampftheit, die Motivation durch ich-geile Selbstverwirklichung aufdecken! Das offenbare Gesetz macht die Sünde des Enthusiasmus offenbar.

 

Die Gesetzlichkeit der Pharisäer, die sogenannten »Gerechten, die der Buße nicht bedürfen«, über die im Himmel weniger Freude ist, als über einen Sünder, der Buße tut, verstehen nicht einmal den Soll-Gehalt des Gesetzes. Sie erkennen das Gesetz nicht als Begegnung mit dem offenbaren Willen Gottes, sondern als Leistungssystem der Humanität. So wird das Gesetz ein Instrument zur Selbsterlösung. Die Pharisäer und Gesetzeskundigen haben den Ratschluß Gottes über sich selbst verworfen, weil sie sich von Johannes nicht taufen ließen (Luk. 7,30). Das Urteil Jesu über die Pharisäer und Schriftgelehrten verurteilt ihre Begegnungslosigkeit mit Gott und damit auch ihre Gerechtigkeit, die in der letzten Konsequenz atheistisch ist.

 

Naturalismus, Emotionalismus, Meditationismus (Wahrheit durch Selbstversenkung) sind aus dem biblischen Verständnis der Wahrheit als Begegnung radikale Verfehlungen des Zueinander von Gott und Mensch; sie zerstören die Person, die von Gott gerufen und vor Gott zu verantworten ist. Die Persönlichkeitsstruktur des »Abendlandes« geht über in die »Kollektivkultur« der Endzeit.

EXKURS NR. 4

Vollmacht und Macht

Zur Auslegung von Römer 13

Das Reich Gottes ereignet sich in der Welt, aber es ist nicht von der Welt (Joh. 18,36). Christus spricht zu Pilatus, dem Repräsentanten weltlicher Macht: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt …«

Die weltliche, also politische Macht, in welcher Gestalt sie auch auftritt, kann niemals kongruent sein mit dem Reiche Gottes. Durch welche Vollmacht aber existiert nun die weltliche Macht, ist sie durch Christus aufgehoben? Muß sie abgeschafft oder überwunden werden? Soll an die Stelle der weltlichen nunmehr die geistliche Macht treten, oder soll sich die Gemeinde aus der weltlichen Macht völlig zurückziehen?

Dieser Fragenbereich wird vom Zeugnis des Neuen Testamentes so beantwortet, daß es weltliche Gewalt geben muß und wird, solange diese Welt besteht, also bis zur Wiederkunft Christi. In Römer 13 wird vom Christen, also vom Bürger des Gottesreiches, verlangt, daß er den »vorgesetzten Obrigkeiten« untertan sei, denn — so folgert der Apostel — »es gibt keine Obrigkeit außer von Gott, die bestehenden aber sind von Gott eingesetzt. Somit widersteht der, welcher sich der Obrigkeit widersetzt, der Anordnung Gottes …« (Röm.13,1), »denn Gottes Dienerin ist sie, eine Rächerin zum Zorngericht für den, der das Böse verübt. Darum ist es notwendig, untertan zu sein, nicht allein um des Zornes, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb entrichtet ihr ja auch Steuern. Denn sie sind Diener Gottes, die eben hierzu beständig tätig sind« (Röm.13,4-7).

 

Die Frage, die sich angesichts dieser Aussagen des Apostels sofort stellt, lautet: Ist hiermit unbedingt jeder Staat, gleichgültig welchen Charakters, als Gottes Wille mit den daraus vom Apostel aufgezählten Verpflichtungen zu verstehen?

 

Der Staat, in dem dieses Kapitel 13 des Römerbriefes geschrieben wurde, war der römische Staat. Zwischen 58 und 60 war Paulus in der Gefangenschaft zu Cäsarea, dort berief er sich auf den Cäsar, auf die höchste Staatsgewalt des römischen Imperiums, und wurde aufgrund dieser Appellation zur Gerichtsverhandlung nach Rom gebracht. Der Kaiser, an den Paulus appellierte, war kein anderer als Domitius Claudius Nero. Dieser regierte von 54 bis 68 und war durch die Ermordung seines Vorgängers im Amt, des Tiberius Claudius Cäsar, die von Neros unheimlicher Mutter Agrippina inszeniert wurde, mit der Nero auch wohl die erste geschlechtliche Begegnung seines Lebens hatte, zu seiner »Schwertgewalt« gekommen.

 

Die Zustände in diesem Imperium, insbesondere seit Caligula (er regierte von 37 bis 41), der mit der Weihe eines Augustustempels den Kaiserkult in die Höhe trieb und sich selbst als Inkarnation des Jupiter verehren ließ, waren ein Hohn auf alles, was man heute unter Rechtsstaatlichkeit versteht. Daß diese Cäsaren sittlich korrupt waren, daß ihre Ausschweifungen auch im modernen Zeitalter der Pornographie die Vorstellungen der Phantasie sprengen, ist in der Geschichtsschreibung hinlänglich angedeutet. Wo heute Touristen den Sonnenuntergang auf Capri bewundern, inszenierte Tiberius Claudius seine Orgien mit Knaben und Mädchen, die ihren römischen Eltern weggerissen und in Lusthäusern zu Capri kaserniert wurden. Der Terror der Angst tyrannisierte die Stadt Rom, keiner war seines Lebens sicher, weil die Schwertgewalt nicht der Gerechtigkeit, sondern der tyrannischen Willkür zugeordnet war. Die »Obrigkeit« lebte ihre Exzesse in Perversionen, die keine denkbare Variation ausließen und die sich durch Mord und Zerstörung jeder Spur von Humanität und Recht grausam entledigte.

 

In der antiken Sklavengesellschaft, in der die Freien eine Minderheit waren, wurden Menschen zum Vergnügen des römischen Pöbels in den Tod gejagt. Schon Augustus ließ im Zirkus Gefangene aus den eroberten Provinzen seines Imperiums zu Tode quälen. Er ließ »10 000 Mann zur Freude der Massen sich gegenseitig den Schädel einschlagen, Gliedmaßen abhacken oder die Schwerter in den Leib rammen… Um das Publikum bei Laune zu halten, mußte der Kaiser immer widernatürlichere Kampfspiele ersinnen«, schreibt Philipp Vandenberg (in seiner Biographie über »Nero. Kaiser und Gott, Künstler und Narr«, 1981), »… da traten bewaffnete Zwerge gegen nackte Frauen an, Negerinnen gegen Neger, Menschen gegen Tiere«.

 

In dieser grausamen Sklavengesellschaft wurden Sklaven wie Haustiere behandelt, sie konnten verschenkt, verprügelt, vergewaltigt, kastriert und sogar getötet werden. Wurde ein Herr durch einen Sklaven ermordet, mußte nach dem Gesetz die ganze Sklavenschaft des Hauses hingeschlachtet werden. Das konnten oft viele Hunderte sein. Auch auf die Freien fanden die Gesetze keine gleiche Anwendung. Bekanntlich gibt es nur in der Heiligen Schrift die Gleichheit vor dem Gesetz. In der sogenannten Rechtsordnung des römischen Imperiums gab es diese Gleichheit nicht. Gehörte man in Rom zu den Humiliores, zu den Niedriggeborenen, zu jenen, die kein Vermögen hatten und keine Steuer bezahlten, dann konnte man wegen geringfügiger Vergehen ausgepeitscht oder in die Bergwerke verbannt werden.

 

Diese kurzen Erinnerungen an die »Zustände des alten Rom«, an deren Christengemeinde das 13. Kapitel des Römerbriefes geschrieben wurde, werfen die Frage auf, ob Paulus wirklich diesen Staat gemeint habe, gegenüber dessen Obrigkeit er die Christen zum Gehorsam aufrief.

 

Mit Ja wird diese Frage von vielen Ethikern beantwortet: Einfach jede Obrigkeit sei von Gott und müsse im Sinne von Römer 13 respektiert werden, gleichgültig, ob es sich um das Regiment eines Nero, Hitler, Pol Pot oder Stalin handele.

Einer der wirklich bedeutenden lutherischen Theologen zu Beginn dieses Jahrhunderts, Werner Elert, war der Meinung, daß Paulus auch dem neroianischen Staate gegenüber die Christen zum Gehorsam verpflichten wollte. Das hätte natürlich weittragende Konsequenzen. In einem Vortrag vor bayrischen Pfarrern, ein Jahr nach dem Kriege, also 1946 (»Paulus und Nero«, in der Schrift »Zwischen Gnade und Ungnade«, 1948), sagte Elert im Blick auf die damals dem deutschen Volke zugewiesene Kollektivschuld angesichts der Realitäten des nationalsozialistischen Staates von 1933—1945:

»Wenn Kollektivschuld nicht erst Erfindung unserer Tage, sondern schon immer möglich gewesen sein soll, dann muß auch Paulus durch die auf dem römischen Reich ruhende Kollektivschuld schwer mitbelastet erscheinen. Nach den heute auf uns angewandten Grundsätzen würde

1. seine Ausrede, er habe das alles nicht gewußt, nicht geglaubt werden;

2. würde er, auch wenn er es nicht gewußt hätte, doch für mitschuldig erklärt werden;

3. war er als römischer Bürger Mitglied der Organisation, die alle Mittelmeerländer terrorisierte, und

4. hat er sich durch seine Ausführungen von Römer 13 für dieses System aktiv eingesetzt. Wir übertreiben hier nichts, es ist auch keine künstliche Konstruktion, sondern nur eine der heute üblichen Feststellungen.«

In Analogie zur Entnazifizierung deutscher Professoren (auch Theologieprofessoren), Politiker und anderer Menschen hätte es eben auch — so argumentiert Elert — eine »Entneroianisierung« des Apostels Paulus geben müssen. Was Elert meint, ist dieses: Christen können für einen Unrechtsstaat nicht verantwortlich gemacht werden! Auch in einem Unrechtsstaat gibt es immer noch Elemente der Ordnung, die einen Christen zum Gehorsam veranlassen. Für Elert war eben jeder Staat mehr oder weniger Perversion der Macht. Den »Raubtiercharakter« hatte nach seiner Meinung jede Macht an sich. Mehr als ein stilles, ruhiges Leben, ja mehr als gerade eine Duldung, könnten Christen von einem Staat nicht erwarten und erhoffen. Mehr als eine äußere, gerade das Chaos verhindernde irdische Ordnung könnten Christen nach Meinung Elerts in der Sündenmächtigkeit dieser Welt nicht erwarten. Den Staat solle man Staat sein lassen, solange man noch als Christ existieren könne. 1946, in der Verteidigung des »sanften Luthertums« und seiner Anpassung an die Mächte des Dritten Reiches, sagte Elert im gleichen Vortrag:

»… ungezählte Christen in Deutschland, die ohnehin schon durch ihren Anteil an der allgemeinen Katastrophe eines irrsinnigen Cäsarismus Gottes Strafgericht erlebten, sind nachträglich noch durch menschliche Strafgerichte in ihrer privaten Existenz auf das härteste gestraft worden, weil sie sich gegen die Obrigkeit, die Gewalt über sie hatte, so verhielten, wie es vom Apostel Christi den Christen geboten war. Die Zuschauer bei diesen Vorgängen müssen Verständnis dafür gewinnen, daß durch dieses Verfahren nicht nur das neroianische System (wir dürfen es jetzt einmal so ausdrücken) getroffen wurde, sondern auch die paulinische Haltung gegenüber diesem System. Die Herzen, die dabei auf das tiefste verwundet wurden, hatten so wenig Sympathie für dieses System, wie Paulus für die Schandtaten der neroianischen Statthalter, sie werden auch nicht nachträglich damit sympathisieren.«

Bevor wir die Frage beantworten, ob das Leitwort von Römer 13, nämlich exousia identisch ist mit jeder existierenden Obrigkeit, wäre zu untersuchen, was exousia eigentlich bedeutet. Die Diskussion über die Bedeutung von exousia ist durch den Baseler Neutestamentier Oskar Cullmann um die Mitte dieses Jahrhunderts wieder sehr lebhaft in Gang gebracht worden. Oskar Cullmann verstand unter den exousiai von Römer 13 Engelmächte. Jede Staatsgewalt sei ausführendes Organ von Engelmächten. »Durch ihre Unterwerfung unter Christus haben die unsichtbaren Mächte vielmehr ihren bösen Charakter gerade verloren und stehen nun auch unter und in Christi Herrschaft, solange sie ihm untertan sind und sich nicht aus dem Dienstverhältnis zu emanzipieren suchen.«

Der Staat ist nach Cullmanns Auffassung unter der Gewalt von Engelmächten, denen deswegen Gehorsam zu zollen sei, weil sie von Christus zwar nicht besiegt, aber doch gebunden, eben an die Leine genommen seien. Der urchristliche Glaube halte — so nach Cullmann — an der Besiegung der unsichtbaren Mächte durch Christus fest, so käme diesen Mächten keine selbständige Bedeutung mehr zu: »Was die Johannes-Apokalypse von der endzeitlichen Bindung Satans sagt (Offb. 20,2), das gilt wohl irgendwie für die paulinische Vorstellung von der gegenwärtigen Lage der Engelmächte. Sie sind in der Zeit zwischen Auferstehung und Parusie Christi sozusagen gebunden wie an einer Leine, die mehr oder weniger verlängert werden kann … ihre Macht ist nur Scheinmacht. Die Kirche hat umso mehr die Pflicht, ihr entgegenzutreten, als sie weiß, daß es nur eine Scheinmacht ist und daß in Wirklichkeit Christus alle Dämonen schon besiegt hat.«

Dem Staat von Römer 13 gebührt demnach nicht deshalb Gehorsam, weil er Staat, sondern nur, weil er in das Heilsgeschehen einbezogen sei, weil die exousiai durch Christus gebunden seien, also letztlich in seiner Verfügungsgewalt stünden. Denn die Engelmächte wären nicht in ihrem Wesen, sondern allein dadurch, daß sie an der Leine Christi und damit im Dienste Christi stünden, zur Würde gekommen. Ob dem Staat Ehre dargebracht würde oder nicht, hänge — so folgert Cullmann — davon ab, ob er unter der Herrschaft Christi verharre oder sich von ihr löse. Auch ein heidnischer Staat könne — so folgert die Optimismustheologie Cullmanns — sehr wohl unter jenen exousiai stehen, die der Bindung durch Christus unterworfen seien; schließlich habe auch Pilatus Christus kreuzigen lassen, ohne zu wissen, daß er damit zum Werkzeug der Heilsgeschichte würde (vergl. hierzu auch »Königsherrschaft Christi und Kirche im Neuen Testament«, 1941).

Diese Auffassung von Römer 13 durch Oskar Cullmann ist aber doch wohl als eine Überinterpretation von exousiai zu verstehen, und Cullmann hat in diesem Unternehmen gerade auch unter seinen Kollegen der Neutestamentlichen Wissenschaft mehr Widerspruch als Zustimmung geerntet. Seine Theorie ist aber im Ansatz verständlich und in gewisser Weise auch wertvoll, wenn es darum geht, aus einem statischen, dualistischen Verständnis des Nebeneinander von Staat und Kirche herauszukommen. Es ist in den Begriff exousia gleichsam Bewegung hineingebracht worden.
Unverständlich ist allerdings des Optimisten Cullmann so positive Beurteilung des Staates, der ja immer mehr oder weniger an der Leine Gottes sei — und das schrieb der Baseler Theologe auf dem Höhepunkt des letzten Weltkrieges, gleichsam einen Steinwurf weit von einem totalitären Staat entfernt. Dieser Cullmannsche Optimismus eignet sich in gleicher Weise zur Anpassung an ein totalitäres System wie auch als Instrument zu einer Theologie der Befreiung oder Revolution. Die formale Unbestimmtheit seiner Theologie läßt da viele Möglichkeiten offen.

Aber wie sollen wir nun die exousiai in Römer 13 verstehen? Exousia ist keine wertneutrale Bezeichnung von Macht schlechthin. Exousia bedeutet Macht als Vollmacht, Befugnis und Verfügungsrecht. Exousia als Einzahl ist Vollmacht, »Amt« in der Vollmacht, exousiai (also die Mehrzahl) meint vornehmlich die Träger und Ausübenden dieser Vollmacht — und das können auch Engelmächte sein!
Jesus gebietet aus dieser Vollmacht über die Macht des Bösen (Luk. 4,36), und er predigt wie einer, der Vollmacht hat (Matth. 7,29), und diese Vollmacht kann er auf die Jünger übertragen (Mark. 3,15; Luk. 10,19). Immer geht es hier um das Leitwort exousia. Auch die Sündenvergebung Jesu stammt aus dieser Vollmacht, die Gott gegeben hat (Mark. 2,5). Christus hat (Matth. 28,18) alle Macht als »Vollmacht« erhalten, denn der Auferstandene sitzt zur Rechten Gottes.

Macht muß doch wohl im Blick auf Römer 13 bevollmächtigte Macht sein. Bevollmächtigte Macht ist sie aber nur, wenn sie Gottes Dienerin, und das heißt doch Dienerin seiner Gerechtigkeit ist.
Genauso sagt es ja auch Kapitel 13 des Römerbriefes: Wo die bevollmächtigte Macht ist, da ist sie von Gott — und nur von Gott. Diese und eben nur diese zwischen Gut und Böse unterscheidende exousia, die Gottes Ordnung wahrt (13,2), die »Gottes Dienerin« ist und »Rächerin zur Strafe« (13,4)
nur dieser Macht ist der Christ »um des Gewissens willen« (13,5) den Gehorsam schuldig. Einer anderen, nicht bevollmächtigten Macht ist er aber eben nicht zum Gehorsam verpflichtet.

In exousia liegt ein »Sein und ein Soll«, beide müssen kongruent sein!
Nur der nach biblischem nomos orientierte Rechtsstaat ist der bevollmächtigte Staat. Weil die Kirche das Gesetz Gottes verkündigt (das Gesetz Gottes kann ja nicht durch natürliche Erkenntnis erkannt werden), muß der rechtmäßige Staat die Predigt der Kirche als öffentliche Predigt akzeptieren.
Daran wird man letztendlich erkennen, ob der Staat ein Rechtsstaat ist oder nicht. Denn der bevollmächtigte Staat wird ganz und gar mit aller Hingebung und Leidenschaft die Predigt des Gesetzes durch die Kirche vernehmen wollen um seiner Vollmacht und Würde willen. Der römische Staat zur Zeit des Apostels Paulus, der die Kirche verfolgte und die Ideologie der Cäsarenanbetung betrieb, war kein bevollmächtigter Staat im Sinne von Römer 13. Eher war dieser römische Staat eine Erfüllung der Vision von Daniel 7 — ein grausames Ungeheuer.

Die Appellation des Apostels Paulus an den Kaiser Nero unter dem römischen Beamten Festus ist nicht als Anerkennung des römischen Staates im Sinne von Römer 13, sondern als strategische Ausschöpfung spärlicher noch vorhandener Rechtsformen zu verstehen. Denn auch der Unrechtsstaat lebt von der erhaltenden allgemeinen Gnade Gottes, deren Spuren der Christ erkennen, wahren und für sich nutzen soll und kann. Christen haben den römisch-heidnischen Staat nicht gebilligt, sondern sie haben ihn geduldet und erduldet und versucht, in und mit ihm zu leben, vor allem aber mit dem zu leben, was Gottes allgemeine und bewahrende Gnade ihnen an Resten von Gerechtigkeit übrig ließ.

Von den Reformatoren hat keiner so wie der Reformator Schottlands, John Knox, Römer 13 im Sinne des Zueinander von Macht und Vollmacht verstanden. In einer Privatdebatte vor der Generalsynode von Schottland 1564 bekannte Knox:

»Und nun, mein Herr, was jenes Wort des Apostels betrifft, so sage ich, daß das Wort Gewalt in jener Stelle nicht von den ungerechten Befehlen der Menschen zu verstehen ist, sondern von der gerechten Gewalt, womit Gott seine Obrigkeit ausgerüstet hat, die Laster zu züchtigen und die Tugenden zu schützen. Wenn zum Beispiel es jemand wagen würde, den Händen eines gesetzlichen Richters einen Mörder, Ehebrecher oder anderen Übeltäter, der nach Gottes Gesetz den Tod verdient hat, zu entreißen, derselbe würde der Ordnung Gottes widerstreben und über sich selbst die Strafe und Verdammnis bringen, weil er das Schwert Gottes verhindert hat, den Schuldigen zu treffen. Aber so ist es nicht, wenn die Menschen in der Furcht Gottes sich der Wut und blinden Raserei der Fürsten widersetzen, denn dann widersetzen sie sich nicht Gott, sondern dem Teufel, welcher das Schwert und die Obrigkeit Gottes mißbraucht.«

Bereits in der dramatischen Begegnung mit Maria Stuart von 1561, in der die schottische Königin unter Erinnerung an Römer 13 John Knox in den Untertanen-Gehorsam zwingen wollte, hatte der Reformator das Recht des Widerstandes gegen eine nicht bevollmächtigte Tyrannei ausgesprochen, und 1567 in einem weiteren Gespräch mit Maria Stuart hatte Knox noch einmal ausdrücklich wiederholt:
»Wenn die Personen das nicht erfüllen, was Gott mit der Einsetzung der Obrigkeit im Sinne gehabt, sondern dagegen handeln«, dann sei nicht nur passiver Widerstand, sondern aktiver Aufstand mit der Bestrafung der sich verfehlenden Obrigkeit geboten.

Die Kirche hat eine politische Aufgabe. Diese besteht in der Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes, wie sie durch das geoffenbarte Gesetz Gottes in der Schrift ausgesprochen ist. Sie wird zu allen großen und kleinen, inneren und äußeren Geschehnissen der Gesellschaft die Gerechtigkeit Gottes verkündigen, sie wird aber niemals in politischer Macht selbst handeln. Ihre schwere Verantwortung ist die Verkündigung, nicht aber die konkrete politische Entscheidung und Handlung, denn die ist nun eben nach dem Willen Gottes nicht dem geistlichen, sondern dem weltlichen Regiment zugewiesen. Wer es z.B. als Pastor sich nicht verwehren kann, politisch unmittelbar und aktiv zu entscheiden und zu handeln, der soll sein Amt der Verkündigung konsequenterweise gegen das Amt des handelnden Politikers eintauschen.

Heute ist wichtig die Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes. Das sogenannte christliche Abendland ist das Ereignis dieses Rechtsstaates deswegen gewesen, weil immer wieder eine um ihre Freiheit kämpfende und siegende Kirche die Gerechtigkeit Gottes predigen konnte und predigen durfte. Endzeitlich laufen Zerfall der Kirche und Auflösung des Rechtsstaates nebeneinander. In dieser letzten Phase ist nicht der Kampf, sondern nur noch die Geduld der Heiligen gefordert (Offb. 13,10), denn dann kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann.

 

EXKURS NR. 5

Heidnisch-vorchristliche, christliche und nachchristlich-heidnische bzw. antichristliche Kultur

Ist Beethovens Musik christlich oder unchristlich? Können wir die Melodien von Mozarts Zauberflöte auch in oder zu einem Gottesdienst hören? Warum sollte man nicht an einem »christlichen Männersonntag« den preußischen Präsentiermarsch aufspielen lassen? Was sagen wir als Christen zu Picasso? Sollen Christen auf der Akropolis zu Athen vor Ehrfurcht die Schuhe ausziehen? Hat die Kirche eine Kulturaufgabe? Gibt es eine christliche Kultur, und worin würde sie sich von der heidnischen Kultur unterscheiden?

Wenn Christen sich nicht in ein geistiges Getto schutzsuchend zurückziehen wollen, dann werden sie mit Kultur, mit Kunst und Wissenschaft konfrontiert. Ja, es stellt sich die Frage, ob und wie weit Christen selbst in der Wissenschaft und in der Kunst aktiv dabei sind, denn Christen werden doch auch Wissenschaftler und Künstler sein können, dürfen und vielleicht auch, wenn sie Gabe und Beruf haben, sein müssen. Wie werden sie es sein, warum und auf welche Weise werden sie es anders sein, weil sie Christen und eben nicht Heiden sind?

Wie existiert ein Christ, der Freude an der Malerei hat oder der sich gern als Bildhauer verwirklichen möchte? Also: Welches Verständnis von Kultur hat die christliche Gemeinde?

Der weitere Sinn von Kultur (lateinisch colere = bauen, versorgen, pflegen, bewahren) versteht sich als der in der Bibel gegebene Auftrag, die Schöpfung Gottes zu betreuen (1. Mose 1,28: Adam wird dazu berufen, sich die Erde Untertan zu machen, über sie und alles Getier zu herrschen). Der Mensch wurde in den Garten Eden gesetzt, »daß er ihn bebaue und bewahre« (1. Mose 2,15). Auch nach dem Sündenfall blieb der Mensch ein Mensch.
Auch nach dem Fall blieb die Kultur doch eben auch noch Kultur. Nur — so wie wir es nach dem Fall mit dem gefallenen Menschen »zu tun« haben, so haben wir es auch konsequenterweise mit einer »gefallenen Kultur« zu tun. Denn alles, was der Mensch tut, steht im Schatten der Sünde. Im Schatten der Sünde steht also auch Kultur, das Singen, die Arbeit, die Gemälde und Gebäude, die Technik, die Medizin, die Dichtung und die Philosophie.

Um Adams Sünde willen ist »der Erdboden verflucht« (1. Mose 3,17). So wird alles, was er auf der Erde schafft, alles, was er aus dem schöpferischen Umgang mit der Welt hervorbringt, unter dem Fluch Gottes stehen. Das bedeutet niemals, daß alles, was da geschaffen wird, teuflisch und böse an sich sei.
Der Fluch meint allerdings, daß alles vom Menschen Geschaffene in der Dialektik von Gut und Böse steht.
Gottes bewahrende Gnade schützt die ganze Schöpfung davor, daß sie in das Nichts zurückfällt. Gottes allgemeine, das heißt die ganze Schöpfung, die ganze Menschheit vor dem Nichts, vor dem Untergang bewahrende Gnade rettet eben auch die Kultur in ihrer Zwiespältigkeit von Gut und Böse.

Auch in der Kultur des gefallenen, also gottfeindlichen Künstlers, erkennen wir immer noch einen Abglanz der Herrlichkeit der Schöpfung Gottes, so wie wir in der Gestalt des Sünders und der Sünderin den Abglanz der Ebenbildlichkeit Gottes immer noch erkennen werden. Dabei sind wir nicht jedesmal dazu aufgerufen oder auch fähig, das dialektische Zueinander von Gut und Böse, Licht und Finsternis zu entwirren, um jeweils den guten und den bösen Teil etwa eines Kunstwerkes »herauszuarbeiten«. Wir werden in Beethovens 9. Sinfonie nicht aufschlüsseln können, was hier gute und heilsame, was aufrührerische, trotzige Schöpfungswirklichkeit und was bezwingende Macht der Harmonie und Sinfonie in eben dieser künstlerischen Gestaltung ist.

In der vorchristlich-heidnischen Kultur liegt beides beschlossen: Abglanz der Schönheit, das mächtige Zeugnis der Herrschaft über die Natur, das Zeugnis dafür, daß gefallene Schöpfung immer wieder geordnete Schöpfung wird. Aber gleichzeitig erkennen wir die Gier nach der Verbildlichung Gottes, nach der Vergöttlichung des Menschen und der Verklärung seiner eigenen Macht. Heidentum ist immer in wechselnden Gestalten letztlich Vergottung der »Mutter Erde«, also Materialismus (mater = Mutter).

Neben der »stillen Einfalt edler Größe« erkennen wir die immerwährende Furcht vor der fordernden Götzenmacht. Daran denken wir, wenn wir vor ägyptischen Pyramiden, griechischen Tempeln und auf römischen Plätzen stehen. An solchen feierlichen Orten werden wir nicht vergessen, daß diese Kulturen auf dem Rücken einer Armee von Sklaven, durch die brutale Herrschaft des Menschen über den Menschen gebaut, gelebt und genossen wurde.
Der Exodus Israels aus Ägypten ist auch (nicht nur) der Exodus aus einer Kultur, die durch die Herrschaft des Menschen über den Menschen in gottverlorener Dämonenangst gelebt wurde. Die Götter der Heiden sind Nichtse, aber eben aggressive, bösartige, weil gottfeindliche Nichtse. Und was die Heiden den Göttern gebaut und geopfert haben, das haben sie den Dämonen gebaut und geopfert! (1. Kor. 10,20).
Bauwerke, die Touristen heute ästhetisch-geistig schlemmend bewundern, sollten doch auch manchmal jene ernste, erschreckende und quälende Nachdenklichkeit bewirken, die wir heute vor Denkmälern der Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts empfinden, denn etliche der vielleicht schönsten Kulturdenkmäler der alten Welt wurden praktisch in den Konzentrationslagern von damals gebaut, in denen Heere von Sklaven zur Selbstverwirklichung einer Herrschafts- und Priesterkaste zu Tode gequält wurden — für Opfer, die den Dämonen galten.

Die vorchristliche heidnische Kultur kann also nie isoliert von den religiösen und soziologischen Aspekten beurteilt werden.
Kultur war zugleich Religion, gegen das zweite Gebot sich auflehnende, eben den Turm zu Babel bauende Religion. Kultur war — wie wir aus der Geschichte des Turmbaus zu Babel lernen — Wille zur Macht. In dieser Kultur wollte sich die gottverlassene Menschheit einen Namen machen. Es war der Wille zur Macht, der gesellschaftlich zur Ausbeutung und Unterdrückung und religiös zur Vergötzung, eben zur Dämonisierung des Lebens, geführt hat. Das Kolossale alter Kulturdenkmäler ist gleichzeitig ein Zeichen für den Willen einer gottverlorenen Menschheit, das kommende Gericht Gottes (die Feuerflut nach der Sintflut) zu überleben.
Kultur ist also hier Zeichen einer gottverlorenen Selbstabsicherungsabsicht. Daß die alte Schöpfung im Feuer untergehen wird (2. Petr. 3), weiß das Heidentum nicht, aber es hat eine dunkle Ahnung, daß es am Rande einer Katastrophe lebt. Heidnische Kultur ist auch (natürlich nicht ausschließlich) beschwörende Abwehr der Chaosmacht. Die Kultur ist immer auch Abwehr des dämonisch-aggressiven Unbehausten, sie ist das Wollen zum Sein am Rande des Nichts.

»Wegen des Krieges, den Gott gegen die Sünde und die Sünde gegen Gott noch stets führt, gibt es nirgendwo die Möglichkeit einer harmonischen, eben wirklich der Ehre Gottes dienenden Kultur …«, meint der niederländische calvinistische Theologe Claas Schilder (»Christus en Cultur«, 1978). Er widersteht damit ganz entschieden der Auffassung, als gäbe es »neutrale« Zonen, eben selbständige Kulturbereiche, in denen die Sünde gleichsam draußen vor der Tür stehenbleiben müßte, eine »religionsneutrale« Bildungswelt, in der von Sokrates bis Picasso Kultur ohne Sünde und Versöhnung, also auch ohne die Herrschaft Christi — sei es im Ja oder sei es im Nein — gelebt werden könne. Für den Christen stehen alle Lebensbereiche unter der Herrschaft Gottes, alle Daseins- und Schöpfungsbereiche sind in diesem »Krieg der Sünde gegen Gott und Gottes gegen die Sünde« einbezogen.

Daß wir alles Geschaffene in diesem Zusammenhang sehen — also auch die Kultur —, bedeutet nun nicht, daß die Kirche und nur sie eine »erlöste Kultur« gleichsam mit einem Monopolanspruch »erzeugen« könnte.
So wie es ein weltliches und ein geistliches Regiment gibt, so gibt es einen Schöpfungs- und einen Verkündigungsauftrag. Kultur und Kirche sind aber auch keine parallel nebeneinander herlaufenden Linien, die sich erst im Unendlichen schneiden, sondern Kultur und Verkündigung sind konzentriert um den einen Herrn und das eine Zentrum alles Geschaffenen — das ist Gott, so wie er sich in der heiligen Schrift offenbart. Die Kirche ist der innere, die Kultur der äußere Kreis. Der innere Kreis lebt nicht vom äußeren, sondern der äußere Kreis lebt vom inneren. Die Gemeinde lebt vom Wort Gottes und nicht von der Kultur, die Kultur lebt aber sehr wohl von dem Licht der erlösenden und befreienden Wahrheit, die in der Gemeinde Christi aufleuchtet. Die Kultur ist nicht das Licht der Wahrheit, aber sie lebt von dem Licht der Wahrheit.

Kultur in einer vom christlichen Glauben »erleuchteten« Welt lebt dann vom Lichte des christlichen Glaubens — aber nicht umgekehrt. Niemals lebt die Verkündigung von der Kultur, niemals knüpft sie an die Kultur an, auf keinen Fall darf Verkündigung ein »Kulturerlebnis« (auch nicht bei einer »Messe von Mozart«) sein, etwa als Synthese von Verkündigung und Kultur. Der Gottesdienst ist eben auch Erinnerung daran, daß wir zuerst nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit zu trachten haben. Kultur hat so wenig einen Auftrag in der Kirche, wie die Politik einen Auftrag in der Kirche hat. Kulturprotestantismus und Cäsaropapismus sind Krankheiten zum Tode in der Gemeinde Gottes. Andererseits gilt: Genauso wenig wie Kirche Politik betreibt, genausowenig ist sie kulturschaffend. Kultur und Politik als weltliches Regiment sind selbständige Schöpfungs- und Lebensbereiche Gottes — wohlgemerkt Gottes! Die Kultur — sagen wir ruhig die christlich-abendländische Kultur — lebt von der Gemeinde Christi. Die Gemeinde Christi aber hat — wenn man es schon so nennen will — einen kulturellen und politischen Auftrag nur in dem Maße, als sie in ihrer Unterscheidung zwischen Licht und Finsternis, Gut und Böse auch in diesen genannten Bereichen die Last des Kriteriums trägt. Aber deswegen hat die Kirche keine politische und kulturelle Aufgabe in dem Sinne, daß sie selbst direkt, eben als Gemeinde, Kultur schafft oder weltliches Regiment ausübt.

 

Landwirtschaft zum Beispiel ist auch im weiteren Sinne Kultur. Die Kirche wacht nach ihren Entscheidungskriterien darüber, daß die Schöpfung, also auch die Umwelt, nicht zerstört wird; aber sie hat neben diesem Auftrag nicht die Aufgabe, eine christliche Landwirtschaft zu betreiben. Christliche Kirche wird entschieden verneinen, Gott oder Christus bildlich darzustellen, wie Michelangelo es tat, aber sie hat nicht die Aufgabe, eine Christliche Malerei mit einer vielleicht christlichen Farbenlehre zu »entwerfen«. Sport ist für den modernen Zivilisationsmenschen gesundheitlich wichtig, aber deswegen wird es keine christliche Leibeserziehung und sollte es keine Sport-, Fußball- oder Olympiapastoren geben.

 

Aber weil alle diese und noch viele andere Bereiche sehr wohl unter der Vollmacht Gottes stehen, weil es in allen Lebensbereichen auch und gerade in der Naturwisssenschaft (z.B. in der Debatte über Kreation und Evolution) um die Schöpfung im Urteil des in der Bibel geoffenbarten Gottes geht, wird christliche Kirche — solange sie vermag — für die christliche Schule kämpfen, denn es gibt zwar keine christliche Biologie und keine christliche Rechtschreibung, aber es gibt eine Biologie und auch eine Rechtschreibung (z.B. kollektivistischer Klein-Schreibe-Fanatismus), die der Schöpfungswahrheit Gottes, die ja nur im Lichte der biblischen Offenbarung erkannt werden kann, mit List und Hinterlist widersprechen.

 

Im Anbruch des Reiches Gottes durch Christus wurde die Macht des Bösen wenn auch nicht vernichtet, so doch gebunden. Also wird eine Kultur in diesem Anbruch des Reiches Gottes insofern eine christliche Kultur sein, als sie sich der entgegenstemmenden Macht des Bösen entwinden kann. Von nun an kann Kultur Gottesdienst in dem weiteren Sinne werden, daß in dieser Kultur Gott in seiner Schöpfung die Ehre gegeben wird. Das reformatorische Christentum hat für die Kultur befreiend gewirkt, »ja, die Reformation, die wieder, durch den Geist Christi getrieben, auf die Schrift zurückgeht, auf das Wort — sie ist zu gleicher Zeit Kultur-Genesung. Luther mit seinem runden Kopf, als er endlich eine Frau heiratete und wieder gesund lachen kann, ist als sanierender, richtungweisender Kulturproduzent hundert Dukaten wert gegenüber der päpstlichen und kaiserlichen Hofhaltung, die kaum einen Wert hat, auch nicht im Blick auf die Kultur«, meint Claas Schilder im Blick auf das Zueinander von Kultur und Reformation (a.a.O.). Die Reformatoren haben die Kultur befreit, weil sie zwischen Kultur und Kirche sowie zwischen Staat und Kirche zwar nicht trennten, sondern unterschieden. Das prophetische Amt der Gemeinde Christi geht an die Kultur, aber ist eben nicht selbst Kultur.

 

»Denn alles Geschaffene ist gut, und nichts ist verwerflich, wenn es mit Danksagung empfangen wird, denn es wird durch Gottes Wort und Gebet geheiligt« (1. Tim. 4,4), schreibt Paulus an Timotheus. Es handelt sich hier um eine Doppelaussage: Schöpfung ohne Dank, Gebet und Wort ist »verteufelte« (nicht teuflische!), eben dämonisch-pervertierte Schöpfung. Und umgekehrt gilt: Die Schöpfung unter dem Wort — aber nur unter dem Wort der Kirche — ist gute, wird wieder gute Schöpfung! In dieser Wechselbeziehung liegt das Zueinander von Kultur und Gemeinde — beide im Reiche Gottes.

 

Ein klassisches Beispiel von Kultur im Reiche Gottes ist Rembrandt van Rijn. Seine Bilder sind etwa das Urbild der Humanität im Lichte der Offenbarung. Daß Rembrandt in der Welt des klassischen niederländischen Calvinismus des 17. Jahrhunderts lebte, daß er im täglichen Umgang mit der Bibel gleichsam in das Erbe der Reformation eintauchte, bestimmte seine Kultur. Gerade die Nüchternheit seiner Motive, sein Leben aus dem Alltag, eben ganz und gar vollsaftig aus der Welt, der Verzicht auf jegliche mystische Erhöhung des Menschen, sein ganz und gar biblischer Realismus, der Mensch in der Spannung von Licht und Finsternis, dabei doch ganz wieder die Erfahrung des erlösten Menschen in dem gesegneten Jahrhundert eines gesegneten, eben das Wort Gottes hörenden Landes — das alles ist Kunst im Lichte des Reiches Gottes. Rembrandt zeigt das Drama, aber das gute, sinnvolle, das in allem Leiden geborgene und getragene Drama menschlicher Existenz auf dieser Welt.

 

Die Würdigung Rembrandts von Rookmaaker in der »Christelijke Enzyclopedie«, 1960, ist zugleich typisch für die Würdigung dessen, was wir unter christlicher Kultur verstehen: »… nicht weil seine Vision ohne Tiefe oder trivial wäre, sondern sie ist darin einfach, weil er nicht den Propheten spielt, nicht darauf aus ist, eine Botschaft zu bringen, sondern weil sein ganzes Wesen künden will von der Fülle der Wirklichkeit, die er sah und kannte, und — so wäre hinzuzufügen — die er im Lichte der Offenbarung Gottes sah und kannte!«

 

Die bürgerliche Kultur des Kulturprotestantismus verästhetisierte das Christentum — Reich Gottes wurde im Gefolge der Theologie Albrecht Ritschls identisch mit Kultur. Wenn man Christentum als Bildungserlebnis oder Kunst als Verkündigung haben will, dann will man Gefühle erwecken, die als ästhetische Religiosität oder quasi Säkular-Pietismus aus der Versammlung der Gemeinde eine Versammlung zuschauender oder zuhörender Ästheten machen! Heiliger Geist ist nur, wo das Wort Gottes gepredigt wird, aber nicht, wo einer »Darstellung« des Wortes zugehört oder zugeschaut wird.

 

Der Kulturprotestantismus ist der Übergang von einer ursprünglich christlich motivierten Kultur in die antichristliche Kultur, die selbst Ausdruck einer christentumsverfremdenden Gesellschaft ist. Auf die mystische Selbsterhöhung durch die Kunst folgt die Selbstzerstörung durch die Kunst. Wäre Rembrandt heute möglich? Wo sollte er im Zeitalter der Zerstörung der Person jene Menschen sehen und entdecken, auf deren Gesichtern er die Herrlichkeit der Erfahrung Gottes sehen könnte? Christliche Kultur ist immer ein realistisches Ja zur Schöpfung Gottes — die moderne Kultur entsetzt (durch Massenmedien propagiert) die christliche Gemeinde durch ihren aggressiven Nihilismus! Moderne Kunst zeigt Menschsein nicht etwa in Grenzerfahrungen, am Rande des Nichts und dann eben in realistischen Dimensionen! Ganz im Gegenteil treibt sie in zynischer Weise alles Seiende in den Abgrund der Zerstörung; da ist keine Spannung zwischen Licht und Finsternis, da ist nur die Finsternis in ihrer brutalen Weise in Aktion gesetzt: Kulturrevolutionen beginnen typischerweise in den Zeitungen im Bereich des Feuilletons, bevor sie zu den übrigen Seiten der Tagespolitik übergreifen. Die Zerstörung unserer Gesellschaft in der Kultur gibt sich etwa so:

 

»Ja, sagte ich zu mir, auch ich liebe alles Fließende: Flüsse, Kloaken, Lava, Samen, Blut, Galle, Worte, Aussprüche. Ich liebe das Fruchtwasser, wenn es aus der Embrionalhülle spritzt, ich liebe die Niere mit ihren schmerzenden Nierensteinen, ihren Gries und was nicht noch alles; ich liebe den brühheiß herausrinnenden Urin und den endlos laufenden Tripper; ich hebe die Worte der Hysterischen und die Aussprüche, die wie Ruhr rinnen und alle kranken Bilder der Seele widerspiegeln … ich liebe alles, was fließt, sogar den Menstruationsfluß, der den unfruchtbaren Samen wegschwemmt. Ich liebe fließende Schriften, mögen sie hieratisch, esoterisch, pervers, vielgestaltig oder einseitig sein…«

 

So zu lesen in Henry Millers »Wendekreis des Krebses«, deutsch 1962. R.W. Eichler bringt dieses Beispiel in seinem bemerkenswerten Buch »Der gesteuerte Kunstverfall«, 3. Aufl. 1968. Eichler sieht in der Verneinung der Natur die Zeichen des modernen Kunstzerfalls. Er unterscheidet dabei zwischen drei Phasen der Verfremdung von der Natur: Die Entfernung, die Vergewaltigung und die Widerlegung der Natur. Und er macht dabei die interessante Entdeckung, daß moderne Kunst an die heidnischen Primitivformen der sogenannten Naturvölker anknüpft:

 

Ferner gilt als aktuell, was die Natur zu widerlegen scheint, was absurd und hintersinnig wirkt. Unter Berufung auf die Lehren Freuds machten und machen die Surrealisten angeblich Vorgänge ihres Unterbewußten sichtbar (Salvador Dali, Max Ernst, Edgar Ende, Heinz Trökes). Zwischen diesen Hauptgruppen gibt es ungezählte Mischformen und Übergänge. Die Herkunft aus einer oder mehreren dieser Quellen läßt sich indessen bei etwas Erfahrung immer nachweisen.

 

Nur angemerkt sei hier, daß weite Bezirke dieser Scheinmoderne von der Ausbeutung archaischer und exotischer Bildmalerei leben. Das Schlagwort vom Avantgardismus wird zur Lächerlichkeit, wenn dessen Vertreter die Naturvölkerkunst (die wir im Völkermuseum durchaus zu schätzen wissen) sklavischer nachahmen, als es die Klassizisten jemals mit der Antike getan haben.

 

Das langläufige, oberflächliche Kunstgeschwätz sieht in Picasso (von der zweiten Garnitur der Maniristen wie Koenig, Reidel und Wotruba ganz zu schweigen) geradezu den Inbegriff des originellen zeitnahen Künstlers. Was bliebe indessen von seinem Werk — insbesondere von seiner Plastik —, wenn man die altmexikanischen, Südsee- und Eskimo-Anleihen ausfiltern würde?

 

Die moderne Kunst verfremdet sich gegenüber der Natur, und sie verfremdet sich gegenüber der Seele — sie geht aus von der zerstörten Person. Nicht das Ganzheitliche der Person spricht sich in der Kunst aus, sondern jene Bruchstücke, wie sie aus den archaischen Tiefen menschlicher Seele unbeherrscht und ungeordnet aufbrechen. Es ist also in der modernen Kultur so etwas wie ein Haß gegen die Schöpfung am Werke, ein tödlicher, ungetrösteter Pessimismus, der am ganzheitlichen Leben genauso zerbrochen ist wie an der Schöpfung. Schöpfer und Schöpfung werden dämonisch pervertiert und erfahren deswegen auch wohl die Rückkehr zu vorchristlichen heidnischen Vorbildern.

 

Dazu schreibt Hans Krieg in seinem Buch »Die große Unruhe«:

 

»Haß und Mißachtung der Schöpfung sind Zeichen der Hilflosigkeit. Das haben wirklich große Künstler und wirklich große Philosophen unserer Zeit sehr wohl erkannt. Dieser Haß und diese Mißachtung stellen sich aber nur dort ein, wo das Schicksal oder das, was wir dafür halten, uns den Anschluß an unsere natürliche Umwelt zu verwehren scheint. So entstehen dann verbissene Pessimismen, Negativismen bezüglich aller gesunden Tradition, die sich mit unglücklichen Psychopathien und ähnlichen Defekten in den Reihen der Ewig-Unzufriedenen begegnen.«

Dieser geradezu gnostische Schöpfungshaß wird deutlich in einem Brief von Franz Marc vom 12.4.1915, in dem es heißt:

»Der unfromme Mensch, der mich umgab (vor allem der männliche), erregte meine wahren Gefühle nicht, während das unberührte Lebensgefühl des Tieres alles Gute in mir erklingen ließ.
Und vom Tier weg leitete mich ein Instinkt zum Abstrakten,
was mich noch mehr erregte; zum zweiten Gesicht, das ganz
irdisch-unzeitlich ist und in dem das Lebensgefühl ganz rein
klingt. Ich empfand schon sehr früh den Menschen als hässlich,
das Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte
ich soviel Gefühlswidriges und Häßliches, so daß meine Darstellungen instinktiv, aus einem inneren Zwang, immer schematischer, abstrakter wurden. Bäume, Blumen, Erde, alles
zeigte mir mit jedem Jahr mehr häßliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst jetzt plötzlich die Häßlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewußtsein kam.«

 

Wir beobachten in der modernen Kulturrevolution die Zerstörung des Menschlichen und die Verfremdung der Schöpfung. Die Propagierung der modernen Kulturrevolution erfahren wir in unserer Welt durch den modernen Journalismus, der sich für diese Art von Kunst einsetzt mit einer Art messianischen Sendungsbewußtseins. Warum wird dieser Kunststil so perfekt gesteuert, und warum beherrscht er die Öffentlichkeit? Steht eine kommunistische Verschwörung dahinter? Mitnichten! Eben weil die Journalisten zwangsläufig (ganz und gar Sprachrohr atheistischen Zeitgeistes) in gleicher Weise auf Haß gegen die Welt und gegen sich selbst und auf Rache gegen Gott »eingeschworen« sind, propagieren sie eine Kultur, die Ausdruck ihrer eigenen Chaotisierung ist. In der modernen Kunst erleben wir ja nicht die Begegnung mit Mensch und Natur, die durch das »Können« in die Möglichkeit der Betrachtung für alle erhoben wurde, sondern die geschickte Propaganda der dämonisch-aggressiven Verneinung dessen, was ist. Diese Art moderner Kunst, gleichgültig ob sie sich »ausdrückt« in der Malerei, in der Plastik, in der Dichtung oder in der Musik, kann nicht anders als antichristlich-zerstörerische beurteilt werden.

Werden die Dämonen losgemacht? Triumphiert nicht schon die Disharmonie des Rock und Beat in jenen Gruppenorgien unserer Kirchen, die sich Gottesdienst nennen? Die neuheidnisch-nachchristliche Unkultur wird sich von heidnisch-vorchristlicher Kultur durch ihren aggressiv-endzeitlichen Nihilismus unterscheiden. Die spezifisch-antichristlichen Züge der nachchristlichen Kultur als solche zu entlarven, wäre die besondere Aufgabe einer christlichen Kulturphilosophie. Kultur kann unchristlich und antichristlich sein. Thomas Manns »Zauberberg«, der menschliches Untergangsdrama in einem Schweizer Sanatorium schildert, ist gewiß nicht christlich, denn hier fehlen neben dem Häßlichen (ganz im Gegensatz zu Rembrandt) die Zeichen des Lichtes, neben dem Verlorensein vermissen wir den weiten Atem des Rettenden. Aber diese Kunst ist nicht antichristlich, sie beobachtet und verdichtet den Zerfall, aber sie propagiert ihn nicht — es bleiben die Balken der Schöpfung unangetastet.

Antichristlich hingegen ist eine Kunst, die aggressiv-schamlos und bewußt gegen die Schöpfung und die Erlösungsmächtigkeit Gottes tobt, weil sie nicht einmal Schmerz am Untergang kennt, sondern durch die Lust an der Vernichtung, im Haß gegen alles, was ist, motiviert wird.

Wenn der unreine Geist in sein Haus, aus dem er durch Christus vertrieben wurde, zurückkehren will, soll er es in der Gemeinde eben nicht »leer, gesäubert und geschmückt« finden, wie er es in der Welt finden wird, wo er dann »sieben andere Geister mit sich nimmt, die schlimmer sind als er, und sie ziehen ein und wohnen dort; und es wird nachher mit jenem Menschen schlimmer als vorher« (Matth. 12,43 ff). Jesus verweist ausdrücklich (Vers 45) darauf, daß es so »mit diesem bösen Geschlecht sein wird …«.

Am Ende der Zeit kehrt die Macht des Bösen zurück und besetzt die Kultur (hier Haus als behaustes Haus Ausdruck auch für Kultur). Die dämonisch okkupierte Kultur ist dann das Zeichen für das Ende der Zeit; die dann noch vorhandene christliche Kultur wird nur noch als Subkultur, als die Kultur einer Minderheit und Randgruppe weiterexistieren bis zur Wiederkunft des Herrn am Ende der Zeiten.

Die Hervorhebungen im Text habe ich vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im Februar 2014

www.horst-koch.de

info@horst-koch.de

Weitere Beiträge von Dr. Huntemann auf meiner Webseite:

Die Zerstörung der Person

Aids – Eine Strafe Gottes für eine lustverfallene Gesellschaft?

Der Aufstand der Schamlosen

Leben wir in der Endzeit?

 




Die Zerstörung der Person (Huntemann)

 

Georg Huntemann

 

DIE ZERSTÖRUNG DER PERSON

 

 Der Umsturz der Werte

 Gotteshass der Vaterlosen

 Feminismus

 

Vorwort

Alle wissen es, daß wir heute in einem Traditionsumbruch leben, den man ohne Zögern »gewaltig« nennen kann. Vielleicht kommt da ein ganz neuer, in seinem Denken, Fühlen und Urteilen ganz anderer Mensch auf uns zu! Zweifellos leben wir in einem Umsturz aller Werte und in einer Auflösung herkömmlicher Ordnungen. Woher kommt das, und wohin führt das? Was ist der Kernprozeß in diesem Umbruch, der uns allen unter die Haut geht? Auf diese Frage will dieses Buch antworten. Hier wird nicht Moral gepredigt, sondern aufgedeckt, warum Moralpredigten sinnlos sind in einer Zeit, in der gerade eben Wert und Sinn des Lebens in die Phase einer Revolution geraten sind. Wer gegen herkömmliche Lebensordnungen revoltiert, will und kann keine Moralpredigten hören!

Es geht heute nicht um »Moral« im engeren Sinne, es geht um eine neue Kultur, um eine Kulturrevolution. In diesem Buch soll knapp, auf den Nerv der Dinge stoßend, der Kernprozeß dieser Kulturrevolution als tiefgreifender Konflikt mit biblischer Offenbarungsreligion, eben als antichristliche Kulturrevolution, dargestellt werden.

Dieses Buch geht auf Vorträge zurück, die ich in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden hielt. Der Ertrag der oft dramatischen Diskussionen konnte für dieses Buch eingebracht werden.

Bremen, im März 1981  –  Georg Huntemann 

 

1. Kapitel

 

Umsturz der Werte

– Ursache und Zukunftsfolgen der Moralrevolution –

Im Prozeß der Auflösung 

 Es war einmal ein christliches Abendland. In diesem christlichen Abendland galten die in der Bibel geoffenbarten Gebote Gottes als absoluter Maßstab, als ein für die ganze Gesellschaft verpflichtendes Ethos. Dieses christliche Abendland war kein Ort moralischer Vollkommenheit. In diesem christlichen Abendland wurden grausame Kriege geführt, Menschen unterdrückt, ausgebeutet und verfolgt. In diesem christlichen Abendland wurde gegen die Gebote Gottes gelebt und gehandelt. Aber niemals, bis in die Neuzeit hinein und dann zunächst nur am Rande, in den Köpfen einiger revolutionärer Philosophen, wurde das biblische Ethos als solches in Frage gestellt. Die Gebote Gottes waren nicht wegzudiskutierende Maßstäbe des Lebens, sie stellten vielmehr ihrerseits das Tun und Treiben der Gesellschaft in Frage. Der unangefochtene Anspruch eines absoluten, eben biblisch offenbarten Ethos, war eine Kraft, die aus jedem Dilemma wieder zur Verantwortung rief, die das Böse als Böses und Schuld als Schuld offenbarte. Es gab diese letzte Instanz endgültiger Werte, die in der Unordnung zur Ordnung und in der Ungerechtigkeit zur Gerechtigkeit rufen konnte. Solange das Gebot Gottes als unfehlbare Autorität galt, solange konnte unsere europäische Gesellschaft durch eine permanente Reformation immer wieder zum ursprünglichen Gehorsam zurückgerufen werden.

Unsere gegenwärtige Situation ist die Auflösung dieser Werte nicht in dem Sinne, daß wir gegen das herkömmliche Ethos leben, sondern daß wir es grundsätzlich verneinen. Diese unheimliche, radikale Verneinung ist neu, wir sind ihre Zeugen, obgleich erstaunlich wenig Bürger in unseren europäischen Ländern sich dieser unverhohlenen Zerstörung biblischer Werte bewußt sind. Dem Zusammenbruch der Werte steht der »Abendländer», hilflos gegenüber, weil er gewissenlos geworden ist.

Wo und wie zeigt sich der Zerfall der Werte? Hierzu einige Beispiele:

Eine ausdrücklich unter Gottes Gebot gestellte Ordnung ist die Familie. Das fünfte Gebot »Du sollst Vater und Mutter ehren» schützt eine Lebensordnung, die nach biblischem Verständnis wichtiger ist als der Staat. Die Geschichte des alttestamentlichen Gottesvolkes zeigt, bevor es die Nation, den Staat oder die Gesellschaft gab, war die Familie: Bevor Israel war, war Abraham.

Vater und Mutter stehen in der unmittelbaren Verantwortung vor Gott für ihre Kinder. Aus dieser Verantwortung empfangen sie ihre Autorität, das Leben ihrer Kinder nach Gottes Gebot zu leiten. Diese gottesunmittelbare Autorität und Ordnung der Familie war seit je ein Bollwerk gegen die Verabsolutierung des Staates. Diese Autorität der Familie, ihre von Gott gesetzte Ordnung wird heute verneint. Abrahams und Noahs Autorität beruhte auf dem Vertrauen zur Autorität Gottes ‑ deswegen konnte Noah die Sintflut überleben und Abraham der Urvater eines Gottesvolkes werden. Sie setzten ihre Autorität nicht aus sich selbst, sondern empfingen sie von Gott, weil sie auf das Wort Gottes hörten. Der Kampf gegen die Autorität der Familie verneint, daß überhaupt Autorität von Gott empfangen und vor Gott verantwortet werden soll.

Die Verneinung der Autorität der Familie ist aber auch die Verneinung der Freiheit der Familie, sie bedeutet (und will dies auch bewußt) die Auflösung der Familie. Der Familie übergeordnet wird heute die Gesellschaft. Eltern haben nicht mehr die »elterliche Gewalt«(Vollmacht im Sinne einer Gott gegenüber zu verantwortenden Autorität), sondern nur noch ein »Sorgerecht«, das sie in der Verantwortung nun nicht mehr gegenüber Gott, sondern gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen.

Das Wort Gott, Name oder Inhalt der Gebote, überhaupt ein absolutes Ethos, das man anerkennt, sind aus allen Texten, die heute Regeln menschlichen Zusammenlebens vorschreiben, verschwunden. Diese Gesellschaft verlangt (vgl. den Zweiten Familienbericht des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit von 1975), gegen noch geltendes Recht, »daß die Eltern der einsichtsfähigen Kinder nach Möglichkeit Rücksicht nehmen und bei Maßnahmen im Rahmen des Sorgerechtes durch verständnisvolle Aussprache eine Einigung mit dem Kinde anstreben«.

Was ist unter dieser »Einigung« zu verstehen? Auf alle Fälle müssen die Regeln dieser Einigung dem »sozialen und gesellschaftlichen Wandel«, angepaßt sein. Diesem Zweck soll die Wissenschaft dienen. Aber – »da sich die gesellschaftliche Realität im Zeitablauf ständig wandelt und auch die politischen Maßnahmen Veränderungsprozessen unterliegen, kann dieser Erkenntnisprozeß zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen angesehen werden«. Was also in einer Familie verbindlich zu geschehen hat, sagt eine sich fortwährend ändernde Gesellschaft mit einer sich ebenfalls fortwährend ändernden Erkenntnis der Wissenschaft. Alles ist und bleibt für alle Zeiten im Fluß, heute so, morgen anders. Heute kann die geforderte Einigung mit dem Kinde darin bestehen, daß dem Kind Recht auf sexuelle Selbstverwirklichung eingeräumt wird, und morgen kann dieser Anspruch auf geschlechtliche Verwirklichung die Zulassung homosexueller Praktiken bedeuten.

Man möchte hoffen, daß solche Ansprüche auf Selbstverwirklichung doch wohl übertrieben sind. Die Realität ist aber nun einmal, daß ein vierzehnjähriger Schüler 1979 in Bonn anläßlich einer Feier zum »Jahre des Kindes«, in Gegenwart des damaligen Bundespräsidenten Scheel und der Ministerin Huber öffentlich folgende Forderung nach Selbstverwirklichung bekundete: »Ich bin ein sexuelles Wesen und will diese Sexualität auch voll ausleben ‑ mit Erwachsenen, mit Vierzehnjährigen, mit Sechzehnjährigen, mit Achtzehnjährigen, mit Jungen und Mädchen, mit Männern und mit Frauen; es ist egal, welches Geschlecht und wie alt. Liebe brauche ich mehr als alles andere, aber gerade Liebe bekomme ich keine, weil andere Sachen angeblich wichtiger sind ‑ wie Schule, Lernen, Studieren, Geld verdienen. Deshalb darf ich meine Gefühle nicht ausleben, deshalb gibt es Gesetze, die mich zwingen, sechs Stunden am Tage irgendeinen Mist zu lernen; da mache ich nicht mehr mit, ich lerne nur noch die Sachen, die ich lernen will, ich werde nur noch nach meinen Gefühlen leben, ich werde versuchen, frei zu sein, und ihr werdet versuchen, frei zu sein, und ihr werdet versuchen, mich totzuschlagen, werdet mich auslachen und mich für verrückt erklären, nur um nicht über eure eigene Kaputtheit nachzudenken. Ich brauche euch nicht! Ich finde, in Familien ist es so gut wie unmöglich, daß die Kinder frei leben, und daß sie lernen, ihre Wünsche zu artikulieren und auszuleben. In der Familie lernt das Kind nur eins: Zu gehorchen und seine Wünsche zu unterdrücken. Das soll man aber nicht tun; nur wer sich einmal gegen seinen Vater wehrt, der gehorcht auch später vielleicht seinen Lehrern nicht und noch später seinem Chef nicht. Für solche Kinder gibt es dann die staatlichen Erziehungsheime. Diese Gefängnisse sind zur Zeit die einzige Alternative zur Familie. Auf die Idee, daß wir selbst am besten wissen, was gut für uns ist, kommt keiner. Entweder werden wir von unseren Eltern bevormundet oder vom Staat. Was wir wollen, ist scheinbar egal, wir sollen vergessen, was wir wollen.« (Zitiert von Christa Meves in »Godesberger Resolution. Beiträge, Proteste«. Bremer Studienhefte, 1980).

Die Gesellschaft ‑ wir werden noch auf die Bedeutung dieses neuen Abgottes zu sprechen kommen ‑ ist allmächtig und allwissend. Sie selbst kennt keine abloluten Maßstäbe, da sie im ständigen Fluß der Veränderungen lebt und mit ihr Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Richtig und Falsch. Je weniger Autorität bei der Familie, umso mehr Macht hat die Gesellschaft. Alle Macht der Gesellschaft ‑ das ist das äußere Kennzeichen einer Moralrevolution, die an jedem Verstoß gegen jedes einzelne der zehn Gebote nachgewiesen werden kann.

Moralrevolution ist Entautorisierung des biblischen Gebotes zum Zwecke der Autorisierung des Kollektivs!

Das Gebot »Du sollst nicht stehlen« schützt die von Gott gesetzte Ordnung des Eigentums. Eigentum ist nicht der Gesellschaft, sondern der Familie zugeordnet. Das biblische Gesetz schützt nicht nur das Eigentum, sondern in der mosaischen Ordnung des Sabbat und Jubeljahres soll jeder ‑ auch wenn er sein Eigentum schuldhaft verloren hat ‑ wieder zu seinem Eigentum kommen können. Die Verproletarisierung der Gesellschaft soll nicht sein. Gottes ist die Erde, er hat sie dem Menschen anvertraut ‑ nicht der Gesellschaft, sondern dem einzelnen. Dieser soll zum Bilde Gottes geschaffen in freier, persönlicher Entfaltung seine schöpferischen Kräfte in dem ihm eigenen, d. h. ihm zugeeigneten Schöpfungsbereich, durch sein personales Tätigsein entfalten.

In einem gigantischen Prozeß technokratischer und gesellschaftlicher Revolution spielt sich ein ebenso gigantischer Prozeß der Enteignung des einzelnen ab. Wie weit im industriellen Mammutismus überhaupt noch Eigentum praktizierbar bleibt, ist e’ene Frage ‑ ob wir aber Eigentum als Gottesgebot und damit als Ziel gesellschaftlichen Lebens trotz aller Widerstände technokratischer Lebensgestaltung bezeugen, zum Sinn und zur Aufgabe eines personalen und freiheitlichen Daseins erheben wollen, ist die andere Frage.

Diese Frage wurde in der Moralrevolution mit Nein beantwortet und praktiziert. Inflation und steuerliche Konfiskation, industrielle Expan­sion und Konzentration treiben die Enteignung des Lebens mit eskalierender Geschwindigkeit voran. Die Monopolstellung des Staates in Verwaltung, Bildung und Wirtschaft weitet sich immer mehr aus: Nur im Sozialismus vollendet sich die Demokratie ‑ das ist das Grundpostulat der gesellschaftlichen Moralrevolution. Die Fundamentaldemokratisierung der Wirtschaft hat die totale Disparatheit von Einzelverantwortung und Eigentum zum Ziel. Das Postulat Mitbestimmung erstreckt sich dabei nicht nur auf die wirtschaftliche Produktion (vgl. Herbert Marcuse »Repressive Toleranz», 1969, S. 121), sondern auch auf die geistige Tätigkeit, wenn die Aufhebung des Tendenzschutzes verlangt wird und Mitbestimmung in letzter Konsequenz die private Meinungsäußerung in Wort, Bild, Ton und Schrift aufheben will mit dem Ziel, daß eben nicht der einzelne, sondern nur das Kollektiv ccschöpferisch» sein darf. In dieser letzten Konsequenz hätte die Sekretärin, die eine Doktorarbeit mit der Schreibmaschine schreibt, das Mitbestimmungsrecht über den geistigen Inhalt. Wissenschaftliche Arbeit soll der Gruppe zugeordnet werden. Das sind nicht nur gegenstandslose Ängste, sondern klipp und klar ausgesprochene Zielsetzungen politisch aktiver Sozialrevolutionäre. So schreibt Fritz Vilmar (in «Strategien der Demokratisierung», Bd. 1, 1973):

»Die Revolution hat schon begonnen. Orthodoxe Linke halten immer noch Ausschau nach Opas Revolution als einer, die hereinbrechen soll, wie ein grandioses Gewitter … Der vom autoritären Vater, Lehrer, Fernsehen und Pfarrer vorgeprägte Sechzehnjährige wird in der Disziplinierung und Leistungskontrolle des Kapitals, die in Gestalt seines Meisters oder Bürochefs ihm begegnet, keine besonders fragwürdige, gar menschenunwürdige Herrschaft empfinden.

Daher gilt auch umgekehrt: Bröckeln die autoritären Strukturen in Familie und Schule, Universität und Kirche, Verwaltung und Massenmedien ab, so wird die Aufrechterhaltung eben dieser Strukturen im Zentralsystem der profiterzeugenden Arbeitswelt immer schwieriger.« Durch eine «multifrontale Transformationspraxis», d. h. durch die Praxis an vielen Fronten (Familie, Schule, Massenmedien, Arbeitswelt) soll die Revolution aller Lebensbereiche im Sinne einer Fundamentaldemokratisierung verwirklicht werden.

Anscheinend geht der Kampf gegen Profitsucht, Kapitalismus und Ausbeutung ‑ im Kern aber wird die totale Vergesellschaftung jeden menschlichen Tätigseins gewollt und mit einer von der Mehrheit der Bevölkerung gar nicht verstandenen Strategie Zug um Zug verwirklicht:

»Du bist nichts, dein Volk ist alles« war ein Schlagwort des Natio­nalsozialismus. ‑ Du bist nichts, die Gesellschaft ist alles, ist das Leitwort der modernen Moral ‑ Gesellschaftsrevolution.

An Beispielen aus den Schöpfungsordnungsbereichen Familie und Eigentum sind einige wertumstürzende Faktoren aufgezeigt worden. Die Beispiele zum Gebot »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten« könnten vor allem aus dem Bereich der Massenmedien entnommen werden, die Tag für Tag ein Bild über die Wirklichkeit aufrichten, das eben Wirklichkeit nicht übermittelt, sondern entstellt. In diesem Zusammenhang hat ein klassischer Vertreter der sogenannten moralrevolutionierenden kritischen Theorie, Herbert Marcuse die Theorie aufgestellt, daß die Lüge die Wahrheit des zukünftigen Sozialismus bewahren kann. Er verteidigt damit die Propaganda des Sowjetkommunismus und dessen Diskrepanz zwischen Illusion und Realität. Er meint, die Theorie dieses Kommunismus sei zwar unwissenschaftlich und verlogen, aber die Illusion solle das Verhalten der Bürger anleiten, und die Lüge entfalte schließlich die Idee des Sozialismus. Die selektive Methode moderner Massenmedien, nämlich durch Tendenz geleitet, jeweils Ausschnitte aus Wirklichkeitsbereichen zu vermitteln, wird hiermit genauso gerechtfertigt wie die totale Entstellung von Wirklichkeitsgehalten, wenn nur die Lüge den zukünftigen Sozialismus bewahrt.

Wird die ethische Ordnung einer Gesellschaft zerstört, dann wird über kurz oder lang die Rechtssprechung mit einer Veränderung des geschriebenen Rechtes folgen. Das ist die letzte Konsequenz: Aus dem Rechtsstaat wird ein Unrechtsstaat. Dazu ein Beispiel, das für viele andere gelten kann. Der Strafrechtler Eberhard Schmidthäuser schrieb schon 1970 in seinem »Strafrecht allgemeiner Teil», daß das Rechtsgut nicht als absolut gelte, sondern abhänge vom Urteil des Gemeinwesens: »Nur soweit etwas in einem Gemeinwesen für wertvoll erachtet, also als gut anerkannt wird, kann eine Mißachtung dieses Gutes und damit ein Verbrechen vorliegen.« Entscheidend für die Beurteilung über Gut und Böse, Recht und Unrecht ist nicht eine absolute Moral: »Maßgebend ist also die allgemeine Moral, verstanden im Sinne derjenigen ethischen Werte, deren Anerkennung im Bereich unserer Kultur beim Erwachsenen regelmäßig vorausgesetzt werden darf«.

Strafrecht orientiert sich also nicht mehr nach dem offenbarten Gesetz Gottes oder nach dem als unwandelbar angesehenen Naturrecht des Menschen, sondern nach den wechselnden Verhaltensweisen eines sich wandelnden Kollektivs. Da die Gesellschaft permanent in einem tiefgreifenden Wandel ist, wächst die Unsicherheit und damit die Flut der Gesetze, die für eine jeweils neue Situation mit einer neuen Verordnung Regulative schaffen müssen. Die Inflation des Geldes meldet den steigenden Wertverlust des Geldes. Die Inflation der Gesetze meldet den Rechtsverlust einer Gesellschaft. Unsicherheit der Währung und Unsicherheit des Rechtes zeigen aber immer die Auflösung einer Gesellschaft.

Die Unbestimmtheit der nun zu erwartenden Gesetze, ihre Willkürlichkeit angesichts einer sich verändernden Gesellschaft produzieren Rechtsunsicherheit. Gleichzeitig aber wird jeder in dieser Ge­sellschaft schuldig. Weil er die Gesetze nicht mehr übersieht, muß jeder Bürger damit rechnen, gegen Gesetze, die er gar nicht kennt, permanent zu verstoßen. So wird jeder zu einem Angeklagten und die Gesellschaft zu einer Gesellschaft von Angeklagten. Angst, Unmündigkeit, schlechtes Gewissen, Furcht vor Funktionären und »Rechtsunlust» ‑ diese Elemente betreiben die Auflösung eines Staatswesens, an dessen Ende nur die Diktatur ‑ als Gipfel willkürlicher Machtausübung ‑ die Funktionsfähigkeit eines Gemeinwesens «retten» kann. Christliche Existenz gibt es schon heute nur noch in einer nach modernen Maßstäben zu beurteilenden Randgruppenmoral, denn wer ‑ um nur ein Beispiel zu nennen ‑ die Ehe als Gebot Gottes wertet und ihre Auflösung als Schuld, der setzt Schuldprinzip gegen Zerrüttungsprinzip ‑ und moderne Rechtspflege hat ja gerade dieses Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip aufgehoben. Die Sprache des Rechts ist so sehr »christentumsverfremdend» geworden, daß beispielsweise Homosexualität nicht mehr in einen Zusammenhang gebracht wird mit »Schuld« oder »abnorm«, »unmoralisch« oder »sittenwidrig«, sondern einfach als »anderes Verhalten« eingestuft wird.

Am Ende einer solchen, biblisches Ethos zerstörenden Moralrevolution, steht schließlich das Verbot der Bibel, denn nach den Regeln einer »repressiven Toleranz« muß, was sich selbst absolut setzt, von einer werterelativierenden Gesellschaft als friedestörend verneint werden.

 

Die Doktrin der Moralrevolution

Die letzte Ursache der Auflösung des biblischen Ethos für unsere Gesellschaft liegt in der Gottesverlorenheit gegenwärtigen Menschseins. Glaube an Gott und Gottes Gebote sind untrennbar ‑ es gibt kein Gebot ohne den Gebieter. Wir werden diesen unauflösbaren Zusammenhang, der nur von der Bibel her zu verstehen ist, noch weiter bedenken.

Zunächst müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die gegenwärtige Moralrevolution eine klare, begrifflich faßbare Doktrin hat. Die Revolution der Moral hat ihre Strategie und ihre Strategen ‑ eine Armee von Professoren, Lehrern, Soziologen und Journalisten. Sie alle haben direkt oder indirekt ihre geistigen Väter in der sogenannten »kritischen Theorie, , die mit dem Schlagwort »Frankfurter Schule« sei es zu Recht oder zu Unrecht ‑ bekannt wurde und mit Namen wie Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas verbunden ist. Diese sogenannte »Frankfurter Schule« oder »kritische Theorie» versteht sich nicht als ein Philosophenclub unter anderen, sondern als sichtbarer Gipfel eines Eisberges aus dem gewaltigen Untergrund des Umsturzes aller Werte.

Die Begriffswelt der kritischen Theorie, wie sie sich unter anderem in der Frankfurter Schule darstellt, ist mittlerweile schon so bekannt und regiert unsere Universitäten, Schulen und Massenmedien bereits in einem solchen Maße, daß eine zusammenfassende Darstellung dieser intellektuellen Repräsentation gegenwärtiger Moralrevolution genügt.

1. In der Absicht, über die Natur herrschend zu werden, ist der Mensch ‑ so meint die kritische Theorie, selbst in Herrschaft hineingeraten. Herrschaftsdenken ist instrumentales, technokratisches Denken im Willen zur Macht. Durch diesen Willen zur Macht wurden Herrschaftsstrukturen geschaffen, in denen der Mensch über den Menschen herrscht. Die Geschichte ist nach dem Verständnis dieser Philosophie nach dem Verlust eines glücklichausgesöhnten Lebens mit der Natur zur Geschichte eines Irrweges der Macht geworden, der in den Gaskammern von Auschwitz sein vorläufiges Ende gefunden hat. Auch zweitausendjährige Geschichte christlichen Abendlandes sind zweitausend Jahre eines Herrschaftssystems innerhalb dieses beklemmenden Irrweges von der Steinschleuder bis zum Holocaust.

2. Jegliche Art von Herrschaft und damit auch jegliche Form von Autoritätsanspruch muß ‑ so fordert die kritische Theorie ‑ verneint werden. Das heteronome, etwa durch ein Gebot, durch ein »du sollst« an den Menschen herangetragenes Ethos, ist schon Herrschaftsanspruch und deswegen zu verneinen. Spontanes und kreatives, fröhliches und glückspendendes Denken und Fühlen, Seele, Trieb, Herz und Kopf sind durch die in Fleisch und Blut eingegangenen Herrschaftsstrukturen kaputt gemacht worden. Analytisches Denken und Sprechen, also daß es Subjekt und Objekt in einem Satz gibt, daß es Haupt‑ und Zeitwörter gibt, daß einige Worte groß und andere klein geschrieben werden, zeigt den Triumph von Herrschaftsstrukturen, die durch eine moderne Pädagogik (vgl. Ganzheitsmethode, Kleinschriftsystem usw. usw.) schnellstens überwunden werden müssen. Die Beherrschung der Sexualität, Gehorsam gegenüber Eltern, Scham, Ehrfurcht und Tabu sind Beispiele für ‑ so meinen die Moralrevolutionäre ‑ Unterdrückungsmechanismen in menschlicher Selbstverfremdung. Der archaische Urstand, der als Idylle einer Herrschaftslosigkeit verstanden wird, muß auch der Endzustand der Geschichte wer­den. Der Kampf gegen die Repression ist Kampf gegen Autorität und gegen die Unterdrückung der Lust. Autoritätslos und lustbetont soll der Mensch leben, um die Freiheit wiederzugewinnen, die er in einer Geschichte verloren hat, die durch sukzessive Unterdrückung und Verdrängung von Lust ihren traurigen Lauf nahm (Marcuse).

3. Auch Personsein, als Individuum leben, bedeutet durch Herrschaftsstruktur entstelltes, dem wirklichen Dasein entfremdetes Leben. Theodor W. Adorno fordert (in seiner «Negativen Dialektik« 1966, S. 272) die Auflösung des Subjektes, »die opferlose Nichtidentität«. Human sind Menschen nach seiner Meinung nur dort, »wo sie nicht als Person agieren und gar als solche sich setzen; das Diffuse der Natur, darin sie nicht Person sind, ähnelt der Lineatur eines intelligiblen Wesens, jenes Selbst, das vom Ich erlöst wäre..« Die repressionsfreie Identität meint ein Leben, das frei wird von der Herrschaftsstruktur des Willens, der Triebunterdrückung, der Qual, anders sein zu wollen als die anderen, weil man eben «selbst» sein will. Jürgen Habermas erwartet (in seiner «Rekonstruktion des historischen Materialismus« 1976) am Ende der Hochreligionen, zu denen für ihn natürlich auch das Christentum zählt, eine neue kollektive Identität: Nach der Auflösung herkömmlicher, herrschaftsstrukturierter Gruppen wie Familie, Staat, Nation wird der personfreie Mensch ganz in die Gruppe, also in das Kollektiv aufgehen. Die Identität hat dann in der Gruppe keine festen Inhalte mehr, Rollen und Normen sind beliebig austauschbar, die Hausfrau wird Kauffrau, der Kaufmann wird Hausmann, der Vater wird Mutter und die Mutter wird Vater ‑ bis zu der Grenze, die die Natur selbst (wohl zum Ärger dieser Moralrevolutionäre) gesetzt hat. Das eigene, individuell geprägte Personsein wird aufgehoben, alles was der einzelne tun darf, sollen Funktionsbezüge der Gruppe sein. Ohne die Gruppe, die ihm austauschbare Funktionen zuweist, ist er nichts, in und mit der Gruppe ist er alles. Die gruppendynamischen Experimente, vor allem das in ihnen praktizierte Rollenspiel, sollen die Person »verflüssigen,«, »entsteinern» und letztlich aufheben.

In diesem Zusammenhang ist von der »Reziprozität der Rollen«, die Rede. Dieser Ausdruck meint, daß Gruppenerwartung und Rolle einander entsprechen müssen. Der einzelne verantwortet sich der Gruppe, sie überträgt ihm die immer neuen, immer wieder auszuwechselnden Verhaltensweisen. Dadurch bleibt ausgeschlossen, daß sich Individualität bildet. Die Identität des einzelnen mit sich selbst soll es nicht geben, sondern nur die Identität des einzelnen mit der Gruppe.

4. Herkömmliche Autorität soll zerstört werden ‑ die neue Autorität ist die Gruppe oder das Kollektiv. Das Kollektiv setzt Ethos aus sich. Das Ethos entsteht erst durch die Diskussion in der Gruppe. Voraussetzung für diese Diskussion ist der herrschaftsfreie Raum. Diskutieren darf nur, der nicht unter einem »herrschaftslegitimierenden Weltbild«, steht. Ein herrschaftslegitimierendes Weltbild hat aber nach Meinung der Sozialrevolutionäre der christliche Glaube. Wer Gott als den allmächtigen Vater, Schöpfer Himmels und der Erde bekennt, steht unter einem herrschaftslegitimierenden Weltbild, muß also außerhalb des Diskurs der Gruppe bleiben, die Ethos »macht«. Natürlich sind keinerlei ethische Maßstäbe erlaubt ‑ wer an diesem Diskurs teilnimmt, darf »nichts mitbringen«. Herkömmliches Ethos muß an der Tür abgegeben werden, denn die Kriterien in der Unterscheidung zwischen Gut (gleich gesellschaftlich adäquat) und Böse (gleich gesellschaftsfeindlich) werden ja erst im Prozeß der Diskussion entfaltet. Es geht in diesem Diskurs der herrschaftsfreien Gruppe nicht um »die Idee der Wahrheit«», das wäre ja wieder Herrschaftsstruktur, sondern um den »Konsensus« (man spricht deswegen von einer Konsensusethik der kritischen Theorie) der Gruppe. Der Konsensus ist die Einigung einer Gruppe durch Diskussion darüber, welche Verhaltensregeln für das Zusammenleben jeweils für eine bestimmte Zeit aufgestellt werden sollen. Denn auch die Gruppe kommt zu keinem endgültigen, sondern immer nur zu einem vorläufigen Ergebnis durch den jeweiligen Konsensus. Der Diskurs ist unendlich, er setzt immer wieder einen neuen Konsensus, der immer wieder in Frage gestellt wird und den immer wieder neuen Diskurs fordert. Die unendliche Diskussion in der Gruppe ist also der neue Gott, der neue Gebote gibt, der immer wieder andere Gott, der immer wieder andere Gebote setzt.

5. Das Absolute (wie in der Bibel offenbart) darf es also nicht geben ‑ alles ist in einem stetigen Fluß. Aus biblischer Sicht ist das ein Rückfall in das Heidentum. Wechselhafte Schicksale und der Natur unterworfene Götter, die nach Paulus (1.Kor.10) Nichtse im Sinne aggressiver Dämonen sind, die zerstören wollen was ist, kehren zurück! Die kritische Theorie verneint den Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, der unwandelbar ist, den Felsen Israels, der dem, was nicht ist, ruft, daß es sei. Durch die Strategie des «Konfliktes» und der »Hinterfragung,« wird der Anspruch des Absoluten destruiert. Vor allem wird die Konfliktstrategie und Hinterfragung gegen ein sich absolut verstehendes Ordnungsethos eingesetzt. Durch die Hinterfragung soll herauskommen, daß alle absoluten Werte und Ordnungen durch Herrschaftswillen und Lustverdrängungen motiviert sind: Ehe und Familie sind motiviert durch den Machtwillen des Vaters, der Glaube an den gnädigen Gott im Zusammenhang mit Sündenbewußtsein ist motiviert durch den Ödipuskomplex. Die Strategie der Hinterfragung darf nicht als eine Interview‑Technik verkannt werden (die es übrigens auch gibt), sie ist die Art einer Darstellung von Überzeugungen in Massenmedien und Schulbüchern, durch die Werte wie Gott, Staat, Glaube, Familie, Kirche, Scham und alle Gebote in Frage gestellt werden dadurch, daß eben diese Werte (übrigens hier analog dem Marxismus) als jeweiliger Überbau gesellschaftlicher Verhältnisse madig gemacht werden.

6. Die Konfliktstrategie ist das andere, ebenfalls strategische Element der Zerstörung herkömmlicher, biblisch bezeugter Ordnung. Die ‑ nach der Meinung der kritischen Theorie  – durch herrschaftslegitimierende, repressive Weltbilder entstandenen Lebensordnungen wie Ehe, Familie, eigentumgorientierte Wirtschaft müssen in ihrem Konflikt mit dem eigentlichen, lustbetonten, sich nach Gruppengeborgenheit sehnenden Bedürfnissen aufgezeigt werden. Arbeitswelt, Ehe, Familie, Geschichte usw., also alle herkömmlichen Werte werden nur im Konflikt dargestellt. Die Welt überhaupt ist kaputt und muß als kaputte Welt vorgestellt werden. Es gibt keine glückliche Ehe, sondern nur die kaputte Ehe; es gibt keine Geborgenheit in der Familie, sondern es gibt nur Unterdrückung in der Familie, die unter dem Herrschaftswillen des Vaters dahinsiecht. Der Massenmedienkonsument sieht also nur noch eine ruinierte, sich dahinschleppende Umwelt. Der Konflikt soll die Ordnungen aber eben nicht als gestörte Ordnungen heilen, sondern als unmögliche Herrschaftsstrukturen verneinen. Kleine Anlässe alltäglicher Art werden zum Konflikt aufgebaut, wie der Streit um ein Schauspiel‑ oder Jugendhaus, um leerstehende Wohnungen, um Protest gegen einen politisch unbeliebten Redner. Der Konflikt schafft revolutionäres Bewußtsein, das zur Aktion gegen bestehende Autorität motivieren soll. Hinterfragung und Konflikt sind für die junge Generation schon so sehr zu einem Bestandteil ihres Lebensstiles geworden ‑ sie sind bereits so sehr indoktriniert ‑ daß sie gar nicht hören oder sehen können, ohne das Gehörte und Gesehene zu unterfragen und als Konflikt zu erleben. Der Konflikt wird schließlich in jede Lebenssituation hineinprojiziert. Selbstzerstörung als Klassenkampf in allen Bereichen unserer Gesellschaft ist in voller Entfaltung ohne daß die Strategie dieser Zerstörung in ihrer heimlich‑unheimlichen Untergründigkeit eingesehen und erkannt wird. 

Ohne Gebieter kein Gebot

Wer heute als Funktionär Gesellschaft repräsentiert, eben Wirtschaft, Schule und Medien funktionieren läßt, hat keine Grundsätze und darf sie nicht haben, denn »Anpassung« und nicht »überzeugt sein«, lautet die Forderung der Gruppe. Nicht Charakter, sondern Charakterlosigkeit ist gefragt. Persönlichkeit kann eine Gruppe nicht ertragen, an die Stelle der Persönlichkeit tritt der Funktionär.

Der »Funktionär« ist die passende und damit klassische Bezeichnung für die Wirklichkeit der gegenwärtig Herrschenden, weil sie ja Personalität aufgegeben haben und sich gern »verflüssigen« lassen, um sich ganz und gar der Gruppe einzufügen. Diese verflüssigten Gestalten sind die Her­ren unserer Zeit. Ohne die Gruppe, ohne Partei, Elternrat, Betriebsrat, Gewerkschaft ‑ also ohne Verpolitisierung aller Lebensbereiche wären sie sinn‑ und arbeitslos.

Sie sind pausenlos tätig ‑ aber völlig unschöpferisch. Ihr Feind ist das Grundsätzliche und Unwandelbare. Sie betreiben den Weg des Uferlosen im Kollektivieren. Sie sind perfekt ‑ und das ist ihr Sinn und Wert ‑ im Herstellen des Konsensus einer Gruppe. Ihre Gabe, die sie so mächtig macht, ist ihre Fähigkeit, zu sensibilisieren, was die Gruppe will. Das setzt totale Anpassungsfähigkeit mit der Bereitschaft, charakterlos zu agieren, voraus. Ihre charakterlose Anpassungsfähigkeit um jeden Preis, ihre Hingabe an jede Situation und jedes Verlangen der Gruppe kann als Prostitution der Personalität vom biblischen Personverständnis her beurteilt werden. Sie sind nie in Verantwortung zu nehmen, sie sind immer durch die Gruppe, mit der sie sich identifizieren, gedeckt. Sie selbst bleiben anonym und damit für Verantwortung unfaßbar.

Das «Regime der Manager», in einem der großen Analysen unserer Zeit von J. Burnham 1948 vorausgesagt, strebt in lautloser Revolution seiner Totalität entgegen. Diese Revolution des Kollektivismus ist eine brutale Herausforderung des biblischen Personalismus. Person kommt von personare: durchrufen! Personsein lebt vom Anruf Gottes, von diesem einen, klaren Ruf, der nicht aus uns, sondern über uns kommt: »Höre Israel, der Herr unser Gott ist ein einziger Gott!«

Person ist frei, weil Gott frei ist, ist alles erlaubt, nur der Wille Gottes regiert. Die Person ist nicht der Gruppe, der Natur, den Schicksalsmächten, den Göttern, den Halbgötter‑Diktatoren unterworfen. Der von Gott Angerufene ist nur ihm, seinem Gebot, seinem Anruf gegenüber verantwortlich.

Heidentum bedeutet Unfreiheit, Diktatur des unwiderstehlichen und unbegreiflichen Schicksals, heißt unterworfen sein dem Kreislauf der Mächte der Natur, Verfallenheit an Todesmächte, Diktatur der Pharaonen und Cäsaren, die sich als Halbgötter nur auf sich berufen und verantwortungslos ihrer Willkür leben.

Nur biblische Offenbarung kann das Ungeheuerliche dieser in unserer Mitte aufsteigenden neuheidnischen Kollektivmenschheit aussagen. In der Offenbarung des Johannes (Kap. 13, Verse 1‑5) heißt es:
»Und ich sah aus dem Meer ein Tier heraufkommen, das zehn Hörner und sieben Köpfe hatte und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Köpfen gotteslästerliche Namen. Und das Tier, das ich sah, war ähnlich einem Panther und seine Füße waren wie die eines Bären und sein Rachen wie der Rachen eines Löwen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht. Und ich sah einen seiner Köpfe wie zum Tode getroffen, und seine Todeswunde wurde geheilt. Und die ganze Erde sah staunend dem Tier nach, und sie betete den Drachen an, weil er dem Tier die Macht gegeben hatte und beteten das Tier an und sagten: Wer ist dem Tier gleich, und wer vermag mit ihm Krieg zu führen?«

Ohne auf die einzelnen Aussagen dieses Gesichtes einzugehen, erkennen wir in diesem Ungeheuer, das alle grausamen Züge der vier Tiere der Vision Daniels (Daniel 7) in sich vereinigt, das wiedererstarkende, ins Ungeheuerliche sich steigernde antichristliche Heidentum ‑ eben das Tier, das (Offb.17,8) »war und nicht ist und da sein wird«.

Das Tier kommt aus der Tiefe. Aus dem Völkermeer steigt es langsam auf, es ist der sich allmählich zum Antichristentum steigernde Aufbruch des Kollektivs. Diese Macht wird von Paulus (2. Thess. 2, 3ff.) als »Sohn des Verderbens«, gesehen, »der sich widersetzt und erhebt über alles, was Gott oder Heiligtum genannt wird, so daß er sich im Tempel Gottes setzt, in dem er von sich vorgibt, er sei Gott«.

Tempel ist in der Redeweise des Apostels zumeist die Gemeinde Christi, so daß wir in einem vertiefenden Sinne erfahren, daß die Macht des Bösen auch in der Gemeinde Christi aufsteht ‑ es geht um den Krieg mit den Heiligen! Über den Widerchristen schreibt der Apostel Johannes »Sie sind von uns ausgegangen, aber sie gehören nicht zu uns« (l. Joh. 2,19).

In diesen Aussagebereichen ist die gegenwärtige Moralrevolution in ihren zwei Wesenselementen angesprochen worden. Die sich absolut setzende Kollektivierung menschlicher Verhaltensweisen nach den zwingenden Regeln des Kollektivs und dann der schamlos lästernde Atheismus.

Der Tempel, die Gemeinde Gottes, wird umfunktioniert zum Kollektiv. Eine interpretierende Theologie wird Namen wie Gott, Christus und Heil stehen lassen ‑ aber Gott ist dann jeweils ‑ wie Paul Tillich es schon formulierte ‑ in der Tiefe, Christus wird»Symbol« einer von der Herrschaftsstruktur befreiten Gesellschaft, seine Erlösung wird zum Klassenkampf und das Heil findet sich in der anonymen Geborgenheit des Kollektivs.

Das »Widersetzen«, und »Erheben« über alles ‑ womit Paulus anti­christliche Macht charakterisiert ‑ stellt Ehrfurchtslosigkeit, Scham­losigkeit und Gewissenlosigkeit dar. Wenn sogenannte Verhaltensnormen im Diskurs erarbeitet werden, ist das Gewissen ein Feind dieses Trainings. Das Gewissen setzt allerdings nicht ‑ wie der alte, bürgerliche Liberalismus meinte ‑ Werte aus sich selbst, das Gewissen ist auch nicht eine Fundgrube für Werte in den Untergeschossen des menschlichen Herzens, sondern das Gewissen im Sinne der Bibel als Syneidesis ist ein Mitwissen mit dem Willen Gottes, durch Anhören des Wortes Gottes.

Gewissen ist Bund mit Gott unter dem Wort (l. Petr. 2, 21), Gewissen meldet den Ruf Gottes und läßt uns so seinen Willen erkennen. Nicht durch Diskurs, sondern durch Erkenntnis des Gotteswillens unter dem Wort und die Erfahrung dieses Willens Gottes im Gewissen wird Ethos, das Gott geboten hat, gelebt. In diesem Gewissen erfährt der Gläubige die unmittelbare Verantwortung vor Gott ohne menschliche Zwischengebote.

Im Gewissen wird das Wort und Gebot der Schrift zur persönlichen Aneignung. Hier empfangen wir die Gewissheit unseres Handelns, nicht in äußerer Befolgung toter Werke, nicht als äußere Gesetzlichkeit, sondern (Hebr. 9,14) »unser Gewissen reinigt von den toten Werken«! Und im Glauben haben wir ein »gutes Gewissen,« (l. Tim. 1, 19), weil das Vertrauen in die Versöhnung Christi die Befreiung von Schuld gibt.

Schuld wird nicht wegerklärt oder verdrängt, sondern sie wird bekannt und vergeben. Vergebung bedeutet doch nicht so tun, »als ob nichts geschehen wäre« und als ob ein Gruppenbruder Jesu alles versteht und verzeiht! Versöhnung ist Versöhnung durch Christus ‑ nicht die Wegerklärung des Bösen, sondern das Wegleiden am Kreuz. Die moderne Theologie, die den Versöhnungstod am Kreuz als Ausdruck zeitgebundener Opfervorstellungen weginterpretiert, leugnet entweder die Gnade oder sie verneint die absolute Scheidung zwischen Gut und Böse, sie ist entweder gnaden‑ oder sittenlos.

Die Schuld vor aller anderen Schuld ist, das Böse gut zu nennen: »Wehe denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die Finsternis zu Licht und Licht zu Finsternis machen…« (Jes.5,20). ‑ Adams Sünde war, daß er «erkennen», im hebräischen Sprachsinne bestimmen wollte, was gut oder böse ist. Menschliche Selbstsetzung des Ethos ist Ursünde gegen Gott. Ethos kann weder rational noch emotional gesetzt und begründet werden. Ethos ist unbegründbares Gebot Gottes, das nur im Gehorsam gelebt werden kann. Gebot und Glauben an den Gebieter sind untrennbar.

Die Scheidung zwischen Gut und Böse ist nicht Tun des Menschen, sondern Wort Gottes. Der Gebieter gebietet durch das Gesetz, dieses Gesetz ist der Bund mit denen, die es in ihrem Gewissen wahrnehmen. Bund schließen meint im hebräischen Sprachsinn auch »Bund brechen« in dem Sinne, daß, wer den Bund mit Gott eingeht, den Bund mit den Göttern bricht, es ist der Bund über andere Bünde, eine zweite Arche, die an den Bögen festmacht, mit denen die Menschen spontan ihr höheres Dasein sichern. Es gibt keine Perspektive zum Nächsten ohne die Perspektive zum Himmel. Im biblischen Bund wird der Nächste nicht geliebt, weil er liebenswert und sympathisch ist, sondern weil Gott es gebietet, und Gott gebietet es, weil er den Menschen geschaffen hat. Nicht aneinander halten wir uns fest, sondern die Arche unseres Menschseins ist am Felsen Gottes festgebunden ‑ dieser Bund rettet unser Leben.

Durch Gottes Gebot ist die Wahrheit nun einmal in zwei geteilt: Und nicht mehr zwischen rechts und links, der Rechten der Mörder und der Linken der Opfer zu unterscheiden, ist in diesem Sinne das größte Verbrechen der Ethik. Dieses Verbrechen gegen die Ethik begeht gegenwärtige Moralrevolution.

Was ist zu erwarten, was soll geschehen?

Der Sohn des Verderbens, der sich »erhebt über alles, was Gott und Heiligtum genannt wird« (2. Thess. 2) und das Tier aus dem Meer (Offenb. 13) sind endzeitliche Gestalten. Der Antichrist war immer, und das Tier gottverlorener heidnischer Macht war auch schon immer. Aber die Entfaltung zur totalitären Macht wird erst in der Endzeit, vor der zweiten Ankunft Christi auf dieser Erde geschehen. Die Bibel kennt keinen ethischen Evolutionismus in dem Sinne, daß es ein sittliches Fortschreiten der Menschheit zu herrlichen Höhen der Vollkommenheit gäbe. Die moderne, erst in diesem Jahrhundert zur Entfaltung gekommene Verhaltensforschung, die an die Stelle des Ethos das gesellschaftlich zu regulierende wertneutrale Verhalten gesetzt hat, geht aber von diesem Evolutionskonzept aus: Eine fortschreitende, Staat, Wirtschaft, Familie und Schule integrierende Gesellschaft wird sich dem vollkommenen Zustand, eben einem alles integrierenden spannungslosen Kollektiv nähern. Nicht zuletzt auch aus diesem Optimismus versteht sich der Elan gegenwärtiger Moralrevolution. Für die Bibel wird in endzeitlicher Geschichte keine Vollkommnung, sondern ein Zerfall des Ethos zu erwarten sein. Die Qualität der Auflösung biblischer Norm schlägt dann um in die Quantitäten aggressiver Feindlichkeit gegen das biblische Ethos und gegen christlichen Glauben überhaupt. Wenn keine tiefgreifende Umkehr zur biblischen Offenbarung geschieht, dann deuten alle Zeichen gegenwärtiger Moralrevolution darauf hin, daß wir in diese von der biblischen Prophetie verkündigten Phase der Endzeit bereits eingetreten sind. In der unter dem biblischen Wort lebenden christlichen Gemeinde wächst das Bewußtsein für diese endzeitliche Phase auf dem Wege des Gottesvolkes.

Diese Erkenntnis aber darf nicht zu einem quasi‑eschatologischen Pessimismus führen: Weil die Schatten der Endzeit auf unsere Gegenwart fallen, hätten wir nur noch still zu halten. Resignation in diesem Sinne ist unbiblisch, ganz und gar gegen das Vertrauen in Gottes Macht und gegen die Hoffnung, die nach der Aussage des Apostels eben nicht zuschanden wird. Resignation heißt mangelnde Zuversicht, ist Zeichen der Glaubenskrise.

Biblische Verkündigung braucht nicht die Bestätigung der Gesellschaft, um sich als »gesellschaftlich relevant« auszuweisen. Das Zeugnis der Bibel kann auch aus der Einsamkeit in die Welt tauber Ohren gesprochen werden.

Gering unter Christen ist heute die Bereitschaft, die Herausforderung der Moralrevolution überhaupt zu sehen, noch geringer ist der Wille, auf die Herausforderung zu antworten! Verkündigung und Kampf mit der Macht des Bösen sind einander zugeordnet. Wir können den Versuchten, Verlorenen und Angefochtenen nicht helfen, wenn wir ihre Herausforderung, mit der sie täglich in der uns umgebenden Welt indoktriniert und konfrontiert werden, nicht auch zu unserer Herausforderung machen.

«Das Wort ward Fleisch«, sagt der Prolog im Johannesevangelium und meint, daß Christus in die Herausforderung dieser Welt und damit auch in die Feindschaft dieser Welt eingegangen ist. Christus hat unsere Feindschaft gegen Gott durchlitten. Verkündigung in der Nachfolge Christi wird aber für die Gemeinde bedeuten, daß sie auch in die Herausforderung unserer Zeit eingeht, sie durchleidet und die biblische Antwort, eben das Licht in der Finsternis, das Heil in der Heillosigkeit, lebt.

Evangelisation, die auf diese Weise die Herausforderung der Moralrevolution als ein zerstörendes und menschenfeindliches Element gegenwärtigen Gotteshasses aufgreift, nenne ich Konfrontationsevangelisation. Sie ist für die Gemeinde Christi eine bis heute kaum angenommene Aufgabe, aber ein Gebot der Stunde, weil wir der Welt das Evangelium schuldig sind.
Dabei müssen wir erkennen: Die Moralrevolution macht deutlich, daß der Kampf zwischen Glaube und Unglaube der Kernprozeß hinter allen Umwälzungen gegenwärtiger Gesellschaftsveränderung ist. In diesem Prozeß gibt es keine Neutralität, sondern nur die Unterscheidung zwischen Gott und Göttern, Leben und Tod, Heil und Unheil, Christus und den Dämonen.

 

Kapitel 2  Gotteshaß der Vaterlosen

 – Krise und Kampf um die Vollmacht der Autorität –


Die Stunde der Chaoten

Bilder des Aufruhrs verhäßlichen die Städte westlicher Demokratien zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Schwerpunkten: Paris, Amsterdam, Zürich, Berlin, Bremen, Brokdorf, Frankfurt, Freiburg, Nürnberg und fast überall in Amerika. Unerwartet und zunächst unerklärlich können Wogen chaotischer Unruhe emporschnellen. Plötzlich sind sie da mit langen Beinen, in farblosen Jeans, kaum zu unterscheiden Männlein und Fräulein! Bei aller Unordnung waltet erstaunliche Disziplin im Aufmarsch mit Kindern, Kinderwagen und Sturzhelmen. Der Protest ist wie eine Stimme, das Gebrüll meldet Kampfentschlossenheit. Straßen werden aufgerissen, Steine fliegen. Wir sehen die geschlossenen Formationen der Polizei und spüren die unmittelbar unter die Haut gehende Atmosphäre – unheimlich und bedrückend, geprägt durch Haß und Angst.

Was melden diese vulkanischen Aufbrüche in unserer Gesellschaft? Eigentlich sollte es keiner Frage bedürfen. Die da protestieren sagen ja, warum sie sich zusammenrotten: Sie wollen freistehende Wohnungen, einen verhaßten Politiker am Reden hindern, die Errichtung eines Jugendhauses erzwingen, die Vereidigung von jungen Soldaten stören, die Errichtung eines Atomkraftwerkes stoppen, die Freiheit für Abtreibung proklamieren, die Erhöhung eines Verkehrstarifs unterbinden usw.

Aber zeigen diese Postulate die eigentliche Ursache des Aufbruchs? Es geht sicherlich auch um diese konkreten Ziele bei chaotischem Aufruhr – aber sicherlich sind sie nur seichte Vordergründigkeiten eines unheimlichen Hintergrundes.

Die nach allen bürgerlichen Maßstäben unordentlichen, blassen, manchmal bösartig blickenden, sich dann wieder wie Kinder aneinander festhaltenden und auf bunten Wiesen träumenden und wie Hirtenknaben spielenden, mit Mofas röhrend durch die Straßen orgelnden und dann wieder in Zärtlichkeit prassenden, eben äußerlich gar nicht voneinander zu unterscheidenden, viel zu lang geratenen Knaben und Mädchen wollen mehr als das, was sie gerade hier oder da, bei diesem oder jenem Happening in Sprechchören oder auf Transparenten bekunden – sie wollen letztlich den Gottes- und Vatermord.

Sie wollen sich aneinander festhalten – sie ersehnen Schutz in der Macht ihrer Gesellschaft, in ihren Kommunen, in ihren Kollektivs. Sie begehren nicht den Himmel, sie wollen die Erde. Sie hassen den Vater, aber lieben den Bruder. Sie wollen nicht hören, sie möchten fühlen und schreien, sie wollen nicht wollen. Paradox also: Sie wollen, daß sie nicht wollen müssen!

Sie erstreben nicht den Fortschritt – weder für sich noch für die Gesellschaft -, sondern sie möchten Ruhe und Frieden – die Idylle. Ihr Leitwort heißt nicht Pflicht, sondern Lust – sie wollen nicht inneres Chaos überwinden, sondern ohne Schlips und Kragen tun, wozu sie Lust haben. Sie haben und erstreben kein Ziel. Sie möchten sich treiben lassen. Ihr Wunsch ist nicht Verantwortung, Beruf und Eigentum, sondern ihr Verlangen zielt nach verantwortungsloser Geborgenheit im Kollektiv der Gütergemeinschaft.

Sind diese Horden junger Menschen harmlose Sekten unter anderen Sekten? Geht es hier nur um bunte Randerscheinungen einer einfarbig und langweilig gewordenen Zivilisation? Wird sich alles wieder normalisieren, wenn die Knaben Männer geworden sind? Oder leben wir – ohne es zu wissen – in einer tiefgreifenden Revolution, die bislang nur einige Soziologen, aber längst noch nicht alle Bürger erkannt haben?

Ich meine, wir leben in solch einer Revolution, und ich nenne sie die Revolution des Gottes- und Vatermordes. Wenn ich von dieser Revolution des Gottes- und Vatermordes schreibe, dann denke ich natürlich nicht nur an die Krawalle, die unseren Städten solch unerfreuliche Abwechslung verschaffen. Das Außergewöhnliche ist nur der Gipfel eines Eisberges, einer tiefgreifenden Umwälzung eines Lebensgefüges, das wir christlich-abendländisch nannten. Diese Revolution hat auch nicht nur jene erfaßt, die hin und wieder in Horden durch die Straßen unserer Städte toben, sondern heimlich unheimlich ist sie in uns alle eingebrochen.

Diese Revolution hat ihre Doktrin, sie hat ihren Lebensstil, sie hat ihre eigene Sprache, sie hat – in der Politik, in Universitäten und Schulen – ihre Strategie, und sie hat ihre Funktionäre – kurzum, sie hat alles, was eine Revolution braucht. Sie hat vor allem – und damit sind wir als Christen angesprochen – ihre Stunde: die Stunde der leeren Kirchen, der zerfallenen Gemeinden, der Auflösung der Bekenntnisse!

Dieser Revolution steht nichts entgegen!

Bedenken wir zunächst: Diese Revolution hat ihre Ideologie.

Geschichte der Menschheit – so hörten wir es in der kritischen Theorie der Frankfurter Schule – sei die Geschichte der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Des Menschen Leid sei die Struktur der Herrschaft – damit eben auch das System der Autorität, wo immer wir ihm begegnen, sei es in der Familie, sei es in der Schule, sei es in der Gesellschaft. Die Geschichte – bis jetzt – sei nach dem Urteil jener Philosophen nur ein Irrweg gewesen. Das Anarchische und Naturhafte am Anfang der Menschheit – sagen wir die Idylle vor aller Zivilisation – wäre das Paradies gewesen.

Der einflußreiche österreichische Sozialpsychologe Ernest Borneman hat in seinem Buch »Das Patriarchat« (1975), das eigentlich wie eine Art Bibel der Revolution des Gottes- und Vatermordes angesehen werden könnte, folgende These aufgestellt: Im Anfang der Geschichte der Menschheit gab es eine glückliche Urhorde, in der Menschen der Natur nur das Nötigste entnahmen, um ein bedürfnisloses und glückliches Leben zu führen. Es gab weder Ehe noch Familie. In den Horden Früchte sammelnder und wilde Tiere jagender Menschen waltete sexuelle Promiskuität: Jeder in der Horde hatte mit jedem geschlechtlichen Verkehr – nur die Mutter kannte ihre Kinder. Väter taten es mit ihren Töchtern, Mütter mit ihren Söhnen, Brüder mit ihren Schwestern, Knaben mit Knaben, Mädchen mit Mädchen. Man sagte noch nicht »mein Mann« oder »meine Frau«, jeder gehörte jedem. Weil es keine Ehe und keine Familie gab, gab es kein Eigentum. Weil nur die Mutter ihre Kinder kannte, gab es keine Vaterherrschaft.

Das Glück war da, weil es weder Vaterherrschaft noch Eigentum, aber die Geborgenheit der Gemeinschaft, der Horde, der Kommune, des Kollektivs gab.

Den Sündenfall der Menschheit – Ernest Borneman legt ihn ins Neolithikum – brachte der Augenblick, da es hieß »meine« Frau und »meine« Kinder! Familie, Ehe, Vaterherrschaft und Eigentum gehören zusammen und bilden den Sündenfall der Menschheit.

An die Stelle der Anarchie trat die Autorität.
An die Stelle der Horde kam die Familie.

An die Stelle der Mutter trat der Vater und damit das Symbol der Herrschaft und Unterdrückung. Der Vatergott, von dem die Christen sagen, daß er Himmel und Erde geschaffen habe, und denen er als Herr allen Lebens gilt, ist das Symbol einer repressiven, das heißt auf Unterdrückung beruhenden Gesellschaft. An die Stelle des Lebens aus dem Augenblick genügsamer Hirten, Jäger und Früchtesammler trat die Kultur mit den Herrschaftstugenden von Fleiß, Pflicht, Wille und Überwindung.

Über das sehr abenteuerliche Geschichtsbild Bornemans haben wir hier nicht zu diskutieren. In diesem Zusammenhang ist nur bedeutungsvoll, daß Bornemans Gedanken zum Ausdruck bringen, was die Gottes-Vatermord-Revolution eigentlich will. Es besteht nämlich überhaupt kein Zweifel, daß unsere antiautoritäre Revolution in diesem Sinne Bornemans eine Antivater-, Antigott-, Antifamilie- und Antieigentumsrevolution ist, wobei gleichgültig bleibt, wieweit das den Kinder- und Jugendrevolutionären unserer Tage im einzelnen direkt bewußt ist. Alles, wogegen sie protestieren, ist für sie Symbol dieses verhaßten Vater-Herrschaftssystems, von der Soldatenvereidigung bis zum Atomkraftwerk – und was sie wollen, ist eben die Antikultur der mütterlich bergenden Urhorde: sexuelle Freiheit, Leben in der Gemeinschaft, d. h. praktisch der Kampf um Stätten und Bereiche, in denen sie – sei es in leerstehenden Wohnungen, Kellern, Zelten, Schuppen oder vom Staat eingerichteten Klubhäusern – ihre neue Subkultur wie einst in den Höhlen der Urhorde entfalten können.

Aber dieser Gottes-Vaterhaß tobt nicht nur an den Randzonen unseres Daseins:

Durch die breiten Kanäle der Massenmedien, des Fernsehens, des Radios, der Zeitungen und durch den Blätterwald unserer Schulbücher hat längst so etwas wie eine stille Revolution ihren Lauf genommen.

Auch und gerade die sogenannte sexuelle Revolution, die zumeist als Sinn für mehr Freiheit, Großzügigkeit und Lebensbejahung mißverstanden wird, ist unter anderem ein wichtiges Instrument in diesem Prozeß der antiautoritären Vater- und Gottesmord-Revolution.

Dafür ein Beispiel: In dem Mitspieltheater »Rote Grütze« (siehe hierzu Exkurs 1), das als Sexualerziehungsmittel für Fünf- bis Zehnjährige geschrieben wurde, unternehmen Hänsel und Gretel – die Hauptakteure dieses Mitspieltheaters – eine »Elternbefragung«: Warum sie »es« (gemeint ist der geschlechtliche Verkehr) so wenig und vor allem so phantasielos »machen«. Die Antwort: Die Eltern hatten oder haben Angst vor Vater, Lehrer und »Boß« – eben jeder Form von Autorität -, und dann sind es Arbeit und Pflicht, die Sexualität und Lebensfreude kaputt gemacht haben. Vaterkultur – das will dieses Sexualaufklärungstheater sagen – ist Angstkultur, und Angstkultur zerstört Freude als Lust am Leben.

Ein anderes Beispiel: In dem Buch »Politik im Aufriß« von L. Helbig (1975), das als Arbeitsbuch für Berufsschulen gedacht ist, werden die sexuelle und die politische Revolution als ein Kernprozeß der Befreiung gesehen. Wer auf sexuelle Bedürfnisse verzichtet, der – so meint der Autor – denke auch nicht an Mitbestimmung in Büros, Fabriken, Schulen und Familien. Wer sexuell aktiv ist, sei auch politisch im Sinne einer Fundamentaldemokratisierung aktiv. Wer Sexualität sich Untertan mache, wer sie »beherrscht«, wird selbst zum Beherrschten. Wer Sexualität nicht auslebt, sei schon Objekt einer Herrschaftsstruktur geworden: »Eine Auflehnung gegen autoritäre Behandlung ist repressiv Erzogenen genauso unmöglich, wie dem Drängen der Sexualität mit gutem Gewissen nachzugeben.« In diesem Zusammenhang besteht die Schuld des Christentums darin, daß es – so meint der Verfasser – »die sexuellen Triebe nie als menschliche Regungen im guten Sinne gelten ließ«.

Der kommunistische Psychologe Wilhelm Reich hatte bereits 1936 in seinem Exil in Kopenhagen mit seinem Buch »Sexualität und Kulturkampf«, das 1966 mit dem treffenderen Titel »Sexuelle Revolution« neu wieder herausgebracht wurde, den Zusammenhang zwischen Klassenkampf und sexueller Revolution propagiert. Wilhelm Reich geht es nicht nur um die »Erkenntnis« (die heute in ungezählten Büchern wiederholt wird), daß die Ehe lustfeindlich sei, sondern daß die Ehe eine Privatisierung der Sexualität bedeute und damit als Ausdruck des kapitalistischen Wirtschafts- und Herrschaftssystems beseitigt werden müsse.

Die zur Sturmflut angeschwollene Aufklärungsliteratur, gerade da, wo sie Ehe und Familie verneint, will unter dem Deckmantel der »Sachlichkeit« und »Information« den Abbau der »Tabuisierung der Sexualität«. Im Klartext heißt das, sie will vor allem Scham und Ehrfurcht kaputt machen. Warum überhaupt Scham? Warum keine Veröffentlichung der Sexualität?

Scham und Ehrfurcht – so wird pausenlos wiederholt – sind Verhaltensweisen einer repressiven, d. h. herrschaftsbedingten, also Lust unterdrückenden Gesellschaftsordnung, die abgeschafft werden muß. Wo immer Scham und Ehrfurcht walten, regiert die Herrschaft der Väter, die Frauen und Kinder als ihren Besitz sehen und folglich deren Gefühlswelt beherrschen wollen.

Wer aber ohne Scham ist, ist auch ohne Ehrfurcht. Wo die Ehrfurcht stirbt, da verkommt die Autorität. Darüber wird es mit jenen Ideologen keinen Disput geben müssen. Der Unterschied besteht nur darin, wie dieser Zerfall von Ehrfurcht und Autorität beurteilt wird. Gehen Ehrfurcht und Scham, Familie und Ehe unter, dann ist die Urhorde wieder hergestellt. Dann werden Sozial- und Sexualgenossen durcheinander und miteinander am Busen der Mutter Natur, im Urzustand des Paradieses ihr ihnen durch Vaterherrschaft geraubtes Glück wiederfinden.

Ist das nur die Theorie weltfremder Philosophen? Oder werden diese »Lehren« die Gesellschaft der Zukunft prägen? Gedanken dieser Art, die hier nur an einigen Beispielen aufgezeigt wurden, sind weder eine »bloße« akademische Angelegenheit, noch sind sie einflußlos für unsere Gesellschaft. Zerstörte Ehen und Familien, die Ordnungsfeindlichkeit einer lustbetont lebenden jungen Generation, die tief in der Seele wurzelnde Aggression gegen alles, was mit Vaterkultur zusammenhängt, das Eintauchen in die Sphären der Rauschhaftigkeit durch Drogen und Alkoholkonsum, die Verachtung herkömmlicher Tugenden wie Pflicht, Überwindung, Gehorsam und die Verneinung der Arbeit sind die ganz praktische Seite dieser Kulturrevolution. Die idyllische Erwartung, als könne man einfach zur Natur, zum natürlichen Leben wie zu einer guten Mutter, die alle Menschen glücklich macht, zurückkehren, sind Bestandteile einer neuen Sehnsucht und Hoffnung des Menschen dieser Welt.

 

Warum kam es so, wie es ist?

Ist diese Revolution gegen die Herrschaft der Väter vielleicht nur eine verständliche Reaktion auf die alle Lebensfreude unterdrückende Herrschaft der allzu mächtigen Väter von gestern? Gab es denn nicht wirklich eine lebens- und sexualfeindliche und dabei so oft verlogene wilhelminisch-viktorianische Lebensauffassung? Hat nicht gerade der Faschismus das Ideal des Männlichen, Willenhaften und Kämpferischen über alle Maßen strapaziert und eine bedrückende Herrschaftsstruktur aufgerichtet? Hat sich nicht im Helden- und Führerkult des Faschismus so etwas wie eine Revolution des »Maskulinismus« dargestellt?

Hatten und haben wir nicht einen »Gotteskomplex« (vgl. hierzu H. Richter, »Der Gotteskomplex«, 1979, und Exkurs 2) in dem Sinn, daß wir, anstatt an Gott zu glauben, selbst den jeweils allmächtigen Gott spielen wollten? Meinten nicht viele Väter, wenn sie von Gottvater und seiner Autorität sprachen, ihr eigenes Gottsein und ihre eigene selbst gesetzte Autorität? Sind nicht in jenen Tagen einer sich selbst setzenden Vaterherrschaft viele, allzu viele durch herrschsüchtige, autoritär überstrapazierte Väter zu Untertanenmenschen degradiert worden – Kinder und Ehefrauen in gleicher Weise? Haben lebensfeindliche Moralisten nicht tatsächlich die Sexualität – in ganz unbiblischem Sinn – verächtlich und – im Vergessen aller anderen Sünden – vielleicht sogar zur einzigen Sünde »gemacht«?

Es gab eben die Revolution des Maskulinismus, die ganz sicher im Faschismus etliche Triumphe feierte. Die gegenwärtige Anti-Vaterrevolution unserer Tage ist aber nicht bloß eine Reaktion auf diesen Maskulinismus, wie er sich anscheinend im Faschismus als Ideologie darstellte, sondern seine konsequente Fortsetzung!

Halten wir diesen Grundsatz fest: Ohne faschistoiden Maskulinismus keine Anti-Gott-Vaterrevolution.

Autorität, die sich selbst setzt, nur sich selbst gegenüber verantwortlich sein will, ist Diktatur. Väter, die nicht Gottes Wort, sondern nur ihrem eigenen Willen verantwortlich sein wollen, sind pervertierte Väter, die als Tyrannen ihr Unwesen austoben. Wir dürfen eben nicht vergessen, welche entsetzlichen Exzesse ein Männlichkeitswahn mit der Perversion der Autorität zum Führerkult verursachen konnte.

Erinnern wir uns doch: Rudolf Heß deklamierte am 30. Juni 1934: »Mit Stolz sehen wir: Einer bleibt von aller Kritik ausgeschlossen, das ist der Führer. Das kommt daher, daß jeder fühlt und weiß: Er hat immer Recht und wird immer Recht haben. In der kritiklosen Treue, in der Hingabe an den Führer, die nach dem Warum im Einzelfall nicht fragt, in der stillschweigenden Ausführung seiner Befehle liegt unser aller Nationalsozialismus verankert« (vgl. Joachim Fest, »Das Gesicht des Dritten Reiches«, 1977, S. 266, auch Exkurs 3).

Adams Versuchung war, daß er so sein wollte wie Gott selbst – so allmächtig und so allwissend. Im Vatersein ohne Gott wird diese Ursünde immer wieder aufbrechen. Die heidnischen Väter vergangener Generationen, die Christus leugneten und eine neuheidnische Existenz auslebten, waren die ersten Vatermörder. Unsere vatermörderisch-nachchristliche Zivilisation fand ihre Propheten in Männern wie Nietzsche, die den Willen zur Macht proklamierten, in Darwins Lehre vom erbarmungslosen Kampf um das Dasein und Recht des Stärkeren, in der Heldenverehrung und im Heldentheater des Faschismus und nicht zuletzt in der Philosophie des Existentialismus (siehe hierzu Exkurs 4).

Die Urväter neuheidnischen Gottesmordes lebten im Vertrauen auf sich, nicht aus dem Glauben an Gott. Sie hielten sich für moralisch vollkommen bzw. meinten, moralische Vollkommenheit – nach ihrem Verständnis von Moral – erreichen zu können. In Kraftakten eigener Pflichterfüllung meinten sie, »vor sich selbst bestehen zu können«. Sie wußten nichts davon, was sie Gott im letzten schuldig waren. Jesus war für sie nur ein moralisches Vorbild, aber nicht der Erlöser und Versöhner am Kreuz. Die Welt war für sie unbegrenzt offen zur Gestaltung ihrer eigenen Willenskraft. Von einem Ende aller Zeiten und einer Wiederkunft Christi wollten sie nichts wissen.

Der liberale Protestantismus in Deutschland, in der Schweiz, aber auch in Holland hatte seit Ende des vorigen Jahrhunderts diesen Männlichkeitswahn mit seinem Programm der Selbsterlösung wie ein durstiger Schwamm aufgesogen und dann sein »neuprotestantisches Jesusbild«, ein Götzenbild des Maskulinismus, aufgerichtet.

Unsere Generation der Vatermörder protestiert auch – nicht nur – gegen Väter, die ihrerseits schon Vatermörder waren!

Die »offene« Unterwanderung der Gemeinde

Zu den ekelhaften und in Anfechtung führenden Erfahrungen christlichen Lebens gehört, gehörte und wird wohl immer wieder die Erfahrung gehören, daß »Christentum« durch Anpassung mit den ungeistigen und ungeistlichen Mächten der Zeit korrumpiert wird.

Aus vielen Beispielen der Anpassung an die Gottes-Vatermordzivilisation wollen wir eines herausgreifen: In der auch mit Kirchensteuermitteln finanzierten Zeitschrift »Evangelische Kommentare« vom 4. April 1979 (S. 220 ff.) schreibt die Theologin Hildegunde Wöller »Der Streit um Gesetz und Evangelium kann nur Männern einfallen. Nur der im ödipalen Konflikt Befangene ist zutiefst davon überzeugt, daß er ohne Einhaltung des Gesetzes, nämlich des Inzestverzichtes, gar nicht leben darf.«

Der weitere Inhalt dieses sehr munteren Textes besagt klipp und klar, daß nur der ödipal befangene Mann nach dem gnädigen Gott frage.

Diese Aussagen, die typisch und stellvertretend für viele andere stehen, haben für unser Thema eine tiefgreifende Bedeutung.

Zunächst aber fragen wir: Wer ist und was bedeutet Ödipus?

Ödipus war eine Gestalt der griechischen Mythologie. Durch viele verwirrende Umstände, die die Griechen Tragik nannten, tötete Ödipus unwissend seinen Vater und heiratete ebenso unwissend seine Mutter, mit der er Söhne und Töchter zeugte.

In der modernen Psychologie ist der Ödipus-Komplex Ausdruck für das heimliche, bewußt nicht eingestandene Verlangen des Sohnes nach geschlechtlicher Gemeinschaft mit der Mutter und des sich aus diesem Verlangen ergebenden Hasses gegen den als Rivalen empfundenen Vater. Der Ödipus-Komplex steht im Zusammenhang mit dem Begriff »Inzest« (wörtlich übersetzt »unkeusch«), der sexuelle Beziehungen zwischen Blutsverwandten verneint. Nach dem Programm der sexualstrategischen Anti-Vaterrevolution, wie sie »klassisch« z. B. von Marcuse und Borneman vertreten wird, kann nicht böse sein, was Lust bereitet, und muß gut sein, was Väter und Vatergott verboten haben. Heben wir doch diese Gebote auf – und wir haben endlich Freiheit von lähmender Schuld!

Der Kernprozeß der Anti-Gott-Vaterrevolution ist das Nein zur Schuld. Wenn es keinen Gott gibt, gibt es kein Gesetz; wir sind dann diesem Gott nichts schuldig.

Sühne, Schuld und Vergebung – diese zentralen Aussagen der Bibel – sollen – so meint Hildegunde Wöller, die den Sühnetod Jesu verneint – durch eine weibliche Theologie abgelöst werden. Sie will Befreiung von Schuld und schlechtem Gewissen. Sie strebt nicht zum Himmel, sondern blickt auf die Erde. Sie lebt von unbestimmten Ausdrücken wie »Seele«, »Tiefe« und das »Lebendige«. Sie will – laut Hildegunde Wöller – den Kontakt mit anderen Religionen, mit Magie und Astronomie, Evolution und Tiefenpsychologie.

Rettung, Erlösung und Glück bringen die Gefühle des Mütterlichen, Weichen, Bergenden und Umhüllenden. Gegen den Vatergott, gegen das »Gegenüber«, gegen die Begegnung unter dem Wort will diese Theologie das Eintauchen in das Undifferenzierte der Gefühlswelt. Hier waltet das Verlangen nach Rückkehr in das Geborgensein des Mutterschoßes. Es geht nicht um das Hören des Wortes, sondern es geht um die Meditation; nicht die Konzentration in der Begegnung mit dem lebendigen Gott ist gefragt, sondern das Eintauchen in die »Tiefe« der Seele (siehe hierzu Exkurs 5).

Wir sollten nur nicht meinen, daß diese Gedanken nur heimlich von einigen Theologen oder Theologinnen an einsamen Schreibtischen gedacht, in versteckten Theologenzeitschriften veröffentlicht und in langweiligen Hörsälen gelehrt würden. Diese Art von Theologie spricht den vater-gottesmörderischen Trend unserer Zeit aus und verwirklicht sich auch in sogenannten Massenevangelisationen unserer Tage – eben gerade da, wo gerade auch Evangelikale und Neopietisten es am wenigsten erwarten, wo sie aber am meisten gefährdet sind.

Quälend unvergeßlich bleibt für mich jener Abend, den ich zu Beginn der siebziger Jahre in der St.-Petri-Hauptkirche in Hamburg erlebte, als dort das Musical »Godspell« aufgeführt wurde. In dem Programmheft, das von dem an jener Kirche als Pastor waltenden Gunnar von Schuppe verfaßt wurde, stand über Jesus, der »Hauptfigur« jenes Musicals, zu lesen: »Er ist ein fröhlicher Bursche, der in Gemeinschaft mit seinen Freunden in ausgelassener Spielfreude singend und tanzend, Purzelbaum schlagend und steppend, auf die heiterste Weise Ernst macht damit, daß Gott gekommen ist, um sich seiner Menschen anzunehmen.«

Die Erlösung ist hier zu einer »Sache der Heiterkeit« geworden. Heiligkeit, Demut und Ehrfurcht in der Begegnung mit dem in der Bibel bezeugten Gott werden verhöhnt.

Bezeichnenderweise schreibt in demselben Prospekt Werner Burckhardt über den musikalischen Part jener Jesus-Show: »Denn alles in Godspell müht sich um Leichtigkeit auch im Ernst, um pantomimische Lebendigkeit auch bei so gewichtigen Themen wie Passion und Kreuzigung.«

Von »pantomimischer Leichtigkeit« im Blick auf »Themen wie Passion und Kreuzigung« zu reden ist für mich schamlos und gotteslästerlich zugleich. Und so habe ich jene »Jesus-Show« in Hamburg in der alten St.-Petri-Kirche erlebt: ein ohrenbetäubendes musikalisches Spektakel, eine widerliche Szenerie Christus verratender Propaganda.

Die gottesmörderische Herausforderung solcher Jesus-Shows besteht nun nicht nur darin, daß Christus in einer Show – und das auch noch in einer Kirche – entstellt und zu einem Konsumartikel umfunktioniert wird. Gotteslästerungen aller Art hat es seit eh und je gegeben. Hier müssen wir erkennen, daß eine neue Religion aufgebrochen ist, die sich in heimtückischer Weise, listig und verräterisch zugleich, als christlich ausgibt. Jesus wird hier zum »Gruppenbruder«; Gott-Vater wird in »heiterer Weise« zur Harmlosigkeit heruntergespielt. Gott ist eigentlich tot. Die Menschheit hält sich an sich selbst fest, und Jesus ist nur noch die Leitfigur einer sich auf Selbsterlösung und Selbstbefreiung hinbewegenden Gesellschaft. Gott-Vater ist tot- aber wir leben mit dem Brudersymbol »Jesus« weiter!

Was nicht unter die Haut geht, ist keine Wirklichkeit. Religion wird zu einem Glücksartikel, der durch die direkte Stimulierung »gemacht« wird. Massenevangelisationen mit Bands, elektrischen Gitarren und mit – wie gerade aus dem Urwald geholten -Trommeln, durch Verstärkeranlagen im »Elektronic water« wie zu einer elektronischen Sintflut anschwellend -, sollen den Evangelisations-Konsumenten »high« und »powerful« machen: Das starke Gefühl wird stimuliert – Hören des Wortes steht allenfalls im Beiprogramm.

Dazu schreibt Gerhard Salomon: »Der Tiefstand der gläubigen Kreise wird heute vielfach durch die groß aufgezogenen Veranstaltungen verdeckt. In die großen Veranstaltungen kommen viele nicht um des Wortes Gottes, sondern um des religiösen Vergnügens willen. Wie von Abraham von der ägyptischen Magd ein Ismael kam, so werden durch Evangelisationen, die Gottes Wort mit Medien (Beat, Bild und dergleichen) nachhelfen, Bastarde (Ismaeliten) gezeugt. Wir müssen sogar mit der Möglichkeit rechnen, daß auf diese Weise gläubig Gewordene einmal die größten Feinde der wahren Nachfolger Jesu sein werden. – Man kann auf dem wahren Grund >Christus< falsch bauen (1. Kor. 3, 11-15). Es gibt eine Form von Schwärmerei, die nicht unbedingt im Bereich der falschen Lehre liegen muß . . .«

Gegenwärtige Formen der Schwärmerei bedienen sich gern mit Pop, Rock und Beat musikalischer Elemente, die ihren Ursprung in den heidnischen Rhythmen afrikanischer Beschwörungs- und Kriegstänze haben. Die totale Emotionalisierung, die diese Musik bewirkt, bringt abwechselnd ebenso totale Beklemmung, Angst und Ekstase. Sie stimuliert eine Erregung, die mit Frömmigkeit nichts zu tun hat, denn man vermißt in dieser sogenannten Musik alles, was die traditionell abendländisch-christliche Musik immer gegeben hat: die Elemente der Anbetung, Ehrfurcht, Freude und des Friedens. Diese Musik steht nicht nur am Rande der Drogenszenerie, sondern sie führt direkt in sie hinein.

Wenn man sich in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß auch in der sogenannten kritischen Theorie der Frankfurter Schule die moderne, in Ton und Rhythmus disharmonische Musik als Verwirklichung des anarchischen Urzustandes gepriesen wird, dann sollte im Blick auf solche Evangelisationen eher von Terror und Anarchie als von Verkündigung gesprochen werden.

Hier verbirgt sich unter dem Namen Gott und Jesus die Anbetung uralter Muttergottheiten. Diese baalisierende Frömmigkeit steht nicht unter dem Wort, sie ist nicht Begegnung mit Gott durch das Wort, sondern ekstatisches Kollektiverlebnis ohne – besser gesagt gegen Gott!

Es gibt diesen Irrweg nicht erst seit heute oder gestern. An die Gemeinde zu Korinth schreibt Paulus (1.Kor.12), daß viele, bevor sie Christen wurden, »zu den stummen Götzenbildern hingerissen« wurden und in die Irre gingen.

Stumme Götzen: Gott redet durch sein Wort, aber die Götzen sind stumm.

Hingerissen: Die »stummen« Götzen wurden in ekstatischen Kulten sensibilisiert. Gegen diesen Götterkult, dieses »Huren auf den Höhen« im Tanz sexueller Ekstase, im Kult der Prostitution (Tempeldirnen), gegen diese Depersonalisierung, dieses stumme Zurück in die Phase vorpersonalen Daseins, haben schon die großen Propheten des Alten Testamentes gekämpft.

Etliche von den Christen in Korinth schienen ihre heidnische Vergangenheit nicht überwunden zu haben. Im Gegenteil, sie brachten in einer Art Unterwanderung ihre alten, heidnisch-ekstatischen Bindungen in die Gemeinde hinein. Denn im gleichen Zusammenhang, nur einen Vers weiter (1. Kor. 12, 3), beschreibt der Apostel merkwürdige Menschen, die sich für Christen halten und dennoch – so offensichtlich in Ekstase -proklamieren: »Fluch über Jesus!« Nichts scheint uns verwunderlicher, als daß Christen, oder solche, die sich ausdrücklich dafür halten, Jesus verfluchen! Für viele Bibelleser ist diese Stelle deswegen auch unverständlich.

Was dachten, fühlten und wollten diese sogenannten Christen, die Jesus verfluchten? Diese sich Christen nennenden frommen Menschen waren »Begeisterte«! Die Begeisterten wollten »high« sein; im Geiste wollten sie als Begeisterte leben, ohne zu glauben, zu bekennen und zu erfahren, daß der ewige Gottessohn Mensch geworden ist; daß er, wie es im Johannesevangelium heißt, Fleisch wurde; daß er am Kreuz hing; daß er starb und wieder auf erweckt wurde von den Toten.

Diese Begeisterten wollten ein Christentum ohne Leid, Kreuz und Auferweckung – ohne Krise, Schmerz und Tod -, ohne die paulinische Botschaft: »Wir sind die Sterbenden -, aber siehe, wir leben!« (2. Kor. 6, 9).

Die billige Gnade ist es, um die es in Korinth ging.

Billige Gnade steht außerhalb der Spannung von Gesetz und Evangelium.

Billige Gnade ist Religionskonsum, die Verneinung der Gnade aus dem Kreuz.

Billige Gnade wird heute von Kanzeln verkündigt. Diese billige Gnade ist Gottes-Vatermord.

Bei der »Proklamation« der billigen Gnade gibt es kein Gesetz, keine Sünde, keine Versöhnung, keine Erlösung und keine Wiedergeburt. Diese Predigt ändert den Menschen nicht; sie degradiert ihn in der Kirche zum Konsumenten einer Religiosität, die sich christlich gibt, aber in ihrer Substanzlosigkeit zu den stummen Götzen pilgert. Sie tröstet weder im Leben noch im Sterben; weil sie nicht zur Erkenntnis der Schuld führt, kann sie auch nicht zur Befreiung, zur Erlösung der Schuld führen, und weil sie den Weg unter das Kreuz nicht kennt, weiß sie nicht den Trost für das Leid.

Im Grunde pilgern hier zarte Knaben zu uralten Muttergottheiten, die vergessen machen wollen, daß wir einer Welt gegenüberstehen, die uns fordert, daß wir leben und nicht gelebt werden, daß wir uns verantworten müssen vor dem lebendigen, eben nicht stummen, sondern redenden Gott.

Im Glauben überwinden

»Sehet zu«, schreibt der Apostel an die Kolosser (Kol. 2, 8), »ob euch jemand berauben will durch die Weltweisheit und ihre Täuschung, gestützt auf die Überlieferung der Menschen, die Naturmächte der Welt und nicht auf Christus!«

In »den Naturmächten der Welt« lebt der Naturalismus der Anti-Gott-Vater-Revolution wieder auf, für die alles, was das Fleisch fühlbar und begehrenswert macht, eben natürlich ist und damit zur »Satzung« des Lebens wird. Für sie ist die »Mutter Natur« Urbild des Vollkommenen und Reinen – eben weil sie nichts davon wissen wollen, daß der Mensch ein gefallener Mensch und die Natur eine gefallene Natur ist.

Natur und Materie, Naturalismus und Materialismus sind in unserer neuheidnischen Welt schon seit langem Mächte der Zeit, gegen Gottes Gebot und Ordnung. Die beherrschenden Ideologien unserer Tage, Nationalsozialismus und Kommunismus, sind naturalistische bzw. materialistische Ideologien.

Wo Ungehorsam gegen Gott die Zerstörung des Lebens betreibt, muß durch Gehorsam wieder der Bund des Lebens und Friedens werden.

Christus erniedrigte sich selbst »und wurde gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz. Daher hat ihn Gott auch über die Maßen erhöht und ihm den Namen geschenkt, der über jedem Namen ist, damit in dem Namen Jesu sich beuge jedes Knie derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und jede Zunge bekenne, daß Jesus Christus Herr ist, zur Ehre Gottes des Vaters« (Phil. 2, 7-11).

Durch diese Versöhnung geht der Weg zum Frieden mit Gott, dem Vater. Ohne diese Versöhnung muß es zum Haß gegen Gott, den Vater, kommen. Eine christusverfremdete, neuheidnische Welt muß unversöhnt, eben im Haß zum Vater-Gott, friedlos leben und zurückkehren zu den »Mächten der Natur«.

Ohne diese Versöhnung am Kreuz lebt der nun eben unversöhnte Mensch auch gegen sich selbst. Denn Versöhnung ist auch Überwindung! Die Wunden unseres kranken, gefallenen und verkümmerten Daseins werden durch Gehorsam und Vertrauen im Leiden, in der Fähigkeit zum Leiden, heil gemacht.

Aber »Überwindung durch Vertrauen (Glauben)« ist der »Kernverlust« der Anti-Gott- und Vater-Revolutionäre! Weil sie nicht vertrauen, können sie nicht überwinden, können sie nicht leiden; weil sie nicht leiden können, müssen sie hassen! Weil sie das Opfer Christi verneinen, können sie selbst nicht opfern, dienen und verzichten. Aber durch Überwinden, Opfern und Leiden im Vertrauen werden wir willenhaft, empfangen wir Kraft von Gott, so daß Antwort auf Herausforderungen und Widerstände des Lebens gegeben werden kann!

Diese Welt ist ja nicht ein Paradiesspielplatz unschuldiger Knaben und holdseliger Mütter, sondern die Welt ist Spannung zwischen Licht und Finsternis, Lüge und Wahrheit, Christus und Satan.  ». . . Weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich habe euch von der Welt erwählt, darum haßt euch die Welt« (Joh. 17, 14).

Wie soll und will und kann eine vaterverlorene und willenlose Generation die Welt überwinden, Leiden tragen, Herausforderungen meistern? Wie will sie überwinden, wenn sie nicht an den Überwinder glaubt?

Keiner zweifelt, daß eine harte Zukunft uns fordern wird! Die Konsumentenidylle der westlichen Welt wird es so nicht mehr lange geben. Hierin hat Marcuse geirrt; seine Prognosen für die unerschöpflichen Quellen eines reichen Konsumententums als Freiheitsraum unbegrenzter Lusterfüllung waren Illusionen.

Das letzte Buch der Bibel, die »Offenbarung des Johannes«, weiß um die Herausforderungen der Zukunft, und gerade in diesem Buch ist vom »Überwinden« sehr oft die Rede.

Die Zukunft verlangt die Kraft der Überwindung. Überwindung aber kann und wird es nur geben, wo Gott-Vater die Kraft zum Überwinden gibt: »Was von Gott geboren ist, überwindet die Welt!« (1. Joh. 5, 4).

Als das israelitische Gottesvolk aus Ägypten auszog und durch das Schilfmeer auf der einen und die pharaonische Heeresmacht auf der anderen Seite eingekesselt war, zerbrach ihm der Mut. Es kapitulierte, bevor es zum Streit kam. Es wollte lieber zurück in die Sklaverei Ägyptens, als weiter den Weg in die Freiheit gehen, die Gott verheißen hatte.

Genau an dieser Stelle stehen wir auch: Nicht weitergehen! Wir sind müde geworden – unser Fleisch sagt: »Zurück in das Kollektiv!« – und sei es um den Preis der Diktatur. Wir wollen lieber retrogressiv vegetieren, statt in Freiheit als Person existieren (siehe hierzu Exkurs 6).

Aber für seine Gemeinde geht Gott den Weg! Christus ist das Zeichen dafür, daß Gott mit seinen Erwählten diesen Weg immer schon gegangen ist. Was jenen widerfuhr – schreibt der Apostel in Erinnerung an die Geschehnisse am Schilfmeer -, ist uns zum Zeichen geschehen (1. Kor. 10, 11).

Was widerfuhr ihnen, den Israeliten, damals im drohenden Holocaust am Schilfmeer? Gott selbst bahnte den Weg durch das Meer. Die Chaoswogen standen wie drohende Ungetüme auf der Seite, und das Volk ging hindurch.

Keines Menschen Kraft konnte die Wogen abräumen. Weder Mut noch Verwegenheit triumphierten in jenen Stunden drohenden Untergangs. Das Volk zog hindurch, weil Gott den Weg bereitet hatte, und im Glauben konnten sie diesen Weg erkennen – es war ein Weg, der unmöglich schien.

Der Glaube brachte die Freiheit; die Rückkehr wäre Diktatur gewesen.

Gottesglaube ist Freiheit.

Gottesmord ist die Sklaverei unter den Mächten dieser Welt. Kapitulation ist das eine – Überwindung das andere. Knechtschaft ist das eine – Freiheit ist das andere. Naturalistische Gefangenschaft ist das eine – Wunder, Tat Gottes ist das andere.

Schuldverdrängung und Aggression das eine – Vergebung und Friede das andere. Tod ist das eine – Leben das andere.

Vertrauen auf Gott heißt leben, denn in ihm leben, weben und sind wir (Apg. 17, 28).

 

Exkurse zum zweiten Kapitel

1. Sexualaufklärungsstrategie und Gottes- Vaterhaß

Absicht zeitgenössischer Sexualaufklärung an Kindern und Jugendlichen ist oft und gezielt, das Sozialverhalten und, damit im Zusammenhang, das Vertrauen in herkömmliche, insbesondere eben auch elterliche Autorität zu zerstören. Das Mitspieltheater »Rote Grütze«, nach der schwedischen Vorlage »XY-NY: Du der Same – ich das Ei« von M. Harrie (»Darüber spricht man nicht. Ein Spiel zur Sexualaufklärung. Kinder- und Jugendtheater Rote Grütze« in der Reihe: Materialien Theater, München 1973), gehört zum Bereich einer sexualstrategischen, antiautoritativen Gesellschaftsveränderung. Während des sogenannten »Traditionsbruches« Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre setzte eine Springflut solcher und ähnlicher sexualaufklärerischer Schriften und Filme für Jugendliche und Kinder ein.

Ziel dieses Stückes ist, durch subjektiven Spaß Scham, Angst, Normen, Tabus und Beklemmungen abzubauen. Bewußt wird eine Untergrundsprache der Sexualität gebraucht (die man gemeinhin als obszön verurteilte), um »Kraft und Lebendigkeit« des Themas zur Sprache kommen zu lassen und um es den Kindern zu erleichtern, »Assoziationsketten« zu bilden. Die Vulgärsprache wirkt – so kann man es einfacher ausdrücken – eben sexuell stimulierend – und genau das soll erreicht werden.

Mehrfach wird in diesem Stück dazu aufgerufen, die »sinnlose Scham« abzulegen. Durch Vater-Mutter-Kind-Spiele wird elterliche Autorität als repressiv dargestellt oder lächerlich gemacht: Ehrfurcht vor Autorität wird also zerstört. Sexualität ohne Ehe wird nicht nur propagiert, sondern in Frage- und Antwort-Spiel (analog den früheren Kaspertheatern) die »öffentliche Zustimmung der Kinderzuschauer« durch stimulierte Akklamationen sogar eingeholt.

Negativ sind: Scham, Tabu, Autorität und Ordnung. So wird zum Beispiel unter dem Motto »Satt ist besser als sauber« folgender Dialog gespielt:

Vater: »Ich schäm mich so, wenn ich kacken tu …«
Alle: »Der Mensch ist ein Mensch und kackt ins Klo, drum schäm dich, drum schäm dich nicht, drum schäm dich nicht so.«

Ordnung hängt mit Wille, Scham und Herrschaft zusammen – also müssen für eine scham- und ordnungslose Gesellschaft, die allein repressionsfrei ist, Scham und Ordnung »chaotisiert« werden.

Zur Veränderung des Verhaltens werden in der Regie dieses Mitspieltheaters gruppendynamische Erkenntnisse angewandt: Die Gruppe wird dynamisiert, also auf gewünschtes Verhalten eingeübt. Das geschieht in diesem Stück dadurch, daß die Kinder aufgefordert werden, nachzumachen, was per Demonstration mit Puppen auf der Bühne vorgemacht wird: einander anfassen und streicheln, zärtlich miteinander sein im direkten körperlichen Kontakt bis zum Schmusen. Die Grenzen sind jeweils offen und werden der Regie unter der Berücksichtigung der jeweils gegebenen Umstände überlassen. Die sexuelle Stimulierung in der Gruppe – die diffuse, schamlose (eben enttabuisierte) öffentliche, kollektiv erfahrene Emotionalisierung ist erreicht – herkömmliche Autorität ist vom Tisch.

Daß seit dem benannten Traditionsbruch Familien heute immer mehr in Massenmedien entweder als kaputt oder repressiv dargestellt werden, ist nun mittlerweile allgemein bekannt. Dafür ein Beispiel: In der Mammut-Fernsehserie »Berlin Alexanderplatz«, nach dem Roman Döblins fernsehverfilmt von Rainer Werner Faßbinder, wird – nun völlig losgelöst vom Text des großen Romans – am Schluß der Vater als Ursache alles Bösen dargestellt.

Der zerbrochene Franz, die Zentralgestalt dieses Dramas, der an der Aufgabe der Personalisation zerbrach, träumt von Vater und Mutter: »Vor einem Krippenspiel-Szenario, Joseph, Maria, Jesuskind, kringelt sich ein nacktes Paar, ein junger Mann und eine ältere Frau; und hinter ihnen steht, nackt und von Pfeilen durchbohrt, der Vater« (so berichtet in »Der Spiegel« Nr. 42/1980, S. 247).

Nicht in direkter Propaganda, sondern durch die tausend kleinen Kanäle, eben in Spaß, Kunst, Unterhaltung usw., wird Familie und Vaterautorität – eben auf dem Wege einer schleichenden Indoktrination – »kaputt gemacht«.

2. Vatermord und Gotteskomplex

Das Buch »Der Gotteskomplex« von Horst Eberhardt Richter (1979) hat nichts mit theologischer Verkündigung zu tun und sieht Autorität auch keineswegs im Urteil biblischer Offenbarung. Dennoch bringt dieses Buch eine gute Analyse zum Thema Gottes- und Vatermord, auch wenn es von anderen als biblischen Voraussetzungen ausgeht.

Nach dem Urteil Richters hat der neuzeitlich-europäische Mensch Gott gleichsam abgesetzt und entmachtet. Dieser Prozeß hat nach Richter bereits im Mittelalter begonnen. Dieser »Prozeß der Ablösung aus der vollständigen Unmündigkeit und Passivität« (S. 23) hat nach Richter dazu geführt, daß der nun mündig gewordene, sich mit der göttlichen Allwissenheit und Allmacht identifizierende Mensch sich selbst zum Gott ernannt hat.

Dadurch sei nun – so meint Richter – der moderne Mensch überfordert; er lebe im Streß des »Gotteskomplexes« und habe das Gefühl der Geborgenheit und des Schutzes verloren: »Das individuelle Ich wird zum Abbild Gottes« (S. 27). Das beschreibt den Zustand des von mir so genannten Vatermörders in der ersten Phase: eben jene Väter, die ihre Autorität aus sich selbst setzen.

»Wie das Kind, das sich gewaltsam und illusionär in eine allmächtige Elternfigur verwandelt, um seinen unverläßlichen Eltern nicht länger wehrlos ausgeliefert zu sein, trägt unsere Zivilisation seit damals zahlreiche Merkmale einer krampfhaften Selbstüberforderung« (S. 29). Mit anderen Worten: Kinder wurden so erzogen, daß elterliche Autorität für sie absolute Autorität war und sie nicht erkannten, daß elterliche Autorität nichts anderes als ein Mandat Gottes ist. Die aus der Verantwortung vor Gott losgelöste elterliche Autorität ist die Autorität der Gottesmörder der ersten Phase, sie liegt in der Generation des Maskulinismus und ist verfehlte Autorität. »Das eben ist der Fluch dieses kollektiven Komplexes, dieses Ohnmacht-Allmacht-Komplexes, den man auch zusammenfassend als Gotteskomplex bezeichnen kann« (S. 31), meint Richter zu dieser Selbstsetzung der Autorität in der Generation der Vatermörder.

Die neuzeitliche Gesellschaft hat sich Gott gleichsam einverleibt. Die Autorität Gottes wurde nun zur Autorität der Gesellschaft. In der Analyse der neuzeitlichen Philosophie erkennt H. E. Richter, daß der philosophierende Mensch sich nun um ein Ich bewegt, das im Mittelpunkt des Seins steht: »Das individuelle Ich, das fortan im Mittelpunkt aller philosophischen Konzepte stand, war stets das männliche Ich« (S. 103).

Zu Recht erkennt Richter, daß im Gottesglauben Mann und Frau »sich in einer gemeinsamen geschwisterlichen Kindschaft gegenüber Gott erlebten« (S. 103), während nun, im Zeitalter des Gotteskomplexes der Vatermörder, die Gottesmacht auf ein männliches Prinzip im Sinne des Maskulinismus übertragen wurde.

Eine der gefährlichsten Folgen dieses Gotteskomplexes ist nach Richter »die totale Auslöschung des Leidens« (S. 129), die Verdrängung des Leidens und seine Verwandlung in Haß: »Die absolute Selbstsicherheit als Rettung vor der verzweifelten Verlorenheit verlangt eine beständige Abwehr der Erfahrung der Brüchigkeit, der Versehrbarkeit, des Sterbenmüssens. Man kann verschiedene Abwehrstrategien unterscheiden, die dieser kontinuierlichen Selbststabilisierung dienen sollen« (S. 129).

Wir erkennen diese Diagnose Richters an und fügen hinzu: Der Zweifel an Gottes Gerechtigkeit, an der Christusoffenbarung – die den Sinn öffnet für Sühne, Leid, Kreuz und Auferweckung – führt zwangsläufig zu einer Verdrängung, ja zu einer Verneinung des Leidens und der Wirklichkeit des Todes. Der eindimensionale Mensch, der nur noch die Wirklichkeit einer einhorizontalisierten Welt kennt, muß hier auf dieser Erde und in diesem Leben das volle Glück mit aller Gewalt erreichen, weil er sonst, eben in der Verneinung der Ewigkeit, an der Sinnfrage zerbrechen würde.

Und er ist an dieser Sinnfrage zerbrochen, weil er erkannt hat, daß er aus dieser Selbstsetzung heraus, in dieser Einsamkeit einer Ichstrapazierung, den Weg zum Sinn des Lebens und zur Erfüllung seines Daseins nicht finden kann. »Es ist letztlich das Nicht-ertragen-Können von Leid, das immer wieder dazu zwingt, andere leiden zu machen« (S. 146), meint Richter zurecht.

Wir leben also heute in einer Gesellschaft, die unbedingt »leidensfrei« werden will, denn wenn sie selbst Gott ist, kann sie ja nicht leiden.

Da es nun unmöglich ist, Leid wegzutrainieren, und andererseits die gefallene Schöpfung diesem gefallenen Menschen Leiden verursacht, wird eine leidensunwillige und leidensunfähige Gesellschaft in eine Spannung hineingeraten, die sich in Neid, Aggression, Klassenkampf und Verfolgung religiöser Minderheiten entladen muß.

3. Schon der Faschismus war Vaterhaß

Der Faschismus (wie auch der Nationalsozialismus) wird in einer sog. »Vulgär-Vergangenheitsbewältigung«, wie man sie im Fernsehen, vielen Spielfilmen, Büchern und Aufsätzen immer wieder erleiden muß, nicht nur wirklichkeitsverfremdend und konsumentenhaft-kitschig dargestellt, sondern im Wesen gefährlich mißverstanden.

Faschismus und Nationalsozialismus waren keine autoritativen Weltanschauungen, sondern sie waren genau das Gegenteil davon. Der Nationalsozialismus war eine Anti-Vater-Gottrevolution, die mit ihm bereits einen Höhepunkt erreichte und heute unter anderen ideologischen Karosserien, aber mit gleichem Fahrgestell ihre konsequente, inhaltlich wie strategisch-technisch gleichartige Fortentwicklung erlebt.

Die unbedingte Hingabe an den »Führer«, dieses Überfahrenwerden personaler Selbständigkeit, die Bejahung der Gruppe, die Vorordnung des Kollektivs vor dem einzelnen ist anti-personalistisch, gegen Autorität als absolute Autorität, wie sie im Anspruch Gottes offenbar wurde.

Bedeutsam ist, daß der Nationalsozialismus Nein sagte zum Gewissen, das er als eine »jüdische Erfindung« verurteilte (vgl. hierzu F. Heer, »Der Glaube des Adolf Hitler«, 1968).

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Todesverherrlichung im Nationalsozialismus, die nicht nur durch die Todessymbolik (Totenkopf bei den Waffen-SS-Verbänden), sondern durch Verherrlichung im «Liedgut und in der Dichtung jener Zeit zum Ausdruck kam.

Der Führerkult in der NS-Ideologie war ein Anti-Gott-Vater-Kult, er war Ausdruck einer sich selbst setzenden Autorität.

A. Mitscherlich (»Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft«, 12. Aufl. 1978, S. 344) schreibt zu diesem aufregenden Thema des Zusammenhanges von nationalsozialistischer Ideologie, Vatermord und Vergangenheitsbewältigung:

»Der versprechende und terroristisch bedrohende Massenführer ersetzt nicht eigentlich den vorhandenen Vater. Er ist viel eher – so überraschend das scheinen mag – in der Imago einer primitiven Muttergottheit unterzubringen. Er selbst gebärdet sich dem Gewissen überlegen und fordert zu einer regressiven Gehorsams- und Bettelhaltung heraus, die zum Verhaltensstil des Kindes in der präödipalen Phase gehört. Versagt er, so wird er aufgegeben wie ein unrentabel gewordenes Bergwerk; Treue kann er nicht wecken, wenn er keine Furcht mehr einflößt, keine Versprechungen mehr einlöst… Die Bindung an den Führer hat (trotz lautester Gelöbnisse) nicht die konfliktreiche Stufe der Gewissensbildung und Gewissensbindung erreicht.«

Die mehr oder weniger atheistisch motivierte Philosophie der kritischen Theorie oder des Neomarxismus hat deswegen den Nationalsozialismus gründlich mißverstanden. Der Kampf dieser Bewegung gegen absolute Autorität überhaupt, wie wir ihn im ersten Kapitel darstellten, setzt in mancherlei Weise – auch wenn es selbstverständlich diesen Philosophen nicht bewußt ist – den antiautoritativen, ideologischen Trend des Nationalsozialismus fort. Für den christlichen Offenbarungsglauben wird es immer notwendiger sein, den einen starken roten Faden einer modernen antichristlichen Bewegung herauszuarbeiten.

4. Gotteskomplex und Vatermord in der Philosophie des Existentialismus

Mit der Philosophie des Existentialismus, die die zwanziger bis fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts geprägt hat, ist es zu Ende. Heidegger, Camus, Sartre und Jaspers sind Geschichte. Im Pariser Aufstand der französischen Jugend vom Mai 1970 war Sartre ein »Opa der Revolution«, auch wenn er auf den Boulevards mit Knaben und Mädchen marschierte und unbeholfen an den Fabriktoren von Renault »arbeiternah« protestieren wollte.

Sartre lebte im Gotteskomplex der Vatermörder der ersten Generation, er gehörte, von daher gesehen, in die Welt des 19. Jahrhunderts, deren Stil ja auch seine Kindheit prägte. Jean-Paul Sartre stand genau im Umschlag der Vatermordrevolution – von der Selbstsetzung zur Selbstflucht, vom aktiven, aggressiven zum passiven Gottesmord.

Für Sartre gab es keine absolute, über alle Zeiten feststehende, gar von Gott gegebene Ordnung, die respektiert werden müßte, wollte man überleben. Sartre war der Meinung, daß der Mensch in einer Welt ohne Gott und Sinn als sein eigener Gott ohne irgendwelche vorgegebenen Maßstäbe seine Welt schaffen muß und damit auch selbst Werte setzen soll. Das Gute als ein allgemeines, von allen Menschen anzuerkennendes, sittliches Prinzip war für Sartres Philosophie wie überhaupt für den Existentialismus eine Illusion.

Die Philosophie Sartres ist die des einsamen Gottes. Das Kollektiv war ihm ein Greuel, die anderen waren die Hölle, die nur eigene Freiheit in Abhängigkeit verwandeln wollten. Seinem kommunistischen Engagement zum Trotz gehörte Sartre zur alten Garde der Gottesmörder. In Simone de Beauvoir, die einerseits ganz mit ihm, in ihm und von ihm lebte, in dieser Gefährtin seiner Lebensjahre liegt – wie wir im Aufsatz über den Feminismus noch sehen werden – der Aufbruch vom Gotteskomplex in die Gottesmütterlichkeit, vom Existentialismus in den Feminismus und damit in eine neue Phase des Atheismus.

5. Vatermord und Retrogression

Regression oder (meistens im verschärfenden Sinne gemeint) Retrogression bedeutet in der Psychologie Rückkehr in eine frühere, vor-erwachsene, kindliche Lebensphase oder gar die Wunschvorstellung der Rückkehr in das Nichtgeborensein (pränatale Phase). Retrogression hat ihre Ursache im Leiden an der individuellen, persönlichen, durch Pflicht und Wille bestimmten Weise des Lebens. Das Gegenteil von Retrogression ist Individuation, also das Erwachsenwerden im Sinne einer sich verantwortenden und selbständigen Persönlichkeit.

Wir haben gesehen, daß die sogenannte »Alt-Vatermörder-Generation« im höchsten Maße auf Persönlichkeit und Individualität im Sinne einer maskulinistischen Ausprägung leitbildlich eingestellt war. Wir erleben heute die totale Umkehr. War für den Individualismus der Gotteskomplex kraftprotzender Männlichkeit das Ideal (das Zeitalter der Heldenverehrung im 19. Jahrhundert), so ist nun – in der Phase der Retrogression – die Frau, das Mütterliche (allerdings außerhalb der Zuordnung zu Ehe und Familie) Wunschziel und Symbol allen Geborgenheitsstrebens.

Bewußt männliche Tugenden treten hinter eine mehr und mehr feminine Gestaltung und Wertung des Lebens zurück. Diese feminine Prägung des Lebens meint nun im Gegensatz zum Individualismus die Einfügung in die Geborgenheit des Kollektivs und die fast vorbehaltlose Bejahung der emotionalen, eben lustbetonten Motivation des Lebens.

Horst E. Richter meint in seinem bereits zitierten Buch »Der Gotteskomplex«, moderne Selbstverkrampfung nur durch eine Lebensgestaltung überwinden zu können, die wir als »mütterlich orientiert« bezeichnen sollten und die »zutiefst« anti-Vater-Gott-orientiert ist. Nicht als aufsteigende Linie, sondern als Zyklus soll das Leben betrachtet und damit die Rückkehr in den Tod, also das Sterben, bejaht werden.

Wohlgemerkt: Sterben soll bejaht werden – nicht als Pforte in ein ewiges Leben, also als »linearer Aufstieg«, sondern als das Nichts. Tod soll zum natürlichen Bedürfnis nach einem kreisförmigen Abschluß des Lebens werden, meint Richter: »Der Mensch kann sich jeweils als das bejahen, was er ist, und nicht immer nur als das, was er hofft zu werden, oder als das, was er – vielleicht einmal – war« (S. 235).

Der einzelne soll aber seinen Lebenszyklus als Zyklus nur innerhalb eines »sozialen Zyklus begreifen« (S. 237), und in diesem sozialen Ganzen sind Sympathie und Mitfühlen, das »unmittelbare, instinktartige Mitempfinden, Sichfreuen und Mitleiden überhaupt« (S. 241), die tragenden Elemente das Daseins, das eben nun ein kollektives Dasein ist. Dabei kann und soll sogar dieses Mitfühlen »die hierarchische Struktur« einer Beziehung aufheben.

An die Stelle des Oben-Unten-Verhältnisses tritt eine Gleichsetzung, ein »volles solidarisches Teilen miteinander« (S. 243).

Diese Gedanken zielen auf das glückliche Geborgensein in einer Gruppe ab, die es allerdings niemals gab, die aber in dieser gegenwärtigen Phase der Anti-Vaterrevolution das Ziel aller Träume ist, nämlich »die Anerkennung des Gleich-seins im Anders-sein« (S. 243).

Mit den »jahrhundertealten Diskriminierungen der Emotionalität» (S. 247) soll Schluß gemacht werden, denn »inhumane Unterdrückungsverhältnisse« – so träumt Richter – können durch das »Urphänomen der Sympathie« abgebaut werden – eine Erkenntnis, die sich allerdings seit Kain und Abel nie durchgesetzt hat. Die Gefühlsbetontheit oder gar die Rettungsfunktion des Gefühls (»Es erscheint notwendig, daß wesentliche Strömungen zum Abbau des traditionell vorherrschenden egozentrischen Machtdenkens vorwiegend vom Gefühl ausgehen …«) meint wieder tiefes Mißtrauen gegen Bewußtsein, aber auch gegen Glauben im Vertrauen auf das Wort jenes Gottes, der uns als Autorität gegenübersteht: dem wir gehorsam sind, weil wir auf ihn hören.

Biblische Botschaft kann weder die Auffassung des Lebens als Zyklus, noch die Bejahung des Sterbens ohne Glauben an die Ewigkeit, noch die Retterfunktion der Emotionalität als Heilmächte bejahen! Der Christ lebt auf Hoffnung, die sich in der Ewigkeit erfüllt. Der Tod wird nicht bejaht, sondern der Tod ist der Feind des Menschen, der durch den Glauben an das ewige Leben, an die Auferweckung Christi von den Toten überwunden wird.

Gemeinschaft ist für Christen immer die Gemeinschaft der Brüder und Schwestern in dem Herrn. Die Bindung in der Mitmenschlichkeit gründet sich nicht auf Sympathie, sondern auf Vertrauen in die Liebe aller zum gemeinsamen Vater, durch den sie erst Brüder und Schwestern werden, eben weil sie den gemeinsamen Vater bekennen.

Es ist ein wirklichkeitsfremdes Wunschdenken, das sich in diesen retrogressiven Zielvorstellungen ausspricht. Vor einigen Jahrzehnten hatte – wie wir sahen – Sartre noch eine ganz andere Erfahrung, und statt von Sympathie sprach er von der Hölle, die eben die anderen sind.

Unter dem Symbol der Muttergottheit fanden sich im vorchristlichen Heidentum Kultgenossen, verbunden in ihrer Ursehnsucht nach dem vor-erwachsenen, urständlichen, vermeintlich Glück bringenden archaischen Zustand des Menschseins. Die Propheten des Alten Testamentes haben hier – in ihrem Kampf gegen den Baalismus – die Aufgabe im Kampf gegen die Hurerei des Gottesvolkes gesehen.

Personsein heißt im Wortsinn »durchrufen«. Person ist der Mensch nicht durch Selbstsetzung, sondern durch den Ruf Gottes, auf den er im Vertrauen antwortet und lebt: Nicht das Getriebenwerden durch Emotionen, nicht das Eintauchen in die Gruppe, nicht das Aneinanderfesthalten, sondern das Wagnis des Lebens »auf das Wort« hin.

Emotionalität ist genauso gefallene Schöpfung, genauso in die Feindschaft gegen Gott einbezogen, wie unser Menschsein überhaupt. Erlösung kommt nicht aus der Emotionalität, sondern Erlösung kommt über die Emotionalität im Überwinden der Wunden, die durch die Sünde gegen Gott aufgerissen werden.

Allein im Glauben an Gott können zwei Irrwege überwunden werden: die Selbstsetzung der Autorität, die zum Gotteskomplex führt, und die Preisgabe der Individualität durch das Kollektiv.

 

Kapitel 3  Klassenkampf zwischen Mann und Frau?

 –  Das Zerstörungswerk des Feminismus für Glaube, Theologie, Kirche und Gesellschaft  –

Der Feminismus will die Verfraulichung der Welt

Das Programm der Entmythologisierung (sagen wir das Pro­gramm der Verohnmächtigung Gottes, das in den fünfziger Jahren alles, was sich Theologie nannte, in Atem hielt) hat sich innerhalb großkirchlicher Theologie in jedem einzelnen Punkt siegreich durchgesetzt. Die in der Heiligen Schrift bezeugten Taten und Worte Gottes wurden zu zeitgebundenen »Symbolen« eines eben nur »damaligen« Verständnisses von Gott, Welt und Mensch. Die Bibel wurde als Material für unsere Interpretation, zu unserem Gebrauch also, freigegeben.

In schneller Folge führten diese rasanten »Interpretationen« des sogenannten »biblischen Materials« konsequenterweise zur Gott-ist-tot-Theologie und dann – meistens auch schon parallel laufend – zur Theologie der Revolution und Befreiung, nachdem im zaghaften Anlauf zunächst nur von der Theologie der Hoff­nung viel geschrieben und noch mehr gesprochen wurde.

Heute ist die Bibel Interpretationsmaterial in dem Sinne, daß Worte wie Gott, Christus, Erlösung, Exodus (Auszug des israeliti­schen Gottesvolkes aus der Gefangenschaft Ägyptens) als Reiz­worte zum Gebrauch einer Art religiöser Verklärung für die Weltrevolution der Einheitsgesellschaft bereitgehalten werden.

Die – bislang – letzte und radikalste Phase einer die Aussagen der Bibel zerstörenden Interpretation ist der Feminismus, der keines­wegs nur die Befreiung der Frau aus der »Jahrtausende währenden Sklaverei durch christlich patriarchalische Männer« erstrebt, son­dern im Zusammenhang einer Theologie der Revolution die Verän­derung der Gesellschaft auf dem Wege des Klassenkampfes zwi­schen Mann und Frau vorantreiben und die Pervertierung des Christentums in eine Muttergottes-Einheitsreligion als Ausdruck kollektiver Gesellschaftsform durchsetzen will.

»Es ist klar«, schreibt die Professorin für Feminismus und Christentum an der Universität Nijmegen, Catharina J. M. Hal­kes, »daß es uns schon lange nicht mehr um die Frage oder um den Platz der Frau geht, um die Formulierung der Aufgabe oder um Zulassung zu den Ämtern. Schon diese Begriffe deuten die Herrschaftsstruktur an: Andere, das andere Geschlecht soll für mich ausmachen müssen, was mein Platz ist? Man’s World (Die Welt des Mannes) hat die Macht, Woman’s Place (den Platz der Frau) zu bestimmen. Darauf haben wir schon unzählige Ballen Papier verschwendet« (»Gott hat nicht nur starke Söhne – Grund­züge einer feministischen Theologie«, 1980).

Der zeitgenössische Feminismus kämpft nicht um den Platz der Frau für die Frau in dieser Gesellschaft, um die »Gleichberechti­gung«, sondern er will die Veränderung dieser durch Männer strukturierten Gesellschaft. Feministen wollen eine andere Kul­tur, eben eine Kulturrevolution.

In letzter Konsequenz wollen sie nicht nur die andere Frau, sondern auch den anderen Mann, sie wollen eben – elementar ausgedrückt – die Welt auf den Kopf stellen, denn »offenbar ist die Frau in der herrschenden, androzentrischen (auf den Mann bezogenen) Kultur zum Opfer eines immer dualistischen Den­kens, eines Denkens und Erlebens in Gegensätzen geworden« (Halkes, S. 21). Gegen die herkömmliche, christlich motivierte Kultur in der Spannung von Himmel und Erde, Gott und Schöpfung, Mann und Frau, Eltern und Kindern, Schuld und Versöhnung soll die spannungslose, eben mütterlich-eindimensio­nale Kultur gesetzt werden.

Der Feminismus liegt damit ganz und gar auf der Welle des Neomarxismus der kritischen Theorie. Herbert Marcuses Theorien feiern hier jubilierende Triumphe. Das Ziel ist der sozialistische Feminismus, der im Bündnis mit allen anderen »Gegenkulturen« als Revolution die »fundamentalste Bewegung« ist, »weil alle die genannten Formen der Herrschaft und Unterdrückung von Men­schen durch Menschen soziale Ausdrucksformen jenes Dualismus sind, der am meisten in die Tiefe geht: die Erhebung des männli­chen Geschlechtes über das weibliche« (Halkes, S. 30).

Der Mann, das männliche Prinzip, das Vatersein, Vaterherr­schaft – eben das Patriarchat – ist an allem schuld. Die Revolution des Feminismus hat also ihr Feindbild, ohne das es eine Revolu­tion bekanntlich nicht geben kann. Die einzige Alternative zum verhaßten Kapitalismus ist – so meint auch die Feministin und Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel (»Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit. Zur Emanzipation der Frau«, 1978, S. 51) – die Revolution der Frau. Auch sie sieht den Zusammenhang mit der neomarxistischen kritischen Theorie und zitiert Herbert Marcuses für den Feminismus so charakterisierende Sätze: »Die weiblichen Qualitäten, auf der biologisch-gesellschaftlichen Grundlage entstanden, könnten die Realisierung eines neuen Realitätsprinzips bringen, weil sie die Antithese zu den die kapitalistische Gesellschaft regierenden Werten darstellen«.

Der Feminismus will also nicht nur eine Befreiung der Frau für ihren Platz in dieser Gesellschaft oder nur eine Kulturrevolution in dem Sinne, daß auch die Frau Möglichkeiten eigener kultureller Entfaltung gewinnt, er will im Gegenteil verändern, was man überhaupt nur verändern kann. Er will eine neue Realität: Die Wirklichkeit selbst soll verändert werden.

Aus diesem Grunde kann besagter Herbert Marcuse befriedigt, und den Feminismus in seiner Bedeutung richtig einschätzend, feststellen: »Ich glaube, daß die Frauen-Befreiungsbewegung (Woman’s Liberation Movement) derzeit die vielleicht wichtigste und potential radikalste politische Bewegung ist, die wir haben, auch wenn das Bewußtsein dieser Tatsache die Bewegung als Ganzes noch nicht durchdrungen hat« (Jutta Menchik, »Feminismus – Geschichte – Theorie – Praxis«,1977).

Marcuse hat recht mit diesem Urteil. Hinzufügen möchte ich, daß brave Bürger und Bürgerinnen keine Ahnung davon haben, welche starken Kolonnen einer kollektivistischen Welt-Kulturrevolution wir schon in unserer Mitte haben, auch und gerade in unseren Großkirchen, Freikirchen und Gemeinschaften.

Das Feindbild Mann

Dem Kampf um die »neue Realität« steht der Mann, so wie er ist, als Feind Nummer eins im Wege. Der Feminismus will das Weibliche befreien und entfalten, ja zum Triumph in einem neuen Realitätsprinzip führen; aber das Männliche kann weder befreit noch entfaltet, es muß abgeschafft, besser wohl noch vernichtet werden.

Valerie Solanas (»Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer«,1969) meint: »Der Mann ist eine Maschine, ein >Gummipeter auf zwei Beinen<. Die Männer sind verantwortlich für alles Böse, für Unterdrückung, Haß und Gewalt, sie sind unfähig zur Zivilisation…«.

Das Männliche ist – darauf legt diese kollektivistisch orientierte feministische Revolution allergrößten Wert – unfähig für die Einpassung in die Gruppe und zum Leben aus der Emotionalität eben dieser Gruppe. Das Zueinander von Gruppe und Emotiona­lität, das Nein zum Willenhaften und zur Individualität, sind Hauptziele dieser das mütterlich-bergende Kollektiv anstrebenden feministischen Weltrevolution.

Nach Valerie Solanas gehört die Zukunft der Frau, weil nur Emotion und Kollektiv die Zukunft der Totalzivilisation durchtra­gen werden: »Die wenigen überlebenden Männer«, so schlägt sie, die tatsächlich Männer mit dem Revolver angriff und selbst schließlich durch Selbstmord endete, in »barmherziger« Weise vor, »mögen ihre kümmerlichen Tage mit drop out und Drogen weiterfristen, als Transvestiten in Frauenkleidern herumstolzie­ren oder passiv die superdynamischen Frauen in voller Aktion bewundern… «

Diese Sätze sind inhaltlich nicht so komisch, wie sie sich zunächst für unerschrocken-weltfremde, bürgerliche Existenz anhören lassen. Nicht nur das Feindbild, sondern die treffende Diagnose von der Selbstzerstörung des Mannes, seine Krise zum Tode ist bedeutungsvoll. Denn »Mann sein« und »Vater sein« befinden sich heute – wir werden darauf noch weiter eingehen – in einer Krise zum Tode, und die von Valerie Solana erwähnte »schmerzlose Vergasung« erinnert an den bislang größten Vater­mord der Geschichte, an die Vernichtung jüdischer Menschen, wobei wir uns daran erinnern, daß der Nationalsozialismus eine feminin-heldische Vatermordrevolution war, für die der biblische und damit eben auch der jüdische Mann als verhaßter Repräsen­tant der Vaterkultur galt.

Der Feminismus kann noch radikaler an die Ideologie des Nationalsozialismus anknüpfen. Elisabeth Gould Davis (»The First Sex«,1975) gebraucht zwar nicht den im Nationalsozialismus üblichen Begriff »Untermensch«, aber mit biologischer Argumen­tation degradiert sie den Mann zu einem zumindest – und gelinde ausgedrückt – zweitrangigen, eben auf niedererer Stufe als die Frau stehenden Lebewesen. Hätten doch – so ihre Argumente – Geneologen erkannt, daß das Y-Chromosom, aus dem der Mann hervorgeht, ein abgebrochenes X-Chromosom sei, von dem die Frau sogar zwei besitze, so »daß Frauen eine Rasse für sich, das starke erste Geschlecht, und Männer die biologische Nachhut« seien.

Auch hier weigere ich mich, in solchen phantastischen Aussa­gen nur Komisches zu sehen. Rassenbiologisch motivierte Urteile über das Menschsein haben in vergangenen Jahrzehnten zu furcht­baren Konsequenzen trotz aller Absurdität der Argumentation geführt. Auf diese Beurteilung des Mannes »auf zoologischer Basis« wollen wir uns hier auch gar nicht erst weiter einlassen, aber schon jetzt, mit um so größerem Ernst, die Frage stellen, welche ethischen Orientierungsdaten der Feminismus seinem Urteil über Menschen eigentlich zugrunde legt.

Zweifellos stehen diese Aussagen, wie wir sie eben hörten, auf der Außenseiterposition des Feminismus -gegenstandslos sind sie deswegen nicht. Sie erhellen vielmehr die Grundtendenz des Feminismus, nämlich sein Bestreben, das herkömmliche Zueinan­der von Natur und Menschsein radikal nicht nur in Frage zu stellen, sondern aufzuheben.

Es gibt im Feminismus einen breiten Konsensus darüber, daß herkömmliches, geschlechtliches Zueinander von Mann und Frau zu verneinen sei. Der Feminismus unterscheidet in diesem Zusam­menhang zwischen der vaginalen und der klitoridischen Frau.

Für Carla Lonzi (»Die Lust, Frau zu sein«, 1975) bedeutet die normale Lust, die im herkömmlichen, also natürlichen Ge­schlechtsverkehr durch die Einführung des Penis in die Vagina erreicht wird, nicht die umfassendste und vollkommenste Lust, sondern die Lust der patriarchalischen Sexualkultur. Sie zu errei­chen bedeute für die Frau, sich verwirklicht zu sehen in dem einzigen Modell, das ihr Belohnung verspricht, in dem Modell, das die Erwartung des Mannes erfüllt. Das patriarchalische Paar ist das Paar Penis-Vagina, Ehemann und Ehefrau, Vater und Mutter der fortpflanzungsgebundenen animalischen Kultur: »Ihr Verhältnis zueinander wird nicht durch die Funktionsweise der Sexualität bestimmt, sondern durch die Fortpflanzung, der die weibliche Sexualität untergeordnet wird. Die vaginale Frau ist das Ergebnis dieser Kultur. Sie ist die Frau des Patriarchen und der Herd eines jeden Mythos der Mütterlichkeit, die Sklavin, die die Fesseln der Unterwerfungen weitergibt, durch die die männliche Herrschaft jede historische Veränderung hat überdauern können.«

Diese Sexualität, so wie sie die europäische Frau »im christli­chen Abendland normalerweise« erlebt, ist »Spiegel und Instru­ment der Unterdrückung der Frau in allen Lebensbereichen«, meint Alice Schwarzer (»Der kleine Unterschied und seine großen Folgen. Frauen über sich – Beginn einer Befreiung«,1975, S. 71).

Ähnlich urteilt Kate Miller (»Sexus und Herrschaft. Die Tyran­nei des Mannes in unserer Gesellschaft«, 1971): Das Eindringen des Penis in die Vagina sei Ausdruck männlicher »Penetrations­wut«, der aggressiven Herrschaftshaltung des Mannes.

In dieser Weise der geschlechtlichen Begegnung – so meinen die Feministinnen – zeige sich die Feindschaft des Mannes gegen die Frau. Es versteht sich von selbst, daß das Zueinander und Miteinander von Geschlechtlichkeit und Zeugung, Liebe und Ehe, Ehe und Familie vom Feminismus verneint wird.

Die Lust wird zur selektierten, einsamen, nur auf Selbstbefriedi­gung abzielenden Lust. Der Feminismus ist also in seiner radikalen Form in sich selbst die Zerstörung von Ehe und Familie.

Bejaht wird im Feminismus nur die klitoridische Sexualität, die nach seiner Meinung die Sexualität der emanzipierten Frau ist. Nur diese Art sexueller Verwirklichung schließt die Herrschaft des Mannes aus. Sie verwirklicht das Lustbild einer neuen Zärt­lichkeit, eine neue ganzheitliche erotische Kultur, einen neuen umfassenden »Mann-weiblichen-Horizont«, wie Kurt Lüthi, der evangelische Ethiker an der Theologischen Fakultät Wien, es in seinem Standardwerk »Gottes neue Eva« (1978, S. 32) ausdrückt.

Der klitorale Orgasmus ist unabhängig von der Partnerschaft mit dem Mann, er kann lesbisch oder durch Masturbation oder im wechselseitigen Liebesspiel erfahren werden, wobei ohne oder gegen den natürlichen, eben vaginalen Geschlechtsverkehr völlig neue Aspekte der Sexualität entdeckt würden.

Kurt Lüthi sieht das Ergebnis der »Orgasmusforschung« darin, »daß die weibliche Klitoris das für die Lustempfindung der Frau wichtigste Organ ist«. »Allerdings ist die Klitoris nicht isoliertes Lustorgan, sondern Spitze einer ganzen Struktur von Lustempfin­dungen. Die Klitoris scheint überhaupt keinen speziellen biologischen Sinn zu haben, sondern nur der Lust zu dienen … Der vaginale Orgasmus deutet eher auf eine Anpassung der Frau und auf eine Beziehung der Frau auf männliche Bedürfnisse … Im klitoralen Orgasmus erlebt die Frau die ihr gemäßen Ekstasen.«

Lüthi bedauert, daß »so etwas wie eine Sprache der klitoralen Gefühle völlig fehlt«. »Auch die Sprache ist«, so meint der Wiener Theologieprofessor klagend, »vom Vorrang männlicher Bedürf­nisse geprägt«. Er meint: »Schließlich ist für die Dimension des Körperlichen die Einsicht wichtig, daß die Frau in ihrem ganzen Körper Lust empfindet; der Vorrang bloß genitaler Lust gehört zur Vorstellungswelt einer männlichen Sexualität« (a. a. O., S.18).

Für die feministische Bewegung ist der Aspekt der Ganzheit­lichkeit der geschlechtlichen Lust (»Wholeness« ist ein Leitwort der feministischen Revolution überhaupt) sehr wichtig: »One makes love with genitals not with selves«, kritisiert J. M. Halkes (a. a. O., S. 47) mit Vehemenz und kommt dabei zum anderen Leitwort des Feminismus, zur Androgynie, das man am besten mit »Mannweiblichkeit« übersetzen würde.

Nicht die Spannung in der Begegnung zwischen Mann und Frau, sondern ein Einswerden im Sinne der Auflösung dieses spezifischen Zueinander von Мann und Frau soll erreicht werden. Ziel der Umstrukturierung herkömmlicher Sexualität ist der neue Mensch, der Маnn- und Frausein in sich vereinigt.

Der Feminismus will, daß der Mann von der Frau integriert, ein Teil ihres eigenen Wesens wird. »… Ich glaube nicht mehr daran, daß Mann und Frau komplementär sind, geschweige denn, daß die Frau eine nützliche und nötige Ergänzung des Mannes ist. Beide Geschlechter tragen die Möglichkeit in sich, das, was bis heute als männliche und weibliche Komponente oder Polarität bekannt war, zu integrieren und auf diese Weise autonome, auf Ganzheit und Androgynie (Mannweiblichkeit) zuwachsende Menschen zu werden«, meint die Professorin für Feminismus aus Nijmegen (a. a. O., S. 26) und kündigt damit an, daß das Mannweib bzw. der Weibmann schon an der Schwelle einer neuen Kultur, eben der Kultur des Feminismus, steht.

Der Kampf um die neue Realität

Schon Simone de Beauvoir, die zu ihrer Zeit noch vom französi­schen Sozialismus und Kommunismus belächelte Großmutter des modernen Feminismus, hat in ihrem den Feminismus stark bewe­genden Buch »Das andere Geschlecht« (zuerst 1949 erschienen) proklamiert: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.« Nicht die Natur ist »schuld« daran, daß die Frauen so sind, wie sie leider jetzt sind, sondern die Kultur hat sie dazu gemacht.

Hinter dieser These stand die damals starke Position der existen­tialistischen Philosophie im Sinne von Jean-Paul Sartre. Was der Mensch ist, wählt er in freier Entscheidung; es gibt keine vorgege­bene, ewige, etwa von Gott gesetzte Ordnung. Letztlich schafft der Mensch sich selbst.

Seit Simone de Beauvoir wirkt diese atheistische Schöpfungs­ordnungsfeindlichkeit als munter sprudelnde Quelle in der Bewe­gung des Feminismus und ist mittlerweile jetzt, auf dem Höhe­punkt dieser feministischen Bewegung, zu einem breiten Strom der Schöpfungsfeindlichkeit angeschwollen.

Betty Friedan (»Der Weiblichkeitswahn«,1968) und Margarete Mead (»Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften«, 1971) werden nicht müde zu betonen, daß Frauen nicht von Natur und für alle Zeiten auf ihr Frausein festgeschrieben sind, sondern daß eine böse, androzentrische, eben männlichkeitsbezogene Unkultur Frauen zu dem gemacht hat, was sie heute sind.

Die »Natur«, meint die Protestantin Elisabeth Moltmann-­Wendel in Erinnerung an die Ergebnisse dieser sogenannten Forschungen im Geiste des Feminismus, »stellte sich vor allem seit den Forschungen Margarete Meads als etwas Neutrales, nicht Beeinflußbares und als eine sehr abhängige Erscheinung heraus. Die Frau ist demnach keine Schöpfung der Natur, sondern ein Zivilisationsprodukt«. Also – und das ist Sinn dieser herbeigesehnten Erkenntnisse – die Frau kann sich selbst, so wie sie ist, abschaffen.

Dieser Protest gegen vorgegebene Realität und für eine neue Realität wurde radikal formuliert durch Shulamith Firestone (»Frauenbefreiung und sexuelle Revolution«, 1975). Menstrua­tion, Zeugung, Schwangerschaft und Geburt sind Geißeln der Frau. Alle technischen Möglichkeiten dieser Zeit und der nahen Zukunft müssen genutzt werden, um die Frau von diesen Geißeln zu befreien. Sexualität muß befreit werden von Ehe, Kind und Familie.

Frau Firestone träumt von der Möglichkeit, daß Kinder in einem Reagenzglas befruchtet werden und daß das Geschlecht durch technische Manipulation bestimmt wird: »Die Blutbande zwischen Mutter und Kind werden endlich zerrissen werden. Sollte tatsächlich eine männliche Eifersucht auf die Kreativität des Gebäraktes entstehen, so werden wir schon bald in der Lage sein, Leben unabhängig von einem Geschlecht zu erzeugen, so daß eine Schwangerschaft, die dann unverhohlen als plump, ineffizient und schmerzhaft bezeichnet werden kann, dann nur, wenn überhaupt, ironisierend als archaisch ertragen wird.«

Noch radikaler verlangt Ernest Borneman (»Das Patriarchat«, 1975) überhaupt die Abschaffung der Geschlechtlichkeit. Für ihn ist der Zerfall der mütterlich geleiteten, im Urkommunis­mus lebenden Urhorde durch die Herrschaft der Väter eben der Sündenfall der Menschheit. Für eine geschlechtslose Gesellschaft fordert er: »Die endgültige Befreiung der Frau kann nur in der Befreiung von der Geschlechtlichkeit liegen. Die klassenlose Gesellschaft der Zukunft kann nur eine geschlechtslose Gesell­schaft sein … Sie muß polymorph sein, oder sie führt das Prinzip der Herrschaft, das wir eben durch die soziologische Tür hinaus­befördert haben, durch die Hintertür der Sexualität wieder ein.«

Die Gesellschaft muß anders werden, dann muß zwangsläufig eben auch die Natur anders werden. Die Natur muß sich – wie Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft und natürlich auch die Kirche – nach der Gesellschaft richten.

Angesichts dieser radikalen Revolution, die eben nicht nur Mensch und Gesellschaft, sondern auch die Natur selbst packen will, wirkt die Revolution des Marxismus-Leninismus als eine romantisch-idyllische Erinnerung an das 19. Jahrhundert.

Im Feminismus werden Übergänge zwischen Natur und Kultur »verflüssigt«, eben damit die Natur nach dem Bilde des Feminis­mus verändert wird: »Denn Biologie ist nicht Schicksal, sondern wird erst dazu gemacht. Männlichkeit und Weiblichkeit sind nicht Natur, sondern Kultur. Sie sind die in jeder Generation nur erzwungene Identifikation mit Herrschaft und Unterwerfung. Nicht Penis und Uterus machen uns zu Männern und Frauen, sondern Macht und Ohnmacht«, meint die Feministin Alice Schwarzer.

Dieses Aufbegehren gegen herkömmliche Ordnung bleibt kei­neswegs nur feministische Theorie. Schon längst ist – wie gesagt, für die meisten Bürger verborgen – dieser Weg in die Praxis »multifrontal«, d. h. an vielen Fronten, in Medien und Schulen, beschritten. Der Bürger sieht am Ende nur das Ergebnis eines Prozesses, den er als solchen nicht erkennen konnte oder wollte.

Der Weg in die Praxis geht vor allem über die Pädagogik mit ihrer Armada von Pädagogen, mehr oder weniger ausgebildet im Sinne dieser im Buch aufgezeigten Theorien.

Einer der großen Theoretiker unter den Pädagogen, die die Phase der Kindheitssexualität »sozial durchformen wollen«, ist Helmut Kentler (vgl. »Die soziale Dimension der Sexualität« in »Sexualmedien«, 1975). Traditionelle, geschlechtsspezifische Verhaltensweisen sollen dadurch relativiert werden, daß Jungen tun, was Mädchen tun, und Mädchen tun, was Jungen tun. Mit Puppen spielende, ihre Gefühlswelt wie Mädchen regulierende Knaben sollen zu einem zärtlichen Lebensstil finden; denn der Mann ist »unterentwickelt im Geben und Nehmen von Zärtlich­keit«, meint Kentler.

So sind wir auf dem Wege zu einer nicht nur klassenlosen, sondern auch geschlechtslosen Gesellschaft, zu einer sexuell polymorphen, panerotischen Urhorde, in deren wohlfühliger Geborgenheit alle alle lieben. Nur wenn wir diese Zielvorstellung des Feminismus, die übrigens auch von der kritischen Theorie Marcuses angestrebt wird, kennen, verstehen wir den Kampf für die Abtreibung (siehe hierzu Exkurs 3) und das Recht der Homo­sexuellen, der nun schon bald im Sinne der »Schwulen-Initiativen« siegreich durchgetragen ist.

Im letzten geht es in diesem Streit nicht um Hilfe für die Frau oder um den Platz »des Homosexuellen in der Gesellschaft« – wie viele leider immer noch verkennen. Ziel ist vielmehr, daß überhaupt Sexualität von Mutterschaft ein für allemal getrennt und daß – im Blick auf die Emanzipation der Homosexuellen – die polymorphe, nicht mehr heterosexuell orientierte Pansexualität zum Triumph geführt wird: »Frauenbefreiung und Schwulenbefreiung streiten beide für ein gemeinsames Ziel: eine Gesellschaft, die frei davon ist, Menschen aufgrund von Geschlecht und oder sexueller Über­vorteilung zu definieren und kategorisieren«, forderte Kate Miller schon 1970 in einem Aufsatz der Times.

Bevor auf die radikale Herausforderung des biblischen Ver­ständnisses von Mann und Frau Antwort gegeben wird, muß deutlich werden, wie sehr der Feminismus in die Theologie sowohl in die protestantische als auch in die katholische, ja in das Leben der Christenheit überhaupt, in Kirchen und Freikirchen und Gemeinschaften bereits eingebrochen ist.

Entpatriarchaisierung des Christentums

Den Einbruch der feministischen Revolution in die christliche Theologie mit dem Ziel der Entpatriarchaisierung des Christen­tums hat Mary Daly in ihrem mittlerweile schon klassisch gewor­denen Buch »Beyond God the Father« (1974) zum Programm erhoben. Sie gehört zu den vielen, sich auf Theologie einlassenden Feministinnen, die meinen, daß sich das patriarchalische Chri­stentum feministisch umfunktionieren lasse, während andere Feministinnen den biblischen Glauben – Judentum und Christen­tum in gleicher Weise – als hoffnungslos androzentrisch beurteilen und wie eine alte, nicht restaurationswürdige Ruine auf dem Müllplatz der Weltgeschichte liegenlassen wollen.

Mary Daly aber will diese »alte Ruine« renovieren und sanie­ren, zunächst die patriarchalischen Projektionen entlarven. Sie erwartet durch Geröll und Schutt des Patriarchismus hindurch, also eben jenseits Gottes, des Vaters, den mütterlichen Ursprung des biblischen, insbesondere des neutestamentlichen Glaubens zu finden. Schon bei der Interpretation des Gottesnamens Jahweh (»Ich bin das Sein«, oder »Ich werde sein, der ich bin«) meint sie, fündig geworden zu sein. Das Sein ist eben, so argumentiert sie, ein »Es«, besser noch ein werdendes Es, ein werdendes, ausströ­mendes, dynamisches Sein, die Fülle all dessen, was lebt und webt und ist. In freier, phantasievoller Interpretation vergleicht sie Gott mit einem Elektrizitätswerk. Er ist die Energiequelle allen Seins. Nicht die »Projektion« auf den Gottvater, sondern das unmittelbare, vitale, emotionale, unter die Haut gehende Erleben dieses dynamischen Seins ist Religion im letzten, entmythologi­sierten, »entprojizierten«, und das heißt im entpersonalisierten Verständnis der Bibel. Diese Feminisierung der Bibel – und es ist wichtig, diesen Kernprozeß gleich von Anfang an zu sehen – betreibt die Depersonalisierung Gottes. Aus dem Du wird ein Es, aus Gottvater ein sogenannter Gott, »der schwanger ist, in Geburtswehen liegt, ein Kind gebärt und stillt« (so P. Trible, »God an the rhetoric of Sexuality«, 1978).

Die Feministinnen aber, die sich der Theologie und der Bibel für ihre Ideologien bedienen wollen, müssen immer wieder trau­rig-seufzend erkennen: »Der patriarchalische Stempel, der der Bibel aufgedrückt worden ist, läßt sich nicht mehr entfernen« (Halkes). Man kann eben die Bibel nicht auf das Gegenteil von dem festschreiben, was sie wirklich sagt, trotz raffinierter Entmythologisierung und Interpretation. Deswegen wurde die kontextuale Theologie erfunden, die die Bibel zusam­men mit anderen Texten liest, um dann von diesen anderen Texten aus die Bibel einfach anders, eben kontextual, zu »ver­stehen«.

Die gegenwärtige Erfahrung der befreiten Frau wird als ein solcher Text verstanden, von dem aus die Bibel zu verstehen ist. Dann kann der Feminismus aus solchen »Texten«, die eigene Selbsterfahrung ausdrücken, die Bibel richtig, eben feministisch, verstehen. Deswegen ist für den Feminismus auch ganz und gar wichtig, die Offenbarung als weitergehende Offenbarung zu verstehen.

Die Offenbarung geht weiter! Wo geht sie weiter? Eben in der Revolution des Feminismus. Nur die durch den Feminismus befreite Frau kann überhaupt erkennen, was die Bibel meint. Das ist die verblüffend einfachste Form, um die biblische Offenbarung auszutricksen, die subjektive Erfahrung über oder gar gegen das Wort zu stellen, sich dann noch zynisch Theologe oder Theologin zu nennen, um im kirchlichen Apparat, mit Kirchensteuern subventioniert, Karriere zu machen.

Wie diese feministische Weise der Versubjektivierung der Bibel vorangeht, zeigt uns Theologieprofessor Kurt Lüthi. Er meint, daß Bilder, »die aus der männlichen Erfahrung, aus männlichen Rollen konstruiert sind, für Gottesaussagen untauglich und unzu­reichend sind«. Mit dem Sterben dieser männlich geprägten Bilderwelt sterben auch Vorstellungen wie Gott der Herr, Vater, König, Patriarch, Hirte. Konsequente Forderung Lüthis: »Hier sollen neue Gottesnamen und Gottesbilder entstehen, die dann umgekehrt ein reifes, bewußtes, mündiges, erotisch-reiches Existieren im Gegenüber von Mann und Frau unterstützen und anregen«.

In seinem Plädoyer für ein erotisches und in diesem Sinne auch emotionalisierendes Bild von Gott meint Lüthi, daß ein neues Menschenbild ganz konsequenterweise eben auch ein neues Got­tesbild verlangt. Gegenwärtiges Menschsein will keine Himmel-­Erde-Spannung, keinen Dualismus, will nicht das Gegenüber von Gott und Welt, will vielmehr das Göttliche in Symbolen der Ekstase, der Feste, des Eros erleben, in einer neuen erotischen Vereinigung mit Leib und Materie, »wodurch die Fülle und Intensität des Lebens erfahren wird«.

Verständlicherweise sind diese Symbole mehr der Frau als dem Männlichen zugeordnet, deswegen wird von Lüthi in Erinnerung an Mary Daly »das Stichwort der Selbsttranszendierung der Frau« als Grundlage einer Theologie des Weiblichen vorgeschlagen (a. a. O., S. 221).

Das Programm der feministischen Thеоlоgiе ist dann: »In einem Prinzip der Vereinigung wird der Tod Gottes als Tod des grossen Patriarchen und als Tod des phallozentrischen Wertsy­stems verstanden. Positiv soll eine neue Symbolik des Weiblichen gesucht werden, und es soll der Glaube an Gott und an die Erlösung zum Impuls weiblicher Befreiung und Selbstfindung werden«.

Der mann-weibliche, androgyne, Gott oder – was ganz schlicht dasselbe ist – die Rückkehr jener heidnischen Muttergottheiten, die ihre Fruchtbarkeitsgötter gaben und verschlangen, eben das alte und letztlich immer neue, nun allerdings nicht mehr vor-, sondern nachchristliche Heidentum, zieht mit fraulichem Schritt und Tritt ein in unsere Kathedralen und besetzt deren Katheder und Altäre.

Der weibliche Gott

Je radikaler der Feminismus sich darstellt, um so deutlicher wird das Ziel dieser von ihm in Gang gebrachten Kulturrevolution. In der Wirklichkeit des protestantischen Alltags leben wir allerdings nicht mit der Radikalität und Ursprünglichkeit dieser Bewegung. Die sich gemäßigt gebenden Vulgär- oder Sekundär-Feministin­nen, die schon etliche Kanzeln und Katheder der Großkirchen erklommen haben und die mild und listig zugleich den Ausgleich mit Bibel und kirchlicher Tradition suchen, sind gefährlicher als die radikale Ursprünglichkeit des Feminismus; denn eben diese Anknüpfung an Bibel und Kirche, in dem Versuch, sich in raffinierter Interpretation doch noch mit Bibelwucht durch die Institutionen der Kirche schlagen zu können, wird zum trojani­schen Pferd des radikalen Feminismus in der Stadt Gottes.

Aus diesem Grunde müssen die Künste des Klerikal-Feminis­mus, der eines Tages auf den Stühlen der Pröpste und Bischöfe thronen wird, um den Feminismus zur verpflichtenden Normal­theologie einer Welteinheitskirche zu deklarieren, als falsche Kunst entlarvt werden.

Können nicht doch weibliche Züge im Gott der Bibel entdeckt werden, vielleicht doch noch eine Muttergottheit hinter (wenn auch dann ganz hinten, hinter »dem Gott-Vater«) aufgespürt werden?

Kurt Lüthi hat entdeckt: »Nach Genesis 30, 22 und Jesaja 66, 9 ist es nun Jahweh, der den Mutterschoß öffnet. Jahweh steht auch hinter Wirkungen des Lebensbaumes, des Blutes und der Erde. Und mit dem Anspruch auf die Erstgeburt tritt Jahweh in eine im Matriarchat den Göttinnen zugeordnete Rolle ein« (a. a. O., S. 177). Und im Blick auf die Psalmen meint er zu erkennen, daß oft mit »dem Bilde gearbeitet« wird, in dem Jahweh als »schützende Vogelmutter« charakterisiert ist. »Anrufe an Jahweh lauten: >Im Schatten deiner Flügel wollest du mich bergen< (Ps.17, 8), >bei dir ist mein Leben geborgen, und in den Schatten deiner Flügel flüchte ich< (Ps. 57, 2), >denn du bist meine Hilfe geworden, und unter dem Schatten deiner Flügel frohlocke ich< (Ps. 63, 8). Mit seinem Fittich bedeckt er mich, und unter seinen Flügeln findest du Zuflucht< (Ps. 91, 4; 61, 5; 131, 2 usw.).«

Auch C. J. M. Halkes suchte und fand – wie sie meinte – weibliche Züge im Gott der Bibel. Daß die Feministinnen auf diesen so mühevollen Erkundungen nicht zuviel entdecken, ergibt sich schon daraus, daß der eine dasselbe Material des anderen – oft wie in einer Liturgie – weitergibt. Sie schreiben nicht voneinander ab, sondern sie haben alle gemeinsam nicht mehr gefunden.

So schreibt – analog zu Lüthi und vielen anderen – Catharina J. M. Halkes: »Obwohl die Mehrheit der Gottesbilder männlich ist, stoßen wir doch auf eine Anzahl weiblicher Bilder: Der Herr ist der Vater seines Volkes, aber seine Zärtlichkeit ist die einer Mutter für ihr Kind (Jes. 49,14-15). Wenn der Herr auszieht, um sein Volk zu erlösen, klingt sein Kriegsgeschrei wie das eines Kriegers, aber er wimmert auch wie eine Frau, die am Gebären ist (Jes. 42,13-14). Gott ist sowohl unser Fels und unsere Festung wie die Quelle lebendigen Wassers … In den Evangelien trifft uns aufs neue, wie Christus für sein Werk ohne Zögern auch weibliche und mütterliche Bilder braucht: das Gleichnis von der Frau, die ihr Haus auf der Suche nach dem verlorenen Groschen sauber fegt (Luk. 15, 8-10); das Bild von der Henne, die ihre Kücken unter ihre Flügel sammelt (Matth. 23, 37). Sogar der maskuline Paulus vergleicht sich in seinem ersten Brief an die Thessalonicher mit einer Mutter, die ihre Kinder pflegt (1. Thess. 2, 7) … Hosea und Jeremia sprechen über einen neuen Exodus (Jer. 31) aufgrund eines erneuerten und vertieften Liebesbandes zwischen Jahweh und der Tochter Zion.«

Auch in Jesaja werde sowohl Zion wie Gott mit einer Frau verglichen: »Zion sagt: >Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.< Und Gott wird in den Mund gelegt: >Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?< (Jes. 49, 14-15). In allen diesen Beispielen sehen wir, daß Bilder ineinander übergehen: Zion, die Witwe geworden ist, wird wieder Jungfrau, worauf sie zu einer neuen Ehe berufen wird. Zugleich sehen wir, daß Bilder auch ausgetauscht werden: Einerseits wird Jahweh mit dem Ehemann verglichen, andererseits wird ihm in der Beschreibung seiner Zärtlichkeit und Barmherzigkeit auch das Bild des Mutter­schoßes zugeschrieben (hebräisch >raham< bedeutet >Uterus, Gebärmutter<)« (»Gott hat nicht nur starke Söhne«.

Wie die Feindschaft gegen den Androzentriker Paulus ist allen Feministinnen die Freundschaft mit dem Heiligen Geist gemeinsam. Gerne erinnert man sich dann an die Sophia, die Weisheit, die den Vorteil hat, weiblichen Geschlech­tes zu sein, und die dann gern mit dem Heiligen Geist identifiziert wird. Ist die Frau erst mit einem Fuß in der Trinität drin, dann wird sich die weitere Feminisierung schon ergeben. Da der Geist wieder in besonderer Weise der Gemeinde zugeordnet ist, kann nun die Gemeinde zum mütterlichen Wohlfühlschoß der Gruppe werden mit neuer Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit, in stets vertauschenden Rollen durch gruppendynamische Prozesse, die das Bewußtsein verändern. In der Gruppe wird dann die feministi­sche Subkultur entfaltet.

Die Gruppe wird schlicht zur Repräsentation der Sophia selbst, sprich die Wohlfühlkirche, zur Quelle von Wahrheit und Offenba­rung, ja nur hier wird dann noch Wahrheit gelebt – außerhalb dieser Gruppe, dieses Heilig-Geist-Kollektivs, ist dann kein Heil.

Einheit ist wichtiger als Wahrheit- Verbrüderung und Verschwe­sterung ist wichtiger als Gott. Keine Spannungen, keine Auseinan­dersetzungen, kein Kampf, immer nachgeben, unbedingt den Kompromiß suchen und jede Spannung einnivellieren – wer sich auf diesen Weg in der Kirche einläßt, betreibt schon wissend oder unwissend die Revolution des Feminismus.

Für Geborgenheits- und Wohlfühlwerte werden Wahrheitswerte geopfert. Wenn immer wieder, Schritt für Schritt, statt Überwin­dung einer Spannung die kompromittierende Einnivellierung mit dem Ziel abgeschlaffter Spannungslosigkeit gesucht und gefunden wird, dann verneinen die Feministen Wahrheit und Gerechtigkeit.

Wer predigt heute noch von dem Zorn und von der vergelten­den Gerechtigkeit Gottes? Wer verkündigt und lebt die Spannung von Gerechtigkeit und Vergebung, Zorn und Liebe, Gericht und Versöhnung? Das Wohlfühltuch allversöhnender Liehe wird ein­fach über alle Gegensätze dahingeworfen. Liebe wird wertlos, die Gnade wird billig.

Wertlose Liebe ist quasi-erotische Gefühlsduselei – mit der christlichen Agape, die durch das Kreuz hindurchgegangen ist, hat sie nichts gemeinsam. Billige Gnade, die ohne das Opfer des Kreuzes verschleudert wird, ist unversöhnlich, eben weil die Ver­söhnung am Kreuz verneint wird; und unversöhnlich ist sie zum Mitmenschen, denn sie gibt nicht Vergebung, sondern zwingt zur Anpassung.

Wo immer in gleichnishafter Weise mütterliche Züge auf die Aussage von Gott übertragen werden, da ist jeweils vorher vom Gericht, von der Gerechtigkeit, von Gottes Zorn die Rede gewesen. Die sogenannten weiblichen Relationen in der Aussage von Gott – und das gilt in gleicher Weise für das Alte wie für das Neue Testament – sind immer korrespondierend zum Heiligsein Gottes, es sind eben spannungsreiche Aussagen über Gott zwi­schen Gerechtigkeit und Gnade, Liebe und Zorn, Gerechtigkeit und Vergebung. Die feministische Theologie möchte diese Dia­lektik aufsprengen, um zu einer einnivellierenden, von ihr so bezeichneten Mütterlichkeit vorzustoßen.

Der vom Feminismus gemalte Gott, der Abgott als Urmutter ist das Ziel radikalen Feminismus schon lange. Inhalt gegenwärti­ger Predigtweise vieler Pastoren offenbart diese feministische Tendenz, die einen erdichteten Gott verkündigt, dessen »Liebe« an den Realitäten zerbricht, weil die Gütigkeitsidylle dieses Abgottes in der Spannung dieser Welt, die auch dann noch sein wird, wenn es keine Männer mehr gibt, eine gefährliche Illusion ist.

Jesus – ein androgynes Wesen?

Der androgyne Mensch, die Mannfrau, ist der Zielwunsch, die Erwartung der Zukunftserfüllung, das Paradies auf Erden für feministische Revolution. Ist denn nicht in Jesus dieser androgyne Mensch schon Wirklichkeit gewesen? War Jesus wirklich in dem Sinne ein Mann? Die noch in der Welt der Theologie weilenden Feministen behaupten die Androgynität des Jesus von Nazareth. Der Versuch einer feministischen Androgynisierung Jesu kann, auf das Ganze gesehen, in folgende Argumentationsbereiche eingeteilt werden.

1. Jesus lebte und lehrte in einer für damalige Zeiten ungewöhnli­chen Zuwendung zur Frau. Er ist auch nicht nur mit seinen zwölf Jüngern, sondern mit »mindestens sechs Frauen durch Palästina gezogen« (Moltmann-Wendel). Die neutestamentliche Überlieferung allerdings muß – das geben die Feministen zu – »hinterfragt«, sogenannte »judenchristliche Redaktionen« müssen entlarvt werden. Anders gesagt: Man muß die Geschichtsquellen auseinandernehmen und dann nach feministischen Aspekten wieder neu zusammensetzen, denn an der »urchristlichen Frauentradition« sind später Abstriche gemacht worden, behaupten die Feministen. So ist zum Beispiel zum Ostererlebnis der Frauen eine »männliche Ersatzge­schichte« hinzugefügt worden.

Unnütz zu fragen, woher die Feministen das wissen. Sie wissen gar nichts, sondern analysieren und kombinieren speku­lativ mit geschichtlichen Quellen, so daß sich ein Historiker nur mit Grauen abwenden kann. Daß Frauen als erste das leere Grab sahen, macht sie nach E. Moltmann-Wendel gleich zu den ersten Aposteln. An die Stelle der herkömmlich männlichen setzt Jesus – Elisabeth Moltmann-Wendel folgt hier den Lehren von Hanna Wolf (»Jesus der Mann«) – die von Frauen verkör­perten Werte.

»… Hanna Wolf hat gezeigt«, meint E. Moltmann-Wendel, »daß Jesus eine neue Gotteserfahrung verkündigt hat. Er kann die Menschen zu neuen Partnern untereinander machen, weil er sie von Gott ganz neu und ganz anders erfahren läßt. Zum ersten Mal in der Religionsgeschichte wird ein Gott verkündigt, der nicht nach religiöser Leistung, Besitz und Aktion mißt . . . Glücklich, heil, selig sind für ihn die Empfänglichen, Armen, Hungernden, Leidenden. Damit stellt er alle Werte dieser männlich geprägten, auf Leistung, Besitz und Aktion gegrün­deten Welt auf den Kopf. An die Stelle setzt er die meist von Frauen verkörperten, empfangenden, duldenden, geöffneten Seinsweisen. . .  Das Gottesbild Jesu fordert heraus durch die Betonung der weiblichen Seins- und Verhaltensweisen.«

2. Jesus ist – das betont vor allem Hanna Wolf – ein androgyner Mensch. Daß Jesus als Mann dargestellt wurde – schon in der biblischen Überlieferung, dann in der Geschichte der Kirche -, hängt nach ihrer Meinung damit zusammen, daß Jesus – wie auch Gott selbst – eine Projektionswand gewesen ist, auf die eine patriarchaische Kultur ihre Männlichkeitswerte projiziert hat. In Wirklichkeit aber war Jesus – so mutmaßt kühn diese Feministin – androgyn in dem Sinne, daß er das Frauliche und das Männliche in sich wie in einer neuen Schöpfung ver­einigt.

Hat Jesus nicht selbst einmal gesagt – so wird argumentiert -, daß man im Himmel nicht heiratet, sondern sein würde wie die Engel, also androgyn existieren würde? Mann und Frau sind eben nach dem Urteil des Feminismus eine vorübergehende Aufspaltung des Menschseins, durch die der Frau nur Schaden zugefügt wurde und die nicht erst im Himmel (an den viele Feministen sowieso nicht glauben), sondern schon jetzt über­wunden, besser noch abgeschafft werden muß. Aus dem androgynen Christus wird nun der weibliche Messias.

Not tut eine »Entmaskulinisierung Jesu«. Kurt Lüthi stellt sich das so vor (er beruft sich dabei auf den indischen religiösen Denker Keshab Candra Sen): »Gegen den verarmten und soldatischen Christus des Westens« soll eine Christusvorstel­lung gestellt werden, die Männliches und Weibliches verbindet, und in verschiedenen religiösen Gruppierungen, Sekten und protestantischen Erlösungswerten sieht Lüthi schon lange die »Sehnsucht nach einem weiblichen Messias am Werk«. So meint der von Lüthi zitierte Ernst Eggimann in der Zeitschrift »Kontakt«: »Aber vielleicht wäre heute die Zeit reif, daß Gott eine Tochter schickt …«

3. Ein anderer, ein androgyner Jesus bedeutet auch eine andere Art und Weise der Versöhnung und Erlösung, als sie »im androzentrischen Christentum« seit Jahrtausenden gedacht und gelebt wurde. Unbefangen wird in diesem Zusammenhang von Lüthi eine neue dionysische Theologie erwartet, denn die Inkarnationstheologie, daß der ewige Gottessohn Mensch wurde, bedeutet nun, daß nicht »Fremderlösung«, also Versöh­nung in der Begegnung mit Gott durch Christus, die eigentliche Erlösung sei, sondern man will eine Erlösung mit, aus oder in der Stimme des Leibes und der Sinne, die ganzheitliche, eben gefühlte, total verinnerlichte, aber doch innerlich aufgebaute, durch Meditation stimulierte, Visionen und Utopien gebärende Selbsterlösung.

Harvey Cox »Das Fest der Narren. Das Gelächter ist der Hoffnung letzte Waffe«,1971) hat mit seinem sehr weitreichen­den Einfluß auf zeitgenössische Jesus-Darstellungen in Filmen und Bühnenstücken diesen androgynen, »entmaskulinisierten« Jesus längst propagiert: der clownige, kindlich-naive, patheti­sierte, stimmungsvoll-emotionale, Wohlfühligkeit um sich ver­breitende, auch immer irgendwie wieder hilflose, weltfremde Jesusmensch! Der zärtliche Christusharlekin ist die Leitfigur der sogenannten modernen emotional­stimulierenden »Verkündigung«.

Hier knüpft die feministische Theologie erwartungsfroh an die moderne jugendliche Subkultur, an die Antivater-Kultur der jungen Leute an, die zweifellos Bein vom Bein und Fleisch vom Fleisch des Feminismus ist.

4. Der Opfertod Christi als Versöhnung durch das Kreuz wird aus der Begegnung mit Christus eliminiert. Über das Abendmahl schreibt Lüthi: »Vom Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern wird man – wenn eine psychoanalytische Her­meneutik aus Interpretationsmethoden gewählt wird – sagen müssen, daß es sowohl orale wie ödipale Elemente enthält.«

Lüthi folgt hier der psychoanalytischen Interpretation bibli­scher Texte von Y. Spiegel. Die Vision ist diese: Orale Begeg­nung mit Gott – ein Leitwort feministischer Jesus-Interpreta­tion – soll (in Erinnerung an die unmittelbare Muttergeborgen­heit des Säuglings) den mütterlich bergenden Kontakt mit dem androgynen Gott bzw. androgynen Jesus fühlbar machen. So sind bei der Abendmahlsfeier Essen und Trinken und die Gemeinschaft untereinander orale Elemente, während Abend­mahl als Opfer einen überholten, ödipalen Aspekt darstellt.

Die ödipale Phase ist ja dem androzentrischen Menschen zugeordnet. Ist dieser aber »überwunden«, dann ist die unmit­telbare, orale Kommunikation mit Gott und Jesus gegeben. Das Abendmahl ist dann nicht mehr Erinnerung an das Opfer Christi, weil dieses in einer androgynen, d. h. ausgesöhnten Kultur keine Bedeutung mehr hat.

Abendmahl wird dann nur noch Wohlfühlkontakt in der bergenden Gruppe, Ausdruck der emotionalisierten Zärtlichkeit. Abendmahl wird zum Feierabendmahl. Das Gedenken – von Jesus geboten, vom Apostel Paulus wiederholt – an Opfer und Tod des Heilandes, der für uns starb, wird in modernen Beatmessen und Feierabendmahlen dionysisch umfunktioniert.

An die Stelle des Heiligen Geistes, der Christus im Abendmahl verge­genwärtigt, tritt die Emotionalität. Ja, man will die Identifizie­rung einer stimulierten Emotionalität mit dem Heiligen Geist.

Ich kann diesen Vorgang nicht anders verstehen als eben den Greuel der Verwüstung im Tempel Gottes, wie er in der endzeitlichen Ölbergrede Jesu vorausgesagt wurde. In den gegenwärtigen Exzessen von Beatmessen und Feierabendmah­len stirbt gleichsam die Ehrfurcht vor dem dreieinigen Gott, der uns gegenübersteht, durch den wir im Opfer der Versöhnung unseren Weg der Wiedergeburt gehen. In diesen neuheidni­schen Kulten wird wider den Heiligen Geist gesündigt.

Der Schöpfungshaß der Feministen

Der Feminismus sagt Nein zur Schöpfung Gottes: Der Haß gegen Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer Himmels und der Erde, ist der Haß gegen die Ordnung der Schöpfung, wie sie in der Bibel geboten ist. Der Feminismus ist Symptom modernen, sich gegen­wärtig immer mehr steigernden Schöpfungshasses.

In einer fast prophetischen Weise haben zu Anfang dieses Jahrhunderts unter anderem Aldous Huxley und George Orwell diesen Schöpfungshaß in ihren Visionen vorausgesehen. In Hux­leys Zukunftsvisionen von einer zukünftigen, total kollektivierten Gesellschaft – »Brave New World« (engl. 1932) – sind Ehe und Familie nur noch Feind, letztlich Stacheldraht gegen die Gesellschaft und sollen nach dem vom Kollektiv propagierten Leitspruch »Jedermann ist seines Nächsten Eigentum« abgeschafft werden.

Diese Vision von Aldous Huxley stellt das Verlangen der Zivilisation nach einer Wohlfühlzivilisation dar, deren Symbol eben die Muttergottheit ist. Die absolute Glückseligkeit in der Anonymität des Kollektivs – das ist es, was der Mensch heute im Grunde sucht und was er als Überwindung des >Dualismus<, eben des biblischen Glaubens, propagiert.

Nach dem letzten Weltkrieg schrieb auf einer einsamen Insel vor der Ostküste Schottlands ein ehemaliger Mitstreiter der >Internationalen Brigade< im spanischen Bürgerkrieg, der aber dann vom Kommunismus abtrünnig geworden war, Eric Blair, seine einfach niederschmetternde Zukunftsvision für das Ende dieses Jahrhunderts nieder. Dieser am Kommunismus irre gewor­dene Schriftsteller wurde weltbekannt unter dem Namen George Orwell, und sein schriftstellerischer Welterfolg heißt >1984< (1. deutsche Ausgabe 1948). In dieser Schau der Zukunft findet sich genauso wie bei Huxley das radikale Nein zur Schöpfung, vor allem zu Familie und Ehe. Eine allmächtige Partei, die >grausame Mutter< der Gesellschaft, wütet gegen Natur und Schöpfungsordnung.

Die Partei wendet sich gegen alles, was den Menschen an die Natur bindet. So richtet sie sich beispielsweise gegen die Sexuali­tät – nicht nur, weil die Sexualität sich eine Welt für sich zu schaffen verstand, sondern vor allen Dingen, weil die sexuelle Enthaltsamkeit zur Hysterie führte und damit ein erstrebenswer­tes Ziel erreicht wurde, denn diese Hysterie konnte in Kriegsbegeisterung und Führerverehrung umgewandelt werden. Sie wollen, daß man ständig zum Platzen mit Energie geladen ist. Dieses ganze Auf- und Abmarschieren, Hurrabrüllen und Fahnenschwenken ist weiter nichts als sauer gewordene Sinnlichkeit.

Wenn man innerlich glücklich ist, kann man weder über den großen Bruder noch den Dreijahresplan, die Zwei-Minuten­-Haßsendung und den ganzen übrigen Schwindel in Begeisterung geraten. Die seelischen Energien sollen also nicht durch natürli­che Triebe ausgelebt, sondern durch von der Partei gelenkte Ersatzformen abreagiert werden. Die Partei will das Sexualgefühl abtöten, es in den Schmutz ziehen. Es gibt die Jugendliga gegen Sexualität, die für die geschlechtliche Enthaltsamkeit eintritt und die künstliche Befruchtung (in der Neusprache heißt das Kunst­samen) fordert.

Ein wirkliches Liebeserlebnis war ein nahezu unvorstellbares Ereignis. Die Frauen dieser Partei waren sich alle gleich. Die Enthaltsamkeit war ihnen ebenso tief eingeimpft wie die Treue zur Partei … Der Akt der geschlechtlichen Verschmelzung, wenn er glückhaft vollzogen wurde, war ein Akt der Auflehnung. Die Begierde war ein Gedankenverbrechen.

Alle großen Gefühle wie Liebe, Freundschaft, Tragik usw. sind ausgerottet. Tragik, so muß der Außenseiter Smith erkennen, gehört einer vergangenen Zeit an, als es noch Eigenleben, Liebe und Freundschaft gab und die Mitglieder einer Familie, ohne nach dem Grund zu fragen, füreinander eintraten … Heutzutage gibt es Angst, Haß und Leid, also keine starken und wertvollen Gefühle, keine tiefen und echten Schmerzen.

Der utopische Mensch ist ein destruierter Mensch. Die Partei hat ihn abgebaut, damit seine Eigenständigkeit aufgehoben wer­den konnte und er für das Kollektiv reif wurde: Die alten Kulturen erhoben Anspruch darauf, auf Liebe oder Gerechtigkeit gegrün­det zu sein. Die unsrige ist auf Haß gegründet, für unsere Welt wird es keine anderen Gefühle geben als Haß, Wut, Frohlocken und Selbstbeschämung. Die Zertrümmerung der Grundordnungen, der systematische Abbau all dessen, was den herkömmlichen >alten< Menschen ausmacht, legt den utopischen Menschen frei.

Der Funktionär von >1984< sagt an: >In Zukunft wird es keine Gattinnen und keine Freunde mehr geben. Die Kinder werden ihren Müttern gleich nach der Geburt weggenommen werden, so wie man einer Henne die Eier wegnimmt. Der Geschlechtstrieb wird ausgerottet. Die Zeugung wird eine alljährlich vorgenom­mene Formalität wie die Erneuerung einer Lebensmittelkarte werden. Wir werden das Wollustmoment abschaffen; unsere Neurologen arbeiten gegenwärtig daran. Es wird keine Treue mehr geben, außer der Treue gegenüber der Partei. Es wird keine Liebe mehr geben, außer der Liebe zum Großen Bruder. Es wird kein Lachen mehr geben, außer dem Lachen des Frohlockens über einen beseitigten Feind. Es wird keine Kunst geben, keine Literatur, keine Wissenschaft. Wenn wir allmächtig sind, werden wir die Wissenschaft nicht mehr brauchen. Es wird keinen Unter­schied geben zwischen Schönheit und Häßlichkeit. Es wird keine Neugierde, keine Lebenslust geben … Wenn Sie sich, so fährt der Parteifunktionär von 1984 in seiner Rede fort, >ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der einen Menschen tritt, immer und immer wieder. Die Zerstörung der Grundordnung ist die Voraussetzung dafür, daß die Macht der Partei, die ja in der Ausschaltung des Individuellen besteht, erhalten bleibt. Macht heißt, einen menschlichen Geist in Stücke zu reißen und ihn nach eigenem Gutdünken wieder in neuer Form zusammenzusetzen. Der Mensch soll seines eigentli­ches Ichs beraubt werden, er soll nichts weiter als eine Schöpfung der Partei sein. Es gibt keine über alle Umwand­lungsversuche erhabene menschliche Natur. Wir machen die Natur.<

Der moderne Feminismus könnte zumindest dem letzten Satz dieses Terrorkommissars in George Orwells »1984« vollauf zustimmen! Es gibt nicht die Natur – die Natur wird gemacht; es gibt nicht die Frau, sondern die Frau wurde gemacht – sagen alle Feministen.

Wer als Christ diese Zukunftsahnungen liest, weiß sich erinnert an viele Aussagen der Bibel über das Ende dieser Welt. In diesem Zusammenhang sei vor allem an 1. Timotheus 4, 1-5 erinnert:

»Der Geist aber sagt ausdrücklich, daß in späteren Zeiten etliche vom Glauben abfallen und auf irreführende Geister und auf Lehren von Dämonen achten werden. Eine Folge der Heuche­lei von Lügenrednern, die in ihrem Gewissen gebrandmarkt sind, die verbieten zu heiraten und gebieten, sich von Speisen zu enthalten, die doch Gott für die, welche gläubig sind und die Wahrheit erkannt haben, geschaffen hat, damit sie mit Danksa­gung genossen werden. Denn alles von Gott Geschaffene ist gut, und nichts ist verwerflich, wenn es mit Danksagung empfangen wird, denn es wird durch Gottes Wort und Gebet geheiligt.«

Hier steht der Apostel Paulus schon im Kampf mit einer »Gnosis« genannten religiösen Bewegung, die Gott und Schöp­fung trennen und dem eine dem Menschen verfremdete Natur als das Nichtige entgegen stellen wollte. Dieser gnostische Schöp­fungshaß bricht heute im nachchristlichen Heidentum wieder auf, wobei unsere Gegenwart hin- und herschwankt zwischen Natura­lismus als Verklärung und Vergöttlichung der Natur einerseits und totaler Manipulation der Natur andererseits.

Einerseits wollen Zivilisationsflüchtlinge in kleinen Hütten von den Früchten der Felder leben und, in Fellen gekleidet, am Busen der Natur hängend, die Technik abschaffen und Straßen in Gärten, Industriegelände in traute Gartenlauben verwandeln, und andererseits wird Muttersein verflucht, sollen Babys in Rea­genzgläsern aufwachsen und das sexuelle Glück der Frau im Lesbismus gefunden werden.

In jedem Fall wird Nein gesagt gegen das Zueinander von Natur und Gottes Ordnung, also Nein gegen Gott und seine Ordnung der Schöpfung. Die Bibel versteht Natur als Schöpfung Gottes, die aber eine durch Feindschaft gegen Gott gefallene Schöpfung ist; Natur als Idylle oder Paradies auf Erden kennt die Bibel nicht.

Unter dem Worte Gottes gibt es weder Naturschwärmerei noch Weltverachtung. Die Natur ist weder Quelle des Glücks noch Ursache allen Verderbens. Die Natur ist aber vor allem nicht der unbegrenzte, nach dem Willen des Menschen knetbare Teig«! Dieser kann mit der Natur und auch mit sich selbst und natürlich auch mit seinem Nächsten, also mit dem Mitmenschen, nicht machen, was er will.

So wahr es Naturgesetze gibt, so wahr gibt es Ordnungen, absolute und zu jeder Zeit und an jedem Ort dieser Welt gültige Gesetze Gottes, die allein ein menschenwürdiges und wenn auch nicht ein idyllisch-glückliches, so doch sinnerfülltes Leben bieten.

Unmittelbar zum Thema Feminismus bedeutet das: Sexualität erschöpft sich nicht in der »Legitimation durch die Fortpflanzung« – Sexualität hat ihren Sinn auch in sich durch die ganzheitliche Hingabe von Mann und Frau. Aber sie erfüllt sich erst dann, wenn die Ehe zur Familie wird, wenn Sexualität und Muttersein als eine wirkliche Ganzheit nicht verneint, sondern bejaht werden. Mann und Frau haben die biblische Bestimmung zum Vater- und Muttersein. Das ist die biblische Ganzheitlichkeit, die eben wirklich etwas ganz anderes aussagt als die »wholeness« der Feministinnen.

»Die Frau sei dem Manne untertan«

Die für den theologischen Feminismus wohl herausforderndste Aussage im Neuen Testament steht im ersten Brief des Apostels Paulus an Timotheus (Kap. 2, Vers 11-15):

»Eine Frau lerne still in aller Unterordnung; zu lehren aber gestatte ich einer Frau nicht, auch nicht, sich über den Mann zu erheben, sondern ich gebiete ihr, sich still zu verhalten. Denn Adam wurde zuerst geschaffen, darnach Eva. Und Adam wurde nicht verführt, das Weib vielmehr wurde verführt und ist in Übertretung geraten. Sie wird aber gerettet werden durch das Kindergebären, wenn sie in Glauben und Liebe und Heiligung mit Sittsamkeit verbleibet.«

In diesen wenigen Sätzen steht fast alles, wogegen der Feminis­mus Sturm läuft. Aber es steht nun einmal da – gar nicht vereinzelt, auch nicht begrenzt auf die Schriften des vom Feminis­mus so gehaßten Apostels Paulus.

Daß Adam, der Mann, »zuerst erschaffen wurde«, bedeutet nicht nur hier bei Paulus, sondern im biblischen Verständnis überhaupt eine Vorordnung des Mannes. Das »zuerst« ist nicht nur eine zeitliche, sondern eine wesenhafte Vorordnung. In 1. Mose 1, 27 lesen wir, daß Gott den Menschen »als Mann und als Weib« nach seinem Bilde schuf, und beide sollen die Erde beherrschen. Der Mensch ist als Mann und als Weib und damit in der Zuordnung von Mann und Weib.

Diese ursprüngliche Zuordnung der Frau zum Mann als eine »Hilfe« (1. Mose 2,18) war unbedingt schon vor dem Fall gegeben – aber es war vor dem Sündenfall eine repressionsfreie Vorord­nung des Mannes über die Frau. Diese repressionsfreie Vorord­nung ist für den gefallenen Menschen nicht vorstellbar – wie ursprüngliche, ungefallene Schöpfung überhaupt nicht vorstellbar ist.

Daß die Frau die »Hilfe« des Mannes ist, wird durch Paulus (1. Kor. 11, 9) so erklärt und bestärkt: »Denn der Mann wurde nicht um der Frau willen geschaffen, sondern die Frau um des Mannes willen.«

In diesem Zusammenhang fordert der Apostel, daß »die Frau eine Macht haben soll um der Engel willen«. In der katholisch­-evangelischen »Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift« (Neues Testament 1979) wird das griechische Exousia, das Macht und Vollmacht heißt, so verstanden, daß die Frau durch Paulus die Vollmacht erhalten habe, prophetisch zu reden, um sich charisma­tisch (also etwa durch Reden in Zungen) vor der Gemeinde zu akzentuieren.

Das aber ist feministisches Wunschdenken mit feministischer Fehlinterpretation dieser Aussage des Apostels. Die »Macht auf dem Haupte« ist Zeichen dafür, daß im gottesdienstlichen Leben sichtbar werden soll, daß die Frau dem Mann zugeordnet und ihm untertan ist, »denn der Mann braucht sein Antlitz nicht zu verhüllen, da er Abbild und Abglanz Gottes ist. Die Frau ist aber der Abglanz des Mannes« (1. Kor. 11, 7).

Die Engel, von denen hier die Rede ist, sind Zeugen gewesen von der Erschaffung des Menschen. Sie leben das Leben der Gemeinde mit (1. Kor. 4, 9; Eph. 3,10; 1. Tim. 5, 21; Hebr. 1, 14). Nicht nur um des Mannes willen, sondern um der Ordnung des Kosmos und der himmli­schen Mächte willen, soll die Frau sich zu der Autorität bekennen, der sie von Gott unterworfen ist.

Im Zueinander von Mann und Frau als Befreiung von der Einsamkeit (1. Mose 2,18: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«) liegt der Sinn der Erschaffung des Menschen eben als Mann und Frau. Diese Befreiung aus der Einsamkeit findet ihre Erfül­lung in jeder geschlechtlichen Begegnung, in der Mann und Frau ein Leib sind (1. Mose 2, 24).

Dieses »Ein-Leib-Sein« meint eindeutig jene Weise geschlechtli­cher Begegnung, die gerade von den Feministinnen verurteilt wird, nämlich das vaginale Zueinander von Mann und Frau. Dieser Modus sexueller Kommunikation ist – bei aller Variationsbreite sexueller Begegnung in phantasievoller Gestaltung der Lust – Ziel und Erfüllung geschlechtlicher Begegnung, eben konkret das »Ein-Leib-Sein«.

Durch den Sündenfall ist das Zueinander von Mann und Frau ein repressives Zueinander geworden. Die Geschichte ist voll grauenhafter Beispiele für die Erniedrigung der Frau und für den Kampf zwischen Mann und Frau.

Aber ist durch die Erlösung in Christus nicht alles radikal neu und anders geworden? Die wohl am häufigsten im Feminismus zitierte Bibelstelle ist Galater 3, 26-28. Dort heißt es: »Denn ihr seid alle Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen; da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Weib; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.«

Ausgerechnet bei dem von den Feministen so verachteten Apostel Paulus holt sich eben dieser Feminismus seine Belegstelle dafür, daß die Vorordnung des Mannes vor der Frau durch Christus aufgehoben sei, obgleich dann wieder im 1. Korinther­brief – wie wir gerade gesehen haben – das Gegenteil ausgespro­chen wird.

Sinn dieser Aussage im Galaterbrief und in allen anderen paulinischen Briefen ist doch nicht, daß es »in Christus» nun keine Männer und Frauen gäbe! Die Erlösung in Christus bedeutet doch nicht die Zerstörung, sondern die Erlösung der Schöpfung! Die Erlösung gilt für alle, die Gott erwählt hat, gleichgültig, ob Jude, Grieche, Sklave, Mann oder Frau! Alle haben Teil an Gottes erwählendem Heilshandeln! Alle leben durch Gott und in der Verantwortung vor Gott, der kein Ansehen der Person hinnimmt: »Doch im Herrn ist weder die Frau ohne den Mann, noch der Mann ohne die Frau. Denn wie die Frau vom Manne, so auch der Mann durch die Frau, alle aber von Gott« (1. Kor. 11, 11-12).

Die Erlösung in Christus verwandelt das durch den Fall repressiv gewordene Zueinander von Mann und Frau. Die schöpfungsgege­bene Herrschaftsstruktur wird nicht abgeschafft, sondern erlöst! Aus der Sündenordnung wird das Zueinander von Маnn und Frau in die Heilsordnung gebracht, in die befreite Schöpfungsordnung:

»Ich will aber, daß ihr wißt, daß das Haupt des Mannes Christus ist, das Haupt der Frau aber der Mann, das Haupt Christi aber Gott«, sagt derselbe Apostel Paulus (1. Kor. 11, 3).

Der Mann soll seine Frau so lieben, wie Christus seine Gemeinde geliebt hat.

Klassisch sind die Aussagen im 5. Kapitel des Epheserbriefes: »Ihr Frauen, seid untertan euren Männern wie dem Herrn! Denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist, er, der es als Erlöser seines Leibes ist. Wie nun aber die Kirche Christus untertan ist, so sollen auch die Frauen ihren Männern in allem sein. Ihr Männer, liebet eure Frauen, wie auch Christus die Kirche geliebt und sich für sie dahingegeben hat… So haben die Männer die Pflicht, ihre Frauen zu lieben als ihre eigenen Leiber. Wer seine Frau liebt, der liebt sich selbst. Denn niemand hat je sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern er nährt und hegt es, wie auch Christus die Kirche; denn wir sind Glieder seines Leibes …« (Verse 22-25. 28-29).

Das biblische Zeugnis von der christifizierten Vorordnung ist so eindeutig, daß der Feminismus mit seinem Programm der Egali­sierung oder gar Matriarchaisierung am klaren Text der Bibel zerbricht und ihr dringend zu raten ist, sich vollends zu emanzi­pieren, also doch nun endlich darauf zu verzichten, sich irgendwie durch raffinierte Interpretation doch noch mit der Bibel zu arrangieren.

Wenn aber – wie listige Modernisten argumentieren – alle diese Aussagen der Bibel über die Frau zeitgebunden sein sollen, obgleich sie in entscheidende Heilsaussagen eingebettet sind, dann kann nach Belieben und Willkür in der Schrift relativiert und in letzter Konsequenz alles als bloß »zeitgebunden« vom Tisch der Gegenwart weggefegt werden.

Die Bibel, das Wort Gottes, kann so wenig – als Ganzes – verneint werden wie die Schöpfung. Die Parallelen dieser Vernei­nungen sind offenkundig: Die Bibel in ihren Aussagen wird pervertiert, sie wird zerstückelt und zerschnitten, um dann nach eigenem Geschmack gebraucht zu werden. Die Schöpfung wird ebenso pervertiert, weil im radikalen Feminismus die Frau eben nicht mehr Frau, vor allem nicht mehr Mutter sein will und sein soll.

Die Schöpfungsordnung Gottes ist eben eine Wirklichkeit, denn Mann und Frau sind als Geschöpfe, also von Natur aus, verschieden! »Die Natur lehrt selbst«, sagt Paulus (1. Kor. 11, 14). Um es einfach zu sagen: Ein Mann kann eben keine Kinder gebären.

Gleichberechtigung steht nicht außerhalb, sondern innerhalb der Schöpfungsordnung Gottes. Das geschlechtliche Zueinander von Mann und Frau ist und bleibt strukturiert durch das den Feministen verhaßte Zeugen des Mannes und die Hingabe der Frau.

Das Abenteuer der Feministen ist das Abenteuer der Schöp­fungs- und Lustfeindlichkeit – das Abenteuer der Selbst- und Menschenfeindlichkeit. Der Feminismus ist inhuman.

Der Untergang des Mannes

Eine der Ursachen (wenn nicht vielleicht die Ursache überhaupt) für die Revolution der Frau ist die Krise oder – noch schärfer ausgedrückt – der Untergang des Mannes. Wir leben im Zeitalter der »Entmannung des Mannes«, in einer »kastrativen« Epoche, gekennzeichnet durch den härtesten Klassenkampf, den es je gegeben hat und der zerstörend und aufsprengend durch die Familie schleicht: Ich meine den Klassenkampf der Frau gegen den Mann.

Schon 1954 konnte Abram Kardiner (»Sex and Morality«,1954) im Blick auf die amerikanische Gesellschaft feststellen, daß in den Massenmedien die Frau mehr und mehr als ein Wesen erscheint, »das den unbeholfenen Ehemann nach Belieben herumscheucht« (vgl. Hoffmann R. Hays, »Mythos Frau. Das gefährliche Geschlecht«, 1978): »Gehorsam und unterwürfig sorgt er für den Familienunterhalt, während in Wirklichkeit seine Frau alle Macht in Händen hält. Ist ihr Kind-Mann durch eigene Schuld in Schwierigkeiten geraten, so muß sie ihm heraushelfen, und er zahlt für ihren Beistand mit dem Verlust seiner Würde.«

Die damalige einflußreiche amerikanische Wochenzeitschrift »Look« veröffentlichte schon 1958 eine Dokumentation mit dem alles sagenden Titel »The Decline of the American Male« (Der Untergang des amerikanischen Mannes). Dieses Schlagwort deckte nun plötzlich die Tatsache auf, daß die US-Gesellschaft direkt auf dem Wege in ein Matriarchat war – und das alles vor 25-30 Jahren! (Mittlerweile vor über 50 Jahren. Anm. H.K.).

Abram Kardiner versteht in diesem Zusammenhang die Homosexualität als ein – so wie H. R. Hays es interpretiert – »Ausweichen des Mannes vor zu hoch gespannten Forderungen an seine Männlichkeit … Betrachtet man also die moderne Flucht vor der Frau als ein Ausweichen vor den Forderungen, die an die Männlichkeit gestellt sind, so scheint es – auch im Blick auf die Haltungen vergangener Zeiten -, als habe der Mann als Mann von Anbeginn mit Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt« (Hays, a. a. O., S. 363).

Diese Diagnose von der immerwährenden Krankheit der Männlichkeit des Mannes ist insofern richtig, als Mannsein eine immer angefochtene und zu erkämpfende Schöpfungsordnung war, ist und sein wird. Schöpfungsordnungen können ihre Ord­nungswirklichkeit verlieren, sie können preisgegeben und verraten werden. Feindschaft gegen Gott ist eben Feindschaft (und auch weitgehend Zerstörung) gegen die Schöpfungsordnungen. Feind­schaft gegen Gott ist in der legten Konsequenz für den Mann Feindschaft gegen seine Männlichkeit.

»Und lehrt euch die Natur nicht selbst, daß, wenn ein Mann lange Haare trägt, es eine Schmach für ihn ist?« (1. Kor. 11, 14). Die äußerlich sichtbare Feminisierung des Mannes – in der damaligen homoerotischen Zivilisation Griechenlands offenkun­dig-, eben die »Verweichlichung«, wird vom Apostel Paulus (und wahrlich nicht nur von ihm) verurteilt: »Irret euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, nicht Ehebrecher noch Lustkna­ben noch Knabenschänder … werden das Reich Gottes erben« (1. Kor. 6, 9).

Gott ist ein Vatergott (wir werden im nächsten Absatz die Gewichtigkeit dieser Aussage noch bedenken)! Zu Gott hin, als Repräsentation Gottes, begründet sich erst die Männlichkeit des Mannes. Im Gottesverlust des Unglaubens verliert er seine Männ­lichkeit.

Der Glaubenszerfall des »modernen Menschen« in der westli­chen Zivilisation mußte zwangsläufig zur Entmannung des Man­nes führen! Der Mann ist nicht mehr Wille, weil er den Willen Gottes nicht mehr aufnimmt! Der nicht mehr von Gott gerufene, der Gott fliehende Mann ist der sinnlose, der an seinem Mannsein zerbrechende, in der Krise kaputtgehende und sich in seinem Selbst auflösende Mann.

Die Frau lebt aus der Hingabe zum Mann. Wenn aber der Mann nicht mehr Mann ist, verliert die Frau – ganz einfach und allen Feministen zum tödlichen Ärgernis gesagt – ihre Zuordnung zum Mann. Wo soll ergänzende Begegnung zwischen Mann und Frau sein, wenn der Mann nicht mehr Mann ist? Wie soll die Frau »vor dem Маnn Ehrfurcht haben?« (Eph. 5, 33)

Wie soll sich die Frau dem Mann »hingeben« und darin, letztlich wirklich nur darin, die Erfüllung ihres erotischen Verlangens erfahren, wenn der Mann »mutterschutzsuchenderweise« in der Frau eben nur noch die Mutter sucht? Eine Frau kann und soll einen Mann nicht »ehrfürchten«, sie kann dem Mann nicht untertan sein »wie dem Herrn«, wenn eben der Mann durch Unglaube das Mandat, die Vollmacht, die Bevollmächtigung Gottes verloren hat!

Von daher gesehen, ist der Feminismus Strafgericht über die heilsverlorene Gottesflucht des Mannes in unserer Zeit. Männer­herrschaft ohne Gottesfurcht ist Maskulinismus, der das Strafge­richt des Feminismus erleiden muß, oder, anders ausgedrückt, die Quantität des maskulinen Atheismus schlägt um in die Qualität eines atheistischen Feminismus.

Gerade in diesem »dialektischen Sprung« leben wir heute! Hier liegt auch die qualvolle Herausforderung der Frau! Sie hat weder dem maskulinen noch dem »weichlichen« Mann untertan zu sein! Ihre Ehrfurcht gegenüber dem Mann ist – wie es der Epheserbrief ausdrückt – »im Herrn«! Nur im Herrn gilt das Zueinander von Mann und Frau – alles andere wäre Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, wäre Versklavung des Mannes oder der Frau. Genau das will die biblische Schöpfungsordnung nicht.

Gott, der allmächtige Vater

Der Feminismus meint mit seinem Leitwort »Wholeness« das nicht mehr differenzierte, aus der Spannung befreite »Ganze«. Das bergende und schützende, umhüllende Eintauchen in den Schutz der großen Mutter steht gegen das Gegenüber von Gott und Mensch, gegen die Spannung von Fleisch und Geist, Himmel und Erde, Tod und Leben – gegen all die Wirklichkeiten, die mit der Relation Männlichkeit in den Aussagen der Bibel repräsentiert sind.

Der Gott im Alten Testament ist Trennung und Spannung zur Welt und zum Menschen. Er ist dieses dynamisch-dramatische Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf, Himmel und Erde. Gott der Herr (die Septuaginta wird immer den Namen Gottes »Jah­weh« mit Kyrios, also »Herr« übersetzen) ist eben – wie Karl Barth es in seiner großen theologischen Jugendzeit wieder ent­deckte – der »ganz Andere«, der heilige, der unsichtbare, auch durch Gefühl und Begriffe nicht faßbare Gott.

Vor allem ist er das heilige Gegenüber zu jener Welt und zu jenem Menschsein, das der Sünde verfallen ist. »Die Ägypter sind Mensch und nicht Gott, ihre Pferde sind Fleisch und nicht Geist«, ruft Jesaja (31, 3). Gott ist der Herr, aber Gott ist nicht ein Mann.

Dem Gott des Alten Testamentes fehlt jeder geschlechtlich bestimmte Zug. Das unterscheidet ihn sofort und grundlegend wesenhaft von allen Göttern des Alten Testamentes. Denn sie sind ausnahmslos geschlechtlich bestimmt: »Dem Gott steht keine Göttin zur Seite … Aber der Gott des Alten Testamentes ist einer. Er ist Person, ist Mann, wird für einen Mann gehalten (Gen. 18) und handelt wie ein Mann. Aber diesem Mann steht keine Frau zur Seite. Gott hat keine Göttin neben sich«, schreibt der Züricher Alttestamentler L. Köhler (Theologie des Alten Test­aments,1947).

Gott – wir werden nicht müde, es zu wiederholen – ist nicht ein Mann, sondern – im Alten Testament vornehmlich – Gott offenbart sich in männlichen Relationen. Weil Gott sich in diesen Relationen offenbart, kann es überhaupt nur die Verwirklichung des Mannes als Geschöpf Gottes geben. Gott ist nicht Person, weil der Mensch Person ist, sondern der Mensch ist Person, weil Gott personiert, – ­also im Anruf, also durch sein Wort – sich offenbart. Gott ist nicht zum Manne gemacht, weil es Männer gibt, sondern es gibt männliche Menschen, weil Gott sich in Relationen offenbart, die wir männlich nennen.

Dieser offenbarte Gott ist eben nicht verschlungen in die Geschicke und Schicksale des Kosmos – er ist frei, und in seiner Zuwendung zur Welt ist er Wille. Diese Offenbarung vom leben­digen Gott »verwehrt den Irrtum, als sei Gott eine ruhende, unbeteiligte abstrakte Idee oder ein starres, den Menschen wie eine stumme, aber festhaltende Mauer entgegengestelltes Prin­zip«, sagt L. Köhler. Gott ist im Kampf gegen die Sünde – er ist der Kriegsgott -, gegen eine gottfeindliche Welt. Er ist der Herr der himmlischen Heerscharen (2. Mose 17, 15; 4. Mose 14, 42 ff.; 5. Mose 33, 29; Jos. 6,16;1. Sam. 28,18; vor allem eben 2. Mose 15, 3 und Ps. 24, 8). Dieser Gott ist ein Gott, der sich in Donner, Blitz, Rauch und Feuer offenbart.

Diese Art und Weise der Offenbarung Gottes zeigt gerade das Gegenteil des »seid umschlungen, Millionen« der Wohlfühlgesell­schaft. Er ist der Gegensatz zur Idylle der »Mutter Natur«. Materie kommt von Mater, und Mater heißt Mutter: Der moderne Materialismus, in welcher Gestalt er auch immer auftreten mag, mehr ideologisch fixiert oder als Konsumgenossentum, will die »Mutter Erde« als letzten Inhalt gegen Gottvater denken und ausleben.

Dieser moderne Materialismus ist aber im Grunde ein alter Materialismus; denn die Fruchtbarkeitskulte der Muttergotthei­ten der Heiden zur Zeit des alttestamentlichen Gottesvolkes wollten nichts anderes als dieses fleischliche Eintauchen, diese emotionale Dynamis, dieses Verschlungenwerden von Mutter Erde.

Hiergegen steht Gott als Wille, Kampf und Freiheit – eben als der Herr nicht von dieser Welt, sondern über dieser Welt. Jahweh – dieser Gottesname meint nicht die Identität Gottes mit dem Sein, sondern dieser Name meint, daß Gott der Herr ist über das Sein. Alles, was ist, ist geschaffen und abhängig; allein Gott ist ungeschaffen und unabhängig.

Den Zugang zu ihm haben wir nicht dadurch, daß wir uns stimulieren, uns zu ihm emporjubeln, sondern dadurch, daß wir ihn anreden, weil er ja auch uns angeredet hat. Den Zugang haben wir im Gebet. Und Gott antwortet mit Taten, mit Zeichen in unserem Leben.

»Über 6700mal findet sich im Alten Testament der Gottesname Jahweh. Das Judentum spricht durch Ehrfurcht vor diesem Namen statt seiner Adonai, d. h. meinem Herrn, im Sinne von meiner Herrschaft« (Köhler). 6700 mal hat die Septuaginta diesen hebräischen Namen mit Kyrios, d. h. Herr, übersetzt. »Daß Gott der gebietende Herr ist, das ist der eine und grundlegende Satz des Alten Testamentes« (Köhler).

Wenn Gott Wille ist – dann ist das Gottesvolk Gehorsam; wenn Gott der Herr ist – dann ist das Gottesvolk sein Diener, sein »Gottesknecht«. Aber wenn Gott Wille ist, dann ist der Glau­bende auch Wille; und wenn Gott der Herr in seiner Freiheit ist, dann ist der Glaubende auch frei, denn er trägt den »Abglanz Gottes«.

Durch Jesus ist eine neue Anrede Gottes in die Geschichte des Gottesvolkes eingebracht worden. Auch im Alten Testament gibt es die Anrede Gottes mit Vater (vgl. 5. Mose 32, 6; Hiob 38, 28; Ps. 68, 6; Jes. 63,16; Jer. 3, 4). Aber die Anrede Gottes als Vater steht nicht so im Mittelpunkt des Alten Testamentes wie die Anrede »Herr«. Die entscheidenden Anreden Jesu sind Anreden Gottes mit Vater. In dieser Anrede steht die Aussage: Gott als der Herr ist die Liebe! »Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben!« (Joh. 3, 35).

Die Anrede Gottes mit Vater ist möglich durch das versöh­nende Handeln des Sohnes, der gehorsam war bis zum Tode am Krеuz (Phil. 2, 8). 

Der Feminismus mißachtet Versöhnung am Kreuz als »ödipal«, also androzentrisch und damit irrelevant für eine androgyne Gesellschaft. In der Wirklichkeit des Neuen Testamentes aber ist Versöhnung, der willenhafte Gehorsam bis zum Tode am Kreuz, die einzige, entscheidende und heilbringende Realisierung der Liebe Gottes. Nur durch diese Versöhnung sind wir in der Liebe, in der wir Gott als Vater bekennen und an ihn glauben. Ohne diese Versöhnung, durch die auch unser Leiden, das Leiden der Welt, sinnvoll wird, wäre es Hohn, von der Liebe Gottes zu reden – es sei denn, daß man sich durch Drogen wegträumt aus den harten Wirklichkeiten dieser Welt.

Gott offenbart sich als Herr und als Vater. Daran ändern auch Hinweise auf hier und da gemachte und gefundene Relationen der Mütterlichkeit Gottes gar nichts. Relationen der Mütterlichkeit (der mütterlichen Liebe) stehen immer in einer Zuordnung zum Herrsein, zum Vatersein Gottes. Gott ist ja kein Mann und kein Vater, wie ein Mensch Vater oder Mann ist. Gott ist anders, und darum ist seine Liebe anders als unsere Liebe. Diese Offenbarung Gottes als Herr und Vater ist unteilbar; sie gilt so lange, bis wir ihn sehen von Angesicht zu Angesicht, bis zu der Stunde, da wir nicht mehr glauben, sondern schauen (1. Kor. 13).

Beinhaltet dies nun eine »Diskriminierung« der Frau? Ist also­ wie die Feministinnen behaupten – die Bibel eine Projektions­wand für Patrismus und Androzentrismus?

Dazu sagen wir, geleitet durch das biblische Wort: Mann und Frau leben in gleicher Weise durch den und in dem einen Vater. Gott als Vater und Herr bedeutet für Mann und Frau, daß sie in der Begegnung mit diesem Gott aus der Hingabe leben und die Empfangenden sind; beide leben nicht aus sich selbst, sondern in, durch und zu Gott. Der Mensch als Mann und als Frau ist gegenüber Gott nur Hingabe.

In diesem Zusammenhang erinnern wir an die vielen Aussagen des Apostels, daß Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist.

Gott hat keine Helden zum Gegenüber, sondern Menschen, die er aus dem Nichts herausruft, damit sie überhaupt sind.

Der Mann lebt diese Hingabe dann in der Hereinholung der Willenhaftigkeit Gottes! Er empfängt (!) das Mandat des Herr­seins. Die Frau hingegen hält die Wahrheit der Hingabe wach, auch in der hingebenden Zuordnung an den Mann!

Zwischen Mann und Frau ist – natürlich und heilsgeschichtlich – kein Wesens-, sondern ein Relationsunterschied. Der Маnn zeugt Leben, die Frau empfängt es – der Маnn repräsentiert die Kreativi­tät Gottes, die Frau repräsentiert das Empfangen dieser Kreativität. Sie tun und leben dieses beide als Geschöpfe Gottes, beide als Kinder Gottes, beide als Erlöste; beide aber auch als solche, die auch in der Erlösung einander Ergänzende sind, weil jeder seine besondere Gabe einbringt.

Der Wille des Mannes lebt von der Hingabe der Frau, und die Hingabe der Frau lebt von dem Willen des Mannes. In jedem gläubigen Mann ist die Gnade der Hingabe, in jeder gläubigen Frau ist die Gnadenkraft des Willens – aber die Dominante im heilsgeschichtlichen Auftrag des Mannes ist der Wille, und die Dominante im heilsgeschichtlichen Auftrag der Frau ist die Hin­gabe.

Die Repräsentation der Hingabe ist Maria: »Ich bin des Herrn Magd, mir geschehe nach deinem Wort« (Luk. 1, 38), die Reprä­sentation des Willens ist Christus: »… daß ich tue den Willen des, der mich gesandt hat« (Joh. 6, 38).

Jesus, der Mann

Der Prozeß der Feminisierung oder Androgynisierung Jesu begann nicht mit der Revolution des Feminismus, sondern kam mit ihr zum Abschluß.

Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der den Gottessohn Jesus Christus auf den frommen Tischler Jesus von Nazareth und sein sogenanntes »Ethos der Bergpredigt« reduzierte, hat nicht zuletzt durch eine Flut vulgär-liberaler Jesusbücher (z. B. Renans »Leben Jesu«) ein quietistisches, sozusagen »vorfeministisches« Jesusbild produziert. Diese »Jesus von Nazareth-Produktion« lieferte aber gar nicht eine Projektion der Männlichkeit, wie die Feministen in Unkenntnis der Leben-Jesu-Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts behaupten, sondern viel eher die Projektion ei­ner quietistisch-idyllischen, sehnsüchtigen Wirklichkeitsverfremdung, die in ihrem Kernprozeß feministisch ist.

Das Kreuz wurde zum Ohnmachtssymbol eines »Edlen«, der an der Wirklichkeit der Welt zerbrach. Die Entmythologisierung des Christus wurde zur Entmächtigung des Jesus Christus. Er ist nicht mehr der Kyrios, der Herr, als der er im Neuen Testament bekannt wird, der als Pantokrator zur Rechten Gottes im Himmel regiert, sondern er ist der entmachtete, entvollmächtigte, einhori­zontalisierte, eben dieser Weltwirklichkeit ausgelieferte und unter der Ohnmacht Gottes rebellierende ohnmächtige Mensch.

Diesen Trümmerhaufen alt- und neuliberaler Theologie fand feministische Quasitheologie schon überall herumliegen an Hoch­schulen und in den Kirchen. Dieses quietistisch-idyllische Jesus­bild ist so sehr eingerahmt in eine allgemeine, volkskirchliche und außerkirchliche Bewußtseinslage, daß hier mehr als nur Theologie am Werk gewesen ist.

Die im volkskirchlichen (und ganz sicherlich nicht nur hier) Raum vermittelten Rudimente einer biblischen Jesusüberliefe­rung wurden zum Projektionsfeld einer quietistisch-mütterlichen Geborgenheitssehnsucht, so daß insbesondere eben neuprote­stantisches Jesusverständnis die katholische Marienfrömmigkeit kompensieren konnte.

Diese Verfälschung der neutestamentlichen Zeugnisse von Jesus Christus bringt Degeneration und Retrogression: Zerfall der Jesusüberlieferung aus unchristlicher, weltflüchtiger (nicht welt­überwindender) Geborgenheitssehnsucht. Die Geborgenheits­sehnsucht will Flucht vor, aber nicht Überwindung der gottfeindlichen Wirklichkeit. Dieser gemalte Jesus repräsentiert die billige Gnade einer als Idylle mißverstandenen Welt.

Versöhnung und Erlösung des Heilands sind Kampf. Christus kämpft gegen die Gottfeindlichkeit der irdischen und himmlischen Gewalten – im Kosmos (vgl. Die Sturmstillung) und im Menschen (vgl. Heilungen und Vergebung). Er gebietet in der Vollmacht und in der Kraft Gottes. Jesus vergibt die Schuld (er redet sie nicht weg) durch sein willenhaftes Leiden am Kreuz. Er tilgt die Schuld, weil er sie in der willenhaften Überwindung des Schmerzes am Kreuz vernichtet hat.

Christus ist das Licht in der Finsternis. Er scheidet Licht und Finsternis und bewirkt die Spannung, die erst mit seiner Wieder­kunft in der Herrlichkeit überwunden sein wird. Er redet diese Spannung eben nicht weg, sondern durchleidet und durchkämpft sie.

Der androgyne Jesus aus der Vorstellungswelt des Feminismus, dieser heitere, clownartige, naiv-quietistisch Zwergidylliker, leug­net den wahren Christus und das wahre Christwerden. Hier wird der Schmerz in der Wiedergeburt so sehr verhöhnt wie die Wirklichkeit der Versöhnung am Kreuz. Dieses Pseudo-Christen­tum ist Fleisch, aber nicht Geist. Es ist Aufstand von unten, aber nicht Rettung von oben.

Daß sich Jesus erbarmend den Frauen zuwendet, daß Frauen ihm nachfolgen, daß sie unter dem Kreuz stehen und Zeugen seiner Auferstehung sind, bedeutet doch Zuwendung des Hei­lands an alle, die ihn als Herrn annehmen und die er, als der Heiland, erwählt hat. Obgleich aber Frauen Jesus nachfolgten, hat er zu Aposteln eben nur Männer eingesetzt, denn das Amt der Leitung (durch die Lehre des Wortes Gottes) in der Gemeinde blieb dem Mann vorbehalten – daran kann keine Interpretation der Feministen etwas ändern. Das kann der Feminismus nur bestreiten, wenn er die neutestamentliche Überlieferung mit Theorie und Hypothesen auseinandernimmt und nach seinen Bedürfnissen wieder zusammensetzt. Ohne Fälschung der Über­lieferung spricht da nichts für den Feminismus.

Feminismus ist Irrlehre

In dieser zwiespältigen, von der Feindschaft gegen Gott überfalle­nen und dunkel beschatteten Welt ist Christus der Erlöser als der Kämpfer, Überwinder und Sieger. Diese Mächtigkeiten des Heils gelten als die Repräsentation des Männlichen. Also – wenn man so will – dann eben doch Jesus, der Mann.

Jesus, der Sohn Gottes, war Gott und wahrer Mensch, und auch als der in das Fleisch Gekommene, als der Erniedrigte, der die Knechtsgestalt annahm, die unser Menschsein prägt, hörte er niemals auf, Sohn Gottes zu sein. Der Heiland Jesus Christus kann nicht anthropologisiert werden seine Männlichkeit ist nicht unsere verfehlte Männlichkeit. Seine Menschlichkeit – dem dreieinigen Gott sei Dank – ist nicht unsere verfehlte Menschlichkeit. Jesus ist der Christus – der Sohn Gottes, der in kein Bild und auch in keine Philosophie und Psychologie (auch nicht in die von Carl Gustav Jung) eingezwungen werden darf und kann.

Der Feminismus ist die Verneinung des in der Bibel geoffenbar­ten Gottes und seiner Schöpfung, des in der Bibel bezeugten Zueinander von Mann und Frau. Der Feminismus betreibt die Geschäfte jener Muttergottheiten, gegen die die Propheten des Alten Testamentes kämpften. Der Feminismus treibt die Kirche in die undifferenzierte, spannungslose Wohlfühlgesellschaft, in der sich das entpersonalisierte Kollektiv verwirklicht. In der Kirche, wie sie der Feminismus will, verschlingt – wie ehedem – die Muttergottheit das Individuum und zerstört die Botschaft von Christus, so wie damals die Göttinnen Kleinasiens ihre Götter verschlungen haben. Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Mann und Frau, Gott und Mensch werden durch sehnsüchtig erwartetes Kollektivmenschentum verschlungen.

Unsere Gegenwart tendiert auf Kollektivismus, und der Femi­nismus betreibt – wie jede Häresie – das Geschäft der Anpassung der Kirche an diesen gesellschaftlichen Trend. Der Feminismus mit seinen »großen Frauen«, angefangen von Simone de Beauvoir (»Das andere Geschlecht«, 1949), über Betty Friedan (»Der Weiblichkeitswahn oder die Selbstbefreiung der Frau«, 1970), Kate Miller (»Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft«, 1971) bis Mary Daly (»Beyond God the Father«, 1974) und vielen anderen, die wir in diesem Aufsatz nannten oder nicht nennen konnten, ist wohl die bislang letzte, aber auch wichtigste Aktualisierung des modernen Atheismus, der im Grunde die Retrogression, die quasimütterliche, sprich kollektive Gesellschaft anstrebt.

Der Feminismus ist keine Schreibtischrevolution, er ist Aus­druck des Verlangens der Masse nach kollektivistischer Gebor­genheit.

Der Feminismus betreibt nicht den Kampf gegen den Mann, sondern gegen das Menschsein. Soweit er den Maskulinismus einer atheistisch sich mißverstehenden Supermännlichkeit als unchristlich und unmenschlich entlarvt, wollen wir gerne von ihm lernen. Aber der Feminismus zerstört das biblische Verständnis der Frau, verneint die besondere Geschöpflichkeit der Frau und treibt sie dadurch in eine tiefgreifende Einsamkeit und quälende Sinnlosigkeit. Die Feministinnen haben recht: Die Frau kann gegen die Schöpfungsbestimmung leben – wir fragen nur, ob sie diese Verneinung der von Gott gesetzten Schöpfung als Mensch überleben wird. Der Feminismus (femina heißt ja Frau) kämpft gegen die Frau, gegen die Mütterlichkeit in unserer immer einsamer, unpersönlicher und kälter werdenden Gesellschaft. Durch den Feminismus wird es noch kälter werden auf dieser Erde.

 

Die Hervorhebungen im Text wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im März 2007

 

Auf meiner Web-Seite finden Sie noch weitere  Beiträge von Dr. Georg Huntemann:

Aids – Eine Strafe Gottes für eine lustverfallene Gesellschaft

Der Aufstand der Schamlosen

Jugendsexualität

Politische Prophetie

Politische Herausforderung

Was kommt auf uns zu?

Gottes Gebot im Chaos dieser Zeit

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Selbstzerstörung des Christentums (G.H.)

 Georg Huntemann

DIE SELBSTZERSTÖRUNG DES CHRISTENTUMS ÜBERWINDEN

– Der Text wurde leicht gekürzt, auch die Hervorhebungen sind von mir vorgenommen.  Horst Koch. Herborn, im April 2014  –

 

 I.     Was heißt »Selbstzerstörung des Christentums«?
II.    Vom Unwesen und vom Wesen des Christentums
III.   Urchristliche Existenz und nachchristliche Verfremdung
IV.    Die Verkirchlichung des urgemeindlichen Christentums
V.     Die dogmatische und theologische Überfremdung des Christentums
VI.    Die subjektivistisch-emotionale Überfremdung des Christentums
VII.  Ohne Gehorsam gegen Gott folgen Zerstörung von Person und Moral
VIII. Die Überfremdung und das Wesen politischer Predigt.

 

Vorwort
Schon im Jahre 1853 schrieb Theodor Fontane: »Das Volk hat nun einmal den Christenglauben nicht mehr, und Taufe, Konfirmation, Abendmahl wie jede andere äußere Betätigung dieses Glaubens ist nichts anderes als Gewohnheit oder Polizeigehorsam. Der eigentliche Sieg der sogenannten Frommen und Mucker ist ihr eigentliches Fiasko.«

Heute, fast anderthalb Jahrhundert später, ist vom »Polizeigehorsam« natürlich nicht mehr die Rede, und Siege der »Frommen und Mucker« gibt es nicht mehr. Auch stirbt die »Gewohnheit«, die Kirche für bedeutsame Lebenseinschnitte in Anspruch zu nehmen, langsam aus. Das Christentum in seiner überlieferten Gestalt vergeht. Dieser Prozess der »Entchristlichung« verläuft seit Fontanes Zeiten zwar langsam, aber dafür umso beharrlicher und unaufhaltsamer ab.

Die Versuche der »sogenannten Frommen und Mucker«, unser evangelisches Christentum so, wie es war, zu revitalisieren, sind genauso gescheitert wie die rasche Folge von Experimenten der Anpassung an den Geschmack jeweiliger Gesellschaft. Was die Progressiven heute im Hause der Kirche umbauen, kann morgen schon wieder Schnee von gestern sein.

Ungezählte Bücher von Zweifelnden, Schönrednern und Umbau-Optimisten türmen sich zu einer langen Klagemauer, vor der viel Schluchzen und ebensoviel Bruderzwist kein Ende nehmen wollen.

Dieses Buch ist jedoch kein neuer Stein in dieser Klagemauer. Hier wird nicht geklagt, sondern angeklagt. In diesem Buch wird nicht die »Gestalt« der Kirche von gestern oder vorgestern verteidigt. Hier wird aber ebenso entschieden der Versuch verurteilt, das Christentum für den Gebrauch einer Gesellschaft in dieser Zeit umzumodeln und nach dem Geschmack von heute ins Schaufenster für Religionskonsumenten zu stellen.

Bonhoeffers Aussage, dass diese »Gestalt des Christentums«, wie sie zu Fontanes Zeiten noch das Haus des Abendlandes war, vergeht, hat für mich eine klare Zielrichtung. Es geht darum, zum Ursprung zurückzufinden. Wir haben unerbittlich zu fragen, wie die Urgemeinde, in der das Alte Testament gelebt und das Neue Testament geboren wurde, nicht Christentum spielte, sondern christlich existierte. Dieses Zurück zum Ursprung ist seit je reformatorisches Uranliegen.

Will man das, dann muss all das radikal abgeräumt werden, was als »Überfremdung« diesen Ursprung fast verschüttet hat. Das wird mir Ärger einbringen, zumal dieses Buch gegen zwei Fronten kämpft: gegen die von Theodor Fontane so genannten »Frommen und Mucker« und vor allem gegen jene »Progressiven«, die aus dem Christentum eine »zeitgerechte« Ideologie machen wollen. Das geschieht heute als bestaunenswerte »matriarchalische« Überfremdung oder besser noch als Unterwanderung des Christentums. Darum wird viel in diesem Buch davon die Rede sein. Aber auch der in diesem Buch bekannte herbe urchristliche Realismus, der keine Auferstehung ohne Kreuz, keine Freude ohne Leid und keinen Frieden ohne Kampf leben konnte, wird Idylliker und »keep-smiling«-Christen nicht gefallen. Ich bin es dem Leser schon in diesem Vorwort schuldig, zwei durchgehende Leitworte zu erklären. Es geht um die Formulierungen »Biblische Religion« und »Revolte gegen die Absurdität«.

Mit »Biblische Religion« meine ich die Einheit von Altem und Neuem Testament und sehe bei aller heilsgeschichtlichen Wegmarkierung angesichts gegenwärtiger Herausforderung ganz und gar die eine biblische Ganzheitsaussage. Dass der Dialog zwischen Juden und Christen dabei für mich eine entscheidende Bedeutung hat, wird jedem Leser sofort auffallen.

Bei der »Revolte gegen die Absurdität« habe ich natürlich an Albert Camus gedacht, vor allem an seinen Klassiker »L’Homme revolte« (1951). Für urchristliches Weltverständnis ist diese Welt absurd, dem »Teufel« und der »Sünde« verfallen. Die urchristliche Gemeinde hat schon vor Auschwitz das Sinnhafte in dieser Welt nicht erkennen können. Trotz dieser Absurdität an Gott zu glauben und trotz aller Zwiespältigkeit der Welt in seiner Schöpfung zu leben war allerdings für die urchristliche Gemeinde ohne Kreuz, ohne Leid, ohne Tod und ohne die Hoffnung auf Auferstehung und auf die Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde undenkbar.

Urchristliche Existenz ist Revolte gegen die Absurdität, allerdings – im Gegensatz zu Camus – im Glauben daran, dass der Triumph der Gnade alle Absurdität überwinden wird. Dass Gott als Gott der Revolte erlebt und die Revolte gegen die Absurdität von den Urchristen als Nachfolge verstanden wurde – das anzumerken ist auch ein Unternehmen dieses Buches.

Ich schreibe dieses Buch aufgrund von Erfahrungen, die ich in 30 Jahren als Pfarrer in einer Großstadt (Bremen) und seit 26 Jahren als Hochschullehrer (an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel und an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Leuven) gesammelt habe. Also im Spannungsfeld von Kanzel und Katheder, Gemeinde-Seelsorge und Studenten-Diskurs ist diese Arbeit erwachsen. Als Pastor der Bremischen Evangelischen Kirche (mit ihrer reformierten Tradition) habe ich gelernt, dass die Basis der Kirche Christi die Gemeinde ist und nicht eine kirchenbehördliche Obrigkeit. Als bremischer Pfarrer habe ich aber auch gelernt, dass es für mich bis heute keine Alternative zum evangelischen Christentum gibt.

Dieses Buch versteht sich als Fortsetzung vieler Gedanken, die ich in meinem 1989 veröffentlichten Buch Der andere Bonhoeffer. Die Herausforderung des Modernismus und in meinem 1995 erschienenen Biblisches Ethos im Zeitalter der Moralrevolution jeweils in einem anderen Rahmen niedergeschrieben habe.

Bremen, im Januar 1998  –  Georg Huntemann

 

I. Was heißt »Selbstzerstörung des Christentums«?

1. Noch schlimmer als ein Feind der Kirche
An einem Samstag des Frühjahres 1992, genau am 29. April 1992 (es war fast auf den Tag genau 35 Jahre nach meiner Ordination zum Pastor in Bremen), wurde vom höchsten theologischen Amtsträger der Bremischen Evangelischen Kirche ein Brief an die erste lutherische Bischöfin Deutschlands, Frau Maria Jepsen in Hamburg, der Öffentlichkeit übergeben. In diesem Brief bekannte dieser Pastor Dr. Uhl, dass er sich meiner schäme und über das »unsachgemäße, sektiererische Beschwören von Bibel und Bekenntnis«, wie ich es ausübe, »traurig« sei und dass ich ein »fleischliches Bild« von der Kirche hätte. Er sei »betroffen« von einer »unheilvollen theologischen Denktradition«, mit der ich »wütend« um mich würfe, und darüber, dass durch mich an die Stelle »sachlicher theologischer Auseinandersetzung« nunmehr »Agitation, Hetze und niederträchtige Kirchenbeschimpfung« gebeten seien.

Es kam noch härter: Es wurde »öffentlich« bekanntgemacht, dass ich »Töne« von mir gebe, »wie sie schlimmer von Feinden der Kirche« nicht kommen könnten. Ohne vorher mit mir ein Gespräch gesucht zu haben, wurde nun »dem sehr verehrten Bruder Huntemann«, der jahrzehntelang der Bremischen Evangelischen Kirche unter Aufopferung seiner Gesundheit gedient hatte, öffentlich hinter die Ohren geschrieben, dass er schlimmer als ein Feind der Kirche sei.  . . .

In der evangelischen Kirche gab und gibt es tiefgreifende Auseinandersetzungen um die Frage, was Ursprung und was Selbstzerstörung in der Kirche sei. Bei allen sehr weitgehenden geistlichen Kämpfen sollte aber das Gespräch in dieser Kirche auch über Gräben hinweg niemals abgebrochen werden. Ich habe immer eine solche Gesprächsbereitschaft geradezu herbeigewünscht.  …

Ich erhebe die Anklage, dass in der evangelischen Kirche an der Wende zum 21. Jahrhundert ein Selbstzerstörungsprozess des Christentums abläuft, wie ihn die 2000-jährige Geschichte des Christentums so noch nicht erlebt hat.

Ich erhebe die Anklage, dass in der Kirche »mündige« Christen und Gemeinden kaum oder gar nicht die Möglichkeit haben, offen miteinander zu reden und zu streiten. Durch kirchenbehördliche Mitteln wird geregelt, was eigentlich im geistlichen Kampf durchgetragen werden müsste.

3. Der Machtapparat in der Selbstzerstörung des Christentums

Wohlmeinende konservative Christen kritisieren an den evangelischen Landeskirchen immer wieder, dass sie »pluralistisch« seien. Die Wahrheit, die die Kirche zu bezeugen habe, sei aber eben nicht pluralistisch – es gehe doch um das eine Wort Gottes und um das eine reformatorische Bekenntnis und schlussendlich um die eine unteilbare Wahrheit. Die wahre Lehre könne nicht mit Irrlehre in der einen Kirche gemeinsame Wege gehen.

Dieser Traum von der Landeskirche als »bekennender Kirche« im »Gehorsam unter dem einen Wort Gottes« etwa nach dem Motto »Gottes Wort und Luthers Lehr’ vergehen nun und nimmer mehr« ist eine fatale Illusion. Es gibt keine real existierende Bekenntnis-Landeskirche irgendwo in Deutschland, und eine solche ist auch überhaupt in Zukunft nicht realisierbar. Ganz im Gegenteil: Eine pluralistische Kirche, in der theologische Meinungsvielfalt eine Selbstverständlichkeit wäre und in der daher auch Raum wäre für diejenigen, die sich noch dem ursprünglichen Christentum verpflichtet fühlen, wäre wünschenswert. Wünschenswert wäre vor allem nicht nur für Theologen, sondern auch für »einfache« Christen, dass es durch eindeutige Auseinandersetzungen in diesen pluralistischen Kirchen zur inneren Klarheit kommt und die einzelnen Christenmenschen sich entscheiden können, wo sie denn nun ihren Weg des Glaubens beschreiten wollen. Aber diesen Freiheitsraum gibt es in der evangelischen Kirche nicht.  …

Dafür wieder ein konkretes Beispiel: Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland bestätigte Ende Juli 1992 in einer Stellungnahme diese Position: »Die Kritik an der Wahl einer Frau in das evangelische Bischofsamt verlässt daher den Boden der evangelischen Kirche … aber auch eine prinzipielle Kritik an der Frauenordination verlässt den Boden der in der evangelischen Kirche geltenden Lehre.« 15 Evangelische Pfarrer, die wegen ihrer Gewissensbindung an die Bibel kritisch sind und nicht alle behördlichen Anweisungen in Übereinstimmung mit christlicher Botschaft sehen, müssen sich das nicht nur hinter die Ohren schreiben, sondern sogar »Unterwerfungserklärungen« unterschreiben. In der Braunschweigschen Landeskirche zum Beispiel müssen Bewerber um ein Pfarramt schriftlich ihr Ja zur Frauenordination erklären, und den bereits im Amt befindlichen Pfarrern, die sich weigern, mit einer Pfarrerin zusammenzuarbeiten, droht Zwangsbeurlaubung oder Zwangspensionierung.

Der Bischof der evangelischen Landeskirche von Württemberg ermahnte seine Pfarrer ganz und gar im Gegensatz zur neutestamentlichen Aussage, eine Frau als geistliche Vorgesetzte anzuerkennen, auch wenn ein Pfarrer das »innerlich nicht mitvollziehen« könne; und der Bischof der Hannoverschen Landeskirche will diesem Problemkreis nicht einmal mehr einen »Diskussionsspielraum« geben.

Es wird also von Pfarrern tatsächlich verlangt, gegen ihr Gewissen zu handeln. Es ist einfach verboten, über die Ordination der Frau zum Pfarr- bzw. Prälaten- und Bischofsamt öffentlich zu diskutieren — und das angesichts der Tatsache, dass man damit im Widerspruch zur biblischen Aussage und zu einer 2000-jährigen christlichen Tradition steht. Um es unmissverständlich auszudrücken: Ein evangelischer Pastor darf biblische Aussagen grundsätzlich nicht mehr so verstehen, wie sie die Christenheit 2000 Jahre lang verstanden hat und wie sie heute mit der römisch-katholischen Kirche und der Orthodoxie des Ostens noch immer von mindestens mehr als der Hälfte der Christenheit verstanden wird.

Zweierlei ist zu beachten: In einer Zeit, in der Frauen alle Ämter bekleiden, als Richter, als Staatsanwälte, Professoren und Minister fungieren und bald schon in etlichen Ländern Panzerregimenter befehlen, wirkt es unverständlich, Frauen den Zugang zum Pfarramt oder Bischofsamt zu versagen, und der überwiegende Teil der evangelischen Kirchenmitglieder bejaht zweifellos die Frau im Talar auf den Kanzeln evangelischer Kirchen. Auch unter den »Konservativen« sind es nur noch sehr wenige, die hierin noch ein umwälzendes Problem sehen, und in zehn Jahren dürfte die Frau im kirchlichen »Führungsamt« wohl eine Selbstverständlichkeit sein.

Es geht mir jetzt auch gar nicht um die Diskussion des Problems der Frauenordination. Es geht vielmehr um die Frage, wieso »behördlich« Pastoren unter Gewissensdruck gesetzt und abgedrängt werden können, ohne dass es eine klare biblische Begründung zu solch einem Tun gibt. Ein protestantisches Kernanliegen war doch wohl unbestreitbar, dass Christenmenschen keine andere Autorität – weder Papst noch Konzil – anerkennen dürfen, die sich über das Wort Gottes stellt. Es war doch gerade diese Bindung des Gewissens an Gottes Wort, die Luther jenen leisen Urschrei vor dem Reichstag in Worms am 18. April 1521 ausstoßen ließ. Es ging und geht immer noch darum, dass eben nicht Päpste, Konzilien oder Synoden, Pröpste, Bischöfe oder Oberkirchenräte bestimmen können, wie das Wort Gottes ausgelegt oder selektiert werden soll. »Richtlinien« für biblische Wahrheit können eben nicht von irgendwelchen Institutionen aufgestellt werden – das ist ein reformatorischer Grundsatz. Und wo bleiben jene im Widerstand gegen den Einbruch der NS -Ideologie in die Kirche in Barmen 1934 formulierten Bekenntnissätze, denen die Evangelische Kirche in Deutschland formal verpflichtet ist und in denen doch so markante Worte wie diese stehen: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsste die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen … Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugung überlassen«?

Die evangelische Kirche fällt ins finstere Mittelalter zurück, wenn ihre »Obrigkeit« wie ein Papst gebietet und verbietet, was ein Christ im Amt der Kirche sein, tun und lassen soll – ohne dabei die Bibel als letzten Maßstab des Sagens und Nichtsagens aufzuzeigen.

Noch einmal: Es geht hier weder vordergründig um die Frauenordination oder um das Ja bzw. Nein zu kirchlichen Amtshandlungen an Homosexuellen o.ä. Es geht mir vorerst um die Freiheit, den christlichen Glauben in einer pluralistischen Kirche zu bezeugen und die Bibel als den Ursprung christlicher Religion in diese Zeit hineinsprechen zu lassen.

 

4. Die Selbstauflösung fordert Konfrontation heraus

In diesem Buch gehe ich von der allgemein bekannten Tatsache aus, dass der christliche Glaube der einzige Wert ist, der von Generation zu Generation eindeutig einen Bedeutungsverlust erlitten hat. Während heute nur etwa zwei Drittel der Bevölkerung Deutschlands zur Kirche gehören, waren es nach der Volkszählung von 1940, also auf dem Höhepunkt der Machtentfaltung des Nationalsozialismus, noch 95 Prozent. Diese Tatsache ärgerte die NS-Bewegung. Martin Bormann, der Sekretär Hitlers, erinnerte in einem Rundschreiben vom Juni 1941 die Gauleiter daran, dass Christentum und Nationalsozialismus unvereinbar seien. Dieses Schreiben wurde genauso geheim gehalten wie die Vorbereitung der SS vom Spätsommer 1941 zu einer »geschlossenen Bekämpfung der gefährlichsten aller Gegner durch die staatspolizeilichen Stellen«. Hiermit waren die Christen gemeint.

Die Geschichte der »Biblischen Religion« ist die Geschichte der Konfrontation mit der Feindschaft der Welt und der Kompromisse in der eigenen Gemeinde. Mose kämpfte gegen und für sein Volk. Er kämpfte nicht nur gegen den Pharao für den Exodus aus Ägypten, sondern zerschmetterte auch das »goldene Kalb«, jenes Fruchtbarkeitssymbol, das ein halsstarriges Volk als sichtbaren Götzen betasten, anbeten und vor sich hertragen wollte.

Die Propheten Israels streiten nicht mit selbstgewählten, sondern geoffenbarten Worten um Gottes Gerechtigkeit. Sie drohen Gerichte und Züchtigungen an, durch die vor allem der frevlerische Hochmut gebrochen werden soll. Die Propheten stehen in ihren Anklagen gegen Könige und Priester auf, ja – wenn es sein muss – gegen ein ganzes Volk. Die prophetische Predigt ist radikale Konfrontation.

Die Propheten sind keine Erfüllungsgehilfen einer nach Ruhe trachtenden Bedürfnisreligiosität, sie verkaufen keine falschen Träume und Illusionen, sondern bekämpfen eine Religiosität, die die Revolte gegen die Absurdität vergessen machen will.

Im Neuen Testament ist es nicht anders. Jesu Kampf gegen die pharisäische Frömmigkeit der Selbstverwirklichung und Machtgeilheit ist offenkundig. Er entlarvt die Heuchelei der Pharisäer und reinigt mit Gewalt den Tempel, der zur Räuberhöhle egoistischer Priesterherrschaft umfunktioniert wurde. Jesus bekennt offen, dass er nicht gekommen sei, um den Frieden zu bringen, sondern den Kampf und das Schwert und dass bis in die Familie hinein der Kampf zwischen Lüge und Wahrheit entbrennen werde (Luk.12,51).

Der Apostel Paulus weiß, dass die gute Botschaft von Christus nicht ohne Kampf zu verkündigen ist, und er spricht vom guten Kampf des Glaubens. Und dieser Paulus weiß auch, dass er letztlich nicht mit Fleisch und Blut, sondern mit den letzten Konsequenzen der Absurdität, mit dem Bösen selbst zu kämpfen hat und er bittet die Gemeinde darum, dass sie ihm mit ihrem Gebet zur Seite steht. Im Johannesprolog heißt es, dass das Licht in die Finsternis scheint und dass die Finsternis es nicht überwältigen konnte. Diese heute von modernen Theologen so verneinte Polarität von Himmel und Hölle, Licht und Finsternis, Gnade und Gericht ist aber das Charakteristikum der »Biblischen Religion« von Mose bis Jesus und Paulus, und aus dieser Polarität entsteht immer wieder Kampf, solange diese Welt besteht.

Heute hingegen liegt so etwas wie eine merkwürdige Friedhofsruhe über allem kirchlichen Betrieb. Die Stimmen der Minderheiten werden nicht gehört, weil sie den Zugang zu den Medien gar nicht erst finden dürfen. Evangelikale Erfolgsprediger erfüllen lieber die religiösen Bedürfnisse ihrer Zuhörer, als dass sie sich dem rauen Anspruch der Wirklichkeit und biblischen Wahrheit stellen. So liegt eine unheimliche Leere und Langweiligkeit über dem kirchlichen und religiösen Betrieb, in dem der Kampf um Macht und Einfluss oft bedeutungsvoller erscheint als der Kampf für Gerechtigkeit und Wahrheit.

Da warnte einst der Theologe Karl Barth, der aus der Konfrontation heraus dachte und predigte, vor allem unmeditierten Rezitieren biblischer und traditioneller Bilder und Redensarten, bei denen die Welt sich entscheidend darum nichts denken kann, weil der religiöse Redner sich im Grunde selbst nichts ordentliches dabei denkt …«

Es geht mir in diesem Buch also um die Konfrontation mit jenem Theologismus, der den christlichen Glauben dem Götzen einer jeweiligen Gesellschaft dienstbar machen will.

 

Teil II  – Vom Unwesen und vom Wesen des Christentums

1. Was ist eigentlich noch »echt« im Christentum?

Am 30. April 1944 schrieb der wegen Wehrkraftzersetzung angeklagte Theologe Dietrich Bonhoeffer aus dem Militärgefängnis in Berlin-Tegel, »die westliche Gestalt des Christentums« sei nur als »Vorstufe einer völligen Religionslosigkeit« zu verstehen. Bonhoeffer zweifelte nicht daran, dass die herkömmliche Gestalt des Christentums vergehe, dass aber ein neuer, radikaler Aufbruch nur in ferner Zukunft zu erwarten sei.

Anderthalb Jahre später – Bonhoeffer war mittlerweile im Konzentrationslager Flossenbürg gehenkt worden und die deutsche Wehrmacht hatte am 7. Mai in Reims und am 9. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst kapituliert -versammelte sich am 18. und 19. Oktober im fast völlig zerbombten Stuttgart der soeben gegründete Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Auch für die westliche Christenheit, vornehmlich für deren protestantische Kirchen, war die Versammlung repräsentativer Vertreter deutscher Landeskirchlichkeit ein bedeutsames Ereignis, und man entsandte »hochkarätige« und gestandene Kirchenmänner in die süddeutsche Trümmerstätte. Viele von diesen angereisten Kirchenleuten meinten nun angesichts dessen, was unter dem Hitlerismus in Deutschland geschehen sei, wäre es gut und nützlich, sich zu einer Art Schuldbekenntnis durchzuringen. Der »Rat« formulierte solch ein Schuldbekenntnis umgehend. In diesem später berühmt gewordenen »Stuttgarter Schuldbekenntnis« evangelischer Kirchenleute beklagen und bekennen die Mitglieder des Rates für sich und ihre Kirchen, »dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben …«.

Zu denen, die diese Sätze formulierten, gehörte auch Hanns Lilje, 1944 wegen Kontakten zur Beteiligung am deutschen Widerstand
vom 20. Juli vom Volksgerichtshof zu vier Jahren Haft verurteilt, aus
der er natürlich nach Kriegsende sofort befreit worden war. Dieser
1947 zum Landesbischof von Hannover gewählte Kirchenmann war
im Dritten Reich Herausgeber der Halbmonatsschrift »Junge Kirche«. In dieser eher zur Bekennenden Kirche zählenden Kirchenzeitung las man zum 50. Geburtstage Hitlers am 20. April 1939
in der Ausgabe vom 22. April 1939 unter der Überschrift »Zum
50. Geburtstag des Führers«, dass »die Gestalt des Führers auch für
die Kirche eine neue Verpflichtung« heraufgeführt habe, zumal er
»auf den wenigen Seiten der Weltgeschichte genannt ist, die den
Anfängen einer neuen Zeit vorbehalten sind«. Darum solle der
Christ den Aufruf vernehmen, alltags und sonntags »treuer zu glauben, inniger zu lieben, stärker zu hoffen, fester zu bekennen«. So
allein könne sich zeigen – und damit schließt der Jubelartikel -, was
»am christlichen Glauben echt« sei.

Einmal als Schuldbekenntnis angesichts des Hitlerismus und einmal zum Jubel angesichts des Hitlerismus ist da fast gleichlautend die Rede von Glauben, Lieben und Bekennen. Das Hoffen hatte man 1945 im Gegensatz zu 1939 weggelassen.

Nun geht es weder in diesem Kapitel noch in diesem Buch überhaupt um »Vergangenheitsbewältigung«, sondern um die Frage, die ja schon 1939 in jenem Jubelartikel gestellt wurde, was heute »am christlichen Glauben echt« ist, ob Christen heute noch treu glauben, innig lieben, stark hoffen und fest bekennen, und woran sie glauben, wen sie lieben, worauf sie hoffen und wozu sie sich noch bekennen.

Bald 50 Jahre nach jenem Stuttgarter Bekenntnis beantwortete der Theologe und Publizist Eberhard Stammler diese Frage mit peinlicher Nüchternheit. Das Volk habe längst begonnen, aus der Kirche auszuwandern, um seine religiösen Erwartungen, sofern sie virulent seien, durch andere Angebote beantworten zu lassen, und was sich heute noch in den Kirchen versammle, »sei schwerlich eine Gemeinde von Glaubenden«. Höchstens könne da ein »feierlich gestaltetes Zeremoniell« möglicherweise eine gewisse Rührung hervorrufen. Vom mutigen Bekennen, treuem Gebet, fröhlichem Glauben und brennender Liebe – wie einstmals 1945 eingeklagt – ist da nicht mehr viel in evangelischer Kirchlichkeit.

Sieht man auf die Wirklichkeit des Christentums vor allem in der evangelischen Kirche, dann kommt man – gemeinsam mit dem mir sonst nicht so nahestehenden Heinz Zahrnt – nicht umhin, schmerzlich zu verinnerlichen: »Kein Wort von allen Menschenworten« ist heute »so besudelt und zersetzt wie das Wort Gott« – und das am gründlichsten bei den Theologen und Kirchenleuten selbst.

Woran und an wen soll man glauben, wie soll man hoffen, lieben und bekennen, wenn man keine Ahnung davon hat, um welche Inhalte es geht, wer oder was mit »glauben«, »hoffen«, »lieben« oder »bekennen« überhaupt gemeint sein soll? Eine gleichsam niederwalzende Desinformation in religiösen Fragen, ein hilfloses Hin-und-Her-Schwanken zwischen Annahme und Ablehnung der von den Kirchen verkündeten Lehren, eine geradezu ungeheuerliche Irritation angesichts religiöser Inhalte und Lehren, wie sie in der Bibel und in der kirchlichen Verkündigung enthalten sind, charakterisieren die christliche Szene in Deutschland. Schon in den 60er Jahren musste man allgemein zugeben, dass bei evangelischen Theologen kaum noch eine gemeinsame Diskussionsbasis vorhanden sei, auf der man sich einigen könne. Sprechen wir es ganz einfach und damit um so erschreckender aus: Die Theologen, die berufenen Lehrer des Wortes Gottes (damit hängt das Wort »Theologie« zusammen), sind sich schwerlich darüber einig, was eigentlich das »Wesen« des Christentums sei. Jeder Theologe hält – zusammen mit seinen Jüngern und Schülern – seine subjektive Sicht der Christlichkeit, die man dann auch noch gern als »wissenschaftlich« ausgibt, fest wie eine in schwerem Streit erkämpfte Beute.

1988 trat der Hamburger Pastor Wolfram Kopfermann aus der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hamburgs aus. Dort hatte er an der wohlbekannten Hauptkirche St. Petri als Gemeindepfarrer gewirkt und praxis- und basisnahe Erfahrungen gesammelt. Dieser Pastor, der sonntäglich um die 1000 Menschen in seinem charismatischen Nachmittagsgottesdienst versammelte, schrieb 1990 rückblickend auf seine jahrelangen, unmittelbaren praktischen Erfahrungen: »Es ist keineswegs übertrieben, wenn ich sage: Mehr als 95 Prozent der Eltern sind hinsichtlich der Taufe völlig unwissend … nur wenige sind geneigt ernst zu nehmen, was ich ihnen — und wieviel Geduld bedarf es — nahe zu bringen suche.« Was die evangelische Kirche seiner Ansicht nach zusammenhält, sei eben gerade diese auf Desinformation beruhende Praxis der Säuglingstaufe, dann noch das Kirchensteuersystem, die Handhabung des Kirchenrechtes und »eine Menge verharmlosender Parolen wie etwa diese: >Die Kirche war zu allen Zeiten sündig und krank, auch sogar in urchristlichen Tagen<«.

Wie reagiert man in den Kirchen auf dieses unübersehbare Dilemma? Was geschieht angesichts der Wüste leerer Kirchenbänke in sonntäglichen Gottesdiensten?

Anstatt in die Tiefe zu gehen, um die Quelle des fröhlichen Glaubens, der brennenden Liebe, der starken Hoffnung und des mutigen Bekennens sprudeln zu lassen, wird in den Kirchen eine Art von Aktionsidiotie in Gang gesetzt: Man schafft Institutionen für Alte, Jugendliche, Kinder, Süchtige, Ausländer und Asylanten, Freunde des Basteins, Töpferns und der Hobbyfotografie, Initiativen zum Schutze von Robben, Kröten und Kräutern. Ist das alles eine Verwirklichung dessen, »was am christlichen Glauben echt ist«? Was ist hier nur Vereinsmeierei? Wie weit verwirklicht sich hier nur ein »Hobbychristentum« ?

Handelt es sich in der Angebotspalette der Kirchen – wie der Psychologe Franz Buggle meint – um eine »Funktionsverlegung« der »ursprünglich eigentlichen Aufgabe, der Verkündigung des Evangeliums und der (vollständigen!) biblischen Inhalte, zu umfassenden und sehr vielfältigen sozialen Dienstleistungsunternehmungen?« Wenn man dann noch die spezifisch deutsche »Bach-Chor-Mentalität« verinnerlicht und an die vielen künstlerischen und aufwendigen Kirchenkonzerte denkt, die von hauptamtlichen Kirchenmusikern veranstaltet werden, die oft mehr zu den eigentlichen Verwaltern der Christlichkeit in Deutschland gehören als die Pfarrer und die die Kanzel zugunsten der Orgelbank in den Hintergrund gerückt haben, muss man sich fragen, ob sich nicht Christentum für viele Bürger nur noch als ein ästhetisches Erlebnis darstellt.

Da werden aber auch noch andere Experimente gewagt: Am 6. Februar 1996 fand in der 800 Jahre alten St. Katharinenkirche zu Hamburg ein Techno-Gottesdienst statt. Mit einem stolz getragenen, mehr als mannshohen Kreuz vorweg zog zunächst ein weiß gekleideter Chor ein, der das Happening mit Gregorianischen Chorälen begann. Kaum waren diese feierlichen Klänge verhallt, hämmerte mit mindestens 100 Dezibel Phonstärke durch alle Lautsprecher eine monoton dröhnende Computermusik durch den Sakralbau, in dem Bier, Wodka, Wein und Drogen verkauft wurden. Die Kirche war voll, und die meist jungen Leute waren high. In dem Sakralbau hatte die Stimmung mehr power als in der Diskothek, sagten anschließend viele Beobachter dieses »neuen Weges«.

Warum nicht die Diskothek in die Kirche verlegen? In einer Kirche ist zunächst einmal vieles preisgünstiger oder gar kostenlos, und dann gibt es da dieses ganz besondere »feeling«, wenn die Techno-Musik durch die Heiligen Hallen kracht. Man ist eben in einer ganz besonderen Weise »high« — spürt man vielleicht schon die himmlischen Wonnen in der Nähe Gottes? Mit Droge, Schnaps und Bier aufwärts vom Altar zum himmlischen Thron? Und man vergesse nicht: Die »Jugend war da« — zwar nicht angesprochen durch die Predigt über ein biblisches Wort, doch immerhin »angefasst« und »angefühlt« durch eine Musik, die unter die Haut geht.

Allerdings stellt sich die Frage: Was heißt Glauben, Lieben, Hoffen, Beten und Bekennen, wenn es um das »Erfühlen« und nicht um die Andacht, wenn es um den Rausch und nicht mehr um geistliche Wiedergeburt geht? Ist das »Göttliche« zu einem Konsumartikel geworden? Was ist da noch echt am Christentum?

Sicherlich ist solch ein ekstatisches Happening bis heute noch eine Ausnahme. Aber Entertainments, »Anspiele«, »Action«, kultische Tänze, Pop and Rock sind schon seit langem nichts Neues in kirchlichen Hallen. Viele Theologen versuchen es immer mehr mit Entertainement. Wenn es das Wort nicht schafft, dann eben die Show.

2. Gibt es noch einen Maßstab für Gut und Böse?

Auf die Frage, die in den Evangelien einst der reiche Jüngling an Jesus richtete: »Was soll ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe«, weiß die evangelische Kirche von heute kaum noch eindeutige Antworten.

Dafür in diesem Kapitel nur ein Beispiel: Eindeutig wird im Alten wie im Neuen Testament die Homosexualität verurteilt als eine Zerstörung jener Ordnung, die Gott für diese Schöpfung vorgesehen hat. Christen haben sich seit 2000 Jahren daran gehalten. Heute wird in Synoden schon nicht mehr darüber diskutiert, ob Homosexualität zu akzeptieren sei, denn angeblich habe die Bibel noch nichts von der Liebesfähigkeit zwischen Mann und Mann bzw. Frau und Frau gewusst. Heute wird vielmehr erwogen, beantragt und im »vorauseilenden Gehorsam« gegenüber den Kirchenleitungen praktiziert, gleichgeschlechtliche Paare zu segnen. In der evangelisch-lutherischen Kirche Dänemarks ist das längst eine beschlossene und amtliche Praxis. Auch in deutschen Landeskirchen sollen Segnungsgottesdienste, die sich von keinem Laien irgendwie bemerkbar von herkömmlichen Trauungen zwischen Mann und Frau unterscheiden lassen, in die kirchliche »Amtshandlungspraxis« eingeführt werden. Berge von Papier für Synodalbeschlüsse, Gutachten, Erklärungen, Statements usw. wurden angesichts dieses Problems einer Randgruppe verschwendet. Sichtbares Ergebnis: Praktizierende homosexuelle Pfarrer sollen in den meisten Landeskirchen ein Pfarramt erhalten, wenn sie die Bekenntnis- und Lehrgrundlage ihrer Kirche anerkennen und für sie eintreten. Aber diese »Lehrgrundlage«, wenn sie noch irgendwie biblisch sein soll, müsste gerade diejenigen verurteilen, die sich dazu bekennen sollen. Unheimlich die List und Tücke, mit der man sich um Grundsätzliches herummogelt! Besser und ehrlicher wäre es doch, es den Gemeinden zu überlassen, ob sie diese »Lehrgrundsätze« beibehalten wollen oder nicht. Man kann das doch nicht »mündigen Christen« »von oben« vorschreiben!

Ehe und Familie haben jetzt nur noch eine »Leitbildfunktion«, die immerhin auch homosexuelle Pfarrer anerkennen müssen. Die Zehn Gebote, in denen ausdrücklich die Ehe als Ordnung Gottes geschützt wird, sind also noch nicht abgeschafft. Die »Segnung« von Homosexuellen ist grundsätzlich möglich, und eine »verantwortlich gestaltete gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft im Pfarrhaus« fällt unter die »Einzelfallentscheidung«. Hier obwaltet eine vernebelnde Sprache der kirchenstrategischen Kompromisse. Einerseits will man die Traditionspflege (Ehe und Familie), andererseits die von einer vergleichgültigenden Gesellschaft eingeforderte Bejahung der Homosexualität. Sprachliche Zitterpartien prägen zumeist alle Denkschriften, in denen es um grundsätzliche Fragen des Glaubens, Hoffens, Bekennens und Handelns geht.

Was soll man tun, damit christlicher Glaube echt ist? Was aber ist überhaupt echter christlicher Glaube? Ein weiteres Beispiel soll zeigen, wie die Irritationen der Kirchenleute den Wesenskern christlichen Glaubens einfach aufsplittern lassen.

Als 1993 der Rat der EKD zwei Frauen, die offensiv einen lesbischen Lebensstil propagierten, als Studienleiterinnen für das Frauenstudien- und Bildungszentrum der EiD (Evangelische Kirche in Deutschland) in Gelnhausen bei Frankfurt/M. beriefen, war das natürlich ein unmissverständlicher Bekenntnisakt – nicht nur zum Lesbismus, sondern schlussendlich auch zur feministischen Überfremdung des Christentums. Was heißt das?

Ist damit nur gemeint, dass Frauen, auch lesbische Frauen, in der Kirche – ganz zeitgemäß und gesellschaftskonform – mitreden und mitentscheiden sollen? Eben darum geht es nicht. Es geht nicht um ein Mitentscheiden und Mitreden, sondern um ein Umgestalten – um eine andere Religion.

So hören wir heute von theologischen Frauen die Frage: »Wieso brauchen Männer eigentlich das Blut aus einer Wunde, auch das Blut der Kreuzeswunde — und nicht das Blut, das die Frau ständig vergießt?« Im Blut der Frau, im Menstruationsblut, läge doch das Geheimnisvolle, das den Menschen zwar nicht mit Gott im Himmel, aber doch mit der »Mutter Erde« versöhne und verbinde. Man höre und staune: Nun ist nicht mehr die Rede von einem Gott im Himmel, sondern von der als eine Art Göttin angebeteten Erde, und das Menstruationsblut wird zum Symbol der Fruchtbarkeit dieser »Mutter Erde« erklärt. Und das heißt wiederum: Nicht mehr von Gott, sondern von der Göttin Erde, nicht mehr vom Opfertod am Kreuz, sondern vom Eintauchen in den unendlichen Strom des Lebens, des Friedens in der Bewahrung der Schöpfung werde der »Christ« erlöst.

Davon steht natürlich nichts in der Bibel, es sei denn, man berücksichtigt, dass schon die Propheten dieser Art von Naturkult ganz entschieden entgegengetreten sind. Wir werden in einem anderen Kapitel uns noch damit beschäftigen, wie von Mose über die Propheten bis zu Jesus Christus und zum Apostel Paulus ein leidenschaftlicher Kampf gegen diese Art von Baalismus geführt wurde. Hier genügt die Feststellung, dass von offiziellen Kirchenleuten (z. B. vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, der seinerzeit das Schuldbekenntnis in Stuttgart 1945 formulierte) kaum widersprochen wird, wenn christliche Sühne und Erlösungslehre durch kirchliche Sprachrohre zum Tode verurteilt wird.

Um dem allem gleichsam praktisch sichtbar die Krone aufzusetzen, hat die »Evangelische Frauenhilfe« Bremen, die etwa 100 Hauspflegerinnen beschäftigt, Anstoß genommen an jenem Passus ihrer Satzung, in der von der »Liebe Gottes in Jesus Christus« die Rede ist. Aus dieser Formel werde – so meinten die leitenden Frauen jenes »evangelischen Werkes« – ein »männliches Herrschertum« abgeleitet. Das Wort »Christus« habe für Frauen eine »problematische Bedeutung«, denn von dem Begriff »Jesus Christus« könne ein »männlicher Herrschaftsbegriff« abgeleitet werden. Man hat die Satzung geändert. Alles in allem ist dies nur die kleine Spitze des Eisberges einer matriarchalischen Umwandlung des Christentums, die so radikal ist, dass man sie nur als Verrat bezeichnen kann. So, wie die Dinge jetzt laufen, ist doch bedeutsam, dass im Namen des Christentums das Christentum selbst zerstört wird – in Anpassung an den Trend der Zeit. 

3. Das »Wesentliche«, die Bibel, wird ins Abseits gestellt

Zu einer verblüffend offenen Analyse gegenwärtiger Selbstzerstörung des Christentums kam vor wenigen Jahren ein rheinischer Pastor. Dr. Günther Kegel war seit 1966 im Auftrag der Evangelisch-theologischen Fakultät Bonn in den Außenstellen Aachen und Köln als Exeget mit der Ausbildung von Religionslehrern tätig. Er schreibt in befreiender, wenn auch schockierender Offenheit über die Bedeutung der Bibel im evangelischen Christentum heute: »Aus einem Buch mit offenbarter Lehre wurde eine Bibliothek menschlicher Schriften mit zeitgebundenen, sich wandelnden und kontrastierenden Aussagen.«. Die Bibel sei für den nachdenklichen und mündigen Christen von heute zeitgebunden und widerspruchsvoll.

Das ist allerdings genau das Gegenteil von dem, was die Reformatoren wie Luther und Calvin über die Bibel dachten und bekannten.

Günther Kegel meint weiter, dass man das reformatorische »Schriftprinzip«, dass sich also die Kirche in allem, was sie lehrt, auf die Bibel berufen müsse, abschaffen solle. Die Bibel könne nur verständlich sein, soweit sie »menschlichen Wahrheitskriterien standhalten« könne. Würde man von der Unfehlbarkeit der Bibel ausgehen, dann wäre »die ganze akademische Theologenschaft… eine einzige Bande von Irrlehrern«.

Nach Pastor Kegels Meinung soll reiner Tisch gemacht werden, denn »zweitausend Jahre Bevormundung durch Christentum und Kirche haben dazu geführt, dass die meisten Menschen den Sinn für originäre Gotteserfahrungen verloren haben«. – Was hier offen und direkt gefordert wird, ist doch letzten Endes die Abschaffung des Christentums.

Die Selbstzerstörung des evangelischen Christentum nähert sich zweifellos einer Art von »Endlösung«. Das geschieht eigentlich alles mehr oder weniger unterschwellig und bleibt dem »Kirchenvolk verborgen. Der innere Kirchenfrieden wird vom Kirchenvolk gewahrt, weil es ja kaum noch eine Ahnung davon hat, was eigentlich die tragenden, wesentlichen Inhalte des Christentums sind. Die Leute spüren nur die Aussageverlorenheit der Kirche, treten aus und lassen ihre Kinder nicht mehr taufen. In Frankfurt/Main werden nur noch 7 Prozent der Neugeborenen getauft. Gewiß, viele Pfarrer in vielen Gemeinden singen, beten und predigen immer noch in hergebrachten Formen und Wendungen, die sie aber kaum noch mit Leben füllen. Und da sind die Bekennenden, die Bibeltreuen, die (nach dem Urteil der Pietisten) »gläubigen Pfarrer«, die ernsthaft die eigentlichen Inhalte christlicher Verkündigung weitergeben wollen. Aber es sind so wenige und als so wenige sind sie auch wieder so sehr Beamte der Kirche, so sehr wieder dem Reglement ausgesetzt, dass sie kaum noch Einfluss auf den Gang der Dinge in den Abgrund hinein nehmen können.

Halten wir fest: Wenn irgendein Konsens bestimmen soll, was gelehrt und geglaubt wird, wenn also eine Art von »Konzilien festlegt, was Wahrheit ist, dann ist das nicht nur eine Schändung der Reformation Martin Luthers. Dann kann jede Ideologie beschlossen und verkündet und im Namen des Christentums unter die Leute gebracht werden.

4. Die weiche Welle ist gefragt und billige Gnade wird offeriert

Für die allgemeine Öffentlichkeit läuft eine quasichristliche Methode ab, die der Illusion lebt, durch Popularisierung des Christentums doch immerhin noch so etwas wie eine christliche Gesellschaft aufbauen zu können. Da wird von Feiern, Freude, Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit, multikultureller Gesellschaft, von Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung geredet, als ob mit dem »lieben Gott« gleich um die Ecke das erlöste Dasein eines erlösten Kosmos zu finden sei.

Der biblische Realismus hingegen ist für diese Wohlfühlgesellschaft unerträglich geworden. Die sanfte, weiche Verführung ist gefragt. Viel wird in allen Kirchen von Liebe und Geschwisterlichkeit geredet, und es waltet unverhohlen Ärger, wenn da einige diese Träume von einer Wohlfühlidylle stören wollen, indem sie an die Realität dieser Welt und das urchristliche Welt- und Menschenverständnis erinnern. Die Gnade und die Liebe sollen billig sein, der Mantel der Liebe wird über alles dahingeworfen, ohne die Buße, die Umkehr des Herzens real einzufordern. Die teure Gnade, an die Dietrich Bonhoeffer erinnerte, die Gnade für den bußfertigen Sünder ist abgelöst durch die billige Gnade, die weder Buße noch Sünde kennt, sondern alles eintaucht in den Ozean einer irreal und romantisch missverstandenen »Allbeseeligung«.

Die Selbstzerstörung des Christentums der billigen Gnade heute wurzelt in der Realitätsverfremdung. Die von Nietzsche erwähnte Dekadenz des Christentums sieht die Absurdität dieser Welt nicht und verdrängt sie durch ein utopisches Wunschdenken, das ja überhaupt charakteristisch für diese Gesellschaft, ihren Lebensstil und auch ihre Politik ist.

Gegenwärtige Wohlfühlreligiosität bewegt sich in einer Selbsttäuschung. Es ist dieselbe Selbsttäuschung, aus der einst bürgerlicher Fortschrittsglaube und kommunistische Ideologie ihre Programme aufstellten, die dann an der Realität zerbrachen. In unserer etwa seit 40 Jahren bestehenden Wohlfühl- und Wohlstandsgesellschaft kann man sich solche leichten »religiösen« Reden vielleicht noch anhören. Aber solch eine Kirchlichkeit ist kein wirklicher »Lebensgefährte«, sondern im Blick auf eine uns sehr bald mehr herausfordernde Zukunft sicherlich nur ein kurzatmiger »Lebensabschnittsgefährte«.

5. Biblischer Realismus gegen pseudochristliche Idylle

Um 1965 schrieb die in aller Welt bekannte Theologin Dorothee Sölle die in aller Welt bekannten Sätze: »Wie man nach Auschwitz den Gott lehren soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich nicht.« Aber dies wusste sie: »Es führt kein Weg zurück zum Kindervater, der Wolken, Luft und Winden Wege, Lauf und Bahn gibt.« Den modernen Menschen, so interpretiert dann Heinz Zahrnt diese traurige Melodie, bedränge in diesem Jahrhundert die »Ungöttlichkeit der Welt« so sehr, dass vielleicht sogar »das ganze Dasein gnadenlos ist«, dass es für ihn einen »gnädigen Gott ebensowenig gibt wie einen lieben Gott«.

 

Daraus folgt als ganz konkrete Konsequenz: keine Liebe im Himmel und keine Liebe unter den Menschen. »Die neue mitleidlose oder das Mitleid abschaffende Form von menschlicher Entwicklung, der Organisation des Menschen unter dem Gesichtspunkt der Singles, der Konsum  als ästhetische Erfüllung des Menschengeschlechts, das ist postmodern. Die herrschende Klasse, wenn man sie so nennen will, also die jungen dynamischen Unternehmer und höheren Angestellten, haben für uns alle, ob humanistisch, sozialistisch oder christlich nichts als ein mitleidiges Lächeln übrig«. Diese 1994 von Frau Sölle niedergeschriebenen Sätze beschreiben durchaus realistisch die euro-amerikanische Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts als im Grunde eiskalt unter einem eiskalten Himmel, in dem der »liebe Gott« eingefroren ist.

Schon lange hat sich eine seit den 60er Jahren entwickelte »Gott-ist-tot«-Theologie totgelaufen. Damals sagte man: Schon am Kreuz zu Golgatha, in diesem Triumph des Todes über das Leben und des Sinnlosen gegen das Sinnhafte, sei Gott gestorben. Das Wort Gott sei mithin unsinnig, das Wort selbst sei ja schon längst tot. Inzwischen ist in dieser modernen Gesellschaft Gott in der Tat so tot, dass die »Gott-ist-tot«-Theologie keinen Gott mehr benennen kann, dem sie sagen müsste, dass er tot sei.

Gegenüber dem utopischen und »gottmütterlichen« Erlösungsgerede der starken und wortmächtigen Mütter und Mädchen unter den Theologen hat diese »Gott-ist-tot«-Theologie allerdings einen realen Kern. Es ist in der Tat nicht möglich, die Absurdität dieser Welt, sowohl in der Natur als auch in der Geschichte, so ohne weiteres unter das Regiment eines lieben Gottes oder einer lieben Göttin gestellt zu sehen. Ein »lieber Gott« kann nicht zulassen, was auf dieser Welt an Unheil losgelassen ist. Solch ein idyllisches Missverständnis von Gott und Welt wäre in der Tat unbiblisch.

Der Albert-Schweitzer-Schüler und Berner Theologieprofessor Martin Werner, der mit seinem Lehrer die Auffassung teilt, dass wir der Welt so, wie sie ist, keinen göttlichen Sinn abgewinnen können, zitiert den tiefgläubigen katholischen Theologen Theodor Hacker, der in seinen »Tag- und Nachtbüchern« bekennen muss: »Als mein Sohn Reinhard in seinem ersten Lebensjahr wochenlang allnächtliche Krampfhustenanfälle bis zum Ersticken hatte, wurde es dunkel in mir, denn hier sah und sehe ich nicht den leisesten Schimmer eines Verstehenkönnens: Es ist die absolute Grausamkeit.« Theodor Hacker wusste, dass sein bitteres Schicksal ganz gewiß so nicht das einzige war, und schrieb: »Nun aber geschah und geschieht dies wahrscheinlich seit Millionen Jahren … wozu diese endlose Wiederholung all des unsäglichen Elends in tausenden von Generationen …«

Neben Vincent van Gogh, der immer mehr daran glauben musste, »dass man Gott nicht nach dieser Welt beurteilen darf« und dass diese Welt »eine Studie« sei, »die ihm missriet«, und ungezählten anderen Zeugen der Absurdität wird man in einer Gegenwart sadistischer Pädophilie an Dostojewski denken. In dessen Werk »Die Brüder Karamasow« kann Iwan Karamasow nicht verstehen, dass unschuldige Kinder leiden müssen, dass der Mensch an Grausamkeit alle Tiere übertreffend sogar unschuldige Kinder quält. Diese zu Tode gequälten Kinder werden für ihn nicht dadurch gerächt, dass die Bösen in die Hölle kommen, die ohnehin für ihn mit einer Weltharmonie nicht in Einklang zu bringen wäre. Der Atheist Iwan Karamasow akzeptiert diese Welt nicht und darum auch nicht jenen Gott, der nach Meinung der Christen diese Welt geschaffen habe.

Aber nicht nur in der Geschichte, auch in der »reinen Natur« regiert die pure Brutalität. Leben kann sich nur auf Kosten anderen Lebens erhalten; Leben kann nur leben, wenn es anderes Leben vernichtet. Der katholische Christ Friedrich Dessauer schrieb einmal: »Der Blick auf das Unheil, das die ganze Welt durchzieht, das in jedem Augenblick Millionen von Lebewesen in seinem Griff hat, ist so grauenhaft, so heillos, dass wir im Grunde alle davon leben, dass wir nicht hinschauen, dem Anblick ausweichen, die Augen verschließen.«

Der tiefste Beweis für die Absurdität des Daseins ist doch, dass zwar alles Leben unbedingt leben will, aber dass es doch auch unbeirrbar auf den Tod programmiert ist. Nicht das Individuum, ganze Arten können durch Zufall und Laune der Natur vernichtet werden und sind vernichtet worden. Auch ist letztlich der »Sinn« des natürlichen Lebens gar nicht einmal die Erhaltung der Art, so dass wenigstens diese in einer Art Harmonie leben könne. Keineswegs ist nur der Mensch jenes ungeheuerliche Wesen, das gegen seine eigene Art wütet. Auch in der Tierwelt macht der Kampf um das Dasein vor der eigenen Art nicht Halt. In einer grausamen Hackordnung überleben nur die Starken, und die Schwachen müssen unbarmherzig verrecken. Ein junger Löwe, der den Nebenbuhler seiner begehrten Löwin vertrieben hat, frißt die von seinem »Vorgänger« gezeugten Jungen auf – nicht um die Erhaltung der Art, um das brutale Überleben des Individuums geht es auch in der »reinen Natur«.

In unserer seit vielen Jahrzehnten in Westeuropa sozial abgesicherten und auf Massenkonsum getrimmten Gesellschaft haben wir Verkehrsschilder aufgestellt, damit über die Straße wandernde Kröten nicht überfahren werden. Öko-Fans neigen dazu, die grausame Natur als Idylle zu verklären. Man träumt von der Aussöhnung zwischen Natur und Mensch, von einem Frieden auf Erden, der allbeseeligend Tiere und Menschen umfasst. Dieser Friede wird aber auf dieser Welt nicht realisierbar sein, weil die Natur und damit auch die Kreatur auf den Kampf um das Dasein hin strukturiert ist und weil nichts, aber auch gar nichts dafür spricht, dass der Mensch seine wirtschaftlichen, vitalen, ideologischen und religiösen Egoismen in dieser Welt jemals überwinden wird. Die Geschichte von der Steinzeit (oder wo immer der Anfang menschlicher Geschichte gesehen werden mag) bis zur Megabombe ist eine Geschichte der Herrschaft des Menschen über den Menschen und des Kampfes des Menschen gegen den Menschen.

Man sage nicht, irgendwo dahinten in der Geschichte, etwa bei den Griechen, im christlichen Mittelalter oder in der Aufklärungszeit habe es goldene Zeitalter gegeben. Sklaverei, Inquisition, Leibeigenschaft, revolutionärer Terror und immer wieder Hunger, Epidemien und Kriege durchziehen so oder so die Geschichte bis zum heutigen Tag.

Es ist die Absurdität in der Geschichte, in der Natur und im Menschen selbst, die es unmöglich macht, Sinnhaftes in dieser Welt zu erkennen. Keiner kann an dieser Welt so, wie sie ist, ablesen, dass ein lieber und gerechter Gott über ihr waltet. In seiner Kulturphilosophie zog Albert Schweitzer kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs das Resümee: »Meine Lösung des Problems ist, dass wir uns entschließen müssen, auf die optimistisch-ethische Deutung der Welt in jeder Weise zu verzichten. Nehmen wir die Welt, wie sie ist, so ist es unmöglich, ihr einen Sinn beizulegen, in dem die Zwecke und Ziele des Menschen sinnvoll sind … Ich glaube der erste im abendländischen Denken zu sein, der dieses niederschmetternde Ergebnis anzuerkennen wagt und in Bezug auf unser Wissen von der Welt absolut skeptisch ist, ohne damit zugleich auf Welt- und Lebensbejahung und Ethik zu verzichten.«

Viel zu wenig ist dieses wirklich revolutionäre Denken Albert Schweitzers erkannt und gewürdigt worden. Albert Schweitzers Erkenntnis war damals – vergleichbar etwa mit der Theologie Karl Barths – eine Revolution in der Kirchengeschichte, die ihresgleichen suchte.

Aber dies ist widerspruchsvoll: Im Juli 1923 forderte Schweitzer, dass »eine neue Renaissance kommen muss«, dass die Menschheit sich in einer »neuen Gesinnung erneuern muss, wenn sie nicht zugrunde gehen will.« Albert Schweitzer glaubte also an eine Erneuerung der Menschheit – so wie auch Dorothee Sölle bis heute daran glaubt und viele ihrer Brüder und Schwestern, die auf ökumenischen Treffs für Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung kämpfen.

Aber wo hat dieser Glaube die Basis in der Realität? Hat die urchristliche Gemeinde, so wie sie sich in ihren Schriften, eben im Neuen Testament, darstellt, an eine zukünftige Bewahrung dieser Welt und dieser Menschheit, an eine »neue Renaissance«, an Frieden und an Gerechtigkeit auf dieser Erde sowie an die Bewahrung dieser Schöpfung geglaubt? Ist diese sich christlich gebende und zweifellos wirklich heroisch darstellende »Weltanschauung« letzten Endes nicht doch nur eine Pervertierung christlicher Hoffnung, die das Heil und die Erlösung eben nicht auf dieser Welt erwartet? Ist nicht diese dahindämmernde Christlichkeit der letzte bürgerlich-idyllische Versuch, eine »bessere Welt« oder gar »heile Zukunft« herbeizuträumen?

6. Wesentlich ist, dass diese Welt nicht das Letzte, sondern das Vorletzte ist

Weder Jesus noch die Urgemeinde haben je gedacht, dass diese bestehende Welt so beschaffen sei, dass sie sich auf eine Welt des Friedens, der Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung »hinbewegen« würde. Man kann noch schärfer formulieren und in völliger Übereinstimmung mit den Schriften des Neuen Testamentes behaupten, dass Jesus und die Urgemeinde eine Sinnerfüllung des Lebens in dieser Welt verneint haben.

Mit dieser »Jenseitsposition« trennt ein unüberbrückbarer Graben die sogenannte moderne Theologie auf der einen Seite von der Botschaft der christlichen Urgemeinde auf der anderen Seite.

Inhalt der Verkündigung Jesu ist das kommende Reich Gottes, das sich nicht in und aus dieser irdischen Geschichte herausentwickelt. Vielmehr bringt es den totalen Bruch mit allem, was dieser Welt das Letzte und Höchste war und ist. Jesus und die Urgemeinde glaubten an einen neuen Himmel und an eine neue Erde, in welcher Friede und Gerechtigkeit in einer »neuen« Schöpfung wohnen.

Wenn es im Vaterunser heißt: »Dein Reich komme« und »Dein Wille geschehe, so wie im Himmel dann auch auf Erden«, dann ist damit eindeutig angesagt, dass erst in einem kommenden Reich, wenn die Erde durch Gottes Eingreifen radikal verwandelt wird, diese Welt zu einer neuen Schöpfung und der Wille Gottes zu seiner Vollendung gebracht werden.

Jesus predigt also das »übernatürliche«, das himmlische Reich, das am Ende der natürlichen Weltzeit anbricht. Dann würde er wiederkommen in Herrlichkeit. Diese Wiederkunft sollte aber nicht auf einem Höhepunkt, sondern in der Katastrophe dieser Weltzeit geschehen.

Der Triumph der Revolte gegen die Absurdität in der Verkündigung Jesu liegt in der Botschaft vom Ende dieser absurden Welt und vom Anbruch des Reiches Gottes.

Die urchristliche Gemeinde hat ganz und gar aus diesem und keinem anderen Protest gegen die Absurdität gelebt. Sie wollte nicht diese vorgegebene Welt verändern oder erlösen, sondern hoffte auf Gottes Sohn »aus dem Himmel«. Sie vertraute ganz und gar auf »unseren Herrn Jesus bei seiner Ankunft« und darauf, »dass er uns herausreiße aus der gegenwärtigen bösen Welt«. Der Christ lebte der Gewissheit, dass »die Gestalt dieser Welt vergeht« und dass die ganze Schöpfung, dass sich auch Tiere und Pflanzen nach dem Tag der »Offenbarwerdung der Söhne Gottes«, also nach dem Tag der großen und totalen Umwandlung dieser Schöpfung sehnen.

Die urchristliche Gemeinde lebte der Hoffnung und der Gewissheit, dass sie hier keine bleibende Stätte habe, sondern auf eine zukünftige Herrlichkeit hoffen dürfe (1.Kor.4,11). Diese Welt war für sie in jeder Weise nicht das Letzte und Endgültige, sondern nur das Vorletzte. Diese Endzeiterwartung der urchristlichen Gemeinde steht so sehr im Zentrum ihres Glaubens, dass die Verneinung dieser Enderwartung durch die überwiegende Mehrheit der zeitgenössischen Theologen die Preisgabe des Christentums in seinem Wesen bedeutet.

Es gibt etliche Hinweise darauf, dass die urchristliche Gemeinde sich diesem Ende nahe wusste. So wie man vom Rigi die schweizerischen Hochalpen mit den Händen greifen zu können meint, weil man den See und die Täler dazwischen nicht sieht, so haben gewiss viele in der Urgemeinde gemeint, dieses von Jesus verkündete Reich Gottes sei greifbar nahe. Man erinnere sich auch daran: Jeder Mensch weiß, dass er einmal sterben muss. Dieses Wissen unterscheidet ihn vom Tier. Er weiß aber nicht, wann dieser Zeitpunkt kommt – es kann je nach seinem Lebensalter Jahrzehnte dauern, es kann aber auch durch Unfall oder Krankheit plötzlich geschehen. Der Mensch mag plötzlich vom Tode überfallen werden, er kann aber auch auf die Stunde seines Todes – vielleicht ganz gegen seinen Willen – lange warten müssen. Die Frage nach dem Wann und Wie ändert jedoch nichts an der Tatsache des Endes und an dem Glauben, dass durch den Tod hindurch ein neues Leben in der endzeitlichen Auferstehung beginnt.

7. Wesentlich ist, dass diese Welt durch Gott vor dem Chaos bewahrt wird

Es wäre ein geradezu unheimliches Missverständnis der Bibel, wenn der Schöpfungsbericht, mit dem das Alte Testament beginnt, als Anfang oder Begründung einer absolut heilen und vollkommenen Welt verstanden würde. Dass der Schöpfungsbericht seit Jahrtausenden oft so missverstanden wurde, hängt mit der zur idyllischen Weltverklärung führenden Selbstverfremdung des Christentums zusammen, die vor der Absurdität dieser Welt die Augen verschloss und an das Ende dieser Welt und an den Anbruch einer neuen Schöpfung nicht mehr zu glauben wagte. Je mehr die endzeitliche Perspektive der Urgemeinde an den Rand der kirchlichen Lehre gesetzt wurde, umso mehr wurde die bestehende Welt – nicht nur die Schöpfung, sondern auch die jeweilige, herrschende Gesellschaftsordnung – verklärt und ganz und gar als »Ausdruck« eines göttlichen Willens verstanden. Das hat sich verhängnisvoll auf den Gang des christlichen Glaubens in dieser Welt ausgewirkt.

Umso wichtiger ist es gerade heute, in einer Zeit naturschwärmerischen Missverstehens dieser Welt zu bedenken, was dieser sogenannte biblische Schöpfungsbericht eigentlich meint, der mit den Worten beginnt: »Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war wüst und leer gewesen, Finsternis lag über dem Urmeer und ein Gottessturm schwebte über der Wasserfläche. Da spricht Gott: Es werde Licht und es ward Licht. Gott aber sah das Licht, dass es gut war. Dann schied Gott zwischen dem Licht und der Finsternis.«

Als das Bedeutsame steht in dieser Schöpfungsgeschichte: Schöpfung ist in sich von Anfang an eine Schöpfung gegen die Absurdität. Das »Urmeer« – oft auch mit »Tiefe«, wohl besser mit »Chaos-Meer« übersetzt — ist Ausdruck für das »kosmisch Abgründige«. Es ist der Schatten des Bösen von Anfang an, der als Absurdität am Rande der Schöpfung steht. Der Gottessturm geht aber über die bösartige Abgründigkeit des Chaosmeeres hinweg. »Wüste«, »Leere« und »Finsternis« meinen nicht, dass da etwas an dem von Gott gebauten Haus der Schöpfung noch nicht fertig sei. Hier ist vielmehr die Rede davon, »dass hinter allem Geschaffenen der Abgrund der Gestaltlosigkeit liegt, dass ferner alles Geschaffene ständig bereit ist, im Abgrund des Gestaltlosen zu versinken, dass also das Chaos schlechthin die Bedrohung alles Geschaffenen bedeutet …«. Und wenn es am Schluss des Schöpfungsberichtes heißt: »Und Gott sah alles, was er gemacht hatte und siehe, es war sehr gut…«, dann ist eben diese gute Schöpfung als »Wunder der Schöpfung aus seiner Negation heraus zu verstehen«, denn 1. Mose 1 »bewegt sich nicht so zwischen der Polarität Nichts und Geschaffenes als vielmehr zwischen der Polarität: Chaos und Kosmos«.

Die Schöpfung ist also darum gut, weil sie dem Bedrohlichen der Absurdität standhält und von Gott davor bewahrt wird, im Chaos zu versinken. Alles, was geschaffen ist, ist von ihm, durch ihn und zu ihm, wie der Apostel Paulus es formulierte (Röm.11,36). Eben gerade deswegen fällt die Schöpfung nicht in das Chaos zurück — bis auf den Tag, da ein neuer Himmel und eine neue Erde geschaffen werden. Die Bezeichnung als »gut« ist also zu verstehen in dem kämpferischen Sinne, dass der Absurdität, dem Bösen, dem Nichtigen widerstanden wird. »Gut« ist die Schöpfung, weil Gott sie davor bewahrt, in selbstzerstörerisches Chaos zu versinken.

Die Unterscheidung von Tag und Nacht ist mehr als eine Unterscheidung zwischen hell und dunkel. Sie meint die Spannung zwischen Licht und Finsternis: »Während der Tag Licht vom erschaffenen Urlicht ist, besteht die Nacht in nichts anderem als jenem ausgeschiedenen Chaosdunkel, jetzt allerdings von heilsamer Ordnung begrenzt.« In jeder Nacht — so beschreibt es der Alttestamentler Gerhard v. Rad – zerfließt die Gestaltenwelt der Schöpfung ins unheimlich Formlose, »gewinnt das Chaotische wieder eine gewisse Macht über das Geschaffene, und mit jedem Morgen wiederholt sich etwas von der ersten Schöpfung Gottes«. In der Nacht wurde Jesus verraten und gefangengenommen. An einem Morgen, mit dem Aufgehen des Lichtes, ist er von den Toten auferstanden. Die Tatsache, dass nur das Licht im Schöpfungswerk das Prädikat »gut« erhält, ist Ausdruck für die kosmische Bezwingung der Nacht. Am Ende der Zeit – so sagt Jesus es voraus – kommt die Nacht, da niemand mehr wirken kann (Joh.9,4), und der neue Himmel und die neue Erde sind dann der neue Tag einer neuen Schöpfung, in der keine Nacht mehr sein wird (Offb.21).

Die gute Schöpfung, in der wir heute leben, steht also in der Spannung von hell und dunkel, Tag und Nacht. Die Finsternis als Macht der Zerstörung kann real in diese Welt einbrechen mit Krankheit, Katastrophe und Tod. Die Macht der Absurdität, die in der Bibel, insbesondere im Neuen Testament auch »Satan« genannt wird, kann nach Jesu Worten geradezu auch als »Fürst dieser Welt« bezeichnet werden. In der Heilung an dem von dämonischen Mächten Besessenen kämpft Jesus gegen die Mächte der Absurdität, eben gegen das Satanisch-Absurde dieser Welt. Aufgrund dieser Erfahrung kann Jesus sagen, dass er wirkt, so wie sein Vater bisher wirkt (Joh.5,17), nämlich im Kampf für die Überwindung des Bösen, das als Absurdität diese Schöpfung gleichsam anspringt.

Die Bewahrung der Welt wird nicht mit dem idyllischen Tun eines Gärtners verglichen. In gewaltigen Bildern wird vielmehr in der Bibel aufgezeigt, dass Gott in einer permanenten Revolte, kämpfend und siegend dem Chaosmeer Tor und Riegel setzt. Die in der Sintflut gebändigten Chaosmächte umlagern bedrohend die Schöpfung, und als der streitende Erhalter setzt Gott diesen Mächten seine Grenze: »Gott hat den Raum der Welt erkämpft. Feindliche, aufrührerische Gewalten machen sie ihm streitig. Alle Zeit steht unter der Drohung des Zusammenbruches, der Vernichtung durch Verderben… Hier ist darum die Heimat der Bilder von Gott als dem kämpfenden Helfer«, schreibt der Züricher Alttestamentler L. Köhler in seiner Deutung der Schöpfungsgeschichte.

Der Gott der Bibel ist in der Revolte gegen die Absurdität in einem permanenten Kampf: Gebirge schmelzen, Täler spalten sich, der Himmel bebt, die Erde erschreckt, Berge beben und Hügel wanken, die Sterne verblassen, Sonne und Mond verfinstern sich. Das alles sind keine »mythologischen« Bilder, sondern spiegelt die reale Erkenntnis, dass auf dieser Welt das Leben des Menschen ungesichert ist und dass es einbezogen ist in die Revolte Gottes gegen die Absurdität. Von daher versteht sich der Sinn der prophetischen Trostrede: »Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen — spricht der Herr, dein Erbarmer« (Jes.54,10).

Das Volk Gottes, Israel und dann die christliche Gemeinde leben in der Revolte und werden in sie einbezogen. Die Chaosmacht aus der Natur und aus der Geschichte, natürlich auch die Absurdität im persönlichen Leben, kann nicht nur zuschlagen, sondern auch verwunden. Die Menschen leben als Verwundete in diesem Kampf gegen die Absurdität. Nicht nur die Natur steht gegen den Menschen auf, sondern auch der Mensch gegen den Menschen, der gottlose Chaosmensch gegen die auf Gott vertrauenden Ordnungsmenschen, die der Weisung Gottes leben.

»Geistliches« Leben meint dabei nicht, dass man permanent »high« ist. In diesem christlichen Leben gibt es Verwundete und Geschlagene, durch die Absurdität unter die Räder Gekommene — so wie Hiob, der seinen Besitz, seine Familie und seine Gesundheit verlor. Geistliches Leben meint auch nicht — auch das erkennen wir am Beispiel Hiobs — dass alles, was in unserem Leben passiert, als Lohn oder Strafe Gottes zu deuten wäre. Grundlos kann der Mensch unter die Räder kommen, aber dann bleibt ihm die Gewißheit: »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und als der Letzte wird er sich über den Staub erheben« (Hiob 19,25). Eben weil die Welt das Vorletzte ist, eben weil die Sinnhaftigkeit des Daseins nicht aus dem Dasein aus dieser Welt abgelesen werden soll und kann — darum können Glaube und Hoffnung über das Diesseits hinaus auf Gott hin wachgehalten werden. Man achte auf den Realismus, der sich in dem Psalmwort spiegelt: »Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist du doch, Gott, alle Zeit meines Herzens Trost und mein Teil.«

In seinem persönlichen Leben wird jeder in jeder Phase seines Lebens das Sinnhafte durchkämpfen müssen. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob es um die Liebe zwischen Mann und Frau, um einen politischen Auftrag, um ein berufliches Ziel oder um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen geht — immer ist die Absurdität im Sprung und will zerstören, was sinnvoll leben soll. Darum ist das Leben eines Glaubenden, Liebenden, Hoffenden und Bekennenden ein permanenter Kampf, der nie aufhört, solange er lebt. Dabei wird er immer die Erfahrung machen, dass auch das Schönste, dem er in seinem Leben begegnet, immer nur das Vorletzte sein kann. Das sogenannte Glück ist allenfalls ein Gleichnis dessen, was ihn in der himmlischen Welt erwartet. Er wird immer wieder erfahren müssen, dass alles Gute, Wahre und Schöne die Sinnerfüllung seines Lebens nicht bringt. Sie liegt nicht im Diesseits, sondern gerade in jenem Jenseits, das von der modernen Theologie so radikal verneint wird.

Dieser biblische Realismus meint nicht Resignation. Ganz im Gegenteil wird die frohe Botschaft, eben das Evangelium, vermittelt, dass der Glaubende überwindet und siegt. Durch alle Wunden hindurch, die ihm das Leben in dieser zwiespältigen Welt zufügt, wird er als Überwinder dastehen, weil das Vertrauen in Gott der Sieg ist, der die Welt überwunden hat (1.Joh.5,4). Das dramatische Leben des Christen ist täglicher Kampf, aber eben auch täglicher Sieg, weil der Glaube die Berge versetzt, die uns die Absurdität dieser Welt täglich in den Weg stellen will.

Warum ist es nun so, wie es ist? Warum dieses Drama der Schöpfung und der Geschichte, in das der Mensch kämpfend, leidend, verwundet und blutend aber auch überwindend und schlussendlich triumphierend einbezogen wird? Die Bibel gibt darauf keine Antwort. Sie spekuliert nicht und mythologisiert nicht. Es gibt keine Göttergeschichten, die erklären könnten, was schlussendlich doch nicht zu erklären ist. Insofern hat die Bibel kein System und auch keine Dogmatik. Die Frage nach dem Warum ist seit Hiob bis heute, solange wir nur durch einen Spiegel in einem dunklen Wort sehen, wie es der Apostel Paulus ausdrückt (1.Kor.13,12), unbeantwortet.Die Bibel hat kein System, sondern Geschichte, und diese erzählt von Erfahrungen mit dem offenbar gewordenen Gott. Sie bezeugt den Kampf gegen die Absurdität, antwortet aber nicht auf die Frage nach dem Warum und Woher dieser Absurdität. Gott ist allmächtig vom Ziel her, wenn alles Geschehen im Kosmos und in der Geschichte in Gott selbst seine Erfüllung gefunden hat, wenn Gott »alles in allem ist« (1.Kor.15,23). Erst dann — also in einem heute so leidenschaftlich verneinten Jenseits von Raum und Zeit — ist die Allmacht Gottes an ihrem Ziel, dann ist auch das Sinnlose zu seinem Sinn gekommen.

 

III. Urchristliche Existenz und nachchristliche Verfremdung

1. Glaube ist eine Sache des Herzens

Christlicher Glaube ist kein Umgang mit Begriffen, Systemen oder Dogmen. Christlicher Glaube ist auch keine »Weltanschauung«. Die Bibel hat keine Kosmologie, sie kennt keine Theorie über die Entstehung der Welt und liefert auch keine Prognose als Vorhersage über einen programmierten Ablauf der Geschehnisse, die sich einmal in der Zukunft ereignen werden. Sie hat das alles sowenig sie einen »Gottesbegriff« oder ein »Menschenbild« oder ein »Weltbild« hat.

In der Bibel geht es in der Erfahrung mit Gott durch die Mitte der Existenz, die in der Bibel »Herz« genannt wird. Man braucht nur eine Konkordanz biblischer Leitworte aufzuschlagen, um zu sehen, wie sehr das Wort »Herz« der Angelpunkt des den Menschen packenden Heilsgeschehnisses ist. Gott ist nicht Gegenstand der Reflexion oder gar der Spekulation. Er hat mit dieser Welt und mit den Menschen auf dieser Welt eine Geschichte. Es geht um ein Geschehen, das war und ist und kommen wird. Die Prophetie liegt nicht auf der Ebene der logistischen Analyse, sondern der die Zukunft erleuchtenden Offenbarung für das menschliche Herz. Die biblische Prophetie spricht nicht die menschliche Neugier an, sondern das menschliche Fragen nach Heil und Unheil. Dem Herzen wird in Bildern und Gleichnissen gesagt, was es im Blick auf die Zukunft fürchten, aber vor allem auch, was es hoffen und worauf es in aller Zukunft vertrauen kann.

Das Christentum ist also nicht eine »Sache mit Gott« (Heinz Zahrnt), sondern ein »Existieren mit Gott«. Die Bibel spricht unser Herz an — das gilt in gleicher Weise für das Alte wie auch für das Neue Testament. Wo unser Schatz, wo das Letztgültige unseres Lebens ist, da ist auch unser Herz, sagt Jesus in der Bergpredigt. Das Herz ist es, das Gott vertraut; und nicht auf Riten und Zeremonien, sondern auf die Sprache des Herzens kommt es an.

Wo Christen wirklich miteinander verbunden sind, da sind sie durch die Herzen miteinander verbunden. Wir sollten es uns schon hier hinter die Ohren schreiben, dass christliche Gemeinde entweder eine herzliche oder gar keine Gemeinde ist. Und das Herz ist es auch, in das die Liebe Gottes ausgegossen wird, und das Herz ist es, das mit Christus verbunden und eins ist (Röm.5,5). Und alles, was Christen auf dieser Welt miteinander und füreinander tun, das sollen sie mit dem Herzen tun (Kol.3,23). Die Urgemeinde glaubte tatsächlich an diese für uns fast unvorstellbare Gemeinschaft menschlicher Herzen.

 

Nun kann ein Herz auch »falsch spielen«, ein Herz kann sich verhärten oder — um es sachlicher auszudrücken — es kann sich ein Existenzwandel vollziehen und sich die Frage stellen, ob unser Herz heute noch für das schlägt, wofür dereinst das Herz der Urgemeinde schlug. Können wir im nachchristlichen Zeitalter noch so existieren, wie die Gläubigen im urchristlichen Zeitalter existierten?

 

Wir haben gesehen: Das Herz der Urchristen schlug nicht für diese Welt und die Dinge dieser Welt. Das Herz der Urchristen sehnte sich — um es einmal ganz untheologisch auszudrücken — über diese Welt hinaus nach dem Frieden mit Gott, den es eben auf dieser Welt nicht fand. Das urchristliche Herz war — nach dem bekannten Wort Augustins — unruhig, bis es Ruhe fand in Gott. Das Herz schlug für den Vater im Himmel.

 

Gerade diese Botschaft erfreute das Herz der urchristlichen Gemeinde, und es stellt sich nunmehr die Frage, ob es auch unser Herz erfreut und tröstet. Oder will das »moderne Herz des modernen Menschen« nur noch ganz und gar für die Dinge dieser Welt schlagen?

 

 

 

2. Schlägt der Menschen Herzen für diese oder für eine andere Welt?

 

Dorothee Sölle wurde einmal gefragt, ob für sie mit dem Tode alles aus sei. Die Theologin antwortete darauf, dass für sie die individuelle, geistige, seelische und körperliche Existenz mit dem Tode ende. Sie verstehe sich als Teil der Natur, des Kosmos, des Ganzen. Sie glaube aber daran, dass nach dem individuellen Tod das gesellschaftliche Leben als Kampf für Gerechtigkeit und Friede auf Erden weitergehe. Eindeutig verneint sie eine »individuelle Fortexistenz«, und sie möchte »auch nicht in die Lage kommen, daran glauben zu müssen«.

 

Ewigkeit ist für Dorothee Sölle mit dem Bau an einer Kathedrale zu vergleichen. Die Menschen, die damals im Mittelalter daran bauten, hätten diese Kathedralen ja auch nie fertig gesehen, aber einmal wurden sie fertig. Und so glaubt Frau Sölle daran, dass über ihren Tod hinaus die Kathedrale des Friedens, der Freude, der Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einmal fertig wird. Das ist ihre Ewigkeit, ihr Reich Gottes auf Erden.

 

Dieser Glaube ist zweifellos edel und bewunderungswürdig. Mit dem ursprünglich christlichen Glauben, mit dem Glauben Jesu, seiner Jünger und Apostel, mit dem Glauben der Urgemeinde hat er nicht nur gar nichts gemeinsam, sondern ist dessen unmittelbare Herausforderung und Verneinung.

 

Albert Schweitzer schrieb über das Zukunftsverständnis Jesu: »Das Reich Gottes, das er predigt, ist das himmlische, messianische Reich, das bei der Ankunft des Menschensohnes am Ende der natürlichen Weltzeit auf Erden anbrechen wird«. Davor werde es keinen Fortschritt, sondern die messianische Drangsalszeit geben, d. h. Katastrophen gesellschaftlichen und kosmischen Ausmaßes. Als erster Theologe der Leben-Jesu-Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts hat Albert Schweitzer diese revolutionäre Erkenntnis der Welt mitgeteilt, obgleich auch er nicht an diese von ihm betont herausgestellte urchristliche Botschaft persönlich glaubte.

 

Gegenwärtige Theologie ist fast einstimmig davon überzeugt, die Vision von einem Ende dieser Welt sei ein zeitgebundener Mythos gewesen. Christus sei nicht, wie damals erwartet, »alsbald« wiedergekommen. Damit sei — so meint der in den 50er und 60er Jahren die theologische Diskussion weit über Deutschlands Grenzen beherrschende Theologe Rudolf Bultmann—die »Naherwartung« erledigt, weil eben »die Weltgeschichte weiterlief und — wie jeder Zurechnungsfähige überzeugt ist — weiterlaufen wird«85. Der Glaube an ein Ende der Welt in Gesellschafts- und Naturkatastrophen ist für diese Art Theologie eine Art »mythisches Geschehen« und für modernes Denken nicht mehr akzeptabel.

 

Es meldet sich hier allerdings eine Frage: Wenn der Glaube an ein Weltende ein »Mythos« sein sollte, wäre dann nicht auch der Glaube an einen Fortschritt der Menschheit in Richtung auf Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung ebenfalls ein »Mythos«? Es gibt doch keinen nachweisbaren Grund zu der Annahme, dass sich solch ein Fortschrittsmythos auch nur irgendwie »wissenschaftlich« begründen lassen könnte.

 

Es gibt ja nicht nur religiöse, sondern auch politische Mythen. Wissenschaftlich — im Sinne nachprüfbarer Richtigkeit – ist keine Zukunftsvision zu begründen – weder die Reichs-Gottes-Verkündigung Jesu noch der kommunistische Zukunftstraum von Marx und Lenin noch die moderne öko-feministische Vision von einer Zukunft dieses Planeten in Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. In jedem Fall handelt es sich um Glaubensentscheidungen, um Religion im weiteren Sinne. Es geht gar nicht um die Frage, ob man sich religiös oder wissenschaftlich, sondern wie man sich religiös entscheiden will. Anders ausgedrückt: Die Frage nach der Zukunft bleibt immer eine Erkenntnis des Herzens und entbehrt der wissenschaftlichen Beweiskraft. Prophetie und Prognose sind zweierlei.

 

 

 

3. Ohne innerlichen Bruch kein Weg zum Heil

 

Der Glaube der Urchristen an ein Ende der Welt und an den Anbruch des Reiches Gottes bedeutet nun keineswegs, dass die Gläubigen passiv auf ein Ende der Welt gewartet hätten. Ganz im Gegenteil: Jesus ruft zur Umkehr auf und zum Umsturz aller Werte. Den Armen, den nach Gerechtigkeit Hungernden und den wegen der Gerechtigkeit Verfolgten, den nach Frieden Schmachtenden und nicht den Mächtigen, sondern den Sanftmütigen wird die Zukunft zugesprochen. Diese Zurückgestoßenen sehen nun den Sinn ihres Lebens, sie erhalten ein revolutionäres Bewusstsein. In der Tat: Den Armen wird das Evangelium verkündet. Aber nicht nur das: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Tote stehen auf6.

 

Es geschehen Wunder. Und diese Tatsachen zeigen in der urchristlichen Gemeinde, dass schon jetzt das Reich Gottes anbricht. Nicht, als ob das alles wäre — nein, das Entscheidende bringt die Zukunft, mit dem Ende der Weltzeit, dem Anfang einer neuen Schöpfung auf dieser Erde. Aber dieses letzte Ereignis leuchtet schon in diese Gegenwart hinein, die letzte Revolte, der Anbruch des Reiches Gottes schafft schon jetzt eine revolutionäre Wirklichkeit. Hier bleibt nur festzuhalten: Das geglaubte »Ende der Zeit« macht locker für den Kampf gegen die Absurditäten der Gegenwart — anders kann christliche Existenz nicht verstanden werden.

 

Die Urchristen haben niemals diese Welt verachtet, sie sind keine Asketen geworden, haben keine Kloster gegründet, haben sich nicht aus der Welt zurückgezogen. Sie lebten weiter inmitten der Welt. Jesus hat seine Jünger gerade in die Welt hinausgesandt. Aber diese Welt war für sie nicht mehr das Letztgültige: Ehe, Macht, Besitz, Ansehen – dies alles wurde relativ. Sogar das eigene Leben auf dieser Welt hatte nicht mehr den letzten und tiefsten Sinn: Wer sein Leben behalten will, wird es verlieren. Wer es um Jesu willen verliert, wird es gewinnen. So werden die Ersten auf dieser Welt die Letzten und die Letzten die Ersten sein; was auf dieser Welt hoch ist, wird niedrig, und was auf dieser Welt niedrig ist, wird groß sein im Reiche Gottes (Luk.13,30).

 

Das hat eine unmittelbare existentielle Bedeutung. Niemals wird der Christ von irgend jemandem oder von irgendetwas auf dieser Welt die Erfüllung, Sinngebung oder gar das »Glück« seines Daseins erträumen, erhoffen oder erwarten. Das ist keine Weltverachtung, aber darin gründet sich die Freiheit in dieser Welt gegenüber allem von dieser Welt: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« (Joh.8,32). Mit diesem Jesuswort wird christliches Freiheitsverständnis ganz und gar konkret.

 

Der Christ lebt in dieser Welt, aber revoltiert gegen sie. Er findet sich mit dieser Welt, so wie sie ist, nicht ab. Er wird durch diese Welt verwundet, ist immer ein Verwundeter in dieser Welt. Er revoltiert nicht nur gegen eine ungerechte Gesellschaft, sondern auch gegen sich selbst: gegen Lust- und Machtgier, Furchtsamkeit und Kleinmütigkeit, gegen Leere und Ausdruckslosigkeit seines Daseins, gegen Müdigkeit und Gleichgültigkeit und vor allem gegen die Lebensangst.

 

Jesus sucht nicht die ausgeglichenen, gesättigten und in Scheinsicherheit lebenden Frommen, sondern die gegen sich selbst revoltierenden Sünder, die an sich selbst und an der Welt Zerbrochenen, die die großen Abenteuer der Weltverliebtheit hinter sich haben, also die an sich selbst Verwundeten. Diese sind es, die die Nähe des Reiches Gottes schon innerlich gepackt haben, wenn sie sich aus der Misere ihres Daseins hinaussehnen und Hunger haben nach einem Frieden, den sie auf dieser Welt nicht erlangen können.

 

Es gibt keinen breiten, bequemen Weg zu der Wahrheit, die Christus verkündet. Buße und Reich Gottes und bei Paulus innerliches »Absterben« und »neue Kreatur« gehören zusammen. Wer nicht am Boden lag, der kann auch nicht aufgerichtet werden, und nur der Verzweifelte weiß, was Trost ist. Ohne Bruch, ohne Zerreißprobe, ohne Aufruhr gegen sich selbst keine christliche Existenz. Aber aus dieser Zerreißprobe heraus wächst das Vertrauen.

 

Die Botschaft Jesu vom Reiche Gottes bewirkt die Freiheit von der Welt und die Freiheit von der Angst in dieser Welt: »Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die zu uns kommt durch den Messias Jesus, unseren Herrn.« Denn der am Kreuz durch die Absurdität dieser Welt gestorbene Christus ist auferstanden. Und der erste Schritt der Jünger nach der Auferstehung Christi ist nicht die Formulierung einer Doktrin, sondern das Vertrauen in die unmittelbare persönliche Bedeutung: »… so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein«.

 

 

 

4. Warum Kreuz und Kreuzigung?

 

Im Januar 1942 öffnete Adolf Hitler im Führerhauptquartier in Rastenburg, tief in den ostpreußischen Wäldern, nach getaner Arbeit vor etlichen Treuesten seiner Getreuen sein Herz und sprach über die elementaren Fragen des Lebens und Sterbens. Dabei wurde natürlich auch über Religion gesprochen, und der »Führer« machte kein Hehl daraus, dass das Christentum für ihn gestorben sei. Das Christentum hätte nur »eine ganz kurze Epoche der Menschheit« umfasst und in der sei es schuld am Untergang des römischen Weltreiches geworden. Das Drama der Erlösung, wie es sich im Christentum darstelle, erschien dem Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht lächerlich. Hitler erklärte (es wird etwa die Zeit gewesen sein, in der er mit Himmler die Endlösung der »Judenfrage« durchsprach): »Gott schafft die Menschen. Zum Menschen werden sie durch die Todsünde. Die Voraussetzung dazu hat Gott den Menschen gegeben. Fünf hunderttausend Jahre sieht er zu, wie sie da reinrasseln. Da fällt ihm ein, seinen eingeborenen Sohn zu schicken. Ein Mordsumweg, kolossal beschwerlich der ganze Vorgang. Die anderen glauben das nicht, mit Gewalt muss ihnen das aufgezwungen werden. Wenn der liebe Gott an der Erkenntnis ein Interesse hätte, wozu dann die Knieschienen und Daumenschrauben?«

 

Hitler versteht nicht: Der »liebe Gott« schafft eine absurde Welt und absurde Menschen, und dann schickt er seinen Erlöser, damit er sie aus dieser Absurdität erlöst. Was für ein seltsames Theater!

 

Es war natürlich nicht nur Hitler, der den Kern der christlichen Erlösungslehre so radikal missverstand und verneinte. Dass die sündige Menschheit durch das »Blut Christi« erlöst würde, kann nach der Meinung des Psychologen und Psychiaters Franz Buggle zu einer lebenslang wirksamen Quelle »interner tiefliegender Ängste und aggressiver Impulse sowie eines bedrohlich-verdüsterten Weltbildes werden«. Was für ein »archaisches, extrem inhuman und grausames Gottesbild«? Buggle fragt sich, wie solch ein Versöhnungstod von einem großen Theologen wie Karl Barth als »gnädige Fügung Gottes« beurteilt werden konnte. Er vermisst bei den Theologen die klare Antwort auf die ebenso klare Frage, warum denn nach diesem »abgeltenden Sühnopfer« dieser versöhnte Gott nicht »endlich das Reich Gottes anbrechen lässt und die Menschen wirklich erlöst«. Warum also nach der Quälerei am Kreuz immer wieder und immer weiter das Leiden? Warum dieses grausame Erlösungsdrama, das die Menschheit ja gar nicht – bis heute wenigstens – erlöst habe? Der Psychiater Franz Buggle – und mit ihm natürlich eine Heerschar anderer am Christentum Verzweifelnder – kann nicht verstehen, wie Theologen – auch moderne Theologen – es in einer Massierung von »Wortwolken« fertigbringen, diesen »konkret-blutigen Sühnetod«, die »grausame und qualvolle Hinrichtung« noch als »Gnade« zu besingen.

 

Nun hätte Franz Buggle allerdings auch eine stattliche Zahl hochangesehener evangelischer Theologen benennen können, die, wie dereinst Rudolf Bultmann, durchaus auf der Seite des »modernen Menschen« stehen und es vollauf bejahten, dass man heute »die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch den Tod Christi nicht verstehen« kann. Denn – so Rudolf Bultmann – »welche primitiven Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrunde? Welch primitiver Gottesbegriff? … welche primitive Mythologie, dass ein Mensch gewordenes Gotteswesen durch sein Blut die Sünde der Menschen sühnt!«

 

Nicht nur die hier Genannten, nicht nur Adolf Hitler, Franz Buggle und Rudolf Bultmann und mit ihm eine Heerschar von Theologen nahmen Anstoß an dieser Art von Versöhnungs- und Erlösungslehre. Das Judentum hatte von Anfang an, also seit 2000 Jahren dieser christlichen Versöhnungslehre widersprochen und hier ein Hauptargument für die Abspaltung des Judentums vom Christentum (oder umgekehrt) gesehen.

 

Im Januar 1770 schrieb der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn an den Erbprinzen von Braunschweig-Wolfenbüttel, »er könne nicht an die Genugtuung und Befriedigung der ersten Person in der Gottheit durch das Leiden und den Tod der erniedrigten zweiten Person und noch vieles andere diesem ähnliche bei Verlust« seiner »ewigen Seligkeit glauben«. Die »Lehre von der Genugtuung und Befriedigung der göttlichen Strafgerechtigkeit« wünsche er »reformiert« zu sehen. Dass ein »Unschuldiger die Schuld eines anderen trage, und wenn er sie auch freiwillig übernehme«, könne nach seiner Auffassung nicht zugelassen werden.

 

Nun ist die Lehre vom »Sühnetod Christi« zweifellos eine Kernaussage des Neuen Testamentes, und die Reformatoren, vor allem Luther und Calvin, haben sie zur Lehrmitte ihres reformatorischen Zeugnisses gemacht. Aber von dieser »Lehrmitte« rückte man alsbald ab, und unter den Protestanten hat um die Jahrhundertwende Adolf von Harnack, eine Art König unter den Theologen als Professor in Berlin, in seinem Buch »Wesen des Christentums« mit dieser »Lebensmitte« aufgeräumt. Entscheidend – ganz im Sinne einer Division von Theologen aller Länder – waren die einfachen Sätze: »Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, so wie es Jesus verkündigt hat, hinein.« Dass der Sohn den Vater versöhnt durch sein Blut am Kreuz – dieser »Mythos« war damit erledigt. Ein Wandel, ein Bruch hatte sich in der evangelischen Kirche abgespielt – ohne dass das Kirchenvolk in seiner überwältigenden Mehrheit das überhaupt bemerkte und ohne dass sich dadurch auch nur irgend etwas am »Rhythmus des kirchlichen Lebens« geändert hätte.

 

Die Verneinung von Versöhnung und Sühne am Kreuz hat heute andere Töne. Die feministische Philosophin Mary Daly versteht mit ihrer großen Schar von Anhängern das Kreuz als »symbolisches Instrument der Frauenunterdrückung«. Dorothee Sölle, die zum engeren Kreis der Anhänger Rudolf Bultmanns gehörte, ging über ihr Leitbild weit hinaus und zeichnete in ihrem Buch »Leiden« (1972) so etwas wie ein Panorama der feministisch-theologischen Kritik am Kreuzestod Christi. Da ist von Sadismus gegenüber einem Gott, der Opfer brauche, von einem Kreuz als Unterdrückung der Menschen und von »spezifisch Frauen unterdrückendem Charakter von Kreuzestheologen« die Rede. Die gesellschaftliche Forderung an die Frauen, sich für die Familie zu opfern, wäre durch die Kreuzestheologie nur noch stärker geworden. Dadurch, dass eben nur das Kreuz Christi das geforderte Opfer sein solle, würde »das Martyrium von Frauen und Männern in Geschichte und Gegenwart unsichtbar gemacht und eine eigenständig handelnde Nachfolge Christi verhindert«.

 

Parallel hierzu sollte man einen Kernsatz aus der Kreuzestheologie des Apostels Paulus lesen: »Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es eine Gotteskraft.« Dass das Kreuz ein Mittelpunkt neutestamentlicher Botschaft ist, wird jeder »neutrale« Religionshistoriker bestätigen. Dass nach diesen Sätzen Frau Sölle zu den Verlorenen zählen müsste, wäre dann ein theologisches Urteil, das ich aber bis heute noch nie gehört habe.

 

Im Blick auf Versöhnung und Erlösung stehen wir vor einem zentralen Aussagegehalt des Christentums und stellen dabei mit Entsetzen fest, dass die Fürsten unter den Christen, eben die Theologen sich keineswegs darüber einig sind, was uns die Botschaft vom Kreuz noch zu sagen hat. Warum das Kreuz? Warum hing der Erlöser Jesus Christus am Kreuz?

 

Heil ist Heilsgeschichte — biblische Geschichte. Darum ist es sinnerhellend, einen kurzen Blick auf Opfer und Sinn des Opfers im Alten Testament zu werfen. Am großen Versöhnungstag (neuhebräisch jom kippur, heute noch der bedeutsamste Festtag jüdischer Religion) wurde in vorchristlicher Zeit ein Tier als Sündopfer geschlachtet und ein anderes in die Wüste geschickt, nachdem der Hohepriester beide Hände auf den Kopf des Tieres gelegt und die Sünden des Volkes bekannt hatte: »… dass also der Bock alle ihre Missetat auf sich nehme und in die Wildnis trage; und man lasse ihn in der Wüste« (3. Mose 16, 23).

 

Wäre diese Begebenheit nicht ein Beispiel dafür, in welch primitiver Weise sich das Alte Testament die Versöhnung mit Gott – eben durch ein Tieropfer – vorstellt? Vor Jahrzehnten hat der Theologe Jürgen Moltmann noch einmal daran erinnert, dass das Alte Testament überhaupt keine Sühne- oder Versöhnungslehre kenne. Denn jeder Israelit habe beim Schuldopfer am Versöhnungstage gewusst: Mit dem Tier, das geopfert wird, stirbt der Opfernde selbst. Nicht das Tier, sondern der Opfernde hat den Tod verdient. Das Opfer veranschaulicht in einem Ritus, den wir heute nicht mehr verinnerlichen und nachvollziehen können, diese Wahrheit: Die Absurdität, die den Menschen besetzt und gefangenhält, muss vernichtet, getötet, eben in die Wüste geschickt werden.

 

Opfer als Sühnopfer war der symbolische Ausdruck dafür, dass ein Leben ohne Aufopferung der Absurdität kein lebenswertes Leben sein kann. Opfer ist die radikale Revolte gegen das Absurde in uns selbst. Ohne Opfer kein Menschsein – das ist eine Grunderfahrung des Daseins, die sich so oder so ähnlich in allen Religionen widerspiegelt.

 

Die sog. Schuldopfer im Alten Testament waren immer Brandopfer. Der Sinn war: Die Absurdität des Bösen muss verbrannt, vernichtet werden. Das geschieht auf dem Altar des Gottes der Revolte, der die Vernichtung der Absurdität einfordert. Das Opfer ist also symbolischer Ausdruck für die Radikalität der Revolte des Menschen gegen sich selbst. Keine Revolte ohne Opfer!

 

Der Christ weiß, dass er es Gott schuldig ist, das Böse in seinem Herzen zu überwinden. Der Christ ist gerade hier Schuldner Gottes. Er will ein anderer, ein neuer Mensch werden, auch wenn diese Wiedergeburt nur durch den Schmerz hindurchgehen kann. Wer Christ wird, weiß, dass er seinem alten Leben absterben muss, um ein neues Leben zu beginnen.

 

Wer in seinem Herzen von Gott getroffen wurde, wer den Anruf Gottes hört und seinen Appell in seinem Gewissen vernimmt, der gerät in eine Revolte gegen sich selbst. Wer das neue Leben in Glaube, Liebe und Hoffnung und im Frieden mit sich selbst gewinnen will, der will und muss sein altes Leben verlieren. Wer Christ wird, gerät also in eine Spannung, die der Apostel Paulus einmal so ausgedrückt hat: »Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?«

 

Aber was hat das mit dem Kreuz Christi zu tun?

 

Die Urgemeinde wusste, dass Christus ein Opfer der Verfolgung machtgieriger Priester und narzisstischer Frommer wurde, die nicht Gott, sondern die Verwirklichung ihres Ich suchten – mit religiösem Überbau, versteht sich.

 

Jesus war ein Opfer egomaner Religion (und welche Religion ist nicht egoistisch?) und eines Staates, der unfähig war, das Recht zu schützen. Jesus war das Opfer der Absurdität in dieser Welt.

 

Die Christen blieben aber bei dieser vordergründigen Betrachtung nicht stehen: Dieser Tod Christi am Kreuz war nicht ein Zufall unter anderen Zufällen der Weltgeschichte. Die Absurdität dieser Welt schlechthin hat Christus gekreuzigt, und die Christen wussten, dass nicht nur Hohepriester, Schriftgelehrte und Pontius Pilatus, sondern dass im Grunde ihre eigene Absurdität Christus gekreuzigt hatte, ihre Absurdität des Gierens nach Macht, das gerade bei den »Religiösen« in eines jeden Menschen Herz tobt.

 

Christus war ein Opfer der Sünde dieser Welt – da gerade, wo sie am schärfsten hervorbricht, nämlich in der Religion und in der Ideologie.

 

Aus jüdischer Tradition kommend, sah die Urgemeinde im Kreuz Christi einen noch tieferen Sinn: So, wie am Jom Kippur sich die Gemeinde mit dem Opfertier identifizierte, ja selbst den Tod des Opfertieres innerlich mitstarb, so identifizierte sich nun die urchristliche Gemeinde mit dem Tode Christi am Kreuz. Anders ausgedrückt: Mit diesem Opfer der Absurdität am Kreuz müssen wir uns identifizieren – wir werden selbst gekreuzigt. Sein Tod muss der Tod unserer eigenen Absurdität werden.

 

Wer auf diesen Gekreuzigten und Auferstandenen sieht, wird darum — so formulierte es Paulus — »ein Leib in Christus«, der hängt selbst mit Christus am Kreuz, der wird selbst gekreuzigt. Er wird seinem Leben und »seinem Tode gleichgestaltet« (Phil.3,10) und damit auch seiner Auferstehung.

 

Vor Christus spielt sich keine von außerhalb zu betrachtende Göttergeschichte, keine göttliche Tragödie ab. Der Christ glaubt daran, dass am Kreuz seine eigene Absurdität, die die Bibel auch »Fleisch« nennt, gekreuzigt wird (Gal.5,24).

 

Albert Schweitzer hat dieses Einssein mit der Christusgestalt – so, wie es die Urgemeinde erfuhr – einmal so ausgedrückt: »Durch das Sein in Christus ist also das Eine erreicht, dass die Verbindung zwischen den Erwählten und Gott hergestellt ist. Sie sind in den Weltverlauf eingereiht, der seine Richtung wieder auf Gott zu nimmt.« Glaube an Christus ist ein »reales Mitsterben seines Sterbens und seines Auferstehens«.

 

Aber noch einmal: Das alles kann nicht theoretisch betrachtet, sondern muss, wenn man denn Christ wird, »real-dramatisch« durchlebt und damit im Herzen ausgetragen werden. Ohne das Drama dieser Kreuzigung und der auf sie folgenden Auferstehung zu einem neuen Leben ist Christwerden undenkbar.

 

Es geht also um einen dramatischen Lebensprozess, den der Apostel Paulus so beschreibt: »Wir, die wir leben, werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserm sterblichen Fleisch.«

 

Der Christ identifiziert sich also mit Christus: Er durchleidet die Qual der Absurdität, aber auch den Triumph der Revolte über diese Absurdität – und das sein ganzes Leben hindurch. Wer sich mit Christus identifiziert, erfährt, dass seine Schuld vernichtet wird. Darum identifiziert er sich auch mit dem Triumph über die Absurdität in der Auferstehung.

 

Das alles aber ist Gnade, Vergebung, Versöhnung, denn das Einssein mit Christus ist ja nicht Selbstfindung, sondern Hinwendung zu dem Gott der Revolte, der in Christus selbst die Absurdität durchlitten und überwunden hat. Der Christ ist in Gottes Hand.

 

Dieser Weg wird auch »Versöhnung« genannt. »Versöhnen« bedeutet im Hebräischen »aufdecken« (kippar). Im Gottesdienst wird die Schuld aufgedeckt und auf das Opfertier übertragen. Im Griechischen wurde sinngemäß das Wort katallasso gebraucht. Es bedeutet eigentlich »austauschen, verwechseln«, meint also den Austausch auch im Sinne einer tiefgreifenden Änderung. Nach diesem Sprachsinn tauscht der Christ sein Leben mit dem Leben Christi aus.

 

Wir halten fest: Ein Gerechter wird gekreuzigt. Aber die Gemeinde nimmt das nicht als Zufall. Sie weiß sich mit diesem Gekreuzigten so eins, dass sie bekennt: Mit ihm wurde unsere eigene Sünde, unsere eigene Absurdität gekreuzigt. In der Auferstehung Christi, dem entscheidenden Zeichen des Neuen Testamentes, wurde der Gemeinde deutlich, dass in diesem geschichtlichen Ereignis Gott selbst am Werke ist. Und der Gott der Revolte, der die Absurdität überwindet, trägt uns durch die Hölle der Absurdität hindurch. Die Bibel nennt das »Gnade«.

 

Wer dieses Christusdrama nicht durchexerziert, ist kein Christ. Man kann nicht sagen: »Christus ist für mich gestorben«, ohne diesen Tod in sich selbst mitzuvollziehen. Christen sind nicht Zuschauer einer Göttergeschichte.

 

Es gibt »eine gewisse rechtgläubige christliche Bürgerlichkeit«, die ihren Ursprung hat in der »Art und Weise, wie sie den althergebrachten Lebensstil des Zechens auf Christi Kreide zu praktizieren weiß« mit einem oft »erstaunlich beruhigten Gewissen«.

 

Das Christentum der billigen Gnade, wie wir es zu allen Zeiten in breiter Selbstdarstellung finden, ist unglaubwürdig. Die billige Gnade ist aber der Basiswert vieler Kirchenzeitungen, die dem Leser weismachen, dass wir alle von Gott »angenommen« sind und wir nun unsererseits allen Menschen unsere »Zuwendung« schenken müssten. Diese billige Gnade, so argumentierte einst Dietrich Bonhoeffer, ist der Todfeind des Christentums.

 

Gnade, Vergebung sind ohne Versöhnung – also ohne Sühne – undenkbar. Für die urchristliche Gemeinde war der Tod Christi am Kreuz ein stellvertretendes Leiden darum, weil die ganze Misere der Welt, ihr ganzer Abschaum, die volle Wucht der Absurdität gerade über ihm zusammenbrach. Dabei – und das ist ganz entscheidend – sieht der Christ auch seine eigene, höchstpersönliche Schuld über dieses Kreuz hereinbrechen. Aber auch diese Schuld wird am Kreuz nun wirklich stellvertretend für ihn selbst überwunden.

 

Ohne die Qual der Buße, ohne Reue, ohne Kreuzigung der Absurdität in uns selbst, also ohne Sühne keine Gnade. Gnade setzt die Versöhnung voraus. Es geht nicht um einen erzürnten Gott gnädig zu stimmen, ihm Wohlwollen durch die »Rechtgläubigkeit« und damit gute Tage abzuringen, sondern um den Weg der Revolte bis zum bitteren Ende, dann aber auch bis in die Auferstehung hinein zu einem neuen Leben.

 

 

 

5. Wie Theologen bis heute »Jesusgespenster« produzieren

 

Auf die Frage: »Wer war Jesus«? gibt und gab es viele Antworten: der von Israel erwartete Messias, der »Menschensohn«, der am Ende der Zeit offenbar wird, der Sohn Gottes, der Prophet, der Vorläufer des Messias – oder vielleicht nur ein außergewöhnlicher Mensch. Es gibt auch etliche, die Bücher darüber geschrieben haben, dass Jesus gar nicht gelebt habe und nur die Projektion der Erlösungssehnsucht seiner Gemeinde gewesen sei (A.Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung,1951). Viele meinen auch, Jesus sei nur ein besonderer Rabbi unter anderen gewesen – vielleicht nur ein Wunder wirkender Wanderrabbi. Alle diese Vorstellungen und Antworten und noch viel mehr sind in der unerschöpflichen Phantasie der Theologen in einem breiten und unaufhörlich dahinfließenden Strom von Schriften produziert worden.

 

Jedes Zeitalter hat eigentlich auch sein eigentliches Jesusbild gehabt. Das ging, in groben Zügen dargestellt, von Jesus dem Pantokrator, dem All-Herrscher, der die bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen ganz und gar absegnete, bis hin zum Menschenbruder, der ein neues Reich der freiheitlichen Brüderlichkeit auf Erden aufrichten will.

 

Da man heute in einem frauen-emanzipatorischen Zeitalter lebt, ist es nur folgerichtig, wenn Jesus nun aus der Perspektive der Frau gesehen werden soll. Frauen wollen, ausgehend von den Evangelien, Bilder und Deutungsmodelle Jesu Christi entwerfen, die auch für die Frau befreiend sind. Da meint die Theo-Psychologin Hanna Wolff (Jesus, der Gesalbte der Frauen, 1987), Jesus habe als erster Mann in der Geschichte der Menschheit den Männlichkeitswahn und seine Männlichkeitssymbolik – auch Androzentrik genannt – durchbrochen. Es sei die patriarchalische, jüdische Umwelt gewesen, die Jesus überwunden habe.

 

Für Christa Mulack ist Jesus der »Gesalbte der Frauen«. Erst durch die Begegnung mit Frauen – so Christa Mulack – lernte Jesus, über welche heilenden Kräfte die Frau verfügt: Barmherzigkeit, Liebesfähigkeit, Ganzheitlichkeit, Geschwisterlichkeit usw. Jesus werde überhaupt erst »ein Jesus« durch die Frauen. Die Frauen – eine Frau salbt ihn bekanntlich, bevor er seinen Weg zum Kreuz von Jerusalem gehen muss – salben Jesus gleichsam zum Messias der Frauen, damit er das frauliche, sanfte, herrschaftsfreie, liebevolle, verständigungsbereite und mütterlich-bergende Element erlösend in die Welt einbringen könne. Darum verstehen die matriarchalisch denkenden Theologenfrauen die Auferstehung Jesu als ein Symbol dafür, dass die Weisheit der Frauen in seinen Nachfolgern und Nachfolgerinnen als eine unzerstörbare Kraft weiterlebt. So sollen Liebe und wirkliches Leben, Befreiung, Bewahrung der Schöpfung und sanfte Gerechtigkeit vor allem auch für die Dritte Welt wie das Leben spendende Menstruationsblut die ganze Erde befruchten. Ganz konkret wird darum eine gründliche Revision des Christentums verlangt, eine neue Vision vom Wesen des Christentums, die sich schon gegenwärtig mit erstaunlicher Kraft durchsetzt.

 

Viele Zeiten, viele Ideen, viele Jesusbilder. Aber ist es »christlich«, dass jede Zeit ihr eigenes Jesusbild hat? Existiert kein »realer« Jesus hinter diesen Bildern? Lebten und leben wir mit Jesus-Vorstellungen, Jesus-Projektionen, Jesus-Wünschen, ohne den wirklichen Jesus überhaupt zu kennen? Haben wir geglaubt, glauben wir immer nur an einen Jesus, der gerade en vogue ist?

 

 

 

6. Urchristliche Existenz erfuhr in Jesus den »Sohn Gottes«

 

In der urchristlichen Gemeinde gab es viele Namen für Jesus: Jesus als der Christus, d. h. der Gesalbte, also der Messias; der Menschensohn, der nach einer Vision des Propheten Daniel, vom Himmel her ein neues Zeitalter einleiten sollte; Jesus als der Logos, das Wort Gottes, das Fleisch wurde; und dann Jesus als der Sohn Gottes. In diesem Kapitel bewegt uns nun die Frage, wieso und warum Jesus »Sohn Gottes« genannt wurde.

 

Im ersten Johannesbrief ist Jesus der Sohn Gottes, von dem sogar gesagt wird: »Dieser ist der wahrhaftige Gott« (1.Joh.5,20), und der Apostel Paulus nennt Jesus »das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol.1,15). Der Apostel betont, dass dieser Sohn Gottes seine Göttlichkeit nicht für sich selbst festhielt, sondern dass er sich erniedrigte, Mensch wurde und dann gehorsam war bis zum Tode am Kreuz (Phil.2,6).

 

War Jesus ein Gott neben Gott? Handelt es sich also um zwei Götter, denen sich später in der Gestalt des Heiligen Geistes noch ein dritter Gott »hinzugesellte«? Glaube an den dreieinigen Gott als Glaube an drei Götter?

 

Judentum und Islam haben hier die größten Schwierigkeiten mit dem Christentum — ist nicht da der Glaube an den einen, einzigen Gott, wie er im Alten Testament ausdrücklich bekannt wird, der keine Götter neben sich duldet, verraten worden? Ist das Christentum zu einem Aktionsfeld mehrerer Götter geworden? Ist das Christentum eine neue Religion? Hat die christliche Urgemeinde mit der Religion des Alten Testamentes, mit Mose und den Propheten endgültig gebrochen?

 

Sie hat das ganz eindeutig nicht. Das Urchristentum gehört zu der einen »Biblischen Religion«. Jesus verweist ausdrücklich darauf, dass die »Schrift« — das waren für ihn »Mose und die Propheten« — von ihm zeugt (Luk.16,29). Jesus erklärt ebenso ausdrücklich, dass diese »Schrift« nicht gebrochen werden kann. Dass Jesus aus den »Schriften« prophezeit und nach »den Schriften« gelehrt, gelitten habe (Joh.10,36) und auferstanden sei, dass man nur in diesen Schriften forschen müsse, um zu erkennen, dass Jesus der verheißene, eben vorausgesagte Messias (Christus) sei, ist durchgängige, felsenfeste Überzeugung der urchristlichen Gemeinde, die gemäß dieser Schriften an einen einzigen Gott und nicht an zwei oder drei Götter geglaubt hat.

 

Es hat Theologen gegeben – Rudolf Bultmann war ihr Vordenker -, die fest entschlossen waren, das Neue Testament zu entmythologisieren, d. h. von seinen Mythen zu befreien, um den Aussagekern dem modernen Menschen verständlich zu machen. Dieser Weg war schon darum ein Irrweg, weil das Neue Testament keinen Mythos und schon gar keine Mythologie kennt. Das Problem ist nicht, das Neue Testament zu entmythologisieren. Aufgabe ist es, die Mythologisierung des Neuen Testamentes in der Geschichte des Christentums aufzudecken. Aus dem Glauben der urchristlichen Gemeinde, wie er sich in den Schriften des Neuen Testamentes darstellt, hat man im Laufe der Geschichte – schon gleich in den ersten Jahrhunderten – einen Mythos gemacht. Dieser Mythos muss entlarvt und die eigentlichen Aussagegehalte der Urgemeinde müssen neu ans Licht treten.

 

Mit der Frage, wer Jesus »wesentlich« war – ob das »Wesen« Jesu göttlich oder menschlich war -, gehen wir schon in die Irre. Der Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt – dessen Theologie ich in manchem kritisch gegenüberstehe – hat in einem viel zu wenig bekannten Werk daran erinnert, dass die deutsche Sprache sehr stark geprägt ist von den Hilfszeitwörtern »ist« und »sein«. Wenn wir aber nun die Frage stellen, wer Jesus »war« oder wer er »ist«, dann zwingen wir – nach der Meinung Marquardts – dem biblischen Gottesverständnis eine falsche Fragestellung auf, weil wir dann »Gefangene der heidnischen Seinsfrage« geworden sind. In der Bibel sei niemals die Rede davon, wer Gott ist, sondern davon, was Gott tut. Auch von Jesus – so folgert Marquardt – können wir nicht »im Banne der Sprache des Seins, der Ruhe sprechen«. Entscheidend sei nicht, wer Jesus war oder ist, sondern was er tat.

 

Das in der Bibel am häufigsten vorkommende Wort für Gott ist Jahweh. Dieser Name, den die frommen Juden nicht aussprechen und umschreiben, meint: »Ich werde sein, der ich sein werde« (2.Mose 3,12). Schon dieser Gottesname ist keine »Wesensbestimmung«, keine grundsätzliche Beschreibung Gottes, und darum kennt auch die »Biblische Religion« kein Begriffssystem angesichts dieses Gottesnamens. Abraham, der »Vater aller Gläubigen«, hört: »Ich bin Jahweh, der dich aus Ur in Chaldäa geführt hat«. Hier ist also gleich von einem Tun Gottes die Rede — nicht das »Wesen«, sondern das Handeln Gottes ist entscheidend. Der Auszug aus dem götzendienerischen Ur ist Handeln Gottes als Revolte gegen die Absurdität des Götzendienstes in dem Land, aus dem Abraham herausgerufen wurde. Als Moses den Namen Jahweh hört, bekommt er sofort den Auftrag, zu seinem Volk zu gehen, um es aus der Sklaverei Ägyptens herauszuführen: Der Gott der Revolte ruft in das Tun der Revolte. Gott ist nicht ein »Wesen« oder »Sein«, sondern das Tun der Revolte.

 

Ich erschrecke immer wieder zutiefst, wenn ich sogar von bibeltreuen Theologen gebeten werde, über den »Gottesbegriff« oder gar das »Gottesbild« der Bibel einen Vortrag zu halten. Denkt man nicht daran, dass das zweite Gebot ausdrücklich verbietet, sich von Gott ein Bild zu machen? Das Bild ist Ruhe – Gott aber ist Bewegung. Das Bild stellt Gott dar – Gott ist aber nicht darstellbar, weil er in unsere Anschauungsform von Raum und Zeit und die Kategorien unseres Denkens nicht einzubringen ist.

 

Es bleibt darum völlig ausgeschlossen, »objektive« Aussagen über Gott zu »machen«, weil Gott kein »Gemächte« und kein »Objekt« unseres Denkens ist. Ein Objekt ist beherrscht durch das Wissen – Gott ist nicht beherrschbar, sonst wäre er kein Gott. Im europäischen Denken hat man diese »Kritik der Vernunft« nicht immer hinreichend bedacht und geriet so in Gefahr, nicht nur Gott, sondern auch Jesus den Christus zum »Objekt« unseres auf Herrschaft zielenden Wissens zu machen. Die Konsequenz war, dass aus dem Christentum eine Ideologie wurde. Schließlich hat das akademische Zerreden biblischer Inhalte zum »Tode Gottes« in unserer spätabendländischen Kultur geführt.

 

Für die Begegnung mit Jesus dem Christus, so wie die Urgemeinde sie erfuhr, ist es unerlässlich zu wissen, dass nach der Grammatik der hebräischen Sprache (so folgert Friedrich-Wilhelm Marquardt) »ein Mensch aus seinen Werken« erkannt wird. Fakt ist: »Die neutestamentlichen Zeugen dachten nicht an das Wesen Jesu, wenn sie von ihm erzählten und ihn verkündigten.« Im Neuen Testament, das zwar griechisch schreibt, aber hebräisch denkt, geht es nicht um das Wesen, sondern um die Begegnung, die man mit dem Leben und Wirken des Jesus gehabt hat.

 

Natürlich kann ich an dieser Stelle nicht eine »Christologie« entfalten. Nur am Beispiel des »Hoheitstitels« Sohn Gottes möchte ich daran erinnern, wie die Urgemeinde Jesus als »Sohn Gottes« »erfahren« und nicht spekulativ »ergründet« hat.

 

Dass Jesus »der Sohn Gottes« sei oder dass man einmal so an ihn geglaubt habe, weiß eigentlich jeder, der auch nur noch einige spärliche Erinnerungen an das Christentum hat. Was aber heißt es, wenn man sagt »Sohn Gottes«? Eindeutig hat in der »Biblischen Religion« Gott keine Frau, wie die Götter der Heiden sie hatten. »Sohn Gottes« kann nach biblischem Verständnis schon aus diesem Grunde nur eine Gleichnisaussage sein, oder wir müssten einen Mythos über die Bibel werfen und dem Gott der Bibel eine Frau zugesellen – ein blasphemischer Gedanke angesichts der Kern-Offenbarungsaussagen der »Biblischen Religion«.

 

Als Jesus bei seiner Taufe die Hall-Stimme Gottes hörte: »Dies ist mein lieber Sohn« (Matth.3,17), da wusste er, dass diese Anrede »mein lieber Sohn« an Isaak erinnern sollte, den Abraham einst zu opfern bereit war (1.Mose22). Abraham sollte seinen einzigen Sohn, den Garanten seiner Hoffnung, opfern. Im restlosen Vertrauen zu Gott war Abraham dazu bereit, weil er daran glaubte, dass Gott Tote zum Leben auferwecken kann. Abraham brauchte dann das Opfer nicht zu bringen. Aber für Jesus war es eindeutig: Die Anrede »mein lieber Sohn« führte bis zum Tode. Jesus wusste dieses schon vor seinem Einzug nach Jerusalem.

 

»Sohn Gottes« kann und darf nicht mythologisch, sondern muss biblisch verstanden werden. Und da wäre zunächst einmal daran zu erinnern, dass ganz Israel, das ganze »Protestvolk«, das Volk in der Revolte gegen die Absurdität »Sohn Gottes« genannt wurde. In einer Gottesstimme hört Mose den Auftrag: »Und du sollst zu ihm sagen: So spricht der Herr: Israel ist mein erstgeborener Sohn« (2. Mose 4,22). Und durch den Propheten Hosea hört das alttestamentliche Gottesvolk: »Als Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten.«

 

»Sohn Gottes« hat also gar nichts zu tun mit einer sich im Himmel abspielenden Göttergeschichte. Göttergeschichten kennen wir aus der bildreichen Mythologie der Griechen und anderer Völker des Orients zur Genüge. Israel ist aber der Protest gegen diese Mythologie der Götter, durch die Menschen in die Sklaverei geführt wurden. Die »Biblische Religion« steht folgerichtig im scharfen Gegensatz zu dieser Mythologie, die sie geradezu verbietet und bekämpft. »Sohn Gottes« ist darum im Alten Testament der Ausdruck für die einzigartige, für die Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Kategorien unseres Denkens »unfassbare« Nähe zu Gott.

 

Jesus weiß sich ganz und gar als Sohn Gottes im Sinne Israels. Israel als Volk ist nicht in seinem »Wesen«, sondern in seinem Tun, in seinem gehorsamen Kampf und Leiden für die Gerechtigkeit »Sohn Gottes«. Jesus erweitert diesen Bereich: Wer immer Gottes Willen tut, wer wie Abraham emigriert aus der Welt der repressiven Götter in die Freiheit des Gottes der Revolte, wer gegen die Absurdität leidet, kämpft und stirbt – der ist ein Sohn Abrahams, und Abraham ist Gottes (Joh.8,37).

 

Wer dem »Sohn Gottes« nachfolgt, ist selber »Sohn Gottes«. Die von Jesus aus der Absurdität ihres Daseins Herausgerufenen werden »Söhne Gottes« (Röm. 8,14) genannt. Sie sind von Gott an Sohnes statt angenommen (Gal. 4,5). Sie werden sich ihrer selbst als »Kinder Gottes« bewusst und bekennen sich dazu. Hierin lag ja der Kern des umwälzenden Freiheitserlebnisses der Urgemeinde, zu der auch viele Sklaven, Arme, Ausgestoßene und Unterdrückte zählten. Sie waren nun – ganz gleich, wie erdrückend ihre soziale Stellung war – »Söhne Gottes« und damit in die Revolte gegen die Absurdität der Herrschaftsstrukturen einbezogen, und ihnen war der Sieg in einem kommenden Reich gewiss. Nicht das Erforschen des »Wesens« Christi war der Urgemeinde aufgegeben, nicht die Spekulation über den »Sohn Gottes«, sondern das Leben in der Nachfolge dieses Sohnes, das sie selbst zu Söhnen Gottes werden ließ.

 

Diese Söhne Gottes gehören zu Israel, dem Sohn Gottes. Die Geschichte dieses Volkes erzählt die hebräische Bibel als kontinuierliche Passions- und Sterbegeschichte. Die Söhne Gottes, die Christen, sind darum wie dieser Sohn Gottes ganz und gar mit dem Gott der Revolte verbunden – mitten in Leben und Tod – »und dürfen es nicht bloß als Geschick hinnehmen«, sondern als Berufung zur Überwindung der Absurdität, durch die sie in der Welt und an sich selbst verwundet werden.

 

Die urchristliche Gemeinde verstand sich als Leib Christi. Das bedeutete gleichnishaft, dass sie sich als Teil dieses »Sohnes Gottes« verstand, als eine unauflösbare Gemeinschaft mit ihm in seinem Leiden, Kämpfen und Sterben, aber vor allem auch in seiner Auferstehung. Seinen Jüngern versprach Jesus, dass er bei ihnen bleiben werde »alle Tage bis an der Welt Ende«. So wird mit diesen Worten eine Gemeinschaft gestiftet, die über alle Absurditäten – auch über die Absurdität des Todes – triumphieren wird.

 

Aber was ist nun das Besondere, Einzigartige an Jesus dem Christus? Ist er nur in dem Sinne Sohn Gottes, wie es Israel war?

 

Ist Jesus nicht schon von Beginn der Welt an bei Gott gewesen, und ist er nicht vom »Himmel hoch« zu uns herabgekommen? Dass Jesus immer schon bei Gott »war«, darf nicht als Wesensbestimmung und damit bibelverfremdend als Mythos verstanden werden. Die unerklärbare Einzigartigkeit Jesu Christi bedeutet, dass in einer einzigartigen Art und Weise die revoltierende Absicht Gottes in ihm Gegenwart geworden ist. Im Johannesevangelium, Kap. 1,1,  ist von ihm als dem Wort die Rede, das immer bei Gott war, und als dem Licht, das Gott herbeirief und das in die Finsternis leuchtete. Es geht hier in diesem Wort und in dem von Johannes erwähnten Licht um den Kampf gegen Chaos und Dunkelheit, gegen die Absurdität dieser Welt. Wort und Licht sind vor Raum und Zeit die Elemente der Revolte gegen die Absurdität des Chaos. Wenn nun von Jesus gesagt wird, dass er das Wort ist, das immer bei Gott war, eben jenes Wort, das Ordnung schafft und das Chaos überwindet, dann ist damit gemeint, dass Jesus die Revolte Gottes repräsentiert, die von Anfang an in ihm beschlossen lag.

 

Jesus Christus ist also die Menschwerdung der Revolte Gottes gegen die Absurdität auf dieser Welt. Er ist die sichtbare Gestalt dieser Revolte selbst. In Christus erkennen wir, was Gott von Ewigkeit wollte und will – so kann man sagen, er ist Gott von Gott und Licht von Licht. Wo denn sonst sollten wir glauben und hoffen, dass diese Welt und unser Leben einen Sinn haben, wenn nicht im Blick auf den, der das Kreuz der Absurdität als Verwundeter und Getöteter dennoch auferstehend überwunden hat?

 

Da gibt es keine Himmelsspekulation, sondern die Vergegenwärtigung des Gehorsams in der Revolte bis zum Tode. Im Johannesevangelium, wo Jesus sagt, er sei vom Himmel gekommen, wird zugleich betont, dass dies geschah, um den Willen Gottes zu tun. »Vom Himmel hoch« kommt nicht ein Halbgott, sondern die schon im Alten Testament bekannte Schechina, die Herrlichkeit Gottes, die in die Finsternis dieser Welt das Licht bringen will, damit Gottes Wille so wie im Himmel endlich auch auf Erden geschehe.

Keine einzige Himmelserzählung findet sich in der »Biblischen Religion«. Die Bibel verneint den Mythos und die Spekulation über alles, was über das offenbarende Handeln Gottes in dieser Welt hinausgeht. Das wilde, mythensüchtige Phantasieren hat den christlichen Glauben überlagert und hat sich in der Geschichte des Christentums verhängnisvoll ausgewirkt. Gott wurde zum »Gottesbild«, die Welt zum »Weltbild«, Christus zur »Christologie« — und aus dem Christentum machte man eine Ideologie.

Es geht nicht darum, dass wir den einen Gott »anerkennen«, dass wir meinen, es »gibt einen Gott«. Solche Anerkennungsformeln sind bedeutungslos. Die Bezeichnung »Gottes Sohn« ist also gar kein »Hoheitstitel« in dem Sinn und schon lange keine Wesensbeschreibung oder gar »Definition«, sondern ein Tun: Christus trägt die Wehen einer neuen Zeit, den Schmerz der neuen Geburt, der neuen Welt. Das hat für die urchristliche Gemeinde eine persönliche Bedeutung: Der Christ, also der sich mit dem »Sohn Gottes« identifizierende Mensch, lebt in der Revolte gegen die Absurdität in seinem persönlichen Leben und wird damit »eine neue Kreatur«, eine neue Schöpfung, schon auf dieser Erde und in diesem Leben. Im Beruf, in der Familie, in der Nachbarschaft, am eigenen Leibe und in seiner eigenen Seele herrscht der permanente Widerstand gegen alles, was sich der Sinnerfüllung seines Lebens entgegenstellt. Die Urgemeinde nannte diesen Widerstand der Absurdität auch teuflisch und dämonisch. Aber gerade auch im Kleinkram des Alltags ist der Christ in der Revolte – nimmt er teil am Kampf gegen das Teuflische der Absurdität auch in seinem alltäglichen Leben.

Die Wahrheit ist in der »Biblischen Religion« nicht durch Spekulation oder Mythen, sondern durch das Tun in der Nachfolge Christi zu erkennen. Bedeutsam sind die Worte Jesu: »Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort (wenn ihr tut, was ich sage), so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.« (Joh. 8,31)

Christsein ist ein Sein in Christus. Ich drücke dies mit dem Wort »Teilhabe« aus. Es geht um die Teilhabe an Christus, an seinem »göttlichen« Kämpfen, Leiden, Sterben und Auferstehen. Es geht aber auch um die Teilhabe Gottes an meinem Leben, Kämpfen, Leiden, Sterben und Auferstehen. Diese Teilhabe ist Anbruch, nicht Vollendung des Reiches Gottes, das sich im »Sohne Gottes«, in Christus darstellt.

IV. Die Verkirchlichung des urgemeindlichen Christentums

1. Urgemeinde und Gegenwartskirche — ein tödlicher Widerspruch?

Vor dem Reichstag drohte Hitler am 30. Januar 1939 zum ersten Mal öffentlich in einer zweieinhalbstündigen Rede die Vernichtung der jüdischen Rasse« in Europa an für den Fall, dass – wie er sich ausdrückte – das »internationale Judentum« noch einmal einen Krieg anzetteln sollte. In dieser sogenannten »Neujahrs-Reichstagsrede«, zu der der »Großdeutsche Reichstag« nach  dem Anschluss Österreichs mit seinen 885 Mitgliedern in der Kroll-Oper zu Berlin erstmals zusammentrat, erinnerte Hitler an seine letzten großen Erfolge: den Anschluss Österreichs und die »Lösung der Sudetenkrise«, – wodurch insgesamt zehn Millionen Deutsche in das Reich »heimgekehrt« seien. Die Rede schloss sehr fromm mit einem Dank an »Gott, den Allmächtigen«, weil er »unsere Generation und uns gesegnet hat, diese Zeit und diese Stunde zu erleben«.

Dieser fromme Schluss der Rede passte zu einigen sehr kirchlichen Inhalten. Hitler rechnete nämlich der Weltöffentlichkeit vor, was der »Nationalsozialistische Staat« alles für die beiden Großkirchen, die katholische und die evangelische, getan habe. Es sei daher eine Unverschämtheit, wenn ausländische Politiker von einer Religionsfeindlichkeit im Dritten Reiche sprächen. Die Geldsummen, die ms öffentlichen Steuererträgen durch die Staatsorgane für die beiden Kirchen und dann aus den Zuschüssen deutscher Länder damals aufgebracht wurden, waren in der Tat gewaltig: Hitler kam für das Rechnungsjahr 1938 auf die für damalige Zeit unverhältnismäßig hohe Summe von 594 Millionen Reichsmark. Die Kirchen seien darüber hinaus – so folgerte Hitler – die größten Grundeigentümer nach dem Staat. Der Diktator schätzte in seiner Rede die Einkünfte aus diesem Grundbesitz auf noch einmal 300 Millionen Reichsmark jährlich. Nach Darstellung dieses Zahlengigantismus erlaubte sich Hitler die Frage: »Welche Beiträge haben im selben Zeitraum Frankreich, England oder die USA an ihre Kirchen durch den Staat an öffentlichen Mitteln abgeliefert?« (F. Heer, Der Glaube des Adolf Hitler, 1968). Die Antwort wäre in der Tat niederschmetternd ausgefallen, denn staatliche Unterstützung für die Kirchen gab es in den von Hitler genannten Ländern wenig, kaum oder garnicht.

Eine reiche, mächtige, wirtschaftlich geradezu kraftstrotzende Kirche lebte also in einem Staat, dessen staatsbildende Partei, die NSDAP, immer entschiedener zu einer antichristlichen Ideologie tendierte.

Lag nun diese eine Situation der Kirche Christi im 20. Jahrhundert im Erwartungshorizont der urchristlichen Gemeinde? Elementar gefragt: Haben Jesus und seine Apostel diese Kirche, von der am 30. Januar 1939 in der Kroll-Oper zu Berlin die Rede war, wirklich gewollt? Ist es denn der Sinn der Geschichte des Christentums, dass man sich mit etwa 18 Jahren, nach bestandenem Abitur, für die Beamtenlaufbahn (»auf Lebenszeit«) eines Pastors entscheiden kann, ohne weitere Voraussetzung als die, ein theologisches Studium an einer Universität absolviert zu haben und dies ohne vorausgehende geistliche Erfahrung? Was hat diese Institution Kirche mit ihrem in Deutschland geradezu gewaltigen Behördenapparat mit der bruderschaftlich strukturierten Urgemeinde gemeinsam? Welche auch nur entfernte Ähnlichkeit haben die europäischen Staats- oder Nationalkirchen, der jeweils fast ausnahmslos die ganze Gesellschaft bis noch weit ins 20. Jahrhundert hinein angehörte, mit den kleinen Zellen christlicher Gläubiger im römischen Imperium gemeinsam? Wie versteht sich vom Wesen jener Urgemeinde her zum Beispiel die Tatsache, dass die Nationalkirchen in zwei Weltkriegen jeweils auf gegnerischer Seite den nationalen Vernichtungskampf »geistlich« mittrugen (um den Ausdruck »absegnen« zu vermeiden)?

Wenn Jesus zur Umkehr, zur Nachfolge unter dem Kreuz aufrief, der Apostel Paulus das Sterben und Auferstehen mit Christus verkündete, damit die Bekehrten ein Glied am Leibe Christi, der Gemeinde der Heiligen werden, dann drängt sich diese Frage auf: Wie kann sich Mitgliedschaft in einer Kirche durch Entrichtung einer Kirchensteuer realisieren, die auch bis zum Lebensende Adolf Hitler und Joseph Goebbels pünktlich zahlten, ohne als Mitglieder der katholischen Kirche auf die »Praxis ihres Christseins« angesprochen zu werden? Was hat diese Kirche, so wie sie sich in diesem 20. Jahrhundert darstellt, also gemeinsam mit der christlichen Urgemeinde? Hat sich da eine gottgewollte Entwicklung zum »Größeren« abgespielt oder ein rasanter Zerfall – gar ein Abfall oder Verrat?

Dass hier eine solche Frage im Blick zurück nach dem Ursprung gestellt wird, ist natürlich weder neu noch originell – aber bis heute auf immer wieder andere Weise aktuell. Martin Luther zum Beispiel hat diese Frage zu seiner Zeit so radikal gestellt, dass er die Institution Kirche, so wie er sie im beginnenden 16. Jahrhundert wahrnahm, als Kirche des Antichrist verurteilte und seine Reformation als ein Zurück zum Ursprung des Christseins verstand.

Sind die Kirchen – um mit Nietzsche weiterzudenken – heute so weit heruntergekommen, dass man sie wirklich nur noch als Grabmäler eines toten Gottes besichtigen kann? Würden die Reformatoren nicht vor Schreck erstarren, müssten sie sehen, hören oder erleben, wie sich heute christliche Kirchlichkeit darstellt?

Für die protestantischen, also von der Reformation des 16. Jahrhunderts geprägten Christenmenschen kann und darf die Frage nicht zur Ruhe kommen, ob und, wenn ja, wie weit die Geschichte der Kirche als Abfall vom Ursprung zu verstehen ist. Diese Frage nach der Abirrung vom Ursprung muss zu jeder Zeit neu gestellt werden, weil jedes Zeitalter sich grundsätzlich vom urchristlichen Ursprung her fragen lassen muss, wohin und wie es weitergehen soll. Eine Kirche, die nicht mehr bereit wäre, sich von ihrem Ursprung her in Frage stellen zu lassen, hätte den Zusammenhang mit diesem geschichtlichen Ursprung verloren. Dabei steht zunächst die Tatsache fest, dass eine Überfremdung urchristlicher Gemeinde schon am Anfang der Geschichte des Christentums eingesetzt hat.

 

2. Die sakramentalistisch-magische Überfremdung der christlichen Gemeinde

Bedeutsam für diese Überfremdung der urchristlichen Gemeinde war das Unternehmen, aus der urchristlichen Botschaft, die weniger gelehrt als gelebt werden sollte, ein dogmatisches System, eine Art Ideologie, die fürwahr gehalten werden musste, aufzurichten. Christliches geriet in die Macht von Ideologen und schließlich auch von Funktionären.

Mythen und Denkfiguren, die der »Biblischen Religion« völlig fremd waren, brachen in die werdende Kirche ein. Dieser Einbruch war so intensiv, dass im 4. Jahrhundert beispielsweise Konstantin, der von Kind an zum heidnischen Sonnengott gebetet hatte, nach seiner Hinwendung zum Christentum der Meinung war, seinen Gott eigentlich nie »gewechselt« zu haben. Kaum einer wird damals Anstoß daran genommen haben, dass auf den Münzen des beginnenden »christlichen«, konstantinischen Zeitalters der Sonnengott dargestellt war. Als Konstantin vor seinem Sieg im Kampf um die Vorherrschaft des römischen Imperiums 312 an der milvischen Brücke das Christusmonogramm mit der Verheißung: »In diesem Zeichen wirst du siegen« als eine Art Offenbarung erlebte, ist das sicherlich keine Bekehrung gewesen; vielmehr wurde hier eine Siegestheologie oder ein quasichristlicher Triumphalismus geboren, wie er noch aus Hitlers Rede vom 30. Januar 1939 durchscheint. Der politische Triumph eines Cäsaren gleicht nun dem Erlösungssieg Christi und umgekehrt. »Jesus Christus siegt!« — das ist die Jubelformel für die Kirche und auch für den Cäsar.

Damit wird eine Sinnerfüllung in der Politik nach menschlichen Wünschen und Gedanken auch immer als Sieg Christi gefeiert. Der Wille zur Macht und der Glaube an Christus werden kongruent (übereinstimmend). Das politische Heil oder das persönliche Wunschdenken verschmelzen mit der himmlischen Vorsehung. Der Himmel wird auf die Erde geholt und die Erde wird himmlisch – die Politik wird sakralisiert und die Kirche wird politisiert. So wird das Heil fassbar und greifbar. Christus wird instrumentalisiert für den politischen bzw. gesellschaftlichen Fortschritt oder Rückschritt, je nach dem Sinn der »Progressiven« oder der »Reaktionäre«.

Dieser Prozess der Verweltlichung des Christentums wird aber zunächst einmal deutlich am Prozess der Versakramentalisierung. Ein religiös-magisches Missverständnis urchristlicher Botschaft macht aus den Sakramenten – Taufe und Abendmahl – eine Substanz. Erlösung kommt nicht aus einem existentiellen Bruch, aus der Umkehr, sondern aus der Verbindung mit einer »ihrem Wesen nach unvergänglichen Substanz«, wie es der Berner Dogmatiker Martin Werner um die Mitte dieses Jahrhunderts formulierte. Aus dem Abendmahl wird ein Sakrament, das »real« geschaffen wurde durch die Vergottung von Brot und Wein zu realem, anfassbarem Leib und Blut Christi. Diese sakramentale Speise – so wurde nun gelehrt – stamme »aus dem Leib des Gekreuzigten« und ernähre den religiösen Konsumenten zum ewigen Leben. An die Stelle der persönlichen Gottesbegegnung als Umkehr und Bekehrung tritt die Magie.

Einer sich relativ schnell aufbauenden Priesterhierarchie wächst damit eine zentrale Aufgabe zu. Sie soll und kann die Gläubigen mit dem Sakrament zum ewigen Leben »nähren«. Die Kirche wird zu einer diesem Zweck geweihten Hierarchie, zu einer Heilsanstalt. Nun entsteht die Lehre »von der unbedingten Heilsnotwendigkeit der Kirche«. Die Kirche triumphiert als »die Gemeinschaft der Vergotteten«. Wer nämlich im Abendmahl von der Substanz des Gottessohnes ißt, wird selbst vergottet. Christentum wird umfunktioniert zu einer physischen Erlösungsreligion. Alles Augenmerk richtet sich darum auf die Vergottung Jesu Christi, damit man selbst substantiell Anteil an dieser Vergottung gewinnt. Das ist der Sinn der Arbeit am christologischen Dogma des 4. Jahrhunderts. Die Frage nach dem, was Gott in Christus bewirkt hat, tritt zurück hinter die total unbiblische Frage, wie Gott selbst in seiner »Substanz« in Christus greifbar geworden ist. Der sich in seinem Tun, Handeln und Reden offenbarende Gott wird fassbar, greifbar und »genießbar« gemacht.

Von dem Mahl, das Jesus vor seinem Tode mit den Jüngern feierte und das die urchristliche Gemeinde dann regelmäßig Woche für Woche, vielleicht täglich, wiederholte, hat sich dieser Sakramentalismus der frühen Kirche wesentlich entfernt. Die urchristliche Gemeinde lebte aus dem Alten Testament, und sie wusste um die gleichnishaften symbolischen Taten der Propheten. Zum Beispiel bekommt der Prophet Jeremia von Gott die Weisung, einen Krug zu nehmen, mit den Leuten vor das Tor von Jerusalem zu gehen, um dann vor ihren Augen den Krug zu zerbrechen. Jeremia wollte damit sagen: Was mit diesem Krug geschieht, das geschieht auch mit euch – ihr werdet wie dieser Krug von Gott zerbrochen. Das Gottesvolk selbst wird, weil es dem Gott der Revolte gegen Unrecht, Macht und Ausbeutung nicht nachfolgt, selbst zum Objekt der Revolte Gottes gegen die Ursünde der Gottverlorenheit.

Daraus folgert der Marburger Theologe Rudolf Otto: »Wenn Jesus in der Abendmahlsfeier das Brot nahm und es brach und dabei sagte, dass dieses Brot sein Leib sei, dann wusste jeder, was das bedeutet: So wie dieses Brot zerbrochen wird, so geschieht es mir und in der Nachfolge auch euch.« Der Bund, den Christus in diesem gemeinsamen Essen stiftet, ist der Bund der wie Christus durch die Absurdität des Daseins Gebrochenen, aber auch wie Christus von Gott Geretteten: Mit ihm gebrochen und mit ihm aufgerichtet.

Darum war das Abendmahl ein Mahl der Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen, der das Kreuz, das Leid und die Ohnmacht seiner Tischgenossen mitträgt. Das Brot repräsentiert – wie Rudolf Otto es ausdrückt – »Christus als Gebrochenen«, zugleich aber auch – so möchte ich hinzufügen – das »Brot des Lebens« von Christus dem Auferstandenen.

»Dass das Brot in Christi Leib verwandelt werde, dass sein Leib oder sein Fleisch oder er selbst gegessen werde, solche Gedanken liegen bei dieser Anteilgabe und Anteilnahme völlig fern«, schreibt zu Recht Rudolf Otto. Es geht doch gar nicht um die Vermittlung einer »substantiellen Kraft«, sondern um eine Lebensgemeinschaft, um ein reales Erleiden und Überwinden in der Nachfolge Christi.

Wahr und wirklich ist die Erfahrung, dass man in der Gemeinschaft mit ihm wohl zerbrochen, aber auch zum Überwinder wird.

Alle frühchristlichen Zeugnisse deuten darauf hin, dass dieses Mahl ein Freudenmahl war, eine Eucharistie, eine Danksagung, weil die Feiernden sich in die Überwindungskraft Christi einbezogen wussten. Hier ging es nicht um das »Für-wahr-Halten« einer sakramentalen Substanz, sondern es ging um die Anteilnahme an einem Lebens- und Überwindungsprozess. Die Gemeinschaft wurde gelebt aus der Erfahrung: Gott ruft dem, das nicht ist, dass es sei. Diese Menschen hatten ihre Todeskrise hinter sich. Sie hatten als Verwundete überwunden. Nur diese Erfahrung stiftet echte und wahre christliche Gemeinschaft.

Zu Recht bemerkt Emil Brunner, dass das »spätere Interesse an den materiellen Elementen Brot und Wein« in den neutestamentlichen Berichten völlig fehle. Brunner meint sogar, dass sich das Abendmahl, wie es in der Urgemeinde gefeiert wurde, eng an die jüdische Chabura angeschlossen habe, »an das in der frommen jüdischen Familie übliche tägliche Abendessen, bei dem das Brot gebrochen und der Kelch der Danksagung herumgereicht wurde«.

Kein Ritus, keine Zeremonie, keine Feierlichkeit, sondern die Erinnerung an den »Gebrochenen und Auferstandenen« mitten im Alltag, mitten in der Diesseitigkeit war für diese urchristliche Mahlfeier entscheidend.

Von daher wird doch verständlich, wenn Dietrich Bonhoeffer so sehr Nachdruck darauf legt, dass Christen nicht in einem »religiösen Akt«, sondern mitten in der Diesseitigkeit der Jenseitigkeit Gottes begegnen. Christlicher Glaube realisiert sich nicht im Kult, sondern im Leben.

Emil Brunner stützt diese Auffassung Dietrich Bonhoeffers, wenn er meint: Dieses Mahl, das ein »wirkliches Miteinanderessen« war, hat »den Gegensatz von Profan und Heilig, von Sonntagsgemeinschaft und Werktagswirklichkeit« aufgehoben. Weil sich die Gemeinde bei dieser alltäglichen Mahlfeier daran erinnerte, »dass ihnen bei einer solchen Mahlfeier der Auferstandene erschienen war … brachen sie das Brot mit Jubel«.

Diese Mahlgemeinschaft war die echte »Kirchengemeinschaft«. Man lebte die Wirklichkeit des gebrochenen und auferstandenen Leibes Christi. Denn der Leib Christi war ja nicht Magie oder Substanz, sondern das Existieren in der Gemeinschaft mit Christus selbst. Diese »Verinnerlichung« im Abendmahl fand ja auch nicht in Tempeln oder Kathedralen statt, sondern in den »Häusern«, in denen ein christlicher Bruder den größten Raum für das Mahl zur Verfügung stellte.

Im Abendmahl, in der Gemeinschaft also, wird deutlich, dass man nicht nur etwas »hört«, sondern auch »dazu gehört«. Die Gemeinschaft der Christen wird sichtbar, sie wird gelebt – wie Emil Brunner bemerkt. Darum ist das Abendmahl, das Christus einsetzte, die »Geburtsstunde der Gemeinde des Gekreuzigten«. Diese Besinnung auf das Abendmahl ist darum so wichtig, weil im Blick auf die urgemeindliche Praxis deutlich wird, dass es um eine echte Gemeinschaft von solchen Menschen ging, die durch das Kernerlebnis von Verwundung und Überwindung, Kreuz und Auferstehung zusammengehalten wurde.

 

3. Die priesterliche Überfremdung der christlichen Gemeinde

Religion ohne Kreuz ist, wenn auch natürlich nicht ausschließlich, Wille zur Macht und zwar – wie wir von Nietzsche gelernt haben – ein verkrüppelter, hinterlistiger Weg zur Macht, aus dem Milieu der im Leben Schlechtweggekommenen, die aus Ressentiment und Neid durch die Hintertür einer Scheinfrömmigkeit den Weg zur Macht beschreiten wollen.

In der Alten Kirche erfolgte der Einbruch religiös motivierter Macht durch die Gewalt der Priester über die Verteilung der Sakramente. Schon bei Ignatius von Antiochien, einem Kirchenmann des 2. Jahrhunderts, hören wir die Formeln: »Ein Altar, ein Bischof«, und: »Haltet euch zum Bischof, auf dass Gott euch halte«. Für Emil Brunner ist es »erschütternd zu sehen, wie schon im Anfang des 2. Jahrhunderts die Institution, das Bischofsamt, zu solch gottähnlicher Würde emporgestiegen ist«.

Sakrament und Bischofsamt werden zu Leitfunktionen. Das ist der Kernprozess der Umbildung der urchristlichen Gemeinde zur priesterlichen Kirchen-Institution. Denn nur der Bischof bzw. der von ihm geweihte Priester darf Brot und Wein sakramental »verwandeln«. Die kaiserliche Liturgie des römischen Imperiums, eben der Kaiserkult, wurde dann später zum Vorbild in der Gemeindepraxis. Die Cathedra, der bischöfliche Stuhl, wird zum Abbild des göttlichen Thrones, so wie ihn der römische Kult kannte. Der Kultus wird in allen Einzelheiten festgelegt – der Ritus musste nach präziser Vorschrift vollzogen werden -; auch das war typisch römisch-religiös. Es ist das römische Verständnis von Religion, das hier hereinspielt; »denn nur auf dem gesetzlich richtig vollzogenen Gottesdienst ruht der Segen Gottes« (R. Hernegger, Die Entstehung der Staatskirche, 1963).

 

Auch das byzantinische Hofzeremoniell erhält nun Eingang in die christliche Gottesdienstordnung. Dabei wird – wie Hans Küng meint – eine Reihe von Zeremonien, die frühere Christen als heidnisch abgelehnt hatten, nun hochgeschätzt: Kniebeugen, Verbeugung, das Küssen von Devotionalien als Anbetungszeremonie, Gegenstände wie Weihrauch, Kerzen, besondere Auszeichnungen wie Stola, Ring und anderes. Die Gemeinde wird immer mehr von der Mitwirkung ausgeschlossen und zu Zuhörern degradiert. Sie wird zum Publikum eines liturgischen Schauspiels. Die Abendmahlfeier erreichte den Gipfel ihrer Verfremdung, als die Priester anfingen, auch stille Messen, also Messen für sich ohne die Gemeinde, ohne das Volk zu halten. Nicht mehr mit dem Volk, mit der Gemeinde, sondern für das Volk und für die Gemeinde wird Liturgie gehalten. »Die Aktivität des Volkes wird so ganz auf das Sehen beschränkt«, meint Küng (Das Christentum – Wesen und Geschichte, 1994).  Der Priester bzw. der Bischof repräsentiert Christus – nicht mehr die Gemeinde, wie sie in der Urchristenheit gelebt wurde.

 

In der urchristlichen Gemeinde war die Zusammengehörigkeit von Christus, Glaube, Buße, Taufe als Leib Christi eine Gegebenheit, »die als solche hingenommen und über die nicht weiter reflektiert wurde«, urteilt Brunner. Das Neue Testament kannte weder das Taufsakrament noch eine Tauflehre. Taufe war die symbolisch vergegenwärtigte Gemeinschaft mit Christus im Sterben (der Täufling wurde untergetaucht) und in der Auferstehung (der Täufling wurde wieder aufgerichtet). Der Getaufte verstand sich nun als Glied des Leibes Christi – nicht wegen der Taufe als magischer Kraft, sondern wegen des Vertrauens in Kreuz und Auferstehung.

 

Reichsgemeinschaft auch die Kirchengemeinschaft, Taufe wurde (in Schweden bis ins 20. Jahrhundert, in anderen Ländern wie Preußen bis ins 19. Jahrhundert) nicht als Bekehrung und Wiedergeburt, Sterben und Auferstehung eines neuen Menschen verstanden, sondern als Zugehörigkeit zum tausendjährigen Reich, das sich im Imperium des Cäsars realisieren sollte. Ein Weltreich wurde getauft. Später waren es Nationen, Stämme, Völker, die getauft wurden. Aus der Revolte gegen die Absurdität wurde die Absegnung der Absurdität – und Gott selbst wurde absurd.

 

Die Priester wurden in diesem Rahmen der Reichskirche Diener des Staates, also Beamte. Theologen, Professoren und Pastoren als Beamte auf Lebenszeit hat auch die Reformationskirche nicht abschaffen können. Das lief alles so weiter, mehr oder weniger – jedenfalls in Europa – bis in das 20. Jahrhundert hinein.

 

In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Gießen im Jahre 1879 legte der zu dieser Zeit schon berühmte Kirchenhistoriker Adolf von Harnack überzeugend dar, wie sich die Kirche seit dem 2. Jahrhundert selbst, also aus sich heraus, zur Staatskirche entwickelt habe und widersprach dem Urteil, als sei der Kirche die Verstaatlichung von außen aufgezwungen worden. Die sich in der Kirche schon seit dem beginnenden 2. Jahrhundert entfaltenden Machtstrukturen drängten auf »Machtübernahme«. Die Metropoliten von Byzanz, Antiochien, Alexandrien und Rom waren politische Machtmenschen und in den dogmatischen Kämpfen der alten Kirche, vor allem seit dem 4. Jahrhundert, ging es nicht nur oder vornehmlich um die Wahrheit, sondern auch um die politische Macht. Und der Ursprung dieser Macht – das hatte Harnack klar erkannt – lag in der priesterlichen Verfügungsgewalt über die Sakramente und über die Lehre, die sich im amtlich legitimierten Dogma als verbindlich darstellte.

 

So wurde das Christentum auf mancherlei Weise zu einer weltbeherrschenden Ideologie. An die Stelle der Revolte gegen die Absurdität durch Bekehrung, Ethos und Recht trat die Macht des Schwertes – in den Kreuzzügen nach außen und in der Inquisition nach innen.

 

Auf das traurige Kapitel der Ketzerverfolgungen soll hier nicht eingegangen werden. Es kann hier nur daran erinnert werden, wie weit das Christentum im Laufe seiner Geschichte nach dem Typos einer Ideologie totalitären Charakters formiert wurde. Die Kirche agierte wie die dominierende Partei in einem totalitären Staat – sie klagte an und überließ die Strafe dem »Staat«, der ja der Ideologie bzw. dem Dogma dieser Kirche unterworfen war, so wie der totalitäre Staat der Ideologie einer Partei unterworfen ist. Die Methoden der Bespitzelung, die Arbeit der Agenten, die Verhör- und Foltermethoden, die Brutalität des Gewissenszwanges der kirchlichen Inquisitionspraxis erinnern peinlich an die Methode der totalitären Regime des Leninismus, Stalinismus, Hitlerismus und des realen Sozialismus.

 

 

 

4. Die Verleugnung der Urgemeinde

 

Diese kirchliche Umgestaltung des Christentums kann natürlich nicht als folgerichtige Entwicklung aus der christlichen Urgemeinde heraus verstanden werden. Es handelt sich hier vielmehr um einen Bruch, wenn nicht gar um eine Verleugnung urchristlicher Gemeindewirklichkeit.

 

Die urchristliche Gemeinde war eine Bruderschaft aller Stände, der Sklaven und Freien, in der es kein »Ansehen der Person« gab. Spottsüchtige Heiden konnten diese Gemeinschaft nie begreifen. In den Gemeindeversammlungen verstanden sich alle als Brüder und Schwestern und grüßten einander mit dem Friedenskuss, was den Heiden ebenfalls Anlass zu Spott und Hohn gab. Der Unterschied zwischen Mann und Frau bestand lediglich darin, dass die Frauen, auch wenn sie als Diakonissin tätig waren, weder taufen noch predigen durften. Es gab weder ein Lehrsystem noch Sakramente. Da es im römischen Imperium zur Zeit der urchristlichen Gemeinde wohl viele Festtage, aber keine Ruhetage gab, traf man sich am ersten Tag der Woche außerhalb der Arbeitszeit – eben nachts. Man kam in Privathäusern zusammen, die von Mitgliedern der Gemeinde zur Verfügung gestellt wurden.

 

Die urchristliche Gemeinde war eine »durchaus unkultische, geistliche Bruderschaft«, wie Emil Brunner es beschreibt. Die Ordnung war eine bruderschaftliche Ordnung ohne »geistliche Ämter, ohne Priester«. Richtig bemerkt Brunner: »Paulus beruft sich auf die Bewährung jener führenden Männer im Dienst und ruft die Gemeinde auf, den Bewährten die Anerkennung nicht zu versagen.«

 

In den Dienst wurde nach damaliger jüdischer Praxis mit Handauflegung eingeführt. Allerdings sehen wir sie nirgends im Zusammenhang mit der Übertragung eines besonderen Dienstes oder Amtes. In den Dienst der Gemeinde wurde man also durch Aufheben der Hände »gewählt«. Es war die Gemeinde, die ihre Diener in den Dienst wählte – als Lehrer, Diakon, Aufseher oder Vorsteher der Gemeinde.

 

Die urchristliche Gemeinde war – abgesehen von der einmaligen autoritativen Leitung durch die Apostel – eine Art »Christus-Demokratie«, die zum Dienst aus der Gemeinde aber nicht zum Herrschen über die Gemeinde ihre Diener berief. Einen Dienst durch Handauflegung in dieser Bedeutung des Wortes bekommt, wer eine Gnadengabe, ein Charisma des Heiligen Geistes empfangen hat. Dabei war für diese Dienste die Reife der Erfahrung im christlichen Leben ausschlaggebend. Von allen Diensten kam dabei dem Dienst des Lehrens entsprechend dem Dienst des Rabbi in der jüdischen Gemeinde eine besondere Bedeutung zu, weswegen Paulus auch mahnt, insbesondere solche Presbyter zu achten, die im Dienst der Lehre standen, die Schrift auslegten und ihre Inhalte vermittelten (1.Tim.5,17).

 

 

 

5. Sind wir heute vom »Heiligen Geist« verlassen?

 

Die »Biblische Religion« lebt aus dem Anruf durch das Wort. Es ist das Wort Gottes, das die Erzväter, die Propheten und die Apostel als Offenbarung hören und sagen. Durch das Hören des Wortes wird der Gläubige in seinem Herzen getroffen. Das Weitergeben dieses Wortes, die Predigt des biblischen Wortes ist darum der wichtigste Dienst in der christlichen Gemeinde.

 

Weil Gott so sich in seinem Wort offenbart, geht der Weg zum Heil in der »Biblischen Religion« durch das Hören und nicht etwa durch Meditation. Der Prediger ist darum unverzichtbar. Er ist der Diener des Wortes und nicht der Guru als Techniker der Meditation, der den Weg zum Heil aufzeigt. Aus diesem Grunde ist der »Dienst« eben des Predigers, des Dieners am Worte, unverzichtbar und wird als Lebensberuf ausgeübt werden müssen, weil das Studium des nun geschriebenen Wortes Gottes eine das ganze Leben beanspruchende Aufgabe ist. Diener des Wortes kann allerdings nur sein, wer das biblische Wort verinnerlicht, es lebt und ihm vertraut. Um es salopp auszudrücken: Der Pfarrer als Diener des Wortes muss – wie die Pietisten zu Recht fordern – ein »gläubiger« Pfarrer sein, weil Mitteilung des Wortes ohne Mitteilung der Existenz nicht möglich ist.

 

Das bloße Wort oder gar die Lehre oder das Dogma können töten – der Geist hingegen macht »lebendig«. Das Wort soll, kann und muss gleichsam unser Herz treffen, unsere Seele aus ihrer Vereisung auftauen. Diese Gegenwart Gottes verstanden die Israeliten als Schechina, als das Wohnen Gottes im Herzen seiner Gemeinde. Im Neuen Testament wird diese unmittelbare Kraft Gottes als pneuma, gleichsam als ein Anhauchen, als eine stürmische Bewegung Gottes in das »Innenleben« des Gläubigen verstanden. Pneuma heißt eigentlich »Atem« oder »Wind« – wir wissen und verfügen nicht, wann, wie und woher er kommt (Joh.3,8). Wir erleben ihn aber als Liebe, als Vertrauen und als Hoffnung (1.Kor.13,13).

 

Das Leben in diesem Heiligen Geist ist eine »Schwellenexistenz«, weil die Schwelle der Absurdität in einer Revolte von oben gleichsam durchbrochen wird. Der Heilige Geist ist die Revolte Gottes gegen die Absurdität in uns selbst. So wie der Geist Gottes im Schöpfungsbericht über die Tiefen des Chaos ordnend und heilend hinweggeht, so wird der Heilige Geist im Gläubigen über das Chaotisch-Absurde seines Innenlebens heilend herüberkommen.

 

Dieses Leben im Heiligen Geist, diese Revolte Gottes im Herzen des Menschen wird nicht durch Kult, Ritus, Sakrament oder irgendeine Feierlichkeit »herbeigeschafft«. Das Leben im Geiste Gottes ist keine Angelegenheit der Feierlichkeit oder der gruppendynamischen Experimente, sondern ein Ereignis mitten im Alltagsleben – vor allem aber in der Gemeinschaft des »Brotbrechens« und im Hören von Gottes Wort.

 

Gemeinde ist überall, wo zwei oder drei im Namen Christi versammelt sind – unter der Voraussetzung, dass der Geist Gottes unter ihnen lebendig ist. Dieser Heilige Geist begründete die frühe christliche Gemeinde. In unserer gegenwärtigen Kirchlichkeit sind wir nicht mehr mit der Fülle des Heiligen Geistes beschenkt. E. Brunner meint, wir hätten »das Schwinden des Pneumatischen einfach als eine Tatsache hinzunehmen, für die wir keine, es sei denn eine seelsorgerliche Erklärung haben; das Leben im Geist schwindet so, wie die erste Liebe erkaltet«. Es gibt heute keine Offenbarungen mehr. Die pneumatischen Gaben der urchristlichen Gemeinde wie Prophetie, Glossolalie (das Sprechen in Sprachen, in denen die Schwelle herkömmlichen menschlichen Redens übersprungen wird), Krankenheilungen usw. haben die urchristliche Gemeinde kaum oder gar nicht überlebt. Es wäre eine weiterschreitende Verfremdung von der Urgemeinde, diese verlorenen Gaben durch ein »als ob«, durch »religiöse Techniken« imitieren zu wollen. Wir kommen nicht darum herum festzuhalten, dass die Geschichte des Christentums nach dem geistlichen Aufbruch in der Urgemeinde mehr oder weniger durch eine permanente Geistverlorenheit charakterisiert ist. Insofern gesehen lebte die Urgemeinde in der Endzeit, und wir leben von ihren Offenbarungen, die in den Schriften des Neuen Testamentes gesammelt sind.

 

Das Niveau der Urgemeinde konnte die christliche Kirche in ihrer weiteren Geschichte so wenig erreichen, wie ein trüber breit und behäbig fließender Fluss zu seiner Urquelle zurückkehren kann.

 

Wenn die Urgemeinde in der Erwartung der Wiederkunft Christi lebte, so wird man bedenken müssen, dass diese Erwartungshaltung insofern rechtens und auch geschichtlich »richtig« war, als die Zeit zwischen Urgemeinde und Wiederkunft, eben die Zeit der Kirche wie ein tiefes Tal zwischen den Gipfeln urchristlicher Spiritualität und endzeitlicher Wiederkunft Christi liegt.

 

Ist nun die Zeit der Kirche nach dem urchristlichen Aufbruch nur eine Zeit des Zerfalls und der Auflösung? Auf diese Frage kommt Emil Brunner zu einer harten Antwort: »Denn aus dem Neuen Testament ergibt sich, dass gerade die Kirchwerdung der Gemeinde Jesu, die Ecclesia (Kirche), eine Wesensänderung, eine Transformation in sich schließt, die mit der neutestamentlichen Wahrheit in Widerspruch steht.«

 

Wir sind heute als Gemeinde Christi also nicht die Gemeinde, die wir nach dem Willen Jesu sein sollten. Emil Brunner fragt auch die »Reformationskirchen«, also die evangelischen Christen, wo jene Einheit »von Christusgemeinschaft und Brudergemeinschaft, die ja gerade das paradoxe Wesen der Ecclesia (Kirche) ist«, geblieben sei und kommt zu dem ernüchternden Urteil, dass keine der vorhandenen Kirchen den Anspruch erheben kann, die Kirche der Apostelzeit zu sein, und wir müssten darauf verzichten »wahre Kirche als solche aufzufinden und dass überhaupt der Begriff Kirche durch eine neunzehnhundertjährige Kirchengeschichte schwer belastet ist«.

 

Ein 2000-jähriger Irrweg? Sollte der Gott, der in Christus gegenwärtig war, die von diesem begründete Gemeinde völlig verlassen haben? War das Christentum nach Christus nur eine Fiktion?  . . .

 

Diese vernichtenden Urteile über 2000 Jahre Christentum in seiner kirchlichen Gestalt müssen als Protest – sie können aber nicht in dem Sinne verstanden werden, als wäre die christliche Gemeinde in diesen 2000 Jahren überhaupt nicht existent gewesen. Es gab immer christliche Existenz und darum auch immer irgendwie christliche Gemeinde. Die Kirche ist dabei eine geschichtlich entstandene Form, ein »Gefäß« der wahren Gemeinde, und »nicht ihr, sondern dieser Gemeinde in der Kirche allein ist die Verheißung der Unüberwindbarkeit und der Dauer in die Ewigkeit hinein gegeben«. Dabei – so meint Emil Brunner – müssen wir offen sein für die Möglichkeit, dass es Gottes Wille sein könnte, dieses Gefäß, also die Institution, einmal zu zerbrechen. Was bleibt, sich durchkämpfen muss und schließlich siegen wird, ist nach Emil Brunners Meinung die »Einheit von Christusgemeinschaft im Glauben und Bruderschaft in der Liebe«.

 

Im Zerfallsprozess der Kirche hat es also immer wieder eine Gemeinschaft gegeben – 2000 Jahre lang bis heute – vom Heiligen Geist getragen, die Kirche erwärmte und durchstrahlte. Kirche ist nicht ein Sein, ein System, eine Institution, sondern geistlich gesehen ein dramatischer Prozess, der nie enden wird, solange diese Welt besteht. Es offenbart sich hier das reformatorische Prinzip ecclesia semper reformanda (d. h. die Kirche muss immer wieder reformiert werden). Die Kirche muss immer und immer wieder von ihrem Ursprung her erneuert werden. Die Macht der Absurdität ist eben auch in die Kirche Christi eingebrochen, und es ist die Aufgabe, gegen diese Absurdität eine permanente Revolte in Bewegung zu halten, die mit Gewissheit bis zum Ende der Zeiten nicht aufhören wird.

 

Es wird in der Institution Kirche immer eine solche unsichtbare Bruderschaft geben, die an dieser Kirche leidet, die aber auch immer wieder Kraft zur Revolte gegen die Absurdität im Selbstopfer durchhält und durchsteht. Jesus selbst war in sich die Revolte gegen die Absurdität des Tempels zu Jerusalem, aber auch der Geopferte in seinem Protest gegen diese Konzentration von Macht, Geld und Kult. Es war diese Konzentration der Macht, die ihn durch das Urteil der Hierarchie, also des Hohenpriesters, an das Kreuz auslieferte. Auch diese Dimension im Kreuzestod Christi müssen wir erkennen.

 

Wer in der Nachfolge Christi der Gemeinde Christi dienen will, wird sich opfern müssen, wird – wie Paulus es einmal ausdrückte – den opfernden Schlachtschafen gleich sein. Nur diese Weise christlichen Existierens hindert uns daran, dass man Christentum spielt, wie Kierkegaard es einmal ausdrückte. Es geht darum, echt zu sein und nicht vor sich und anderen das Feierliche des religiös Begeisterten zu spielen.

 

Zu diesem Versuch, Christentum für diese Zeit weltimmanent sinnhaft zu machen, Christliches an weltliche Projekte zu knüpfen, meinte Kierkegaard, unser Christentum habe »Ewigkeit nötig«. Der »Titularchrist« will im Grunde seine Ruhe haben. Alles liegt im Vordergründigen und wird als reparabel dargestellt. Aber was passiert in der eigenen Seele? »Nimm das geängstigte Gewissen fort, so kannst du auch die Kirchen schließen und sie zu Tanzplätzen machen. Denn »der Augenblick des Todes ist die Situation des Christentums«. Hier hören wir wieder das Neutestamentliche: Wir sterben, und siehe, wir leben. Dass der Schmerz zum Christwerden gehört, will heute keiner glauben, weil keiner das Leiden durchschreiten will und kann.

 

 

 

6. Was kann geschehen, und was ist machbar?

 

Eine »Erneuerung« der Kirche, eine Reformation, ist nicht »machbar« und kann nicht »organisiert« werden. Je mehr Spektakel gemacht wird, um das »kirchliche Leben« in Gang zu bringen, umso schneller geht es in den geistigen und geistlichen Bankrott. Wir erleben die Wende zum 21. Jahrhundert kirchlich gesehen als eine Wüstenzeit. Der Heilige Geist weht nur noch schwach über die Dürre quasichristlichen Lebens dahin. Wenn alles ins Stocken geraten ist, wenn der Gedanke stillsteht, wenn die Sprache verstummt, so muss ein Gewitter her. Nur durch ein solches geistliches Gewitter, wie es Kierkegaard herbeisehnt, durch einen religiösen Umbruch sondergleichen könnten die toten Gebeine der Christenheit wieder lebendig werden. Bevor nun dieses nicht Machbare geschieht, kann aber doch weggeräumt werden, was den Heiligen Geist Gottes betrübt. Da geht es zunächst einmal um die Abschaffung der »Büro-Hierarchie« und um volle Souveränität der einzelnen Gemeinde.

 

Die evangelischen Landeskirchen in Deutschland haben mit deutscher »Büro-Wollust« ein büro-hierarchisches System aufgebaut, das weltweit bewunderungswürdig ist. Mit geradezu fassungslosem Staunen führe ich Besucher aus den Niederlanden, der Schweiz und vor allem natürlich aus den USA vor die Kolossalbauten kirchlicher Verwaltung in Deutschland, vor die vielen »Ämter« und »Werke«. Was hier in grenzenlosen Fluren und ungezählten Büros lebt und webt, verwaltet und werkt, entscheidet und »bearbeitet« mit einer Armada von Ausschüssen und Sitzungen, geht ins Gigantische.  . . .

 

Das alles hat weder mit Gemeinde und dem Heiligen Geist noch auch mit Demokratie zu tun. Es gibt zwar Synoden, die in gewisser Hinsicht nach dem Muster politischer Parlamente aufgebaut sind, aber ein Sieb- und Auswahlsystem sorgt dafür, dass Minderheiten wenig zu sagen haben.  . . .

 

Was alles hat das mit urgemeindlicher Demokratie zu tun? Wenn es aber nichts mit Demokratie zu tun hat, stimmt es dann mit der urchristlichen Spiritualität überein? Realisiert sich hier urchristliche Gemeinschaft? Wenn sich aber weder Demokratie noch urchristliche Bruderschaft realisiert — was ist das dann dieses »System«?

 

Wenn Bischöfe, Kirchenpräsidenten oder Synoden oder der Rat der EKD »Erklärungen« abgeben, die oftmals direkt-politisch formuliert sind – in welchem Auftrage geschieht das? Geschieht es im Namen Gottes, der Bibel, des evangelischen Christentums, der evangelischen Gemeinden? Repräsentiert sich gar die evangelische Kirche in ihren öffentlichen Verlautbarungen als Macht ohne Vollmacht und Auftrag?

 

Wenn man diese unsinnigen Strukturen verändern oder abschaffen will, dann muss man mit der Gemeinde beginnen.

 

Dass die einzelne Gemeinde als solche alle Vollmacht hat, ja in sich die sichtbare Gemeinde darstellt, ist ein Grundsatz der Reformation von Luther bis Calvin. Bekannt ist die Klage Luthers in der Einleitung zu seiner Schrift über die gottesdienstlichen Ordnungen: »Ich kann und mag noch nicht eine solche Gemeinde oder Versammlung ordnen oder einsetzen, denn ich habe noch nicht die Leute oder Personen dazu.« Was Martin Luther damals beklagte, würde er auch

 

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heute beklagen müssen. Die mündige Gemeinde gab es nicht und gibt es nicht. Hier aber dürfen wir nicht resignierend wie vor einer ewigen Klagemauer stehenbleiben.

 

Luther selbst hatte eine klare Zielvorgabe. Grundsätzlich ging er davon aus, dass die christliche Gemeinde aus sich »gewisslich erkennen kann, wo das lautere Evangelium gepredigt wird«. Denn Christus habe den Bischöfen, Konzilien und Gelehrten Recht und Macht genommen »zu urteilen die Lehre, und gibt sie jedermann und allen Christen insgemein«. Dabei beruft er sich auf ein Wort Christi: »Meine Schafe kennen meine Stimme« (Joh.10,3). Niemand also sollte leugnen, meint Luther, »dass ein jeglicher Christ Gottes Wort hat und von Gott gelehrt und gesalbt ist zum Priester«, und er beruft sich wieder auf die Bibel: »Ihr seid das königliche Priestertum, dass ihr verkündigen sollt die Tugend dessen, der euch berufen hat zu seinem wunderbaren Licht.« Und für Luther ist es ein Kernanliegen, »dass die Gemeinde, die das Evangelium hat, möge und soll unter sich selbst, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben oder geben lassen«, ist untergegangen im Apparat der Ausschüsse, Räte, Ämter eben der modernen »Funktionsherrschaft« oder des Regimes kirchlicher Manager. . . .

 

In den Gemeinden selbst aber muss sich auch Gemeinschaft realisieren. So wie die Gemeinden sich heute vorfinden, geht es nicht weiter. Es muss in der Mitte einer Kirchengemeinde »eine geistliche Bruderschaft« existieren, die zum Beispiel Abendmahl so feiert, wie es die Urgemeinde auch tat. Es kann nicht angehen, dass die Pastoren dieser Gemeinde als »Titularchristen« oder »Diplomtheologen« mit 28 Jahren ohne geistliche Erfahrung eine Beamtenlaufbahn auf Lebenszeit zur Verkündigung des Wortes einschlagen. Es kann nicht sein, dass – wie in lutherischen und auch anderen Landeskirchen – eine vorgeschriebene Liturgie oder Gottesdienstordnung absolviert wird, die von der Gemeinde überhaupt nicht mitvollzogen, also nicht gelebt wird und die – wie Kierkegaard einmal formulierte – in den Verdacht der »Falschmünzerei« gerät. Es geht auch nicht an, dass jeder, der Kirchensteuern zahlt, im übrigen aber ein Fremdling der christlichen Gemeinde ist und oft gar nicht einmal weiß, zu welcher Gemeinde er eigentlich gehört, seine Kinder zur Taufe bringen kann. Denn – so meint Luther – »solange wir leben, tun wir stets dasjenige, was die Taufe bedeutet, dass wir sterben und wir stehen auf«, und darüber war er sich völlig klar, dass nur »der Glaube rechtfertigt und erfüllt das, was die Taufe bedeutet … denn der Glaube ist ein Eintauchen des alten Menschen und ein Emportauchen des neuen Menschen.« Die Taufe muss also in ihrem Sinngehalt gelebt werden. Taufe ohne Glaube ist unchristlicher Sakramentalismus, der die Gemeinde zerstört, und darum ist die gegenwärtige Taufpraxis nach kirchensteuerlichem Anspruchsrecht ein Triumph der Absurdität, eine langfristige Zerstörung der Gemeinde Christi.

 

Womit also anfangen? Was wäre der erste Schritt? Es wäre der Schritt zur Basisgemeinde. Würde man damit langsam, aber beharrlich beginnen, dann wäre das ein Wegräumen jener Barrieren, die einer echten Reformation im Wege stehen.

 

Ich denke dabei ganz realistisch und praktikabel! Zunächst wäre es einmal wichtig, dass in den Landeskirchen mit der oft beschworenen oder beschimpften Pluralität ernstgemacht wird. Ein offener geistiger und geistlicher Kampf muss ausgetragen werden. Am 3. August 1944 schrieb Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis: »Die Kirche muss aus ihrer Stagnation heraus. Wir müssen wieder in die freie Luft der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.« Ich wiederhole: Der Protest der »Konservativen« gegen den theologischen und somit kirchlichen Pluralismus ist ein Schuss, der nach hinten losgeht. Nur in einer pluralistischen Kirche haben »bibeltreue« Christen eine Chance, zu ihrer eigenen mündigen Gemeinde zu finden. Eine zentralistische »Einheitskirche« wäre das Schlimmste, das passieren könnte. In der Freiheit des geistlichen Kampfes kann sich die Wahrheit durchsetzen, können sich biblisch fundierte Gemeinden bilden.

 

Christentum wird nicht durch Lehrsysteme, Dogmen, Werbetechniken oder Happenings vermittelt. Christliche Gemeinde wächst durch Existenzmitteilung. »Jedes andere Vorstudium muss eo ipso mit einem Missverständnis enden, denn Christentum ist Existenzmitteilung«, sagte Kierkegaard. Die Wahrheit muss in das Dasein eingehen, und die neue Geburt aus Glauben wird schmerzlich sein, zumal »keine Weichlinge ins Himmelreich eingehen können«. Es geht um Schmerz, Tiefe und Leidenschaft, weil allein Strenge zu retten vermag. Heute aber wird in populistischen Predigten, in denen sich das Christentum geradezu anbiedert, das Christentum in der Christenheit abgeschafft mittels der Milde. Und was Kierkegaard schon vor 150 Jahren voraussah, formulierte Bonhoeffer vor der Mitte dieses Jahrhunderts als die Katastrophe »der billigen Gnade«. Billige Gnade gießt die Liebe Gottes über alle Absurditäten dahin; sie verklärt die Absurdität und rechtfertigt die Sünde. Die teure Gnade aber ist die Gnade für den bußfertigen Sünder, der an der Absurdität in sich selbst und in der Welt leidet und danach dürstet, ein neues Leben aus Vertrauen zu Gott beginnen zu können.

 

Dies alles kann nur gelebt werden in der einzelnen Gemeinde, die dann wie eine »Stadt auf dem Berge« den Menschen leuchten soll. Dazu schrieb Bonhoeffer in dem bereits zitierten Brief: »Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, für andere da zu sein. Speziell wird unsere Kirche den Lastern der Hybris, der Anbetung der Kraft und des Neides und des Illusionismus als den Wurzeln allen Übels entgegentreten müssen. Sie wird von Maß, Echtheit, Vertrauen, Treue, Stetigkeit, Geduld, Zucht, Demut, Genügsamkeit, Bescheidenheit sprechen müssen. Sie wird die Bedeutung des menschlichen Vorbildes (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat und bei Paulus so wichtig ist!) nicht unterschätzen dürfen. Nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.«

 

 

 

 

 

Teil VII. Ohne Gehorsam gegen Gott folgen Zerstörung von Person und Moral

 

 

 

1. Der Mensch kann nicht »natürlich« leben

 

An die Absurdität in der Natur habe ich in diesem Buch mehrfach erinnert: Leben als Wille zum Leben ist auf den Tod programmiert. Die Schöpfungslust lebt im Schatten der Angst, und Leben als Überleben ist nur um den Preis des puren Triebes zur Macht im Kampf um das Dasein zu haben. Leben in der Natur lebt auf Kosten anderen Lebens. Dabei geht es gar nicht vornehmlich um die Erhaltung der Art im natürlichen Gleichgewicht, sondern im Vordergrund dieses Lebenskampfes steht jeweils der Machttrieb des Stärkeren in der eigenen Art.

 

Würde der Mensch in diesem Sinne »natürlich« leben, dann würden für ihn genauso diese brutalen Gesetze des Kampfes um das Dasein gelten, und nur die »Mächtigen« könnten überleben. Und was wäre dann diese Macht anderes als Grausamkeit?

 

Das Ethos mit den Geboten »nicht morden«, »nicht ehebrechen«, »kein falsches Zeugnis reden«, »Vater und Mutter ehren« und »nicht begehren, was deinem Nächsten gehört«, ist darum »unnatürlich«. Ethos ist die Revolte für die Menschlichkeit gegen die absurden Spielregeln, die wir »natürlich« nennen.

 

Nach dem Urteil der »Biblischen Religion« lebt der Mensch in und mit der Natur, die ja Schöpfung Gottes ist. Aber seit der Bestattung seiner Toten lebt er auch in der Revolte gegen den Kreislauf von Leben und Tod in der Natur. Der Mensch ist mehr als die Natur, und er ist anders als die Natur. Nach biblischer Erkenntnis ist er nicht zum Ebenbild der Natur, sondern zum Ebenbild Gottes geschaffen.

 

Aber dieses »Ebenbild Gottes« ist selber wieder Opfer der Absurdität geworden — es ist die Absurdität, die sich in ihm gegen ihn erhebt. Diese »innermenschliche Absurdität« benennt die Bibel mit dem heute so ausgelutschten Wort »Sünde«. Sünde ist letztendlich der weder durch das Gewissen noch durch das Gebot, noch durch die Liebe begrenzte und geleitete pure Wille zur Macht. Die Geschichte vom Sündenfall, sagt unmissverständlich aus: Sünde ist der Wille zur Macht bis zum Allerletzten, um Gott gleich zu sein, ja eben selbst Gott zu sein.

 

Dieser »Sünde« genannten Absurdität stehen gegenüber der Gehorsam gegenüber Gottes Gebot und die Liebe zu Gott und den Menschen.

 

Auf die Frage eines Pharisäers, welches Gebot das wichtigste sei, antwortet Jesus: »Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Dieses »Doppelgebot« ist der doppelte Protest gegen die Absurdität gottverlassenen Kampfes um das Dasein, in dem die »Natur« des Grausamen siegt.

 

Nun ist dieses 20. Jahrhundert ein einziger Aufstand gegen dieses biblische Verständnis des Menschseins – ein Aufstand allerdings im Namen der »Natur«. »Natürlich« steht gegen »biblisch« oder »christlich« und was die Zwergschimpansen tun und lassen, soll auch der Mensch tun und lassen. Der Natur keine Grenzen setzen – das ist die Parole der Kultur- und Moralrevolution. Im Hitlerismus bedeutete die »Auslese« der Herrenrasse im Kampf um das Dasein eines Volkes die gebotene Erfüllung der »Gesetze der Natur«. Heute bedeutet »natürlich« alles, was Lust und Selbstverwirklichung um jeden Preis ausleben lässt, denn alles was Lust bringt, ist natürlich. Aber Lust – so lehrt uns die Psychologie, – ist immer mit Macht gekoppelt.

 

So ist dieses Jahrhundert durchgängig der naturalistische Aufstand gegen das die Natur überwindende Ethos der Bibel.

 

 

 

2. Biblisches Ethos ist Vertrauens- und Gehorsamsethos

 

Die Tatsachen der »postmodernen« naturalistischen Umwälzung zwingen uns zu der Erkenntnis, dass wir mindestens seit diesem 20. Jahrhundert in einer Kultur- und Moralrevolution leben, die in der europäischen Geschichte unvergleichbar ist und ihren Höhepunkt immer noch nicht erreicht hat. Die Sachlage ist für einen christlichen wie jüdischen Theologen eindeutig: Gegenwärtige Moralrevolution will die radikale Verneinung des Gehorsams gegenüber dem Gebot Gottes, eben des Gebieters der Gebote.

 

Wer heute in der Schule, in der Predigt oder in der politischen Rede Gehorsam gegenüber Gottes Gebote einfordert, erntet Aufschreie. Nur wozu man Lust hat, was sich als »geil« darbietet, so dass man »darauf einen Bock hat«, bewirkt Motivationen des Handelns. Beschrieben werden sie in der Vulgärsprache, die ja eigentlicher Ausdruck unserer lustbetonten Zivilisation ist und somit dem »Fäkalienbereich« entnommen. An die Stelle von »gut« oder »böse« treten die Differenzierungen »geil« oder »Scheiße«. In allen Sprachen der euro-amerikanischen Zivilisation sind in ähnlicher Weise im Alltagsgebrauch die »Wert-Unwert-differenzierungen« auf dieses Niveau der Fäkaliensprache hinabgesunken.

 

Lust und Unlust aber sind gerade nicht die Motivation des biblischen Ethos, also weder der jüdischen noch der christlichen Ethik. Die Inhalte des biblischen Ethos werden durch das Wort Gottes vermittelt, das gehört wird und zum Gehorsam aufruft. Es ist das Hören und der daraus folgende Gehorsam, der diesen Gott »verinnerlicht«. Die Verneinung des Hörens und die Aufkündigung des Gehorsams, wie wir es heute erleben, bedeutet nicht nur das Ende des Glaubens an Gott, sondern konsequenterweise auch des in ihm beschlossenen Ethos, also das Ende herkömmlicher Unterscheidung zwischen Gut und Böse.

 

Das biblische Ethos wird verkündigt: »Und nun höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich euch lehre, dass ihr sie tun sollt, auf dass ihr lebet …« Die Menschen können die Güte Gottes nach biblischem Urteil nur »erleben«, wenn sie »diese Rechte hören und sie halten« (5.Mo7,12). Die Erziehung zum autoritativen, von Gott eingeforderten Gehorsam gegenüber sich selbst und im Verhältnis der Menschen zueinander, ist gerade das Fundament im Verständnis menschlichen Daseins, wie es sich in der Bibel darstellt.

 

Mit dem Neuen Testament ändert sich an dieser Basis des Ethos nichts. Auch das Ethos des Jesus Christus ist wie das der Urgemeinde ein verkündetes, zum Hören und Gehorsam aufrufendes Ethos. In der Bergpredigt verkündigt Jesus, dass, »wer diese meine Rede hört und tut sie«, einem Manne zu vergleichen sei, der sein Haus auf Felsen baue. Jesus beansprucht und verheißt als Gesandter Gottes: »Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat«, ewiges Leben habe (Joh.5,24). Wenn Mose einfordert »der Stimme des Herrn … zu gehorchen« und die Apostel der Urgemeinde dazu aufrufen »Gott mehr zu gehorchen als den Menschen« (Apg 5,29), wird noch einmal deutlich, dass von Mose bis zu Jesus und zu den Aposteln der Urgemeinde das Hören und der Gehorsam gegenüber der autoritativen Anrede Gottes Basis des biblischen Ethos ist.

 

Das biblische Ethos wird übrigens niemals rational begründet, es wird ganz einfach eingefordert. Das Ja oder Nein zu diesem Ethos geht nicht über den Weg begrifflicher Begründung, sondern über den Weg des Vertrauens. Die Gebote am Sinai wurden dem israelitischen Volke ja von einem Gott gegeben, der es aus der Gefangenschaft Ägyptens heraus in die Freiheit geführt hatte. Diese Befreiungstat steht als Magna Charta am Anfang der sogenannten Zehn Gebote: »Ich bin der Herr« dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.« (2.Mo20,2) Dieser Satz wird uns noch mehrfach beschäftigen. Hier halten wir nur fest: Gehorsam und Freiheit sind einander zugeordnet. Wer den Gehorsam verliert, der verliert auch die Freiheit.

 

Noch einmal: Dieses Gehorsamsethos der Freiheit orientiert sich nicht an der Natur. Natur ist Kampf ums Dasein. Natur meint das Darwinsche »survivel of the fittist«. Natur ist Lust und Macht, eine Balance des Schreckens in der Permanenz der Angst, die eindeutig das stärkste Gefühlselement der Kreatur ist. Das zum Gehorsam aufrufende Gebot ist der einzige Schutz der Schwachen, denn Barmherzigkeit kann nicht aus der unbarmherzigen Natur abgelesen, sondern nur im Gehorsam und im Vertrauen und schließlich in der Liebe angenommen und gelebt werden. Das Gebot Gottes bringt Barmherzigkeit und Liebe in die Menschheit.

 

 

 

3. Ist aber Gehorsam nicht repressiv und faschistoid?

 

Natürlich drängt sich die Frage auf, ob solch ein Gehorsam nicht schlussendlich ein Unterwerfungsakt sei, der das Individuum auslöscht und als blinder Gehorsam in Abgründe der Abhängigkeiten führen kann.

 

Wer grundsätzlich biblische Gehorsamsstruktur als solche mit »faschistoid« abqualifiziert, muss konsequenterweise Mose als den Urvater des Faschismus verurteilen. Das biblische Ethos nach dieser Logik als »herrschaftslegitimierendes Weltbild« zu verneinen, gehört allerdings zum Axiom aller vereinigten Kultur- und Moralrevolutionäre dieser Zeit. Ganz klar und unmissverständlich ist hierauf zu antworten: Nicht ob Gehorsam gelebt wird ist entscheidend, sondern gegenüber wem er gelebt wird, ist bedeutsam.

 

Hören ruft ja in die Entscheidung: Wem höre ich zu? Wem gehöre ich? Wem bin ich gehorsam? Gehorsam — im biblischen Sinne — wird nicht durch Zwang aufgenötigt, sondern in der freien Entscheidung gewählt.

 

Gott begegnet dem Menschen dadurch, dass er ihn anruft. Personare heißt wörtlich »durchtönen«, so wie der Schauspieler der Antike durch seine den ganzen Kopf bedeckende Maske (persona genannt) hindurchrufen musste. Der Mensch wird Person in der Begegnung mit dem persönlichen Gott, der ihn als Person anruft. Das heute dahinschmelzende euro-amerikanische Verständnis der »Persönlichkeit« ist ohne diese Vermittlung der Personalität des jüdisch-christlichen Gottesverständnisses undenkbar. Unsere herkömmliche Personalität ist mit Gottes Offenbarung als Person auf Gedeih und Verderb verbunden. Ohne das hörende und gehorsame Gegenüber Gottes, der uns auch im Gewissen anruft, kann verantwortliche Personalität nicht sein. Verantwortlichkeit steht und fällt mit der Antwort auf das Wort, das autoritativ, Gehorsam einfordernd zu uns spricht. Auf diesem »Kernprozess« der freien, sittlich verantwortlichen Persönlichkeit beruht alles, was wir an unserer europäischen Kultur wertvoll fanden und auch heute noch finden können.

 

 

 

4. Biblischer Gehorsam ist Voraussetzung für Individualität

 

Wir erinnern uns: Der Weg durch das Schilfmeer, die Rettung vor der Verfolgung des Pharao, das Voranschreiten des Mose war ein Weg durch das Chaos im Glauben an die Treue Gottes.

 

Die äußeren geschichtlichen Begebenheiten zeigen dabei auf die Parallelität eines seelischen Erziehungsprozesses, den Erich Neumann, ein Schüler C. G. Jungs, überzeugend dargestellt hat. Für Neumann ist Religionsgeschichte — insbesondere biblische — die Geschichte der Bewusstwerdung und damit der Individuation. Aus der kollektiv besetzten, chaotischen Triebhaftigkeit geht der Weg der Menschwerdung zur inneren Organisation des Individuums. Dieser Weg ist begleitet von dramatischen Konflikten. Die innere Auseinandersetzung zwischen dem Überich (Gott) und der Libido (Lustpotential in seiner ganzen Tiefe und Breite) sieht Neumann dargestellt in religiösen Symbolen des Kampfes mit Chaos (Ur-Meer) und Chaosgestalten (Drachen usw.). Die Libido wird dabei nicht verdrängt oder ausgetrocknet, sondern im Gehorsam gegenüber dem »Überich«, das als »Gott« erfahren wird, so eingeordnet, wie in den Schöpfungsaussagen der Bibel das Chaosmeer in das Ganze der Schöpfung eingeflochten wird: »Er hält die Wasser des Meeres zusammen wie in einem Schlauch«; »der du stillst das Brausen des Meeres, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker« (Ps.65,8). Der Mensch ist einbezogen in das Drama des Kampfes von Ordnung gegen Chaos. Persönlichkeit wird, wer dieses Drama in der Selbstüberwindung bewusst auf sich nimmt.

 

Was für Neumann vermutlich nur religiöse Symbolik in der Entwicklung der Psyche ist, stellt sich im Grunde als geschichtliche Wirklichkeit dar: Jede Seele hat ihre Geschichte — aber jede Geschichte hat auch ihre Seele. Und die Bibel erzählt von dieser Seele der Geschichte.

 

Welche »Seele« die biblische Geschichte hat, zeigt dieses Beispiel: Israels Verharren am Schilfmeer, sein Wehklagen darüber, die Fleischtöpfe Ägyptens verlassen zu haben, seine Willigkeit, in die Diktatur des Pharao zurückzukehren, der ausbrechende Hader gegen Mose, der das Volk aus sklavischer Infantilität herausgeführt hatte und herausführen will – das entspricht der Situation eines jeden Menschen, der den Weg des Hörens und Gehorchens verneint und zurück will in die Geborgenheit des Ur-Mutterschoßes, wo es kein Hören und kein Gehorchen gibt. Das ist das Nein zur Personalisation: Man möchte abtauchen in die verantwortungslose, rauschhafte, emotional besetzte Infantilität. Lieber wieder als Kind oder Sklave in einer Diktatur leben, denn als freier und verantwortungsvoller Mensch sein Leben in Freiheit gestalten. Aber im Blick auf das Israel, das nun doch nicht stehenbleibt, das innere und äußere Chaos im Schilfmeer durchschreitet, auf den Ruf Gottes hört und in den Prozess der Personalisation einsteigt, erkennen und sehen wir die reale Möglichkeit der Individuation. Die Retrogression in die Infantilität ist im Vertrauen zu Gott überwunden: »Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein.«

 

So wird der Weg in die Individuation beschritten durch das Vertrauen in Gott. Ohne Glauben an die Personalität Gottes ist Personalität des Menschen undenkbar. Nur im Gehorsam kommt es zum Exodus aus der chaotischen Infantilität in die mündige Personalisation und damit in die Freiheit: »Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der Herr zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und machte das Meer trocken, und die Wasser teilten sich. Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken.« Die Israeliten gingen hindurch, aber die Ägypter ertranken, weil über ihnen die Wasser zusammenschlugen. Die einen gingen den Weg in die Freiheit einer verantwortlichen und auf Gott hörenden Persönlichkeit. Die anderen versanken im Chaos ihrer zur Sklaverei führenden Infantilität. Das ist die »Seele« der Geschichte vom Durchzug durch das Schilfmeer.

 

Ein Volk überwindet gleichzeitig die infantilisierende Diktatur und die chaotisierende Natur. Das ist die Revolte des Hörens und Gehorchens. Dieser Prozess ist gleichzeitig eine geschichtliche, politische aber auch psychische Realität. Dass sich heute der Prozess unserer Psyche in eine gegensätzliche Richtung hinein abspielt, wird uns gleich beschäftigen.

 

Die Repräsentation der biblischen Personalisation geschieht geschichtlich und seelengeschichtlich durch die Vatergestalt. Sie gilt als repräsentativ für Überwinden, Wagen, Kämpfen, Gehorsam und Vertrauen. Gehorsamsethos ist ein patriarchales Ethos. Gottvater ist der Gebieter – und der Mann Mose war sein Vermittler. Im Vaterhass unserer gegenwärtigen Zivilisation, in der Umkehr vom Patriarchat zum Matriarchat, von der Gehorsamsethik zur Gefühlsethik zeigt sich heute ein radikaler Bruch mit dem jüdisch-christlichen Erbe. Das ist der Kernprozess der Moralrevolution in diesem 20. Jahrhundert. Der Abbau des Gehorsams entspricht Schritt um Schritt dem Abbau des patriarchalen Gottesverständnisses in der Seele des modernen und postmodernen Menschen. Für die »Biblische Religion« aber gilt: Ohne Patriarchat kein Ethos des Gehorsams und ohne patriarchales Ethos des Gehorsams keine Freiheit.

 

 

 

5. Ist nur der religiöse Mensch ein sittlicher Mensch?

 

Muss man Christ oder Jude sein, um sich moralisch zu qualifizieren? Gibt es nicht auch ein allgemeinmenschliches, von allen Religionen
unabhängiges Ethos?

 

Es gibt solch ein spezifisch menschliches Ethos, das — nach den Worten des Apostels Paulus — den Menschen in »ihr Herz geschrieben ist« (Röm.2,15). Unabhängig von der besonderen Religiosität waltet ein allgemein menschliches, eben humanes Ethos, das aber auch ein Ethos des Gehorsams ist. Aus dem Herzen (»Herz« ist im Hebräischen ein Synonym für »Gewissen«) kommt ein Befehl. Es ist der Befehl des Gewissens. Den hören auch die »Heidenvölker«, die nichts vom Gott des Mose oder Vater Jesu Christi gehört haben.

 

Im Urteil biblischen Geschichtsverständnisses ist die Menschheit eine Einheit, die durch Gestalten wie Adam, Eva und Noah (der nach biblischer Geschichte mit seiner Familie die Sintflut überlebte) repräsentiert wird. Das Ethos von Adam bis Noah ist das Ethos der Menschheit schlechthin — nach biblischem Verständnis. Es ist aber — so sagt es die »Biblische Religion« — ein ursprünglich in der Urgeschichte der Menschheit uroffenbartes, eben von Gott ins Herz geschriebene Ethos, das nicht vom Menschen erfunden und von ihnen auch nicht aus der Natur abgelesen, sondern von Gott geboten wurde. Auch dieses Gewissensethos kann im »inneren Gehorsam« angenommen werden und gilt für alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten.

 

Die Halacha (die mündliche Lehrtradition jüdischer Ethik in der Auslegung des Ethos im Alten Testament) entwickelte von hier aus die sogenannten noachitischen Gebote, die in etwa den Zehn Geboten vom Sinai entsprechen. Die Gestalt des Noah (das Geschlechtsregister Jesu im Lukasevangelium nennt Noah als Ahnherrn Jesu (Luk3,36) ist als Urgestalt dieses Gehorsams für Humanität schlechthin repräsentativ. Aber dieser Noah war auch »gläubig«, denn er vertraute ganz und gar auf Gott, als er eine Arche auf dem trockenen Lande baute. Das tat er zu einer Zeit, als die Sintflut zwar von Gottes Offenbarung vorausgesagt, aber noch nicht abzusehen war. Damit will die biblische Geschichte sagen: Dieser Noah war allem Anschein zum Trotz ein an Gott glaubender Mensch — und darum war er gehorsam (Hebr.11,7). Das heißt wiederum: Gehorsam und Vertrauen, das Hören auf den Befehl des Gewissens und das Vertrauen in eine »höhere Macht« — auch wenn die Psychologen sie das »Über-Ich« nennen — gehören unauslöschlich zusammen.

 

Die biblische Geschichte von der Sintflut hat ihre Parallele zum Exodus aus Ägypten. Noah führt im Vertrauen und Gehorsam gegenüber dem Gebote des Gebieters seine Arche über die Chaosmacht — dargestellt durch die Urflut — hinweg. Das entspricht dem Hindurchschreiten Israels durch die Wasser des Schilfmeeres, als es sich aus der Gefangenschaft Ägyptens befreit. Es ist beide Male der Weg aus dem Chaos von Lust- und Machttrieb in die Freiheit der persönlichen Verantwortung. In beiden Fällen ist der Gehorsam aus dem Vertrauen der eigentliche Prozess der inneren Befreiung. So wurde Noah »zum Prediger der Gerechtigkeit«, zur Symbolgestalt all derer, denen durch die Uroffenbarung Gottes das Gesetz in das Gewissen hineingeschrieben wurde.

 

Aber wie es ein Nein zum biblischen Wort gibt, so gibt es auch ein Nein zum Anruf aus dem Gewissen. Nicht alle Menschen folgen dem Befehl des Gewissens, und darum gibt es eben nicht für alle Menschen eine allgemein verbindlich anerkannte Ethik. Auch dafür bringt die Bibel ein Beispiel: Da ist die Rede von der Sünde Hams, der wie »unvernünftige Tiere, die von Natur dazu geboren sind« (2.Petrus 2,12), sein Verderben bewirkte. Was tat dieser Ham, einer der Söhne Noahs? Ham besah die Nacktheit seines Vaters Noah schamlos an, als dieser trunken im Zelt lag. Ham ist in der Verachtung des Vaters die Gestalt der Schamlosigkeit und der Vaterverlorenheit. In Ham stellt sich blinder Lust- und Machttrieb gegen den »Befehl des Gewissens«. Ham handelt gegen den Befehl des Gewissens in der Verachtung des Vaters.

 

Verachtung der Autorität ist Verachtung der Würde, und Verachtung der Würde ist Schamlosigkeit. Autoritätslosigkeit und Schamlosigkeit sind Geschwister — wie gleich noch näher zu erläutern sein wird. Darum ist Ham der Urtyp der Schamlosigkeit und Autoritätslosigkeit und gleichzeitig der Urtyp antipatriarchalischer Revolution. Unser Zeitalter ist das Zeitalter Hams.

 

Israel war als »alttestamentliches Gottesvolk« ganz und gar patriarchalisch orientiert. Das Alte Testament war und ist ein patriarchalisches Dokument. Aber wegen dieser »Vaterorientierung« musste Israel gegen eine (religionsgeschichtlich gesehen) feindliche Umwelt um Sein und Nichtsein kämpfen. Die Völker dieser Umwelt lebten mit Muttergottheiten, die grausam waren und grausame Opfer forderten. Kindesopfer und sakrale Prostitution, der Verkehr mit »heiligen Dirnen« vor dem Götzenbild gehörten zum religiösen Alltag. Grausame Kulte, die in der Ekstase zur Selbstverstümmelung führten und zumeist durch Rauschmittel gesteigert wurden, charakterisierten diese Religiosität, während die »Gesellschaftsordnung« – tyrannisch und mit grausamen Unterdrückungsmechanismen – schlussendlich eine Sklavengesellschaft war.

 

Es ist eben nicht so, dass im postmodernen Naturalismus, im fast sektiererischen Gesundheitskult, in der Verklärung des Natürlichen, im Nein gegen die Väter auf Erden und gegen den Vater im Himmel, in der Permissivität der Schamlosigkeit, in der Rückkehr des Matriarchats etwas ganz und gar Neues, also ein »Fortschritt« in diese Welt hineingekommen sei. Vielmehr ist es so, dass wir heute eine infantilisierende Regression in das Archaische der Natur- und Muttergottheiten erleben. Das bedeutet praktisch: Zurück in die Urhorde, wie es von Theodor Adorno bis Ernest Borneman erwünscht und erhofft wurde. Anti-Vater-Regression ist in biblischer Perspektive Anti-Gott-Revolution. Edward C. Whitmont, der für unsere Zeit den Untergang der Vatergottheit und die »Rückkehr der Göttin« diagnostiziert, stellt fest: »Das Gefühl unserer Zeit, Gott sei tot, bedeutet, dass die Führung des Über-Ich als psychologische Dominante weitgehend an Geltung eingebüßt hat. Gesetz und soziale Ordnung werden nicht mehr als gottgegeben und geheiligt betrachtet. Die sozialen Strukturen gelten als ich-bestimmt, für willkürliche Verträge, die auch aufgekündigt werden können.« (E.C. Whitmont, Die Rückkehr der Göttin. Von der Kraft des Weiblichen in Individuum und Gesellschaft, 1982, S.137).

 

 

 

6. Es geht um Sein und Nichtsein der »Persönlichkeit«

 

Wer in einem Gehorsamsethos lebt, durchschreitet eine kritische Spannung, überwindet grausame Widerstände, steht sich selbst knallhart realistisch und kritisch gegenüber. Was die großen heilsgeschichtlichen Dramen mit der Rettung aus dem Schilfmeer und aus der Sintflut offenbaren, sieht der Apostel Paulus als einen Prozess seines eigenen Daseins: »Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich.« (Röm.7,15). Der Apostel erkennt, dass er das Gute will, aber nicht vollbringen kann, dass in ihm die Entfremdung von seinem Ich wie eine dämonische Macht agiert: »Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen …« Die Spannung zwischen Gut und Böse wird hier weder verdrängt noch ausgeredet, weder psychologisch noch soziologisch erklärt (etwa aus Widrigkeiten der Kindheit, gesellschaftlichen Umständen oder psychischen Fehlleistungen). Hier weiß ein Mensch um seine persönliche Verantwortung. Ebenso wichtig ist die Verwundbarkeit angesichts dieser Selbstentfremdung, das Schuldbewusstsein und die daraus entstehende Gewissheit der Vergebung und die Kraft der Überwindung.

 

Vor uns steht hier der verantwortliche, sich realistisch einschätzende, gehorsame, verwundbare, mit sich selbst ringende und somit ethisch hoch sensibilisierte Mensch, der wirklich mündig ist, weil er um seine eigene Verantwortung weiß und sie sich nicht ausreden lässt. Dieser Gehorsame ist belastbar, man kann ihm vertrauen, er ist gewissenhaft und ideologisch unverführbar. Dieser Typ des biblisch geprägten Menschen ist – oder besser war – Fundament jener rechtsstaatlichen Demokratie, wie sie sich in Europa und in den Vereinigten Staaten entwickelt hat. Solche Menschen waren in der euro-amerikanischen Gesellschaft das Salz von »Law and Order«. Nur wer in sich selbst diesen Prozess einer ordnenden Personalisation durchlebt hat, kann auch nach außen in das politische Umfeld den Prozess einer ordnenden Stabilisierung hineintragen. Demokratie ohne diesen Gehorsam des mündigen Menschen endet in der Anarchie.

 

Aber diese »Persönlichkeit« stirbt aus in der euro-amerikanischen Gesellschaft, wo immer biblische Religiosität untergeht. »Himmel- und Väterwelt«, Gebot und Gehorsam sind dann nicht mehr repräsentativ für gegenwärtige Gesellschaft. Schon 1949 erkannte E. Neumann: Der »unbewusste Massenmensch steht im Gegensatz zum Bewusstsein und zur Kulturwelt. Er steht im Gegensatz zur Bewusstseinsbildung und Entwicklung. Er ist irrational und emotional, antiindividuell und destruktiv. Er entspricht mythologisch dem negativen Aspekt der großen Mutter … Da kommt es zu dem schrecklichen Phänomen der Regression zum Massenmenschen, das in den Rekollektivierungsepidemien der Massen manifest wird.« Neumann sprach schon damals von der »toxischen Wirkung der Massensituation«, die in ihrer »Rauschhaftigkeit« liegt. Die Auflösung der Person – so Neumann – ist zunächst einmal »lustbringend«. Aber die Lust ist die Lust im »Absinken des Ich-Bewusstseins in der Regression«. Wir fallen heute – biblisch ausgedrückt – in die Sintflut unserer chaotisierten, nicht personal eingeordneten Libido zurück, versinken im Ozean der Triebwelt, kehren in den Mutterschoß der Chaos-Urmutter zurück.

 

Torsten Knödlers Kommentar zur Berliner »Love-Parade« vom Juli 1995 dokumentiert geradezu die These von der Rückkehr in den Ur-Schoß dieser »Chaos-Mutter«. Ich zitiere daraus einige Sätze: »Über den Kurfürstendamm dröhnt elektronische Musik aus Hunderttausend-Watt-Boxen, die auf 35 Sattelschleppern dahinrollen – das Tausendfache einer guten Zimmeranlage. Ein Presslufthammer ist dagegen ein sanftes Summen … 250.000 Techno-Fans, sagt die Polizei, sind an diesem 8. Juli 1995 zur >Love-Parade<, der größten Open-Air-Disco-Fete der Welt, angereist. Die Veranstalter sprechen sogar von einer halben Million … Die Raver-Treffen sind Massenpsychologie pur: Die Menschenmenge lässt die Eigenheiten ihrer Mitglieder verschwinden und bildet eine eigene Seele … Der einzelne befindet sich in einem Zustand der Hypnose … Love-Parade 1995: Begehrte Plätze sind besonders Laternen, die im Takt der zuckenden Leiber mitschwanken. Ampelmasten werden belagert … Autodächer dienen als Tanzfläche. Im Gedränge ist die Polizei machtlos. Die Leiber zucken wie vom Schüttelfrost gepackt. Beim Einsetzen der Bässe johlt der Pulk… die Sonne senkt sich. Die angeturnten Raver lassen ihre Leiber weiterzucken – bis tief in die Nacht. In mehr als fünfzig Clubs und Discos wummert die Party weiter.«

 

Gesellschaftlich werden wir also infantilisiert. An die Stelle der realitätsbewussten Persönlichkeit tritt die utopische Verkennung der Umwelt durch »Kids«. Die Welt wird nun mit den Augen verwöhnter und lärmender Kinder betrachtet, die nicht verstehen, dass die böse Welt Kinderträumen entgegensteht. Hier finden grenzenlose Utopien ihren Raum. Unsinnige politische Erwartungshorizonte eines grünen Friedens auf der einen und panikhafte Reaktionen auf Störungen in Gesellschaft und Umwelt auf der anderen Seite bestimmen das Bild.

 

Der reinfantilisierte moderne Mensch will kein Opfer bringen und ist leidensunfähig. Er flieht vor Gehorsam und Gewissen. Die Schlamperei an sich selbst, in sich selbst und um sich herum macht aus Städten monströse buntbemalte Kinderzimmer. Jeder Urschrei, jeder Lustgewinn wird an die Wände geschmiert und in die Welt hineingerufen. Der reinfantilisierte Neonaive meint im kindlichen Trotz, er habe immer recht – aber die Realität dieser Welt hat er noch nicht durchlitten und erkannt. Absolute Werte stürzen zusammen, kindische Wünsche und Begierden wollen diese wie einen alten Ballast der Mühseligkeit abschütteln.

 

An die Stelle des Gehorsams gegenüber dem Anspruch von Gott und Gewissen tritt die Gier nach bedingungsloser Selbstverwirklichung. An Stelle von Sauberkeit, Ordnung und Recht triumphieren Chaos, Mafia und Müll. Eine Gesellschaft wird zerstört, »wie es in den Tagen Noahs war«, denn »sie aßen, sie tranken, sie heirateten und ließen sich heiraten bis an den Tag, an dem Noah in die Arche hineinging; und sie beachteten es nicht, bis die Sintflut kam und raffte sie alle dahin« (Matth.24,37) – so die Prophetie des Jesus von Nazareth, die wir uns für unsere heutige Zeit heranziehen können.

 

Nicht so sehr an der Explosion äußerer politischer Konflikte (das auch) als vielmehr an der Implosion innerer Selbstzerstörung des Individuums könnte unsere Kultur zugrunde gehen. Wenn das jüdisch-christliche Erbe von dieser Gesellschaft nicht mehr angenommen wird, dann folgt dem Holocaust des 20. ein Holocaust des 21. Jahrhunderts.

 

 

 

7. Schamlosigkeit als Charakteristikum entpersönlichter Gesellschaft

 

Ein anderes Charakteristikum unserer postmodernen Gesellschaft ist die Schamlosigkeit. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts hat sich die Revolution dieser Schamlosigkeit durchgesetzt, die in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern etwa nach dem Ersten Weltkrieg begann und sich heute im euro-amerikanischen Lebensstil praktisch vollendet hat. Unter dem Schlagwort »Enttabuisierung« ist die Auflösung der Scham zunächst vor allem in die sexuelle Dimension unseres Daseins eingebrochen. Kurt W. Marek, der unter dem Pseudonym C. M. Ceram zu Anfang der 50er Jahre mit seinem Buch »Götter, Gräber und Gelehrte« einen Bestseller-Erfolg erzielen konnte, meinte schon 1960 in seinen »Provokatorischen Notizen«, es sei vorauszusehen, dass man sich in absehbarer Zeit mit selbstverständlichem Gebrauch von Wörtern, »die heute noch als obszön gelten, auf einer Party mit weitläufig Bekannten über den letzten Koitus unterhalten wird«.

 

Das sanft errötende Mädchen angesichts des erotisch-aufwühlenden Blickes eines herzklopfenden Jünglings ist – von einigen wenig übrig gebliebenen »Urtypen« abgesehen – ausgestorben. Dafür blicken wir heute in das emotional-kalte Antlitz einer Emanzipierten, die – ganz und gar aufgeklärt – darauf eingestellt ist, in puncto puncti technisch begabt zur Sache zu kommen.

 

Es wäre wenig sinnvoll, den Absturz der personalen Erotik zum depersonalisierten Sexkonsum hier weiter auszuführen. Die Print- und Telemedien in gleicher Weise übermitteln Sex als Libido-Konsum und Unterhaltungsartikel, und der Begriff »Pornographie« (»Beschmutzung«) stimmt heute schon darum nicht mehr, weil nach den Maßstäben der Schamlosigkeit die »Beschmutzung« der Sexualität, also ihre ethische Bewertung ausgeschlossen wird. Dadurch geht die Qualität der Erotik, das einmalig Glück im Zueinander von personaler Liebe und personalem Sex verloren.

 

Sexualität, Konsumrausch, Aggressivität und Brutalität sind heute logisch-zwangsläufig miteinander gekoppelt. Eine Welle der Grausamkeit, wie sie in der antiken Welt durch Muttergottheiten symbolhaft dargestellt wurde, kommt auf das einst christliche Abendland zu wie eine Sturmflut im Spätherbst.

 

Die Schamlosigkeit ist natürlich keineswegs auf den sexuellen Bereich beschränkt. Schamlosigkeit waltet in allen Dimensionen unseres Daseins, so auch als religiöse Unverschämtheit. Im Schlosstheater zu Rastatt wurde 1993 eine Komödie unter dem Titel »Der Messias« aufgeführt. Hier wurde Jesus als Narr mit Wundmalen an Händen und Füßen, nackt und mit entblößtem Geschlechtsteil, grinsend auf einem Querbalken sitzend, dargestellt. Es gibt keine Scham angesichts religiöser Aussage, die einstmals zu innigster Betroffenheit christlichen Menschseins gehörte.

 

In Essen wurde – ebenfalls 1993 – in einem Prospekt zur Inszenierung des Troubadours die Abendmahlshostie mit dem Sperma und der Abendmahlswein mit dem Urin Jesu »identifiziert«. Wichtig dabei ist doch: Schamlosigkeit und Ehrfurchtslosigkeit, Enttabuisierung und der Untergang des Heiligen sind Phänomene ein und desselben Prozesses einer total wertauslöschenden Vergleichgültigung. Die Unfähigkeit zur Scham gesellt sich zur Unfähigkeit der Trauer, zur Vergleichgültigung des Todes. Tränen werden bei Bestattungsfeiern nur noch selten vergossen, Tote werden bald nicht mehr bestattet, sondern nur noch »entsorgt« werden. Wir können nicht mehr trauern, weil wir nicht mehr lieben. Dass die Liebe in vielen erkalten wird, hat Jesus vor 2000 Jahren vorausgesagt.

 

Schamlosigkeit als Dekadenzphänomen gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens bedeutet, dass die Hemmschwelle vor allem auch gegenüber der Aggression abgebaut wird. Die utopische Vorstellung, dass Enttabuisierung der Sexualität Aggression abbaue, ist ein längst widerlegter Irrtum. Trotz des Abbaus von Autorität und Scham, trotz zunehmender »Toleranz«, trotz Verminderung der Triebeinschränkung ist die Aggressivität rasant angestiegen.

 

Hans Peter Dürr hat unlängst in einem soliden wissenschaftlichen Werk dargestellt, dass Scham eben nicht ein spätes Ergebnis der Zivilisation unter dem Einfluss christlicher Ethik sei. Er hat vielmehr klargestellt, dass Scham von Anfang an eine Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins gewesen sei, auch wenn sie sich in einer Vielfalt von Gebräuchen und Sitten äußerte. Darum stellen wir heute erschüttert fest: Die schamlose Gesellschaft, wie wir sie heute erleben, ist global ein Novum. Es geht um ein Massenphänomen. Und dieser Aufstand der »Schamlosen« ist etwas unerhört Neues.

 

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine regelrechte Indoktrination für die Schamlosigkeit und gegen die »Tabuisierung« menschlicher Verhaltensweisen mit einer ungeheuren Breitenwirkung eingesetzt. Im Gefolge dieser Indoktrination wurde dann in Tele- und Printmedien in einer geradezu unbegreiflichen Wollust menschliche Intimbereiche enttabuisiert und die Schamhaftigkeit gleichsam öffentlich hingerichtet.

 

Grundsatz aller Grundsätze dieser Indoktrination zur Schamlosigkeit lautete, die Scham sei Folge einer autoritären Unterdrückung, der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Oder auch umgekehrt: Ohne Scham keine Unterdrückung. Voraussetzung für die Freiheit sei der Abbau der Scham.

 

Dazu nur ein Beispiel aus Millionen: In einem Mitspieltheater mit dem Titel »Darüber spricht man nicht. Ein Spiel zur Sexualaufklärung. Kinder- und Jugendtheater Rote Grütze« (1973) werden Strategien der Destruktion der Scham ganz konkret praktiziert: Es werden bewusst obszöne Ausdrucke gebraucht, damit die Kinder ohne Scham Assoziationsketten bilden und ihre sexuelle Phantasie von jeder Hemmung befreit wird. Alles, was Lust und Spaß bereitet, sei gut. Die elterliche Autorität wird in Vater-Mutter-Kind-Spielen gezielt abgebaut. Vater und Mutter werden als Opfer gesellschaftlicher Repression dargestellt, die ihrerseits wieder den Kindern gegenüber Repression ausüben. Vor lauter Scham kommen die armen Eltern nicht zur Erfüllung ihres Glücks – sind also sexuelle Versager. Sogenannte Intimvorgänge des analen Bereiches werden in diesem Stück »entschämt«. So heißt es in einem Refrain, den die Kinder gemeinsam singen wollen:

 

»Der Mensch ist ein Mensch und der Mensch kackt ins Klo
darum schäm dich nicht, darum schäm dich nicht
darum schäm dich doch nicht so.«

 

Am Schluss sagt dann der Vorsprecher, der die Kinder gruppendynamisch zum Nachsprechen des Slogans aufruft: »Und so liebe Freunde, hört das Märchen auf und fängt das Leben an. Vater, Mutter, Hänsel und Gretel streichen die Angst Stück für Stück aus ihrem Leben raus und was holen sie in ihr Leben rein? – Darauf antworten die Kinder im Chor: Die Freude, das Glück, den Mut, die Freundlichkeit, die Liebe, das Ficken.«

 

So sollen Scham, Angst und Repression abgebaut werden, um den Weg in das Glück, das immer als Glück der Lust verstanden wird, freizumachen.

 

Es gibt – jeder Pädagoge weiß das – eine Armada anderer Beispiele aus der sogenannten Jugend-Aufklärungsszene, in der es immer darum geht, die Scham zu hinterfragen, sie als Angst zu entlarven, als Repression zu verurteilen und dann als gesellschaftsfeindlich abzubauen. Schamlosigkeit und Autoritätslosigkeit haben in einer Art und Weise so zur Verwahrlosung der Jugend beigetragen, dass viele Lehrer bekanntlich nur mit Angst und Schrecken die Klassenzimmer betreten und gerne darüber nachdenken, wie sie aus ihrem Beruf aussteigen und vorzeitig in den Ruhestand treten können.

 

Nun ist aber der »entschämte« Mensch gleichzeitig auch der total manipulierbare Mensch. Es fehlt ja die »Hemmschwelle«, die man bei verschämten Menschen erst noch überwinden müsste, wollte man ihn ganz in den Griff nehmen.

 

Scham setzt in der Begegnung der Geschlechter eine Schwelle, die nur überschritten werden darf, wenn in ganzheitlicher Hingabe, das heißt in wirklicher Liebe beide Partner zueinander finden. Das »Ein-Fleisch-Sein«, der Koitus kann und darf und soll darum nicht ohne Koexistenz gelebt werden. Die Scham wacht also gerade darüber, dass der eine dem anderen sich im sexuellen Akt wirklich ganz und gar, eben »persönlich« hingibt. Die Scham wacht über den Hingabe-Charakter, über die personale Dimension – über die Menschlichkeit der sexuellen Begegnung. Lust ohne Scham, geschlechtliche Vereinigung, die nicht in Liebe die Schamschwelle überschreitet, wird versachlichte Sexualität und die ist unmenschlich.

 

In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Sünde Hams, die deutlich macht, wie Schamlosigkeit und Vaterverachtung zusammengehören. Darum ist es geradezu bewunderungswürdig, wie instinktsicher die Revolution der Schamlosen ganz gezielt gerade das Zueinander von Autorität, Ehrfurcht und Scham abgewürgt hat. Die heute schon auf Touren laufende Propaganda für Pädophilie und Inzest ist dann der letzte und tödliche Schlag gegen dieses Zueinander von Autorität und Scham. Die Aufhebung des Gebotes, Vater und Mutter zu ehren, setzt dann an die Stelle der Familie die Urhorde. Nicht aus Familien, sondern aus Urhorden und Banden wird sich dereinst einmal unsere Gesellschaft zusammensetzen.

 

Dietrich Bonhoeffer, der protestantische Märtyrer im Hitlerschen Totalitarismus, sah in der Zerstörung des Schamgefühls die »Auflösung jeder geschlechtlichen und ehelichen Ordnung, ja jeder gemeinschaftlichen Ordnung überhaupt«. Die Schamlosigkeit war für ihn die Sünde aller Sünden. Denn die Scham sei die »nicht zu beseitigende Erinnerung des Menschen an seine Entzweiung mit dem Ursprung«.

 

Bonhoeffer schrieb seine »Ethik« in der ersten Hälfte des letzten Weltkrieges, also unter dem Hitlerismus. Er sah das Bedrohliche der »zynisch-gottlosen Offenheit«, wie er sie zu jener Zeit beobachtete, und wir erkennen, wie die Schamlosigkeit von heute eine Fortsetzung der Schamlosigkeit jener Jahre ist. Bonhoeffer schrieb über die Scham in einer Zeit, in der sowohl Scham als auch Gewissen im radikalen Schrifttum der NS-Ideologie jüdischer Geisteshaltung zugeordnet und dem Schamhaften das Ideal der natürlichen Nacktheit gegenübergestellt wurde. Das bestätigt wieder einmal meine These: Gegenwärtige Moralrevolution steht nicht im Kontrast, sondern in der Kontinuität zur Ideologie des Nationalsozialismus.

 

Ich sagte, dass der schamlose Mensch leicht manipulierbar sei, weil seine Hemmschwelle abgebaut wurde. Damit ist gemeint: Wer den Aufruf des Gewissens nicht mehr hört, kann sich auch nicht mehr schämen, wenn er zum Verbrechen überredet wird und selbst Verbrechen begeht. Der schamlose, also gewissenlose Mensch sinkt unter das Tier herab, weil dieses immerhin noch durch Instinkte geleitet wird.

 

 

 

8. Verlogene und echte Moral

 

Dass die christliche Moral repressiv und lustfeindlich sei, hatte schon Nietzsche am Ende des vorigen Jahrhunderts geschrieben. Moral, insbesondere christliche Moral, habe dem Eros Gift zu trinken gegeben, ihre Praxis sei der »Kastratismus« oder die »schmutzige Phantasie«. Denn die »Phantasie vieler christlicher Heiligen war in ungewöhnlichem Maße schmutzig«, weil die christliche Ethik Askese einfordere und damit zwangsläufig zur Triebverdrängung zwinge. Aus dieser Triebverdrängung heraus sei dann gleichsam als Kompensation die schmutzige Phantasie entstanden. Überhaupt sei eben die christliche Moral »Domestikation« des natürlichen und somit gesunden Instinktes. Der Urmensch, der ursprünglich ganz ohne Moral gelebt hätte, sei zwar grausam, aber eben auch glücklicher gewesen – meinte Nietzsche. Die »asketischen Ideale« hingegen entsprängen der Grausamkeit der Christen, dem Ressentiment der Schwachen, die des ursprünglichen Menschseins müde geworden seien. So stehe christliche Moral gegen alles Starke, Schöne und Lustvolle.

 

Christen täuschten ohnehin ihre Demut nur vor. Sie demütigten sich nur darum, um von ihrem Gott erhöht zu werden, und fänden geradezu ihre Wollust daran, die anderen, die starken Menschen durch ihre übertriebenen Ansprüche zu vergewaltigen. Hinter allem Gerede von der Moral und allem demütigen Getue stehe nichts anderes als der Machttrieb eines verkrüppelten Menschentums. Das ganze moralische Unternehmen der Christen komme eben aus dem »Ressentiment«, letzten Endes aus der Lebenshaltung der Verachtenswerten, die ihren Nutzen im Leben nicht mehr zu finden wüssten.

 

Nun sollte man auf Nietzsches Moralkritik angesichts der Selbstzerstörung des Christentums nicht nur mit Entrüstung reagieren. Es gab tatsächlich zwar nicht im ursprünglichen, aber im »überfremdeten« Christentum Sexualpessimismus, und in einem anderen Kapitel habe ich bereits versucht darzustellen, wie hinter der Maske der Demut ein sauer gewordener Macht- und Lusttrieb wuchern kann.

 

Aber die ursprünglich »Biblische Religion« ist nicht sexualpessimistisch. Und »originale« christliche Demut, die aus der Revolte gegen die Absurdität lebt, ist kein verkrüppelter Wille zur Macht und christliche Nächstenliebe und christliches Mitleid kein selbstgefälliger Genuss am Leide des anderen.

 

Nietzsche geht es immer wieder darum, die egoistischen Motive einer verlogenen christlichen Moral aufzudecken, deren Mitleid sich am Leid des Nächsten ergötzt. Von daher gesehen ist Mitleid oft nichts anderes als eine Art von Rachebefriedigung. Aber über diese Rache meint Nietzsche: »… dass der Mensch erlöst werde von der Rache: Das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern.«

 

In diesem Buch lassen wir uns von Nietzsche nur daran erinnern, dass zur Selbstzerstörung des Christentums, die Nietzsche übrigens selbst durchlitten hat, auch die spießbürgerlich-christliche »Moral« das Ihre beigetragen hat. Nietzsche hatte in seiner Einsamkeit des Oberengadin die Härte der Selbstüberwindung, den Sinn der Askese, die Bedeutung der Scham und den Sinn ungeheuchelter Gerechtigkeit und Liebe erfahren. Das Gerede über die Gerechtigkeit ist das eine, die Gerechtigkeit tun das andere: Misstraue allen denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit reden! Wahrlich, ihrer Seele fehlt es nicht nur an Honig. Und wer wollte bestreiten, dass die verkrüppelte Lust nach Macht hinter aller Frömmigkeit und Moralität ihr Unwesen treibt?

 

»Christliche Moral« braucht demnach auch eine Entschlackungskur. Religion ist gefährlich für den Menschen, wenn sie seiner egomanen Selbstverwirklichung dient. Wenn verkrüppelte Typen, die da meinen, im Leben zu kurz gekommen zu sein, nach Moral rufen, dann kann man damit rechnen, dass hier purer Neid am Werke ist, der sich nur religiös tarnen will.

 

Christliche Moral lebt aus dem Gehorsam gegenüber Gottes Ruf, freut sich der Gerechtigkeit und hasst die Ungerechtigkeit. Wer da aus dem Hunger nach Gerechtigkeit lebt, ist ein Gerechter und ein Gesegneter Gottes. Er bringt nicht nur in sein eigenes, sondern auch in das Leben seines Volkes, der Gesellschaft, jene innere Ordnung ein, ohne die ein Staat nicht überlebensfähig ist. Das werden wir im folgenden Kapitel zu bedenken haben.

 

 

 

VII. Die Überfremdung und das Wesen politischer Predigt

 

 

 

Die Zehn Gebote als Dokument einer politischen Revolte

 

Die heute wohl nur noch wenigen Menschen in Europa bekannten Zehn Gebote, bis Mitte des 20. Jahrhundert wenigstens im Prinzip die Basis der Moral in Europa, waren vor etwa 3000 Jahren das Dokument einer gesellschaftlichen Revolte. Diese gesellschaftliche Revolte hat unsere moderne rechtsstaatliche Demokratie mit geprägt. Und es besteht kein Zweifel darüber, dass die rechtsstaatliche Demokratie, wie wir sie heute erleben, zusammenbrechen wird, wenn die religiöse Motivation, die da vor ca. 3000 Jahren einsetzte, keine Bedeutung mehr haben sollte. Es wird heute übersehen, dass die Auflösung einer Religion immer den Zusammenbruch ihrer Kultur und des politischen Systems zur Folge hat.

 

Der Mann, der vor drei Jahrtausenden diese Gebote als Gebote Gottes seinem damals unterdrückten Volk übermittelte, war ein Revolutionär. Sein Name war Mose. Bekanntlich beginnen die Zehn Gebote mit der Einleitung: »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe« (2.Mose20,2). Ägypten, das Land der Pyramiden, aus dem die Israeliten unter der Führung des Mose aufbrachen, um sich dann in der Wüste an jenem Berg Sinai zu versammeln, an dem sie stellvertretend für die ganze Menschheit Zehn Gebote als Gesetz Gottes für alle Zeiten hörten und annahmen.

 

Der Gott, der einen Revolutionär beruft, um ein Volk aus der Sklaverei des Tyrannen herauszuführen, ist selbst ein Gott der Revolte, der die Absurdität der Herrschaft des Menschen über den Menschen hasst. Dieser Gott ist ein »eifriger Gott«, der seinem nun befreiten Volk in einer Feuersäule voranschreitet und der die Armee des Pharao, die sein befreites Volk in die Gefangenschaft zurückführen will, vernichtet. Dieser Gott, der die Gebote gebietet, offenbart sich Mose als der ewig unveränderliche Gott, der das sein wird, was er immer war. Das ist der Sinn des sogenannten Tetragramms JHWH.

 

Damit ist ausgesagt, dass seine Gebote absolut sind und so lange gelten, bis Himmel und Erde vergehen. In der sogenannten Bergrede hat Jesus dies ausdrücklich bestätigt. Er hat unmissverständlich bekannt, dass er nicht gekommen sei, das Gebot vom Sinai abzuschaffen, sondern es zu erfüllen (Matth.5,17).

 

Die damals in Ägypten versklavten Menschen, die an den 97 Pyramiden, den Ewigkeitsdenkmälern der Pharaonen, schuften mussten, führten ein trostloses Leben in Ansiedlungen, die man heute Konzentrationslager nennen würde. Das Durchschnittsalter lag zwischen 30 und 35 Jahren. »Vernichtung durch Arbeit« war angesagt. Darüber hinaus drohte den Israeliten die erste in ihrer Geschichte vermeldete Massenvernichtung.

 

Auch wenn die Israeliten nicht direkt in dieser Welt aus Stein schuften mussten, so waren sie doch an der Arbeit für pharaonische Speicherstädte so eingesetzt, dass sie »durch ihre Lastknechtschaft geschwächt« wurden, um »mit Grausamkeit zur Arbeit« und »harter Fron« ihnen »das Leben zu verbittern« (2.Mose1,11). Darüber hinaus galt der Befehl der Pharaonen, von den Neugeborenen nur die Mädchen am Leben zu lassen, die männlichen Nachkommen aber gleich nach der Geburt zu töten.

 

Mose, der dem pharaonischen Ausrottungsplan durch ein Wunder entging und unter der Unterdrückung seines Volkes so litt, dass er einen ägyptischen Aufseher erschlug, ist ein Symbol dafür, dass nur der für das Recht und gegen die Ungerechtigkeit kämpfen kann, der durch die Ungerechtigkeit zutiefst verwundet worden ist.

 

Die mosaische Revolution war im Gegensatz zu den europäischen Revolutionen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts eine religiös motivierte Revolution. Das Volk glaubte an den von Mose verkündeten einen Gott, der die Ägypter mit Plagen schlug, so dass er die Israeliten schließlich frei ließ. Wie jede echte Revolution war sie eine Revolution der Gewalt – aber diesmal der Gewalt Gottes. Der Anfang der Gebote bekennt sich zur Revolution der legitimen Gewalt – zum Zueinander von Macht und Recht. Die Zehn Gebote sind also geschichtlich aus der Situation der Revolte gegen die Absurdität einer unmenschlichen Gesellschaft von dem Gott gegeben worden, der das Zueinander von Macht und Recht für alle Zeiten geboten hat.

 

Das »Du sollst« am Sinai, mit dem die Gebote eingeleitet werden, war ein göttliches »Du sollst«. Es war darum absolut und unveränderlich für alle Zeiten und alle Völker. Existiert nur dieser eine Gott, dann gibt es keine Götter. Das Gebot: »Du sollst keine Götter haben neben mir« war und ist ein revolutionäres Gebot. Denn in Ägypten, aus dem die Israeliten herauszogen, regierte ein göttlicher Pharao. Der Pharao galt als ein Gott, der uns durch seine Taten leben lässt. Sein diktatorisches Königtum galt den Ägyptern als göttliche Institution von Anfang der Welt an. Sie glaubten daran, dass dem Pharao nach seinem Tod vom Sonnengott im Himmel ein triumphaler Empfang bereitet würde. Während dieser himmlischen Triumphe wurden der Königsstatue auf Erden morgens und abends Opfer dargebracht. Und je mehr Pharaonen starben, umso mehr Opfer mussten verbraten und umso mehr Sklaven herangeschafft werden, um die Fütterung der Mumien in Gang zu halten.

 

Das sinaitische »du sollst keine anderen Götter haben neben mir« ist die Revolte gegen die Absurdität, aus Diktatoren Götter, aus Ideologien letzte Wahrheiten zu machen. Es liegt darin das Nein gegen jede Diktatur, die sich wie die eines Lenin, Stalin oder Hitler auf eine absolute Wahrheit gründen will und sich selbst als Verwirklicher dieser Wahrheit versteht. Das Gebot »du sollst keine anderen Götter haben neben mir« ist der urbiblische Protest gegen jede Art von Ideologie oder »Weltanschauung«.

 

Man hört aber am Anfang dieser Gebote noch eine andere, uns heute ungemein herausfordernde Konsequenz: Wenn nur dieser eine, einzige Gott sein Gebot den Menschen gebietet, dann ist das Gebot dieses einzigen Gottes auch das einzige Gebot. Wer sich auf die Bibel beruft, muss wissen, dass gleichermaßen im Alten wie im Neuen Testament das biblische Gottesverständnis einen Wertepluralismus nicht akzeptiert. Im Gegenteil – in der Bibel wird proklamiert, dass von Zion alle Völker diese Gebote hören und lernen sollen. Zion wurde durch die Prophetie zum Inbegriff der Verkündigung göttlicher Gerechtigkeit (Jes.2,3; Jer.50,5; Joel 4,16). Der Aussendungsauftrag Jesu an seine Jünger hat diese Inhalte nur bestätigt. Um es knapp auszudrücken: Ein Gott, ein Gebot, eine Wertordnung, eine Gerechtigkeit.

 

Die Zehn Gebote verstehen sich als die Magna Charta für die Freiheit, die ja ohne Gerechtigkeit in der Absurdität der Willkür versumpfen würde. Soweit die europäischen und nordamerikanischen Völker die Vorteile einer rechtsstaatlichen Demokratie genießen, sind sie nicht dem Vorbild der griechischen Demokratie gegenüber verpflichtet, sondern dem Ursprung des Gesetzes am Sinai. Nehmen wir aus den Zehn Geboten zunächst dafür ein einziges Beispiel: Das Gebot »Du sollst nicht stehlen« (2.Mo20,15) bezieht sich nicht auf Geld- oder Sachwerte, sondern auf den Menschen. Es verbietet die Freiheitsberaubung. Der Diebstahl an Sachen wird verneint in jenem letzten Gebot, dass der Mensch nicht begehren soll seines Nächsten Haus, Weib, Knecht, Ochsen und Esel noch alles, was der Nächste hat. Aber im Gebot »du sollst nicht stehlen« geht es um den Schutz der persönlichen Freiheit.

 

Wir haben also schon am Sinai die Basis der Habeaskorpusakte (habeas corpus = »du habest den Körper«), die mit der Magna Charta Libertatum von 1215 und der Petition of Right von 1679 englisches Staatsgrundgesetz wurde. Englische Demokratie wurzelt im Ethos der Bibel. So wurde rechtsstaatlich die Freiheit der Person im Sinne des biblischen Gebotes geschützt, und niemand konnte ohne richterlichen Befehl festgenommen werden. Dieser Rechtsgrundsatz europäischer Zivilisation findet also seine letzte Begründung in der antidiktatorischen Revolte des mosaischen Gesetzes vom Sinai. Und gegen diesen Rechtsgrundsatz ist immer dann verstoßen worden, wenn die Gebote vom Sinai in ihrem ursprünglichen Sinne verneint oder gar bekämpft wurde.

 

Jedes Gebot vom Sinai ist ein positives Gebot. Jedes »Du sollst« schützt ein unverzichtbares Sein. »Vater und Mutter ehren« schützt die Familie. Die Familie war Baustein der Gesellschaft. Invaliden-, Pflege-, Alters- und Arbeitslosenversicherung oblag der Familie, die gleichzeitig auch Behaustsein und Geborgensein schenkte. Sie war als soziale Einheit das »Haus« (den Begriff Familie kennt die Bibel nicht). Sie war Bollwerk gegen die Allmacht des Staates – den es damals in unserem heutigen Sinne überhaupt noch nicht gab. Auch die Ehe wurde als Keimzelle des »Hauses«, als Baustein der Gesellschaft und Ordnungsfaktor an der Basis geschützt – auch gegen den Eingriff der »Obrigkeit«, wie wir aus der prophetischen Mahnung und Strafandrohung des Propheten Nathan gegen den König David, der die Frau eines seiner Soldaten verführte, konkret lernen können.

 

Das Gebot »Du sollst nicht töten« schützt das menschliche (auch ungeborene) Leben. So sind die Gebote ein Ja zur Freiheit, zum Leben, zur Familie und zum Eigentum. Bedeutsam ist, dass das Eigentum immer der Familie, niemals aber einem Kollektiv zugeordnet wurde.

 

Zum menschlichen Zusammenleben in Freiheit gehört das Recht, und zum Recht gehört die Macht. In diesem Zusammenhang muss noch einmal daran erinnert werden, dass die Aussage »Auge um Auge, Zahn um Zahn« nicht als Ausdruck »alttestamentlicher Grausamkeit«, sondern als Grundlage des Rechtes verstanden werden muss. Für ein Auge ist auch nur der Wert eines Auges und für den Zahn auch nur der Wert eines Zahns einzufordern. Für einen Schaden muss man geradestehen. Verstümmelung war dabei ausgeschlossen. Es ging in diesem »Auge um Auge, und Zahn um Zahn« immer nur um Ausgleich in einem Sachwert. Anders formuliert: Wer einem ein Auge ausschlug, hatte dafür geradezustehen und den Wert des Auges zu ersetzen. Aber eben auch nur »Auge für Auge und Zahn für Zahn«. Dieser Rechtsgrundsatz schützt vor dem Ausufern der Rache des Gewalttätigen, der seinen Feind darum tötet, weil er ihm nur einen Zahn ausgeschlagen hat.

 

Jesus selbst hat übrigens mit seinem »Ich aber sage euch« diesen Grundsatz nicht aufgebrochen, sondern ausgelegt und die revolutionäre Tendenz dieses Gebotes klar herausgestellt: Der Sinn des biblischen Rechtes ist eben nicht die Rache. Ganz im Gegenteil: das Recht schützt ja auch den Feind und ist in letzter Konsequenz Feindesliebe. Das biblische Recht ist also nicht grausam, sondern schützt gerade den Schwachen und Hilflosen vor der Gewalt des Stärkeren und Mächtigen. Das Gesetz vom Sinai ist also die Revolte gegen den Grundsatz, dass dem jeweils Stärkeren die Welt gehört. Das biblische Recht ist die Basis der Barmherzigkeit, der Schutzwall gegen die Absurdität der Brutalität.

 

Das israelitische Volk hat vor etwa 3000 Jahren mit einer klaren und freien Entscheidung die Gebote vom Sinai angenommen. Auf die von Mose verkündeten Gebote antwortete »alles Volk… einmütig und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun« (2.Mo19,8). Man übersieht gern die Einzigartigkeit dieser in der Bibel überlieferten Szene: Ein Volk akzeptiert als hörende und antwortende, also als mündige Nation die ihm von Gott ein für allemal gegebenen Gebote. Ein Volk entscheidet sich und stellt sich auf den Grund einer göttlichen Rechtsordnung. Das und nur das ist die Geburtsstunde der rechtsstaatlichen Demokratie, einer »wahren Eidgenossenschaft« im »Namen des Allmächtigen« (so die Einleitungsformel zur Verfassung der Schweiz).

 

Im Realismus der Bibel wird erkannt, dass Recht ohne Macht nicht sein kann. Das gilt zunächst für das Leben innerhalb der Gemeinschaft. Wer mordet, muss sterben. Das Recht zu schützen ist Aufgabe jener Mächte, die Gott (wie Luther übersetzt) als »Obrigkeit« eingesetzt hat. Diese Mächte haben aber in biblischer Perspektive nur dann Vollmacht, wenn sie ein Recht schützen, das am biblischen Gebot orientiert ist.

 

Regierungsgewalt soll Gottes Dienerin sein, schreibt Paulus an die Gemeinde zu Rom, »eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut«. Nicht aus Furcht vor Strafe, sondern »um des Gewissens willen« soll sich jeder Bürger eines Rechtsstaates solch einer vollmächtigen Obrigkeit unterwerfen (Röm.13).

 

Der Rechtsstaat soll ein starker Staat sein. Der schwache Staat lässt dem Unrecht freien Lauf. Er ist unbarmherzig, weil er die Schwachen nicht schützt. Der römische Prokurator Pilatus wusste genau und sagte es auch öffentlich, dass er Jesus für unschuldig hielt. Nach römischem Recht durfte Jesus nicht zum Tode verurteilt werden. Dennoch gab Pilatus dem Druck einer fanatisierten religiösen Masse nach und ließ Jesus – nach römischem Strafverfahren – am Kreuz hinrichten. So wurde Jesus auch – natürlich nicht nur – Opfer eines Staates, der darauf verzichtete, das Recht notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Recht und Macht erfüllen aber das Gebot der Nächstenliebe.

 

Wenn ein Rechtsstaat durch einen Unrechtsstaat bedrängt wird, dann soll er seine Rechtsstaatlichkeit auch durch Macht, das heißt durch einen Krieg schützen. Der Friede (shalom ist ein Zentralwort in der »Biblischen Religion«) kann nicht dort walten, wo Ungerechtigkeit herrscht. In den Kriegen Israels – so wie sie im Alten Testament dargestellt werden – wurde darum Gott als »Rechtshelfer« verstanden. Denn Gott ist der Helfer zum Recht auch im Krieg und durch den Krieg.

 

Die Zehn Gebote verlangen gleich am Anfang, dass man sich von Gott kein Bild machen solle, denn der abgebildete Gott ist der von Menschen gemachte, begriffene und schlussendlich beherrschbare Gott. Das Wort »Ideologie« (von eidos – »Bild«) steht im Zusammenhang mit »Bild«. Die modernen Ideologien, die sich im 20. Jahrhundert wie in keinem anderen austobten, sind »abgebildete« Götter. Hier wird das »Letztgültige« nach dem Bilde des Menschen produziert. Der Ideologe hat seinen Gott im Griff. Seine »Weltanschauung« hat keinen Platz für einen Gott außerhalb seiner eigenen Anschauung von der Welt. Jede Ideologie, jede Weltanschauung, die in diesem Jahrhundert in Europa und darüber hinaus zur Herrschaft gelangte, musste um jeden Preis der in der Bibel bezeugten Existenz Gottes widerstreiten.

 

 

 

2. Gottes Thron steht leer – und die Gebote sind nicht mehr

 

Gott ist tot im allgemeinen Bewusstsein der europäischen Gesellschaft von Jekaterinenburg bis Bordeaux. Zweifellos ist die Folge einsichtig: Glaubt man nicht mehr an Gott, den Gebieter der Gebote – dann akzeptiert man auch nicht mehr die von ihm gebotenen Gebote. Die in Europa bislang allgemein anerkannte Gültigkeit einer Religion, eben der christlichen, zerbricht in unserer Gegenwart, und damit zerbricht auch das herkömmliche Verständnis von Ethos und Gerechtigkeit. Bewusst und entschieden wendet sich eine Gesellschaft – mehr die europäische als die nordamerikanische – vom Christentum ab.  . . .

 

Allem Wunschdenken zum Trotz ist überhaupt nicht daran zu zweifeln, dass die »christliche Religion« in Deutschland immer mehr an Boden verliert – bei den Evangelischen schneller als bei den Katholiken. Wenn man bedenkt, dass nach der Wende in der über 40 Jahre vom Marxismus indoktrinierten ehemaligen DDR keine »Rückkehr zum Christentum« erfolgte (1945 bekannten sich hier über 90 Prozent zum Christentum einer der beiden Großkirchen), so wird die ganz und gar dahinsiechende »missionarische Kraft« westdeutschen Christentums offenbar.

 

Wer auf die Jugend seine Hoffnung setzt, wird bitter enttäuscht werden. Eine dreibändige Studie des Heidelberger Religionssoziologen Heiner Barr (Jugend und Religion, 1995), kommt zu dem Ergebnis, dass auf die Frage: »Worauf kommt es in ihrem Leben an?« der Führerschein für die jungen Leute im Bedeutungsgrad über »Jesus« und »Kirche« liegt. Vorherrschend – so folgert die Studie – sei eine lustbetonte Haltung, und alle herkömmlichen Werte fingen an zu »vagabundieren«. Pflicht, gottgefälliges Leben und andere bleibende individuelle Werte schwirren als »Worthülsen« bedeutungslos im gesellschaftlichen Leben junger Menschen herum.

 

Die Zugehörigkeit zur Kirche etwa in der deutschen »Dreidrittel-Gesellschaft« (ein Drittel katholisch, ein Drittel evangelisch, ein Drittel religionslos) darf nicht überschätzt werden, weil ganz offensichtlich Kirchenmitglieder in ihrer Mehrheit keine »praktizierenden« Christen sind. Bei denen, die noch zur Kirche gehören, bestünden positive Beziehungen »am ehesten noch zu den sogenannten Amtshandlungen«. Taufe, Konfirmation, kirchliche Trauung und Beerdigung gelten als »brauchbare Geltungshilfen von Übergängen im Lebenslauf«, meint Günther Kegel in einer interessanten Analyse gegenwärtiger Christlichkeit. Er erinnert aber zugleich auch daran, dass diese Beziehungen nur so lange währen, als ein Erwartungsdruck der Gesellschaft besteht. Aber – so folgert Kegel – »dieser Druck lässt nach, wenn immer mehr Menschen in der Verwandtschaft und Bekanntschaft es anders machen«. Und dass die es bald anders machen, darüber besteht wohl kein Zweifel. Traditionen zerbrechen, wenn sie keinen Saft mehr bekommen.

 

Denkt man an das religiöse Innenleben der Christen in Deutschland, dann stehen die Deutschen in Westeuropa ziemlich auf der untersten Stufe. Allerdings nicht ganz unten. Das am stärksten verweltlichte Land Europas ist wohl Schweden, obgleich noch 95 Prozent aller Schweden zur lutherischen Staatskirche gehören. Doch nur neun Prozent der Schweden verstehen sich wirklich als gläubige Christen, und nur zwei bis drei Prozent beteiligen sich am »kirchlichen Leben«, während 26 Prozent ein Christsein jeglicher Art ganz entschieden bestreiten. Im Gegensatz zu Deutschland ist die schwedische Kirche so etwas wie ein nationales Denkmal. Aber angesichts dieses »christlichen« Denkmals glauben nur zwei Prozent daran, dass Christus wirklich ihr Erlöser und Versöhner sei. Einen größeren Widerspruch zwischen »Idee« und »Wirklichkeit« kann man sich nicht vorstellen.

 

In einem anderen neutralen Land, eben in der »neutralen Schweiz«, ist man eine konsequentere Haltung gewohnt. Eine sehr gute Analyse und Statistik der »Bündner Zeitung« vom 27. August 1993 ergab, dass in Genf (einstmals die Stadt des Reformators Johann Calvin, neben Wittenberg also eine Hochburg des Protestantismus) heute nicht einmal 22,75 Prozent der Bevölkerung zur protestantischen Kirche gehören. Im dereinst ganz und gar evangelisch-reformierten Basel sind es nur noch 32,1 Prozent, die sich zur evangelischen Kirche des Kantons Basel-Stadt bekennen – in Zürich liegt die Zahl knapp unter 50 Prozent.

 

Die Schwindsucht des evangelischen Christentums ist also in Europa langfristig eine Krankheit zum Tode, die sich von den Großstädten ausbreitet und sich über deren erweiterte Ränder in die übrige Landschaft hineinfrisst. In dem Maße, in dem Europa zur politischen und wirtschaftlichen Einheit geschlossen wird, wachsen Unglaube sowie Auflösung christlicher Grundsätze der Moral, und es knackt hörbar im gesellschaftlichen Gebälk.

 

Im Vergleich zu den USA ist Europa im Laufe dieses Jahrhunderts bedeutend hastiger in die Religionsverlorenheit abgedriftet. Nur ein Viertel der Europäer betet, in den US A sind es doppelt so viele. Nur noch 18,6 Prozent der Europäer haben Vertrauen in eine ihrer christlichen Kirchen, während es in den USA immerhin 43,4 Prozent sind. Nur 25,8 Prozent der Bevölkerung Europas (einschließlich der hochkatholischen Länder wie Irland und Polen) gehen zur Kirche, in den USA sind es 41,8 Prozent.

 

Europa steht also inmitten eines tiefgreifenden Traditionsbruches, und ich sehe mit Sorge, dass sich darüber nur wenige Verantwortliche aufregen. Dabei werden die Konsequenzen dieses Religions- und Werteumbruchs zumindest in Europa heute schon offenbar. Ein Europa ohne Christentum wird ein Europa ohne christliche Moral sein. Es wird ohne die Revolte vom Sinai und ohne die Bergrede Jesu leben. Dieses nachchristliche Europa ist aber kein heidnisches Europa im herkömmlichen Sinne, weil es nicht einmal heidnische Religiosität, eben nicht einmal mehr »Götter« hat.

 

»Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit trifft der Mensch auf eine Bühne, die leergeräumt ist: Es gibt keine religiösen oder sozialen Sinnvorgaben mehr, auf die man sich verlassen könnte. Der Weltanschauungskasten ist geplündert. Es ist der Augenblick schierer Freiheit, aber auch die Stunde der Bodenlosigkeit: Das Individuum als letzte Instanz, der Single als Inbegriff der Postmoderne.« (Ohne Seele, ohne Liebe, ohne Hass, 1994). So fasst der Soziologe Reimer Gronemeyer mit einigen wenigen Worten die geistesgeschichtliche Situation unserer Zeit zusammen. Wo überhaupt keine Bindung mehr ist, ist auch keine verpflichtende Moral und religiöse Sinngebung. Die Unterscheidung von Gut und Böse schmilzt dahin, weil es keine Grundwerte mehr gibt. Der Generationenbruch in Deutschland zum Beispiel ist gewaltig. Der Anteil der Jugendlichen, die in den Bereichen Religion, Politik, Moral und Umgang mit anderen Menschen und vor allem in der Sexualität mit den Ansichten ihrer Eltern gebrochen haben, wächst von Jahr zu Jahr. Der jugendliche Mensch von heute ist vornehmlich egozentrisch, konsumorientiert und nur zu oft auch bereit zur Gewalttätigkeit. Auf die Frage: »Warum sind Sie in der Welt?« wählten 53 Prozent der Deutschen die lustbetonte Antwort: »Ich möchte das Leben genießen.«

 

Entscheidend ist angesichts einer europäisch einheitlichen Geldwährung, dass es in Europa keine allgemein verpflichtenden Grundwerte mehr gibt. In den 60er und 70er Jahren wurden zunächst in England, dann in Deutschland sogenannte Grundwerte-Debatten geführt. Dabei kam man zu dem Ergebnis, dass der Staat zwar gewisse Grundrechte, aber keine Grundwerte mehr einführen oder schützen könnte. Welche Grundwerte in einer Gesellschaft gelten, das entscheidet die Gesellschaft selbst.

 

Wie soll es aber Grundrechte geben – so frage ich -, wenn es keine Grundwerte mehr gibt? So sind Ehe und Familie keine Grundwerte mehr, wenn ihre Auflösung nicht mehr nach dem Schuld-, sondern nach dem Zerrüttungsprinzip »gehandhabt« wird. Der Zerbruch einer Ehe oder Familie ist eben einem Autounfall zu vergleichen, bei dem es darauf ankommt, zu regeln, wer welche Kosten zu tragen hat. Wenn es aber den Grundwert Ehe und Familie – um nur dieses Beispiel zu nennen – nicht mehr gibt, dann gibt es auch kein Grundrecht angesichts dieser von Gott eingesetzten Ordnungen mehr.

 

Selbst das Wort »Gott« ist kein Wert und damit auch kein Rechtsgut mehr. Nach der Umgestaltung des Paragraphen 166 des deutschen StGB darf man Gott lästern soviel man will – Gott ist ja kein Rechtsgut mehr. Allenfalls die religiöse Empfindlichkeit der Bürger wäre ein Rechtsgut und dann als solches zu schützen. Dass man drauf und dran ist, auch diese »abzuschaffen«, zeigt die öffentliche Diskussion. Mit der »Abschaffung« des Gebotes »du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht missbrauchen« sind natürlich – und diese Konsequenz wird völlig übersehen – alle anderen neun Gebote auch »abgeschafft«. Gottes Thron steht leer, und die Gebote sind »entmündigt«. Wir steuern in eine gebotslose und damit auch wohl in eine rechtslose Zeit hinein.

 

Denn wenn Gottes Thron leersteht, dann gibt es auch keine Schuld mehr. Allenfalls gibt es Fehlverhalten, das psychologisch und soziologisch geklärt werden soll. Der moralische Bankrott des modernen Europas hat seine Wurzeln wesentlich darin, dass Schuld und Schuldgefühl verdampfen. Im Gewissen des nachchristlichen Menschen kann sich schwerlich noch Schuld melden, weil einfach kein Gott mehr »verinnerlicht« wird, der in das Gewissen des einzelnen hineinrufen könnte.

 

Der Philosoph Arnold Gehlen hat schon wenige Jahre nach der sog. Revolution des Jahres 68, nämlich 1970, die wesentlichen Elemente der uns prägenden Kultur- und Moralrevolution zusammengefasst: Wesentliches Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaft ist das Fehlen verbindlicher ethischer Autorität. Die Verneinung ethischer Absolutheitsansprüche schafft die »Geneigtheit zum Wegsehen«. Kaum jemand wird sich einsetzen für einen ethischen Anspruch – auch dann nicht, wenn an seiner unmittelbaren Seite ein Beraubter von einem Räuber zusammengeschlagen wird.

 

Entbehrung, Opfer, Pflicht und Leid sind Unwerte — sogenannte »Sekundärtugenden«, auf die man verzichten möchte. Diese Werte sterben ab, weil die religiösen Voraussetzungen abgestorben sind. Es ist etwas anderes, ob man sich als ein Gast auf dieser Erde fühlt, der daran glaubt, dass er die Erfüllung seines Daseins erst in einem neuen Himmel und auch einer neuen Erde haben wird, oder ob man sich als Lebewesen versteht, für das diese Welt das Allerletzte ist. Die Regel ist das Ideal des Wohllebens, und an die Stelle von Geduld, Leidensfähigkeit, Leistung und Gerechtigkeit tritt die Regulierung der Lust für alle. Die europäische Gegenwartszivilisation steht damit unter dem Druck eines »Automatismus zunehmender Glücksgefräßigkeit«. Die Treuepflicht gegenüber überrationalen Werten wie Vertrauen, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Pflicht wird aufgehoben.

 

Es bleibt die spannungslose, in jedem Fall angepasste Gesellschaft, die nicht einmal den Kampf zwischen Gut und Böse zulässt, weil es ja eigentlich das Gute und Böse gar nicht mehr gibt. Sie will alles, was das Leben einer Gesellschaft ausmacht, neutralisieren und regulieren. Der zugleich lustbetonte und regulierte Mensch — das ist die »Vision« der Welteinheitswohlfühlgesellschaft.

 

 

 

3. Kann eine Wirtschaft ohne Ethos überleben?

 

Solange die Wirtschaft läuft, die Leute kaufen und verkaufen, solange alle satt werden und sich darüber hinaus viele Wünsche konsumtiv erfüllen können, scheint alles in Ordnung. In einer Konsumgesellschaft sorge man für den Konsum, und die Gesellschaft bleibt intakt – das ist das Glaubensbekenntnis vieler Politiker.

 

Ob die Gesellschaft wirklich solange intakt bleibt, als der Konsum einer Gesellschaft läuft, ist die eine Frage. Die andere aber lautet: Kann die Wirtschaft, die das Konsumieren ja überhaupt erst ermöglicht, ohne Moral überleben? Ist es nicht unmoralisch, aber auch gleichzeitig wirtschaftlich untragbar, wenn eine Generation wie heute auf »Pump konsumiert«? Schon an diesem Punkt stoßen wir auf die moralische Fragwürdigkeit gegenwärtigen Wirtschaftssystems.

 

Weil heute nicht mehr die Familien in unmittelbarer Verantwortung die Lasten der Alten, Kranken und Gescheiterten trägt, verschlingen die Lohnnebenkosten (darunter die Beiträge für Krankheit, Arbeitslosigkeit, Rente und Pflege) fast die Hälfte des Bruttolohnes. Das Leben ohne »Haus«, also im biblischen Sinne ohne Ehe und Familie – das Leben des »Singles« in lustbetonter Konsumwelt – muss so teuer bezahlt werden, dass es gar nicht bezahlt werden kann. Der Schuldenweg führt in die Katastrophe.

 

Ein weiteres Beispiel für den moralischen Zerfall der Wirtschaft: Der Oberstaatsanwalt von Frankfurt beschrieb den Zustand dieser Gesellschaft im Jahre 1995 als »Korruptionslandschaft«. Seit 1987 führten die Frankfurter Strafverfolger in über 1500 Korruptionsfällen Ermittlungsverfahren durch. Entscheidend war dabei immer die Beamtenbestechung. Die Zahl der ermittelten Fälle der Beamtenbestechung stieg von 361 im Jahre 1980 auf 1498 im Jahre 1994. Man schätzt, dass in Deutschland um die zehn Milliarden an Bestechungsgeldern für öffentliche Bauten hingeblättert werden – und das wird so weitergehen. Die Konsequenz aber ist, dass das Volk sein Vertrauen in die Regierung und in die Politik und nun schlussendlich auch in die Gerechtigkeit verliert. Schlimmeres kann einer Gesellschaft überhaupt nicht passieren.  . . .

 

Diffamierung hin, Diffamierung her – gehen wir von den Tatsachen aus. Es steht heute fest, dass zwar einerseits Ethik und Wirtschaft miteinander verflochten sind und dass ohne »moralische Aufrüstung« wirtschaftlich funktionierende Systeme nicht überleben können – es steht aber andrerseits auch fest, dass die Demoralisierung unserer wirtschaftlichen Systeme in Dimensionen schwebt, die existenzbedrohenden Charakter angenommen haben. Das »So-wei-ter-Machen«, wie es sich jetzt darstellt, mit moralischem Defizit, aber in einem unübersehbaren Dschungel von Gesetzen und Verordnungen, führt diese Gesellschaft angesichts ihrer maßlosen Ansprüche in das »Out« der Demokratie.

 

Angesichts der Gebote vom Sinai stellt sich aber noch eine andere Herausforderung. Wir werden täglich daran erinnert (wir denken an die Asylanten und Flüchtlinge in unserer Mitte), dass wir in einem planetarischen Zeitalter leben, dass Probleme der Völker nur noch global »gelöst« oder »nicht gelöst« werden können.

 

Als 1972 der US-Präsident Richard Nixon anlässlich eines Staatsbesuches bei Mao Tse Tung für mehr Reisefreiheit plädierte, wurde er von Mao gefragt, wieviele Millionen Chinesen die USA denn aufnehmen könnten. Die Länder des Ostens, des Südens und des Mittelmeerraumes drängen heute auf Europa zu und formieren sich allmählich zum großen Marsch in die freie Welt des Wohlstandes und der Freiheit. Die arme Welt will eindringen in das begehrte Paradies der wohlhabenden Völker. Das wird nicht erst das Problem der kommenden Jahrzehnte, es ist schon das Problem dieser Jahrhundertwende. Jedes Jahr werden 90 Millionen Menschen geboren, davon über 90 Prozent in den Entwicklungsländern. Zur Zeit leben 5,7 Milliarden Menschen auf der Erde. Diese Menschen sind in Bewegung geraten. Man schätzt die Zahl derer, die allein in China permanent unterwegs, also auf einer Dauerwanderung sind, auf 100 Millionen. Die Zahl jener, die mehr oder weniger entschlossen sind, aus dem Süden oder aus dem Osten nach Europa einzudringen, kann man nicht einmal ahnen.

 

Planetarisch gesehen ist die Spannung zwischen Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsunordnung ein heute nicht lösbares Problem. Sollten Völkerwanderungen, Einwanderungsdruck, Asylantenschwindel und Asylantenhandel, sollten die ökologischen Herausforderungen, die gesellschaftlichen Chaotisierungen, die Hungerzonen und Verelendungswüsten dieses Planeten überwunden werden, dann müsste eben dieser Planet als Ganzes in einem halbwegs funktionierenden Wirtschaftssystem leben können – ohne eine globale moralische Revolte ist das aber undenkbar. Wenn man weiter darüber nachdenkt, dass der Mensch nur in einer gerechtigkeitsorientierten Weltordnung auch eine tragbare, humane und damit lebenswerte Wirtschaftsordnung in Gang bringen kann, waltet Schwermut im Überlebenshorizont – oder die apokalyptischen Visionen der Offenbarung drängen sich einem auf.

 

In diesem Zusammenhang wird oft die Klage erhoben: 17 Millionen Kinder verhungern jährlich, zwei Drittel der Bevölkerung haben nicht genug zu essen, 16 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 56 Prozent der auf dieser Erde genutzten Energie. Wie weit jeweils solche Zahlen stimmen, ist natürlich nur schwer kontrollierbar, und mit Recht kann bezweifelt werden, ob es überhaupt genaue Daten über diese Vorgänge geben kann. Aber es gibt eben reiche und arme Länder, und es stellt sich nicht nur die Frage, ob die reichen Länder schuld sind an der Armut der armen Länder, sondern ob — global gesehen — das Nein zum biblischen Ethos zum globalen Desaster führt.

 

Es ist nicht die Schuld der Europäer, wenn Stammesfehden oder die Faulheit des In-den-Tag-Hineinlebens oder neue Bürokratien einer einheimischen Herrenschicht in der Dritten Welt wie bösartige Geschwüre wuchern, wenn Ausbeutungsstrategien der Mafiosi Entwicklungsgelder auf abseitige Konten platzieren, wenn Dämonenfurcht nichtchristlicher Völker den technischen Fortschritt hindert, wenn teure Waffenarsenale für Kriege von Rebellen gekauft werden, wenn Verzicht auf Familienplanung eine Bevölkerungsexplosion bewirkt, denen keine Wirtschaftsordnung helfen kann. Rein finanzielle Hilfe ist unsinnig, wenn 1990 die Länder der Dritten Welt von den Industrieländern zwar 24 Milliarden Dollar erhielten, aber 159 Milliarden Dollar für Rüstungsgüter ausgaben.

 

In den meisten Entwicklungsländern fehlt die »Rechtsbindung der Macht«. Und das ist gerade aus der Perspektive dieses Kapitels so entscheidend. Ist die Macht ohne Recht und das Recht ohne Macht, dann plündert die herrschende Macht die Staatskassen. Das ist eines der großen Probleme in den Ländern, die wir Entwicklungsländer nennen. Darum hat auch Gunnar Myrdal, der Erfinder der Entwicklungshilfe, beklagt, dass das große Hemmnis der Entwicklung intern verursacht wird, insbesondere durch den fehlenden Willen der heimischen Elite, eine sachgemäße Wirtschaftspolitik zugunsten der Ärmsten durchzuführen. Es sei ein Wandel der Einstellung zur Arbeit, zum Besitz, zur Vorsorge, zur Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit erforderlich, meint Myrdal und zitiert den Vizepremier von Singapur, der einmal erklärte, dass wirtschaftliche Pläne allein ungenügend seien. Stattdessen müssten neue Werte in die Gesellschaft eingeführt werden, die eine wirtschaftliche Entwicklung erst ermöglichen – und dabei hätten die Kirchen einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Aber was geschieht, wenn diese Kirchen diesen Beitrag nicht leisten und die europäische Zivilisation ihren Vorbildcharakter im Zueinander von Wirtschaft, Ethos und Recht verliert?

 

Was ansteht, ist also die mosaische Revolte vom Sinai. Ohne diese Revolte vom Sinai keine Gesundung der Wirtschaftssysteme auf dieser Erde. Ein gerechtes Wirtschaftssystem, das den Diebstahl in jeder Form – auch in der eleganten Manier der Wirtschaftskriminalität – verfolgt, das Eigentum des einzelnen schützt, persönliche Initiative fordert, Verbrechen bekämpft, Leistungswillen fördert – also eben ein biblisches Wirtschaftsverständnis, das sich auch der Armen erbarmt, ihnen die Chance gibt, wieder auf eigenen Beinen stehen zu können – das alles ist die Voraussetzung für das Überleben auf diesem Planeten. Eine »soziale Marktwirtschaft« ohne die Minimalforderung eines biblischen Ordnungsdenkens zu »exportieren« ist absurd. Das Vorletzte des Wohlstandes ist ohne das Erste und Letzte der Revolte vom Sinai nicht zu haben.

 

Christlich motivierte Politik kann nicht wollen, dass die Probleme dieses Planeten dadurch gelöst werden, dass Europa in einer Völkerwanderung aus Ost und Süd ertrinkt und dass der Rest der sogenannten abendländischen Grundwerte im Namen einer multikulturellen Gesellschaft kaputt gemacht wird.

 

Es ist einfach unsittlich, wenn mit der Immigration der verschiedensten Völker und Kulturen in Europa und in die USA ein Import solcher Unwertvorstellungen einhergeht, die die christliche Moralität kaputtmachen. Dem Traum von einer pluralistischen Gesellschaft wird ein böses Erwachen folgen.

 

 

 

4. Kapitulation und Resignation — das Versagen der Kirchen

 

Sehr viele, sich als »entschieden« und »wiedergeboren« verstehende Christenmenschen haben einen Abscheu davor, sich auf politische Probleme einzulassen, und viele Prediger und Evangelisten wissen nur zu genau, dass sie diesen harten und unbequemen Themenbereich meiden müssen, wenn sie in der Kirche oder im Evangelisationszelt bei ihren Zuhörern ankommen wollen. Ist Politik nicht doch ein sehr schmutziges Geschäft? Bringt politisches Leben nicht letztlich doch ein ganz und gar »verweltlichtes« Leben?

 

Und wer will denn in der Gemeinde überhaupt etwas von der Politik hören? Ist nicht das persönliche Heil wichtiger als die grausame Alltäglichkeit politischer Querelen? Sind Christen nicht letztendlich Schutzsuchende, die Geborgenheit erleben und genießen, aber nicht verantwortlich im Bereiche des Politischen entscheiden und handeln wollen?

 

In Bibel- und Gebetsstunden, in Gottesdiensten und bei Evangelisationen ist das Thema Politik bei der überwiegenden Mehrheit der sog. »Evangelikalen« fast ein Tabu. Die als »wiedergeboren« sich verstehenden Christen wollen konservativ sein – aber es fehlt ihnen nur zu oft der Mut und die Entschlossenheit, auch eine politische Predigt zu halten oder zu hören. Vielleicht redet man noch über »Abtreibung« und »Familie« – aber andere brennende Themen aktueller Politik bleiben außerhalb des Gemeindelebens, und dem einzelnen Christen bleibt es selbst überlassen, wie er mit dem politischen Alltag fertigwerden will.

 

Vergessen wird dabei, dass die politische Herausforderung auch auf die christliche Gemeinde zukommt: Die Vergesellschaftung des Lebens als Zerstörung der Familie wird auch in konservativen christlichen Bereichen spürbar. Die sexuelle Revolution tobt sich längst in unmittelbarer Nahe, wenn nicht gar in der Mitte christlicher Familien aus. Der Schwangerschaftsabbruch kann eine christliche Krankenschwester direkt provozieren, wenn sie bei einer Verweigerung wegen unterlassener Hilfeleistung im Dienst entlassen oder sogar angeklagt wird. Wer zum Wehrdienst einberufen wird, wer seines Lebens in rechtsfreien Räumen unserer großen Städte nicht mehr sicher ist, wer arbeitslos wird oder Steuern zahlt, über deren Verwendung er zunächst nur in stumme Verzweiflung geraten kann, wer am Tage der Wahl auf dem Wahlzettel sein Kreuz machen muss, wer seine Kinder in die Schulen schickt, immer wird er als Christ politisch in Anspruch genommen.

 

Wie ein Single setzt mancher Christ sein persönliches Heil, sein christliches »Alleinwohl« an die allererste, das »gesellschaftliche Allgemeinwohl« aber an die allerletzte Stelle, ganz nach der Einstellung: >Hauptsache, ich bekomme soviel Glaubenskraft, dass ich durch die Nadelstiche des Alltags und die Herausforderungen im Beruf und Familie durchkommen

 

So kann »christliche Religion« zur Selbstverwirklichung gleichsam verbraucht werden. Der Gottesdienst wird zum Genuss in einem Wohlfühlerlebnis der religiösen Insider-Gemeinschaft. Dort kann man dann sehr leicht zu einem »Glauben« an den jeweiligen »Privatgott«, eine Art »Weihnachtsmann« oder »metaphysischen Osterhasen« abdriften. Wenn ich den Allerhöchsten auf meiner Seite habe, dann muss wohl auch das persönliche Leben als ein allerhöchstes Leben positiv funktionieren. Pleiten im Beruf, Pannen in der Familie, böse Krankheiten müssten dann ausbleiben oder behoben werden. Und wer sollte ausschließen, dass man einen guten Parkplatz in der City bekommt, wenn man den Lenker aller Weltgeschehnisse durch inbrünstige Gebete auf seine Seite gebracht hat?

 

Ich kann auf diese kleine Anklage darum nicht verzichten, weil gerade in diesem Jahrhundert die Geschichte der frommen Christen auch (nicht nur) eine Geschichte des Versagens in der politischen Herausforderung ist. Natürlich kann kein Christ bestreiten, dass es im Christenleben um das persönliche Heil geht. Keiner, der die Bibel kennt, darf bestreiten, dass es Wunder im persönlichen Leben geben kann und dass das Gebet als »persönliches Gebet« für ein »persönliches Leben« erhört wird.

 

Aber wer sich an die Revolte vom Sinai und an die Bergrede Jesu erinnert, der weiß auch, dass es um mehr geht. Christliche Mission oder Evangelisation ist kein Populismus und die Kirche keine religiöse Bedürfnisanstalt. Politischen Populismus nennen wir den Weg gesinnungsloser Anpassung an das Bedürfnis der Wählermassen. Populistische Politiker treiben langfristig den Staat in den Ruin um ihrer kurzfristigen Wahlerfolge willen. Sie wagen es nicht, die Wahrheit zu sagen, die sie oft gar nicht einmal sehen wollen. Sie haben zumeist auch wenig Perspektiven, weil ihnen nicht genug Zeit bleibt, über solche Ziele überhaupt nachzudenken. Sie leben von Wahl zu Wahl als politische Augenblicksmenschen. Aber vergessen wir nicht, dass es auch populistische Prediger gibt, die den »Erfolg« ihrer Evangelisationsabende planen und in populistischer Weise »Bedürfnisreligion« befriedigen. Sie sagen dann weniger, was das biblische Wort aufträgt als das, was die Leute nur allzu gern hören möchten – nämlich dass der private Gott im Himmel auf jeden Fall in ihrem privaten Leben auf ihrer privaten Seite steht.

 

Es war Dietrich Bonhoeffer, der Glaube und Gehorsam, Glaube und Handeln wieder in ein echtes Zueinander gebracht hat: »Der Glaubende ist gehorsam und der Gehorsame glaubt« (Nachfolge, 1937). Mit »Gehorsam« ist hier an das Hören auf die Gebote des Sinai gedacht. Und ich erinnere hier noch einmal an den Adventsbrief von 1943: »Nur wenn man das Gesetz Gottes über sich gelten lässt, darf man wohl auch einmal von Gnade sprechen« (Widerstand, 1952). Der Christ darf also wohl das letzte Wort der Gnade nicht vor dem vorletzten Wort der Gerechtigkeit sprechen. Alles andere wäre billige Gnade, und billige Gnade ist der Tod der Gerechtigkeit – in der Kirche und in der Gesellschaft.

 

Der Kampf für die Gerechtigkeit als politischer Auftrag versteht sich also als Nachfolge Christi, als Fortsetzung der Revolte vom Sinai. Bonhoeffers Widerstand gegen den Hitlerismus, der ihn schließlich das Leben kostete, ist dafür ein überzeugendes Beispiel. In seinem Buch »Nachfolge« schrieb er: »Es ist wichtig, dass Jesus Jünger auch dort selig preist, wo sie nicht unmittelbar um des Bekenntnisses zu seinem Namen willen, sondern um einer gerechten Sache willen leiden.« Es geht also um die »gerechte Sache« in der Politik, zu der der Christ ganz eindeutig aufgerufen ist. Und wir erinnern uns daran: Jesus preist auch die selig, die Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit haben und die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden (Matth.5,6).

 

Aber was ist der Inhalt dieser Gerechtigkeit? Es sind die Inhalte der Zehn Gebote, es ist die Revolte vom Sinai. Und diese Gebote beinhalten Recht gegen Unrecht und Ordnung gegen Chaos. Sie sind ein politisches Postulat. Solange Gott diese Welt erhalten will, so lange müssen auch Christen alles tun im Kampf für die Gerechtigkeit gegen Tyrannei und Chaos.

 

Die Identitätskrise (konkreter: der Glaubensverfall) vor allem in den protestantischen Kirchen Europas wirkte und wirkt sich in einer verhängnisvollen unchristlichen Verpolitisierung des christlichen Lebens aus. Das ist nicht erst heute so, sondern eine quasi-christliche Tragödie dieses ganzen 20. Jahrhunderts.

 

Ein kurzer Blick zurück: Der Hitlerismus faszinierte seinerzeit viele in Deutschland, weil hier eine Kultfigur, eine Art Messias zum Anfassen, geradezu »leibhaftig« in Szene gesetzt wurde. Die nach Heil, Erlösung und (immer wieder) Frieden dürstenden Menschen in Deutschland fanden hier die Projektionswand ihres politischen Erlösungsbedürfnisses. Man versteht den Hitlerismus nicht, wenn man nicht seine Mobilisierung des Glaubens (auch an den Sieg musste man mitten im Krieg »glauben«) erkennt.

 

Wie reagierten die Christen in den Kirchen auf diesen Nationalsozialismus, an dem ein damals Einsamer wie Dietrich Bonhoeffer klar erkannte, dass man nicht gleichzeitig beides, Christ und Nationalsozialist, sein könne? Nach dem Kriege sagte einmal Konrad Adenauer: »Ich glaube, dass, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tag öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhindern können. Das ist nicht geschehen, und dafür gibt es keine Entschuldigung.«

 

Punkt 24 des Parteiprogramms der NSDAP vom 24. Februar 1920 lautete unmissverständlich: »Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt des positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden.«

 

Diese Formulierung ist klar und einsichtig: Die »germanische Rasse« wird an Wert jeder Religion und damit auch dem Christentum als entscheidender und letztgültiger Maßstab übergeordnet. Die kirchlichen Bekenntnisse werden ebenso relativiert wie das Christentum selbst, das man nicht »wörtlich« nehmen, sondern nur insofern beim »Wort« nehmen soll, als es der germanischen Rasse »entspricht«. So wird durch diesen Punkt eines Parteiprogramms eine Religion durch eine andere Religion schlichtweg überlagert – das Christentum durch die Religion des hitlerischen Rassismus. Es hätte also Klarheit darüber herrschen müssen, dass es hier um eine Kampfansage an das Christentum ging, auch wenn weder Adolf Hitler noch Joseph Goebbels aus der katholischen Kirche austraten. Die Theologen und »Kirchenführer« hätten erkennen müssen, welche weltanschauliche Zeitbombe in ihrer Mitte tickte.

 

Jedenfalls hat der 27-jährige Privatdozent der Theologie, Dietrich Bonhoeffer, am 14. April 1933 an seinen Freund Erwin Sutz in der Schweiz geschrieben, in der Judenfrage hätten »die verständigen Leute ihren Kopf und ihre ganze Bibel verloren«. Sein Versuch scheiterte, in einer öffentlichen Erklärung der Bekennenden Kirche durchzusetzen, die kirchliche Bruderschaft mit getauften Juden dürfe nicht preisgegeben werden, man müsse »eher sich selbst der Verfolgung aussetzen«, weil die Rasse »nie Kriterium für die Zugehörigkeit zur Kirche sein könne«.

 

Zwar hatte der Antijudaismus eine fatale Tradition in der ganzen Kirchengeschichte – aber niemals wurde dabei rassistisch argumentiert. Ein Jude, der zum Christentum übertrat, war eben kein Jude mehr. Das war nun seit 1933 ganz und gar anders. Auch wer als Jude zum Christentum übertrat, blieb eben Jude. Der Wert »Rasse« wurde eindeutig der »Religion« übergeordnet.

 

1996 hat D.J. Goldhagen (Hitlers willige Vollstrecker) in einem zu Recht umstrittenen Buch u.a. auch die nicht zu bestreitende trostlose Haltung der Kirchen zur Judenfrage während der Zeit des Hitlerismus aufgedeckt. Goldhagen hat bei der Analyse von 68 »Sonntagsblättern« herausgefunden, dass die Kirche judenfeindlich bis ins Mark gewesen sei. Der 37-jährige Soziologe erinnerte: Hat nicht sogar Otto Dibelius, 1949 erster Ratsvorsitzender der Ev. Kirche in Deutschland nach dem Krieg, vor diesem Krieg erklärt, er sei immer ein »Antisemit« gewesen? Hat nicht sogar ein Martin Niemöller in seinen 15 Dahlemer Predigten 1935 über das »Gift« des Judentums und dessen Schuld am »Blut aller Gerechten« gepredigt und erst 1945 büßend bekannt, dass mit den Juden und Kommunisten (die rechnete er schnell dazu) auch Christus verfolgt wurde? Hat nicht sogar der mutig widerstehende württembergische Bischof Theophil Wurm noch 1943 dem Staat das Recht eingeräumt, die Juden als gefährliches Element zu bekämpfen? Diese Leute standen als bekennende und dem Nationalsozialismus widerstehende Christen in hohem Ansehen im Nachkriegsdeutschland. Was soll man erst zu den von Goldhagen zitierten »Verlautbarungen« der offiziellen »Oberen« evangelischer Landeskirchen sagen, die den Ausschluss von Judenchristen aus der Kirche forderten?

 

Auch gegenüber solchen Juden, die sich zum Christentum bekehrt und ein Pfarramt übernommen hatten, war Martin Niemöller, der Führer aller Bekennenden, doch sehr kritisch. So erwartete er von »Amtsträgern jüdischer Abstammung«, »dass sie sich die gebotene Zurückhaltung auferlegen, damit kein Ärgernis gegeben wird«. Alles in allem konnte die Staatspolizei im September 1935 ihren höchsten Behörden in Berlin melden, »dass führende Männer der Bekenntnisfront nach vorliegenden Äußerungen die Stellung des Staates zur Judenfrage grundsätzlich bejahen«.

 

Es gilt festzuhalten, wie wenig evangelische Kirchlichkeit aus einer tiefgreifenden Identitätskrise heraus dazu imstande war, einer ideologischen Überfremdung zu widerstehen. Man hörte in jener Zeit in bejahenden Urteilen über den Hitlerismus von »Bekehrung« und »Wiedergeburt« und den »männlichen Zügen der Botschaft Jesu« (heute ist genau das Gegenteil auf der Tagungsordnung, und die »weiblichen Züge« Jesu werden entdeckt). Der männliche und heldische Jesus in einem sich männlich und heldisch gebenden Nationalsozialismus war angesagt. Da war von der »Kirche im nationalsozialistischen Deutschland« die Rede, »die nationalsozialistischen Gemeinden und einer nationalsozialistischen Jugend« dienen wollten und deren Diener »Nationalsozialisten sein müssten« (E.Klee, Die SA Jesu Christi).

 

Auffallend oft wurde Adolf Hitler in offiziellen kirchlichen Zeitschriften als »Wundermann« tituliert, den Gott dem deutschen Volk geschenkt habe. Diesem Hitler wurde »unwandelbare Treue der evangelischen Christenheit des Reiches« angelobt, und 1943, mitten im Krieg, als die Vernichtungslager auf Hochtouren arbeiteten, wurde zu Gott für den Führer gebetet, »dass der ihm Beistand verleihe und sein Werk an unserem Volke segne«. Und als das Attentat vom 20. Juli gescheitert war, beeilten sich Kirchenführer des evangelischen Deutschland mit dem Bekenntnis, »sich ernster noch als zuvor der unerbittlichen Forderung dieser Zeit zu unterwerfen, für die der Führer rastlos sein Alles einsetzt«.

 

Heute wissen wir, dass viele, die das Attentat auf Hitler im Jahr 1944 vorbereiteten, dies aus ihrem christlichen Gewissen heraus getan haben. Welch eine Identitätskrise, welch ein Widerspruch, wenn auf beiden Seiten im Pro und im Kontra zum Hitlerismus der Gott der Bibel zum Zeugen angerufen und als Helfer angebetet wird! Man unterwarf sich eben »der unerbittlichen Forderung dieser Zeit«. Eben das ist das Problem der Kirche, dass sie sich politisch und gesellschaftlich jeweils den Forderungen ihrer Zeit unterwirft.

 

So wie auf den Nationalsozialismus der 30er und 40er Jahre, so reagierte man auf den »realen Sozialismus« in der ehemaligen DDR. Dass die Sowjetunion immer für den Frieden gewesen sei, bekannte der evangelische Bischof von Thüringen schon 1972. Bereits am 15. Februar 1968 hatten die Bischöfe in der damaligen DDR an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, geschrieben, dass sie sich als Staatsbürger eines sozialistischen Staates vor die Aufgabe gestellt sehen, »den Sozialismus als eine Gestalt gerechten Zusammenlebens zu verwirklichen«.

 

Jedenfalls wurde seit 1970 an allen Universitäten der DDR auch für Theologen das Pflichtfach »Marxismus-Leninismus« eingeführt – so könnten sie besser als je von Mose, den Propheten und Jesus lernen, dass Christentum ein Christentum der Tat sein müsse. Genauso hatten es auch die Nationalsozialisten eingefordert, für die »positives Christentum« eben ein »Christentum der Tat« nicht einer sozialistischen Gesellschaft, aber doch – wie es damals hieß – der »Volksgemeinschaft« sein müsse. Noch am 14. November 1989 meinte Manfred Stolpe, der als Kirchenjurist eine Schlüsselfigur im Bund der Evangelischen Kirche der DDR war, dass die Philosophie von Karl Marx ein Ziel beinhalte, »das dem von Christen heute mit den Grundwerten Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung bezeichneten Auftrag des Evangeliums nahekommt«. Und noch am 13. Januar 1990 war dieser ehemalige Kirchenführer davon überzeugt, dass sich der Kommunismus nicht überlebt habe. Manfred Stolpe blieb auf diese Weise seinem Grundsatz von 1989 treu, dass »die sozialistische Gesellschaft unter der Verheißung Christi steht«. So ragt also die Identitätskrise des Christentums mit ihren merkwürdig schillernden Anpassungsformeln unmittelbar in die Gegenwart hinein.

 

Auffallend ist bei allen Verbeugungen gegenüber den »unerbittlichen Forderungen der Zeit« sowohl im Hitlerismus als auch im sozialistischen Realismus, dass immer von oben nach unten, von den Kirchenleitungen, den Kirchenführern zu den Gemeinden hin erklärt, beschlossen, verfügt und angeordnet wurde. Das bestätigt wieder einmal das in einem anderen Kapitel verurteilte Verhängnis der hierarchischen Überfremdung des Christentums.  

 

Wenig erwähnt, kaum gewürdigt, oft vereinsamt waren jene anpassungsunwilligen Pfarrer »unten in den Gemeinden«, die diese Anpassungsstrategien ihrer Kirchenleitung über sich ergehen lassen mussten und die nicht nur Sonntag für Sonntag, sondern bei Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung in ihrem Dienst keine – menschlich gesehen – »schützende Hand« von den »Behörden« über sich wissen durften. Die Selbsttötung des Pfarrers Brüsewitz ist dafür ein trauriges, aber auch überzeugendes Beispiel.  . . .

 

Die einzelnen Initiatoren dieses Prozesses einer politischen Überfremdung aus der tiefen Identitätskrise des Christentums heraus sind oft gleichzeitig die Opfer dieses Prozesses. Ihr Opfer besteht in der permanenten Krise ihrer persönlichen und politischen, vor allem aber auch religiösen Identität.

 

Ein klassisches Modell dieser Identitätskrise ist Martin Niemöller, der in der ganzen Welt als Symbol des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gilt. Die permanente Identitätskrise dieses zweifellos ehrlich mit sich selbst ringenden Mannes hingegen ist kaum jemals weltweit bekannt geworden. Zweifellos war Martin Niemöller in seiner Offenheit und subjektiven Geradlinigkeit ein liebenswerter Mensch, der stets seine ganze Person rücksichtslos in das innere Drama des Protestantismus einbrachte. Aber ebenso sehr spiegelt sich in der Geschichte seines Lebens eine Vielgestaltigkeit, eine Identitätskrise seiner Konfession, die ihn im Winter 1941 fast dazu bewog, zur katholischen Kirche überzutreten.

 

Nicht nur in Deutschland, sondern buchstäblich in aller Welt bekannt war Martin Niemöller, der seinen Weg vom U-Boot-Kommandanten des Ersten Weltkrieges durch schwindelerregende Kurven hindurch zum Amt eines deutsch-national denkenden evangelischen Pastors beschritt. 1937 wurde der Berliner Pastor Martin Niemöller von zwei Gestapobeamten festgenommen. Das »Deutsche Nachrichtenbüro« nannte den Grund dieser Verhaftung: »Niemöller hat seit langer Zeit in Gottesdiensten und Vorträgen Hetzreden geführt, führende Persönlichkeiten des Staates und der Bewegung verunglimpft und unwahre Behauptungen über staatliche Maßnahmen verbreitet, um die Bevölkerung zu beunruhigen … – seine Ausführungen gehören zum ständigen Inhalt der ausländischen, deutschfeindlichen Presse.« Während die »Westfälischen Nachrichten« diesen Sohn Westfalens einen »teuflischen Pfarrer« nannten, schrieb ein englischer Lordbischof in der »Times« zwei Tage nach Niemöllers Verhaftung, er habe »nie einen Christen gesehen, der tapferer wäre und dem die Lampe des Glaubens heller brannte«.

 

Niemöller war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung in Deutschland vor allem bekannt durch sein 1934 erschienenes Buch »Vom U-Boot zur Kanzel«, das auch nach seiner Verhaftung im Jahre 1937 fleißig weiter verkauft wurde. Der konservative ehemalige U-Boot-Kommandant des Ersten Weltkrieges Niemöller war vor allem aber ein Mann der Bekennenden Kirche. Und als solcher war er der Welt bekannt, weil man die Bekennende Kirche als Instrument des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus verstand. So war es aber durchaus nicht.

 

Niemöller kämpfte zwar für die Selbständigkeit und Freiheit der Kirche in den 30er Jahren, aber er verneinte nicht den nationalsozialistischen Führerstaat. Erst nach dem Kriege setzte hier eine bedeutsame Wandlung ein. Mittlerweile Präsident der hessen-nassauischen Kirche, kämpfte er gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Er wollte keine »Kirche des Westens«. Es sei Irrlehre, meinte Niemöller, zu behaupten, die Kirche gehe zugrunde, wenn die Kommunisten kämen, und mit Eindringlichkeit konnte er öffentlich behaupten, vielleicht »wird Christus heute sagen: Die Kommunisten und die Huren werden eher ins Himmelreich kommen als ihr.« Mit »ihr« war die bürgerlich-kapitalistische Welt gemeint, der Niemöller das Christsein absprach. Aus dem ehemaligen U-Boot-Kommandanten, der sich noch 1939 aus dem Konzentrationslager freiwillig zur Kriegsmarine gemeldet hatte, war ein entschiedener Pazifist geworden, der 1959 öffentlich bekannte: »Und darum ist heute die Ausbildung zum Soldaten die hohe Schule der Berufsverbrecher.«

 

Ich muss noch einmal daran erinnern: Noch während seines Prozesses 1937 bekannte Niemöller, seit 1924 stets die NSDAP gewählt zu haben. Und noch 1933 hatte er Hitler im Namen seiner Gefolgsleute zum Austritt aus dem Völkerbund gratuliert. Er verstand sich damals als ein nationaler Mann im Kampf gegen den Bolschewismus. Dieser Theologe bekannte nun, trotz siebenjähriger Haft in einem Konzentrationslager, dass er in der Kirche mehr gelitten habe als »unter dem Nationalsozialismus«, weil die Kirche »eigentlich ganz reaktionär« geworden sei. Der ehemals reaktionäre, deutsch-nationale Niemöller, wurde nun Träger des sowjetischen internationalen Leninpreises und der »Lenin-Medaille in Gold«, der »Friedensmedaille des DDR-Friedensrates«, des »Großen Sterns der Völkerfreundschaft der DDR«, und er wurde nicht müde zu betonen, dass Christus auch für die Kommunisten gestorben sei, dass also die Kommunisten erlöst und mit Gott versöhnt seien. Es ging Niemöller dabei um die bejahende Aussöhnung mit dem Kommunismus.

 

Das Christentum, das seine Identität verloren hat, versöhnt sich mit der Welt. Hier waltet im letzten Sinne das Versöhnungsverständnis Hegels. Bei Hegel bedeutet Versöhnung im tiefsten Sinne Ausgleich. Niemöller wollte also den Ausgleich mit der Welt des Sozialismus, so wie er in den 30er Jahren den Ausgleich mit der Welt des Nationalismus gesucht hatte.

 

Aus der Identitätskrise heraus entsteht in der Christenheit der fatale Versuch, sich der Welt bedingungslos anzupassen – obgleich doch der Apostel Paulus eindeutig an die Gemeinde zu Rom, damals Mittelpunkt des größten Imperiums der Welt schrieb: »Stellt euch nicht dieser Welt gleich« (Luk.3,14).

 

 

 

5. Was wäre das politische Gebot dieser Stunde in biblischer Sicht?

 

Worin besteht aber nun – jetzt einmal abgesehen von diesem Dilemma der selbstzerstörerischen Identitätskrise – das Positive des christlichen, politischen Zeugnisses der Gesellschaft, in der wir heute leben? Welche biblisch begründete Predigt wäre heute den Politikern und allen politisch Verantwortlichen zu halten? Ich möchte das kurz unter sechs Gesichtspunkten zusammenfassen:

 

Wir halten fest: Die mosaische Revolution war eine Revolte gegen die Diktatur und für die Freiheit. Der Gott, der in der Bibel bezeugt wird, steht der Welt frei gegenüber. Und der Mensch, der zur Repräsentation Gottes geschaffen ist, soll auch dieser Welt frei gegenüberstehen. Glaube bewirkt Freiheit. Aber diese Freiheit wird wegen des sündigen Machttriebes des Menschen nur durch Gerechtigkeit ermöglicht, und die Voraussetzung für diese Gerechtigkeit ist das Gebot Gottes. Christen kämpfen darum für den Rechtsstaat, der sein Recht am biblischen Ethos ausrichtet. Wenn ein Staat »rechtsfreie Räume« aus taktischen Gründen zulässt, gefährdet er nicht nur die Freiheit, sondern das Leben seiner Bürger. Ein schwacher Staat, wie Pilatus ihn repräsentierte, als er Jesus kreuzigen ließ, ist der Todfeind des Lebens. Er ist unbarmherzig, denn das Recht ist ja nicht ein Feind, sondern der Garant der Barmherzigkeit, weil es die Schwachen gegen die Gewalttätigen schützt. Das Ende der Rechtsstaatlichkeit ist das Ende der Freiheit – der Anfang der Anarchie und der Beginn der Diktatur.

 

2. Für den afrikanischen Staat Kenia wurde unlängst folgende Situation im Blick auf alte Menschen festgehalten: Das System der Großfamilie, in dem sich um die Alten, Waisen, Behinderten und Flüchtlinge gekümmert wurde, ist zu raschem Aussterben verurteilt. Ein Grund: Immer mehr junge erwerbsfähige Menschen zieht es auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen vom Land in die Stadt. Die älteren Menschen bleiben zurück, werden vernachlässigt oder gar völlig alleingelassen. 1990 lebten auf der Welt eine halbe Milliarde Menschen im Alter von mehr als 60 Jahren. Bis zum Jahre 2000 wird die Zahl auf 1,4 Milliarden anwachsen. Die meisten dieser alten Menschen werden in der Dritten Welt leben. In einer Studie mit dem Titel »Zur Verhinderung der Alterskrise« sagt die Weltbank der wachsenden Zahl alter Menschen in Afrika eine noch trostlosere Zukunft voraus. Die Zerstörung der Familie ist also nicht nur ein europäisches oder nordamerikanisches, sondern ein verhängnisvolles Weltereignis. Unverständlich bleibt darum, dass progressive Theologen, den »Ehezentrismus« abschaffen wollen. Denn es gehe um die »Gleichwertigkeit aller Lebensformen«, und darum sei es falsch, die Ehe in den Rang einer »Schöpfungsordnung« zu erheben. Das schon fast verzweifelte Festhalten der Kirche an der Ehe habe nur mit kirchlichen Machtansprüchen zu tun. Es gehe um ein Umdenken: »Nicht mehr sind Ehe und eheähnliche Familie alleinige Bestimmung und Maßstab für alles andere, sondern die Vielfalt der möglichen Lebensformen, die es liebevoll zu gestalten gilt…«

 

 Dieser Kapitulation vor dem Zerstörungswerk einer industriellen Massengesellschaft durch »progressive Theologen« muss widerstanden werden.

 

3. Der Christ kämpft gegen die Götter, die als Ideologien in unsere Gesellschaft einbrechen und immer wieder einbrechen wollen. Dabei geht es um einen »weltanschaulichen Kampf«. Es geht um die falschen Götter, die das Heil heute im Sozialismus, im Feminismus oder im Ökologismus anbieten. Der Traum von einer glücksbringenden Gesellschaft, in der alle gleich und nur wenige gleicher sind als die Gleichen, wird weiter geträumt werden. Der Traum von der Heilkraft des natürlichen Lebens, der Geschwisterlichkeit mit Tieren und Bäumen, von der Befreiung durch die Frau ist ein Traum von einer Abgöttin weltumspannender Zärtlichkeit, die es aber nicht gibt. An die Stelle des Glaubens an Gott im Himmel tritt wieder, wie vor 4000 Jahren, der Glaube an die Mutter Erde, die nicht nur in der Urgeschichte der Bibel, sondern auch in vielen anderen Religionen durch die Schlange symbolisiert wird, die damals wie heute dem Menschen zuflüstert: »Ihr werdet sein wie Gott.« Solche Träume werden zu Ideologien. Ideologien aber sind tödlich, weil sie zu falschem Handeln anleiten. Die Revolte Gottes wird also immer weitergehen, denn ein Paradies auf Erden wird es aus menschlicher Kraft auf dieser Welt nicht geben. Ideologen und Utopisten denken vom Ende der Welt her, das sie sich erträumen, und lassen uns wegen dieser Träume sinnlose Opfer bringen. Wo immer Menschen sich in einem Dogma das Ende dieser Welt vorstellen, haben Christen dagegen aufzustehen. Dabei ist die christliche Revolte eine permanente Revolte. Sie muss so lange in der Nachfolge Gottes getragen werden, als Gott diese Revolte will und in seiner letzten Revolte einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird.

 

4. Von 1980 bis 1995 ist die Staatsverschuldung der sieben größten Volksgemeinschaften der Welt von 42 Prozent auf 70 Prozent des Sozialproduktes gestiegen. Wird dieser Weg weiter beschritten, dann wird der Bürger durch eine verschuldete Gesellschaft enteignet. Christen haben sich dafür einzusetzen, dass das Eigentum durchgängig wie in der Bibel niemals dem Kollektiv, sondern der Familie zugeordnet ist. Das Bodenrecht war im Alten Testament so unantastbar, dass sogar ein königliches Tauschangebot dagegen nicht aufkommen konnte, wie die dramatische Geschichte von Nabot zeigt, dem der König seinen Weinberg nehmen wollte.. Das Erbrecht der Bibel schließt also – modern ausgedrückt – eine Verstaatlichung des Privateigentums aus. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Jesus durchaus nicht alle, die sein Wanderleben in der Nachfolge teilen wollten, in die Besitzlosigkeit gerufen hat. Petrus war Hausbesitzer. Levi als Zöllner war gleichsam Steuereinnehmer und Finanzmakler, der offensichtlich Jesus und die Jünger in sein großzügiges Haus einladen konnte. Lazarus muss ein großes Anwesen gehabt haben, und Nikodemus, der »Oberste unter den Juden«, war sicherlich kein armer Mann. Aber da jeder irdische Besitz immer nur das Vorletzte, niemals aber das Letzte im Leben eines Christen ist, warnte Jesus vor der Fixierung durch Reichtum. Reichtum ist dann Sünde, wenn – wie im Falle des armen Lazarus – der reiche Mann den Armen vor seiner eigenen Tür verkommen lässt. Der Weheruf Jesu über die Reichen kann verstanden werden als Anruf an jene, die Besitz als den letzten Wert ihres Lebens deklarieren und den Armen darüber vergessen. Wenn im Untergang des Christentums diese moderne Gesellschaft dieses Verständnis des Eigentums verliert, wenn der Erwerb des Eigentums und der Genuss des Eigentums zum letzten Sinn und Zweck des Lebens werden, dann wird der Kampf um die Beute und schlussendlich auch der Klassenkampf unsere Zukunft bestimmen.

 

5. Das Leben ist nicht das höchste Gut. Um der Gerechtigkeit willen muss Leben hingegeben werden – so hören wir es im Alten und im Neuen Testament. Das Gebot »du sollst nicht töten« müsste eigentlich übersetzt werden mit »du sollst nicht morden«, und eindeutig wird im Alten Testament ausgesagt, dass der, der unschuldiges Blut vergießt, sterben muss.

 

Zweifellos können wir in der Gemeinde und als Gemeinde auf Rechtsvergeltung verzichten. Und denen, die der Gemeinde fluchen, wird die Gemeinde mit Geduld und Segnungen antworten. Aber die politischen Ordnungen dieser Welt können um des Überlebens der Gesellschaft in Gerechtigkeit willen nur durch das Zueinander von Macht und Recht erhalten werden.

 

Als zu Johannes dem Täufer Soldaten kamen und ihn fragten, was sie denn nun nach Buße und Taufe tun sollten, verlangte er von ihnen nicht, die Waffen niederzulegen, sondern sich an ihrem Solde genügen zu lassen, also Soldaten zu bleiben, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Und Jesus fordert ebenfalls die frommen Hauptleute – wie z. B. den Hauptmann von Kapernaum – nicht auf, die Waffen wegzuwerfen, um als Pazifisten weiterzuleben. Ein Christ wird sich also einsetzen für den Kampf um die Rechtsstaatlichkeit.

 

6. Der Christ wird einer grenzenlosen Immigration kritisch gegenüberstehen. Es waltet die Meinung, dass mit den jährlichen Aufwendungen für Flüchtlinge und Asylanten einer hundertfachen Zahl von Bedürftigen in der Dritten Welt wirkungsvoller hätte geholfen werden können. Wer sich für die weitere, noch intensivere Aufnahme von Flüchtlingen ausspricht, sollte bedenken, dass eine multikulturelle oder multireligiöse Gesellschaft auch eine multimoralische Gesellschaft einbringt. Da aber Recht und Gerechtigkeit ganz und gar auf der Basis eines verbindlichen Ethos beruhen, wäre eine multikulturelle Gesellschaft eine Bedrohung für die Gerechtigkeit in unserem Staat. Wird der Rahmen der Gerechtigkeit gesprengt, wächst die Chaotisierung.

 

Hier geht es überhaupt nicht um »Rassismus«, wie ahnungslose, religions- und kulturgeschichtlich ungebildete Agitatoren propagieren. Vielmehr geht es hier um Kultur, um Ethos, um die Basis einer Moral- und Rechtsgemeinschaft, die allerdings durch Massenimmigration zerstört werden kann.

 

Ob es allerdings denkbar ist, dass ein selbstzerstörerisches Christentum diese Aufgabe erfüllen kann, ist die große Frage. Ich wiederhole: Der Untergang einer Religion ist auch der Untergang einer Kultur und der Untergang einer Kultur auch der Untergang einer Rechtsgestalt. So haben wir es in der Geschichte immer wieder erlebt. In der biblischen Zukunftsperspektive steht am Ende der Untergang dieser Welt, aus dem Gott aber einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffen wird. Bevor allerdings dieses Letzte geschieht, ist es dem Christen politisch aufgetragen, für Gerechtigkeit auf dieser Erde zu kämpfen.

 

 

 

Die Hervorhebungen im Text habe ich vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im April 2014

 

 

 

www.horst-koch.de

 

info@horst-koch.de

 

 

 

Weitere Beiträge von Dr. Huntemann auf meiner Webseite:

 

Die Zerstörung der Person

 

Aids – Eine Strafe Gottes für eine lustverfallene Gesellschaft?

 

Der Aufstand der Schamlosen

 

Leben wir in der Endzeit?

 

Gottes Gebot im Chaos dieser Zeit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 




Die Wahrheit der Heiligen Schrift (Rodenberg)

Otto Rodenberg

Um die Wahrheit der Heiligen Schrift

Aufsätze zur existentialen Interpretation

 

– Leicht gekürzter Text. Horst Koch, Herborn

 

INHALT

A. Die existentiale Interpretation

I.  Wie kam es zur Problemstellung der existentiellen Interpretation?
II. Die existentiale Interpretation in kritischer Darstellung
III. Versuch einer Wegweisung

B. Leitsätze zum theologischen Gespräch

I.  Zur Genesis der Krankheitserscheinung
II. Zur Diagnose der Krankheitserscheinung
III. Zur Therapie der Krankheitserscheinung

C. Biblische Lehre und seelsorgerliche Vollmacht

I.  Theologie und Seelsorge sind weithin gegen- und voneinander abgegrenzt
II. Theologie und Seelsorge gehören wesenhaft zusammen

D. Glaube an Jesus oder Glaube Jesu? (Ein Vergleich zwischen Judentum und moderner Theologie.)

Die Geschichtlichkeit der Bibel
Biblische Lehre und seelsorgerliche Vollmacht
Biblisches oder philosophisches Denken?

 

VORWORT

Als vor zwei Jahrzehnten die programmatische Schrift Bultmanns »Neues Testament und Mythologie« mit dem Untertitel »Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung« erschien, löste sie eine Diskussion aus, die über die herkömmlichen Grenzen hinausgehend bald alle Gebiete der theologischen Wissenschaft erfasste, weit hineinwirkte in das Leben der Gemeinde und dort auch unter den »Laien« viele Gemüter erhitzte, ja deren Einfluss über die Grenzen des deutschen Sprachraumes hinaus die theologische Arbeit der Ökumene einschließlich der jungen Kirchen zutiefst berührt.
Daß heute diese Diskussion alles andere als abgeschlossen ist, daß ihre Problematik vielmehr unter dem Thema der »existentialen Interpretation« in den Rang eines die Kirche reformierenden bzw. die Kirche zerstörenden Geschehens — je nach persönlicher Beurteilung — gerückt ist, wird man als Zeichen dafür werten müssen, daß es sich jedenfalls nicht um ein »Theologengezänk« handelt . . .

Otto Rodenberg,  Rengshausen, am 6. September 1962

 

 

A. DIE EXISTENTIALE INTERPRETATION

Einige Vorbemerkungen:

Warum dies Thema? Soll hier lediglich dem, der dem theologischen Programm »Existentialer Interpretation« ohne die rechte Sachkenntnis gegenübersteht, Informationsmaterial vermittelt werden? Auch das ist eine rechtmäßige Aufgabe brüderlicher Handreichung. . . .

Aber diese Darlegung ist mehr als Information im Sinne »neutraler« Berichterstattung — sie ist ein Frontbericht. Wenn wir von dem Thema der existentialen Interpretation sprechen, dann wissen wir, daß hinter diesem theologischen Begriff unsere Brüder und unsere Söhne in einem Kampf stehen, der an die Grundfragen und Grundlagen unseres Glaubens rührt. Wir kennen diesen Kampf von unserem eigenen Gefordertsein auf Pfarrkonferenzen, wo es wenige theologische Gespräche gibt, in denen sich nicht die brennenden Fragen dieser Front zu Wort melden.

Wir sprechen nicht zuletzt über dieses Thema angesichts des immer offener und drängender werdenden Wunsches und Willens, die Gemeinde mit den neuen Wegen der Theologie vertraut zu machen. Die Gemeinde muß wissen, woran sie ist. Es ist gut und nötig, daß nicht nur die Theologen (um einmal die durch ihr Stadium theologisch vorgebildeten »Fachleute« so zu bezeichnen), sondern überhaupt die verantwortlichen und mittragenden Brüder und Schwestern der Gemeinde des Herrn über die Grundfragen unseres Glaubens auch denkerisch gefördert und gegründet werden.  . . .

I. Wie kam es zur Problemstellung der existentialen Interpretation?

Ein Rückgriff auf frühe Ansätze bei der Entstehung der heutigen Problematik ist, auch wenn u. U. weit ausgeholt werden muß, kein Umweg. Im Gegenteil, angesichts der tiefen Kluft, die heute ein wirkliches Gespräch etwa zwischen Exegese und Dogmatik so notvoll macht, wird man gar nicht anders verfahren können. Diese Kluft ist nicht ausgedacht. Sie klafft zwischen kritischer Auslegung und systematischer Besinnung in einem Maße, daß der Eindruck nicht leicht abzuweisen ist, daß Dogmatiker und Neutestamentler zweierlei Neues Testament vor sich haben. Die gleiche Kluft trennt heute die theologisch-kritische Forschung von der glaubenden Gemeinde. 

1. Reformatorische Akzente

Es war die bei Jeremia genannte lebendige Quelle, die die Reformatoren wiederentdeckten in der frohen Botschaft von dem für uns gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Christus. Von dieser Quelle her flossen die Ströme des lebendigen Wassers durch unser Land und in die weite Welt. Es war dabei nur verständlich und natürlich, daß die reformatorische Theologie aus der ihr geschenkten Wiederentdeckung ganz bestimmte Betonungen ableitete. Gegenüber der mittelalterlich-scholastischen Summentheologie betonen Luther und Melanchthon die Soteriologie (Heilslehre). Was Gott an uns gewendet hat, was er an uns tut, darauf richtet sich das reformatorische Interesse, mehr als auf andere Aussagen über Gott, seine Natur und seine Seinsweise. »Pro nobis — für euch«: das sind köstliche Worte für Luther, wie ein Blick in den Kleinen Katechismus lehrt. In diesen Worten sieht er auch die Anrede des Evangeliums, die die Antwort des Glaubens fordert. Man kann bei diesem Akzent der reformatorischen Theologie von einer Wiederentdeckung des existentiellen Bezugs der Heilstatsachen sprechen.

Der Betonung der Soteriologie entspricht die Wertschätzung der Predigt. Durchaus treffend stellt Cranach auf seinem bekannten Bild Luther predigend dar, den gekreuzigten Christus zwischen sich und der Gemeinde. Der Begriff »Predigt« ist gleichsam ein Lieblingsbegriff Luthers, was sich in der Verwendung dieses Wortes für acht verschiedene griechische und entsprechend viele hebräische Worte der Bibel ausprägt. Predigt aber ist nicht bloße Wiederholung — Schallplatte —, sondern Übersetzung, Auslegung, und darin Anrede hier und jetzt. So ist für den Prediger die kritische Arbeit am Text unerlässlich, und zwar mit allen Mitteln, die eine sorgfältige Erforschung der Gestalt und des Inhaltes der Texte fordert. Luther hat bekanntlich die Sprachgelehrsamkeit humanistischer Wissenschaft nicht verachtet, sondern für seine Arbeit an der Bibel in Dienst genommen. Unablässig hat er an der Aufgabe, die Bibelbotschaft zu übersetzen und zu predigen, gearbeitet. Insofern kann man von einer ständigen grundsätzlich für nötig gehaltenen und praktisch geübten Interpretation der Bibel in der reformatorischen Theologie sprechen.

Diese Freiheit im Umgang mit der Schrift hat ihre Wurzeln freilich nicht, wie es in der theologischen Wissenschaft seit 200 Jahren der Fall ist, in einem prinzipiell behaupteten Recht der emanzipierten, autonom gewordenen Vernunft zu radikaler Kritik, sondern in der Begegnung mit der lebendigen Quelle, mit dem lebendigen persönlichen Gott. Diese reformatorische Wurzel echter, auch kritischer Schriftauslegung ist nicht gleichbedeutend mit dem, was heute theologische Wissenschaft heißt. Luthers Christusbegegnung und Christusverständnis kam nicht aus radikalem kritischem Fragen, wie es die theologische Wissenschaft um der Wahrhaftigkeit willen fordert, sondern aus seinem Ringen und Fragen nach dem gnädigen Gott. Luthers Freiheit, die Bibel nach dem auszulegen, »was Christus treibet«, war legitime Folge einer persönlichen Christusbegegnung. In der wissenschaftlich-kritischen Theologie dagegen wird die Freiheit des autonomen Verstandes zur Voraussetzung gemacht, mit der Bibel umzugehen wie mit jedem anderen Buch. Daß hier ein grundlegender Unterschied besteht, ist nicht zu übersehen.

Natürlich wird ein Unterschied zwischen Luthers Schriftauslegung und der der historisch-kritischen Methode nirgends bestritten. Die entscheidende Frage ist aber, ob es sich dabei um die Entfaltung von keimhaft Angelegtem handelt, so daß die historisch-kritische Methode als die folgerichtige Fortsetzung des reformatorischen Ansatzes gelten könne — so Ebeling (in Wort und Glaube, 1960) — oder ob ein innerer Bruch vorliegt, der es verbietet, beide in ein Verwandtschaftsverhältnis zu setzen. …

In großartiger Weise wird ferner der Akzent existentieller Zielrichtung des Evangeliums aufgenommen von Kierkegaard. In Frontstellung gegen die erstarrte Orthodoxie will er das Christentum »gleichzeitig machen«. Darin versteht sich Kierkegaard selbst nur als »Korrektiv« zur bestehenden Lehre, wie er sagt, als »das bisschen Zimt zur Speise«. Die Tatsachen der christlichen Offenbarung werden von ihm einfach vorausgesetzt, nämlich der christlichen Dogmatik entnommen. In der heute häufigen Bezugnahme auf Kierkegaard wird das freilich meist übersehen.

Auch der andere Akzent reformatorischer Theologie, die Wertschätzung der Predigt und im Zusammenhang damit die Freiheit der Schrift gegenüber, in der die Männer der Reformation keiner Inspirationstheorie bedurften, findet ihre ebenbürtige Fortsetzung in der völlig unorthodoxen Freiheit, in der Zinzendorf mit der Bibel umging, und zwar aus der gleichen Quelle wie vor ihm Luther: aus der erfahrenen Wirklichkeit des deus revelatus in Christus. Welche Freiheit gleicher Herkunft atmen doch auch die Schriften M. Kählers, insbesondere sein bis heute oft genannter Vortrag: »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus.« Da wird eindeutig eine aus Furcht geborene Sicherung der Schriftautorität durch das System der Verbalinspiration abgewiesen. Da wird klar erkannt, daß das Neue Testament Predigt ist und gepredigt werden will. Und da ist der lebendige, geglaubte, erkannte, persönliche Christus Jesus die Quelle. Wir glauben nicht an Christum um der Bibel willen, sondern an die Bibel um Christi willen — dieser Satz zeigt deutlich, daß die Beziehung zwischen Ereignis, Wort (Predigt) und Glauben nicht umkehrbar ist.

Um Missverständnisse zu vermeiden muß begrifflich klar unterschieden werden: »existential« ist nicht »existentiell«. Zur Begriffserklärung hilfreich ist G. Bornkamms Definition: »Existentiale Interpretation ist eine Auslegung, die nach dem Verständnis von  menschlicher Existenz in einem Text fragt. Der Begriff stammt von Heidegger. Existentiell ist ein Reden und Hören in eigener, konkreter Betroffenheit.«

2. Philosophische Hypotheken

Uralt, nämlich so alt wie die christliche Botschaft selber, ist der Einspruch der Philosophie gegen die Denkmöglichkeit der Offenbarung Gottes in Christus. Diese Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist für die denkgeschulten Griechen Torheit (1. Kor. 1, 23). »Finitum non capax infiniti« = Das Endliche ist nicht imstande, Unendliches in sich aufzunehmen. Die im Evangelium bezeugte Wirklichkeit der Offenbarung Gottes in Christus sprengt alle Systeme. Es hat der christlichen Botschaft auch nicht geschadet, daß durch die Jahrhunderte den »Griechen« diese Botschaft eine Torheit war. Auch heute könnte uns als Boten des Evangeliums philosophischer Einspruch gleichgültig lassen, wenn nicht die Theologie selber sich dem philosophischen Schema der Denkmöglichkeit bzw. -unmöglichkeit geöffnet hätte, und sei es auch nur in dem Sinne, daß sie für ihre Botschaft einen Beweis schuldig sei. Dieses aber geschieht, und zwar etwa seit der gleichen Zeit, als es eine theologische Wissenschaft (im Sinne modernen Wissenschaftsbegriffes) gibt. …

Kants erkenntnistheoretische Begrenzung der reinen Vernunft — an sich natürlich sinnvoll, da unsere Sinne wie unsere Vernunft der Kritik bedürftig sind — wird in ihrer Übertragung auf die Offenbarung des lebendigen Gottes in der Geschichte zur verhängnisvollen Hypothek deutscher Theologie bis zur Gegenwart.

Schlatter sagt dazu: »Von nun an stand es, soweit der Kantianismus herrschte — und das war in Deutschland der ganze Bereich der Universitätsbildung — fest, daß man von Gott nichts wissen könne und alle sogenannte Gewißheit Gottes unkontrollierbar und zweideutig sei. Das wurde für Ungezählte ein schweres Hemmnis, das dem glaubenden Verhalten gegen Gott widerstand. Der Glaube an Gott erschien von vornherein als irrational … Man hat schon oft Kant >echt protestantisch< genannt und ihn mit Luther zusammengestellt … Das missverstandene >durch Glauben allein< stellte die Verbindungslinie zwischen dem Luthertum und dem Gottesgedanken Kants her. War nicht damit unsere ganze Beziehung zu Gott auf das Glauben zurückgeführt? … Aber eben dies ergab den radikalen Unterschied zwischen Luther und Kant, der nicht verdeckt werden darf. Luther hatte für seinen Glauben einen bestimmten Inhalt. Er wußte, wo er Gott vernahm, wo sich ihm seine Gnade bezeugte, wodurch er somit zum Glauben berufen und ermächtigt war, auf welchen Grund hin er glaubte. Woher nahm der Glaube Kants seinen Inhalt? Was verschaffte ihm irgendeine Aussage über Gott? Die >Vernunft< bildet dieses Ideal!«

Bei Kant üben nun allerdings nicht nur erkenntniskritische Überlegungen, wie sie für philosophisches Denken angemessen sind, den Wächterdienst an der Grenze menschlicher Erkenntnis aus. Bei ihm spielt auch der Widerspruch des »natürlichen Menschen« gegen die christliche Botschaft eine wesentliche Rolle, sich gleichsam in seiner Person und seinen Aussagen zu grundsätzlicher Klarheit verdichtend. Prinzipiell lehnt Kant die sühnende Stellvertretung, wie sie das N. T. bezeugt, ab. »Schuld kann nicht von einem anderen getilgt werden. Sie ist keine transmissible Verbindlichkeit.« Zuflucht zur Gnade sei Ausflucht vor der moralischen Forderung. Zuspruch der Gnade sei »Opium fürs Gewissen«. Beide, die erkenntniskritische oder skeptische Komponente seines Denkens und die antichristliche Komponente seines moralisch-religiösen Denkens wirken zusammen. So erscheint Schlatters Bemerkung über die Christologie der Kantianer, bei der es nicht um Unterordnung unter Jesus Christus, sondern um Gleichgestaltung mit ihm in Übernahme seines Gottesverhältnisses gehe, zutreffend. »Es war eine Christologie ohne Metaphysik. Durch diese Wendung unserer Geschichte ist es zum Merkmal des heutigen Protestantismus geworden, daß wir nicht nur Verneinung und Bejahung Jesu unter uns haben, sondern zwei Christologien, die des Kantianismus und die des N.T.«

»Daß die Philosophen die Väter und Führer der neuen Frömmigkeit waren, gab ihr an den Universitäten und in der Literatur einen kräftigen Vorsprung, so daß sie allein das Merkmal der Wissenschaftlichkeit erhielt, während die ursprüngliche Form des Christentums von nun an als Reaktion erschien.« (Schlatter)

Diese philosophische Hypothek, die der Theologie innerhalb des deutschen Sprachraumes aufgelegt wurde, wird im innerdeutschen Gespräch oft nicht so deutlich erkannt. Sie tritt aber um so klarer ins Licht in der Begegnung mit christlichen Theologen Asiens oder aus den USA.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die von dem amerikanischen Theologen Richard Niebuhr aufgestellte Forderung nach einer Kritik der historischen Vernunft. Die Übernahme des Kantschen Skeptizismus in die theologische Wissenschaft kennzeichnet Niebuhr als verhängnisvoll. »Das Dogma der reinen Vernunft ist nicht in der Lage, dem Protestantismus jene Art der Erkenntnis der christlichen Ursprünge zu geben, die sein Leben und seine Lehre erfordern.«

Welches sind die Auswirkungen der philosophischen Hypothek in der Verquickung des Kantschen Skeptizismus mit der historisch-kritischen Theologie?

a) Tiefes Misstrauen gegenüber metaphysischen Aussagen

Wenn in der Reformationszeit alles Interesse theologischen Denkens auf das geht, was Gott an uns gewendet hat (also auf die Soteriologie), dann doch unter ungebrochener Respektierung dessen, was Schrift und kirchliche Bekenntnisse über die Wirklichkeit Gottes vor und außerhalb unserer Existenz sagen. In diesen alten Lehraussagen über das Sein Gottes (Ontologie) sahen die Reformatoren das Geheimnis, das nicht »begriffen«, sondern angebetet werden will. Man denke an Luthers Weihnachtslieder. In dieser Sache tritt im Verfolg der Kantschen erkenntniskritischen Ablehnung jeder Gotteserkenntnis ein tiefgreifender Wandel ein. Vor alle metaphysischen, ontologischen und dogmatischen Aussagen der traditionellen christlichen Dogmatik wird der Riegel erkenntniskritischer Skepsis geschoben. Was hinter dem Riegel ist, geht »mich« als Person nichts an, ich kann darüber keine gültige Aussage machen. Was »mich« betrifft, gehört in das Gebiet der praktischen Vernunft. Damit wird die Erkenntnisform aller für mich Gültigkeit beanspruchenden theologischen Aussagen, ehe noch die Inhaltlichkeit der Offenbarung zu Worte gekommen ist, in den Bereich des Subjektiven bzw. Praktischen verlegt.

H. J. Iwand hat in einem bemerkenswerten kleinen Aufsatz (»Wider den Missbrauch des >pro me< als methodisches Prinzip in der Theologie«) gezeigt, daß mit der seit Kant in der Theologie erfolgten Umdeutung des soteriologischen »pro me«, das bei den Reformatoren untrennbar zum Inhalt der Offenbarung gehört, zum methodischen Prinzip »subjektiven«, interessierten, existentiellen Erkennens die Grundposition reformatorisch-biblischen Denkens verlassen ist. Er sagt: »Die Gewißheitsfrage des Glaubens … drängt sich in den Vordergrund und scheidet sich von der speziellen Dogmatik, welcher die ebenso unmögliche wie auch nicht mehr entscheidende Aufgabe zufällt, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus in ein bereits festgelegtes System des Nicht-Objektivierbaren einzubauen. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Arbeit nur durch Umdeutung der christlichen Glaubenssätze auf die menschliche Existenz als solche gelang. In Wahrheit ist damit die Dogmatik (Glauben und Lehre) zugunsten der Reflexion (Glauben und Verstehen) um ihren Sachgehalt gebracht, was kein Geringerer wie Hegel mit größtem Schmerz und im Bewußtsein des Unvermögens, darin als Philosoph Wandel zu schaffen, gesehen und gesagt hat (Religionsphilosophie, Schlusswort XII, S. 354 ff.)

Daß diese Entobjektivierung aus erkenntnistheoretischer Skepsis Hand in Hand geht mit Enthistorisierung, wie sie Kant in seiner Religionsphilosophie vollzieht, ist nur natürlich. Da ist die Offenbarung Gottes in einem Menschen, d. h. in diesem einen, konkret-individuell existierenden Menschen Jesus von Nazareth, nicht nur nicht entscheidend, sondern geradezu hinderlich. Es ist in Auswirkung dessen in der theologischen Forschung seit 150 Jahren von geradezu bedrängender Aktualität, wie durch das Auseinanderreißen von untrennbar Zusammengehörendem eine Alternative ausgebaut wird, deren Überwindung mir eine der vordringlichsten Aufgaben theologischer Arbeit unserer Zeit zu sein scheint. Diese Alternative wird uns alsbald weiter beschäftigen.

b) Das Wort von der »Unaufweisbarkeit« bekommt verhängnisvollen Einfluss

Schon der Begriff des »Beweises« ist innerhalb der Theologie eine gefährliche Sache. Er ist dem N. T. fremd. Mit dem Begriff des Beweises verwandt ist der Begriff »behaupten«. Das N. T. kennt auch diesen nicht. Im N. T. wird nichts behauptet, sondern bezeugt (Joh. 1, 18 u. a.). Der sogenannte Schriftbeweis im N. T. trägt seinen Namen zu Unrecht. Er hat an keiner Stelle die Aufgabe, eine etwa fehlende historische Legitimation zu ersetzen. Der Schrift»beweis« ist selbst Verkündigung. Insbesondere dient er innerhalb der Verkündigung dazu, zu verdeutlichen, daß jeder, der die Botschaft von Jesus Christus ablehnt, in Widerspruch zur Schrift gerät. Auch die bekanntermaßen in der Debatte um die Entmythologisierung immer wieder vollzogene Verknüpfung des Ärgernisses der christlichen Botschaft mit dem philosophischen Gedanken der Unaufweisbarkeit bedeutet eine Verschiebung verhängnisvoller Art. Das eigentliche Skandalon der christlichen Botschaft im N. T. ist nicht die Unaufweisbarkeit als solche, sondern vielmehr die Erniedrigung dessen, der für uns zur Sünde gemacht wurde. Mit Bodelschwinghs Worten: » … als der Freie ward zum Knechte und der Größte ganz gering, als für Sünder der Gerechte in des Todes Rachen ging.«

»Der göttlichen Wesens war, erniedrigte sich selbst… bis zum Tode am Kreuz« (Phil. 2, 6 ff.) — das ist das Ärgernis des Kreuzes. Wird hier der philosophische Gedanke der Unaufweisbarkeit herangebracht, dann muß an das erste Drittel des eben zitierten Satzes als eine metaphysische Aussage ein Fragezeichen gemacht werden. Denn — so heißt es — wer metaphysische Behauptungen aufstellt, muß den Beweis für sie erbringen, muß dieselben »verifizieren«. Dies ist natürlich nicht möglich. Was aber nicht verifiziert werden könne, dürfe nicht als Wirklichkeit behauptet werden. Das ist ein Trugschluss des zu Unrecht auf das Gebiet der Offenbarungsgeschichte übertragenen modernen wissenschaftlichen Denkens.

Das ist die philosophische Hypothek: ein gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit der Offenbarung Gottes in der Geschichte, ein gebrochenes Verhältnis deshalb auch zu reformatorischer Heilsgewißheit, die sich auf diese Wirklichkeit gründet. Von diesem gebrochenen Verhältnis her wird die nun darzustellende Entwicklung der historisch-kritischen Theologie zur gegenwärtigen Problemstellung zutiefst beeinflußt.

 

3. Motive und Meilensteine auf dem Wege zur existentiellen Interpretation

a) Es wird eine unechte Alternative aufgestellt

Der Verkündigungscharakter des N. T. wird in Gegensatz zu bloßem Bericht gestellt. Die Frage »Was ist passiert?« sei deshalb falsch gestellt, weil das N. T. am Ereignis nicht interessiert sei. Es wird also nicht mehr nach dem faktischen Geschehensein der in der Bibel berichteten Ereignisse gefragt, sondern nur noch nach deren kerygmatischer >Bedeutsamkeit<. Damit ist die ganze historische Tatsachenfrage, welche die Theologie seit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelwissenschaft so sehr in Atem gehalten hat, auf eine verblüffend einfache Weise zwar nicht gelöst, aber gegenstandslos geworden. Alles berichtete Geschehen als solches wird irrelevant und kann der radikalsten historischen Kritik preisgegeben werden. Theologische Relevanz hat nur die kerygmatische Bedeutsamkeit für meine eigene Geschichte. Dieser Enthistorisierung gegenüber ist die Entmythologisierung ein vergleichsweise harmloses Unternehmen.

Der Ereignischarakter der neutestamentlichen Zeugnisse wird relativiert bzw. geleugnet. Um nur eine, freilich zentrale Aussage der modernen Theologie zu nennen: »Der christliche Osterglaube ist an der historischen Frage nicht interessiert« (Bultmann). Die damit aufgestellte Alternative zwischen Verkündigung und Bericht ist unecht. Sie ist es nicht nur im N. T., sondern auch heute, im Vollzug heutiger Predigt. Es mag freilich vorkommen, daß gepredigt wird, ohne daß das, was gepredigt wird, wahr ist auch im Sinne des Mitgeteilten. Aber eines kann man doch nicht behaupten: daß ein Prediger an der Wahrheit und Wirklichkeit dessen, was er predigt, grundsätzlich nicht interessiert sei. Seltsamerweise wird dies für das N. T. als literarischem Niederschlag urchristlicher Predigt behauptet. …

Käsemann sagt: »Die Evangelien sind nicht primär als Tatsachenbericht zu verstehen, weil sonst ihr Verkündigungscharakter ausgeschaltet wäre.«

Gegen eine solche Alternative zwischen »Tatsachenbericht« und »Verkündigung« erheben sich schwerwiegende Bedenken, die aus dem Neuen Testament nicht begründet werden können. Sie wurden in Entstehung und Anwendung gefördert durch einseitige Übernahme der existentiellen Aussagen reformatorischer Theologie, durch einseitige Übernahme des Kierkegaardschen Korrektivs, ohne den inhaltlichen Bezug, der bei Kierkegaard keine Abwertung erfahren hatte. Sie bewirkt eine Einebnung und Auflösung aller echten theologischen Spannungen, die die Geschichte des christlichen Glaubens begleiteten, etwa der Spannung zwischen der Natur Christi und seiner Bedeutung für mich, zwischen dem Ereignis der Vergangenheit und der Vergegenwärtigung im Ereignis der Predigt. …

Aber es ist ja nicht letztlich der exegetische Befund, der das Material abgeben könnte für so weitgehende Behauptungen, das N. T. sei an dem Geschehensein dessen, was es bezeugt, uninteressiert. … Das Kreuz zum Beispiel ist kein Zeichen, das für Jesus erfunden wurde; es ist ein Zeichen, das sich ganz in das römische Denken einfügte. Daß jenes eine Kreuz für uns entscheidend wurde, lag in der Person dessen, der daran starb. … 

b) Verkündigung und Ereignis werden identifiziert

Christliche Verkündigung ist ohne Ereignung in der Geschichte unmöglich. Sie wäre sonst Religion wie andere Religionen. Dies ist der modernen kritischen Theologie natürlich nicht entgangen. Über den Versuch der liberalen Väter, aus dem zeitgeschichtlichen Gewande eine zeitlos gültige Wahrheit herauszuschälen, bei deren Verkündigung man gänzlich ohne konkretes historisches Faktum auskommen könnte, ist man hinausgekommen. Man sieht es jetzt im Geschehen der Verkündigung selber. Die Verkündigung, das Kerygma, ist selber das Heilsgeschehen. …

Bezeichnend für die Gleichsetzung von Verkündigung und Ereignis ist das Verständnis von Johannes 1,14 – einer auch für die »Kerygma-Theologie« entscheidenden Aussage. »Das Wort ward Fleisch« – geschieht diese Fleischwerdung im Wort der Verkündigung oder aber im durch das Wort der Verkündigung bekundeten Ereignis? Infolge der Abwertung des historischen Ereignisses überträgt man das ganze Gewicht historischer Faktizität auf das Geschehen der Verkündigung. Die damit vorgenommene Betonung des Wortes, der Verkündigung, wird aber dem Zeugnis der Bibel nicht gerecht. Ihr Zeugnis dient dem fleischgewordenen Wort Jesus Christus.

Er selbst, Jesus von Nazareth, der Christus, ist Inhalt der Botschaft, ist das Ereignis in der Geschichte, aufgrund dessen christliche Verkündigung erst möglich ist, und welches christliche Verkündigung als Ereignis in der Geschichte zu bezeugen hat.

Letzte Folge der Gleichsetzung von Verkündigung und Ereignis ist zwangsläufig der Verlust des Ereignisses. Das heißt aber: der Logos von Johannes 1, 14 ist nicht mehr der mir als lebendige Person begegnende Jesus Christus, sondern nur noch ein Anspruch der Verkündigung. Jesus Christus ist nicht mehr »wahrer Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren«. Dann aber ist auch der Heilige Geist nicht mehr wahrer Gott und Herr, sondern fällt zusammen mit dem Wort der Verkündigung oder womöglich sogar mit dem Akt gläubiger Zustimmung zum Wort. Aus dieser Entpersonalisierung des Logos folgt zwangsläufig, daß eine persönliche Beziehung des Menschen zum lebendigen Herrn Jesus Christus als des Jüngers zum Meister, welches mehr ist als nur ein bildhafter Ausdruck für ein jeweiliges Verhalten zum Wort der Verkündigung, hinfällig und unmöglich ist.

Diese Kerygma-Theologie sagt also: das »Faktum«, das die historische Einmaligkeit christlicher Botschaft sichert, ist der Text. In ihm ist das Kerygma enthalten. Um nun den Text richtig zu interpretieren, muß ich das Kerygma in ihm herausfinden. Aber wie? Wir erinnern uns, daß Luther von seiner lebendigen Begegnung mit Christus her imstande war, die Schrift recht auszulegen. Wenn aber solche persönliche Beziehung mangels eines konkreten Gegenüber nicht möglich ist, muß nach einer Methode gefragt werden, die als Auslegungsprinzip dienen kann. Diese Auslegungsmethode findet die Kerygmatheologie im sogenannten hermeneutischen Zirkel. Der Text wird nach dem Kerygma befragt. Vom Kerygma her wird alsdann der Text interpretiert. 

c) Der moderne Mensch steht im Blickfeld

Alle Verkündigung geschieht zum Menschen hin und um des Menschen willen. Das ist selbstverständlich. Daß nun der Mensch heute in so großem Ausmaße der Botschaft der Kirche entfremdet ist, ist eine oft besprochene Tatsache. Was ist es denn, das den modernen Menschen von der Kirche fernhält? Seine Verstandesnöte! Daß er »nicht mehr all das glauben kann, was man von ihm in bezug auf Gott, Jesus und die Bibel zu glauben verlangt«. Also muß man ihm »seine falschen Anstöße am christlichen Glauben nehmen und ihm dazu verhelfen, daß er mit gutem Gewissen glauben kann, ohne dabei intellektuell unredlich zu werden« (Zahrnt). …

Daß der moderne Mensch zur Bibel keinen unmittelbaren Zugang finden könne, gilt demnach als ausgemacht. »Die Bibel sei ihm ein sehr fernes Buch.« — »Welche Zumutung, all das zu glauben …« (Ebeling).

Wir fragen zurück: Ist das wirklich so? Sind die vielen tausend bibellesenden Christen aus allen Schichten unseres Volkes, darunter viele »Intellektuelle«, denn keine »modernen« Menschen? Ist der Zugang, den sie seit und in der persönlichen Begegnung mit dem lebendigen Herrn Jesus Christus zur Bibel fanden, Einbildung? Oder Anmaßung? Oder Schwärmerei? Oder haben all die Menschen die heute mit der Bibel leben, diesem ihrem Zugang zur Bibel einfach das »sacrificium intellectus« gebracht, d.h. ihren Verstand geopfert? (Käsemann: »wie Schwärmer es [das sacrif. intell.], freilich geblendet und überwältigt, zu bringen leicht bereit sind.«)

Als Beispiel dafür, wie anders die Dinge liegen, wenn der Zugang zur Bibel durch den Herrn Jesus Christus gefunden wurde, sei das Zeugnis Arthur Richters in seinem 73. Rundbrief (Juli 1962) angeführt: »Das Geheimnis der Menschwerdung Jesu soll göttliches Geheimnis bleiben. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, es verstehen oder korrigieren zu wollen. Seitdem ich einen leisen Schimmer der Größe Gottes verspürt habe, seitdem ich an mir und vielen anderen erlebt habe, wie Gott heute mit Menschen umgeht, seitdem ist die Frage der Jungfrauengeburt kein Problem mehr. Sie ist nicht gelöst, wie man eine mathematische Aufgabe löst, sondern die ganze Fragestellung hat sich aufgelöst, sie ist nicht mehr da. Die Lösung kam zu mir als Auflösung der Frage. Das ist etwas ganz anderes, als ein krampfhaftes Opfer des Intellekts. Es ist im Grunde eine praktische Folge des ersten Satzes des Glaubensbekenntnisses: >Ich glaube an Gott!< Darin ist eingeschlossen das Recht Gottes, unbegreifliche Dinge zu tun, ohne sie neugierigen Leuten zu erklären.«

Natürlich soll nicht verkannt werden, daß es diese intellektuellen Schwierigkeiten gibt, wenn auch nicht erst beim »modernen« Menschen, sondern bereits zur Zeit des Paulus. (1. Kor. 15, 35 ff. geht Paulus auf solche Fragen ein, wie sie damals auftraten.) Es ist nur die Frage, ob die Folgerung, die daraus gezogen wird, es müsse entmythologisiert werden, damit der moderne Mensch wieder glauben könne, richtig ist.

Es mag in dem Zusammenhang auch bedacht werden, wie die von A. Köberle gestellte Frage nach der Reaktion der Ärzteschaft auf Bultmanns Versuch, dem modernen Menschen den Glauben zu erleichtern, beantwortet wurde. Dafür aus dem bereits zitierten Buch des Arztes H. Gödan »Die Unzuständigkeit der Seele« eine Probe:

»Die Theologie der Entmythologisierung versucht krampfhaft, einen Kontakt zu dem sogenannten modernen Menschen zu finden… Sie ist ein auf dem wissenschaftlichen Sektor sich zeigendes Symptom einer Störung, die wir in der individuellen Diagnostik Kontaktschwäche nennen. Der Kontaktschwache möchte gern; aber er setzt falsch an.«

An anderer Stelle spricht Gödan von der »hermeneutischen Dystonie Bultmanns« – er meint ein Überwiegen der Steuerung zugunsten des modernen Menschenverständnisses. »So können Ärzte und Naturwissenschaftler das Vorgehen Bultmanns nicht begreifen: Er gibt auf seinem Wissenschaftsgebiet gerade das preis, was unabdingbar dazu gehört, nämlich das faktisch Vorgegebene zu rekonstruieren und dabei auch Ungewisses zu ertragen; und er übersieht notwendige Rückkoppelungen zwischen der Seele, die des echten Mythos bedarf, und dem Geist, der auf Fakten angewiesen ist und nicht auf das Verständnis seiner selbst. Darum ist es nur natürlich, wenn sich der Organismus der Theologie gegen eine hermeneutische Dystonie wehrt, und zwar nicht nur um seiner selbst willen, sondern weil dieser Organismus ein gesundes Gleichgewicht innerhalb seiner hermeneutischen Regulationen braucht um des modernen Menschen willen und um der anderen Wissenschaften willen, deren Lasten er mittragen muß. Die Theologie hat jeder einzelnen Wissenschaft gegenüber eine ähnliche Aufgabe wie der Seelsorger gegenüber dem einzelnen Menschen. Es gibt ein verborgenes Sehnen nach einer Theologie der exakten Wissenschaften, denn diese Wissenschaften ahnen bereits, daß der gleiche Mensch, der der Natur die Geheimnisse der Rückkoppelung ablauscht und technisch anwendet, darüber vergißt, daß der, der die Kybernetik studiert, dabei selbst des kybernetes, des Steuermanns, bedarf.« (Gödan verweist an anderer Stelle darauf, daß die Rückkoppelungsmechanismen der modernen Automation nichts anderes sind als Nachahmungen feinster innerer Vorgänge in der Natur (im körperlichen Geschehen, zwischen Sexus und Scham, zwischen Seele und Geist usw.).

So spricht also ein moderner Arzt! — Indessen wird vom Theologen unentwegt vom »Wirklichkeitsverständnis der Neuzeit«, von seinen »neuen Denkvoraussetzungen« her gefordert, die christliche Botschaft und Lehre diesem »Geist der Neuzeit« entsprechen zu lassen.

Daß dies nicht oder nicht ausreichend geschehe, sei die Ursache für die Wirkungslosigkeit der christlichen Predigt: »Es ist zu fragen, ob nicht die weitverbreitete Abgestandenheit der kirchlichen Verkündigung, ob nicht ihr Unvermögen, den Menschen der Gegenwart anzureden damit zusammenhängt, daß man sich davor fürchtet, die Arbeit der historisch-kritischen Theologie in sachgemäßer Weise fruchtbar werden zu lassen …« (Ebeling)

Man möchte zurückfragen, ob denn das Geheimnis der großen Erweckungsprediger und Evangelisten darin bestanden habe, daß sie die vom Geist der Neuzeit aufgeworfenen Probleme genügend durchreflektiert hätten? Könnte nicht, wenn schon die heutige Predigtnot als leider nicht zu leugnende Tatsache zitiert wird, das Studium der Erweckungsgeschichte der letzten Jahrhunderte praktischere Anregungen geben, als der ständige Versuch, dem Wirklichkeitsverständnis des modernen Menschen als einer absolut gesetzten Größe zu entsprechen! Würde nicht ein solches Studium, etwa an Hand der Untersuchung O. Rieckers »Das evangelistische Wort«, immer wieder zeigen, daß nicht das Eingehen auf den Geist der Neuzeit, sondern ganz schlicht gesagt das Wirken des Heiligen Geistes die Durchschlagskraft der Verkündigung erzeugte, nach der wir uns alle sehnen?

Ebelings Bemerkung »In der Neuzeit hat der christliche Glaube die Selbstverständlichkeit eingebüßt, mit der er mehr als ein Jahrtausend lang in der abendländischen Geschichte gegolten hatte« ist doch einfach so nicht richtig. Der christliche Glaube war nie selbstverständlich, auch im vergangenen Jahrtausend nicht. Und andererseits bleibt es gültig, daß Jesus Christus auch den modernen Menschen durch sein Blut erkauft hat, daß er auch für den modernen Menschen die Tür und der Weg und die Antwort auf alle Lebensprobleme ist. Wenn der Mensch von heute das vielfach nicht wahrnehmen will, dann liegt das nicht an seiner Modernität, sondern wie zu allen Zeiten an seiner Verlorenheit. Er kann das Reich Gottes nicht sehen. … 

 

II. Die existentiale Interpretation in kritischer Darstellung

1. Was ist und was will »existentiale Interpretation«?

Zunächst muß mit Rücksicht auf die immer wieder vorkommenden Begriffsverwechslungen abgrenzend klargestellt werden: Existentiale Interpretation ist nicht einfach eine existentielle Anrede, etwa entsprechend einer evangelistischen Ansprache, so sehr sie auch an der Frage des existentiellen Betroffenseins bei Verkündiger und Hörer interessiert ist. Existentiale Interpretation ist vielmehr eine Methode der Auslegung, die von der Voraussetzung ausgeht, daß der Text so wie er dasteht, nicht ohne weiteres das sagt, was er eigentlich sagen will. Diese Voraussetzung ist skeptischer Natur. Und zwar zeigt es die Skepsis, das Mißtrauen gegenüber der Wahrheit, daß nämlich das, was im Text gesagt ist, einfach wahr sei, die zu der Frage nach einer hinter den Textaussagen liegenden, erst zur Sprache zu bringenden »kerygmatischen« Wahrheit führt, wodurch die Wahrheit des Gesagten relativiert wird zugunsten der Wahrhaftigkeit des sich im Text Aussprechenden. Und ebenso ist es die Skepsis gegenüber der Geschichte, daß nämlich Ereignisse der Vergangenheit als solche für uns heute wirkmächtig und verpflichtend sein könnten. Bultmann sagt etwa: »Das Kreuz ist für uns als Ereignis der Vergangenheit kein Ereignis des eigenen Lebens mehr«.

Diese Skepsis, ein gebrochenes Verhältnis zur außerhalb meiner selbst liegenden Wirklichkeit und zur Geschichte, die wir als die philosophische Hypothek des heutigen Denkens bezeichneten, ist eine ernste Zersetzungserscheinung unserer Zeit, ihre Tendenz geht dahin, daß uns alles genommen wird, letzten Endes wir selber. Sie ist buchstäblich eine Krankheit zum Tode. Erst von dieser skeptischen Voraussetzung her bekommt die Frage nach einer Auslegungsmethode, in der Wahrheit und Geschichte nach dem in ihnen enthaltenen Seinsverständnis befragt werden, ihr Gewicht. …

Niebuhr hat darauf hingewiesen, wie diese ganz verschiedenen Motive — Anstoß am antiken Weltbild und philosophische Skepsis gegenüber objektivierender Rede- und Denkweise — bei Bultmann ständig ineinander übergehen.

Um nun hindurchzustoßen durch zeitbedingte — mythologische — Textaussagen zu dem eigentlich Gemeinten, um gleichermaßen der Bedeutsamkeit historischer Ereignisse, deren wirkliches Geschehensein uns heute nicht mehr zu glauben zugemutet werden könne und dürfe, auf die Spur zu kommen, bietet sich die »existentiale Interpretation« als Auslegungsmethode an. Sie stammt von M. Heidegger. In Heideggers Analyse menschlicher Existenz spielen die sogenannten »Existentiale« eine wesentliche Rolle. Sie bilden gleichsam die Strukturelemente menschlichen Existierens, so etwa »Sorge«, »Angst«, »Freude« u. a. Als besonders wesentliches »Existential« wird das »Verstehen« bezeichnet, und zwar nicht nur als das Verstehen in dem Sinne, daß einem etwas einleuchtet, sondern als Verstehen seiner selbst.

Das Selbstverständnis ist in der existentialen Interpretation deshalb ein Schlüsselwort. Mit dem Aufdecken des Selbst- oder Seinsverständnisses, das einem Text oder einer berichteten geschichtlichen Tatsache zugrunde liegt, glaubt man das Eigentliche fassen zu können, anhand dessen man alsdann Text und Tatsachen interpretieren kann. »Existential« ist also eine Interpretation darin, daß sie nach dem Verständnis menschlicher Existenz, nach dem Seinsverständnis fragt. Die bei solcher Befragung unter die existentiale Lupe genommenen Tatsachen behalten hinsichtlich ihres Geschehenseins nur noch eine relative Bedeutung. Indessen bedeutet das nicht, daß sie gestrichen (»eliminiert«) werden. Sie werden vielmehr »interpretiert«, was in der Begründung dieser Auslegungsmethode unermüdlich betont wird. In der Tat hegt ja hier der wesentliche Unterschied gegenüber der alten sogenannten liberalen Theologie, die um der zu findenden zeitlosen Wahrheit willen ganze Partien der Überlieferung zu streichen, d. h. zu eliminieren, bereit war. Nein, jetzt wird nicht mehr eliminiert, jetzt wird interpretiert. Man braucht ja auch nicht mehr zu eliminieren, wenn man sich darauf geeinigt hat, daß es für die Ausrichtung der Botschaft heute belanglos ist, ob etwas Vergangenes, auf das man sich bezieht — etwa eine Wundergeschichte oder die Heilstatsache der Auferstehung Jesu Christi — wirklich passiert ist oder nicht. So wird man den leidigen Vorwurf eines »Subtraktionsverfahrens«, den sich die liberale Theologie hatte gefallen lassen müssen, los.

Bultmann sagt dazu: »Die entmythologisierende Interpretation will gerade durch die Kritik die eigentliche Intention der biblischen Schriften zur Geltung bringen… Ihre Kritik am biblischen Schrifttum besteht nicht in der Elimination der mythologischen Aussagen, sondern in ihrer Interpretation; sie ist kein Subtraktionsverfahren, sondern eine hermeneutische Methode.«

Daß dem so ist, soll nicht bestritten werden. Die Frage ist nur, ob die hermeneutische Methode der existentialen Interpretation nicht in der Relativierung des Ereignischarakters der großen Taten Gottes auf eine Umdeutung hinausläuft, die einem schwerwiegenden Substanzverlust gleichkommt. Diese Befürchtung legt sich besonders nahe an einer Stelle, an der die »Interpretation« augenfällig zu einer Verkürzung führt: in der Stellung dieser Theologie zu der noch ausstehenden großen Heilstat, der Wiederkunft Jesu Christi. Was man bei Tatsachen der Vergangenheit kann, kann man bei in der Zukunft liegenden Geschehnissen nicht so ohne weiteres: sie auf ihre Bedeutsamkeit, auf das in ihnen zum Ausdruck kommende menschliche »Seins-Verständnis« befragen. Darum kann die Umdeutung, die in der existentialen Interpretation mit den vergangenen Ereignissen geschieht, an dieser Stelle nicht ganz so leicht verborgen bleiben. Hier liegt ja nicht einmal ein sogenannter »Bericht« vor, sondern lediglich Prophezeiungen, die — so sagt man — schon in der Urchristenheit nicht eingetroffen sind. Hier wird darum auch in der Theologie Bultmanns und seiner Nachfolger ohne viel Umschweife gestrichen. Nach Bultmann sind alle zeitlich-eschatologischen Aussagen des Johannesevangeliums Zufügung eines Redaktors in Angleichung an die traditionelle Eschatologie. Ebeling nennt das Lehrstück von den »Letzten Dingen« fatal und bezieht sich mit dieser Abweisung ausgerechnet auf Matth. 6, 34 Nach Conzelmann ist keine der Aussagen Jesu von seinem Kommen und dem Reiche Gottes zeitlich gemeint. Alles, die zukünftigen Gottestaten ebenso wie die vergangenen, werden hineingedrängt in das Geschehen der Verkündigung heute, in welchem sich die Fleischwerdung des Wortes, die Versöhnungstat, die Auferstehung, das Kommen Jesu zum Gericht ereignet.

Darum fragen wir:

Ist eine Interpretation, welche die Tatsachen, die sie interpretieren will, nicht mehr als Tatsachen respektiert, sondern von einem Vorverständnis ausgeht, nach welchem es bei diesen Tatsachen nicht um ihr tatsächliches Geschehensein, sondern vielmehr nur um das in ihnen zum Ausdruck kommende Seinsverständnis gehen dürfe, noch »Interpretation« im ursprünglichen Wortsinn, nämlich Verdolmetschung? Dann müßte jedenfalls die Botschaft, die interpretiert, also verdolmetscht werden soll, in ihrem inhaltlichen Bezug, an dem sie selbst aufs höchste interessiert ist, unangetastet bleiben. Wenn aber dieser inhaltliche Bezug, an welchem dem N. T. entscheidend gelegen ist, in klarem Gegensatz zur Auffassung der Menschen des N. T. als naiv, vorkritisch und vorwissenschaftlich angesehen wird, dann tritt mit der zu interpretierenden Botschaft eine Veränderung ein, die man nicht mehr Interpretation nennen darf, wenn man sich nicht dem Vorwurf der Falschmünzerei aussetzen will. E. Fuchs schreibt: »Wir machen es uns also zur Aufgabe, das sote-riologische Denken, gerade das im Neuen Testament anzutreffende, an der Kategorie der Tatsache orientierte soteriologische Denken durch ein existentiales, an dem Existential Welt orientiertes Denken zu überwinden oder wenigstens zu korrigieren.«

Hier wird bewußt mehr als Interpretation im Wortsinn gefordert. Hier geht es um Umdeutung. Daß trotzdem von Interpretation gesprochen und immer wieder beteuert wird, es würde im Gegensatz zur »liberalen« Theologie nichts eliminiert, das macht die heutige Situation so undurchsichtig. Es gehört zu den charakteristischen Kennzeichen unserer theologischen Situation, daß sie kaum noch von dem Fachtheologen innerhalb der Kirche klargemacht werden kann, geschweige denn dem gläubigen »Laien« verständlich ist.

Künneth sagt dazu: »Die Angst vor objektiven Tatsachen führt diese Theologie in eine geradezu auffallende Verlegenheit, über die >großen Taten Gottes< in unmißverständlicher Klarheit zu reden… Einig ist man sich darüber, daß jeder Offenbarungsrealismus verworfen werden muß, aber darum bleibt auch die Wirklichkeit von Jesus Christus im Nebel ohne die unerläßliche Profilierung.«

Aber gibt es nicht vielleicht doch noch tiefere Beweggründe für das Unternehmen der existentialen Interpretation?

Mit großem Nachdruck wird seitens mancher Theologen der als »Interpretation« bezeichnete tiefgehende Wandel der Auffassung der christlichen Botschaft mit der dringlichen Überwindung des Subjekt-Objektschemas begründet und verknüpft. Der Glaube dürfe es nicht mit objektiven Tatsachen zu tun haben, weil er sonst zu einer bloßen »fides historica«, zum »Fürwahrhalten« herabsänke, das bereits Luther abgelehnt habe. Es bleibt dann aber nur die Frage unbeantwortet, wie man sich erklären soll, daß sowohl das Neue Testament als auch Luther eindeutig »an der Kategorie der Tatsache orientiert« sind, ohne daraus einen Glauben im Sinne bloßen Fürwahrhaltens abzuleiten.

Bedeutet die Tatsächlichkeit eines Geschehens denn von vornherein seine Objektiviertheit? Für das Neue Testament wie für Luther ist das zu verneinen. Daß da von Tatsachen gesprochen wird, bedeutet keineswegs Befangenheit im metaphysischen Denken, sondern ist bezeichnend für biblisches Denken. Biblisches Denken aber steht in ständigem Bezug zu den magnalia Dei, den großen Taten Gottes. Deren Realität ist mit dem modernen Begriff der historischen Tatsache (d. h. feststellbar mit den Mitteln oder Methoden und unter den Voraussetzungen der modernen Wissenschaft) nicht zu fassen. Das bedeutet aber gerade nicht, daß nun doch ein Fragezeichen an diese Realität gemacht werden müsse. Vielmehr gehört das Fragezeichen an die Voraussetzungen der modernen Wissenschaft. Ist das moderne wissenschaftliche Denken der Wirklichkeit angemessen, um die es in der Bibel geht? Erst dann wäre es in echtem Sinne »wissenschaftlich«.

Es geht vielmehr um den Gegensatz zwischen philosophischem und biblischem Denken. Vom biblischen Denken her erklärt sich die Orientierung an Tatsachen, ohne daß daraus einfach eine fides historica entspränge. Es sind die biblischen Wurzeln der Theologie Luthers, die entstanden ist »im Achten auf die Eigenart des biblischen Sprachgebrauchs im Unterschied zum philosophischen bzw. scholastischen«, die ihn instand setzen, mit gleichem Nachdruck von den glaubenbegründenden Heilstaten zu reden wie von dem glaubenweckenden Geschehen der Predigt. Für Luther wie für das N. T. ist das kein Gegensatz, wohl aber für die moderne Theologie, und zwar aus philosophischen Prämissen. Dabei ergibt sich aus der (philosophisch begründeten) Opposition gegen das althergebrachte Subjekt-Objekt-Schema eine äußerliche Ähnlichkeit zum biblischen Denken, dem dieses Schema ja gleichfalls fremd ist, die überaus verwirrend ist. Man könnte dieses moderne Verständnis des N. T. und Luthers als das genuine ansehen, wenn es nicht im Gegensatz zur Bibel und zu Luther so allergisch gegen die »Tatsachen« wäre. An dieser Stelle aber, und vielleicht nur an dieser, enthüllt es sich als das, was es ist: Philosophie.

Als Ergänzung auch hier wieder die Stimme des Arztes. Gödan sagt: »Wenn Bultmann behauptet, daß es im Wesen des Kerygmas liege, daß nach der historischen Zuverlässigkeit des Überlieferten nicht gefragt werden darf, dann wird jener wesentlichen Funktion des menschlichen Geistes nicht Rechnung getragen, die nach Fakten verlangt, so wie der Körper nach bestimmten Nahrungsstoffen. Wenn dem Menschen die geschichtliche Begegnung mit dem Christus kata sarka nicht gelingt oder ihm als unmöglich bezeichnet wird, dann schafft er sich andere Christoi kata sarka, und an diesem Ersatz wird er erkranken… «

Die aufgezeigte Umdeutung des an Tatsachen orientierten Evangeliums zu einer am Seinsverständnis orientierten Anrede ist gefährlich. Hier liegt eine Tarnung vor, die schon zahllosen Gliedern der Gemeinde des Herrn Jesus Christus zum Fallstrick (Skandalon) geworden ist. Diese Tarnung ist ein bezeichnender Ausdruck der heute verbreiteten Vernebelung. Es bedarf darum dringend klarer Wegweisung, wie sie in unserer Darlegung versucht wird.  

2. Der hermeneutische Zirkel in der existentiellen Interpretation

Schon in der oben dargestellten Gleichsetzung von Verkündigung und Ereignis, die für die sogenannte Kerygma-Theologie bezeichnend ist, stellte sich zwangsläufig die Frage nach dem methodischen Prinzip zum Herausfinden des Kerygmas. In gegenseitiger Korrelation steht die Suche des Kerygmas anhand des Textes und die Auslegung des Textes anhand des Kerygmas. Schon bei dieser Methode hatten wir einen wesentlichen Unterschied gegenüber Luther, insofern diesem bei seiner persönlichen Beziehung zum Herrn Jesus Christus ein Ausgangspunkt gegeben war, der sich in seinem Umgang mit der Bibel bewährte. Auch unter diesem Ausgangspunkt ist eine Korrelation in gewisser Weise typisch: In der Schrift lerne ich Jesus Christus kennen, und aus der an der Schrift genährten Gemeinschaft mit Jesus Christus kommt die Freiheit zum Umgang mit der Schrift.

Hier liegt der innerste Nerv unserer ganzen Problematik: Persönliche Beziehung zum Herrn Jesus Christus oder methodisches Prinzip als Schlüssel zur Schriftauslegung?

In immer neuer Weise kommt bei Luther zum Ausdruck: Nur einen scopus, nur einen kritischen Kanon läßt er für die Auslegung der Schrift gelten, nämlich Jesus Christus. Im Blick auf die Auslegung der Gleichnisse gilt, der Weg führt nicht über die Gleichnisse zu Jesus, sondern über Jesus zu den Gleichnissen.

Kann man dieses »Hingewandtsein zu Christus, im Gebet zu ihm« noch weiter interpretieren? An diesem innersten Quellort des Glaubens kommt die untersuchende und beschreibende Reflexion an ihre Grenzen. In der gebotenen Abgrenzung gegen »Individualismus und Schwärmertum« ist freilich zu sagen, daß bei Luther diese persönliche Beziehung zu Jesus Christus immer auf die Schrift bezogen, nie von ihr gelöst wird. Luther kennt keine Unmittelbarkeit ohne das Wort der Schrift. Das wäre Schwärmertum. Aber er kennt die Unmittelbarkeit zu Christus durch das Wort der Schrift, per verbum. Sie ist für ihn Maßstab und Ausgangspunkt theologischer Arbeit, weil Jesus der Anfänger und Vollender des Glaubens ist.

Das gehört zu den Eigentümlichkeiten des biblischen Wortes, — und zwar weil es nicht bloßes, leeres Wort, sondern Wirklichkeit als lebendiges Wort des lebendigen Gottes ist —, daß es sich dem kritisch forschenden Geist entzieht, sich dagegen dem aus der Tiefe anklopfenden, betenden Suchen aufschließt, wo und wann Gott will, nicht also als zwangsläufiges Ergebnis eigener wissenschaftlicher Gründlichkeit. Dieser unserer Situation hinsichtlich des Wortes Gottes sollten wir uns als Theologen nicht schämen, und zwar dies um so mehr, als wir darin beispielhaft für alle andere echte Wissenschaft stehen. Auch auf anderen Gebieten »weltlicher« Wissenschaft wird Wirklichkeit nicht erkannt als selbstverständliches Resultat menschlicher Bemühung und damit sozusagen in unsere Hand gegeben. Vielmehr ist Wirklichkeitserkenntnis auf allen Gebieten letztlich immer nur Geschenk dessen, der allein Wirklichkeit setzt und erhält, des Schöpfers. Daß die Theologie darin für andere Wissenschaft die Funktion des »Salzes der Erde« und des »Lichtes der Welt« hat, sollte uns als Theologen besonders davor warnen, dem Handwerkszeug hermeneutischer Methodik mehr Gewicht zuzugestehen, als ihm zukommt, damit nicht unter der Hand aus der Theologie ein »nach Weisheit fragen« wird (1. Kor. 1, 22).

Tritt das methodische Prinzip an die Stelle der persönlichen Beziehung zum Herrn Jesus Christus, wie es für den hermeneutischen Zirkel bezeichnend ist, so wird die Frage unabweisbar, wie man in den Zirkel hineinkommt. Die Frage nach dem Anfang ist deshalb auch der eigentlich wunde Punkt in der Anwendung des hermeneutischen Zirkels. Die umkehrbare Korrelation bleibt notwendig in Ungewißheit.

Die Sache wird allerdings durch die Hinzunahme existentialer Kategorien um einiges griffiger. Als »Maßstab« des Zirkels steht jetzt das Seinsverständnis zur Verfügung. Der hermeneutische Zirkel unter Anwendung der existentialen Interpretation sieht dann so aus:

Vom Befund der Quellen aus ist zu dem in ihnen zum Ausdruck kommenden Seinsverständnis vorzustoßen, und von diesem Seinsverständnis aus der Befund der Quellen kritisch zu interpretieren.

Man betrachte unter dieser Frage einmal einige Aussagen der jüngeren Zeit: E. Fuchs kritisiert den »heute beliebten, wie ein Tabu wirkenden und doch so törichten Begriff der >Heilstatsache<: Dem lebendigen Glauben ist dergleichen fremd. Er reflektiert nicht über Tatsachen, sondern er schafft sie allenfalls.« Ebeling: »Glaubensgrund ist das, was den Glauben Glauben sein läßt und den Glauben dabei erhält, daß er wirklich Glaube bleibt, worauf also der Glaube letztlich angewiesen ist.«

Überhaupt fällt auf, wie häufig im Verlauf der Anwendung der existentialen Interpretation der Glaube als Subjekt ganzer Satzreihen auftritt. Ganz abgesehen vom Gesichtspunkt des Sprachgefühls — man wird manchmal den Eindruck nicht los, als sei der Glaube personifiziert! — muß hier doch gefragt werden, ob etwa unter dem Zwang des fehlenden Angelpunktes dem Glauben eine Rolle zufällt, die er nicht spielen kann, wenn er eben Glaube bleiben will. Schniewind sagte: »Der Glaube weiß nichts von sich selbst zu sagen«, und wir möchten ergänzen: dafür aber um so mehr von dem, an den er glaubt!

Nüchtern und klar stellt dazu der moderne Arzt fest: »Es ist aber gerade die christliche Botschaft, die uns vor unseren eigenen Glaubensanstrengungen schützen will, denn sie gilt auch dort, wo ich nicht mehr glauben kann oder wo ich falsch glauben muß. Nicht nur vom theologischen, sondern auch vom ärztlichen Gesichtspunkt aus gesehen, ist es gerade das Gesunde des christlichen Glaubens, daß alles, worauf es ankommt, bereits vollzogen ist, daß es gerade nicht auf den Akt ankommt, sondern auf den Inhalt, daß ich sogar an Gottes gute Botschaft glauben darf, wo ich sie nicht mehr glauben kann. Es handelt sich hier um einen Glauben unabhängig von unserem Glauben-können.« Der Arzt verweist sodann auf Röm. 5, 6, also die Vorgegebenheit des Heils vor Erkenntnis und Predigt. Er gibt ferner den Hinweis, daß bei Glaubensstörungen oft gerade der Wille fehl am Platze ist und die Störung nur verschlimmert. »Hier hilft dann tatsächlich nur eines, das einfache Wissen um ein Faktum, das unabhängig von mir und meinem Glaubenkönnen wirkt und gültig ist.«

Daß im hermeneutischen Zirkel etwas fehlt, dessen scheint sich die neutestamentliche Theologie nach Bultmann selbst bewußt zu sein. Man fragt wieder nach dem »historischen Jesus«. Manchen scheint in dieser Entwicklung etwas sehr Hoffnungsvolles zu liegen. Man sagt dann etwa: »Seht, die theologische Forschung kehrt ganz von selbst zu ihren Fundamenten zurück.« Wir müssen diese Entwicklung eher tragisch nennen. Es liegt über ihr ein Zwiespalt. Unter den Voraussetzungen, mit denen die theologische Wissenschaft antrat, nämlich nur das als gesichert gelten zu lassen, was historisch-kritischer Forschung zugänglich ist, verbietet sich die Rückfrage hinter das Kerygma der Urgemeinde selbst. Der literarische Niederschlag der urchristlichen Predigt ist nun einmal das Früheste, was für wissenschaftliche Forschung greifbar ist.

Man könnte von daher fragen, wie denn ein Historiker (im Sinne moderner Wissenschaft) überhaupt hinter dieses Kerygma zurückfragen kann. Seltsamerweise ist jedoch diese Rückfrage schon innerhalb der Kerygma-Theologie immer wieder geschehen, auch schon vor der genannten neueren Entwicklung, nur nicht etwa, um den Glauben zu begründen, sondern um eine solche Begründung des Glaubens unmöglich zu machen, um dem Glauben alle »Stützen« zu nehmen. Es kommt darin ungewollt als Frucht historischer Skepsis zum Ausdruck, daß dem Glauben »etwas« fehlt, um seiner selbst gewiß zu werden.

Etwas anders liegt es in der genannten neueren Entwicklung (seit 1953). Sie wird durch das Wort Ebelings in besonders charakteristischer Weise gekennzeichnet: »Würde die historische Jesus-Forschung tatsächlich nachweisen, daß der Glaube an Jesus keinen Anhalt an Jesus selbst hat, so wäre dies das Ende der Christologie.«

Was wird dann aber unter »Jesus selbst« verstanden? Fuchs versteht »Jesus selbst« im Blick auf Jesu Verhalten. »Sein Verhalten war der eigentliche Rahmen seiner Verkündigung.« Es sei »das Verhalten eines Menschen, der es wagt, an Gottes Stelle zu handeln«. Die von Jesu Predigt und dem urchristlichen Kerygma geforderte Entscheidung sei dann »einfach das Echo derjenigen Entscheidung, die Jesus selbst getroffen hat«.

Damit wird bei Fuchs die Rückfrage nach dem historischen Jesus unternommen im Zuge der Purifizierung des Glaubens gegenüber allen dogmatischen Sicherungen. Diese Reinigung des Glaubens sei bereits im N. T. angebahnt. Er vergleicht etwa Röm. 4 (reiner Glaube, ohne inhaltlichen Bezug) mit 1. Kor. 15.

Von daher wird das Ergebnis der Rückfrage nach dem historischen Jesus bei Fuchs verständlich: Es geht um Jesu Glauben als Beispiel reinen Glaubens. »An Jesus glauben heißt der Sache nach, Jesu Entscheidung wiederholen.« Glauben wie Jesus, sich entscheiden wie Jesus! Das ist »Jesus selbst« bei Fuchs. Als Folgerung ergibt sich für Fuchs: Die dogmatische Folgerung der Rückfrage nach dem historischen Jesus könne deshalb also eigentlich keine Christologie, sondern müsse eine Lehre vom Wort Gottes sein. Das aber ist wieder die so bezeichnende Gleichsetzung von Wort Gottes und Heilsgeschichte!

Ebeling kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Zunächst: Die Rückfrage nach dem historischen Jesus ergibt keinerlei Glaubensgrundlage. Jesus ist der Anfänger und Vollender des Glaubens als »Zeuge des Glaubens«. Er versteht unter »Zeuge des Glaubens« Jesus in seinem Gottesverhältnis, nicht in seiner rettenden Tat. Christlicher Glaube müsse Glaube im Sinne Jesu sein. So wird Ebelings Satz verständlich: »Die Frage nach dem historischen Jesus ist die Frage nach dem Sprachgeschehen, das der Grund des Glaubensgeschehens ist.«

Der neue Rückgriff auf den historischen Jesus ist also kein an historischen Fakten interessierter, sondern er soll die Struktur des Glaubens erhellen, sie an Jesus selbst messen, indem gefragt wird, was bei Jesus zur Sprache gekommen ist. Der Glaube wird illustriert am historischen Jesus. Was Glaube ist, könne man bei Jesus lernen.

Gilt das aber nicht ebenso von Abraham? So spricht das Neue Testament jedenfalls von Abrahams Glauben. Dann ist das »Sprachgeschehen« also nicht, wie man hätte vermuten können, eine Art »Inverbation« anstelle der Inkarnation des Gottessohnes (Joh. 1, 14), sondern ein Ausdruck für Jesu Gottesverhältnis, das in ihm zur Sprache kommt, und das von uns aufgenommen, wiederholt werden muß, damit es wieder zur Sprache kommt.

Nach alledem ist die Frage nach »Jesus selbst« aber nicht anders verstanden denn als Frage nach seinem Selbstverständnis, nach seinen Existentialen. D. h. es geht darin um das, was Glauben ist, abzulesen am Gottesverhältnis Jesu. Dieser Aspekt entspricht im Ansatz der alten »Leben Jesu-Forschung« des 19. Jahrhunderts. Damals fragte man nach Jesu »innerem Leben«, seiner »Persönlichkeit«, heute entsprechend einer existentialphilosophischen Anthropologie nach dem »Selbstverständnis«. — Welch seltsamer Kreislauf!

 

3. Folgerungen

In der Liebe zu Jesus, in der Antwort des von Jesu Liebe überwundenen Herzens als Ganzopfer eigener Hingabe an diesen Herrn Jesus Christus ist die einzige Quelle aller großen, weltdurchdringenden Bewegungen unter christlichem Namen zu sehen, von der Ausbreitung der christlichen Botschaft in den Anfängen bis zu den missionarischen und diakonischen Bewegungen der Neuzeit. »Hast du mich lieb?« fragt Jesus. »Weide meine Schafe!« (Joh. 21, 15 ff.). Hast du mich lieb? Dann gehe in die Fiebersümpfe Afrikas als Bote meiner Liebe! Hast du mich lieb? Dann nimm dich der Verkommenen und Verwahrlosten an! Hast du mich lieb? Dann gib dein Leben in meine Hand und werde Diakonisse! Missionsgesellschaften, Diakonissenhäuser, Werke der Barmherzigkeit der Inneren Mission, ja alle lebensträchtigen Zweige der Kirche sind aus dieser einen Quelle entstanden, der Liebe zu Jesus.

Mit dem Verlust der persönlichen Beziehung zum Herrn Jesus Christus fällt aber auch der einzige Trost im Leben und Sterben dahin. In der Todesnot muß die Eigentumsfrage gelöst sein, und dazu bedarf es des bezahlten Lösegeldes, des gebrachten Sühnopfers, des stellvertretenden Sterbens unter dem Gerichtszorn Gottes. Und das alles ist nicht ohne die Person des Christus als des unschuldigen Lammes möglich, wenn anders es sich nicht um eine bloße gedankliche Konstruktion handeln soll, die notwendig ohne Gewißheit und Kraft bleibt. Wenn es um die persönliche Beziehung zu Jesus Christus geht, dann steht nicht weniger als alles auf dem Spiel.

Man muß das wohl selbst erlebt und erlitten haben, um den grundlegenden Unterschied zwischen biblischer Erlösung und existentialer Eigentlichkeit in seinem ganzen Ausmaß zu sehen. Es gibt hier keinen Kompromiß, etwa mit der Begründung, es ginge bei der existentialen Interpretation doch auch um evangelistische Verkündigung. Als Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist uns klargeworden: Es ist bei aller begrifflichen Ähnlichkeit ein anderer Jesus, den wir meinen, und von dem die existentiale Interpretation spricht. Es ist deshalb auch ein anderes Evangelium. Der existentiale Ruf zur Entscheidung ist ohne befreiende, erlösende Kraft, weil ihm die Wirklichkeit des lebendigen Herrn Jesu Christi und seines vollbrachten stellvertretenden Opfers fehlt. Spricht man ohne diese geschichtliche Wirklichkeit von der Rechtfertigung des Sünders, dann ist das ein Wort, dem die »Deckung« fehlt wie einem wertlos gewordenen Geldschein. Daran wird auch nichts geändert, wenn durch eine entmythologisierende Interpretation unbestritten dem modernen Menschen Verstandesnöte erleichtert werden, ja er sogar vom vielgenannten »sacrificium intellectus« erlöst wird. Das ist gar keine wirkliche Erlösung, weil die Macht der Sünde viel tiefer sitzt als im Intellekt. Tausendfältig hat sich dagegen gezeigt, daß mit der wirklichen Erlösung auch viele Verstandesnöte sich wie von selbst lösten.

Ohne die Deckung durch die volle Wirklichkeit des persönlichen, gekreuzigten und auferstandenen Herrn – wobei man hinzufügen muß: auch des wiederkommenden Herrn! – ist aber existentiale Interpretation ein aus menschlichem Wollen und Laufen geborener Methodismus, der sich anmaßt, Funktionen zu übernehmen, die der Heilige Geist sich selber vorbehalten hat.

 

III. Versuch einer Wegweisung

Ein Wort zur heutigen theologischen Lage soll sich nicht in der Kritik der existentialen Interpretation erschöpfen. Es soll deshalb auf der Grundlage des Dargestellten noch versucht werden, Grundlinien aufbauender theologischer Arbeit aufzuzeigen, die uns heute mehr denn je aufgetragen zu sein scheint.

1. »Herr, wer bist du?«

So fragt Paulus, als sich ihm Jesus offenbarte (Apg. 9, 5). Es ist dies die entscheidende Frage am Anfang der »theologischen Existenz« eines der größten Theologen, den die Gemeinde Jesu Christi gehabt hat. Schriftgelehrter war Paulus schon vorher, geeifert um Gott hatte er schon vorher, aber mit Unverstand, was ja nicht heißt, daß er vorher seinen Verstand nicht angewendet habe. Aber ohne Erleuchtung von oben ist menschlicher Verstand eben Unverstand, vollends in der Erkenntnis Gottes. Christlicher Theologe wurde Paulus erst unter dieser Frage: »Herr, wer bist du?«

Es ist dies die entscheidende Frage aller christlichen Theologie. Sie ist vorrangig gegenüber anderen Fragen der Entfaltung, der Weitergabe, der Übersetzung usw. Sie kommt auch vor der Frage nach der Autorität der Schrift.

Die Autorität der Schrift war für Paulus nie fraglich gewesen. Sie war auch den Schriftgelehrten nicht fraglich. Was aber hat den Schriftgelehrten ihr Pochen auf die Schrift geholfen? Micha hat sie nicht zur Anbetung nach Bethlehem geführt (Matth. 2,3 f.). Sie erhoben aus der Schrift, daß aus Galiläa kein Prophet ersteht (Joh. 7, 41) und hielten dafür, aus Nazareth könne nichts Gutes kommen (Joh. 1, 46); sie vernahmen ihr Zeugnis für Jesum nicht (Joh. 5,39 f.), denn sie verstanden weder sie noch die Kraft Gottes (Matth. 22, 29 f.); den Rätseln ihrer Weissagung aber standen sie ratlos gegenüber (Matth. 22, 41 f.). Nur diejenigen, welche Jesum im Glauben als den Christus erfaßten, fanden sich mit dem Nazarenus zurecht (Matth. 2, 23), entdeckten das Zeugnis für den Aufgang aus Galiläa (Matth. 4,12 f.) und lernten nach dem Erweis der Kraft Gottes an dem Auferweckten, daß diesem Mose und alle Propheten Zeugnis geben. Es geht auch heute nicht zuerst um die Frage der Autorität der Schrift. Die wird auch auf seiten der existentialen Theologie nicht geleugnet. Es geht um die Frage: »Herr, wer bist du?« Daß Paulus diese Frage stellt, ist bereits eine Frucht der Offenbarung, die ihm widerfuhr (Gal. 1,16). Es geht darum auch heute um die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, um die Wirklichkeit, um die Einmaligkeit, um die Verbindlichkeit dieser Offenbarung. Es ist deshalb letzten Endes auch nicht die Schriftfrage oder die Wunderfrage oder die Frage der Hermeneutik, die uns von der existentialen Interpretation trennt. Es ist die Gottesfrage!

Es war auch für Luther die Gottesfrage, an der sich alles entschied, die ihn zum Theologen machte, die nicht das Ergebnis, sondern der Ausgangspunkt seiner Existenz als Theologe war. War es bei Pascal anders? Offenbarung des lebendigen Gottes, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Vaters unseres Herrn Jesu Christi, des deus revelatus, ist Anfang und Grundlage wahrer Theologie.

2. »Woher weiß ich das?«

Wie kommt es dazu, daß die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, die geschehen ist in der Menschwerdung des Sohnes, als die Zeit erfüllt war, vom Menschen erkannt und geglaubt wird, so daß er fortan von der Frage »Herr, wer bist du?« bewegt wird? Bekanntlich ist dies nach dem Wort Jesu zu dem bekennenden Petrus nicht eine Möglichkeit für Fleisch und Blut (Matth. 16, 17), sondern ein Wunder des Heiligen Geistes. »Niemand kann Jesum einen Herrn heißen außer durch den Heiligen Geist« (1. Kor. 12,3; vgl. auch 1. Kor. 2,9 f.).

3. Das Zeugnis der großen Taten Gottes

Es bleibt die Aufgabe der Boten des Herrn, den zu bezeugen, der sie errettet hat. »Ihr werdet meine Zeugen sein« (Apg. 1, 8). Für dieses Zeugnis gilt:

a.) Es gibt keine Alternative zwischen Bericht und Verkündigung. Sie ist, wie gezeigt wurde, dem N. T. selber fremd. Sie widerspricht den Quellen. Sie ist ebenso für die Ausrichtung der Predigt heute gegenstandslos.

b.) Das Evangelium ist mehr als Entscheidungsforderung. Evangelium ist die frohe Botschaft vom stellvertretenden, sühnenden Opfer des Sohnes als des Opferlammes am Kreuz für uns. So wahr in dieser Botschaft eine Anrede an uns liegt, ist sie doch nicht zuerst Anspruch, sondern Zuspruch und Freispruch. Wenn das nicht mehr ohne allen Vorbehalt verkündigt wird, dann wird aus dem Ruf zur Entscheidung »Gesetz«, das vom kategorischen Imperativ nicht mehr zu unterscheiden ist. »Gott hat uns verordnet zur Kindschaft« (Eph. 1, 5). Kinder aber entscheiden sich nicht, Kinder lassen sich beschenken.

c.) Die Ausschließung der Neutralität ist keine menschliche Möglichkeit. Das heißt, daß die Botschaft »ankommt«, eine Entscheidung (für oder gegen) herbeiführt und nicht alles beim alten bleibt, ist nicht in unsere Hand gegeben, also auch nicht durch theologische Arbeit zu garantieren oder herbeizuzwingen. Es geht hier vielmehr um die Frage der Vollmacht. H. Kemner erzählt von dem halbwüchsigen Jungen, der beim Überbringen einer Einladung zur Evangelisation an den Direktor eines großen Werkes, durch gutmütigen Spott völlig verwirrt, nur noch stammeln kann: »Aber du bist doch auch ein Sünder, und für dich ist der Heiland doch auch gestorben!« Dies Wort wurde in seiner Unmittelbarkeit dem Direktor Anstoß zu einer Hinwendung zum Evangelium. Vollmacht ist Unmittelbarkeit zu Gott. Diese kann nie gemacht, sondern nur geschenkt werden.

d) Die Theologie wird ihre Aufgabe nicht erfüllen können, wenn sie nicht in dienender, gliedhafter Verbundenheit zur Gemeinde des Herrn Jesus Christus steht und innerhalb der dem Leibe Christi gegebenen Vielfalt der Gaben ihren Platz ausfüllt. Dazu bedarf es der Zu-, Ein- und Unterordnung des Denkens unter den Gehorsam Christi (2. Kor. 10, 5). Das Denken muß dienen, nicht herrschen. In der Begegnung mit dem persönlichen Christus wird das Denken nicht geopfert, sondern befreit.

Schlatter sagt: »Die Geschichte des griechischen Denkens wird tief von dem Satz des Paulus getroffen: Die Erkenntnis macht eitel; sie baut nicht, sie bläht auf; die Liebe baut. Es war ein Merkmal des griechischen Denkens, daß sich mit dem Denken ständig der Machtwille verband. Wissen ist Macht… Daraus entstand das stolze Selbstbewußtsein des Klugen und die entehrende Verachtung des Dummen… Auch Paulus lehrte seine Gemeinden denken, nicht nur wiederholen, was er ihnen vorgesagt hatte. Denn das Werk Gottes stand vor ihm, das sein Auge zu unermüdlicher Wahrnehmung fesselte. In Christus wußte er die Schätze der Weisheit verborgen, damit sie dort von uns gefunden werden. Die Briefe des Paulus sind deshalb heute noch der mächtigste Erwecker einer nie endenden Denkfreudigkeit. Wo die Liebe Gottes in das Herz des Menschen ausgeschüttet war, gab es ein starkes Interesse an der Richtigkeit des Denkens. Der Machtwille ist beseitigt, und die Grenze des Geheimnisses bleibt unangetastet. Voran geht die göttliche Tat, dann erst folgt das sie deutende Wort; das erste ist die Wahrnehmung, dann erst ist uns ein Urteil gegeben.«

 

B. LEITSÄTZE ZUM THEOLOGISCHEN GESPRÄCH

1. Theologie ist eine Funktion des Leibes Christi. Sie dient der Gemeinde unter der Herrschaft des Hauptes, des Herrn Jesus Christus. Sie ist auf die Gemeinde angewiesen, wie die Glieder eines Leibes aufeinander angewiesen sind.

2. Entfremdung zwischen der glaubenden Gemeinde und theologischer Forschung ist eine Krankheitserscheinung am Leibe Christi. Durch diese Krankheit ist die Theologie wie die Gemeinde gleichermaßen gefährdet.

 

I. Zur Genesis der Krankheitserscheinung

3. Das philosophische Denken der Neuzeit bemächtigt sich der christlichen Offenbarung (der einmaligen Sendung des Sohnes vom Vater in der Fülle der Zeit).

4. Im engen Zusammenhang damit entsteht eine bestimmte Art theologischer Wissenschaft (im Sinne des modernen Wissenschaftsbegriffes). Ihre Voraussetzung ist die autonome Vernunft, ihr Arbeitsmittel die Hypothese, ihr Gegenstand die Bibel, die grundsätzlich wie jedes andere Buch behandelt werden muß.

5. Der Weg dieser Theologie führt zu folgenden philosophisch bedingten Irrtümern:

a. In Abwertung historischer Tatsachen in ihrer heilsgeschichtlichen Relevanz wird die Verkündigung der Heilswahrheit in Alternative gesetzt zum Interesse an den Heilstatsachen.

b. Um die historische Kontingenz des christlichen Glaubens festzuhalten, werden Verkündigung und Ereignis identifiziert: Das Heilsgeschehen ist das Wortgeschehen.

c. In der sich aus beidem zwangsläufig ergebenden hermeneutischen Reflexion wird die eigentliche Intention reformatorischer Theologie gesehen.

6. Die denkerische Bewältigung der mit der Hermeneutik gegebenen
theologischen Aufgabe wird für möglich gehalten. Gleichzeitig greift
eine tiefe Resignation hinsichtlich eines allgemein gangbaren Zuganges zur Bibel und eine potenzierte Problematik hinsichtlich ihrer Verständlichkeit um sich.

 

II. Zur Diagnose der Krankheitserscheinung

7. Die von der Hermeneutik geforderte Interpretation führt, weil sie mehr als Exegese, auch mehr als Begriffskritik, Textkritik oder Literarkritik, vielmehr Sachkritik ist, zu schleichendem Substanzschwund der christlichen Botschaft infolge Umdeutung ihres Inhaltes. Dies zeigt sich an folgenden Erscheinungen:

a. Der Zugang zur Bibel geht verloren. Diese Erscheinung ist eine Folge zweihundertjähriger, im »Geiste der Neuzeit« betriebener theologischer Wissenschaft, taugt also nicht zur Begründung weiterer Konsequenzen derselben.

b. Die Frage, wer Jesus für uns ist, wird problematisch. Diese Erscheinung straft die von der modernen Theologie vollzogene Selbstidentifizierung mit der reformatorischen Theologie Lügen.

c. Mit dem Verlust des »solus Christus« in seiner inhaltlichen Bedeutung entsteht eine Hypertrophie des Glaubensbegriffes, die diesen zur Existenzhaltung verfälscht.

d. Der Abwertung heilsgeschichtlicher Tatsachen der Vergangenheit entspricht der Verlust einer tatsächlichen Zukunft, d. h. aber Verlust der Verheißungen Gottes für die Welt.

8. Die Vollmachtlosigkeit der christlichen Verkündigung heute wird von der modernen Theologie zwar deutlich gesehen, aber durchaus unzutreffend erklärt, nämlich auf den Mangel an Verständlichkeit zurückgeführt. Die starke Betonung der Verstehensfrage verfehlt die Wirklichkeit des Menschen, die nicht darin besteht, daß ihm Gott nicht verständlich ist, sondern daß er nicht will, daß Gott Gott ist.

9. Die Sachkritik der existentialen Interpretation führt zwangsläufig zur Destruktion aller nach Form und Inhalt verbindlichen Lehraussagen, wobei es der Willkür des einzelnen überlassen bleibt, das Bekenntnis der Kirche existential zu interpretieren und, wo nötig, umzudeuten.

10. Die jüngst neu in Gang gekommene Rückfrage nach dem historischen Jesus bringt infolge des für sie bezeichnenden Nebeneinander von Optimismus und Pessimismus keinen befreienden Fortschritt der theologischen Forschung.

 

III. Zur Therapie dir Krankheitserscheinung

11. Unser Ringen geht nicht gegen die theologische Forschung, sondern für und um sie, zugleich aber auch um den Leib Christi, als dessen Glieder wir uns wissen, und um die für sein Wachstum und seinen Dienst wesentlichen »Zuteilungen« der Geistesgaben (1. Kor. 12, 4).

12. Es bedarf der Zu-, Ein- und Unterordnung des Denkens unter den Gehorsam des lebendigen Herrn Jesus Christus. Er ist der Arzt.

Es bedarf unter den Weisungen des Arztes der Buße über aller geschehenen Verletzung der Ehrfurcht der Gemeinde vor dem »kündlich großen Geheimnis« der Offenbarung Gottes im Fleisch, aber auch der Buße über alle geschehenen unsachlichen, persönlich verletzenden Seitenhiebe aus der Gemeinde auf die Theologen.

Es bedarf unter der Zuteilung des Geistes der sachlichen, verantwortlichen Mitarbeit der Gemeinde an der Aufgabe theologischer Forschung, aber ebenso der vorurteilslosen, helfenden Teilnahme der theologischen Lehrer am erwecklich-missionarischen Leben der Gemeinde.

Es bedarf zur Überwindung der »Unwirklichkeit in der Kirche«, von der Theologie und glaubende Gemeinde gleichermaßen wissen, nicht zuerst einer neuen Sprache, einer religiösen oder nicht-religiösen Begrifflichkeit, sondern vor allem eines neuen Geisteswehens, einer Erweckung in Theologie und Gemeinde, in der die Wirklichkeit des lebendigen Herrn, die Botschaft und Glaube meinen, evident würde für Theologie und Gemeinde.

 

C. BIBLISCHE LEHRE UND SEELSORGERUCHE VOLLMACHT

Lukas 4,14 ff

»Und Jesus kam wieder in des Geistes Kraft nach Galiläa… und er kam nach Nazareth und ging in die Schule nach seiner Gewohnheit am Sabbat und stand auf und wollte lesen. Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und da er das Buch auftat, fand er den Ort, da geschrieben steht: »Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn.<… Und er fing an, zu sagen zu ihnen: Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren.«

»Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren.« Gleichzeitigkeit — das scheint mir die Klammer zu sein zwischen biblischer Lehre und seelsorgerlicher Vollmacht. Gibt es das denn: Gleichzeitigkeit? Trennt uns denn nicht der »garstige Graben«, von dem Lessing sprach, von den Ereignissen der Vergangenheit? Kann man diesen Graben so einfach überspringen? Für den modernen Menschen seit Lessing ist Vergangenheit etwas, das »passiert«, d.h. vorübergegangen und damit versunken und oft genug vergessen ist. Für biblisches Denken ist die Vergangenheit in der Gegenwart mitgesetzt. Nichts Vergangenes geht verloren. Vergangenheit ist gegenwartsmächtig und insofern gleichzeitig. Problematisch ist das erst für den Menschen, der in philosophischer Abstraktion den Zugang dazu verloren hat, daß Vergangenheit unerbittlich die Gegenwart bestimmt, über die Jahrtausende hin. Es ist eine Abwertung der Geschichte, aus der heraus gefragt wird, wie »zufällige Geschichtstatsachen« wirkmächtig, gleichzeitig für den Glauben werden können.

Wieviel Mühe und Anstrengung hat die theologische Wissenschaft seit Lessing an dieses Problem gewandt! Ist dieses Problem nicht auch heute der eigentliche Motor vieler methodischer Bemühungen in der Theologie um Vergegenwärtigung? Aber es sind die griechisch-philosophischen Denkvoraussetzungen, aus denen die Schwierigkeiten kommen. Für biblisches Denken ist Gleichzeitigkeit ein Grundelement. »Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.« Für biblisches Denken ist es gar kein Problem, mit den großen Taten Gottes aus der Vergangenheit gleichzeitig zu sein.

Der Unterschied liegt, sprachlich gesehen, im Zeitverständnis. Der Grieche hat eine im Grunde räumliche Zeitauffassung, die sich ausprägt in Wortbildungen wie »Zeitraum«, »Zeitabstand«, »Zeitpunkt« usw. Des Hebräers Zeitverständnis ist rhythmisch und inhaltlich bestimmt, ohne dabei über zeitliche Dauer zu reflektieren. »Ein jegliches hat seine Zeit… « (Pred. 3,1 ff.). — Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht — von Geschlecht zu Geschlecht. Chronos ist der Gott der Griechen. Der Gott der Bibel ist der »Ich bin, der ich bin«. Er ist gleichzeitig und macht durch seinen Geist gleichzeitig.

Wer diese Gleichzeitigkeit nicht kennt, der kennt die Wirklichkeit nicht, die die Bibel bezeugt. Nicht Aufhebung der raum-zeitlichen Vergangenheit, sondern Wirksamwerden tatsächlicher Vergangenheit. »Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren.«

Nicht nur beim Zeitverständnis geht es darum, die Bedeutung des biblischen Denkens im Unterschied zum griechisch-philosophischen neu zu erfassen. In der Verschmelzung beider Denkweisen, die man als Schicksal des abendländischen Christentums bezeichnen kann, wurzeln nahezu alle Probleme theologischer Lehrbildung wie auch die Nöte vollmachtloser Seelsorge und Verkündigung. Tertullians Frage »Was hat Jerusalem mit Athen zu tun? « — ist durch den Gang der Kirchengeschichte nicht beantwortet, sondern nur noch brennender geworden.

Unser Wissenschaftsbetrieb ist, wo es um Theologie geht, eine durchaus fragwürdige Sache. Die Vorherrschaft des Intellekts, die absolute Fraglosigkeit der historisch-kritischen Methode, die Bedeutung des Gütezeichens »wissenschaftlich« (bzw. »unwissenschaftlich«) in der theologischen Diskussion, – das alles stammt ans dem Griechentum. Beide, rechte theologische Lehrbildung und seelsorgerliche Vollmacht als zusammengehörende Funktionen des Leibes Christi, bedürfen dringend der Neuerfassung vom biblischen Denken her. Es geht heute sehr dringlich um die Erkenntnis, die uns Pascal in seinem Memorial überliefert hat: »Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit, Gewißheit, Empfinden, Freude, Friede. Gott Jesu Christi, Deum meum et Deum vestrum… « Und dann: »Nur auf den Wegen die das Evangelium lehrt, ist er zu finden.« Blitzartig erhellen diese Bekenntnisworte Pascals die Situation: Ein Bündnis zweier Weisen der Gotteserkenntnis, aber dieses Bündnis ist untragbar.

 

I. Theologie und Seelsorge sind weiterhin voneinander abgegrenzt

Unsere theologischen Fakultäten praktizieren seit Jahrhunderten die Trennung der Disziplinen. Da führt die »Poimenik«, die Lehre von der Seelsorge, neben den anderen, den Hauptfächern, wie AT-und NT-Theologie, Dogmatik oder Kirchengeschichte, ein Rand- und Schattendasein. Ein Student der Theologie beschäftigt sich wohl mit Seelsorge erst dann, wenn er aufs Examen lossteuert. Theologie und Seelsorge haben wenig oder nichts miteinander zu tun.

Die gleiche Trennung begegnet uns in der nahezu selbstverständlich gewordenen Abgrenzung von »Wissenschaft« und »Erbauung«. Dabei will ich einer falschen Erbaulichkeit nicht das Wort reden. Rechte, biblische Erbauung ist ein durchaus theologisches Geschehen. Und Theologie in rechtem Sinne müßte auch erbaulich sein. Die Trennung von »wissenschaftlicher« und »erbaulicher« Literatur ist grundsätzlich illegitim, jedenfalls vom biblischen Denken her.

Ich bin aus eigener Erfahrung der letzten Monate in der Lage, das beispielhaft zu belegen. Auf den Aufsatz über die »Existentiale Interpretation« bekam ich mancherlei Zuschriften. Bei der Kritik scheint mir am bemerkenswertesten in unserem Zusammenhang, daß mir vorgeworfen wurde, daß ich aus der wissenschaftlichen in die zeugnishafte Denkweise verfallen sei. Das sei unzulässig.

Solche Kritik wurzelt in der üblich gewordenen Abgrenzung von Theologie und Seelsorge. Das aus der Kirchengeschichte genugsam bekannte Auseinanderfallen von »Lehre« und »Leben«, von Orthodoxie und Pietismus, ist ein Beispiel unter vielen. Somit ergibt sich folgender Schluß: Die Abgrenzung von Theologie und Seelsorge ist eine Folge griechisch-philosophischer Abstraktion. …

Die gleiche Verschiedenheit liegt beispielsweise vor im Begriff der »Wahrheit«. Im griechischen Denken ist es das Unverborgene, das Erkennbare, das man »logisch«, vernünftig, begrifflich, theoretisch klarmachen kann. Wahrheit, im Hebräischen »aman« (davon abgeleitet unser »Amen«), ist Zuverlässigkeit, Festigkeit, Gewißheit, nicht wie im Griechischen auf Sachverhalte bezogen, sondern auf Personen. Gottes Treue ist Wahrheit. Wahrheit und Treue sind, wenn man so sagen soll, keine Sachverhalte, sondern Personverhalte. Die Pilatusfrage »Was ist Wahrheit?« ist aus griechischen Denkvoraussetzungen gestellt. Jesu Zeugnis »Ich bin die Wahrheit« ist nur vom Hebräischen her zu verstehen. Der Gegensatz von Wahrheit auf griechischem Boden ist Irrtum, auf biblischem Boden Lüge. Der Grieche hat die Wahrheit gefunden, wenn er logische Beweise bekommt. Der Mensch der Bibel hat die Wahrheit gefunden, wenn er sagen kann: »Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält… «

Der Grieche fragt nach der Denkbarkeit einer Sache, der Hebräer fragt nach ihrer Wirklichkeit. Der Grieche sucht das System, der Hebräer sucht Gewißheit. Die Abgrenzung der Theologie als abstrakter Wissenschaft von der Wirklichkeit des Lebens, um die der Seelsorger weiß, ist aus griechischem Geist geboren. Über ihr waltet der unpersönliche Gott der Philosophen, nicht der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Schlatter sagt: »Vom Griechen stammt das Denkideal her, das wir auf unseren Universitäten heute noch betätigen. Denken ist Macht, das ist der griechische Satz. Wer richtig denkt, handelt richtig. Der Hellene ist keineswegs in seinem Denken von der praktischen Zielsetzung völlig abgewendet; wenn er sich für die Dinge interessiert, so weiß er sehr wohl, daß daraus positive Erträge erwachsen. Damit verbindet sich eine ungebrochene Zuversicht zur Denkfähigkeit des Menschen. Der Grieche weiß nichts von einer Bedingtheit des Denkens durch die realen Vorgänge; er greift jedes Thema an, er hat für alles eine Lösung. Er ist der typische Rationalist; was wir an Rationalismus in der Kirche haben, ist alles unmittelbar die Fortsetzung des hellenischen Denkens.«

Die Abgrenzung der Theologie von der Seelsorge rührt an den Kern der Problematik unserer heutigen Situation in Theologie und Gemeinde. Eine Lösung ist nicht zu erwarten, wenn nicht das griechisch-philosophische Denken in der Methode theologischer Arbeit von seinem Absolutheitsanspruch hinweg wieder den Platz zugewiesen bekommt, der ihm zukommt, nämlich den des funktionellen Dienens. Das ganze Unternehmen der Hermeneutik ist griechischen Ursprungs. Die wissenschaftlich-theologische Arbeit geschieht aus griechischer Tradition, um der Sache willen, der Erkenntnis der Sache dienend. Wenn aber im Neuen Testament die Sache, um die es geht, »nahezu identisch mit einer Person ist, mit Jesus Christus, dann liegt doch der Schluß ganz nahe, daß ein sachbezogenes Denken, wie es das griechisch-wissenschaftliche Denken nun einmal ist, dem »Gegenstand« des Glaubens bzw dem Gegenüber des Glaubens nicht angemessen ist.

 

II. Theologie und Seelsorge gehören wesenhaft zusammen

Die innere Korrelation von Lehrbildung und seelsorgerlicher Vollmacht beruht auf dem, was auf biblischem Boden unter Theologie und unter Seelsorge gemeint ist. Beide Begriffe weisen in biblischem Verständnis aufeinander hin. Dies ist in mehreren Abschnitten zu entfalten.

1. Theologie hat in der Bibel seelsorgerliche Bestimmung.

Es ist auffallend genug, daß Paulus gerade als Theologe ausdrücklich auf die Mittel griechischer Argumentationsweise verzichtet (1. Kor. 1, 17 bis 2,16). »Nicht mit hochtönenden Worten, mit klugen Gedanken bin ich gekommen. Auf >Weisheit< habe ich keinen Wert gelegt. Aber das Zeugnis von Gott habe ich euch weitergegeben.« Unnötig zu betonen, daß dies bei Paulus nicht den Verzicht auf Theologie überhaupt bedeutet. Wer wird das dem Paulus nachsagen wollen? Hier wirkt sich die Grundverschiedenheit aus, die wir bereits betrachteten. Der Grieche treibt Denkarbeit in erkenntnistheoretischer Abstraktion. Seine Lieblingswissenschaft ist die Geometrie. Da muß alles schön aufgehen in Voraussetzung, Behauptung und Beweis. Ganz anders auf biblischem Boden. Beim Hebräer ist auch das Denken konkret, blutvoll, lebenswirklich, seelsorgerlich bestimmt. Darum haben die Propheten und Apostel auch keine Beweise geführt, die wir als logische Beweise anerkennen würden, vielmehr haben sie Gleichnisse erzählt. Die Gleichnisse der Bibel entsprechen den logischen Beweisen der Griechen.

Hinter der »Theologie« der Gleichnisse steckt die Erkenntnis der Wirklichkeit des Menschen, dessen innere Bollwerke, die er zu seiner Selbstrechtfertigung unwillkürlich aufbaut, durch logisch-intellektuell schlüssige Gedankengänge nicht ohne weiteres zu überwinden sind. Denken wir an Nathan, wie er zu David kommt. Es ist nicht so einfach, einen Menschen von seiner Schuld zu überführen. Auf dem Wege des Beweises, mit theologischer Denkschärfe allein, geht das meistens nicht. Da geht es um eine tiefere Schicht des Menschen. Da geht es um Bollwerke der Finsternis, die man frontal mit den Mitteln des Verstandes nicht überwinden kann. Und darum erzählt Nathan ein Gleichnis. Und die Überzeugungskraft dessen, was er sagt, ist ungleich größer als die eines messerscharfen Verstandesargumentes. »Du bist der Mann!« Das ist im Unterschied zu griechisch-philosophischer Abstraktion seelsorgerliche Theologie.

Oder denken wir an eines der kürzesten Gleichnisse Jesu: »Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner, einer schuldete 500 Groschen, der andere 50. Da sie aber nicht hatten, zu bezahlen, schenkte er’s beiden. Sage an… « (Luk. 7,41 f.). In drei Sätzen steht alles da, und es ist einfach nicht abzuschütteln, was da an überführender Lebenswirklichkeit auf Simon zukommt. Das ist Theologie in seelsorgerlichem Bezug, deren Überzeugungskraft nicht auf dem Wege über den Verstand geht — obgleich dieser natürlich nicht ausgeschaltet ist! —, sondern über das Gewissen.

Wurzelhaft seelsorgerlich motiviert erscheint auf dem Grunde biblischen Denkens auch vieles, was an Wiederholungen in den theologischen Aussagen der Bibel zu finden ist. Vom logischen Denken her spricht man da gar zu rasch von »Doubletten«, etwa Matthäus 22, 1 ff. und Lukas 14, 16 ff., wobei nur eines »ursprünglich« sein könne. Warum? Die Lebenswirklichkeit in der Seelsorge weiß sehr wohl um Sinn und Notwendigkeit auch je und dann abgewandelter, wiederholter Aussagen. Wiederholung ist ein im biblischen Denken verbreitetes und seelsorgerlich bestimmtes Mittel theologischer Aussage. Der bekannte »Parallelismus membrorum« der hebräischen Sprache ist nichts anderes als eine sprachliche Ausprägung dieses Sachverhaltes. …

 

2. Richtige Theologie kommt in der Bibel nicht allein aus richtigem Verstehen

Das Buch Richter berichtet: Nach Gideons Sieg über die Midianiter kommen etliche zu Gideon: »Sei Herr über uns, du und dein Sohn… « (Richter 8, 22). Gideons Antwort ist saubere, klassische Theologie: »Ich will nicht Herr über euch sein, mein Sohn auch nicht, sondern der Herr soll Herr über euch sein.« Völlig einwandfrei! Im nächsten Vers erbittet sich dann Gideon die erbeuteten goldenen Stirnbänder. Nicht einwandfrei ist Gideons Stellung zum Golde. Und was dann daraus wird, zeigt, daß nun auch die Theologie nicht mehr einwandfrei ist.

Seinsfragen, Existenzfragen sind oft untergründig bestimmend für Erkenntnisfragen. Die Seelsorge offenbart, warum mancher in seiner Erkenntnis nicht weiterkommt, vielleicht blockiert ist. Wenn ihm aber an der bestimmten Stelle aus seiner Sünde, aus einer Gebundenheit herausgeholfen ist, dann fallen viele Erkenntnisprobleme in sich zusammen wie ein leerer Sack. Was vorher »nicht nachzuvollziehen war« (so sagt man doch heute!), ist dann auf einmal gar kein Problem mehr.

Von J. Tobias Beck ist das Wort überliefert: »Das Denken ist gefangen im Leben.« Das Wort ist wahr. Es ist mir selbst so gegangen, daß ich voller intellektueller Probleme aus dem Krieg zurückkam. Vieles davon, das meiste ist zusammengerutscht, als Jesus in meinem Leben Wirklichkeit wurde als der Befreier, der Gefangene losmacht. Seinsfragen sind oft bestimmend für Erkenntnisfragen.

Ich meine, das habe auch Paulus vor Augen, wenn er von der Decke vor den Herzen der Kinder Israel spricht, und diesen Mangel an Erkenntnisvermögen als Folge einer Entscheidung bezeichnet (2. Kor. 3,15 f).

Thielicke erzählt in seiner Auslegung der Urgeschichte von einem Studenten der Theologie, der in der Zeit des Dritten Reiches nach einem anfänglich guten Start seines Studiums eines Tages auf einmal voller Probleme zu ihm gekommen sei. Als ihm dann schließlich trotz mancher Gespräche auf seine Problemfragen nicht die lösende Antwort zuteil wurde, habe er das Theologiestudium aufgegeben. Einige Monate später landete er bei der SS. Viel später stellte sich dann heraus — er selbst hat es bezeugt —, daß ihn damals die SS mit vielerlei verlockenden Angeboten umworben hatte, ihm Karriere, Vorteile und dergleichen geboten hatte. Und da er vor seinen eigenen Augen nicht abtrünnig werden wollte, waren die Probleme gekommen. Sie waren, wenn auch damals für ihn unbewußt, nichts anderes als ein moralisches Alibi für seinen Wechsel von der Theologie zur SS.

Richtige Erkenntnis ist nicht allein Sache des Intellekts. Richtige Erkenntnisbildung, theologische Lehrbildung steht deshalb notwendig in Zusammenhang zur Ganzheit des Menschenbildes. Dies aber erschließt sich nur in seelsorgerlichem Horizont. Heinrich Kemner sagt: »Wenn unsere Zeit nun geradezu klassisch genannt werden kann in dem Bemühen, den modernen Menschen dadurch zu erreichen, daß man seinen gedanklichen Fragen und Nöten auf der Ebene theologischer Dialektik begegnet, so ist dieser Weg doch nur unter Begrenzung und gewissen Voraussetzungen verheißungsvoll. Gedankliche Bewegungen sind nur möglich bis zu der Grenze, an der deutlich wird, daß die Not des Menschen keine Denk-, sondern Existenznot ist. Den Menschen sehen heißt sein Elend sehen.«

Um Mißverständnissen zu begegnen, sei klargestellt: Natürlich ist das Bemühen um Verständlichmachung nicht unnötig, insbesondere auch nicht die Aufgabe, intellektuellen Schwierigkeiten helfend und erklärend, womöglich lösend zu begegnen. Gerade die seelsorgerliche Liebe gebietet das. Wenn Paulus sich als ein Schuldner der Griechen und der Nichtgriechen wußte (Röm. 1,14), dann sind wir nicht weniger den griechisch-humanistisch geprägten Menschen unserer Zeit verpflichtet. Gerade diesen gegenüber muß der Theologe aber wissen, daß das Wesen des Menschen im Griechentum nicht nur anders als in der Bibel, sondern unzutreffend gesehen wird. Der Mensch ist nicht nur »Vernunftwesen«: — homo sapiens —, sondern Geschöpf Gottes, Ebenbild Gottes, aber gefallen, erlösungsbedürftig, auch in seinem Erkenntnisvermögen. Auf griechischem Boden konnte das in seiner Tiefe nicht erfaßt werden. Diese Erkenntnis ist eine Frucht der Offenbarung des lebendigen Gottes. Diese aber geschah nicht in Hellas, sondern in Israel. Auch hier gilt: »Das Heil kommt von den Juden« (Joh. 4,22). Gen. 3 und Röm. 7 wurden von Israeliten geschrieben. Das ist kein Zufall.

Der Theologe ist nicht dem Gott der Philosophen verpflichtet. Er steht in der Verantwortung vor dem lebendigen Gott, der sich in Israel offenbart hat. Darum ist er gehalten, bei allem Eingehen auf die Denknöte des Menschen dennoch diese nicht zum Maßstab seiner interpretierenden Arbeit zu machen, wenn anders er nicht doch wieder einem philosophischen Ansatzpunkt verfallen und damit dem Menschen die eigentliche Hilfe schuldig bleiben will.

Der Arzt wird die Diagnose nicht vom Patienten stellen lassen, wenngleich dessen Angaben für das Erkennen des Schadens auch nicht gleichgültig sind. Das heißt: Auch wenn der Mensch sich selbst als Vernunftwesen versteht und darum die Lösung seiner Verstandes- und Problemfragen für wichtiger hält als die Frage nach dem gnädigen Gott, wird der Theologe als Seelsorger darin das religiös-philosophisch irregeleitete Selbstverständnis des Menschen als seine Krankheit zum Tode erkennen, das auf dem Boden biblischer Offenbarung unvergleichbar gekennzeichnet ist mit dem Wort: »Ihr werdet sein wie Gott, wissend um Gut und Böse… « Gerade weil in der Autonomie des Wissens der Aufruhr des Menschen, auch des religiösen Menschen, gegen Gott seinen Ansatzpunkt hat, darum ist richtige Theologie nicht allein Sache richtigen Verstehens.

3. Theologie ist eine Gabe des Heiligen Geistes zu erlöster Denkarbeit innerhalb des Leibes Christi

Der Begriff »Theologie« kommt bekanntlich im N. T. nicht vor. Die Aufgabe aber, um die es in der Theologie geht, hat ihren Ort in der Aufzählung der Geistesgaben in 1. Korinther 12. Unter den Zuteilungen der Geistesgaben nennt Paulus dort (Vers 8) die beiden, »zu reden von der Weisheit« und »zu reden von der Erkenntnis«. Diese stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit anderen Gnadengaben, der Krankenheilung, der Geisterunterscheidung, der Prophetie usw., und nicht zuletzt im Zusammenhang mit Kapitel 13, wo alle Erkenntnis der Liebe untergeordnet wird. Damit wird, wenn man einmal so sagen soll, in Vers 8 Seelsorge und Theologie zusammengeordnet. Damit werden beide in den großen Zusammenhang der Funktion des Leibes Christi gestellt.

Somit wird vollends deutlich, dass Theologie so gut wie Prophetie oder Geisterunterscheidung charismatisch bedingt ist, also nicht ohne weiteres menschlich-intellektueller Tätigkeit zugängig und verfügbar ist. Ich habe die Zuversicht, daß gerade die historisch-kritische Forschung, wenn sie kritisch genug ist, diesen für Sinn und Möglichkeit theologischer Arbeit grundlegenden Sachverhalt nicht wird übersehen können. Er steht im N. T. nicht vereinzelt da. Er findet sich 1. Korinther 2 sowohl wie Matthäus 16,17 oder Epheser 1, 17 ff.

Nach Epheser 3, 18 soll die Erkenntnis der Liebe des Christus nach ihrer Länge, Breite, Höhe und Tiefe »mit allen Heiligen« zustande kommen. Damit ist nicht nur gemeint, daß solche Erkenntnis allen Heiligen zugeleitet werden soll; sondern daß sie nur »mit allen Heiligen«, also in der gegenseitigen Funktion des Leibes Christi als ein denkendes, vernehmendes Verarbeiten dessen, was Gott der Kirche gegeben hat, möglich wird.

Nur vom Leibe Christi her, aufgrund der Gesamtheit der dem Leibe Christi gegebenen Gnadengaben, ist die Aufgabe theologischer Lehrbildung lösbar. Und auch seelsorgerliche Vollmacht gibt es nicht »absolut«, losgelöst von der Gliedschaft am Leibe Christi, sondern nur innerhalb der Gemeinde.

4. Biblische Seelsorge ist nicht anders als theologisch zu begründen.

Wie biblische Theologie seelsorgerlich bestimmt ist, so hat Seelsorge in der Bibel ihren Ort im Gesamtgefüge der gesunden Lehre. Der Begriff »Seelsorge« kommt in der Bibel nicht vor. Das platonisch-idealistische Mißverständnis, als ginge es in der Seelsorge um einen Teilbezirk des Menschen, seine Seele (wobei Leib und Geist ausgeklammert bleiben könnten), liegt außerhalb des biblischen Horizontes. Nicht eine partielle Handlung ist es, die man als Seelsorge bezeichnen könnte. Vielmehr ist das Gesamtzeugnis der Bibel, insbesondere das Neue Testament, ein Dokument seelsorgerlichen Dienstes.

Dies wird in viele einzelne Wurzeln und Fasern hinein veranschaulicht, wenn man der Auffassung Schlatters zustimmt, daß bei dem wiederholten, oft in Zusammenhang mit »verkündigen« gebrauchten Begriff »lehren« die »seelsorgerliche Unterweisung der Gemeinde und des einzelnen« gemeint ist. Diese Erkenntnis ist von großer Tragweite. Lehre im Neuen Testament ist Seelsorge!

Damit stehen wir abermals an einer Stelle, an der der Einbruch griechisch-philosophischen Denkens folgenschwere Fehlentwicklungen heraufbeschworen hat. Der Grieche versteht unter Lehren das Vermitteln eines Stoffes. Wissensvermittlung fordert auf der einen Seite die systematische Aufgliederung des Lehrstoffes in Paragraphen o. ä. Deren Summe ist dann die Lehre als möglichst geschlossenes System. Die andere Seite solcher Auffassung vom Lehren ist dann folgerichtig das Für-wahr-Halten des gelehrten Stoffes.

Im Bereich profaner Wissenschaft ist uns dieses griechische Verständnis der »Lehre« als Vermittlung abstrakter Kenntnisse selbstverständlich. So lernen wir die Lehrsätze der Mathematik oder die Satzlehre einer Sprache. Aber so kann man die Geheimnisse Gottes nicht lernen. Philosophie ist lehrbar. Religion kann man auch lehren und lernen. Die Geheimnisse des Reiches Gottes und des Glaubens zu vermitteln, dazu bedarf es der Haushalterschaft über Gottes Geheimnisse (1. Kor. 4,1).

Biblisches Lehren ist nie nur abstrakte Wissensvermittlung, sondern Anleitung zum Gehorsam des Glaubens. Jesus selbst lehrte seine Jünger, aber sein Lehren ist von bloßer Wissensvermittlung grundverschieden. Im Gegensatz zu der veräußerlichten Kasuistik der Schriftgelehrten ist Jesu seelsorgerliches Lehren ausgerichtet auf Gottes Heilsplan, auf Gottes Handeln, wie es die Schrift bezeugt. »Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren!« Die Vollmacht, mit der Jesus lehrte, hat ihr Geheimnis in der Gegenwart Gottes. Auch religiöse Kasuistik, auch philosophische Theorie kann sich Gottes bedienen. Was aber hier nur der Begriff ist, ist in Jesu Lehre Gottes Name. »Habt ihr nicht gelesen, was euch gesagt ist: >Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs<? Gott aber ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Darum irret ihr sehr.« Nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten.

Lehren heißt Seelsorge üben in der Gegenwart Gottes, unter der vorgegebenen Wirklichkeit der Heilstaten Gottes, der erfüllten Zeit, in Gleichzeitigkeit. Denn Sein Name ist nirgends als in seinen Heilstaten zu finden. >Ich werde bei euch sein, wie ich bei euch sein werde< — das ist sein Name.

Von dieser Erkenntnis biblischer Lehre als Seelsorge her erklärt sich vieles, was sonst problematisch bleiben müßte. Daß die Apostel kein geordnetes Lehrsystem hinterlassen haben, ist für logisches Denken gewiß ein Mangel. Statt dessen schrieben die Apostel Briefe. Im Brief wird die Aussage ganz anders als in einer abstrakten Lehrschrift vom persönlichen Gegenüber des Briefempfängers bestimmt. Auch die Evangelien sind eigentlich »Briefe«! Und es ist bezeichnend, daß die »dogmatischen« Aussagen etwa des Paulus überall in seinen Briefen, oft sogar mitten in den sogenannten paränetischen Abschnitten verstreut sind. Wieviel einfacher wäre es für den systematischen Theologen, wenn er die Lehre des Paulus, etwa seine Eschatologie, schön geordnet und übersichtlich in einem eigenen Lehrstück fände. Für biblisches Denken wäre dies jedoch weltfremd und lebensfern.

Entsprechend biblischem, personbezogenem Denken sagt Paulus von der Mitte, der Offenbarung Gottes im Angesichte Jesu Christi her je und je, was zu sagen nötig ist. Zu den Korinthern gehen ganz andere Aussagen als zu den Thessalonichern, zu den Römern andere als zu Timotheus. Sind deshalb seine Aussagen weniger »wahr«, weil sie hier und da eben nicht widerspruchslos harmonisierbar sind? Nur ein abstraktes Wahrheitsdenken kann das behaupten. Und mit einem solchen, dem griechisch-philosophischen Erbe, das bis zur Gegenwart so dominierend geworden ist, verfehlt man die Wirklichkeit, welche die Bibel meint.

Lehre nach biblischem Verständnis gehört untrennbar zusammen mit dem Leben. Wird Lehre als Seelsorge verstanden, was sollte dann ein echter Pietismus gegen die Lehre einzuwenden haben? Daß auch der Pietismus gegenüber der Gefahr lehrbegrifflicher, »orthodoxer« Erstarrung aus griechischem Denken nicht immun war und ist, ist uns deutlich genug bewußt. Griechisches, philosophisches, letztlich eigenmächtiges Denken macht vor keiner Position halt. Sein Wesen ist die Trennung des rein Gedanklichen vom Leben, des Denkaktes vom Lebensakt. Dann aber wird auch richtiges Denken falsch, unwirklich, abstrakt.

Andererseits wird bloße »Lebenshilfe«, wenn sie gelöst wird von der theologischen Mitte und Begründung, notwendig kraftlos, salzlos, blutleer. Darum sind in den Apostelbriefen häufig gerade die seelsorgerlichen Ermahnungen durchsetzt von theologischen Kernworten. Mitten in den Erwägungen um das rechte Verhalten zu den Fest- und Speisegebräuchen bezeugt Paulus die Herrschaft des gekreuzigten und auferstandenen Herrn über Lebende und Tote (Röm. 14, 9). Die Ordnung des Sammel- und Kollektenwesens – für uns vielleicht oft eine leidige, mehr äußerliche Frage – wird durchleuchtet von der Bezeugung des aus himmlischer Herrlichkeit arm gewordenen Heilands (2. Kor. 8, 9). Die Frage der Geschlechtlichkeit wird unter die erlösende Botschaft des bezahlten Lösegeldes gestellt (1. Kor. 6, 20). Ähnlich die soziale Frage (1. Kor. 7, 23 und 1. Petr. 2, 21 f.). Gemeindestreitigkeiten stehen im Licht der Selbstentäußerung des ewigen Gottessohnes (Phil. 2), Zungensünden im Licht der Wiederkunft (Eph. 4,30), das Leid um Verstorbene wird überstrahlt von der Zukunft des Herrn (1. Thess. 4,13 ). Überall ist die theologische Aussage Mitte und Lebenskraft seelsorgerlichen Handelns.

In diesem Zusammenhang bedarf es nun noch eines klärenden Wortes im Blick auf die heutige durch den Einbruch des Existentialismus in die Theologie verursachte Lage und ihre Folgen für die Seelsorge. Das Unternehmen der existentialen Interpretation hat seinen Ursprung nicht zuletzt darin, daß die erstarrten Lehrbegriffe beanstandet werden. Ebenso soll das damit verbundene Verständnis des Glaubens als bloßen Für-wahr-Haltens überwunden werden. Man wird gut tun, diese Zielsetzung nicht vorschnell abzutun, jedenfalls ihr nicht apologetisch zu begegnen, um so die Lehre in ihrer Vollständigkeit zu sichern. In diesem ihrem antidogmatischen Ansatzpunkt liegt die nicht zu bestreitende Stoßkraft der existentialen Interpretation begründet. Auch daß im Existentialismus das herkömmliche Subjekt-Objekt-Schema philosophischen Denkens in Frage gestellt wird, ist ohne Zweifel innerhalb der Philosophie ein beachtlicher Fortschritt. Wir haben keine Veranlassung, dieses zu bestreiten. Alle lehrbegrifflich erstarrte Orthodoxie, auch pietistische Orthodoxie, muß die darin unüberhörbar gestellte Frage erkennen.

Wie geschieht aber nun dieser Versuch, dogmatisch-theologische Begriffe auf »existentialem« Wege aus ihrer Erstarrung zu wecken? Der Dornröschenkuß, der dieses Wunder zustande bringen soll, ist die Frage nach dem Selbstverständnis. Dieses müsse, so fordert die existentiale Interpretation, als die eigentliche Triebkraft hinter der dogmatischen Begrifflichkeit entdeckt und von ihm aus die heute entsprechende Aussage neu geprägt werden.

Nun wäre wahrlich auch gegen eine Neuprägung allzu abgegriffener dogmatischer Münzen nichts einzuwenden. Die Frage ist nur, welches der Maßstab für dieses doch fraglos tief einschneidende Geschehen sein soll. Der Maßstab wurde schon genannt: das Selbstverständnis. Dies ist aber nach wie vor ein philosophischer Schlüssel. Er entstammt bekanntlich der Philosophie Heideggers.

Daß innerhalb der modernen Philosophie eine Wendung stattgefunden hat von den traditionellen ontologischen zu existentialen Kategorien, von der Metaphysik zur Existenzerhellung des Menschen, hat jene begriffliche Ähnlichkeit zum biblischen Denken mit sich gebracht, die so schwer zu durchschauen ist. So kann die existentiale Theologie behaupten, das Neue Testament habe bereits in sich selbst die Tendenz zur existentialen Interpretation, etwa im Johannesevangelium. Aber was da an existentialer Struktur entdeckt wurde, ist doch wohl nichts anderes als biblische Denkweise in griechischem Gewand. Die Verwandtschaft beruht darauf, daß nun auch philosophischerseits Wahrheit nicht »objektiv«, sondern nur »in geschichtlicher Begegnung« für erkennbar gehalten wird.

Der fundamentale Unterschied bleibt des ungeachtet der von Philosophie und Theologie. Indem die existentiale Interpretation das Selbst-Verständnis zum Maßstab der Interpretation macht, d. h. einen philosophischen Begriff, der bei aller Abwandlung letztlich doch aus griechischem Geist gezeugt ist, erweist sie sich als Philosophie, d. h. als Erzeugnis des Menschengeistes, dem das Geheimnis des lebendigen Gottes verschlossen bleibt.

Der Preis, der für das »Passen« des neuen Schlüssels zur biblischen Schatzkammer gezahlt werden muß, ist der Verlust der Heilstatsachen. Hier betont die existentiale Interpretation mit Leidenschaft, diese seien für biblischen Glauben nicht grundlegend. Um dieses behaupten zu können, muß man nicht weniger als die Heilsgeschichte in Vergangenheit und Zukunft weginterpretieren. Darum die Opposition gegen die von Lukas angeblich vorgenommene Historisierung. Darum das kategorische Streichen der futurischen Eschatologie. Darum auch die Entmythologisierung der in der biblischen Heilsgeschichte von 1. Mose 3 bis Offenbarung 22 grundlegenden Sühnopfertheologie.

Man wird dem biblischen Begriff des Sühnopfers eine ausschlaggebende Stellung im Ganzen der Bibel schlecht bestreiten können. Ich habe seinerzeit, als ich noch der existentialen Interpretation zustimmte, in einer gründlichen Arbeit die Entmythologisierung der neutestamentlichen Aussagen vom sühnenden und stellvertretenden Opfer Jesu Christi unternommen. Dabei wurde deutlich, daß es so gut wie keine Schrift des N. T. gibt, die diese Sühnopfer- und Stellvertretungstheologie nicht mehr oder weniger entfaltet enthält. Oft finden sich ihre Spuren mitten in seelsorgerlichen Ermahnungen. Entsprechend dem existentialen Schlüssel sah das Ergebnis meiner Arbeit so aus:

– Das neue Selbstverständnis des Glaubenden äußert sich in der Deutung des Kreuzes als Sühnopfer bzw. als Stellvertretung, nicht aber ist etwa umgekehrt die sühnende Stellvertretung Jesu Christi Quelle des neuen Selbstverständnisses. Das bedeutet in der Folge: Das »für uns« des N. T. ist Begrifflichkeit, nicht mehr als das, gewählt als Gefäß der Botschaft von denen, die glauben, nicht aber Tatsache, die den Glauben erst ermöglicht. –

Diese kurze Angabe meines damaligen »Ergebnisses«, welches mir mit sehr guter Beurteilung bestätigt wurde, mag genügen, um zu zeigen, mit welchem Preis existentiale Theologie ihren Versuch, erstarrte Satzwahrheiten neu lebendig zu machen, bezahlen muß. Es ist der Verlust des Fundamentes für den Glauben. Es ist der Verlust der seelsorgerlichen Vollmacht, aus der heraus allein ein erschrockenes Gewissen getröstet werden kann.

Es wird damit letzten Endes gerade das verfehlt, was das Unternehmen von Anfang her bestimmte: dem modernen Menschen einen neuen Zugang zu verschaffen zum Leben aus Glauben. Denn wenn dieser Mensch nun wirklich aufgrund der neuen Begriffe von der Verkündigung »erreicht« wird (wofür m. E. der Beweis auch noch aussteht!) — wer wir ihn dann erlösen aus seinen Gebundenheiten unter Mammon, Sexus, Kollektiv, Süchten, Magie und anderen Mächten?

Wenn die Heilsgeschichte Gottes mit dem für uns erwürgten Lamm als Mitte und Ziel nur eine zeitgebundene Begrifflichkeit für die Entfaltung des neuen Selbstverständnisses war, gibt es für ihn keine Hilfe. Begriffe können kein Fundament abgeben, sondern nur Realitäten. Der Verlust seelsorgerlicher Vollmacht, insbesondere der Lösegewalt bei Gebundenheiten, ist das bittere Resultat einer Erneuerung der Theologie aus philosophischen Quellen. Philosophische Weisheit hat noch nie Vollmacht gehabt, Dämonen auszutreiben. Es ist auch nicht verwunderlich, daß solche Vollmachtslosigkeit von den Vertretern dieser Theologie nicht gesehen bzw. nicht anerkannt wird. Der Mensch wird hier ja nicht in seiner Verknechtung unter die Mächte gesehen, sondern so, als seien seine Verstandesnöte angesichts altertümlicher Vorstellungen seine Hauptschwierigkeit.

Die Wirklichkeit des Menschen wird ohne Blick für die ihn bindenden Mächte und Gewalten gesehen, das aber heißt letztlich unwirklich. Unsaubere Geister, Bindung unter Sucht und Gier, okkulte Mächte sind alles andere als mythologische, überholte Vorstellungen. Jeder Seelsorger, der der hier vorliegenden Realität begegnet, wird wissen, daß es gar nicht so einfach ist, ein erschrockenes Gewissen zu trösten, es sei denn durch die blutig reale Wirklichkeit des stellvertretenden Sühnesterbens des Gotteslammes. Verlorene, unter ihre Geschlechtlichkeit, an den Alkohol gebundene, in Zaubereisünden verstrickte Menschen sind durch bloße Begriffe, auch durch modernisierte Begriffe, nicht zu lösen. Die Realität des Starken weicht nur vor der Realität des Stärkeren. Darum steht vollmächtige Seelsorge in notwendigem Zusammenhang zu einer Theologie der Tatsachen. Und der Verlust der Heilstatsachen bedeutet zwangsläufig Verlust seelsorgerlicher Vollmacht. …

Die »großen Taten Gottes« sind uns in der Bibel nicht als dogmatisches System bezeugt. Es geht bei ihnen nicht um Quantität, um eine abgeschlossene Summe, um Vollständigkeit. Der hebräische Zahlbegriff ist nicht durch Addition erklärbar, sondern qualitativ bestimmt. Der Begriff »alle« ist bei uns Plural und quantitativ. Im Hebräischen bedeutet »Kol« Ganzheit — Fülle. Im Blick auf die Fülle der Heilstatsachen bleibt unser Erkennen Stückwerk. »So sie aber sollten eins nach dem anderen geschrieben werden, so könnte wohl die ganze Welt die Bücher nicht fassen, die dann geschrieben werden müßten« (Joh. 21,25). Es geht um eine entschlossene Zuwendung zum biblischen Denken, um eine Hermeneutik, die nicht dem griechisch-philosophischen Denken entstammt, sondern die ihre Methode und ihre Anwendung der Schrift selbst entlehnt. Biblische Hermeneutik denkt von der glühenden Mitte aus: dem Dornbusch, der Wolkensäule, der Stimme aus dem Feuer, dem Heiligtum, der Erscheinung, dem — Angesicht. Siehe, hier ist euer Gott. Es wäre verlockend, mit Beispielen aufzuzeigen wie der >Leerlauf der Predigt<, über den man auch bei uns ernstlich klagt, aufgefangen und geheilt werden kann, sobald die Bibel bis ins Detail biblisch, d. h. nicht rezitierend und nicht aktualisierend, sondern in ihrem eigenen Raum, innerhalb ihres eigenen hermeneutischen Horizontes zu verstehen suchen — wenn wir sie israelitisch, d. h. nach ihrer eigenen Geltung, zu hören und zu dolmetschen unternehmen.

Das aber bedeutet Neuerfassung der Bedeutung des Alten Testamentes und seiner Sprache für biblische Theologie und Seelsorge. Es mag für Martin Luthers innere Entwicklung von nicht geringer Bedeutung gewesen sein, daß seine exegetische Arbeit gerade bei einem alttestamentlichen Buch begann. Wenn man sein Ringen auf den letzten Begriff gebracht hat: Befreiung der Theologie von der Philosophie, weil Theologie aufhört, Theologie zu sein, sobald sie in die philosophische Umklammerung geraten ist, dann kann die Bedeutung des Alten Testamentes schwer überschätzt werden.

Wie mancherlei sprachliche Eigentümlichkeiten des Hebräischen für das rechte Verständnis der biblischen Offenbarung hilfreich sein können, haben wir im Laufe unserer Untersuchung an manchen Stellen gesehen. Natürlich wird damit nicht eine besondere Eignung des Hebräischen behauptet, die Offenbarung Gottes fassen zu können, sondern umgekehrt wird kund, daß die Offenbarung Gottes in Israel sich der Sprache dieses Volkes in besonderer Weise eingeprägt hat. Damit wird ein Stücklein der unbegreiflichen Erwählung Gottes offenbar. Auch braucht der des Hebräischen nicht Kundige nicht traurig zu sein. Die biblische Gedankenwelt wird ihm auch in guten Übersetzungen so reichlich begegnen, daß ihm der eigene »hermeneutische Horizont« der Bibel zu Gesicht kommen kann. Dem Theologen wird überdies in Kittels »Theologischem Wörterbuch« ein unvergleichliches Mittel in die Hand gegeben, das seine besondere Bedeutung gerade darin erweisen kann, daß es das griechische Vokabular des N. T. durch Hinzufügung der hebräischen Äquivalente in den ureigenen Raum der Bibel stellt.

Abschließend sei bemerkt, daß die Aufgabe, die Theologie aus philosophischer Umklammerung zu lösen, einem Kampf gleichkommt, den wir nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben. Auch das war zur Zeit Luthers nicht anders. Dies hängt letztlich damit zusammen, daß das griechisch-philosophische Denken wurzelhaft religiöser Natur ist. In unserer Welt stellt der Glaube an die Wissenschaft »die beherrschende Religion unseres Zeitalters dar« (C. F. v. Weizsäcker). Wir werden diesen Kampf nicht führen können als Wissende, sondern nur als Glaubende. Das schließt in sich die Erkenntnis, daß nicht wir, sondern nur Er selbst, Jesus, recht behalten wird.

 

D. GLAUBE AN JESUS ODER GLAUBE JESU? (Ein Vergleich zwischen Judentum und moderner Theologie)

Der jüdische Gelehrte Schalom Ben-Chorin hat in seinem Rundfunkvortrag »Jüdische Fragen um Jesus Christus« gesagt:  »… der Glaube Jesu, der aus diesem wunderbaren Gebet, dem Vaterunser, spricht, das so manche jüdische Parallele hat, einigt uns – aber der Glaube an Jesus trennt uns.« Es wirft ein beachtliches Licht auf die mitten durch die Gefilde auch der christlichen Theologie gehende Kluft, was hier der Jude in seiner Begegnung mit der christlichen Botschaft ausspricht. Einige Sätze seien als Beispiel zitiert:

»Den fleischgewordenen Logos haben wir nicht erwartet, und er wurde uns nicht verheißen. … Wir kennen keinen Sohn Gottes und erwarten ihn nicht für die Zukunft, sondern wir wissen allzumal, daß wir alle >Kinder des lebendigen Gottes< sind und daß Er unser aller Vater und unser König ist … Jungfrauengeburt und Gottessohnschaft in einem einmaligen exklusiven Sinn sind für das hebräische Denken, das von der Bibel Alten Testamentes herkommt, etwas ganz Unvollziehbares. Der Gott des Judentums ist nicht nur transzendental, sondern auch extramundan: er steht außerhalb und über seiner Welt und spricht nur in gestaltloser Offenbarung – in Feuer und Sturm, aus dem Dornbusch und in der Stille des Elia – zum erwählten Menschen. Aber er wird nicht Mensch, und wir können nicht begreifen, warum er Mensch werden sollte.«

»Der Kirchenvater Irenäus hat den Christen eine schöne Antwort auf diese Frage gegeben: >Gott ist in Jesus Christus geworden, was wir sind, damit er uns vollkommen zu dem mache, was er ist.< Aber lange vor Irenäus und lange vor Jesus wurde uns in der Thora gesagt: >Ihr sollt heilig sein, denn heilig bin Ich, der Herr, euer Gott.< Die Imitatio Dei war und ist Israel aufgetragen. Sie war uns lange schon aufgegeben, ehe es den Begriff der Imitatio Christi gab.«  »Wir bedürfen nicht eines Gott-Menschen, der als Mittler zwischen uns und unserem Vater im Himmel stünde, denn Gott nimmt den reuigen Sünder an – ohne jede Vermittlung.« »Niemals kann ein anderer, nicht Moses und nicht Jesus oder ein Künftiger, das Gesetz für mich erfüllen. Ich selbst muß es tun. Da tritt kein anderer für mich ein – ich selbst muß es in der Bewährungsprobe dieses Lebens erfüllen.«

Man wird die Stellung des Juden, wie sie sich in solchen Sätzen ausdrückt, im Blick behalten müssen bei der Betrachtung der für die Theologie von heute wichtigen Frage: »Glaube an Jesus oder Glauben wie Jesus?« Nahezu alle dem modernen Denken in der Theologie zweifelhaften Aussagen werden hier auch von jüdischer Seite abgewiesen. Keine Gottessohnschaft im eigentlichen Sinn, – als »Titel« ist der Begriff  »Sohn Gottes« natürlich auch dem Juden bekannt und verständlich. Der Titel ist ihm kein Ärgernis, sondern die Wirklichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater. Darum: Keine Inkarnation, jedenfalls nicht im eigentlichen, von jeher der christlichen Botschaft eigentümlichen Sinn der göttlichen Menschwerdung »… et homofactus est«, sondern – so sagt der Jude – »Gott spricht nur in gestaltloser Offenbarung. Also: Sprachgeschehen, Wortgeschehen, und in diesem Sinne Inkarnation. So kann es auch der Jude begreifen. Es ist ihm in diesem Sinne kein Ärgernis mehr. Wenn aber keine Menschwerdung, dann auch keine Stellvertretung und Sühnung, kein Eintreten eines Mittlers für den sündigen Menschen, vielmehr Imitatio Dei im Sinne der aufgetragenen und nicht ablösbaren Gesetzeserfüllung – »ich selbst muß es tun«!

In den Worten des Juden unserer Tage begegnet uns der Widerspruch des Juden von damals, dem das Wort vom Kreuz, an dem der ewige Gottessohn unsere Sünde an seinem Leibe richten ließ, zum Ärgernis wurde. Der Anstoß des Juden von heute, in welchem sich die Tragödie der Decke vor den Herzen der Juden damals (2. Kor. 3,15) fortsetzt, zeigt deutlich genug, worin das Ärgernis besteht, dessen glaubender Überwindung Jesu Seligpreisung gilt: »Selig, wer sich nicht an mir ärgert« (Matth. 11, 6).

Das Ärgernis – und wir können ergänzen: die Torheit für die Griechen! – liegt darin, daß der lebendige Gott in dem Kind in der Krippe und dem Mann am Kreuz stellvertretend und sühnend den Gerichtszorn über unsere Schuld auf sich selbst nahm und also bezahlte, was wir nicht! bezahlen konnten. Diesen Jesus hat Gott auferweckt, damit gleichsam das Siegel auf das vollbrachte Erlösungswerk setzend. Dieser Jesus Christus ist nun des Gesetzes Ende. Der Glaube an ihn macht gerecht, nicht aber eine Nachahmung seines Glaubens.

Wir ließen Schalom Ben-Chorin als Vertreter des heutigen Judentums zu Wort kommen. Es kann nicht verwundern, daß er Jesus von Nazareth nicht als den sehen kann, als den ihn der christliche Glaube bekennt. Fleisch und Blut können nicht erfassen, wer Jesus ist. Dies kann man nur mit jener schmerzenden Traurigkeit des Herzens feststellen, die Paulus über seine Brüder aus Israel empfand, welche den nicht erkannten, in dem Gottes Heilsgeschichte ihr Ziel findet (Röm. 9,1 ff.).

Von bedrängender Aktualität wird aber dieser Schmerz für uns heute, wenn wir in der Entwicklung der christlichen Theologie der letzten Jahrhunderte den gleichen Widerspruch gegen das Ärgernis des Kreuzes am Werke sehen, der den Juden von damals und von heute bestimmt. Auf die frappierenden Parallelen bestimmter theologischer Entwicklungen zur jüdischen Stellung zum Evangelium hinzuweisen, ist die Aufgabe dieses Aufsatzes.

Die gleichen Fragen wie die des Juden säumen die Geschichte der theologischen Wissenschaft seit Lessing und Reimarus. Ein tiefes Mißtrauen gegen die Gottessohnschaft Jesu als Wirklichkeit, d. h. also gegen die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus greift um sich. Fleisch und Blut können sie nicht fassen. Menschliche Vernunft wird aber zum Maßstab der Wirklichkeit auch des Glaubens erhoben. Die Leben-Jesu-Forschung versucht unter diesem Maßstab herauszubekommen, wer Jesus wirklich war. Konnte dabei etwas anderes herauskommen als bestenfalls das, was auch der Jude sieht und anerkennt: Jesus als der große Bruder, der einzigartige Mensch, der beispielhaft Glaubende? Was die christliche Botschaft darüber hinaus durch die Jahrhunderte gesagt hat, war es nicht »nur« Dogmatik? War nicht die Hellenisierung des Christentums schuld an der Überwucherung der einfachen Lehre Jesu mit dogmatischen Zumutungen, die Jesus selbst ganz ferngelegen hatten? Hat nicht Paulus bereits diese Dogmatisierung des einfachen Evangeliums begonnen? So kam es in der Entfaltung der sogenannten liberalen Theologie zu dem berühmten Satz Harnacks: »Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium.«

War überdies, wie die religionsgeschichtliche Forschung feststellte, der Begriff »Sohn Gottes« nicht ein hellenistischer Titel? Als Titel brauchte er ja nicht eine Wirklichkeit auszusprechen, vielmehr besagt die Deklarierung als Titel, daß es sich nur um eine begriffliche Ausprägung nachträglicher Bewertung handele, auf die man ebenso gut verzichten, die man vielleicht besser durch modernere, unanstößigere Begriffe ersetzen könne.

Daß Gott in der Fülle der Zeit seinen Sohn gesandt habe, daß dieser als Jude geboren und Jesus genannt wurde, daß dieser Jesus, versucht wie wir, doch ohne Sünde, als das unbefleckte, wahre Lamm Gottes am Kreuz geschlachtet und aus dem Grabe erweckt wurde, daß er als der Richter wiederkommen wird, – diese Geschichte der Großtaten Gottes wird zum »Exempelbuch der Moral, die Moral zum Formelbuch der Geschichte« (Schleiermacher). Die allgemeinen Wahrheiten werden als das Wesentliche den zufälligen Geschichtstatsachen entnommen. Gott ist aller Menschen Vater. Er vergibt dem reuigen Sünder, ohne weiteres, ohne Vermittlung oder »Sühne«. Wir sind alle »Kinder Gottes«, beauftragt, die göttlichen Gesetze zu erfüllen. Stellvertretung ist dabei unmöglich und unsittlich. »Schuld kann nicht von einem anderen getilgt werden. Sie ist keine transmissible Verbindlichkeit« — so sagt Kant, den man als den Philosophen des Protestantismus bezeichnet hat. Müßte man ihn nicht zutreffender den Philosophen des Judentums nennen? Die von Kant bestimmte deutsche Pflichtethik ist tief verwandt der Gesetzesreligion des Judentums.

Noch umfassender muß es gesagt werden: Die liberale Theologie steht in unübersehbarer Nähe zum Judentum, gerade wo es sich gegen die christologische Mitte der Botschaft der Kirche wendet.

Seltsame Übereinstimmung mit der Stellung des Juden zur Botschaft der christlichen Lehre zeigt sich auch in der für die Theologie des 20. Jahrhunderts kennzeichnenden Betonung des Kerygmas. Gott spricht! Im Wort offenbart Er sich. Das ist gut biblisch, darum auch ein so neuer Klang nach der Epoche der allgemeinen Vernunftwahrheiten. Dominus dixit – das kann aber ebenso auch der Jude sagen. Worin liegt dann das für christlichen Glauben Spezifische in Gottes Reden? Hebräer 1 gibt darauf die eindeutige Antwort: »Nachdem Gott vorzeiten manchmal und auf mancherleiweise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn… « Demgegenüber erinnern wir uns daran, was Schalom Ben-Chorin sagt: »Gott spricht nur in gestaltloser Offenbarung… aber er wird nicht Mensch!«

Betrachten wir nun aber, in welcher Richtung die sogenannte kerygmatische Theologie in ihren Aussagen geht: Bultmann betont unermüdlich den Ereignischarakter der Verkündigung. Statt der geschehenen Offenbarung muß es nach Bultmann heißen: geschehende Offenbarung. Gott offenbart sich im Menschenwort. Dieses Geschehen ist immer nur jetzt. Es ist kein Ereignis, das je Vergangenheit werden könnte. Würde das nicht auch der Jude bejahen und annehmen können? Das Ärgernis der geschehenen Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus von Nazareth hat sich auf merkwürdige Weise verschoben. Es ist (bei Bultmann) nicht mehr das Ärgernis an Jesus, der der Christus ist, an seiner Person, an seiner einzigartigen Sohnschaft, die er als sühnendes Opfer auf den Altar legte, als er am Kreuz starb. Es ist jetzt das Ärgernis in der unaufweisbaren Anrede der Verkündigung, hinter die zurückzufragen bereits Unglauben, negative Entscheidung bedeute. Dies erst sei das echte Ärgernis, vor dem sich der Mensch entscheiden müsse. Solche Entscheidung bedeute, das Kreuz Christi als das eigene übernehmen, mit ihm gekreuzigt werden. Erst in solcher Entscheidung könne es als das Kreuz Christi verstanden werden. »Nicht weil es das Kreuz Christi ist, ist es das Heilsereignis, sondern weil es das Heilsereignis ist, ist es das Kreuz Christi.«

Die Einmaligkeit, die Exklusivität der Offenbarung Gottes in seinem Sohn, wie sie dem Juden als das eigentliche Ärgernis christlicher Predigt begegnet, ist hier in einer Weise modifiziert worden, die es dem Juden sehr viel leichter machen dürfte, seine Fragen um Jesus Christus in den Fragen der christlichen Theologie wiederzuerkennen. Was sollte das Wortgeschehen oder Sprachgeschehen für den Juden schließlich noch Anstößiges enthalten? Zumal wenn das bei Bultmann so bezeichnende »Mitgekreuzigtwerden« keinerlei Bezug auf ein bereits vollbrachtes sühnendes und stellvertretendes Opfer mehr enthält, sondern praktisch auf eine Imitatio hinausläuft. Die kennt auch der Jude! Und er weist darauf hin, daß er solche Imitatio länger kenne und – wer will da widersprechen? – ernster nehme als die christliche Kirche weithin.

So besteht auch kein Grund mehr, wieso sich der Jude an Aussagen der existentialen Theologie des letzten Jahrzehntes »ärgern« sollte. »An Jesus glauben heißt der Sache nach, Jesu Entscheidung wiederholen.« Jesus ist Zeuge des Glaubens durch sein Gottesverhältnis. Was Glaube sei, das könne man bei Jesus lernen. Was bei Jesus selbst Glaube war, habe sich nach Ostern durchgehalten in der Verkündigung der Kirche (Ebeling). Das alles kann auch der Jude annehmen, ohne deshalb zum Christen zu werden. »Der Glaube Jesu einigt uns«, sagte Schalom Ben-Chorin. Gibt es in dieser modernen Theologie aber noch »Glaube an Jesus« in einem vom »Glauben Jesu« als nachzuahmendem Beispiel unterschiedenen Sinne? Erst dann kann dem Juden gegenüber mit Recht von christlicher Theologie gesprochen werden. Erst dann wird christliche Theologie die missionarische Dimension erfüllen können, zu der sie dem Auftrag ihres Herrn entsprechend beauftragt ist, an Israel sowohl als an der Völkerwelt und den Weltreligionen, »zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.« Die Frage der missionarischen Kraft der christlichen Botschaft Israel gegenüber ist ein wesentlicher Prüfstein ihrer Vollmacht oder Vollmachtslosigkeit. Die Theologie wird gut tun, an ihrer Gesprächssituation mit Israel abzulesen, ob und inwieweit sie der christlichen Verkündigung das rechte Rüstzeug für ihre missionarische Aufgabe darreicht. Natürlich zeigt sich das nicht nur daran, ob diese Verkündigung angenommen wird. Es kann sich ebenso darin erweisen, daß sie abgelehnt wird, weil sie »ärgerlich« ist Das N. T. ist dafür selber Beispiel genug. Es bezeugt von dem größten Apostel Jesu nicht, daß er das Evangelium verfälscht oder hellenisiert habe, sondern daß er »immer kräftiger wurde und die Juden in die Enge trieb, und es bewährte, daß dieser ist der Christus« (Apg, 9,22).

Was bedeuten aber nun die aufgezeigten Parallelen jüdischer Fragen um Jesus Christus zu den genannten Entwicklungen in der modernen Theologie? Treffen diese Parallelen den Sachverhalt, dann ist dies zugleich klärend und hilfreich. Klärend für unsere heutige Situation ist das von Paulus im Blick auf Israel gesagte Wort von der Decke vor dem Angesicht bzw. dem Herzen (2. Kor. 3). Nicht nur für Israel gilt es, sondern gleichermaßen auch für den Theologen, der sich mit den Urkunden der Offenbarung Alten und Neuen Testamentes beschäftigt, daß ohne das Wunder der erleuchteten Augen für die Offenbarung Gottes in Jesus Christus der Mensch, auch der Schriftgelehrte oder Theologe, nichts versteht und verstehen kann. »Wenn es sich aber bekehrte zu dem Herrn, so würde die Decke abgetan« (2. Kor. 3, 16). Dieses Wunder kann nicht vom Menschen gemacht oder gewirkt werden. Es ist aber für rechte theologische Erkenntnis schlechterdings unerläßlich. Und es kann erbeten werden, in der Bitte um den Heiligen Geist, der die Erfüllung verheißen ist.

Hilfreich kann die Parallele unerleuchteter Theologie zum Judentum darin sein, wenn sie uns zeigt, wie Paulus um dies sein Israel gerungen hat. Er hat ihnen nicht in pedantischer Engherzigkeit die Bruderschaft gekündigt. Er hat ihnen, seinen Brüdern aus Israel, nicht den Glauben abgesprochen. In der Tat besteht ja ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Juden und einem ungläubigen Heiden. Man kann diesen Unterschied Röm. 9.1 ff. nachlesen. Trotzdem hat Paulus aber auch die andere Grenze, die zwischen ihm, dem durch Gottes Gnade gläubig gewordenen Juden und seinen Brüdern nach dem Fleisch, nicht verwischt. Sein ganzes Leben war ein inbrünstiges Ringen um seine »Brüder«, daß sie wirklich »Brüder in Christo« würden. Damit ist für die heutige Situation gegenüber Israel und gegenüber der der jüdischen Fragestellung so verwandten Einstellung der modernen Theologie ganz wesentlich der Weg gezeigt.

 

Bis hier der von mir vorgenommene Auszug aus dem Buch UM DIE WAHRHEIT DER HEILIGEN SCHRIFT. Teil E, Ein Briefwechsel mit Theologen, wurde wegelassen. Die Hervorhebungen im Text wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im Sommer 2013.

 

Weitere Beiträge:

1. Der Sohn – Beiträge zum theologischen Gespräch der Gegenwart, von Pfr. Otto Rodenberg

2. Jesus – Gott und Mensch – von Walter Rominger

3. Jesus ist Gott, von Michael Kotsch

4. Kennen Religionen den wahren Gott?, von Peter Beyerhaus

5. Der Triumph des Gekreuzigten, von Erich Sauer

6. Der Dreieine Gott, von B. Philberth

7. Die Bibel – Gottes Wort, von Dave Hunt

8. Jesus – Sein Leben und Werk, von Th. Flügge

9. Original oder Fälschung, von Eta Linnemann

10. Die Reformation, von Aleksander Radler

11. Die Inspiration der Bibel, von Rene Pache

12. Die Bibel – Das Buch der Heilsgeschichte, von Erich Sauer  

 

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Zeichen u. Wunder (Heijkoop)

Von H. L. Heijkoop

Gebetsheilungen, Zungenreden, Zeichen und Wunder  –  im Licht der Schrift

 

 

INHALT
Das Bitten um den Heiligen Geist und die Taufe mit dem Heiligen Geist
Reden in Sprachen (Zungenreden)
Die Stellung der Frau nach der Schrift
Zeichen und Wunder
Krankenheilungen
Ist die Heilung des Leibes in der Versöhnung inbegriffen
Die Gottheit des Herrn Jesu

  –  Die Schriftstellen sind nach der Elberfelder Übersetzung angeführt.  –

„Werdet mit dem Geiste erfüllt”

Es wird in den letzten Jahren viel über das Erfülltsein mit dem Heiligen Geist gesprochen, und es werden viele Dinge damit in Verbindung gebracht. Um zu beurteilen, ob das, was gesagt wird, richtig ist, haben wir einen untrüglichen Prüfstein: Das Wort Gottes. Die Schrift nennt die Juden von Beröa edler als die von Thessalonich, weil sie das Wort von Paulus nicht nur mit aller Bereitwilligkeit aufnahmen, sondern auch täglich die Schriften untersuchten, ob dies sich also verhielte. Und in Galater 1, 8 schreibt Paulus: „Aber wenn auch wir oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium verkündigte, außer dem, was wir euch als Evangelium verkündigt haben: er sei verflucht!”

Wie nötig ist es da, daß wir, die wir in einer Zeit leben, da viele falsche Propheten in die Welt ausgegangen sind (1. Joh. 4, 1) und da „sie die Ohren von der Wahrheit ab­kehren und zu den Fabeln sich hinwenden” (2. Timotheus 4, 3), daß wir alles, was uns vorgestellt wird, sorgfältig an Gottes Wort prüfen. „Denn solche sind falsche Apostel, be­trügerische Arbeiter, welche die Gestalt von Aposteln Christi annehmen. Und kein Wunder, denn der Satan selbst nimmt die Gestalt eines Engels des Lichts an; es ist daher nichts Großes, wenn auch seine Diener die Gestalt als Diener der Gerechtigkeit annehmen, deren Ende nach ihren Werken sein wird (2. Korinther 11, 13-15).

Ich will vorweg auf einige Punkte hinweisen. Die Bibel ist Gottes Wort. Heilige Männer Gottes haben es geschrieben, getrieben vom Heiligen Geiste. So ist in Wirklichkeit der Heilige Geist der Verfasser der ganzen Bibel, und das bedeutet, daß das Wort vollkommen ist. Es steht alles darin, was wir wissen müssen. und wenn wir genau und sorgfältig lesen und Schrift mit Schrift vergleichen, stellen wir fest, daß auch alles hinreichend deutlich darin steht.

Daraus geht weiter hervor, daß jedes Wort der Schrift seine Bedeutung hat, die die Schrift selbst deutlich macht; und daß niemals zwei oder mehr verschiedene Worte dieselbe Be­deutung haben. Wir Menschen können, wenn wir reden oder schreiben, wohl einmal ein unrichtiges Wort gebrauchen. Got­tes Wort tut das nie. Wenn ein anderes Wort gebraucht wird, hat es auch eine andere Bedeutung. Für jemand, der darüber einmal nachgedacht hat, ist das vollkommen klar. Doch gibt man sich hierüber oft wenig Rechenschaft und kommt dadurch dann manchmal zu einem ganz schiefen Bild der Gedanken Gottes.

Der Ausdruck „mit dem Geiste erfüllt” kommt dreimal in den Evangelien, sechsmal in der Apostelgeschichte und einmal in den Briefen vor. Daneben finden wir in 2. Mose 31, 3 und 35, 31, daß Bezaleel mit dеm Geiste Gottes erfüllt wurde, „in Weisheit und in Verstand und in Kenntnis und in jeglichem Werk; und zwar um Künstliches zu ersinnen“ und auszuführen. In 2. Mose 28, 3 müssen alle, die Gott mit dem Geiste der Weisheit erfüllt hat, die heiligen Priesterkleider für Aaron machen und von Josua wird gesagt, daß er mit dem Geiste der Weisheit erfüllt war.

In Lukas 1, 15 wird von Johannes dem Täufer gesagt, daß er schon von Mutterleibe an mit Heiligem Geiste erfüllt werden sollte „und viele der Söhne Israels wird er zu dem Herrn, ihrem Gott, bekehren”. In Vers 41 und 67 werden Elisabeth und Zacharias mit Heiligem Geist erfüllt, um Zeugnis abzu­legen.

In Apostelgeschichte 2, 4 wird der Heilige Geist ausgegossen; alle Jünger wurden mit Heiligem Geiste erfüllt und legten ein so mächtiges Zeugnis ab, daß an jenem Tage dreitausend Seelen hinzugetan wurden.

In Apostelgeschichte 4, 8 legt Petrus, erfüllt mit Heiligem Geiste, ein kraftvolles Zeugnis vor dem Synedrium ab.  Und in 4, 31 heißt es: „Als sie gebetet hatten, bewegte sich die Stätte, wo sie versammelt waren; und sie wurden alle mit Heiligem Geiste erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimütigkeit”.

In Apostelgeschichte 9, 17 sagt der Herr zu Ananias, er solle zu Saulus gehen, der zu einem großen Werkzeug bestimmt sei. Ananias geht und sagt ihm: „Jesus, der dir erschienen ist, hat mich zu dir gesandt, damit du wieder sehend und mit Hei­ligem Geiste erfüllt werdest”. In Kapitel 13 Vers 9 wird be­richtet, wie Paulus, erfüllt mit Heiligem Geiste, den Wider­stand von Elymas, dem Zauberer, bricht. Und in Vers 52, nach­dem die Juden Feindschaft und Verfolgung wider die Boten des Evangeliums erweckt haben, lesen wir: „Die Jünger aber wurden mit Freude und Heiligem Geiste erfüllt”.

In Epheser 5, 3-21 wird gesagt, wie die Kinder des Lichts wandeln sollen inmitten der Söhne des Ungehorsams. Und in Verbindung damit heißt es in Vers 18: „Berauschet euch nicht mit Wein, in welchem Ausschweifung ist, sondern werdet (seid) mit dem Geiste erfüllt”.

Das sind alle Stellen der Schrift, in denen von dem Erfülltsein mit Heiligem Geiste gesprochen wird. Wenn wir diese Stellen lesen, fällt uns folgendes auf:

1) Das Erfülltsein mit Heiligem Geist ist nicht dasselbe wie die Innewohnung des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist wohnt in dem Gläubigen erst seit dem Pfingsttage (Apostelge­schichte 2). In Johannes 14, Verse 16 18 u. 26 und anderen Stellen wird dies ausdrücklich gesagt. So nimmt auch nach Epheser 1, 13 und 2. Korinther 1, 22 der Heilige Geist erst in jemand Wohnung, nachdem er dem Evangelium geglaubt hat, während Johannes der Täufer schon von Mutterleibe an mit Heiligem Geiste erfüllt sein würde nach Lukas 1, 15, und in Apostelgeschichte 4, 31 wurden alle erfüllt mit Heiligem Geiste, obwohl sie in Apostelgeschichte 2 den Heiligen Geist empfangen hatten und da schon mit dem Heiligen Geist erfüllt waren, wie auch von Petrus in Apostelgeschichte 4, 8 gesagt war, daß er mit Heiligem Geiste erfüllt war. Und nachdem die Epheser laut Epheser 1, 13 (vergleiche 2. Korinther 1, 22) den Heiligen Geist empfangen hatten, heißt es in Kapitel 15, 18, daß sie mit dem Geist erfüllt sein sollen. Es wird ihnen dies ge­radezu als ihre Verantwortung vorgestellt, daß sie erfüllt sein müssen.

2) Aus diesem allem geht hervor, daß das Erfülltsein mit Heiligem Geiste kein bleibender Zustand ist, sondern eher ein zeitlicher, – wenn auch Johannes der Täufer darin einе Aus­nahme gewesen zu sein scheint, wegen seiner einmaligen und besonderen Stellung.

3) Ferner geht aus den genannten Stellen hervor, daß das Erfülltsein mit Heiligem Geist gegeben wird für das Werk des Herrn und für das Zeugen für Ihn.

4) Daß die Schrift das Erfülltsein mit Heiligem Geist nicht ver­bindet mit dem Tun von Zeichen und Wundern oder Reden in fremden Sprachen. In keiner der Stellen im Alten oder Neuen Testament, wo über Erfülltsein mit Heiligem Geiste gesprochen wird, werden Zeichen oder Wunder genannt, mit Aus­nahme von Apostelgeschichte 2, 4, wo über „andere Sprachen” gesprochen wird, und von Apostelgeschichte 13, 9, wo Elymas blind wird. Aus den drei Kapiteln der Apostelgeschichte, in denen wir das Reden in Sprachen finden (Apostelgeschichte 2, 4. 8. 11; 10, 46 und 19, 6) geht vielmehr hervor, daß das Reden in Sprachen in Verbindung steht mit der Ausgießung des Heiligen Geistes (Juden in Jerusalem, Nationen und Jünger von Johannes dem Täufer außerhalb Palästinas), also nicht mit dem Erfülltsein mit Heiligem Geist (siehe auch 1. Korinther 12 und 14). Auch geht aus den Stellen in den Evangelien, wie aus den 17 Stellen der Apostelgeschichte, in denen von Zeichen gesprochen wird, deutlich hervor, daß die Schrift die Zeichen nicht verbindet mit dem Erfülltsein mit dem Heiligen Geist, wenn auch in einem Fall gesagt wird, daß der, der ein Zeichen tut, mit Heiligem Geist erfüllt ist.

Es ist zu beachten, daß die Gläubigen in Apostelgeschichte 4, 23-31 beteten: „Gib deinen Knechten, dein Wort zu reden mit aller Freimütigkeit, indem du deine Hand ausstreckst zur Heilung, und daß Zeichen und Wunder geschehen …“  Gott gibt ihnen die erbetene Freimütigkeit, aber nicht durch Zeichen usw. Er erfüllt sie mit Heiligem Geist, und dann reden sie das Wort mit Freimütigkeit.

5) Nirgends wird von jemand gesagt, daß er mit Heiligem Geist erfüllt wird, nachdem ihm die Hände aufgelegt wurden, mit Ausnahme von Apostelgeschichte 9, 17. Da legt Ananias dem Paulus die Hände auf und sagt, daß der Herr ihn gesandt hat, damit er mit Heiligem Geist erfüllt werde. Aber die Schrift sagt nicht, daß Paulus in diesem Augenblick erfüllt wurde, und durchaus nicht, daß es durch das Auflegen der Hände geschah. In allen anderen Stellen kann es nicht durch das Auflegen der Hände geschehen sein.

Außer dem „Erfülltsein“ finden wir viermal in der Schrift den Ausdruck „voll Heiligen Geistes”. Und zwar wird dies gesagt von dеm Herrn Jesus (Lukas 4, 1), von Stephanus (Apostelge­schichte 6, 5 und 7, 55) und von Barnabas (11, 24). Wenn wir diese Stellen lesen, sehen wir, daß es sich hier nicht so sehr um die Kraft für den Dienst handelt, sondern mehr um den praktischen Zustand. Der Gläubige befindet sich hier bleibend in einem Zustand, in dem der Heilige Geist sein ganzes Leben beherrscht und dies ungehindert tun kann. Sowohl bei Stephanus als bei Barnabas geht dies zusammen mit „voll Glaubens” sein, aber nirgends wird der Ausdruck verbunden mit Reden in Sprachen oder Tun von Zeichen und Wundern.

Auch spricht die Schrift über Salbung und Versiegelung mit dem Heiligen Geist. Salbung finden wir nur in 2. Korinther 1, 21 und in 1. Johannes 2, 20. 27. Aus den beiden zuletzt ge­nannten Versen wird deutlich, daß gemeint ist, in die Nähe Gottes gebracht zu sein und dadurch unterscheiden zu kön­nen, was nicht aus Gott ist. Vergleiche Offenbarung 3, 18.

Über Versiegelung wird nur in 2. Korinther 1, 21; Epheser 1, 13 und 4, 30 gesprochen und ist an allen drei Stellen mit der Sicherheit, demnächst das Erbteil zu erlangen, verbunden. Gott hat jetzt schon Sein Siegel auf uns gesetzt und uns so die Ver­sicherung gegeben, daß wir Ihm gehören. (Vergleiche Offenbarung 7, 3). Sowohl die Salbung als auch die Versiegelung hat Bezug auf alle Gläubigen und wird in 2. Korinther 1, 21 als eins gesehen mit der Innewohnung des Heiligen Geistes.

Das Bitten um den Heiligen Geist und die Taufe mit dem Heiligen Geist

Aus Römer 8, 11; 1. Korinther 6, 19; 2. Korinther 1, 21. 22; Epheser 1, 13 und anderen Stellen geht hervor, daß der Heilige Geist in unserer Zeit in jedem Gläubigen wohnt. Ich will etwas näher darauf eingehen, weil oft Lukas 11, 13 angeführt wird als Beweis dafür, daß es auch heute richtig sei, um den Hei­ligen Geist zu bitten.

Ich lasse es offen, ob der Herr in diesem Vers wirklich Seine Zuhörer auffordert, um den Heiligen Geist zu bitten, weil das überwiegend eine Frage der Übersetzung ist. Jedenfalls wird es im Griechischen nicht ausdrücklich gesagt. Nehmen wir aber nun einmal an, daß es wirklich so die Absicht des Herrn war. Dann entsteht die Frage, ob das auch für uns heute noch gilt. Denn in Lukas 11 hatte der Herr Sein wunderbares Werk auf dem Kreuz noch nicht vollbracht und war noch nicht gen Himmel gefahren. Der Tod des Herrn, Seine Auferstehung und Seine Himmelfahrt veränderten ja doch alles, auch die Stellung der Gläubigen.

In Johannes 7, 39 heißt es: „Dies aber sagte er von dem Geiste, welchen die an ihn Glaubenden empfangen sollten; denn der Geist war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherr­licht worden war”. Hier wird also ausdrücklich gesagt, daß die Gläubigen damals den Heiligen Geist noch nicht empfangen hatten. Das sollte erst nach der Verherrlichung des Herrn, also nach Seiner Himmelfahrt, stattfinden. In Johannes 14, 16-18. 25. 26. und 16, 5-7 wird das ganz nachdrücklich bestätigt. Der Herr Selbst sagt in dieser letzten Stelle: „Es ist euch nützlich, daß ich weggehe; denn wenn ich nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn euch senden”.

In der Apostelgeschichte finden wir die Erfüllung dieser Ver­heißung des Herrn. In Kapitel 1, 5 sagt der auferstandene Herr den Jüngern: „ … ihr aber werdet mit Heiligem Geiste getauft werden nach nunmehr nicht vielen Tagen”, genau wie Johannes der Täufer es angekündigt hatte. Zehn Tage nach der Himmel­fahrt des Herrn fand die Ausgießung des Heiligen Geistes statt (Apostelgeschichte 2). Petrus sagte den Juden, die in ihren Herzen durch das Wort getroffen waren: „Tut Buße, und ein jeder von euch werde getauft auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfangen”. Das stimmt völlig mit dem überein, was der Apostel Paulus den Ephesern schreibt, daß sie nämlich mit dem Heiligen Geiste der Verheißung versiegelt worden waren, nachdem sie das Evangelium im Glauben erfaßt hätten. Auch den Gläubigen in Rom, in Korinth und in Thessalonich schrieb er, daß sie den Heiligen Geist empfangen hatten, und daß Er nun in ihnen wohne (Römer 8, 11; 1. Korinther 6, 19; 2. Korinther 1, 22; 1. Thessalonicher 4, 8). Römer 8, 9 sagt ja sogar, daß jemand, in dem der Geist Gottes nicht wohnt, kein Christ ist.

Nachdem der Herr Jesus also aufgefahren und verherrlicht ist, und der Heilige Geist auf diese Erde gekommen ist, um die Versammlung (Gemeinde, Kirche) zu bilden durch die Taufe mit dem Heiligen Geist (1. Korinther 12, 13) und in ihr zu wohnen (1. Korinther 3, 16; Epheser 2, 22), empfängt jeder, der das Evangelium im Glauben annimmt, den Heiligen Geist, der dann in ihm wohnt und bleibt. Dieses Wohnen des Heiligen Geistes in einem Gläubigen ist also nicht auf das Bitten um den Heiligen Geist zurückzuführen, sondern auf den Glauben an das Evangelium (Epheser 1, 13). Die Bitte um den Heiligen Geist mag vor der Verherrlichung des Herrn und vor dem Herabkommen des Heiligen Geistes auf diese Erde am Platze gewesen sein; heute aber kann es nur ein Zeichen von Unglauben sein gegenüber dem, was Gott uns in Seinem Wort versichert.

Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der Taufe mit dem Heili­gen Geist. Die einzigen Stellen im Wort Gottes, wo darüber gesprochen wird, sind Matthäus 3, 11; Markus 1, 8; Lukas 3, 16; Apostelgeschichte 1, 5; 11, 16 und 1. Korinther 12, 13. In den drei ersten Stellen kündigt Johannes der Täufer an, daß der Herr mit (oder „in“) Heiligem Geiste taufen werde. In Apostel­geschichte 1, 5 sagt der Herr Selbst, daß dies jetzt „nach nun­mehr nicht vielen Tagen“ geschehen werde. Daran erinnert Petrus in Apostelgeschichte 11, 16, als er kritisiert wurde, weil er Kornelius und andere gläubige Nicht-Juden zur Ver­sammlung (Gemeinde) zugelassen hatte. In 1. Korinther 12, 13 wird uns schließlich die Bedeutung dieser Taufe mitgeteilt: „Denn auch in einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie”.

Das Ziel des Todes des Herrn Jesus war nicht nur, Sünder zu erretten, sondern „daß er auch die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte” (Johannes 11, 52). Als Er das Erlösungs­werk vollbracht und damit die Grundlage für die Vereinigung aller Gläubigen gelegt hatte, kam der Heilige Geist auf diese Erde, um das zu verwirklichen. Der Heilige Geist ist das Band, wodurch jeder Gläubige mit dem verherrlichten Herrn im Himmel und mit jedem Gläubigen auf der Erde verbunden ist. Das wird uns in der Taufe mit dem Heiligen Geist vorgestellt, die am Pfingsttage (Apostelgeschichte 2) stattfand.

Diese Taufe ist also ein einmaliges Ereignis gewesen, und zwar für alle, die damals an den Herrn Jesus und Sein Werk glaub­ten. Sie kann nie wiederholt werden, denn der Leib Christi ist damals entstanden und wird in Ewigkeit bestehen, er kann nie zugrundegehen. Jeder Sünder, der sich jetzt bekehrt und der dem Evangelium glaubt, empfängt den Heiligen Geist, der dann in ihm wohnt; gleichzeitig ist er als ein Glied dem Leibe Christi hinzugefügt worden, der am Pfingsttage durch die Taufe mit dem Heiligen Geist gebildet worden ist. Wir finden deshalb auch, daß diese Taufe in der Schrift nie mit einem einzelnen Gläubigen in Verbindung gebracht wird, sonder immer mit den Gläubigen als Gesamtheit.

Wenn jemand denkt oder lehrt, daß ein Gläubiger heute noch mit dem Heiligen Geist getauft werden muß, dann geschieht es aus Unwissenheit über die wirkliche Bedeutung dieser Taufe, oder aber man verwirft mutwillig das Wort Gottes. – Ausführlicher behandelt findet der Leser dieses Thema in meinem Buch „Der Heilige Geist”.

Reden in Sprachen (Zungenreden)

Reden in anderen Sprachen (Zungen), ohne daß man diese Sprache gelernt hat, kommt im Alten Testament nicht vor. Nur eine Prophezeiung (Jesaja 28, 11-13) findet sich darüber, und wenn diese nicht ausdrücklich in 1. Korinther 14, 11 mit Bezug auf das Sprachenreden angeführt wäre, würden wir sie wahrscheinlich gar nicht damit in Verbindung gebracht haben. Der Sinn der Stelle wird aus dem Zusammenhang deutlich. Weil die Priester und Propheten in Israel nicht mehr zugäng­lich waren für wahre Erkenntnis und göttliche Botschaft (Verse 7-10), wird Gott durch Menschen mit unverständlicher Sprache und fremder Zunge zu ihnen reden. Es sind ihre Feinde, die das Gericht über sie bringen werden. Und diese Stelle gebraucht der Heilige Geist, um in 1. Korinther 14 klarzustellen, daß die Sprachen ein Zeichen für Ungläubige sind und nicht für Gläubige (Vers 21 u. 22).

Auch in den Evangelien finden wir das Reden in Zungen nicht, außer der Weissagung des Herrn Jesus in Markus 16, 17. Weil aber dieser Vers aus Markus so häufig als Beweis angeführt wird, muß ich hierbei etwas verweilen. Der Herr kommt in Vers 14 zu den Elfen und schilt ihren Unglauben und ihre Herzenshärtigkeit. Dann gibt er ihnen in Vers 15 den Auftrag, das Evangelium zu predigen der ganzen Schöpfung, und sagt in Vers 16, was für die Hörer die Folgen davon sein werden. In Vers 17 sagt Er dann zu ihnen (den Elfen, in Verbindung mit Seinem Verweis ihres Unglaubens in Vers 14), daß denen, welche glauben, Zeichen folgen werden. In Vers 20 gehen sie aus, und der Herr erfüllt Seine Verheißung und bestätigt das Wort durch Zeichen, die darauf folgen.

Wir sehen daraus:

1) Daß die Zeichen nur als Bestätigung des Wortes gegeben werden (Vergleiche Johannes 2, 23-25).

2) Es steht nicht da, daß die Zeichen allen Gläubigen folgen werden.

3) Unmittelbar wird die Verheißung nur den Elfen gegeben, und Vers 20 sagt, daß, als dies Evangelium geschrieben wurde, die Verheißung erfüllt war. Dies ist in Übereinstimmung mit Hebräer 2,3: „eine so große Errettung … , welche den Anfang ihrer Verkündigung durch den Herrn empfangen hat und uns von denen bestätigt worden ist, die es gehört haben, indem Gott außerdem mitzeugte, sowohl durch Zeichen als durch Wunder und mancherlei Wunderwerke und Austeilun­gen des Heiligen Geistes nach seinem Willen”.

Auch aus 2. Korinther 12, 12 geht hervor, daß die Zeichen ein Beweis der Apostelschaft waren. Und ein Apostel mußte den Herrn gesehen haben (Apostelgeschichte 1, 21-26; 1. Korin­ther 9, 1; 15, 8. 9).

In Apostelgeschichte 2 finden wir zum ersten Mal, daß in Sprachen geredet wird. Der Heilige Geist kommt auf die Erde und tauft die bis dahin in gewissem Sinne einzeln für sich stehenden Gläubigen zu einem Leibe, der Versammlung 1. Korinther 12, 13. Bis zu jenem Tage hatte der Heilige Geist wohl auf Erden gewirkt, aber niemals gewohnt, außer in dem Herrn Jesus (Johannes 3, 34; Kolosser 1, 19). Jetzt kam Er auf die Erde, um hier zu wohnen, in der Versammlung, die Er durch Seine Taufe bildete, und in jedem einzelnen Gläubigen. Sollte diese mächtige Tatsache, daß Gott der Heilige Geist kam, um auf Erden zu wohnen, unbemerkt vorübergehen? Wie die Ankunft des Sohnes Gottes auf Erden durch Zeichen begleitet wurde: Eine Menge von Engel im Land von Bethlehem, und ein Stern im Osten, – so auch die Ankunft des Heiligen Geistes. Aber auch hier sind die Zeichen nicht vor aller Welt sichtbar, sondern nur einer kleinen Gruppe von Menschen. Aber die Folgen dieser großen Tatsache werden jedem sichtbar, der überzeugt werden will (Johannes 7, 17).

In Apostelgeschichte 2 kommt der Heilige Geist nicht in Ge­stalt einer Taube. Das war nur bei dem Herrn Jesus möglich, Dem einen Reinen, Unbefleckten, der in Sanftmut und Ge­radheit Seinen Weg ging. Hier wird der Nachdruck gelegt auf Zeugnis: Zerteilte Zungen wie von Feuer.

Ich mache darauf aufmerksam, daß das griechische Wort „glossa”, das hier gebraucht wird, sowohl Sprache als Zunge bedeutet. Wenn z. B. im Jakobusbrief über die Zunge ge­sprochen wird, wird dieses Wort gebraucht. Aber es wird auch gebraucht für Sprache, wie in 1. Korinther 13 „Wenn ich mit den Sprachen der Menschen und der Engel rede, und in Offenbarung 5, 9; 7, 9; 10, 11; 11, 9; 13, 7; 14, 6; 17, 15: „aus jedem Stamm und Sprache und Volk und Nation” usw.

Nun, dieses Wort wird in Apostelgeschichte 2, 3 gebraucht (zer­teilte Zungen wie von Feuer), aber auch in Vers 4 (fingen an in anderen Sprachen zu reden) und ebenso in Vers 11, wo die Menge der ausländischen Juden sagt: „Wie hören wir sie die großen Taten Gottes in unseren Sprachen reden”? Dieses Wort glossa wird ferner überall gebraucht, wo über das Reden in Sprachen (Zungen) gesprochen wird (Apostelgeschichte 10, 46; 19, 6 und 1. Korinther 12, 13 und 14). Daneben kommt das griechische Wort dialektos (Dialekt) vor, aber nur in Apostel­geschichte 1,19;2, 8; 21, 40; 22, 2 und 26,14.

Daraus geht hervor, daß der Heilige Geist – in Übereinstim­mung mit der Ankündigung durch den Herrn Jesus (Johannes 15, 26; 16, 7-14) – sich in Apostelgeschichte 2 offenbart im Charakter des Zeugnisses: „Zerteilte Zungen wie von Feuer”. Es ist nicht eine, sondern zerteilte Zungen. Das Zeugnis wird also nicht mehr beschränkt sein auf eine Sprache, wie vor dem Pfingsttage (siehe z. B. Matthäus 10, 5), sondern wird zu vielen Völkern ausgehen. Und als Folge davon reden sie in anderen Sprachen, und alle die ausländischen Juden hören sie in ihrer eigenen Sprache von dem großen Taten Gottes reden. Dies läßt den Zweck des Redens in Sprachen erkennen, näm­lich, daß die Frohe Botschaft von Gottes Gnade die Grenzen Israels durchbricht und jetzt ausgeht zu allen Völkern und Nationen und Sprachen und damit vom Heiligen Geiste als Mittel gebraucht wird, das seit der Sprachverwirrung von Babel (1. Mose 11, 1-9) bestehende Hindernis, das Evangelium allen Völkern zu predigen, wegzunehmen (Apostelgeschichte 2, 7. 8). Die Jünger, die ungelehrte und ungebildete Leute waren (4,13), reden über Gott zu Menschen fremder Zunge, in den Sprachen dieser Menschen, obwohl sie diese Sprache nicht gelernt hatten.

Dadurch wird das Übernatürliche, Göttliche ihrer Botschaft be­wiesen. Und die Menschen, dadurch überzeugt, lauschen voll Andacht, als Petrus zu ihnen redet, und dreitausend Seelen werden bekehrt.

Wie wir oben gesehen haben, finden wir in der Apostelge­schichte, außer in Kapitel 2, Reden in Sprachen nur in 10, 46 und 19, 6. In Kapitel 10 sind es solche aus den Nationen, während es in Kapitel 19 von gläubigen Juden gesagt wird, die bis dahin wohl Jünger von Johannes dem Täufer, aber noch keine Christen waren, die zu der Versammlung hinzugetan werden.

Alle drei Fälle in der Apostelgeschichte tragen also ausge­sprochen den Charakter des Beginns der Versammlung, und in allen drei Fällen betrifft es ganze Gruppen von Menschen, die alle in Sprachen reden und diese Gabe empfangen, ohne darum gebeten zu haben.

In den Briefen finden wir nur in 1. Korinther 12-14 das Re­den in Sprachen. Und zwar finden wir folgende Aussagen:

1) Alle Offenbarungen des Geistes, also auch das Reden in Sprachen, werden zum Nutzen gegeben (12, 7).

2) Nicht alle redeten in Sprachen, sondern der Geist gab dies einigen (12, 8-11. 28-30).

3) In der Rangordnung von Gottes Wort steht das Reden in Sprachen ganz unten (12, 8-10. 28-30). Daß es wirklich eine Rangordnung ist, wird deutlich beim Lesen dieser Abschnitte. Sowohl in Vers 28 wie 29 werden die Apostel zuerst genannt.

4) Es ist daher keineswegs zu folgern, daß das Reden in Spra­chen bleibend sein würde, denn die Apostel, die zuerst genannt werden, waren auch nur für den Anfang. Nach 1. Korinther 9, 1 (siehe auch Apostelgeschichte 1, 21-22) war es nötig, daß ein Apostel den Herrn gesehen hatte. Es konnten also keine neuen Apostel mehr kommen. Aber außerdem sagen 1. Korinther 3 und Epheser 2 und 3, daß die Apostel den Grund der Ver­sammlung gelegt haben. Nun, es ist deutlich, daß dies nur ein­mal, im Anfang, geschieht.

5) Die Gabe der Sprachen war nicht gegeben, um in der Ver­sammlung ausgeübt zu werden, sondern als ein Zeichen für die Ungläubigen (1. Korinther 14, 19-25). Und auch nicht für Ungläubige, die es nicht verstehen können (14, 23), sondern für solche, die es verstehen können, und wo es wirklich ein Zeichen ist für die Macht Gottes. Dies ist also in völliger Übereinstimmung mit dem, was wir in Apostelgeschichte 2 gesehen haben.

Wir haben also gefunden:

a) Das Reden in Sprachen wird nur in Markus 16 angekündigt und wird gegeben als eine Bestätigung des gesprochenen Evan­geliumswortes, und nur angewendet auf die Predigt der Apo­stel.

b) Wir finden es nur in Apostelgeschichte 2, 10 und 19, wo es deutlich in Verbindung steht mit dem Anfang der Versammlung.

c) Außerdem finden wir, daß nur noch in 1. Korinther 12 und 14 darüber gesprochen wird, und zwar in einem korrigierenden Sinn.

d) Sowohl aus Apostelgeschichte als auch aus 1. Korinther geht hervor, daß bestehende Sprachen da gesprochen wurden, da wo sie verstanden wurden, und daß die Gabe, in Sprachen zu re­den, nicht gegeben war, um in der Versammlung ausgeübt zu werden, wenn dies auch in beschränktem Maße zugelassen wurde, aber nur wenn ein Ausleger da war.

e) Das Reden in Sprachen steht nicht in Verbindung mit dem Erfülltsein mit Heiligem Geiste.

Wenn also alles in der Schrift darauf hinweist, daß die Gabe der Sprachen in Zusammenhang steht mit dem Anfang der Versammlung, ist es wohl nötig, sehr vorsichtig zu sein und alle Äußerungen sorgfältig an Gottes Wort zu prüfen. Dies um so mehr, als die Schrift uns ausdrücklich sagt, daß der Teufel und seine Engel die Gestalt von Engeln des Lichts an­nehmen, und auch, daß Zeichen und Wunder und Lügengei­ster vom Teufel kommen können (2. Thessalonicher 2, 9; 2. Chronika 18, 21; Apostelgeschichte 16, 16 u. a.).

Die Geschichte bestätigt dies auch ausdrücklich. Das Reden in Sprachen, die unbekannt waren, wird auch in der Heiden­welt gefunden. Der heidnische Schriftsteller Plato, der um 400 vor Christus lebte, schrieb schon, daß gewisse Menschen nicht ihre eigene Sprache sprachen, sondern die von Dämonen, die in ihnen wohnten. Vergil spricht ebenfalls darüber.

Die Wiedertäufer in der Reformationszeit, die in großer Sittenlosigkeit und anderem Bösen lebten, redeten in Sprachen. Irving, der erklärte, daß der Herr Jesus eine sündige Natur hatte, redete in Sprachen. Die Mormonen bekennen, in Spra­chen zu reden u. s. w.

Laßt uns beim Prüfen bedenken, daß Satan nicht allein die Gestalt eines Engels des Lichts annimmt, sondern daß er sein Werk auch oft vermischt mit guten Dingen und durch wirklich Gläubige ausführen läßt (Matthäus 16, 21-23). Aber das Gute, das manchmal bei einer Bewegung gefunden wird, macht nicht die ganze Bewegung gut. Ja, wenn wahre Gläubige dar­in gefunden werden, kann nicht alles verkehrt sein. Aber die Frage ist auch nicht, ob alles verkehrt ist, sondern ob alles in Übereinstimmung mit der Schrift ist. Und dann fällt z. B. auf, was nicht durch die, die in Sprachen reden, öffentlich gelehrt wird, was aber doch eine kennzeichnende praktische Erscheinung ist, daß nämlich überall, wo Reden in Sprachen vordergründig in Erscheinung tritt, in der Hauptsache Frauen die Leitung haben, daß also 1. Timotheus 2, 11-15 vollständig mißachtet wird. Und dies ist eine bekannte Erscheinung in allen bösen und unchristlichen Gruppen. Denken wir nur an Christian Science (Frau Eddy), die Theosophen (Frau Blavatsky und später Annie Besant), die Siebentagsadventisten (Frau White) usw. Es ist bekannt, daß bei den Spiritisten auf jedes männliche Medium jeweils mindestens ein Dutzend weibliche Medien kommen.

Die Stellung der Frau nach der Schrift

Gott hat der Frau einen ehrenvollen Platz gegeben. Sie ist die Eva, die Mutter aller Lebendigen (1. Mose 3, 20; 1. Korinther 11,12). Eine Frau hatte das unendliche Vorrecht, von der Kraft des Höchsten überschattet und so die Mutter des Sohnes Gottes zu werden. Eine Frau durfte die Füße und das Haupt des Herrn salben, und eine Frau war die erste, die den auferstandenen Herrn sehen durfte. Und Er gab ihr dabei die Offenbarung über die höchste und herrlichste Auswirkung Seines Werkes am Kreuz: „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater ” – eine Wahrheit, über die wir nur an­betend staunen können. Gottes Ratschluß für die Frau ist jedoch nicht, öffentlich in den Vordergrund zu treten. Sie ist ein Vorbild von der Gemeinde, der Braut Christi (Epheser 5, 32); deshalb geziemt ihr der Platz der Unterordnung unter den Mann, denn der Mann ist das Vorbild von Christus, dem Bräutigam der Kirche.

In allen Wegen Gottes mit dem Menschen sehen wir für die Frauen diesen Platz im Hintergrund, in der Zurückgezogenheit. Keiner der von Gott erwählten Schreiber der 66 Bücher der Bibel war eine Frau. Die Geschlechtsregister geben uns die Geschlechter der Männer. Es waren Männer, die Gott berief, um ein Zeugnis zu beginnen (Noah, Abraham, Mose usw.). Die zwölf Apostel, die der Herr berief, und die siebzig, die Er später aussandte, waren sämtlich Männer. Die Sieben in Apostelgeschichte 6, die ein gutes Zeugnis hatten und voll Heiligen Geistes und Weisheit waren, waren Männer. Unter all den Zeugen für die Auferstehung des Herrn, die in 1. Ko­rinther 15 genannt werden, war nicht eine einzige Frau, und das, obwohl Maria die erste war, die den Herrn nach Seiner Auferstehung gesehen hat und dies den Aposteln verkünden durfte. Wo über Älteste, Aufseher und Diener gesprochen wird, ist nur von Männern die Rede. Auch die beiden Zeugen in Offenbarung 11 sind Männer. So könnte ich fortfahren.

Wir sehen das auch bei den Anweisungen, die für die Zu­sammenkünfte und für das ganze öffentliche Auftreten der Frauen gegeben wurden. 1. Korinther 11 sagt ausdrücklich, daß die Frau, wenn sie einen Dienst tut, bei dem es so aus­sehen könnte, als ob sie sich neben den Mann stellt, ihr Haupt bedecken muß, als Zeichen dafür, daß sie anerkennt, daß sie einen Platz des Unterworfenseins unter den Mann einzuneh­men hat. Und damit keine Unklarheit darüber besteht, daß sie nur dann öffentlich beten oder weissagen kann, wenn kein Mann da ist, der dazu imstande ist, sagt die Schrift drei Ka­pitel weiter ausdrücklich, daß die Frauen in den Zusammenkünften der Versammlung, die ja doch am allerwenigsten öffentlich waren, völlig schweigen sollen (1. Korinther 14, 34-38). In 1. Timotheus 2, 11-15 wird noch besonders betont, daß eine Frau unter gar keinen Umständen als Lehrer auf­treten soll. Und die Schrift gibt als Begründung dafür an, daß die Frau beim ersten mal, als sie es tat, ihren Mann und uns alle mitriß ins Verderben.

Manchmal wird behauptet, daß das Wort „reden” in 1. Korinther 14, 34 lediglich „schwatzen” bedeute. Doch das ist eine glatte Unwahrheit. Genau dieses selbe Wort kommt in diesem Kapitel 25 mal vor, u. a. in Vers 21 für das Reden Gottes. Es kann also an keiner einzigen Stelle mit „schwatzen” übersetzt werden.

Bekanntlich spielen ja nun in den sogenannten Pfingstgruppen und in anderen Gruppen, in denen das Zungenreden geübt wird, im allgemeinen Frauen die Hauptrolle; jedenfalls beten sie öffentlich und sprechen in den Zusammenkünften. Sind das keine deutlichen Symptome, um die Geister, die dort am Werk sind, zu erkennen? Ist das keine offene Verachtung des Wortes Gottes?

 

Zeichen und Wunder

Zeichen und Wunder sind nicht das gleiche. Ein Zeichen ist immer ein Wunder, aber nicht jedes Wunder ist ein Zeichen. Ist die Geburt eines Menschen nicht ein Wunder? Ist der menschliche Leib mit all seinen Organen nicht ein Wunder? Ist die ganze Natur mit allem, was darin vorkommt, nicht ein Wunder? Und ist die Wiedergeburt eines Menschen nicht ein noch größeres Wunder?

Alle diese Wunder kommen aber so oft vor, daß wir daran gewöhnt sind und nicht mehr daran denken, daß es Wunder sind. Wir sehen gewöhnlich nur Dinge als Wunder an, die wenig vorkommen und die also von der gewöhnlichen Er­scheinung, von der gewohnten Weise Gottes, zu handeln, ab­weichen.

Seit der Mensch geschaffen wurde, gab es für ihn Wunder zu sehen, und er wird sie bis in Ewigkeit sehen können. Denn Gott ist unumschränkt und weicht, wenn Er will, von dem ab, was Er selbst als eine Gewohnheit oder als ein Naturge­setz eingesetzt hat.

Zeichen aber setzen Sünde voraus, und daß Menschen Gott nicht glauben oder selbst nicht an Ihn glauben. Ein Zeichen ist ein Wunder, das Gott tut, um den Menschen erkennen zu lassen, daß Er ist und über allem steht. Darum werden in der Ewigkeit keine Zeichen mehr sein, weil es dann keinen Unglauben mehr gibt.

Wir wollen uns in diesem Abschnitt aber auf die Zeichen und Wunder beschränken, die Gott durch Menschen getan hat.

In den ersten 2500 Jahren nach Erschaffung des Menschen finden wir nicht ein einziges Zeichen, das durch Menschen getan wurde. Gab es denn in jenen Tagen keine Gläubigen oder Knechte Gottes? O, sicher. Denken wir nur an einen Mann wie Henoch, von dem Gottes Wort sagt, daß er mit Gott wandelte und durch Gott aufgenommen wurde. Denken wir an Noah, der mit Gott wandelte und den Gottes Wort einen Prediger der Gerechtigkeit nennt. Denken wir an Abraham, den Vater aller Gläubigen. Gibt es im Alten Testament einen größeren und treueren Mann als Abraham? Und so könnte ich noch mehr Gläubige nennen. Aber diese alle haben nicht ein einziges Zeichen getan.

Die ersten Zeichen finden wir bei Mose im Anfang des 2. Buches Mose. Als Gott Moses sandte, um Israel zu befreien, wußte Er, daß Pharao nicht auf Moses hören würde. Darum würde Gott „Ägypten schlagen mit allen meinen Wundern, die ich in seiner Mitte tun werde; und danach wird er euch ziehen lassen” (2. Mose 3, 20). Und als Mose fürchtet, daß auch die Ältesten von Israel ihm nicht glauben würden, gibt Gott auch dafür Zeichen, damit sie dadurch überzeugt würden, daß Mose wirklich von Jehova gesandt war (4, 1-9).

Wir sehen daraus, daß Zeichen gegeben wurden

1) als ein Gericht über den Unglauben;

2) als ein Beweis, daß der, der das Zeichen tut, wirklich einen besonderen Auftrag von Gott hat.

Was unterscheidet nun Mose von Abraham, Noah usw., daß er Zeichen tat, und sie nicht? Hatte er mehr Glauben als diese beiden? Wenn wir 2. Mose 4 lesen, sehen wir es anders. Der Glaube von Abraham und Noah war viel größer als der von Mose. Und nicht allein Moses, sondern auch Noah kündigte das Gericht an und wies den Weg, ihm zu entgehen. Und nicht allein bei Mose, sondern auch bei Abraham finden wir den Anfang einer neuen Periode in den Wegen Gottes auf der Erde.

Was ist denn das Besondere, das Moses von den anderen unterscheidet? Es ist nicht allein, daß er Licht über neue Dingе empfing und der durch Gott auserwählte Anfang dieser neuen Haushaltung wurde. Das waren Noah und Abraham auch. Aber er empfing einen besonderen Auftrag von Gott, um die­ses Neue denen zu verkündigen, die nicht wußten, daß dieses Zeugnis von Gott war.

Wir sehen auch, daß diese Zeichen in einer sehr kurzen Zeit im Anfang getan wurden. Wo finden wir noch Zeichen, die Moses tat, nach den ersten Wochen des Auszugs, außer daß er den Felsen schlug? Wunder geschehen genug! War es kein Wunder, daß Mose vierzig Tage ohne zu essen und zu trinken auf dem Berge war (2. Mose 34)? Und so könnten wir mehr Wunder nennen. Aber es waren keine Zeichen, die er tat.

Dann finden wir, als Josua das Volk in das Land führt, das Zeichen von Josua 10, 12-14. Aber danach 700 Jahre lang keine Zeichen mehr bis Elia und Elisa. Diese taten auch wieder Zeichen und Wunder, aber nicht in Juda, wo der Tempel war, und wo das Gesetz gefunden wurde, sondern nur in Israel, das sich von Juda getrennt, die Anbetung Jehovas offiziell abgeschafft hatte und sich öffentlich zum Götzendienst gekehrt hatte. Gott gibt Seinem abgefallenen Volk durch zwei besonders dazu berufene Knechte ein besonderes Zeugnis, so wie Er das auch in den letzten Tagen tun wird (Offenbarung 11, 3-6).

Nachdem Israel auch dieses Zeugnis verworfen hatte, finden wir keine Zeichen mehr in dem Charakter, wie Moses und Elias sie taten. Wir müssen wieder 700 Jahre überschlagen, bis der Herr Jesus durch das Land ging, und wir wieder Zeichen sehen.

Es ist bemerkenswert, daß Johannes der Täufer keine Zeichen tat (Johannes 10, 41), obwohl der Herr Jesus von ihn sagt, daß Moses und Elias nicht größer waren als er, und obwohl er außerdem von Mutterschoße an mit Heiligem Geiste erfüllt war (Lukas 1, 15). Und ebenso, daß der Herr Jesus Selbst keine Zeichen tat, bevor Er öffentlich auftrat, Seinen Dienst auszu­üben (Matthäus 4, 23. 24). Matthäus 11, 3-5 sagt uns, was der Zweck dieser Zeichen war: zu beweisen, daß Er von Gott gesandt war. Siehe auch Johannes 2, 23; 4, 48; 5, 36; 6, 2. 30; Apostelgeschichte 2, 22 usw.

Der Herr wählt die zwölf Apostel und sendet sie aus mit dem ausdrücklichen Auftrag, das Evangelium des Reiches zu verkündigen und Zeichen zu tun (Matthäus 10). Und danach die Siebzig mit dem gleichen, aber etwas begrenzteren Auftrag. Wir müssen dabei beachten, daß der Auftrag beider Gruppen aus­drücklich begrenzt war auf Israel. Sie durften nicht über die Grenzen Israels hinausgehen. Die Zeit der Gnade für die Nationen war noch nicht gekommen.

Als dann der Herr von Israel verworfen, und das Werk der Erlösung vollbracht war, sendet Er als der auferstandene Herr, der im Begriff stand, gen Himmel zu fahren, die Apostel aufs neue aus (Markus 16, 14-20). Aber jetzt ist es nicht mehr das Evangelium des Reiches. Es ist die neue Haushaltung der Gnade, und darum mußte das Evangelium der ganzen Welt verkündigt werden, auch den Nationen, die in der Haushaltung des Gesetzes draußen standen (Epheser 2). Mit diesem Zeugnis verbindet der Herr aufs neue Zeichen, und zwar, wie bei Moses, Zeichen, die den Charakter dessen tragen, was Gott in der verkündigten Botschaft anbieten ließ. Markus 16, 20 sagt uns, daß die Apostel den Auftrag ausführten, und daß Gott Seine Zusage hinsichtlich der Zeichen erfüllte und so das Wort bestätigte. Hebräer 2, 3. 4 bestätigt dies.

In der Apostelgeschichte wird uns beschrieben, wie die Apostel den Auftrag des Herrn ausgeführt haben. Sie predigen das Evangelium und tun Zeichen zur Bestätigung ihres Wortes. Es ist beachtenswert, daß von elf Aposteln (und wenn wir die Stellen im Zusammenhang lesen, sehen wir, daß es praktisch Petrus war) siebenmal , gesagt wird, daß sie Zeichen taten (2, 43; 3, 7; 5, 5-10.12.15-16; 9, 33, 42). Danach finden wir es siebenmal von Paulus (13,11; 14,10; 16,18; 19,12; 20, 10; 28, 3-6 und 28, 8-10) und dreimal von Stephanus und Philip­pus gesagt (6, 8; 8, 6.13).

Wenn wir die Apostelgeschichte andächtig lesen, machen wir bemerkenswerte Entdeckungen in Verbindung mit diesem Ge­genstand:

1) Außer den Aposteln tun nur Stephanus und Philippus, diese besonderen durch Gott berufenen Knechte, Zeichen, und zwar auch nur ein- und zweimal. Darauf wird mehrmals Nachdruck gelegt; siehe z. B. 2, 43; 5, 12. 15; 13, 7-9 usw. Keine der anderen in der Apostelgeschichte genannten Knechte wie Barnabas, Jakobus, Silas usw. haben Zeichen getan.

2) Die ersten sieben Zeichen in der Apostelgeschichte werden alle in Jerusalem getan. Danach tut Philippus Zeichen in Samaria. Danach Petrus zwei Zeichen im jüdischen Land außer­halb Jerusalems. Und danach Paulus siebenmal unter den Nationen.

3) Die Zeichen außerhalb Jerusalems geschehen alle an ver­schiedenen Orten. Nirgends wird berichtet, daß zweimal Zei­chen an demselben Ort geschahen. Und fast immer geschehen die Zeichen dann, wenn derjenige der die Zeichen tut, an die­sem Ort das Evangelium zum erstenmal predigt. Die einzigen Ausnahmen davon sind:

a) Ephesus. Da war Paulus nach 18, 19-20 schon gewesen, aber nur sehr kurz, da er keine Zeit hatte.

b) Troas. Da war er nach 16, 8-11 und 2. Korinther 2, 12 zweimal gewesen, aber wahrscheinlich ohne oder fast ohne das Evangelium zu verkündigen.

4) Im Anfang der Apostelgeschichte finden wir einen Strom von Zeichen. Je mehr das Zeugnis bekannt und ausgebreitet wurde, umso länger waren die Pausen.

5) Die durch das Zeichen geheilt wurden, waren Ungläubige. Nur die gläubige Dorkas wurde aus den Toten auferweckt. Manchmal war bei den Kranken Glaube da an die Macht zur Heilung. In anderen Fällen, wie z. B. Apostelgeschichte 3, war das sicher nicht der Fall. Der Mann wußte nicht, wer vor ihm stand und erwartete nichts anderes als ein Almosen. In anderen Fällen war das Zeichen ein Gericht Gottes.

In den Briefen wird nur in 1. Korinther 12 über Wunderkräfte und Gaben der Heilungen gesprochen. Gott hatte etlichen diese Gaben gegeben. Es wird aber nicht gesagt, wer die „etlichen“ sind; auch wird nichts über die Ausübung der Gabe gesagt (12, 28-31). Der erste Brief an die Korinther ist in der Zeit von Apostelgeschichte 19 geschrieben (siehe 1. Korinther 15, 32; 16, 5-9). In keinem der Briefe, die nach Apostelge­schichte 28, 29 geschrieben sind, werden Zeichen oder Hei­lungen oder Reden in Sprachen gefunden.

Es ist sehr zu beachten, daß über Reden in Sprachen und die Gabe der Heilung nur in Korinth gesprochen wird, wo der Zustand so schlecht war: Sie waren fleischlich, hatten Rechts­sachen miteinander, griffen die Autorität der Apostel an. Es war schreckliche, ungerichtete Hurerei in ihrer Mitte, was anscheinend keinen Eindruck auf sie machte. Einige betranken sich beim Abendmahl, und es war falsche Lehre in ihrer Mitte. In den anderen Briefen an Versammlungen, wo der Zustand so viel besser war, werden jene Gaben nicht genannt, und besonders nicht in den Briefen, die nach dem Ende der Apostelgeschichte geschrieben worden sind.

Wohl wird in 2. Thessalonicher 2, 9 von „aller Macht und Zeichen und Wundern“ gesprochen, aber das sind Zeichen des Antichristen, die er durch die Macht des Teufels tut. Siehe auch Offenbarung 13.

Ferner finden wir in Matthäus 7, 22 Menschen, die durch den Namen des Herrn Jesus geweissagt, Dämonen ausgetrieben und viele Wunderwerke getan haben, und zu denen der Herr Jesus doch sagen wird: „Ich habe euch niemals gekannt; weichet von mir, ihr Übeltäter” ! Hat nicht auch Judas Iskariot Zeichen getan? Er war einer von den zwölf Ausgesandten.

Auch finden wir, daß bei Gläubigen teuflische Einflüsse wirk­sam sein können, wenn auch verbunden mit Dingen, die durch den Heiligen Geist gewirkt sind. Siehe Petrus in Matthäus 16 und die, die das Evangelium aus Neid und Streit predigten (Philipper 1, 15- 17).

Zusammenfassung:

Wir können sagen, daß im Alten Testament Zeichen nur durch einzelne Knechte Gottes getan wurden, die einen be­sonderen Auftrag von Gott empfangen hatten, den Ungläubigen ein neues Zeugnis zu verkündigen. Neben diesen lebten zu gleicher Zeit Tausende andere, die keine Zeichen taten. In den Evangelien fanden wir, daß, außer dem Herrn Jesus, nur die Zwölfe und die Siebzig Zeichen taten; und im weiteren Neuen Testament nur die Apostel und einmal Stephanus und zweimal Philippus.

Ferner fanden wir, sowohl im Alten wie im Neuen Testament, daß diese Zeichen gegeben wurden als Bestätigung der Predigt dieser besonders beauftragten Knechte. Darum nahmen die Zeichen ab und hörten ganz auf, als das Zeugnis befestigt war.

Auch haben wir gesehen, daß Ungläubige Zeichen tun können durch den Namen des Herrn Jesus, und anscheinend auf Erden nicht immer entlarvt werden, sowie daß Gläubige auch unter teuflischem Einfluß Dinge tun können, die äußerlich sehr schön aussehen, weil sie mit guten Dingen verbunden sind.

 

Wunder in der Geschichte

In der Geschichte wird oft über Heilung von Kranken, Reden in Sprachen usw. gesprochen.

Unter den Heiden war der Glaube an wunderbare Heilungen weit verbreitet. Ägypter, Griechen, Römer und Germanen hatten ihre Priester und heiligen Männer, die auf übernatür­liche Weise Krankheiten heilten. Über das Reden in Sprachen berichtete schon Plato, wie im vorigen Kapitel erwähnt ist.

Ich kann natürlich nicht die ganze Geschichte durchgehen. Das würde viel zu viel werden. Ich beschränke mich daher auf ein­zelne Erscheinungen.

Montanus, der in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts lebte, sagte von sich selbst, daß er ein Prophet sei. Die Prophezeiung von Joel sei nun erfüllt. Er redete in Sprachen und legte Kranken die Hände auf. Zwei bekannte Frauen verließen ihre Männer und folgten ihm. In seinem Sprachenreden behauptete er manchmal, daß er Gott sei. Die Bewegung nahm einen großen Umfang an und hielt sich einige Jahrhunderte hindurch.

Im 17. Jahrhundert gab es eine fanatische Sekte in Frankreich, genannt die Camisarden. Sie fand auch in England Eingang, wo sie die französischen Propheten genannt wurden. Ebenso wie Montanus und verschiedene gegenwärtige Sekten nahmen sie für sich in An­spruch, göttlich inspiriert zu sein. Sie behaupteten, daß sie die Gabe der Weissagung, des Zungenredens und besonders der Krankenheilung hätten. Die ganze Bewegung war durch große Unsittlichkeit bekannt. Hurerei, Ehebruch und Blutschande wurden viel unter ihnen gefunden.

In demselben Jahrhundert war der Glaube allgemein ver­breitet, daß ein regierender Fürst Krankheiten heilen könne, nur durch das Anrühren der Kranken. Am Oster­sonntag 1686 rührte Ludwig XIV. 1600 Personen an, indem er sprach: „Der König rührt euch an, Gott heilt euch”. Karl II., gestorben 1700, hat auf diese Weise ungefähr 100.000 Perso­nen angerührt. Der Geschichtsschreiber Macauley berichtet, daß, als Wilhelm III. von Oranien sich weigerte, dies zu tun, sich eine Flut von Tränen und Verzweiflungsschreien von Eltern und Kindern erhob, die an Krankheit litten. Meist wurde bei solchen Gelegenheiten Markus 16, 17-18 gelesen.

 

Die Mormonen, diese antichristliche Sekte mit ihrer Viel­weiberei usw. reden in Sprachen, heilen Kranke und sagen, daß sie die Gabe der Weissagung haben.

 

Die Spiritisten reden in Zungen und heilen Kranke.

 

Die Christian Science (Christliche Wissenschaft), die weder christlich noch Wissenschaft ist, – sie leugnet die Gottheit des Herrn Jesus, Sein Versöhnungswerk, den Heiligen Geist usw. – sagt, daß sie dieselben Werke tue wie der Herr Jesus. Und tatsächlich werden Kranke geheilt.

 

Dr. Coué, ein französischer Arzt, heilte Kranke auf wunder­bare Weise. Er war nicht religiös und gab sich auch nicht dafür aus. Er ließ seine Patienten viele Male wiederholen: „Es geht mir schon viel besser”, und dann „Ich bin geheilt”. Und tatsächlich sind Hunderte auf diese Weise geheilt worden.

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung” berichtete im Nov. 1968 von „Heilungen durch den Glauben an den großen Parteivorsitzenden Mao Tse-Tung” in Rotchina.

Offensichtlich spielen Suggestion und Selbstsuggestion bei solchen Heilungen eine große Rolle.

 

Krankenheilungen

 

Gottes Geist ist in diese Welt gesandt worden, um die Gläu­bigen „in die ganze Wahrheit zu leiten” (Johannes 16, 13) und sie mit Dem zu beschäftigen, der nach Vollendung des Erlö­sungswerkes zur Rechten Gottes hinaufgestiegen ist und von dort wiederkommen wird, um die Seinigen zu Sich zu holen, damit sie für immer bei Ihm seien.

 

Der Feind, der sich außerstande sieht, denen das Heil zu neh­men, die es in Christo besitzen, ist seinerseits darauf bedacht, sie wenigstens von der Betrachtung Christi abzulenken und ihnen so die einzige Quelle ihres Glücks, ihrer Fortschritte und eines gesegneten Zeugnisses zu rauben. Um diesen Zweck zu er­reichen, bedient er sich vornehmlich eines Mittels: er sucht. die Gläubigen mit sich selbst und ihrem irdischen Umständen zu beschäftigen. Er stellt allerlei Dinge vor ihre Blicke, von denen vielleicht mache an sich gut sein mögen, die aber doch dazu angetan sind, ihre Gedanken und ihre Tätigkeit zum Schaden der Verherrlichung des Herrn in Anspruch zu nehmen. Angeb­lich sollen diese Dinge dem Herrn besser dienen und dem Chri­sten ein größeres Glück verschaffen, als es der einfältige Gehor­sam dem Worte gegenüber tut. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall.

 

Vor allem spielt auf diesem Gebiet in den letzten Zeiten ein Thema eine große Rolle, nämlich die Leiden, durch die Gott die Seinigen gehen läßt. Da die Leiden unserer menschlichen Natur, die einst dazu geschaffen wurde, um auf diesen Erde zu leben und sie zu genießen, zuwider sind, so ist es begreiflich, daß die Menschen gern allem das Ohr leihen, was sie, wie man ihnen vorstellt, von diesen Leiden befreien soll. Aus diesem Grunde legt man auch den Stellen der Heiligen Schrift besonderes Gewicht bei, die sich auf das Gebet beziehen, in welchen Gott verspricht, denen zu antworten, die Ihm im Glauben nahen.

 

Wenn wir uns nun zunächst fragen, was die Schrift betreffs der Leiden sagt, so werden wir belehrt, daß jede Prüfung in der Hand Gottes ein Mittel zu einer Segnung ist, deren Folgen für die Seele von ewiger Dauer sind. Auch die Krankheit, ob­wohl sie wie der Tod eine Folge der Sünde ist, gehört zu dem Prüfungen, die der Herr uns sendet, um diesen Zweck zu er­reichen. In Römer 8, wo von den Leiden die Rede ist, die mit dieser gefallenen Schöpfung in Verbindung stehen, einer Schöp­fung, welche seufzt, und in deren Mitte auch wir seufzen, indem wir die Erlösung unseres Leibes erwarten, wird nichts davon gesagt, daß Gott Seinen Kindern die Leiden ersparen werde. Wohl aber heißt es, daß „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken” (Vers 28). Und in 2. Korinther 4, 17. 18 lesen wir: „Denn das schnell vorübergehende Leichte unserer Drangsal bewirkt uns ein über die Maßen überschwengliches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit, indem wir nicht das an­schauen, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht; denn das, was man sieht, ist zeitlich, aber das, was man nicht sieht, ewig.”

 

Dieses „schnell vorübergehende Leichte unserer Drang­sal”, das solche herrlichen Ergebnisse hat, währt manchmal das ganze Leben hindurch, denn Gottes Tätigkeit an uns hat nicht diese Erde, sondern den Himmel zum Ziel. Jakobus sagt sogar: „Achtet es für lauter Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Versuchungen fallet (hier in dem Sinne von Prüfungen), da ihr wisset, daß die Bewährung eures Glaubens Ausharren bewirkt. Das Ausharren aber habe ein vollkommenes Werk, auf daß ihr vollkommen und vollendet seid und in nichts Man­gel habt” (Jakobus 1, 2-4).

 

Der Zweck, weshalb Gott Glau­bensprüfungen mit ihren herrlichen Ergebnissen sendet, kann nicht erreicht werden, wenn man die Prüfung zu beseitigen sucht. Im Gegenteil, es wird uns empfohlen, im Glauben die Weisheit zu erbitten, die imstande ist, uns dem Gedanken Gottes gemäß so durch die Prüfungen zu führen, daß deren voll­kommene Ergebnisse erreicht werden (Vergl. Verse 5-8). Die Prüfung ist also keineswegs etwas Außergewöhnliches (vergl. auch 1. Petrus 4, 12), das man so schnell wie möglich loszu­werden suchen sollte. Mag es Verfolgung, Krankheit oder sonst irgendeine Prüfung sein, die Kinder Gottes haben sie heute genau so nötig wie zu jeder anderen Zeit, ja, heute um so mehr, da Gott das Gericht über Sein Haus bringt, bevor Er es an der Welt vollzieht (1. Petrus 4, 17). Er reinigt und heiligt die Sei­nigen, um sie fähig zu machen, treu zu wandeln und Seine Gemeinschaft zu genießen. Prüfungen sind also Beweise des Wirkens der Gnade Gottes, Seines Liebe und Seiner Weisheit gegenüber Seinen Geliebten, und zwar im Blick auf die Herr­lichkeit, wo alle Ergebnisse Seines Tuns mit uns in Erscheinung treten werden. Es bedarf daher schon einer besonderen. und wirklich großen Unkenntnis der Wege Gottes, wenn man Ihn veranlassen will, Sein erzieherisches Wirken an den Seinigen aufzugeben.

 

Zieht man das in Betracht, so fällt es nicht schwer, einzusehen, wie weit die neuzeitlichen Krankenheiler von den Gedanken Gottes entfernt sind, wenn sie uns sagen: „Ihr braucht nicht krank zu sein. Ihr könnt auf der Stelle gesund werden, wenn ihr nur den Glauben dazu habt.” Heißt das nicht mit anderen Worten: „Gott behandelt euch verkehrt. Er täuscht sich im Blick auf euch, und wir wollen euch die Gesundheit wiedergeben”? Diese ganze Richtung leugnet die Regierungswege des Vaters Seinen Kindern gegenüber oder geht mit Still­schweigen darüber hinweg. Was machen die Leute, von denen wir reden, z. B. aus der Belehrung in Hebräer 12, 4-17? Wo findet in diesem Kapitel der Wille Raum, geheilt zu werden, wenn Gott uns sagt: „Mein Sohn, achte nicht gering des Herrn Züchtigung, noch ermatte, wenn du von ihm gestraft wirst; denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er geißelt aber jeden Sohn, den er aufnimmt. Was ihr erduldet, ist zur Züchtigung: Gott handelt mit euch als mit Söhnen; denn wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?”? Wie will man wirklich den Christen das Ergebnis der Zucht nehmen, die allein imstande ist, uns „Seiner Heiligkeit teilhaftig” zu machen und „die fried­same Frucht der Gerechtigkeit” bei denen hervorzubringen, „die durch sie geübt sind” (Verse 10 und 11)?

 

Wir wiederholen:

 

Der bestimmte Wille, jemand zu heilen, ist eine Verachtung der Zucht; er trägt ihr in keiner Weise Rech­nung. Die, welche dahingehende Ratschläge erteilen, entmutigen die Bekümmerten, indem sie sie beschuldigen, keinen Glau­ben zu haben, oder die Meinung in ihnen erwecken, ihre Lei­den seien nutzlos. Solche Ratschläge stehen in unmittelbarem Widerspruch mit den Gedanken Gottes und berauben die Seelen der Segnungen, die aus den vollkommenen Wegen Gottes her­vorgehen. Überdies ist es kein Zeichen von Gottesfurcht, wenn man Gott vorschreiben will, etwas zu tun oder nicht zu tun.

 

Die Krankenheiler von heute würden zweifellos den Apostel Paulus aufgefordert haben, seinen „Dorn im Fleische” von sich abzuschütteln. Der Apostel selbst hatte, bevor er die Gedanken des Herrn über diese Sache kannte, dreimal zum Herrn gefleht, Er möge von ihm abstehen, da er meinte, sie würde ihn in dem Werke, das ihm anvertraut war, hinderlich sein. Aber für ihn, wie für uns heute, lautete die vollkommene Antwort des Herrn: „Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwach­heit vollbracht”. Jetzt wußte Paulus, daß sein Wunsch, der ihn um Wegnahme des Dornes bitten ließ, viel sicherer in Erfüllung gehen würde, wenn der Dorn ihm blieb. Und nun rühmte er sich seiner. Oder ist ihm etwa der Dorn deswegen nicht ge­nommen worden, weil er nicht Glauben genug hatte, wie man von denen sagt, die dieser Art von Suggestion (Einwirkung, Beein­flussung) gegenüber unempfindlich sind.

 

Ist es diesen Krankenheilern niemals aufgefallen, daß unter all den Hunderten von wunderbaren Krankenheilungen, die uns im Neuen Testament berichtet werden, auch nicht ein einziger Fall ist, in dem ein Gläubiger geheilt wurde? Und das nicht, weil keine Gläubigen krank waren. Gott hat dafür gesorgt, daß wir erfahren sollten, daß auch Seine Kinder an Krankheiten teilhaben, solange sie auf dieser verfluchten Erde sind.

 

Der Herr Jesus sagt in Matthäus 25, 36: „Ich war krank … “. Epaphroditus war krank, dem Tode nahe (Philipper 2, 25-30). Und das nicht im Blick auf eine Sünde, wie in 1. Korinther 11, sondern um des Werkes des Herrn willen. Und Paulus hat ihn nicht durch ein Wunder geheilt.

 

Timotheus hatte Magenbeschwerden und war häufig krank (1. Timotheus 5). War Sünde die Ursache? Aus allem geht klar hervor, daß es nicht so war. Dennoch heilt Paulus ihn nicht, sondern gibt ihm den Rat, nicht länger nur Wasser zu trinken, sondern auch ein wenig Wein, denn dies sei besser für seinen Magen. Warum läßt Paulus Trophimus krank in Milet zurück und heilt ihn nicht? Geht aus dem 3. Johannesbrief Vers 2 nicht hervor, daß Gajus manchmal krank war? Warum wünscht der Apostel Johannes ihm so ausdrücklich Gesundheit des Leibes, „gleichwie es deiner Seele wohlgeht”?

 

Die Apostel taten nichts, um damit in Gottes Wege mit Seinen Kindern einzugreifen! Sollten sie so viel weniger Licht in Gottes Gedanken gehabt haben als diese Krankenheiler? O nein, sie wußten, daß ihr Vater, wenn Er sie durch Krankheiten gehen ließ, höhere Dinge im Auge hatte als leibliche Gesundheit.

 

 

 

Heilung von Ungläubigen

 

Aber wenn es nun nicht nach Gottes Gedanken ist, Gläubige auf solche Weise zu heilen, bleibt dann nicht die Heilung vom Ungläubigen als Zeichen übrig? Denn es ist doch nicht zu be­streiten, daß sowohl der Herr Jesus als auch die Apostel viele Ungläubige von ihren Krankheiten geheilt haben. Die Kranken­heiler berufen sich darauf, daß Gott unveränderlich Derselbe ist, und daß, so wie es früher Heilungen gegeben hat, es diese auch jetzt gibt.

 

Nun, es ist sicher wahr, daß Gott unveränderlich ist. „Denn ich, Jehova, ich verändere mich nicht” (Maleachi 3, 6). „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit” (Hebräer 13, 8). Aber das sagt nicht, daß Gott Sich immer auf dieselbe Weise offenbart! Hebräer 13, 8 heißt nicht: „Jesus Christus tut dasselbe gestern …” (Im Griechischen steht eigentlich nur: „Jesus Christus, gestern und heute derselbe und in Ewigkeit”. Es geht hier um die Unveränderlichkeit Seiner Person, nicht Seiner Handlungsweise).

 

Gott hat Sich in jeder der verschiedenen Zeitperioden der Geschichte des Menschen auf eine andere Weise geoffenbart.

 

Adam offenbarte Er Sich als der Schöpfer. Noah gegenüber als Der, der mit der Erde einen Bund schloß. Abraham gegenüber als der Allmächtige. Israel als Jehova, der Ewigseiende. Den Gläubigen heute als Vater. Und in dem kommenden Friedens­reich wird Er sich offenbaren als „Gott, der Höchste, der Him­mel und Erde besitzt”. Seine Offenbarung steht immer mit dem jeweiligen Charakter der Dinge in Verbindung.

 

Obwohl Gott der Unveränderliche ist, handelt Er deshalb nicht immer auf dieselbe Weise. Er offenbart sich und handelt in Übereinstimmung mit den Umständen. Das sehen wir zum Beispiel deutlich in Seinen Gerichten. Welch ein Unterschied zwischen der großen Flut, der Sprachverwirrung von Babel, den 10 Plagen, dem Umkommen von Pharao im Roten Meer, dem Gericht über Korah, Dathan und Abiram, über Nadab und Abihu und über Mirjam.

 

Nachdem Gott in 1. Mose 7 durch die Flut alles vertilgt hatte, was auf der Fläche des Erdbodens war, ausgenommen das, was mit Noah in der Arche war, sagte Er in Kapitel 8: „Nicht mehr will ich hinfort alles Lebendige schlagen, wie ich getan habe”.

 

Die Sünde von Ananias und Saphira kommt heute im Prinzip sicher sehr oft vor (man will mehr scheinen als man wirklich ist), und doch straft Gott sie heute nicht wie damals (Apostel­geschichte 5). Der Apostel Jakobus wurde durch Herodes gefangen genommen und getötet, während Petrus auf wunder­bare Weise aus dem Gefängnis befreit wurde.

 

Was wir in dem Abschnitt „Zeichen und Wunder” schon ge­sehen haben, finden wir bei der Heilung von Ungläubigen bestätigt. Das sind Zeichen, denn wir sprechen jetzt nicht über Gebetserhörungen. Gott erhört die Gebete seiner Kinder, und manchmal erhört Er auch Gebete von Unbekehrten. „Sie heuchelten ihm mit ihrem Мundе, und mit ihrer Zunge logen sie ihm; denn ihr Herz war nicht fest gegen ihn, und sie hielten nicht treulich an seinem Bunde. Er aber war barmherzig, er vergab die Ungerechtigkeit und verderbte sie nicht” (Psalm 78, 36). „Da gab er ihnen ihr Begehr, aber er sandte Magerkeit in ihre Seelen” (Psalm 106, 15). Ich kenne selbst einen Fall, wo Gott so das Gebet einer ungläubigen Mutter für ihr sterbendes Kind erhörte, daß der Arzt sagte, hier sei ein Wunder geschehen. Und dies wurde die Veranlassung, daß sie und ihr Mann zur Bekehrung kamen. Und daß Gott das Gebet seiner Kinder erhört – wer wüßte das nicht aus Erfahrung, auch in Fällen von Krankheit! Aber es geht hier nicht um wunderbare Gebetserhörungen, sondern um offenbare Dinge, um Zeichen.

 

„Gott war in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Sünden nicht zurechnend” (2. Korinther 5, 19). Zum Beweis kam der Herr Jesus in wunderbarer Gnade auf die Erde, wie einer der Menschen. Er offenbarte Seine Güte, indem Er ihre Kranken heilte, Aussätzige reinigte, Hungrige speiste. Ja, Er ließ erkennen, daß Er alle Folgen der Sünde wegnehmen wollte, indem Er ihre Toten auferweckte.

 

Die Welt verwarf die Gnade Gottes: sie kreuzigte den Herrn der Herrlichkeit. Aber Gott erweckte Ihn auf aus den Toten und setzte Ihn zu Seiner Rechten, indem Er sprach: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege zum Schemel deiner Füße“ (Hebräer 1,13). Bald kommt die Zeit, da Gott alles unter dem Herrn Jesus zusammenbringen wird, das, was in den Him­meln, und das, was auf der Erde ist (Epheser 1, 10). Und Gott kann das tun auf Grund des Werkes des Herrn Jesus am Kreuz, wo Er dеn Grund gelegt hat, auf dem alle Dinge mit Gott ver­söhnt sein werden (Kolosser 1, 20). Wir sind jetzt schon ver­söhnt. Aber alle Dinge (nicht alle Menschen) werden bald versöhnt werden.

 

Wenn der Herr Jesus auf die Erde kommt, um alles in Besitz zu nehmen (Matthäus 24, 30-31; Offenbarung 1, 7), wird der Fluch von der Erde weggenommen werden. Dann wird die Schöpfung freigemacht werden (Römer 8, 21). Die Wüste und das dürre Land werden sich freuen (Jesaja 35). „Kein Ein­wohner wird sagen: Ich bin schwach. Dem Volk, das darin wohnt, wird die Missetat vergeben sein” (Jesaja 33, 24). Krankheit und Tod werden nicht mehr sein (Jesaja 25, 8; 65, 20-22), ausgenommen im Fall öffentlichen Widerstandes ge­gen den Herrn Jesus (66, 24; Psalm 101, 6-8).

 

Aber dies ist noch zukünftig. Noch ist der Herr Jesus verworfen und verborgen auf dem Thron des Vaters. Aber Er ist durch die Apostel dеn Juden (und später den Nationen) vorgestellt wor­den als Der, durch den Zeiten der Erquickung kommen, wenn sie Ihn annehmen würden (Apostelgeschichte 3, 19-21). Und als Bestätigung ihres Wortes wirkte Gott mit durch Zeichen und Wunder, die Wunderwerke des zukünftigen Zeitalters (He­bräer 6, 5). So erkannte Gott das Neue an, als von Ihm kom­mend, und zeigte damit, daß der volle Segen bereit sei zu kom­men, wenn das Volk den Herrn Jesus annehmen würde.

 

Israel aber verwarf auch das Zeugnis des Heiligen Geistes und wurde beiseite gesetzt (Apostelgeschichte 7, 51-60; 28, 28). Und Gott gab Sein geschriebenes Wort, das Neue Testament, so daß keine Zeichen mehr nötig waren, um zu bestätigen, daß das Zeugnis von Ihm war. Konnte Gott Sich doch nicht länger öffentlich einsmachen mit denen, die von Ihm abwichen und in Ungehorsam ihren Weg gingen.

 

 

 

Die Bedeutung von Jakobus 5

 

Es ist vielleicht gut, hier noch etwas über Jakobus 5, 14-16 zu sagen, weil diese Verse auch oft gebraucht und mißbraucht wer­den. Wenn wir sie genau lesen, wird uns klar, daß sie nichts mit den „Gaben der Heilungen” in 1. Korinther 12, 9 zu tun haben. Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß es sich in Jakobus 5 um praktische Gerechtigkeit handelt in Verbindung mit den Regierungswegen Gottes, und das ist auch in Übereinstimmung mit dem ganzen Charakter des Briefes. Wie Hiob 36, 7 sagt, zieht Gott Seine Augen nicht ab von dem Gerechten. Die fol­genden Verse in Hiob 36 aber zeigen klar, daß das bei einem Abweichen Zucht zur Folge hat, auch um bei Sünden Einkehr und Umkehr zu bewirken. Aus dem Zusammenhang können wir sehen, daß Jakobus über Krankheiten spricht, die die Folge von Sünden sind, wo Gott also Krankheiten schickt als Zucht, weil der Betreffende gesündigt und sich darüber nicht gede­mütigt hat.

 

Kommt er nun zur Einkehr, so daß er sich unter Demütigung zu Gott wendet, dann ist Gott bereit, Gnade zu üben (Hiob 36, 11-14) – ausgenommen natürlich in dem Fall, wo eine Sünde zum Tode (1. Johannes 5) vorliegt. Diese Macht, Sünden zu vergeben (in Gottes Regierungswegen, also was diese Erde be­trifft), hat Gott auch der Versammlung gegeben (Matthäus 18, 18; 2. Korinther 2, 7-10), in bestimmten Fällen sogar allen Jüngern.

 

Der Kranke, der zur Einkehr kam, konnte sich also an die Ältesten wenden, als die durch Gott angewiesenen Personen, diese Vergebung zu gewähren. Als „Älteste” haben sie die geistliche Erfahrung und Nüchternheit, die Gedanken Gottes in solchen Umständen zu kennen. Bei den Juden, auch in den Versammlungen der Juden, finden wir keine offiziell angestellten Ältesten. Dort waren es einfach die ältesten Brüder, die auch in geistlicher Hinsicht Älteste waren. Wir können keine angestellten Ältesten haben, weil niemand da ist, der sie an­stellen kann. Überdies sind wir nicht die Versammlung, son­dern nur ein kleiner Teil von ihr.

 

Das ist jedoch für diese Frage nicht so entscheidend, denn Vers 16 enthält Gottes Vorsorge auch für unsere Zeit: „Be­kennet denn einander die Vergehungen und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet”. In Verbindung mit Vers 14 sehen wir also, daß ein Gläubiger die Brüder, die den Charakter und die geistlichen Eigenschaften von Ältesten tragen, bitten kann, an sein Krankenbett zu kommen; er bekennt ihnen seine Sün­den, die gemäß den Regierungswegen Gottes die Ursache für seine Krankheit sind, und er bittet sie, mit ihm und für ihn um Heilung zu beten. Und wenn dann sein Gebet und das Gebet dieser Brüder ein Gebet des Glaubens ist, wird Gott ihn wiederherstellen.

 

Es ist wichtig, daß die Heilung in diesen Versen nicht von der Stellung der Ältesten abhängig gemacht wird oder von der Salbung mit Öl, sondern von dem Gebet des Glaubens. Es ist also nicht so, daß sie hoffen, daß Gott Heilung schenken wird, sondern daß sie es sicher wissen. Könnte der Kranke diese Ge­wißheit haben, wenn er sich nicht wirklich gedemütigt hätte, wenn er die Krankheit nicht als Zucht aus Gottes Hand nehmen würde und nun wußte, daß Gott vergeben will? Können die Ältesten in diesem Glauben beten, wenn sie nicht die feste Überzeugung haben, daß Gott Sein Ziel mit der Krankheit erreicht hat und daß es keine Krankheit zum Tode ist (1. Johannes 5, 16)? Das ist nur möglich, wenn sie diesen Glauben in Gemeinschaft mit dem Herrn empfangen haben und dadurch gewiß sind, daß Gott dem Kranken Heilung schenken will.

 

Es ist völlig klar, daß dies etwas ganz anderes ist als das, was bei vielen sogenannten Glaubensheilungen geschieht. Wir müssen dabei auch noch berücksichtigen, daß der Jakobus­brief ein Übergangsbrief ist, der einzige Brief im Neuen Testament, der sich an die zwölf Stämme Israels richtet, wenn er auch die Gläubigen von der Masse des Volkes unterscheidet.

 

 

 

Wunderkräfte oder Gehorsam

 

Wir leben in den Tagen des Verfalls. Ein Kennzeichen der Endzeit, diesen schweren Zeiten in denen wir leben, ist dieses, daß man viel über Kraft spricht, aber wenig über Gehorsam gegenüber Gottes Wort. Die Erkenntnis, die man dadurch erwirbt, daß man einfältig den Schriften glaubt, wird verworfen. Dafür ist man geneigt, an die eine oder andere Kraft zu glauben, die nichts mit dem Heiligen Geist zu tun hat, aber die von dem Menschen bewundert wird, und die später, konzentriert in dem „Menschen der Sünde”, vollkommen ge­offenbart sein wird. Satan will sehr gerne denen, die begierig nach der einen oder anderen übernatürlichen Kraft ausschauen, seine Kraft geben, anstatt des Heiligen Geistes. Man braucht keinen außergewöhnlich scharfen Blick zu haben, um in un­seren Tagen die Vorläufer der „wirksamen Kraft des Irrtums” zu erkennen, von der der Apostel in 2. Thessalonicher 2 spricht.

 

Bei vielen Christen herrscht eine große Sehnsucht und Unzu­friedenheit auf geistlichem Gebiet. Sie fühlen, daß ihr Leben fruchtleer ist und sehnen sich nach einem höheren Niveau ihrer Erfahrungen. Vielfach kennen sie ihre Bibel und ihre herrlichen Segnungen in Christo viel zu wenig, und so entsteht in ihnen ein ungesundes Verlangen nach immer neuen, handgreiflichen Erfahrungen und starken Gemütsbewegungen. Aus Mangel an geistlichem Unterscheidungsvermögen schreibt man Gott und Seinem Geist etwas zu, was im Grunde das Ergebnis von Einbildung ist oder seelischen, ja oft sogar satanischen Ursprung hat (Spiritismus, Okkultismus).

 

Viele mögen aufrichtig sein, aber Aufrichtigkeit ist nicht Wahr­heit. Aufrichtigkeit allein ist kein Schutz gegen die vielerlei Verführungen. Nur die Liebe zur Wahrheit und der Gehorsam gegen die Wahrheit schützen uns gegen die religiöse Verwirrung unserer Zeit. Ist das Leben eines Gläubigen fruchtleer, so ist die Diagnose meist sehr einfach: Es fehlt an Erkenntnis und an Hingabe.

 

Die Getreuen, die den wahren Zustand der Versammlung sehen, sind vor allem um die geistliche Gesundheit besorgt, daß die Heiligen in der Wahrheit wandeln, in wahrer Ab­sonderung von der Welt und von allem, was nicht nach dem Willen des Herrn ist. Sie verlangen danach, daß dem Heiligen Geist und Seinem Dienst der Verherrlichung des Christus der volle Platz eingeräumt wird, daß die Glieder des Leibes des Christus ihr Verbundensein untereinander erkennen und an dem von Gott gegebenen Platz verwirklichen, da­mit die Heiligen, die Wahrheit festhaltend in Liebe, heranwachsen in allem zu Ihm hin, der das Haupt ist, der Christus. Wer so seinen Weg gehen will in einfältigem Gehorsam, erhält von Gott die Antwort auf das erhabene Gebet, das der Sohn an Ihn richtete in der Nacht, in welcher Er überliefert wurde: „Heilige sie durch die Wahrheit: Dein Wort ist Wahr­heit (Johannes 17, 17).

 

 

 

Ist die Heilung des Leibes in der Versöhnung inbegriffen?

 

Um die Behauptung zu bekräftigen, daß ein Gläubiger nicht krank zu sein braucht, behaupten die Krankenheiler (Gesundbeter), daß der Herr Jesus auch unsere Krankheiten getragen hat, und daß daher die Heilung des Leibes in dem Versöhnungswerk inbegriffen ist. Obwohl sie hierin alle übereinstimmen und alle auch als Schriftbeweise Jesaja 53, 4 und Matthäus 8, 17 anführen, stimmen sie doch in ihren Beweis­führungen nicht überein.

 

Matthäus 8, 17 sagt ausdrücklich, daß Jesaja 53, 4 erfüllt worden ist in dem Leben des Herrn Jesus und nicht bei Seinem Sterben. Und Matthäus gibt dazu auch die Erklärung. Der Herr trieb die Geister aus und heilte alle Leidenden, „damit erfüllt würde, was durch Jesaja gesagt ist, welcher spricht: „Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten” (Matthäus 8, 17).

 

Manche sagen, daß Satan durch den Sündenfall einen doppel­ten Fluch gebracht hat, nämlich Sünde und Krankheit, aber daß der Herr Jesus in Seinem Versöhnungswerk eine doppelte Wiederherstellung gegeben hat, nämlich Errettung und Hei­lung. Sie teilen nun Jesaja 53, 5 eigenmächtig in zwei Teile und damit ebenso das Versöhnungswerk des Herrn Jesus. „Doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Missetaten willen zerschlagen. Die Strafe zu un­serem Frieden lag auf ihm”: Dies bezieht sich auf unsere Sünden und ist an dеm Kreuze erfüllt. Das Folgende aber „und durch seine Striemen ist ins Heilung geworden” bezieht sich nach ihrer Meinung auf unsere Krankheiten, und dies habe sich erfüllt vor dem Kreuze, als der Herr Jesus vor dem Hohenpriester und vor Pilatus geschlagen und mißhandelt wurde.

 

Wahrscheinlich ist man einfach ausgegangen von dem Klang der Worte „Striemen” und „Heilung” und ist so zu dieser Schlußfolgerung gekommen. Man hat dabei vergessen, daß das Buch Jesaja Weissagung ist und wie alle anderen Weissagungen Bildersprache gebraucht. Und dabei hat man die wich­tige Grundregel vergessen, die Gottes Wort selbst für die Aus­legung von Weissagung gibt in 2. Petrus 1, 20. 21: „indem ihr dies zuerst wisset, daß keine Weissagung der Schrift von eigener Auslegung ist. Denn die Weissagung wurde niemals durch den Willen des Menschen hervorgebracht, sondern heilige Männer Gottes redeten, getrieben vom Heiligen Geiste. Nur wenn wir Schrift mit Schrift vergleichen, lernen wir die wirkliche Bedeutung einer Schriftstelle kennen.

 

Wer gibt uns denn das Recht, den Vers Jesaja 53, 5, der von dem Versöhnungswerk für unsere Sünden handelt, einfach zu teilen und damit auch das Werk des Herrn in einen Teil, der am Kreuz, und einen Teil, der vor dem Kreuze stattfand? Es gibt keine Schriftstelle hierfür. Spricht die Schrift nicht von Heilung der Seele in Verbindung mit Sünde (Psalm 41, 4 Matthäus 13, 15 und Markus 4, 12; Jeremia 3, 22; 6, 14; 14, 19)? Und wendet Petrus nicht gerade die Worte aus Jesaja 53, 5 auf das Werk des Herrn für unsere Sünde an (1. Petrus 2, 24)? Hier haben wir die Erklärung der Schrift selbst.

 

Bedeutet denn „das Tragen unserer Sünden” durch den Herrn in 1. Petrus 2, 24 keine Stellvertretung? Und wenn ja, warum bedeutet das Tragen unserer Krankheiten in Matthäus 8, 17 dann keine Stellvertretung?

 

Nun führen die Behauptungen der Krankenheiler oft zu den schlimmsten Folgerungen. Wenn der Herr Jesus unsere Krankheiten und Schmerzen stellvertretend getragen hat, dann war das nach Matthäus 8, 17 in Seinem Leben vor dem Kreuz. Aber dann wird Sein Werk geteilt in zwei Teile; ein Teil auf dem Kreuz, und ein Teil vor dem Kreuz. Während der drei Jahre soll der Herr also eine Versöhnung ohne Blut zustande gebracht haben für unsere Krankheiten und danach auf dem Kreuz eine Versöhnung mit Blut für unsere Sünden. Das ist eine Ketzerei, die bei keinem ein­sichtigen Christen Verteidigung finden wird.

 

Man hört auch die Ansicht:

 

„Diese drei: Sünde, Krankheit und Tod, sind die Werke des Teufels; Jesus war gekommen, sie zu vernichten (1. Johannes 3, 8). Und sie sind vernichtet durch das Leiden, Sterben und Auferstehen von Jesus Christus. Jesus hat unsere Krankheit getragen auf Golgatha“. Und daraus zieht man die Schlußfolgerung, daß Gott nicht will, daß wir krank sind, ebenso­wenig wie Er will, daß wir sündigen.

 

Nun, wenn Vorstehendes wahr wäre, würden wir sicher er­warten, dies im Brief an die Römer zu finden. Denn in diesem Brief wird uns die Lehre des Heils so deutlich vorgestellt: Vergebung der Sünden und Befreiung von der Sünde.

 

Aber dieser Brief sagt davon kein Wort. Im Gegenteil sagt Römer 8, 23. 24, daß wir in einer seufzenden Schöpfung leben und selbst auch seufzen, erwartend die Erlösung unseres Leibes; denn in Hoffnung sind wir errettet worden. Und 8, 11, sagt, daß unsere sterblichen Leiber in Zukunft lebendig ge­macht werden sollen.

 

Wenn die Heilung des Leibes von Krankheit und Tod tatsäch­lich in dem Versöhnungswerk stattgefunden hätte, ebenso wie die Sühnung für unsere Sünden, dann müßten wir doch an­nehmen, daß dies für alle drei dieselben Folgen hat.

 

Nun, niemand, der die Schrift kennt, wird leugnen, daß jeder, der den Herrn Jesus angenommen hat, vollkommen teil hat an Seinem Werk. Die Frage seiner Sünden ist dann endgültig ge­ordnet: sie sind für immer hinweggetan. Römer 4, 7; 5, 1. 9. 19; Epheser 1, 7; Kolosser 1, 12-14. 21; 2, 13; Hebräer 10, 14-18; 1. Petrus 2, 24 usw. Das hängt nicht von seinen Werken vor oder nach seiner Bekehrung ab, noch von seiner Einsicht in die Ausdehnung des Werkes des Herrn. Das ist allein aus Gnade.

 

Nun, dann müßten wir doch von unserer Bekehrung ab Krank­heit oder Tod nicht mehr kennen. Dann dürfte es auch für Gläubige keine Altersbeschwerden und kein Sterben mehr geben. Und das dürfte ebensowenig von unseren Werken abhängen, denn dann würde es keine Gnade mehr sein.

 

Und wenn Gott tatsächlich unser Teilhaben an dieser Seite des Werkes des Herrn Jesus davon abhängig gemacht hätte, daß wir es annehmen, dann würde das bedeuten, daß weder Paulus noch Petrus noch Johannes noch irgendein anderer Gläubiger in diesen mehr als neunzehnhundert Jahren es angenommen hat. Denn alle sind gestorben, wie ja auch die größten Führer dieser Bewegung.

 

Dann könnte es nicht wahr sein, was Philipper 1, 21 steht, daß Sterben Gewinn ist. Könnte ein Zustand, der im Wider­spruch mit Gottes Willen ist und aus dem Unglauben gegen­über Gottes Gedanken stammt, besser sein als das, was der Herr Jesus für uns am Kreuz bewirkt hat, und was Gott uns geben will?

 

Wie schrecklich würde dann das Wort von Paulus in 2. Ti­motheus 4, 6 sein: „die Zeit meines Abscheiden ist nahe”; und was Petrus in 2. Petrus 1, 14 schreibt: „da ich weiß, daß das Ablegen meiner Hütte bald geschieht, wie auch unser Herr Jesus Christus mir kundgetan hat”. Und alle Märtyrer, von Stephanus an, die dachten, für den Herrn zu sterben, wären dann nur wegen ihres Unglauben gestorben.

 

Wie schrecklich würde dann Paulus sich geirrt haben, als er in 1. Korinther 15 die Ankunft des Herrn als das einzige Geschehen vorstellte, wodurch Gläubige nicht mehr zu sterben brauchten. Und das in dem inspirierten Wort Gottes!

 

Doch genug! Es wird für jeden Unvoreingenommenen deutlich sein, daß diese Lehre in direktem Widerspruch steht zu Gottes Wort und in ihren Folgen geradezu verheerend wirken muß.

 

Gottes Wort lehrt uns, daß Krankheit, Leiden und Tod Folgen der Sünde sind. Der Herr Jesus hat durch Sein Werk am Kreuz den Grund gelegt zur Abschaffung der Sünde durch Sein Opfer (Hebräer 9, 26-28), und daß einmal Himmel und Erde, die ganze Schöpfung gereinigt und zu Gott zurückge­bracht werden wird (Kolosser 1, 20-22). Wir sind jetzt schon versöhnt und haben die Vergebung unserer Sünden. Die Frage der Sünde, was unser Verhältnis als Geschöpfe dem Schöpfer gegenüber betrifft, ist vollkommen gelöst. Wir sind auf immer­dar vollkommen gemacht (Hebräer 10, 14). Das ist die Errettung der Seele, die wir jetzt schon besitzen (1. Petrus 1,9).

 

Was unseren Leib betrifft, gehören wir noch zu dieser Schöpfung. Und obwohl der Herr Jesus auch unseren Leib erkauft hat (1. Korinther 6, 20), hat dieser doch praktisch noch nicht teil an der Errettung. Wir erwarten den Herrn Jesus als Heiland, „der unseren Leib der Niedrigkeit umge­stalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herr­lichkeit” (Philipper 3, 21). Jetzt haben unsere Leiber noch teil an der Sterblichkeit und Verweslichkeit (1. Korinther 15, 48-54).

 

Wir seufzen mit der ganzen Schöpfung, erwartend die Er­lösung unseres Leibes (Römer 8, 23). Wir haben teil an den Drangsalen und Leiden hier auf Erden (Römer 5, 3-6). Aber weil der Heilige Geist in uns wohnt, wissen wir, daß unser Vater diese Leiden zu unserer Erziehung gebraucht (Römer 5, 5; Hebräer 12). Und dabei gibt uns die Schrift die herrliche Versicherung, daß der Herr Jesus als Mensch auf Erden an all den Leiden teilgenommen hat, die unser Teil auf Erden sind, damit Er jetzt, als Hoherpriester im Himmel, Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, um uns zu Hilfe zu kommen als unser Mittler und Fürsprecher in vollem Be­wußtsein unserer Lage, unserer Schwierigkeiten, unserer Ge­fühle und der Gefahren, denen wir ausgesetzt sind (Hebräer 2, 10. 11. 18; 4, 15. 16; 5, 7. 8; 7, 25. 26 usw).

 

Das ist die Erklärung, die die Schrift uns von Jesaja 53, 4 und Matthäus 8, 17 gibt, das heißt, soweit wir diese Stellen auf uns anwenden können.

 

Wir dürfen nicht vergessen, daß Jesaja 53 Prophezeiung ist. Da werden uns prophetisch die Gefühle des gläubigen Überrests aus den zwei Stämmen (Juda und Benjamin) wiederge­geben, wenn sie den Herrn Jesus aus dem Himmel kommen sehen werden und erkennen, daß sie ihren Messias verworfen und gekreuzigt haben (Sacharja 12, 10-14; 13, 6-9). Wenn wir Jesaja 52, 53 und den Anfang von Kapitel 54 lesen, ist das vollkommen deutlich. Nun, das ist der Beginn des tausendjährigen Friedensreiches, wenn wirklich der Fluch von der Erde weggenommen sein wird, und die Menschen nur noch sterben werden durch ein öffentliches Gericht Gottes, wenn sie offenbar gesündigt haben (Jesaja 65, 19-25).

 

Das gleiche ist der Fall mit Psalm 103, der durch Hermann Zaiss, einem bekannten Gesundbeter, oft angeführt wurde, um das sogenannte Glaubensheilen zu rechtfertigen. Auch da finden wir den gläubigen Überrest aus Israel, der nach dem herrlichen Tag der Herrschaft des Christus ausschaut. Wenn Er jeden Morgen die Gesetzlosen des Landes vertilgen wird (Psalm 101, 8), wenn Sein Reich über alles herrschen wird (Psalm 103, 19), dann wird Er die Ungerechtigkeit von Jakob vergeben und seine Krankheiten heilen (Römer 11, 26). Dann wird sein Leben erlöst sein von der Grube (Psalm 103, 3-5), wie wir in Jesaja 65 gesehen haben.

 

Wenn die Lehrer der sogenannten Glaubensheilung „das Wort der Wahrheit recht geteilt hätten”, dann würden sie sich nicht zu schämen haben und vor Gott bewährt bestehen können (2. Timotheus 2, 15). Aber dann würden sie nicht mit dieser beklagenswerten Lehre gekommen sein, die der Heiligen Schrift direkt widerspricht, durch die so viele einfältige Seelen verführt werden, und dem Glaubensleben so viel Schaden zu­gefügt wird.

 

 

 

Einige weitere Kennzeichen des Irrtums

 

Wir haben bereits gesehen, daß die Grundsätze dieser Heilungs­bewegungen im Widerspruch stehen zur Heiligen Schrift; aber auch in anderer Richtung müssen wir leider feststellen, daß sie nicht das Kennzeichen des Heiligen Geistes tragen. Es werden in ihren Schriften die Stellen aus Gottes Wort so aus dem Zusammenhang gerissen und daraus so unmögliche Schußfolgerungen ge­zogen, daß es nicht möglich ist, auf alles einzugehen, ohne ganze Bücher zu schreiben. Die Anführung einzelner Zitate wird deutlich machen, welcher Geist aus diesen Schriften spricht.

 

Bei vielen Gelegenheiten wird Johannes 14, 12 angeführt: „Wer an mich glaubt, der wird auch die Werke tun, die ich tue, und wird größere als diese tun, weil ich zum Vater gehe”. Dies wird dann nur auf das Tun von Wundern bezogen. Und jeder Gläubige kann und muß somit größere Werke (und sie lesen dann: Zeichen) tun als der Herr Jesus tat.

 

Dies macht doch wohl deutlich, daß das nicht dem Sinn ent­spricht. Der Herr spricht nicht von Zeichen, sondern von Werken. Nun, am Pfingsttage und später sehen wir größere Werke. Nirgends sind durch die Predigt des Herrn 3000 Menschen an einem Tag bekehrt worden. Die größte Zahl an Gläubigen, von der wir vor dem Pfingsttage lesen, ist 500 (1. Korinther 15, 6). In Jerusalem waren nach der Himmelfahrt nur 120 zu­sammen.

 

Es ist ein Kennzeichen dieser Bewegung, dаß die irdischen Dinge für sie wichtiger sind als die himmlischen, geistlichen. Bei all den Zeichen, die Gott durch Seine Knechte tun ließ, war auch das Geben von Leben. Wir sehen das bei Moses in 2. Mose 8, 16-19. Alle Zeichen ahmten die Zauberer nach. Aber als Moses aus Staub Stechmücken machte, konnten sie dies nicht. Satan kann vieles nachmachen, aber Leben kann er nicht geben. Er kann durch seine Knechte Zeichen und Wunder tun, siehe z. B. Matthäus 24, 24 „Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen und Wunder tun, um so, wenn möglich, auch die Auserwählten zu verführen”. Die Ankunft des Gesetzlosen wird sein „nach der Wirksamkeit des Satan, in aller Macht und allen Zeichen und Wundern der Lüge”. Er wird bald selbst die Auferstehung nach­ahmen, als ob er auch Leben geben könnte (Offenbarung 13, 3). Aber Gottes Wort läßt uns erkennen, daß das Tier wohl „wie tot“ war, aber nicht wirklich tot. Der Antichrist wird große Zeichen tun und selbst Feuer vom Himmel herabkommen las­sen, – das bekannte Zeichen der Gegenwart Gottes. Dem Bilde des Tieres kann er nur Odem geben, nicht aber wirkliches Le­ben (13, 15).

 

Gott ist der Ursprung alles Lebens. Darum nennt Ihn die Schrift „den lebendigen Gott“. Darum gab Gott Seinen Knechten mit den Zeichen, die Er durch sie tun ließ, auch die Macht, Leben zu geben. Denn das konnte Satan nicht nachahmen, und das war schließlich das sichere Zeichen, daß Gott wirkte.

 

Wir sahen das schon bei Mose. Auch sehen wir es bei Elia und Elisa (1. Könige 17, 22; 2. Könige 4, 32-36). Wir sehen es bei dem Herrn Jesus, der sowohl eine eben Gestorbene, wie einen, der gerade zu Grabe getragen wurde, und einen, der schon vier Tage im Grabe gelegen hatte, auferweckte, so daß niemand sagen konnte, es sei nur ein Scheintoter gewesen. Der Herr gab auch den Auftrag, Tote aufzuwecken, als Er die Zwölfe aus­sandte (Matthäus 10, 8). Und in der Apostelgeschichte sehen wir, daß auch die Apostel Tote auferweckten (Apostelgeschichte 9, 36-41; 20, 9-12).

 

 

 

Die Anerkennung des Herrn JESUS als HERR

 

Römer 10, 9 sagt: „Wenn du mit deinem Munde Jesum als Herrn bekennen und in deinem Herzen glauben wirst, daß Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, wirst du errettet werden“.

 

In 1. Korinther 1, 2 werden alle Jünger zusammengefaßt mit den Worten: „samt allen, die an jedem Orte den Namen unse­res Herrn Jesu Christi anrufen, sowohl ihres als unseres Herrn”. Und in 1. Korinther 12, 3 steht: „niemand kann sagen: „Herr Jesus! als nur im Heiligen Geiste”.

 

Aus diesen Stellen geht hervor, daß Gottes Wort das Bekennen des Herrn Jesus als Herr, und das Sprechen von Ihm als dem „Herrn Jesus” das Kennzeichen der Jüngerschaft nennt, ja es mit der Errettung verbindet. Und nur durch die Wirkung des Heiligen Geistes kann ein Mensch Herr Jesus sagen, denn nie wird ein böser Geist das tun. Die Teufel (Dämonen) erkennen niemals den Herrn Jesus als Herrn an. Satan kann die Gestalt eines Engels des Lichts annehmen (2. Korinther 11, 14). Seine Engel können den Herrn Jesus „Sohn Gottes“ nennen (Matthäus 8, 29) oder „der Heilige Gottes“ (Markus 1, 24). Sie können öffentlich die Ehre von Knechten des Herrn ausrufen (Apostel­geschichte 16, 17). Aber niemals finden wir, daß ein böser Geist den Herrn Jesus Herr nennt.

 

Der Titel Herr ist nicht die höchste Herrlichkeit des Herrn Jesus. Er gibt nicht Seine persönliche und ewige Herrlichkeit an, son­dern eine Stellung, die Ihm nach dem Vollbringen des Ver­söhnungswerks und nach der Auferstehung gegeben worden ist (Apostelgeschichte 2, 36). Ihn als Herrn zu kennen, ist die einfachste Kenntnis, die ein Bekenner besitzen kann, denn das bedeutet nur die Anerkennung, daß der Herr Jesus Autorität über ihn hat. Aber die bösen Geister erkennen diese Autorität nicht an! Es kommt einmal der Tag, daß „in dem Namen Jesu” jedes Knie sich beugen wird, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und „jede Zunge bekennen wird, daß Jesus Christus Herr ist” (Philipper 2). Jetzt ist dies noch nicht so. Aber der Vater verlangt dies und stellt es zur Bedingung für das Errettetwerden. Das besagt natürlich keineswegs, daß je­mand, der Herr Jesus sagt, damit wiedergeboren ist. 1. Ko­rinther 12 sagt nur, daß niemals ein böser Geist einen Menschen dazu bringt, „Herr Jesus” zu sagen.

 

Nun, dieses Kennzeichen der Jüngerschaft wird in dieser Be­wegung so gut wie nicht gefunden. In ihren Schriften steht sehr oft „Jesus” oder „Christus” oder „Jesus Christus”, aber fast nie „Herr Jesus”.

 

 

 

Die Gottheit des Herrn Jesus

 

In der Broschüre „Leben in Überfluß” steht: „Vielleicht denkt jemand, daß Jesus Wunder tun konnte, weil Er eigentlich Gott war, aber so ist es nicht. Er war Gott vor der Schöpfung, aber Er legte alle Seine Gottheit ab und wurde Mensch wie wir, aus­genommen die Sünden”.

 

Selbst die ersten Worte aus dem zweiten Satz, die bei ober­flächlichem Lesen sehr schön klingen, gehen nicht weiter als das Gott entehrende Bekenntnis der Arianer: „Ich behaupte, dаß der Sohn vor den Zeiten seinen Anfang hatte aus dem Vater, Gott aus Gott, Licht aus Licht. Aber ich behaupte, daß Er dem Vater nicht gleich ist” (Bischof Germinius in dem theologischen Gespräch, das am 3. Januar 366 in Ser­mium, im heutigen Jugoslawien, stattfand).

 

Der Herr Jesus ist nicht „Gott seit vor der Schöpfung”, sondern Er ist der „ICH BIN”, der EWIGE, so wie der Vater, und so wie der Heilige Geist. Und das war Er auch auf Erden. Er war der ewige Gott, als Er in der Krippe von Bethlehem lag. Er war es, als Er, ermüdet von der Reise, hungrig und durstig am Jakobs­brunnen saß (Johannes 4). Und Er war es, als Er am Kreuz das wunderbare Erlösungswerk vollbrachte.

 

Er ist wahrhaftiger Mensch geworden, geboren von einem Weibe. Aber Er war „Gott geoffenbart im Fleische” (1. Tim. 3, 16); „Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist” (Johannes 1, 18). In Ihm wohnte die ganze Fülle der Gott­heit leibhaftig (Kolosser 2, 9). Gott sprach im Sohn (wörtlich: „Gott sprach in Sohn” – ohne Artikel) Hebräer 1, 1. Konnte Gott aufhören, Gott zu sein? Konnte der Dreieinige Gott auf­hören, der Dreieinige Gott zu sein?

 

Er war der wahrhaftige Gott, und Er war wahrhaftig Mensch. Doch eine Person. Wehe dem Menschen, der in dieses Wunder­bare eindringen will. Wehe dem Menschen, der Ihn auf einen Boden mit uns bringen will, und wäre es auch als den Vor­nehmsten (Lukas 9, 33-36). Der Vater wacht über die Ehre Seines Sohnes, der in wunderbarer Herrlichkeit den Platz der Unterwürfigkeit unter den Willen des Vaters freiwillig ein­nehmen wollte (Johannes 8, 50).

 

Selbst der letzte Buchstabe des oben zitierten Satzes ist falsch und greift die Herrlichkeit des Sohnes Gottes an. Es muß nicht heißen „ausgenommen die Sünden”, sondern „ausgenommen die Sünde”. Er hatte nicht nur nicht gesündigt, sondern es war auch keine Spur von einer sündigen Natur in Ihm. „Der, der Sünde nicht kannte” (2. Korinther 5, 21). „Sünde ist nicht in ihm” (1. Johannes 3, 5). „Das Heilige, das geboren werden wird, wird Sohn Gottes genannt werden“ (Lukas 1, 35). Hier muß ich an das Wort von Maria denken: „ …Weil sie meinen Herrn weggenommen, und ich nicht weiß, wo sie ihn hingelegt haben” (Johannes 20,13).

 

Das schlimmste dabei ist, daß Menschen dies schreiben und lehren, die behaupten, die Fülle des Geistes empfangen zu haben; und die behaupten, daß das, was sie sagen und schrei­ben, durch den Heiligen Geist inspiriert ist.

 

Gottes Wort lehrt uns, daß es drei Quellen gibt, aus denen Zeichen, Wunder, Prophezeiung, Heilungen usw. hervorkom­men können:

 

1) Die göttliche Quelle, Joel 2, 28 – 32
2) Eine menschliche Quelle, Jeremia 23, 16. 25 – 27; Hesekiel 13, 2
3) Die teuflische Quelle, Offenbarung 16, 13. 14; Apostel­geschichte 16, 16; 1. Könige 22, 21- 22.

 

Und daneben lehrt uns Gottes Wort, daß eine Vermengung von Einflüssen vorliegen kann (siehe Matthäus 16, 21-23; Philipper 1, 14-17).

 

Kann eine Bewegung, bei der sowohl die Grundsätze als auch die praktischen Äußerungen so sehr in Widerspruch zu Gottes Wort stehen, und in der so viele Dinge vorkommen, durch die der Herr Jesus entehrt wird, aus Gott sein? Aber aus welcher Quelle kommt sie dann?

 

Ja, es gibt Gläubige in dieser Bewegung. Ich kenne einige per­sönlich, die ich sehr liebhabe, und ich bete für sie, daß Gott sie aus diesen Banden befreie.

 

Weil es Gläubige darin gibt, vielleicht sogar viele, kann nicht alles verkehrt sein. Wo die göttliche Natur da ist, muß sie sich auf die eine oder andere Weise zeigen. Aber die Frage ist nicht, ob alles verkehrt ist, sondern die einzige Frage ist, ob die Grundsätze nach Gottes Gedanken sind, und ob der Ge­horsam gegen den Herrn Jesus uns dahin bringt. Und darin gibt es für mich nur eine Antwort: Nein! Die Stimme, die aus dieser Bewegung klingt, ist nicht die Stimme des guten Hirten, die Stimme Dessen, der Sein Leben für mich gelassen hat. Und mein tägliches Gebet ist:

 

O Herr, dies eine bleibe mir,
daß stets ich wandle treu mit Dir!

 

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Sohn Gottes u. Islam (H.Leiner)

Hanns Leiner

Jesus Christus – der Sohn Gottes

Warum der Islam dieses christliche Glaubensbekenntnis bestreitet und wir dennoch dabei bleiben

Mohammed widerspricht hier entschieden, weil er befürchtet, dass durch den Ausdruck »Sohn Gottes« heidnische Vorstellungen von Gott ins Christentum eingedrungen sind und zudem ein Rückfall in den Polytheismus geschieht. Das trifft nicht zu.
Aber es genügt nicht, dem islamischen Einspruch gegenüber einfach die Gottessohnschaft Jesu zu behaupten. Wir müssen vielmehr versuchen, deutlich zu machen, was wir mit dieser Aussage eigentlich meinen und was nicht und begründen, warum sie wohlbegründet und sinnvoll, ja sogar notwendig ist. Es wird zwar schwierig bis unmöglich bleiben, einem Moslem das plausibel zu machen, aber man darf es doch nicht unversucht lassen. Es scheint mir auch für unsere eigenen Gemeindeglieder und ihren Glauben wichtig zu sein, das zu begründen.

Missverständnisse
Zunächst müssen wir klarstellen, was wir damit nicht meinen, um vorhandene Missverständnisse aus dem Weg zu räumen:
Wir meinen nicht, wie die Muslime anscheinend denken, dass Gott mit einer menschlichen Frau einen Sohn gezeugt habe, wie das verschiedene heidnische Religionen (Ägypten, Griechenland u. a.) von ihren Göttern erzählen. Abgesehen davon, dass wir es dann bei Jesus nur mit einem Halbgott zu tun hätten, wäre das auch für unser Gottesverständnis ebenso unerträglich wie für das islamische. Dazu sagen wir mit der gleichen Entschiedenheit nein wie die Muslime. Wenn sie nur das ablehnen würden, wären wir uns mit ihnen in dieser Frage einig.
Wir glauben auch nicht, dass Gott Vater und sein Sohn zwei Götter seien, weil das tatsächlich einen Rückfall in den Polytheismus darstellte. Auch wir bekennen uns zu dem einen Gott, allerdings zu einer solchen göttlichen Einheit, in der Vater und Sohn aufs Innigste miteinander verbunden sind. Dazu gehört auch noch der Heilige Geist. Wir drücken das deshalb aus in dem Wort Trinität, und das heißt eben nicht »Dreiheit«, sondern eigentlich »Tri-unitas«, also Drei-Einigkeit oder auch Drei- Fähigkeit. Es handelt sich um den einen Gott, der sich auf verschiedene Weise zeigt und wirkt. Dass wir nicht einfach bei der numerischen Einheit bleiben wie der Islam, hängt mit den verschiedenen Erfahrungen zusammen, die wir mit Gott und seiner Offenbarung machen.



Islamisches Gottesverständnis
Wer und wie ist Allah? Das kann man eigentlich nicht sagen. Auch die Muslime wissen es im Grunde nicht. Das braucht einen nicht zu wundern. Denn Wer bestätigt sich das, was im 1. Johannesbrief geschrieben steht: »Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, der hat auch den Vater« (1.Johannes 2,23).
Der Islam aber bestreitet vehement, dass Jesus/Isa der Sohn Gottes ist: Im Koran heißt es: »Es sprechen die Nazarener: >Der Messias ist Allahs Sohn< … Sie führen ähnliche Reden wie die Ungläubigen zuvor. Allah schlag sie tot!« (Sure 9,30; ferner Sure 4,169; 5,77; 6,101; 9,30; 17,111; 19,36; 23,93; 43,64; 72,3) Der Koran setzt dagegen die Aussage: »Der Messias Isa, der Sohn der Maria, ist der Gesandte Allahs … So glaubet an Allah und an seinen Gesandten und sprecht nicht: Drei! Stehet ab davon!« (Sure 4,169f.) Als Gesandter oder Prophet ist Isa nur Allahs Knecht: »Er [Isa] sprach: Siehe, ich bin Allahs Diener« (Sure 19,31).
Das heißt, Isa steht Allah nicht wesentlich näher als andere Propheten, er trägt nicht sein Wesen an sich, er offenbart darum Allah nicht, er bringt – wie jeder andere Prophet – nur sein Wort und seinen Willen. Damit gehört er auch nur zu den Knechten oder Dienern Allahs, mehr nicht. Allah ist also nicht sein Vater (und schon gar nicht unserer). Darum kann man in ihm Allah auch nicht als Vater erkennen. Das wäre viel zu familiär, zu menschlich, zu »ungöttlich«. Es führt darum keine direkte Brücke von Isa zu Allah. Durch Isa kommt der Moslem nicht einen Schritt näher zu Allah. Isa wiederholt nur, was die Propheten vor ihm auch immer schon gesagt haben, nämlich was Allah von uns haben will und was nicht. Isa sagt uns über Allah nichts Neues. Der Moslem braucht also Isa nicht unbedingt für sein Verhältnis zu Allah. Isa könnte durchaus fehlen für seine Religion. Er bestätigt und wiederholt nur das allgemein islamische Gebot.
Damit widerspricht der Islam grundlegend dem zentralen christlichen Bekenntnis: Er reißt so für uns die entscheidende Brücke zu Gott ein, er widerspricht der christlichen Gewissheit, dass uns in Jesus Christus die einmalige Erkenntnis Gottes als Vater geschenkt ist und verbaut damit den Zugang zum väterlichen Gott. Darum darf ein Muslim das Vaterunser nicht ernsthaft mitbeten.
Die Folgen dieser islamischen Bestreitung Jesu als Sohn Gottes sind einschneidend und verhängnisvoll: Wenn man so wie der Islam die letzte, entscheidende Offenbarung Gottes in Jesus streicht, dann bleibt von der eigentlichen Gotteserkenntnis so gut wie nichts mehr übrig: Nichts als die Ferne, Größe, Macht, Überlegenheit, Unzugänglichkeit, Unsichtbarkeit und also Fremdheit Allahs gegenüber den Menschen. Allah bleibt immer oben, er steigt nicht herab, er tritt nicht aus sich heraus, er gibt sich nicht selbst zu erkennen, er gibt nichts von sich preis, er kümmert sich nicht wirklich um die Menschen, er liebt nicht, seine oft erwähnte »Barmherzigkeit« hat nichts mit seinem Wesen zu tun, ist nichts als die gönnerhafte Laune eines großen Herren, er schließt auch keinen Bund mit einem Volk oder den Menschen, er ist darum zu nichts verpflichtet, er bindet sich nicht an Menschen; kurzum: Er hat kein Herz, und wenn man doch von seinem Herzen sprechen wollte, dann lässt er keinen Menschen einen Blick in sein Herz tun.
Es läuft alles darauf hinaus: Allah ist absoluter Herr und Herrscher, und der Mensch sein Knecht oder Sklave (Abd), der sich ihm bedingungslos unterwerfen muss (Islam). Damit rückt Allah – im Vergleich mit dem christlichen Gott – in weite Ferne, er verschließt sein Wesen vor uns, er hat keine persönliche Beziehung zu uns, dafür gilt er als zu groß und wir zu klein. Wir tragen natürlich nach islamischem Verständnis auch nicht »sein Ebenbild« (1.Mose 1,27). Allah zieht sich gleichsam aus seiner Welt zurück in den Himmel und wird wieder ganz zu dem, den Luther den »verborgenen Gott« genannt hat. Dieser ist zwar sehr mächtig und erhaben, aber zugleich auch für uns erschreckend; ihn muss man fürchten und ihn kann man eigentlich auch nicht verstehen und lieben. Das soll man wohl auch nicht, jedenfalls kommt es darauf nicht an. Man soll vor allem ihm gehorchen und sich ihm unterwerfen. Doch selbst wenn man das tut, weiß man immer noch nicht, ob er einen am Ende im Gericht freispricht. Es bleibt eine letzte Ungewissheit, weil er in seiner Überlegenheit zu nichts verpflichtet ist und alles letztlich von seiner freien und souveränen Entscheidung abhängt. Es heißt immer im Islam: »Wenn Allah will…« Man kann durchaus sagen: In Allah hat sich Gott selbst eigentlich gar nicht offenbart.

Mohammed ließ vom biblischen Gott nur diesen fernen Allah in seiner unnahbaren Distanz zum Menschen übrig, während Jesus der Prediger des nahen, menschenfreundlichen Gottes war. Und Jesus verkündigte ihn nicht nur, sondern er verkörperte ihn; in ihm als dem Sohn kam dieser väterliche Gott zu uns und »wohnte unter uns«.


Die Antwort des christlichen Glaubens
Als Christen glauben wir, dass Gott in Jesus Christus die Sehnsucht der Menschheit nach der endgültigen Selbstoffenbarung Gottes erfüllt hat, in ihm aus seiner Verborgenheit herausgetreten ist und sich selbst in der Welt ein für alle Mal offenbart hat: »Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit« (Johannes 1,14). Jesus Christus ist dieser menschgewordene Gott. Dieser hat sich uns in seinem Sohn selbst gezeigt und sein Wesen offenbart. In ihm haben sich Gottes Transzendenz (Jenseitigkeit) und Immanenz (Diesseitigkeit) miteinander verbunden. Jetzt gilt das, was im Johannesevangelium über ihn steht: »Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt« (Johannes 1,18).
In Jesus Christus sind Gottheit und Menschheit in einmaliger Weise miteinander verbunden. Er bringt uns den fernen Gott nahe, weil er ihn kennt und das nicht für sich behält: »Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn, denn nur der Vater, und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will« (Matthäus 11,27). Er ist also genau der Vermittler zwischen Gott und uns, den wir brauchen. In ihm geschieht das Wunder der Inkarnation (Verleiblichung) Gottes, auf das wir unbedingt angewiesen sind, um mit Gott in Verbindung kommen zu können und um zu wissen, was er mit uns vorhat. Darum ist die Rede davon, dass Jesus der Sohn Gottes ist, nicht nur möglich und erlaubt, sondern für uns notwendig und unerlässlich.
Wenn wir von Jesus als dem Sohn Gottes sprechen, dann meinen wir damit nicht einfach nur seine Göttlichkeit, sondern seine Doppelnatur, die ungeheure Spannung, die in seinem Wesen lebt: Zur Gottheit kommt bei ihm die Menschheit hinzu, oder umgekehrt zur Menschheit die Gottheit. In seinem irdischen Leben ist seine Göttlichkeit zunächst verborgen und man sieht an dem Mann aus Nazareth nur den Menschen. Dennoch machten die Menschen, die ihm begegneten, an ihm Erfahrungen, die sie staunen und bestürzt fragen ließen: Woher hat er das? Woher nimmt er dazu die Vollmacht, Kraft, Liebe und das Wissen? Sie ahnten das Mehr, das in ihm steckte und sagten: »So etwas haben wir noch nie gesehen!« (Markus 2,12)
Sie erleben dabei an dem irdischen Jesus beides: Niedrigkeit und Hoheit, Leiden und Herrlichkeit, Schwäche und wunderbare Stärke, Selbsthingabe und ein unglaubliches Selbstbewusstsein, Niederlage und Sieg, menschliche Not und Reichtum, Schmerzen und deren Überwindung, Kreuzestod und Auferweckung, Tod und Leben, kurzum: ganze Menschlichkeit und ganze Göttlichkeit, »wahrer Mensch und wahrer Gott«, wie Luther im Kleinen Katechismus schreibt.
Dabei ist beides in ihm so verbunden, dass man sagen kann: Gerade in seiner selbstlosen Menschlichkeit, in der Fürsorge, dem Erbarmen und der Liebe zu den anderen, erfahren wir seine Größe und Göttlichkeit. Im Menschen Jesus kommt uns Gott ganz nahe, geht uns Gott erst richtig auf. In seinem ganzen Wesen spüren wir den, der ihn gesandt hat, den er vertritt, der in ihm lebt und der uns aus seinem Angesicht liebend ansieht. So haben es die selbst bezeugt, die ihn erlebt haben, die ihm begegnen durften und die ihn glaubend erkannt haben: Sie sehen die Herrlichkeit Gottes »in seinem Angesicht« (2.Korinther 4,6). Sie erkennen und bekennen: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kolosser 1,15). »Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens« (Hebräer 1,3). Er ist auf jeden Fall mehr als alle Großen des Alten Testaments, auch mehr als alle Religionsgründer und -stifter, er übertrifft alle Würdenamen und sprengt alle Kategorien, er ist einzigartig und einmalig.

In ihm begegnet uns der sonst verborgene Gott, er schlägt die Brücke zwischen ihm und uns, er verbindet uns mit Gott, er versöhnt uns mit Gott, er bringt uns Gott nahe und hilft uns dazu, dass wir Gott vertrauen können. In ihm berühren sich Himmel und Erde, Gott und Mensch in einer einmaligen Weise. Darin besteht das Besondere an ihm, dass er die Nahtstelle ist zwischen Gott und Menschheit, der Weg und Zugang zu Gott, die Erscheinung Gottes in der Welt, die Vermittlung des Getrennten, die Offenbarung des Verborgenen. Er bringt Gott uns nahe und hilft uns so dazu, dass wir Gott vertrauen können. In ihm berühren sich Gott und Mensch in einer einmaligen Weise. Ich habe dafür als einprägsame Kurzformel für mich und meine Schüler den Satz gefunden: »So wie Jesus ist, so ist Gott.« Denn in Jesus lebt Gott, darum darf er sagen: »Ich und der Vater sind eins« (Johannes 10,30) und »Wer mich sieht, der sieht den Vater« (Johannes 14,9). Das heißt: Wenn wir wissen wollen, wer und wie Gott wirklich ist, und wie wir mit ihm daran sind, dann sollen wir auf Jesus schauen und hören, dann wissen wir es gewiss. Das ist an ihn gebunden. Darum gilt umgekehrt: Ohne Jesus geht das nicht. »Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht« (1.Johannes 2,23). Jesus ist für uns der nahe gekommene, freundliche, väterliche, hilfreiche, gnädige Gott. Ihm können wir uns anvertrauen, das heißt glauben. Das macht uns froh und gewiss.
So versuche ich die sonst – nicht nur für Muslime – vielleicht abstrakt erscheinende Zwei-Naturen-Lehre Christi vom Leben und Wirken Jesu her zu verstehen und zu veranschaulichen und sinnvoll zu machen. Hinter der Lehre steht die Glaubenserfahrung derer, die Jesus gesehen und mit ihm gelebt haben. Er ist der Eine, der Gott nicht nur nahe war (wie der Koran von ihm sagt), sondern der völlig mit Gott verbunden und eins ist und der ihn darum kennt wie kein anderer.
Das bedeutet natürlich auch, dass wir Jesus nicht in Konkurrenz zu Gott sehen, sondern als die uns zugewandte Seite Gottes. Er nimmt Gott nichts weg, vielmehr gibt er ihm gerade die Ehre und verherrlicht seinen Vaternamen, indem er ihn uns so zeigt, dass auch wir ihn als Vater erkennen können und ihn als Vater anrufen lernen. Deswegen handelt es sich beim Glauben an Jesus nicht um sündhafte »Beigesellung« (wie der Koran behauptet), sondern um hilfreiche Ermöglichung des Glaubens an Gott überhaupt. Ohne ihn bliebe Gott der Verborgene, Unzugängliche, Rätselhafte und Unheimliche für uns. Wir müssten ihn nur fürchten und fliehen, weil wir ihn nicht verstehen, ihm nicht recht dienen, ihn darum nicht ertragen und nicht lieben könnten. Man sieht das ja gerade am Islam deutlich, dessen Verständnis von Allah hauptsächlich die Züge dieses Fernen, Erhabenen, Unfassbaren, die Menschen letztlich Bedrohenden annimmt. So ginge es uns ohne Jesus auch. Ein Theologe unserer Tage hat das einmal so ausgedrückt: »Ohne Jesus wäre ich Atheist.« Das kann ich gut verstehen, weil Gott ohne Jesus für uns nur fern oder unerträglich wäre. Martin Luther hat das noch drastischer gesagt: »Außer Christus Gott zu suchen – das wäre der Teufel.« Das heißt, dann wäre Gott so schrecklich für uns wie der Teufel. Erst Christus nimmt uns die Furcht vor Gott, ermöglicht uns den heilvollen Zugang zu Gott, gewinnt durch seine Liebe, die aus Gottes Liebe stammt, unser Herz und entzündet so in unseren Herzen Gegenliebe zu Gott: »Denn darin besteht die Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden. … Gott ist die Liebe. … Lasset uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt« (1 Johannes 4,10.16.19).
Durch Jesus ist die Gottesfrage und die Gottesnot ein für alle Mal zu unserem Heil beantwortet und gelöst. Darum ist er für die Gottesbegegnung aller Menschen unentbehrlich.

Fazit
Es hat sich damit bestätigt: Wer Jesus als den Sohn Gottes nicht anerkennt, der kann auch Gott nicht zum Vater haben. Darin besteht der Grunddissens zwischen dem Islam und uns Christen. Dieser Gegensatz kam übrigens dadurch zustande, dass Mohammed der Gottesgewissheit widersprach, die uns in Jesus Christus gegeben wird, und dadurch den uns im Sohn nahegekommenen Gott wieder zu einem fernen Gott werden ließ, uns den Zugang zu Gott also verschließen wollte. Mohammed veränderte, verkehrte, verdunkelte und verfälschte das biblische Zeugnis von dem barmherzigen Vater: Denn er widersprach

■ dem christl. Zeugnis von dem nahen Gott, der väterlichen Liebe Gottes zu uns als seinen Kindern,

■ besonders dem göttlichen Erbarmen gegenüber den Sündern,

■ der Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus,

■ der Selbsterniedrigung Gottes in Jesus Christus, besonders im Kreuzestod

■ und dem liebenden Vertrauen des Christen auf die Gnade Gottes in Christus.
Damit widerspricht der Islam allen wesentlichen Aussagen des christlichen Gottesglaubens und wird so zu einer antichristlichen Religion. Als solche hat er sich auch im Laufe seiner Geschichte bis zum heutigen Tag immer wieder gezeigt.
Wir müssen diesen Widerspruch des Islam
zurückweisen. Wir tun das im Vertrauen auf das
Zeugnis des Neuen Testamentes über das Leben
und Wirken Jesu Christi, das so viel lebendiger,
tiefer und überzeugender ist als das blasse Bild
von Isa im Koran. Wir sind froh und dankbar,
dass uns Gott in seinem Sohn sein Herz aufgetan hat und uns sich in ihm als Vater erzeigt hat.
Durch ihn sind wir mit Gott als unserem himmlischen Vater verbunden und versöhnt. Mit dem
Apostel Paulus bekennen und bezeugen wir deshalb allen Menschen, auch den Muslimen: »Ich
bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder
Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes
noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus
Jesus ist, unserem Herrn« (Römer 8,38f). 

Studiendirektor Pfarrer Hanns Leiner, Augsburg

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Die Kunst der Ehe (Wilder-Smith)

Arthur E. und Beate Wilder-Smith

Kunst und Wissenschaft der Ehe

–  Der Text ist leicht gekürzt. Auch die Hervorhebungen wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im Januar 2013  –

 

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
Allgemeines über die Sexualität
Kapitel 2
S
chwangerschaftsabbruch
Kapitel 3
Die Praxis von Sex
Kapitel 4
Das Verhältnis des jungen Christen zu ungläubigen Eltern und Verwandten
Kapitel 5
Die Wahl eines Ehepartners
Kapitel 6
Kindererziehung
Kapitel 7
Das Verhältnis zum anderen Geschlecht

Allgemeines über Sexualität

1) Biologische Muster
Fast die ganze biologische Welt pflanzt sich durch das Zusammenkommen der Geschlechter, also durch Sex fort. Einige biologische Spezies weisen Ausnahmen auf. So z. B. die Arten, die sich rein vegetativ oder durch Zellteilung (Mitose) fortpflanzen. . . .
Einzelne Arten befruchten sich selbst („endogener Sex”). Gewisse Pflanzenarten gehören in diese Kategorie.
Beide Geschlechtsorgane kommen in einem Individuum vor, so daß männliche und weibliche Formen dieser Arten für den Austausch des Samens nicht zusammenkommen müssen. Das Sexleben ist hier endogen (im Individuum) und nicht exogen (zwischen Individuen).
Wiederum andere biologische Arten sind hermaphrodit. Jedes Individuum besitzt zur gleichen Zeit männliche und weibliche Geschlechtsorgane. Aber die Befruchtung wird im Individuum (endogen) nicht vollzogen. Zwei Individuen dieser Art müssen geschlechtlich zusammenkommen, wobei beide Individuen männlichen Samen austauschen. Nach diesem gegenseitigen Austausch legen beide Individuen befruchtete Eier. … Jedes Tier legt also Eier, und jedes Tier funktioniert zur gleichen Zeit als männliches und als weibliches Wesen.

2) Der Mechanismus des Geschlechts
Der Mechanismus des Geschlechts – die Art und Weise des Zusammenkommens der Geschlechter, um den männlichen Samen zu übertragen, und die Methodik der Entwicklung der Zygote (des befruchteten Eies), sei sie innerhalb oder außerhalb der Mutter (oder des Vaters) – ist sehr wichtig. Die physische Weise der Befruchtung des Eies bei Tieren und Pflanzen, wo und wie die Zygote sich entwickelt, ist das Alpha und das Omega der Kategorisierung der Tiere und der Pflanzen in ihren Familien nach heutiger biologischer Nomenklatur. Auch bei Menschen ist der Mechanismus des Geschlechts für biologische Zwecke maßgebend. Nach diesem Mechanismus zu urteilen, sind wir Menschen Plazentasäugetiere. D. h., wir ernähren das Embryo an einer Plazenta (= Mutterkuchen) in einer Gebärmutter und dann nach der Geburt an der Brust mit Milch.

Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß wir Menschen, biologisch gesehen, anderen Plazentasäugetieren in diesem Punkt ähnlich sind. Besonders die Menschenaffen (Primaten) weisen auf diesem Gebiet Ähnlichkeiten mit Menschen auf. Die Gruppe der Primaten schließt den Menschen in sich.

Bei unserem Geschlechtsleben kommt aber darüber hinaus vieles hinzu, das bei den Tieren, selbst bei den Primaten, nicht vorhanden ist. Denn der rein physische Mechanismus von menschlichem Sex stellt nur einen Aspekt der menschlichen Fortpflanzung dar. Bei uns Menschen ist die rein physische Seite des Geschlechts schon wichtig, doch in keiner Weise das Alpha und das Omega des Phänomens. Sie ist wichtig, doch ist sie anderen Überlegungen in einer Weise untergeordnet, die bei nichtmenschlichen Organismen nicht der Fall ist. Tiere verkehren geschlechtlich zu einem großen Teil auf der Basis von Instinkten und Hormonen miteinander. Bei gewissen höheren Tieren spielen natürlich soziologische Faktoren eine zusätzliche Rolle. Als Beispiele können gewisse Affenarten zitiert werden. Bei weniger entwickelten Säugetieren und Vogelarten nimmt die relative Bedeutung von Hormonen und Instinkten zu.
Die rein physische, hormonale, instinktive Seite von menschlichem Sex ist zusätzlichen geistigen und auch geistlichen Faktoren untergeordnet. Auf diese zusätzlichen Einflüsse müssen wir ein wenig eingehen.

Menschlicher Sex wird von drei Hauptfaktoren bedingt:
a) Vom Körperlichen, Biologischen, Instinktiven, was wir Ebene 1 nennen möchten. Hier spielen Hormone, Gerüche, Alter, der Kalender und andere biologische Einflüsse ihre Rollen – ähnlich wie bei den Tieren. Diese Ebene 1 wird direkt wie in der sonstigen biologischen Welt von Chromosomen und von der Genetik (weniger vom Bewusstsein) gesteuert. Hier verhält sich der Mensch wie das Säugetier und wie der Primat. Geschlechtliche Attraktivität (Schönheit) wirkt auch mit auf dieser Ebene 1.
b) Vom Kulturellen, Intellektuellen, Bildungsmäßigen und Ästhetischen (Seele), was wir als Ebene 2 bezeichnen möchten. Es ist nicht immer möglich, Ebene 1 von Ebene 2 strikt auseinanderzuhalten, denn auf dieser Ebene können männliche und weibliche Schönheit des Körpers und der Seele mit eine geschlechtliche Rolle spielen. Ebene 2 kann, wenn ihr Einfluss stark genug ist, zur Praxis des Sexes auf Ebene 1 führen. Ebene 1 und 2 sind also stark miteinander verwoben. Bildung, Rasse, geistige Inter essen sind auf Ebene 2 von starker Bedeutsamkeit und stellen eine Hauptbasis der Ehe in der zivilisierten Welt dar.
Besonders junge, unerfahrene Menschen können Ebene 1 (körperliche, geschlechtliche Schönheit) mit Schönheit der Seele (Ebene 2) verwechseln, was dann zu unpassenden Ehen führen kann. Die Grenzen zwischen den zwei Gebieten sind gar nicht leicht auseinanderzuhalten. Ein Mann kann Frauen auf Ebene 1 anziehen, wobei die Frauen keine Klarheit darüber haben, ob es sich lediglich um Ebene 1 (oder auch um Ebene 2) handelt. Die Situation kann auch umgekehrt sein – ein Mädchen kann einen jungen Mann mit Hilfe von Kleidung, Schminke und anderen Äußerlichkeiten anziehen, ohne daß er darüber im klaren ist, daß die ganze Attraktion sich auf Ebene 1 abspielt, was zu einer Katastrophe in einer späteren Ehe führen kann,
c) Vom Geistlichen (= Ebene 3). Diese Ebene ist vielen Menschen praktisch unbekannt und wird auch von christlich gesinnten Menschen oft völlig außer acht gelassen. Worin besteht diese geistliche Ebene?

Nach der heutigen allgemein in führenden naturwissenschaftlichen Kreisen akzeptierten Ansicht besteht der Mensch bloß aus Körper. Solche Positivisten leugnen die Existenz der Entität, die früher Psyche (Seele) genannt wurde.

Nach der Bibel bestehen wir aber aus drei Teilen oder Entitäten, die schwer auseinanderzuhalten sind, nämlich  Leib, Seele und Geist.
Paulus schreibt diesbezüglich an die Thessalonicher: „Der Gott des Friedens selbst heilige euch durch und durch, und unversehrt möge euer Geist und Seele und Leib in untadeliger Weise bei der Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus bewahrt werden!” (1. Thess. 5.23). Der Urtext gebraucht das griechische Wort „pneuma” für „Geist”, das Wort „psyche” für „Seele” und „soma” für „Leib”.

Das Wort „pneuma” bedeutet „Geist” des Lebens, wird aber auch benutzt, um den Begriff „Geist” und „Geister” wiederzugeben. Geist bedeutet eine immaterielle Entität, die nicht der Mensch oder die menschliche Persönlichkeit (Seele) ist: Der Geist ist auch das Bindeglied oder Wahrnehmungsorgan zwischen der biologischen Schöpfung und dem Schöpfer.

„Psyche” bedeutet „Seele”, „Ego”, „Persönlichkeit” oder Charakter”.  Im allgemeinen kann man die beiden Begriffe „pneuma” und „psyche” auseinanderhalten, obwohl es Fälle gibt, bei welchen man die Begriffe auswechseln kann.

Was hat aber all das mit Ehe zu tun? In der idealen Ehe werden alle drei Bestandteile des Menschen, Leib, Seele und Geist, zusammenwirken, um eine Einheit und Harmonie zu bilden. Wenn der Geist der Bestandteil des Menschen ist, der bei der Wiedergeburt als Christ zum Leben geweckt wird, dann werden natürlich Atheisten als geistlich tot in ihren Sünden angesehen. Sie sind dem Geist nach tot. Ihre Körper und ihre Seelen können sehr lebendig sein, ihr Geist aber ist tot „Und euch, die ihr tot waret durch eure Übertretungen und eure Sünden,… hat Gott mit Christus lebendig gemacht.” (Epheser 2:1).

Der Mensch, der Gott weder in der Schöpfung noch in Christus erkennt, ist also ihm gegenüber geistlich tot.
Ein solcher Mensch „lebt” aus Seele und Körper allein. Er ist „zweidimensional”; denn der Geist des Menschen stellt das Bindeglied zwischen Gott und Menschen dar. Und dieses Bindeglied wird erst mit der Versöhnung durch Christus lebendig, so daß der Mensch erst dann „dreidimensional” wird. Erst durch die Wiedergeburt fängt der Mensch an, als dreiteiliges Lebewesen – Geist, Seele und Leib – zu funktionieren.

Aus diesem Grund befindet sich der bewußte Christ in bezug auf die Ehe in einer Sonderlage. Wenn er eine gottgewollte und gotterfüllte Ehe schließen will, wird er sich eine Lebensgefährtin aussuchen, die auch eine Christin ist. Das gläubige Mädchen wird sich einen Mann wählen, der bewusst gläubig ist: Die Frau ist frei, „sich mit wem sie will zu verheiraten, nur geschehe es im Herrn” (1. Kor. 7.39). Die Bibel hat guten Grund, auf diese Bedingungen zu bestehen, denn zwei Menschen können nie richtig zusammen harmonieren, wenn sie dreidimensional nach Leib, Seele und Geist nicht zusammenpassen.

Wenn der eine Partner in einer Ehe entschiedener Christ ist und der andere nicht, können die beiden keine geistbedingte Gemeinschaft erleben. Aus obigen Gründen entstehen oft Schwierigkeiten, wenn in einer ungläubigen Ehe nach der Eheschließung ein Ehepartner sich für Christus entscheidet Es entstehen leicht Spannungen, wie eine neue Unausgeglichenheit (Dimension), die vorher nicht vorhanden war, nach der Bekehrung des einen Partners entsteht. In solchen Fällen ist große Liebe und Geduld am Platz. Bei Spannungen dieser Art soll der gläubige Teil sich vom ungläubigen Teil der Ehe nicht trennen, solange der ungläubige Teil sich nicht trennen möchte (1. Kor. 7.12).

Wenn ein junger Christ bewusst, mit offenen Augen einen entschieden ungläubigen Partner heiratet, handelt er natürlich außerhalb des Neuen Testaments.

Die Ehe und das eheliche Verhältnis sind dazu da, auf sinnbildliche Art und Weise das Verhältnis von Christus zu seiner Brautgemeinde darzustellen.
Gott ist eine Trinität, die aus Gott Vater, Gott Sohn und Gott heiligem Geist besteht. Diese ganze Trinität der Gottheit liebt uns Menschen, die wir auch eine Trinität aus Leib, Seele und Geist darstellen. Innerhalb dieses Bildes einer Trinität werden sich christliche Bräute und Bräutigame lieben. Wenn aber das geistliche Element in einem Eheverhältnis nicht vorhanden ist, dann geht das Sinnbild der dreifaltigen, dreidimensionalen Liebe Gottes zu uns verloren. Die „dreifaltige” Liebe in der Ehe nach Geist, Seele und Leib kann der Bräutigam seiner nichtchristlichen Braut nicht erweisen, denn die Gemeinschaft des Geistes kann nicht vorhanden sein, wenn der Geist eines Partners noch tot in Sünden und Übertretungen liegt.

Obwohl es christlich ist, wenn ein gläubiger junger Mann ein gläubiges Mädchen heiratet und umgekehrt, bedeutet das noch nicht, daß irgendein christlicher junger Mann irgendein christliches Mädchen heiraten kann und dabei glücklich wird. Die geistliche Seite ist sicher sehr wichtig – ja, nach der heiligen Schrift maßgeblich.
Doch sind eben auch die beiden anderen Ebenen eines Menschen zu berücksichtigen, ehe man an eine Ehe denken darf. Bildung, intellektuelle Interessen und auch der Leib spielen bei Christen wie auch bei Nicht-Christen ihre bedeutsame Rolle in zwischenmenschlichen und ehelichen Verhältnissen.

Zu einem vollkommenen Sexleben gehört die Mitwirkung von Leib, Seele und Geist bei beiden Partnern. Zur Vollkommenen sexuellen Gemeinschaft ist Harmonie auf allen drei Gebieten notwendig. Dies ist der Fall, auch wenn die geistliche Seite das ganze Eheverhältnis steuert. Der rein körperliche Aspekt von Sex (Ebene 1) wird also von Ebene 2 und 3 aus stark bedingt Bei der menschlichen Spezies sollte Ebene 3 über Ebenen 1 und 2 den Vorrang nehmen. Ebene 1 des Geschlechtes darf nicht allein ausschlaggebend sein. Sie ist wichtig, sollte aber über die beiden anderen Ebenen nicht herrschen. Bei den Tieren wird diese Rangordnung nicht eingehalten – der Körper, Ebene 1, bedingt Geschlecht. Bei Hurerei und Unzucht unter Menschen herrscht das Tier, Ebene 1, vor. Aus diesem Grund vertiert Unzucht (freier Sex) den Menschen.

In gewissen Schulen in Deutschland werden, wie wir hören, die rein körperlichen Bewegungen des geschlechtlichen Verkehrs eingeübt und vor den Schülern demonstriert. Solche Übungen sollen als Vorbereitung auf eine spätere Ehe (oder als Basis des freien Geschlechts) dienen. Gerade solche Übungen sind aber in Wirklichkeit nichts anderes als pornographisch und pervers, denn:

1) sie sind absolut unnötig. Jedes Paar kennt sie entweder instinktiv oder erlernt sie im Umgang miteinander. Es ist sogar besser, solche Bewegungen vorher nicht geübt zu haben, denn ein Teil des Eheglücks besteht im gegenseitigen Sichkennenlernen gerade auf diesem Gebiet. Jedes Ehepaar lernt auf diese Weise gemeinsame Geheimnisse, die sie verbinden. Welcher Mann möchte ein Mädchen heiraten, das auf diesem Gebiet „einstudiert” ist? Oder natürlich auch umgekehrt.

2) Solche körperlichen Bewegungen variieren von Paar zu Paar und sind nicht ein spezieller Ausdruck ihrer inneren Gemeinschaft. Sie sind eine „Parabel” ihres inneren Verhältnisses zueinander. Diese Parabel kann man in einer Schule vor Jungen und Mädchen nicht einstudieren, das wäre Prostituierung eines Ehegeheimnisses.

3) In einer christlichen Ehe sind sie ein Ausdruck einer dreidimensionalen Ehegemeinschaft, die allgemein von Jugendlichen, die für ein Eheverhältnis noch unreif sind, einfach nicht verstanden werden können.

Das rein körperliche „Ausprobieren” des anderen Geschlechts seitens Unverheirateter nennt die Bibel Unzucht, obwohl man es heute „freien Sex” nennt. Das Wort Gottes nimmt dies so ernst, dass Unzucht als Grund zum Ausschluß aus dem Reich Gottes genannt wird, denn sie macht das Heiligste unheilig: „Fliehet die Unzucht! Jede andere Sünde, die ein Mensch begeht, ist außer dem Leib: der Unzüchtige aber sündigt gegen seinen eigenen Leib” (1. Kor. 6:18). „Ihr sollt nicht Gemeinschaft haben mit jemandem, der sich Bruder nennen läßt und ein Unzüchtiger ist” (1. Kor. 5:11). „Weder Unzüchtige noch Götzendiener werden das Reich Gottes ererben.” (1. Kor. 6:9). Das Wort „Unzüchtige” ist eine Bezeichnung für diejenigen, die außerhalb der Ehe geschlechtlichen Verkehr (also „freien Sex”) ausüben. Wiederholt werden solche mit „Hunden” klassifiziert, die vom Reiche Christi ausgeschlossen werden, weil sie das Heiligste, Schönste unter den Menschen zur Schweinerei machen (vgl. auch Matth. 5:32,15:19, Apg. 15:20,15:29,21:25,1. Kor. 5:1, 6:13,6:18, 7:2, 2. Kor. 12:21, Gal. 5:19, Eph. 5:3,Kol. 3:5,1. Thess. 4:3 etc.).

Der Abfall des Westens vom christlichen Glauben wurde mit einer Ausbreitung von freiem Sex oder Unzucht begleitet. Gerade Sünden auf diesem Gebiet des Geschlechtes haben vergangene Zivilisationen und Kulturen vernichtet, wie sie jetzt im Begriff sind, unsere Kultur zu töten.

3) Proportionen in Sex

Menschlicher Sex sollte also aus einer Harmonie der drei menschlichen Ebenen oder Dimensionen bestehen, wobei jede Ebene in ihrer Priorität und in ihren Proportionen voll zur Geltung kommt. Wenn man die Proportionen dieses „Gebäudes” oder dieses „Bildes” vom Sex verzerrt, erhält man eine Karikatur des ganzen Sexlebens.

Als ich vor einigen Jahren meinen Vorlesungssaal betrat, um vor vielen Studenten eine Vorlesung zu halten, leuchtete mir an der großen grünen Tafel eine wunderliche Zeichnung entgegen. Die Studenten bogen sich bei meinem Kommen förmlich vor Gelächter. Ich brauchte auch nicht lange herumzurätseln, bis ich die Ursache entdeckte. Denn die Zeichnung an der Tafel zeigte eine ganz gelungene Karikatur von mir selbst. Natürlich erkannte ich mich sofort wieder: Der Schnurrbart, die Glatze, die Brille, die Nase, das Kinn, der Kittel und der schlechtgebundene Schlips, waren auf den ersten Blick alles erkenntlich. Aber warum das herzliche Gelächter – sonst lachte man bei meinem Erscheinen nicht? Alles, die übertriebene Nase und Glatze, der Schnurrbart, ja der Gesichtsausdruck war richtig und doch falsch. Die Züge waren mir sehr ähnlich, aber die Proportionen des Ganzen waren falsch. Es waren die verzerrten Proportionen, die die Zeichnung lustig machten. Denn die falsch proportionierten Züge produzierten die Karikatur – und die Karikatur erzeugte die Heiterkeit. So lachten wir alle über den gelungenen Witz.

Die sogenannte Sexaufklärung, die unserer Jungend überall in den Schulen ausgeteilt wird, stellt oft eine Karikatur von Sex dar. Denn man klärt die Jugend über den körperlichen Mechanismus von Sex (Ebene 1) auf. Man lehrt sogar, daß diese Ebene die Hauptbasis der Ehe ist. Bei Tieren mag dies auch zutreffen, nicht aber bei Menschen. Um Sex zu ermöglichen, müssen männliche und weibliche Leiber existieren. Aber die wirkliche Basis des Zusammenlebens der Geschlechter ist viel breiter. Bei Menschen ist das oft dargestellte Sexbild (Sex besteht nur aus einem körperlichen Akt) deshalb eine Karikatur des eigentlichen. Menschen, die auf der Basis von Aufklärung dieser Art eine Ehe schließen, laufen die Gefahr, ihre menschliche Spezies zu verlieren! So lernen sie auf der Ebene von Tieren zu denken.

Schulkinder werden überall über  „Sex“ dieser Art „aufgeklärt“. Sie lernen die physische Basis von Sex, als ob der Körper des Mannes oder der Frau allein die „Liebe” ausmacht. Es ist klar, daß der Körper bei Menschen sowie bei Tieren die Basis von Sex bietet. Doch ist es vollkommen einseitig, die Praxis von Sex so hinzustellen, als ob sie grundsätzlich nur von der körperlichen Seite her gesteuert wird. Diese Karikatur von Sex ist leider eine schreckliche Tragik. Denn dadurch erhalten Kinder eine karikierte, tierische Basis für ihr späteres Leben als Ehemänner und Ehefrauen. Ist es verwunderlich, daß es so viele Ehescheidungen gibt?

4) Materialistische Sexaufklärung

Heutzutage geht man in der „Sexaufklärung” weiter. In aller Öffentlichkeit wird diskutiert, wann und wie man die ungeborenen Kinder, die aus solchem „Sex” empfangen werden, töten darf. Kinder entstehen innerhalb und auch außerhalb der Ehe oft als Ergebnis von misslungener „Sexaufklärung” auf der Basis von Ebene 1. Es wird z. B. gelehrt, daß Sex genauso ein Bedürfnis ist wie der Appetit auf Lebensmittel, dem entsprochen werden muß. Wenn dann ein unerwünschtes Kind als Ergebnis dieses „natürlichen Appetits oder Triebs” entsteht, darf man es innerhalb einer bestimmten Frist auf Wunsch der werdenden Mutter allein vernichten.

Diese Einstellung entstammt einer falschen materialistischen Vorstellung von Sex. Zwei Körper kommen demnach im geschlechtlichen Verkehr zusammen, wobei ein dritter Körper, ein Mensch, entsteht. Zwei Bündel von Chemikalien erzeugen ein drittes Bündel, ein Kind. Diesen unerwünschten Stoff, dieses Kind, darf man so wegwerfen oder töten, genau wie man überflüssiges Essen (auch Chemikalien) in den Fäzes (Kot) ausscheidet. Sex und Appetit auf Essen sind beide bloß körperliche Bedürfnisse. Deshalb darf man ohne weiteres ihre Folgen ebenso wegwerfen. Man vergisst dabei, dass die Basis eines Menschen auf keinen Fall auf seiner bloßen Stofflichkeit (Chemikalien) beruht. Dies behaupten wir aus folgenden Überlegungen:

Die Materie eines menschlichen Körpers tauscht sich in regelmäßigen Zeitabständen aus. Bei Menschen dauert der Austausch ca. sieben Jahre, je nach dem Alter. Der Stoff, aus dem unser Körper gebaut ist, wechselt sich also regelmäßig aus, obwohl wir, die Personen, die wir im Körper wohnen, die gleichen bleiben. Meine Identität bleibt aber konstant. Materiell gesehen, ist mein Körper identitätsmäßig ständig im Fluss. Wenn der Materialismus als Philosophie richtig ist („es gibt nichts außer der Materie”), müsste sich meine Identität mit dem Wechsel meines Stoffes auch verändern. Dies ist aber nicht der Fall.

Was sorgt für die Konstanz der Identität eines Menschen (oder eines Tieres oder einer Pflanze), wenn seine Materie, sein Stoff, nicht konstant bleibt? Ausschließlich der genetische Code, d. h. die Ordnung, die Information, auf seinen 46 Chromosomen. Information ist also für die Identität wichtiger als die bloße Materie. Aber, wendet man ein, selbst der Stoff, aus dem die Chromosomen sind, die den Code tragen, bestehen,

 

wechselt sich regelmäßig aus. Diese Tatsache stellt natürlich genau das unter Beweis, was wir oben ausgeführt haben, nämlich daß nicht der Stoff, der
im Flusse ist, die Identität und das Menschsein bestimmt, sondern ein rein geistiger, gedanklicher Begriff, ein Code oder eine Information, die auf Materie nur gespeichert ist.

Diese Idee kann man vielleicht so erklären: das Papier eines Buches kann leicht vergehen. Wenn das geschieht, vergeht zur gleichen Zeit der Code, die Information des Buches. Die Information, das Thema eines Buches, kann aber, ehe das Papier eines Buches vergeht, abgeschrieben werden. So bleibt die Idee, die Information, die Geschichte eines Buches erhalten, auch wenn das Papier, das den Inhalt des Buches trug, nicht mehr ist. Die Information kann dann auf neuem Papier gespeichert werden. Oder sie kann auf Tonband, Videoband oder Mikrofilm gespeichert werden. Auf diese Weise bleibt das Buch an sich gleich, obwohl die Materie des Buches, das Papier, anders ist.

Auf gleiche Weise verstehe ich die Auferstehung von den Toten. Nach der Bibel war der Mensch, ehe er auf Erden erschien, eine Idee, ein Thema, Information in Gottes Gedanken. Diese Information wurde dann in Fleisch und Blut realisiert, so wie ein Buch auf Papier realisiert wird. Wenn nun Fleisch und Blut verwesen und der Mensch stirbt, kann Gott in der Auferstehung die Idee nehmen, und sie auf anderem, neuem „Stoff“ realisieren. Dieser neue Stoff, auf dem der auferstandene Mensch „reitet”, ist nicht wie die jetzige zeitliche Materie, sondern ewig. So ist der „Inhalt”, das „Thema” des auferstandenen Menschen (die Idee hinter ihm, die Information), das gleiche wie vorher. Er ist der gleiche Mensch, nur auf andere „Materie” geschrieben. Das gleiche „Ego”, „Ich” oder die gleiche „Psyche”, der gleiche Mensch, die gleiche Identität liegt vor, nur diesmal „reitet” die zugrundeliegende Idee auf einem „Auferstehungsleib”. Die gleiche „Blaupause”, die mein „Ich” ausmacht, ist vorhanden, nur auf einem anderen Träger. So ist die Auferstehung der Toten nach der Bibel zu verstehen.

Die verschlüsselten Gedanken auf meinen Genen bestimmen, wer ich bin, – nicht die bloße Materie auf der diese Gedanken reiten. Diese Gedanken auf unseren Chromosomen enthalten so viel „Geist” oder Information, daß man 1000 Bände von je 500 Seiten benötigen würde, um sie in einem normalen Buch festzuhalten. Tausend Bände von je 500 Seiten würden kaum die Information oder das „Geistesgut” speichern können, die meine Identität als Mensch konstant machen. Das „Papier”, die Materie, die diese 1000 Bände bildet, ist für den Inhalt an Information nicht maßgeblich. Die Information ist unvergleichlich viel wichtiger als die Materie des „Papieres”, auf der sie geschrieben steht. Die Information, das Thema, der Geist des Buches, könnte genau so gut auf magnetischem Band wie auf Papier gespeichert werden. Ob auf magnetischem Band oder auf Papier, die Botschaft, das Thema der daraufgespeicherten Information, bleibt gleich. Auf ähnliche Art und Weise bleibe ich, mein Ego, meine Identität als Person konstant – ganz gleich, ob ich im Leibe lebe oder nach dem Tode in der Auferstehung weiterlebe.

Nun, diese auf Chromosomen und Genen gespeicherte Information, diese Blaupause der materiellen Basis meiner Psyche und meines Körpers, bestimmt mein Wesen, und das des Tieres und der Pflanze. Der Stoff an sich, aus dem der Leib gebaut ist, bleibt von zweitrangiger Bedeutung. Die Idee, der Code, die Information, das Thema, das auf dem Stoff geschrieben steht, ist wichtiger als der bloße Stoff. Letzterer ist nur Informationsträger und stellt als solcher selber nie Information her. Sie, die Information, wird immer von Geist – und nie direkt von Stoff- geliefert.

So bildet codierte Information, codierter „Geist” auf Genen und Chromosomen gespeichert, die verschiedenen lebenden Spezies, wie Menschen, Tiere und Pflanzen. Sie sind alle realisierte Gedanken, die in einer Blaupause in Codeform auf Stoff festgehalten werden. Diese Blaupause speichert Idee oder „Geist”, der imstande ist, ganze Organismen zu bauen und zu erhalten.

Aber warum gehen wir auf all das in einem Buch über Ehe ein? Weil die individuelle Blaupause des Menschen, des Tieres oder der Pflanze bei dem geschlechtlichen Zeugungsakt zustande kommt. Der neue Mensch, die neue Idee, entsteht bei der Empfängnis. Der neue Mensch oder die neue Blaupause eines neuen Menschen ist halb im väterlichen Spermium und halb im mütterlichen Ei verborgen. Die Fusion dieser Teile bildet den neuen Menschen, die neue Zusammenstellung der Ideen hinter einem bisher nie dagewesenen Menschen.

Die Idee hinter dem neuen menschlichen Wesen lag „kristallisiert” im befruchteten Ei, d. h. in der Zygote, vor, denn als der Same vom Vater mit dem Ei der Mutter verschmolz, da fand eine neue geistige Schöpfung statt – die Blaupause eines neuen Wesens. Wenn man also einmal eine Zygote, ein befruchtetes, menschliches Ei, zur Entstehung bringt, bringt man die Blaupause, die Identität eines neuen Menschen, zur Entstehung. Diese Blaupause ist der menschlichste Teil eines Menschen, denn sie stellt die Idee, die schöpferische Idee, hinter jedem individuellen Menschen dar, die in Materie realisiert wird. Später wird die Idee zum Bewusstsein aufwachen. Selbst die Art und Qualität unseres Bewusstseins wird wahrscheinlich von dieser Blaupause aus gesteuert, denn sie bedingt die eigentliche Identität eines Menschen von der Zygote an bis zum Grab.

Die ganze schöpferische Arbeit, die Entropiesenkung, die erforderlich ist, um einen neuen Menschen zu bauen, liegt in der Zygote. Die schöpferische Arbeit Gottes also liegt in der genetischen Information vor. Sie enthält Gottes Information in materieller Handschrift.

Aus diesem Grund allein schon ist größter Respekt vor dem Leben – auch vor dem ungeborenen, keimenden Leben – geboten. Die Entwicklung des Eies zum erwachsenen Menschen hin erfordert eigentlich keine neue schöpferische Arbeit. Die Entwicklung des Eies stellt nur eine Entfaltung des schon Bestehenden dar mit Hilfe von günstigen Energie- und Umweltbedingungen. Die ursprüngliche Bildung der gespeicherten Information durch die Koppelung des Spermiums mit dem Ei stellt die eigentliche schöpferische Arbeit dar.

Wenn man über die nötige molekularbiochemische Bildung verfügt, um ein wenig von dieser codierten Information zu lesen, wird man über die Weisheit und schöpferische Kraft Gottes staunen, die es verstand, so viel Information in einer derart raffiniert miniaturisierten Form so niederzuschreiben, daß sie in jedem Ei leicht abgeschrieben werden kann. Der neu empfangene Mensch ist eigentlich eine neue Kombination bereits geschriebener Information. Die neue Kombination war prinzipiell im ersten Menschen schon enthalten, kam aber durch geschlechtlichen Verkehr so zusammen, daß eine neue Kombination dieser Information geschah. So muß es eine sehr ernste Angelegenheit sein, wenn man eine menschliche Zygote oder einen menschlichen Fötus bewusst verdirbt. So sagt der Mensch „nein” zu dem, wozu Gott „Ja” sagte. Die neue Blaupause eines Menschen, zu dem Gott „Ja” sagt, verwirft der Mensch. Vernichtung einer neu entstandenen Leibesfrucht ist Vernichtung eines Aspektes der schöpferischen Arbeit Gottes. Denn die Entwicklung einer Zygote im Mutterleib ist lediglich die Entwicklung einer schon vollbrachten schöpferischen Tat Gottes.

Im Lichte dieser neueren Erkenntnis wird man verstehen, warum die Bibel es so sehr ernst nimmt mit dem Thema Unzucht. Menschliche Zeugungsakte verwirklichen den Mechanismus Gottes, neue Kombinationen seiner schöpferischen Tätigkeit zu realisieren. Der Mensch darf sich an Gottes Schöpfungstätigkeit beteiligen, indem er neue Möglichkeiten göttlicher Gedankengänge in neuen Kombinationen produzieren darf. Der Mensch darf sich in Gottes schöpferische Tätigkeit „einmischen” und daran teilnehmen. Gott hat diese menschliche Seite seiner eigenen Schöpfertätigkeit mit großer Freude und Genugtuung verbunden. Die tiefsten und edelsten Gefühle und Ziele des Menschen sollen mit dieser „göttlichen Tätigkeit” verbunden sein. Selbst Vater und Mutter verlässt der Mensch, um bei seinem Ehepartner zu sein. Hier sollen die höchsten menschlichen Eigenschaften zum Vorschein kommen, denn der Mensch beteiligt sich an Gottes Werk.

Weil dieses schöpferische Werk eines Menschen so hoch ist, wird dessen Prostituierung in der Unzucht so sehr verwerflich sein. Sex kann einen Menschen zu unerhörten Leistungen und Höhen bringen. Missbrauchter Sex kann ihn deshalb zu den tiefsten Tiefen hinabstürzen. Und weil Gott in seinen Schöpfungsarbeiten in Treue handelt, wird es vom Menschen erwartet, daß er darin auch treu ist. Der Mann soll Mann von einer Frau sein. Die Frau soll ebenfalls Frau von einem Mann sein. Freier Sex verwischt dieses Bild der Treue Gottes in Sexverbindungen vollkommen.   Doch bleibt Gott treu. Der Mensch, der seinen Wegen nachfolgt, wird also auch besonders auf diesem Gebiet treu sein.

Die Idee, daß jeder mit jedem Mädchen ein Kind zeugen darf, nur um sich selbst auszulassen, woraufhin das Mädchen ohne weiteres das empfangene Kind vernichten lassen kann, stellt eine Diffamierung der Treue Gottes dar. Dies bringt uns zum Thema des Schwangerschaftsabbruches, das wir in Kapitel 2 behandeln möchten. Doch, ehe wir zu diesem Thema übergehen, müssen wir über die gegenseitige Vergebung reden, denn die Kunst und die Wissenschaft von jeder Ehe ist von Persönlichkeiten abhängig, die Vergebung brauchen.

5) Der Anfang und die Weiterführung einer echten Ehe

Das Zusammenleben in einer Ehe ist sicher eine Kunst und auch eine hohe Wissenschaft. Es gibt Paare, die in dieser Kunst begabter sind als andere. In jeder Kunst und in jeder Wissenschaft gibt es Regeln und Gesetze, die man zuerst kennenlernen muß. . . . Das Eheverhältnis verlangt viel Wissen und erfordert ständig neues Wachstum und neue Erkenntnisse in der Ehe. Aber nicht nur das: in beiden Ehepartnern muß die Charakterstärke vorhanden sein, immer wieder neuen Erkenntnissen gemäß zu handeln und zu leben. Nur so kann eine Ehe mit Glück und mit ständig neuem Erfolg gekrönt werden.

Wenn wir bedenken, wie normalerweise eine Ehe anfängt, werden wir besser verstehen, wie sie im richtigen Geist weitergeführt werden kann. Ein junges Mädchen begegnet einem jungen Mann. Auf einmal wird beiden klar, daß sie sich gegenseitig anziehen. Diese Zuneigung kann plötzlich oder auch langsam realisiert werden, je nach den Charaktereigenschaften des Paares. Dazu kann man diesen Zustand des Verliebtseins mit Worten sehr schlecht beschreiben.

Das Verliebtsein ist deshalb schwer zu beschreiben, weil es u. a. eine Sinneserfahrung ist. Der Geschmack von Erdbeeren stellt eine Sinneserfahrung da. Dieser Geschmack ist den meisten von uns wohl bekannt, doch kann ihn niemand mit Worten in irgendeiner Sprache beschreiben. Wir alle kennen Fliederduft, doch könnte man auch diese Sinneserfahrung nicht mit Worten beschreiben. Die Sinneserfahrung des Verliebtseins kann ebenso wenig mit Worten beschrieben werden, sie ist ein Geheimnis derer, die sie erlebt haben. Das Herzklopfen bei der Erscheinung der Geliebten, das Glücksgefühl, die strahlenden Gesichter und die große Geduld und Nachsicht, die zwischen den Verliebten herrschen, sind Nebenerscheinungen des Verliebtseins, aber nicht das Verliebtsein selber. Auch wenn vorübergehendes Gereiztsein, ja Zank zwischen Verliebten vorkommen, charakterisiert Geduld und Nachsicht den Zustand des Verliebtseins.

Wenn die beiden Verliebten zusammen sind, ist es, als ob ein geheimer Appetit zwischen den beiden gestillt wird. Ihre gegenseitige Gegenwart befriedigt sie gegenseitig.  Kurz, das Verliebtsein bedeutet ein Paradies für ihn, wenn sie bei ihm ist – und natürlich auch umgekehrt.

In den meisten Fällen hält aber leider dieser Zustand, dieses Paradies, nicht an. Persönlich glauben wir, daß es anhalten soll und kann, und zwar unter ganz bestimmten Umständen, die wir jetzt beschreiben möchten. Die Statistiken zeigen, daß das Geheimnis dieses Dauerzustandes den meisten Menschen nicht bekannt ist. Denn die Großstadtbehörden Amerikas und Europas zeigen, daß mehr Ehen geschieden als geschlossen werden. Also, in über 50 % der Ehen endet das Paradies des Verlobt- und Verliebtseins in einem Ehescheidungsverfahren vor einem Richter. Verliebte zanken sich vor der Eheschließung – hier geht es um die sogenannten »Lovers’ Quarrels« – und Eheleute, die das Verliebtsein und dessen Paradies gemeinsam kannten, erleiden in der Ehescheidung Eheschiffbruch. Wie kommt das? Wie könnte man diese Katastrophe vermeiden?

Die Tatsache besteht, daß Menschen sich auf dem Tanzboden oder im Büro verstellen können. Während der Verlobung und später in der Ehe kann man sich nicht permanent verstellen, so daß ernsthafte Auseinandersetzungen vorkommen können. Im Büro oder auf dem Tanzboden kann er galant und höflich sein, zu Hause kann er aber auf die Dauer alles andere als ein Gentleman sein. Wenn die Mutter der angehenden Braut letztere bittet, das Haus zu fegen oder bei dem riesengroßen Aufwasch zu helfen, kann ihr Verehrer schnell ihren wirklichen Charakter erkennen. Wie der junge Mann mit seiner Mutter zu Hause umgeht, wird der jungen Dame klarmachen, wie er mit ihr später umgehen könnte. All diese Dinge, die mit dem besseren Kennenlernen zusammenhängen, können zu Zank und zu Ernüchterung führen, wobei das Verliebtsein schnell abkühlen kann.

Diese Seite menschlichen Charakters zeigt uns eine große Grundwahrheit der zwischenmenschlichen Beziehungen . . . vor und speziell in der Ehe: Die Basis aller zwischenmenschlichen Beziehungen muß in der gegenseitigen Vergebung verankert sein. Liebe ist stark. Schuld ist aber meist stärker. Deshalb muß man im Zusammenleben einen Weg finden, um die Schuldfrage zu lösen. Jede Frau kann andere Frauen und Männer ärgern und ihnen gegenüber gehässig sein. Die meisten Männer können grob und unfeinfühlig sein. Mann und Frau, beide können anderen gegenüber schuldig sein – besonders aber dem Ehepartner gegenüber.

Wenn Mann und Frau nun in der nächsten Nähe der Ehe zusammengejocht sind, müssen beide einen Weg kennen, diese Frage der gegenseitigen Schuld zu lösen. Das große Problem also der zwischenmenschlichen Beziehungen in und außerhalb der Ehe bleibt das Problem der Vergebung der Schuld. Und diese Schuld muß nicht nur Vergebung erfahren, getilgt werden, sie muß vergessen werden. Gott kann vergessen. Wir müssen es auch lernen, sonst bleibt die Narbe der Schuld, auch wenn die Schuld Vergebung erfahren hat.

Vergeben ist praktisches Christentum. Ein Christ, der nicht vergeben kann, hat die Praxis des Christentums noch nicht verstanden. Mann und Frau lernen in der christlichen Wiedergeburt und Bekehrung zu Christus diese Art Vergebung, und zwar bei Gott selber. Denn Gott versöhnte die Welt mit sich selbst am Kreuz (Röm. 5:10, 2 Kor. 5:10-20, Kol. 1:20). Wenn wir Christen sind, haben wir also angefangen zu lernen, was Versöhnung und Vergebung bedeuten, denn Christus hat uns gezeigt, was das Wesen der Vergebung ist. So besitzt speziell eine christliche Ehe die Basis der Permanenz in der Versöhnung und Vergebung.

Diese Erkenntnis ist für eine Ehe absolut grundlegend. Wenn zwei Menschen, zwei Ehepartner, wirklich ein Organismus, d. h. ein Leib sein wollen, dann müssen sie in der Vergebung leben, denn beide sind Sünder und Sünde trennt – innerhalb wie auch außerhalb der Ehe. Sünde trennt auch einen Organismus, der ein Leib ist. Vergebung schafft die trennende Sünde wieder weg, so daß die beiden wirklich eins werden nach Leib, Seele und Geist. . . . Nur so kann man ein Paradies auf Erden erleben; und deshalb muß jedes Ehepaar immer wieder »ja« zueinander sagen. Ein Paradies herrscht nur dort, wo Menschen leben, die Vergebung erfahren haben und deren Schuld getilgt ist.

Kapitel 2

Schwangerschaftsabbruch

1) Allgemeines

Als Gott am Anfang die Menschen erschuf, war seine ganze Trinität am Schöpfungswerke tätig: „Lasset uns Menschen in unserem Ebenbilde machen…” (1. Mose 1:26).
Der Mensch ist also im Ebenbilde des dreieinigen Gottes erschaffen worden. Wenn nun der Mensch an die Gründung einer Familie denkt, kann er seine Kinder so zeugen, wie Gott selber uns zeugte – mit seinem ganzen Wesen nach Leib, Seele und Geist. Wenn der Mensch Kinder ausschließlich körperlich und aus körperlicher Lust zeugt, fehlt in dem Akt etwas Maßgebendes. Die Kinder sind dann nur nach dem Willen des Fleisches gezeugt worden. . . .
Wir sind ja unserem menschlichen Wesen nach nicht so gebaut, daß wir die schöpferische Vereinigung der Geschlechter nur auf der Basis des Körperlichen allein zufriedenstellend erleben können. Die Vereinigung sollte in der Kraft des Leibes, der Seele und auch des Geistes geschehen, wenn die volle Befriedigung und das volle Glück zweier Menschen, die sich gegenseitig ausliefern, erreicht werden soll.

Ein hoher Prozentsatz der Abtreibungen findet nach außerehelichem Geschlechtsverkehr statt. Aber der Verkehr kann auch innerhalb der Ehe auf rein materieller Basis stattfinden. Die pure Befriedigung des Körpers ist dann die Triebfeder solchen Verkehrs. Teilweise aus diesem Grund kann das Glück geschlechtlichen Verkehrs dieser Art ausbleiben. Hurerei macht vielen Menschen den Geschlechtsverkehr ekelig. Für Unzucht gilt das gleiche, denn sie ist eine ekelerregende Karikatur des Wirklichen und entspricht nicht dem ganzen Menschen. Deshalb kann verkehrte Geschlechtspraxis zu somatischen wie auch zu psychosomatischen Krankheiten führen.

Obiges hängt zusammen mit dem ganzen Problem des Schwangerschaftsabbruches, insoweit man den körperlichen Verkehr mit dem anderen Geschlecht pflegen will. Doch will man die Folgen, die Pflichten und die Verantwortung eines solchen Verkehrs meiden. Die sogenannte Fristenlösung, wonach eine Frau selber entscheiden kann, ob sie ihr Kind gebären will, entstammt einer rein materialistischen Weltanschauung. Man rechnet nur mit Ebene 1 als Basis des geschlechtlichen Verkehrs, was natürlich eine Karikatur darstellt. Wenn Kinder als ein Resultat des harmonischen Zusammenspiels zweier Menschen auf allen drei Ebenen ihres Seins hervorgehen, werden wohl weniger Kinder unverantwortlich durch Lust allein gezeugt werden. Man wird das sichtbare Siegel dieses Glückes, das Kind, nicht so leicht vernichten wollen. Das Problem des Schwangerschaftsabbruches ist deshalb primär oft ein Problem des „freien” oder unverantwortlichen Geschlechtsverkehrs.

Die Folgen der Fristenlösung sind kaum auszudenken: eine menschliche Zygote besitzt die 46 menschlichen Chromosomen und gehört somit der menschlichen Spezies an. Man ist bereit, Menschen in embryonaler Form, Individuen, die keine Gelegenheit hatten, ihre normale Entwicklung zu erleben, wie Kot wegzuwerfen: Nur weil das Baby unerwünscht und augenblicklich „nutzlos” ist, nimmt man ihm das Recht aufs Leben. Es verliert das Leben, ausschließlich weil es anderen, besonders aber der eigenen Mutter, zur Last fallen würde. Wie lange wird es dauern, bis man aus der gleichen Überlegung auch alte Menschen verschwinden lässt? Eines Tages wird man so tun, wie die unzivilisierten Stämme im Dschungel taten – sie überließen ihre Kranken und Alten den wilden Tieren, weil sie ihnen zur Last fielen. Bei der Abschaffung des ungeborenen Kindes ist die Lage in Wirklichkeit noch schlimmer als bei den Kranken und Alten.

Denn der Kranke und Alte kann sich normalerweise mit Worten verteidigen. Das Baby kann nicht einmal ein Wort zu seiner eigenen Verteidigung und zu seinem Recht auf Leben sagen. Es genügt, daß die Mutter ihr Kind verschwinden lassen will. Sie muß sich vor niemandem verantworten. Heute schon spricht man nicht nur von Abtreibung, sondern auch von Sterbehilfe und Euthanasie. Hitler vergaste die Geisteskranken und die Geistesschwachen, und zwar aus der gleichen Überlegung, die hinter der Fristenlösung liegt: Die Geistesschwachen wie die Kinder fallen anderen zur Last, man will sie nicht mehr ertragen. Bei dieser Einstellung verliert man mindestens eine große Tatsache aus den Augen. Christus lehrte uns, daß wir das, was wir den Kranken, Schwachen oder Minderbegabten an Liebe erweisen, dem Schöpfer selber erweisen.

Diese Art Liebe lässt er nie unbelohnt. Wie viele Menschen würden einen großen Segen mitten in ihrer Arbeit erfahren, wenn sie für ihre alten, schwachen Eltern persönlich sorgen würden, statt sie einfach in irgendeinem lieblosen Altersheim zu versorgen?
So auch mit den kleinen Kindern. Eine Zivilisation, die nicht gewillt ist, ihre Alten, ihre Kranken und ihre Babys zu tragen und zu pflegen, befindet sich schon auf dem Weg der rapiden Degenerierung. Egoismus, der sich in freiem Sex und fakultativer Abtreibung oder Kindertötung manifestiert, ist der Beweis für diese Degenerierung.

Die einzige Frage ist, wie lange unsere Zivilisation kraft ihres Momentums aus der Vergangenheit noch durchhalten kann? Die Geschichte lehrt uns, daß der Zerfall einer Zivilisation schnell erfolgt, nachdem einmal ihre geschlechtliche Moral in Stücke gegangen ist. Alte Zivilisationen, die ihre Alten, ihre Kranken und ihre Kinder töteten, starben immer plötzlich und auch radikal aus.

Wie grenzenlos ist doch der Egoismus einer Zivilisation, die bereit ist, ihre Kinder zu töten, nur damit die Geschlechtspartner in den Genuß von einigen Augenblicken Geschlechtsverkehr auf Ebene 1 kommen!
Das wehrlose ungeborene Kind hat die beiden nie darum gebeten, gezeugt zu werden. Die größte Schöpfung auf Erden, der Mensch in der Form eines Fötus, wird geschlachtet und weggeworfen, weil Mutter und Vater zum Genuß von Sex Ja sagen, zum Wunder eines Babys aber Nein sagen. Der Umgang mit Tieren wird in unserer Zivilisation gesetzlich besser geschützt als der Umgang mit ungeborenen Menschen. . . .

2) Die heutige Praxis von Abtreibung

Wer die Arbeit einer Abtreibungsklinik kennt, wird verstehen, warum solche Kliniken heute große Schwierigkeiten haben, Schwestern und auch Ärzte für ihre Geschäfte zu finden. Schwestern und Ärzte lassen sich doch ausbilden, um das Leben zu erhalten und nicht, um ungeborene Babys hinzurichten.

Hören wir das Zeugnis einer Schwester (nach dem Bericht von Werner Stoy „Abtreibung – einziger Ausweg?” Brunnen Verlag, Giessen und Basel, 1973, Seite 63): Streit zwischen Regierungsrat und Gynäkologieschwestern des Kantons Solothurn. Die Regierung wird von sozialdemokratischen Frauen unter Druck gesetzt, die genehmigten Schwangerschaftsabbrüche (von 317 waren 225 bewilligt worden) nicht mehr in anderen Kantonen ausführen zu lassen. Die Gynäkologieschwestern lehnen die Assistenz bei legalem Schwangerschaftsabbruch ab und drohen mit Kündigung, wenn solche Eingriffe in den Spitälern mit Hilfe anderer Schwestern durchgeführt werden. Aussage einer Schwester: „Ich möchte jedem wünschen, einmal dabei zu sein, wenn so ein sechsmonatiger Fötus herausgezogen wird. Die Schwestern müssen dieses schreiende und zappelnde Ding richtiggehend töten und beseitigen.” Auf Befragen halten sechs Chefärzte Schwangerschaftsabbrüche wegen Opposition der Schwestern für undurchführbar, zwei lehnen ihn aus ethisch-religiösen Gründen ab.”

Werner Stoy führt weiter aus: „In unserem Jahrhundert sind durch Abtreibung mehr Menschenleben geopfert worden – und zwar ausschließlich Frauen und Kinder – als in allen Kriegen dieses Jahrhunderts.” Der gleiche Autor schreibt weiter (loc. cit. S. 18): „Deshalb ist Abtreibung der scheußlichste Eingriff, den ein Gynäkologe auszuführen hat ( so der Giessener Gynäkologe Professor Kepp).

Verständlich, wenn man Zanders Schilderung hört, wie der Embryo zerstückelt wird und dann die Beinchen, die Brust, der Kopf und so weiter zum Vorschein kommen. Dieses Erlebnis ist wohl der Grund, weshalb Gynäkologen im Vergleich zu praktischen Ärzten hinsichtlich der Abtreibung zurückhaltender sind. Ein Arzt (Dervolowsky) schlägt deshalb einen „Exekutionsberuf“ für die Abtreibung vor, nach dessen Geschäft dann erst der Arzt, nun aber in seiner eigentlichen Berufung, heilend tätig sein würde. Wie mühen sich doch Ärzte, das Leben defekter Kinder zu erhalten. Man verfolge, was z. B. für frühgeborene Kinder oder solche mit Hirnhautentzündung getan wird. Und dann soll ein völlig gesundes Kind „weggemacht” werden? Es ist darum verständlich, wenn sich manche Ärzte gegen die Verpflichtung abzutreiben wehren”.

Wenn natürlich der Abbruch der Schwangerschaft früh genug vorgenommen wird, muß man das Baby nicht zerstückeln. Es wird einfach lebendig durch eine Saugvorrichtung abgesogen und weggeworfen. Im Prinzip ändert das nichts an der Tatsache, daß man ein gesundes, menschliches Kind so wie Kot wegwirft und vernichtet, obwohl die Vernichtung weniger „metzgerhaft” vor sich geht.

Das Tötungsverbot ist allgemein auch heute noch in Kraft. Selbst die Bundesrepublik ist zum Schluss gekommen, daß sie als Staat für den Schutz des ungeborenen Kindes verantwortlich ist. Wie alle unmündigen und kranken Bürger, die sich selbst nicht verteidigen können, hat das ungeborene Baby das Recht auf den Schutz des Staates, und der Staat hat die Pflicht, das keimende Leben unbedingt zu schützen. Wenn nun eine Mutter bereit ist, ihr eigenes Kind zu töten, wird sie sehr oft unter späteren Gewissensnöten leiden. Nur ein Drittel hat vorher (vor der Abtreibung) keine Bedenken. Nach dem Eingriff sind die moralischen Bedenken sehr viel stärker. „Da schoß es mir durch den Kopf: Mörderin! Es verfolgte mich Monate, ja Jahre… ich hatte immer Angst vor der Strafe Gottes”. „Ich schäme mich vor mir selber… ich habe mir geschworen, daß ich es nie wieder tun werde, und sollte ich noch so viele Kinder bekommen.” „Ich habe schon zwei Selbstmordversuche gemacht, weil ich seelisch nicht über die Abtreibung hinwegkomme.” „Von seelsorgerlicher Seite werden Schuldgefühle bestätigt.” „Bei einigen Frauen stellen sich sogar psychische Störungen ein” (Werner Stoy, loc. cit Seite 24-25).

3) Was geschieht mit den abgetriebenen Babys?

Ein Kind ist sechs Monate nach der Empfängnis meist lebensfähig. Meistens muß man Frühgeburten von sechs Monaten in einen Inkubator tun, aber mit richtiger Pflege gedeihen sie oft gut. Da aber das Kind von der Empfängnis an lebt, müssen alle Formen der Abtreibung töten. Abtreibung heißt also immer Tötung des Kindes.

In gewissen Fällen muß man, wie oben gesagt, das Kind im Mutterleib zerstückeln. Gegen diese Zerstückelung wehrt sich das Kind natürlich. Es tut ihm weh, getötet zu werden! Denn schon sehr früh ist das Kind ein kleines Persönchen. Gibt man einem ungeborenen Kind von 4-5 Monaten einen „Puff“ im Mutterleib, wird es oft so reagieren, daß es das Däumchen in den Mund steckt, um sich Trost zu holen.

In vielen Fällen kann man, wie schon bemerkt, das Kind durch eine besondere Saugvorrichtung, die man in die Gebärmutter bis zum Fötus einleitet, absaugen. Das so abgesaugte Kind ist aber immer noch am Leben und muß irgendwie vernichtet werden. Mit der Zeit erstickt es und stirbt wegen Mangel an Blutzufuhr von der Mutter durch den Mutterkuchen.

Experimentelle Naturwissenschaftler empfinden oft, daß die Verschwendung von abgetriebenen Fötussen auf diese Art und Weise nicht zu verantworten ist. Man soll, meint man, die Fötusse irgendwie für das Wohl experimenteller Medizin auswerten. Diese Überlegung brachte es dazu, daß man viel mit solchen zum Tode verurteilten Fötussen experimentierte, bis das ganze Problem durch Zeitungen vor die Öffentlichkeit gebracht wurde. Die Naturwissenschaftler meinen, daß es genau so gut zu verantworten ist, mit dem Fötus vor dem Tod zu experimentieren zum Wohl der Menschheit, als das Baby im Wasserklosett herunterzuspülen, was man als Verschwendung von biologischem Material ansieht.  . . .

Die übliche Methode lebende Fötusse umzubringen besteht darin, daß man ihnen die Sauerstoffzufuhr unterbindet. Man kann es so machen wie bei unerwünschten neugeborenen Kätzchen – ein Eimer Wasser setzt dem Geschrei oder dem Gezappel nach einigen verzweifelten Krämpfen ein Ende. Wenn die Fötusse noch sehr klein sind, spült man sie lebend im Wasserklosett hinunter – so respektiert man einen werdenden Menschen, ein Geschöpf Gottes.  . . .

 

Kapitel 3

Die Praxis von Sex

1) Unmäßigkeit in Sex

Die Vereinigung der Geschlechter erfordert von beiden Partnern Kraft. Schon aus diesem Grunde darf das Ehebett keine Stätte der Ausschweifung werden. Übermäßigkeit im Geschlechtsverkehr wird die Körper der Partner überfordern und so den Körper schwächen. Obwohl es Zeiten gibt, wo Zurückhaltung nicht am Platz ist, gibt es auch Zeiten, wo Zurückhaltung direkt geboten wird. Jedes Paar verfügt über verschiedenartige Kräfte, so dass jedes Paar vor Gott klar werden muß, welches Maß das richtige für sie ist. Es gibt ganze Völker, besonders im Nahen Osten, die ziemlich regelmäßig zweimal oder gar mehr die Nacht geschlechtlichen Verkehr praktizieren. Das Ergebnis ist, daß ihr Leben oft eine Last ist – sie sind ständig erschöpft und können kein normales Arbeitspensum leisten.
Solche Disziplinlosigkeit und Übermäßigkeit vernichtet nicht nur ein Ehepaar, sondern auch ein Volk. Wie die heilige Schrift uns lehrt, gibt es Zeiten für alles, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit sich zu meiden (Prediger 3:5). Gott hat uns Menschen mit Vernunft ausgerüstet, so daß wir wissen dürften, wann die Zeit für dies und auch für jenes gekommen ist.

Wenn man jeden Tag ein Festessen erhält, bleibt für den Sonntag kein Festessen mehr übrig! Nach einer Periode des Fastens oder Hungerns genießt man das Festmahl doppelt. Mäßigkeit und Zurückhaltung erhöhen jeden Genuß – auch den Genuß von Sex. Dies gilt auch für geschlechtlichen Verzicht während der Verlobungszeit. In der späteren Ehe werden Partner, die Verzicht geübt haben, mehr Freude aneinander erleben, als Paare, die sich alles erlaubten. Besonders für Paare, die verzichteten, wird das Fest wirklich zum Fest.

Man muß bedenken, daß die Frau ihrem monatlichen Zyklus unterworfen ist. Hier soll der Mann Rücksicht nehmen. Denn eine Folge des Frauseins ist die Tatsache, daß sie sich nicht immer so wohl fühlt wie der Mann. Aus diesen und anderen Gründen ist die Frau auch schwächer als der Mann: „Desgleichen Ihr Männer, wohnet einsichtig zusammen mit dem weiblichen Teil als dem schwächeren und erweiset ihnen Ehre als solchen, die auch Miterben der Gnade des Lebens sind, damit euere Gebete nicht gehindert werden “(1. Petr. 3:7). Erhörliches Beten ist also zum Teil davon abhängig, daß der Mann seiner Frau Ehre erweist. Um erhörlich beten zu können, sollte der Mann sozusagen ritterlich mit seiner Frau umgehen. Sie ist wegen ihrer Physiologie schwächer. Das heißt keineswegs, daß sie nicht gleich viel wert ist.

Die Frauenrechtlerinnen können Propaganda machen, wie sie wollen, um unter Beweis zu stellen, daß Mann und Frau gleich sind. Die Tatsache bleibt aber, daß sie nicht gleich sind. Das will aber unter keinen Umständen heißen, daß die Frau minderwertiger sei. Keine Frau will „Mannweib” sein. Wenn man sie zu einer Arbeit zwingt, die Männerkräfte verlangt, erniedrigt man sie. Es ist auch immer ein Zeichen der Degenerierung einer Kultur, wenn die Frauen die schweren Straßen- und Feldarbeiten verrichten müssen, während die Männer tagsüber das ganze Jahr hindurch ihre Zeit in den Teehäusern verschwatzen, wie z.B. in der Türkei oft der Fall ist. Das bedeutet gar nicht, daß die Frauen nicht arbeiten sollen. Der Mann soll Arbeit seiner besonderen Kraft gemäß verrichten – und die Frau gleicherweise.

Wir stellen also fest, daß die Weiblichkeit der Frau so geartet ist, daß ihr besondere Rücksicht und Ehre zusteht. Die Harmonie in der Ehe geht oft dadurch verloren, daß die Männer ihre Ritterlichkeit der Frau gegenüber im Laufe der Jahre vergessen. Die Frauen auf ihrer Seite vergessen die Ladies zu sein, die sie einst waren – oder sein wollten!

Eine weise ältere englische Dame sagte mir einmal, wenn ein Mensch, eine Familie oder eine Nation auf dem Gebiete der geschlechtlichen Moral labil ist, dann seien sie auf allen anderen Gebieten auch labil. Es müsse auch so sein, denn alle drei Ebenen eines Menschen oder einer menschlichen Kultur beeinflussen einander gegenseitig. Ein falsches Verhältnis auf Ebene 1 wird im Laufe der Zeit Ebenen 2 und 3 in Mitleidenschaft ziehen. Dies gilt für den Einzelnen, sowie für die Familie und die Nation. Wenn unser Denken auf Ebene 2 zu einer Verachtung von Ebene 1 führt (was bei gewissen Askesen der Fall sein kann), dann werden Ebenen 1 und 3 in Mitleidenschaft gezogen. Alle drei Ebenen des Menschen sollen einen großen Akkord darstellen. Wenn eine Ebene mit der anderen nicht harmoniert, dann kann es leicht zu einer großen Dissonanz in der menschlichen Trinität kommen. Aus diesem Grund müssen alle drei Ebenen bei beiden Ehepartnern harmonieren. Zu dieser Harmonie gehören natürlich viel Vernunft und auch Disziplin beiderseits.

2) Die Gesellschaft, die alles zulässt

Heute leben wir in einer Gesellschaft, die alles zulässt. Eine Folge dieser Tatsache ist natürlich, daß eine Lehre, die Disziplin, Zurückhaltung und Ordnung verlangt, nicht gefragt wird. Da aber wir Menschen von einem Gott der Disziplin, Zurückhaltung und Ordnung erschaffen wurden, kommen wir ohne diese Eigenschaften nicht gut aus. Ein Mensch, der in Undiszipliniertheit, Unordnung und Ausgelassenheit lebt, entspricht nicht seinen eigenen Bedürfnissen. Deshalb wird er auch frustriert. Er erfüllt sein Wesen nicht.

Diese Tatsache des menschlichen Wesens (Bedürfnis nach Disziplin und Ordnung) reicht bis in das intimste Eheverhältnis hinein. Durch alle Probleme und auch Freuden in der Ehe und im Eheverhältnis sollte der Mann der sein, der seiner Ehegattin disziplinierte Ehre erweist. Diese Ehrerweisung in all den Kämpfen des Lebens, besonders in der Kindererziehung, bei Krankheiten und wirtschaftlichen Nöten zu beachten, ist nicht immer leicht. Durch Erfahrung und Disziplin kann sie geübt werden. Die Ehepartner sind sich ja zur gegenseitigen Hilfe und Ergänzung gegeben. Der Ehemann ist vor Gott für die geistliche, seelische und körperliche Entwicklung seiner Frau verantwortlich, und die Ehefrau genauso für das allseitige Gedeihen ihres Mannes. Hermann Claudius drückt das so schön aus:

„Nun aber ist es so,
daß Gott mich ohne dich nicht sieht
und dich nicht ohne mich,
was immer auch geschieht.
Des bin ich froh.”

3) Schwangerschaft und Ankunft von Kindern

Kinder in die Welt setzen, fordert von einer Frau (sowie auch von einem Mann) körperliche und auch psychische Kraft. Wenn ein Mann wirklich eins ist mit seiner Frau, wird auch er durch diese großen Ereignisse in Anspruch genommen. Allerlei Beschwerden körperlicher und auch seelischer Art sind mit der Geburt eines Kindes verbunden.

Zuerst muß man bedenken, daß eine Schwangerschaft eine große Umwälzung im Stoffwechsel einer Frau mit sich bringt. Ihre Periode bleibt aus, was einen Wechsel im ganzen Hormon-Haushalt des Körpers hervorruft. Dieser Wechsel beeinflusst die Psyche. Viele Frauen leiden unter Brechreiz während der ersten drei Monate einer Schwangerschaft. Kaum haben sie ihr Frühstück zu sich genommen, da fängt der Reiz an. Gerade um diese Beschwerden zu bekämpfen, wurde vor Jahren Contergan (Phthalidomid) verschrieben. Das Resultat war, daß viele Kinder mit verstümmelten Beinen und Armen zur Welt kamen. Contergan griff das empfindliche Gewebe, das die Glieder im Fötus bildet, an. Die Kinder waren sonst normal.

Während der Schwangerschaft ist jede Frau gegenüber Drogen und allen anderen Einflüssen empfindlicher als sonst. Das Baby, das sie trägt, wird von den Speisen, der Luftverunreinigung (Nikotin etc.), von Drogen und Giften, die die Mutter einnimmt (Alkohol, Nikotin, Kaffee etc.), stark beeinflusst. Je jünger das Baby im Mutterleib, desto empfindlicher ist es gegen alle Gifte und Drogen. Deshalb soll eine werdende Mutter nicht rauchen und auch wenig Alkohol einnehmen. Kopfwehpillen und Schlafmittel soll sie, wo nur möglich, auch vermeiden.

Das Durchleuchten des Abdomens einer schwangeren Frau ist für das Baby gefährlich. Die ionisierenden Strahlen sind (oft erst nach Jahren) krebserregend. Viele Frauen leiden während dieser Zeit (und auch nachher) an Krampfadern, so daß sie nicht viel auf den Beinen sein sollen. Während des Stillens können Störungen seelischer Art auftauchen, die mit der Laktation zusammenhängen. Meist verschwinden diese Störungen mit der Zeit von selbst. Gut ist es für Kind und Mutter, wenn die Mutter das Baby 6-12 Monate selbst ernährt. Babys, die Muttermilch an der Brust bekommen, sind bedeutend weniger für Infektionen und Magendarmstörungen anfällig als Flaschenkinder. Auch psychisch sind Brustkinder oft ausgeglichener als Flaschenkinder, denn die Ernährung an der Brust verleiht einem Kind eine Geborgenheit, die das Flaschenkind entbehrt. Auf der anderen Seite darf das Stillen eine Frau nicht zu stark überlasten. Die Laktationshormone sind für eine Mutter auch von Vorteil, und das Stillen erfüllt sie. Die Hormone beruhigen sie und gleichen psychisch aus.

Theoretisch könnte eine Frau zwischen dem Alter von ca. 16 Jahren bis zum ca. 50. Lebensjahr alljährlich ein Kind bekommen. Diese theoretische Möglichkeit würde aber nicht nur ihre biologischen und psychischen Kräfte erschöpfen, sondern auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Familie – und auf lange Sicht diejenigen unseres Planeten – weit überfordern.

So tritt das Problem der Geburtenregelung an alle Eheleute heute heran. Klar ist es, daß die einen weniger Kinder bekommen, als sie möchten. Andere Ehepaare bekommen gar keine Kinder und können nichts dafür. Wieder andere Ehepaare sind zu fruchtbar. Das Geburtenregelungsproblem liegt bei denen vor, die über eine zu große Fruchtbarkeit verfügen. Wie sollen sich solche Ehepaare verhalten? Sie müssen vor Gott und untereinander abmachen, wieviel Kinder sie verantworten können und als Gabe aus Gottes Hand annehmen dürfen. Kinder sind eine Gabe des Herrn (Psalm 127:3-5). Die Eltern müssen überlegen, zu wieviel Kindern die Kraft der Frau (und des Mannes) reicht und wieviel Finanzkraft hinter der Familie steht, um den Kindern eine gute Erziehung bieten zu können.

Das verantwortungslose Zeugen von Kindern ist die Krankheit, an der die moderne undisziplinierte Welt mit am meisten leidet. Ein Mensch, der in Indien, Pakistan oder Afrika zu Tode hungert, setzt Kinder in die Welt, die dann zwangsläufig zu Grunde gehen, weil der Vater weder sich selbst noch seine armen Kinder ernähren kann. Diese Handlungsweise ist grausam, stellt aber ein typisches Bild der Entwicklungsländer dar. Selbst die Tiere regeln in vielen Fällen ihre Familien automatisch nach dem Maß der vorhandenen Ernährung. Man muß gewissermaßen die Familie so mit Vernunft planen, wie man sonst das Familienleben und Geschäftsleben plant. Es ist klar, daß man auf diesem Gebiet nicht alles lückenlos planen kann, doch können wir wohl überlegen, was zu verantworten ist und was nicht.

Viele Christen lieben das Wort Familienplanung nicht – und oft mit Recht, denn das Wort ist mit einem unangenehmen Beigeschmack behaftet. Es ist von gewissen politischen Richtungen mißbraucht worden. Einige Organisationen führen solche Planung mit Hilfe vonVerhütungsmitteln, Pessaren und auch Abtreibungen durch. Das lehnen wir entschieden ab. Die Frage stellt sich also, wie man eine Familie planen kann, daß sie innerhalb der Kraftgrenzen der Familie bleibt, ohne daß sie zu den obengenannten Kunstgriffen Zuflucht nimmt. Unter allen Umständen ist es unser Anliegen, bezüglich Familienplanung und Eheethik innerhalb der biblischen Ethik zu bleiben. Und zur gleichen Zeit soll unsere gottgegebene gesunde Vernunft auch in der Ehe und in der Familie ihre Rolle spielen.

Das Hauptproblem der heutigen Geburtenregelung ist dadurch entstanden, daß Sex durch Filme, Radio, Fernsehen und „Sexaufklärung” in der Schule so dargestellt wird, wie er in Wirklichkeit nicht ist. „Liebe” und Sex werden als Triebe hingestellt, die im Prinzip unwiderstehlich sind. Sie sind wie eine ansteckende Krankheit, der man keinerlei Widerstand leisten kann. Weil nun der Sextrieb unwiderstehlich und hauptsächlich körperlich bedingt ist, muß man ihm nachkommen. Der nächste Schritt in der Argumentation folgt schnell – wir sind so gebaut, daß wir rein körperlich Sex haben müssen – wir haben nicht nur das Bedürfnis nach Sex, wir haben auch das Recht, körperlichen Sex voll zu genießen, genau wie wir das Bedürfnis danach haben.

So entsteht die Idee von freiem Sex. Genauso wie wir das Recht auf das tägliche Brot haben, so haben wir auch das Recht auf freien Sex, wie wir wollen. Diese Einstellung ist grundsätzlich nicht wahr. Genauso wie Menschen eine Zeitlang freiwillig auf das Essen verzichten können, so können wir auch auf Geschlechtsverkehr verzichten. Jeder Hungerstreik und jeder Fastentag beweist, daß freiwilliger Verzicht auf Appetit möglich ist. So auch bei Sex. Die Seele ist prinzipiell imstande, den Körper zu beherrschen.

Nur eine psychisch degenerierte Zivilisation wagt, das Gegenteil zu behaupten. Jeder Mensch, der davon überzeugt ist, daß er nicht fasten kann, dort wo doch Essen vorhanden ist, wird auch nie über die innere Kraft verfügen, erfolgreich zu fasten. Viele Frauen, die nicht stillen wollen, können tatsächlich nicht stillen! So auch im Geschlecht Wenn wir davon überzeugt sind – wie fast jeder Hollywood-Film und fast jede Radio- und TV-Show uns beweisen will -, daß wir freien Sex haben müssen, dann werden wir ihn auch tatsächlich haben müssen. Die Degenerierung unserer Kultur zur Widerstandslosigkeit auf dem Gebiet von Sex ist teilweise durch diese Propaganda zustandegekommen. Aber wenn man verzichten will, darf man sich nicht in Versuchung begeben.

Das Volk, das freien Sex praktiziert, wird bald nicht imstande sein, sich zu verteidigen. Die innere und damit die äußere Zersetzung geht schnell vor sich. Mens sana in corpore sano! Ein Volk, das weder in bezug auf Essen, Trinken oder Geschlecht zu verzichten versteht, kann von entschlossenen Politikern leicht erobert werden, weil es auch körperlich krank und schwach wird. So wurden alte Zivilisationen zu Grunde gerichtet. Und so wird auch unsere Kultur vor unseren Augen zerstört.

Verzicht fängt in der Familie und in der Ehe an. Dort lernt man das, was man später im öffentlichen Leben ausübt. Gerade hier haben wir auch den Schlüssel zur Planung einer Familie nach den vorhandenen Kräften. Daß Verzicht dieser Art prinzipiell möglich ist, geht aus der Tatsache hervor, daß jeder Mann und jede Frau zu bestimmten Zeiten des monatlichen Zyklus auf Verkehr verzichten kann und muß. Und die Tatsache, daß jedes Ehepaar nur zu bestimmten Zeiten des weiblichen Zyklus fruchtbar ist, bietet einen Schlüssel zur Geburtenregelung an, den uns Gott in die Hände gegeben hat (siehe Anhang). Aber Selbstdisziplin ist für die Benützung selbst dieses Schlüssels erforderlich. Die Disziplinlosigkeit unserer heutigen Erziehung, in der Familie wie auch in der Schule, muß dafür verantwortlich gemacht werden, daß Abtreibungen, Verhütungsmittel, Pessare, Pillen, usw. für Geburtenregelung Verwendung finden.

Unser Problem der Geburtenregelung in der heutigen Kultur ist also wiederum eher ein Problem der Seele als des Körpers. Die eigene Psyche regiert nicht mehr über den eigenen Körper. Unsere Erziehung in der Schule und durch die Massenmedien ist tendenziös geworden. Der Körper – die Materie – herrscht über den Geist und die Psyche statt umgekehrt. Unsere Kultur hat den Versuch gemacht, das Leben und die Biologie nur anhand der Materie zu erklären. Ist es also verwunderlich, daß die Psyche, die Seele unserer Kultur, dabei Schaden erlitten hat? Die Seele (und der Geist) kann den Körper disziplinieren. Statt dessen herrschen der Leib und seine Lüste – und verderben den Charakter.

Wenn ein Mann oder eine Frau sieht, daß der Ehepartner ihn oder sie so sehr liebhat, daß sie ihn oder er sie schont und ehrt, werden sie sich noch mehr respektieren und lieben. Wenn er sich trotz starker Zuneigung zurückhält, werden sie sich verstehen. Die Bibel empfiehlt uns praktisch die gleiche Maßnahme, die Zurückhaltung, die wir oben empfohlen haben: „Entziehet euch einander nicht, es sei denn etwa nach Übereinkunft eine Zeitlang, um Muße zum Gebet zu haben und (nachher) wieder zusammenzukommen, damit euch nicht der Satan wegen eurer Unenthaltsamkeit versuche” (1. Kor. 7:5).

Die Idee, daß der Geschlechtstrieb etwas Unwiderstehliches ist, stellt das Resultat jahrelanger Propaganda der Filmindustrie und der Massenmedien dar. Sicher ist das Geschlecht der stärkste Instinkt, den wir besitzen. Doch kann ein Ehepaar übereinkommen, eine Zeitlang auf Verkehr zu verzichten. Was unter Beweis stellt, daß Disziplin und Vernunft möglich sind – auch bei Sex! Sicher kostet es Überwindung, auf ein Wienerschnitzel zu verzichten, besonders wenn man sehr Hunger hat Es ist aber ein Beweis von Charakterstärke, wenn man doch, trotz allem, verzichten kann. Und Verzicht unter solchen Umständen erzeugt beiderseitigen Respekt. Zu bestimmten Zeiten im Zyklus müssen beide Ehepartner sowieso auf Verkehr verzichten, was unter Beweis stellt, daß Sex nicht unwiderstehlich ist.

Das Problem der Überbevölkerung der Erde sollte gerade auf dieser Ebene gelöst werden. Menschen sind (wenigstens theoretisch!) vernunftbegabte Wesen. Man kann sie zu allerlei Lehren erziehen! Obengenannte materialistische Lebensanschauungen haben aber offenbar die meisten Menschen in ihrer Überzeugung bestätigt, daß der Mensch genauso hilflos vor Geschlecht d. h. vor seinem Körper oder der Materie steht wie die Tiere. Wenn nun der Darwinismus und die Evolutionstheorie uns lehren, daß wir nur hochentwickelte Tiere sind (weil wir angeblich von Tieren abstammen), werden wir den Geschlechtstrieb genauso wenig überwinden können wie Hund und Hündin, wenn die Hündin läufig ist. Erziehung und Aufklärung über unser wahres Wesen und unsere wirkliche menschliche Würde im Ebenbild Gottes würde eine etwas konkretere Basis für die Überwindung des großen Problems der Überbevölkerung liefern. Erst dann könnte der Mensch nach menschlicher Würde und Vernunft auf Ebene 2 und 3 handeln, statt das Problem nur auf der Basis seiner tierischen Triebe auf Ebene 1 und der Verhütungstechnik lösen zu wollen.

Innerhalb der oben abgesteckten Grenzen wird das christliche Ehepaar Kinder froh aus Gottes Hand nehmen. Sie sind ein Geschenk Gottes, und selig ist der Mann, der seinen Köcher voll derselben hat (Ps. 127:5). Jedermann muß aber wissen, wie groß sein Köcher ist – und ob er ihn schon voll hat oder nicht. Kinder sind ein großes Geschenk Gottes. Gott hat uns drei Söhne und eine Tochter geschenkt, wofür wir beide von Herzen dankbar sind. Durch unsere Kinder haben wir viel gelernt und überaus großen Segen empfangen. Wenn sie geraten, ist die Freude tief und befriedigend. Diese Freude kennen nur Eltern, die ihre Kinder als Geschenk Gottes lieben, für sie beten und auch opfern.

4) Disziplin und heutiger Geist

Unsere Zivilisation hat in letzter Zeit viele Propheten hervorgebracht, die wie Bert Brecht, die absolute Freiheit des Menschen verkündigen, ausschließlich das zu tun, wozu man gerade Lust hat. So überwinden wir angeblich Komplexe. Bert Brecht und seine Freunde lehren, daß wir in dieser Hinsicht absolut keine Rücksicht auf andere zu nehmen brauchen. Die Struktur unserer heutigen Welt ist eben so, daß man nicht „gut” sein kann, wofür ein etwaiger Schöpfergott die Schuld tragen muß. Er machte die Welt doch so.

Es ist lehrreich zu erfahren, wie solche Propheten der Freiheit, wie Bert Brecht ihre Frauen in der Ehe behandelten, denn ihre intime Ehepraxis gibt eine gewisse Widerspiegelung ihrer Philosophien. So heiratete Brecht seine erste Frau als sie von ihm schon schwanger war (Hochzeit am 3.11.22, Geburt der Tochter am 12. 3. 23. Am 3. 11. 24 wurde noch dazu ein Sohn geboren).

Ehe er heiratete, hatte er von einer anderen Frau ein uneheliches Kind. Am 22. 11. 27 hat er sich von seiner Frau scheiden lassen, nachdem er einige Jahre eine Bekanntschaft mit Helene Weigel gepflegt hatte. Diese Bekanntschaft fing schon vor der Geburt des Sohnes seiner Frau an. Im Jahre 1929 heiratete Brecht Helene Weigel.

In Brechts Werken, besonders in den früheren, findet man eine Verpflichtungslosigkeit anderen Menschen, besonders Frauen gegenüber, die direkt ekelerregend ist: „Aber Anna war oft müde und beneidete jeden, der seine Tage zubringen durfte in Trägheit nicht zu kaufen und stolz, in Zorn geratend über jede Rohheit, hingegeben seinen Trieben, ein Glücklicher, liebend nur den Geliebten und offen nehmend, was immer er braucht”. (Brecht, Marianne Kesting, Rowohlts Monographien, 1959, Seite 73). Marianne Kesting kommentiert: „Diese Verse enthalten das Brechtsche Lebensrecht, das in Baal noch als anarchischer Lebenswille formuliert alle seine Werke als grundsätzliche Forderung an die Gesellschaft durchzieht”.

Brecht und seine Freunde wissen nicht, was eine Verpflichtung mit sich bringt. Der Grundpfeiler jeder menschlichen oder auch tierischen Gesellschaft ist aber und bleibt Selbstdisziplin und die Rücksicht auf die Gesellschaft (nicht nur auf sich selbst). Der gleiche Grundpfeiler besteht in der Organisation der mehrzelligen Organismen, die wir Menschen, Tiere oder Pflanzen nennen. Denn die Zellen, die solche Organismen aufbauen, müssen gewisse Rechte, die sie als Zygote (oder Urzelle) besaßen, stark einschränken, sonst könnte kein Organismus zustande kommen noch existenzfähig sein. Die Zellen meines Herzens oder meiner Haut dürfen ihre ursprüngliche Freiheit als Zygote nicht walten lassen, sonst würde jede Herzzelle und jede Hautzelle sich zu einem total neuen Organismus entwickeln. Denn jede Herzzelle und jede Hautzelle besitzt die genetische Information, um einen ganzen Menschen zu bauen. Nun, ein neuer Mensch in meinem Herzen – oder in meiner Haut – würde weder dem Herzen noch der Haut gut bekommen! Jede differenzierte Zelle muß also auf die Gesellschaft der umliegenden Zellen des Organismus Rücksicht nehmen. Ohne die Rücksichtnahme und den Willen zur Einschränkung der Zellen könnte kein Mensch – auch keine Pflanze und kein Tier – existieren. Dieser Wille zur Selbsteinschränkung der Zellen ist also ein Grundpfeiler der zellularen, biologischen Gesellschaftsordnung.

Keine Gesellschaftsordnung, sei sie menschliche, soziale Gesellschaft oder biologische, zellulare Ordnung kann ohne diesen Grundpfeiler der Selbsteinschränkung lebensfähig sein. Gesellschaft unter Menschen sowie Gesellschaft unter Zellen in mehrzelligen Organismen, kann nicht existieren, wenn jeder Mensch oder jede Zelle gerade das macht, wozu er (oder sie) Lust empfindet Doch verlangt gerade das die Philosophie von Brecht und seinen Freunden. Wenn eine Zelle in einem Organismus beginnt, gerade das zu tun, wozu sie Lust hat, ist damit eine Art Krebs entstanden.

Deshalb ist die „Philosophie” von Brecht der Inbegriff der Krankheit, die wir Krebs nennen. Jede Zelle vermehrt sich bei Krebs nach Herzenslust und nicht nach den Bedürfnissen des Körpers. Wenn man nicht schnell genug handelt, indem man durch einen chirurgischen Eingriff den Klumpen solcher Zellen (Tumor) gründlich und radikal ausschneidet, muß der ganze Organismus an Krebs zugrunde gehen. Denn Krebs ist, wie Brechts Philosophie des Anarchismus, „ansteckend”. Einzig und allein radikale Chirurgie kann dort helfen. Es kommt sehr selten vor, daß eine solche Krankheit von selbst heilt, indem Krebszellen sich „umbesinnen” und anfangen, wieder Rücksicht auf ihre Mitzellen zu nehmen. Rücksicht lernen sie nie wieder, nachdem sie einmal krebsartig geworden sind.

Brechts Philosophie, gerade das zu tun, wozu man Lust hat, muß also die Gesellschaft (auch Ehegemeinschaften) zersetzen, die sie hegt. Die einzige sichere Methode, dieser Brechtphilosophie zu begegnen, besteht darin, sie gründlich aufzudecken, wie ein guter Chirurg einen Tumor aufdeckt, und sie dann radikal auszuschneiden.

Es ist erstaunlich, daß in der Bundesrepublik Deutschland Brecht viel mehr gelesen und gelehrt wird, als die alten deutschen Klassiker. Wir hörten von einer Abiturientin, daß ihre Klasse 44 Stunden Brecht Unterricht erhielt Den alten Klassikern wurden insgesamt 4 Stunden gewidmet. In einer solchen Unterrichtsatmosphäre ist es also garnicht verwunderlich, wenn das Lebensrecht ungeborener Kinder nicht mehr respektiert wird. Brechts „Die Maßnahme” soll dazu dienen, das Lebensrecht selbst Erwachsener zu verunsichern! Bei dieser Lebensanschauung wird selbst das Leben von Meerschweinchen im Labor besser geschützt als das Leben des werdenden Kindes im Mutterleib. Sicher hat das Tier das Recht auf Leben und das Recht, nicht gequält zu werden. Warum aber soll ein werdendes Kind, das in Gottes Ebenbild gestaltet ist, weniger Recht genießen als ein Tier?

Disziplin und Zurückhaltung in der Ehe sind genauso Gebot wie Disziplin und Zurückhaltung in der Gesellschaft und in der Biologie. Unsere modernen Propheten haben aber gerade diese Grundpfeiler alter Gesellschaft entzwei gebrochen. Niemand scheint heute daran zu denken, daß Disziplin in der Ausübung von Sex das Problem der Überbevölkerung lösen würde. Man sucht pharmakologische Lösungen (die Pille), mechanische Lösungen (Pessare, Kondome etc.) und Tötung der durch Disziplinlosigkeit gezeugten Kinder. Die Lösung durch Vernunft und Selbstdisziplin (d. h. durch Menschsein) ist die einzige menschenwürdige Lösung, die aber heute so unmöglich erscheint, daß man sie nicht ernsthaft in Betracht zieht Der Grund, warum sie undurchführbar ist, liegt natürlich in der Tatsache, daß eine große Mehrzahl der Menschen heute ausschließlich auf Ebene 1, d. h. wie die Tiere lebt. Deshalb ist der Mensch ein Spielzeug seiner Triebe geworden. Eine disziplinierte Trinität auf Ebenen 1,2 und 3 kennt er nicht. Die Menschen scheinen im Begriff zu sein, ihre menschliche Spezies als vernunftgesteuerte Wesen ganz zu verlieren. Sie leben dementsprechend auf Ebene 1, wie die lieben Tiere. Nicht nur in bezug auf Sex, sondern auch in bezug auf Wirtschaft und Kriegführung!

5) Der Einfluß des Materialismus auf Sexgesinnung

An dieser Stelle müssen wir einen kurzen Zusatz zum Thema Sex und Materialismus hinzufügen. Damit meinen wir natürlich nicht die Art von Materialismus, die man dem bloßen Egoismus gleichsetzen kann. Unter Materialismus verstehen wir hier die Philosophie, die bewußt die Überzeugung vertritt, daß Materie die einzige Realität ist, die existiert. Begriffe wie „Seele” oder „Geist” gibt es nach dieser Philosophie nicht. Sie sind nur ein Niederschlag physiologischer, körperlicher Funktionen, also Funktionen von Materie. Diese materialistische Einstellung ist natürlich heute, wissenschaftlich gesehen, absolut untragbar. Moderne Physiker – und auch einige Biologen – sind davon überzeugt, daß Materialismus dieser Art passé ist. Aber die Folgen eines materialistischen Glaubens besonders auf Sex interessieren uns, weil heutzutage eine große Mehrheit der Menschen in unseren Schulen und Universitäten immer noch zu Materialisten erzogen wird.

Ein Hauptpfeiler des Kommunismus ist ja der dialektische Materialismus. Über den dialektischen Teil des Materialismus brauchen wir hier keine Zeit zu verlieren, denn Dialektik findet sich überall in der Natur. Aber der Materialismus an sich stellt ein ganz anderes Problem dar. Was für Auswirkungen dürfte man bezüglich Sex erwarten als Ergebnis des heute vorherrschenden Materialismus? Erstens glaubt der überzeugte Materialist, daß Materie die einzige Realität darstellt. Seele und Geist existieren als Entitäten für ihn nicht. Infolge dieser Tatsache wird er, wenn er konsequent ist, auf Ebene 1 allein seinen Sex praktizieren. Andere Ebenen kennt er nicht. Wenn man ein Beispiel für diese Sachlage sucht, lese man das Werk von Bert Brecht „Baal. Der böse Baal der Asoziale”. Hier blüht Ebene 1 von Sex in all ihrer widerlichen Einseitigkeit. Die Reaktion eines jeden sauber denkenden Menschen darauf, der seine „Spezies” bewahren will, muß die „Nux vomica” – (Brechnuß) Reaktion sein und nichts anderes! Brecht und seine Sex-Philosophie ist natürlich eine direkte Folge seines Materialismus und seines Atheismus.

Kapitel 4

Das Verhältnis des jungen Christen zu ungläubigen Eltern und Verwandten

1) Einige prinzipielle Fragen

Viele junge Menschen aus der nichtchristlichen Welt werden heute durch gesegneten missionarischen Einsatz in Radio, Freizeiten und durch Evangelisation für Christus gewonnen. Diese gute Arbeit bringt aber für die jungen Menschen Komplikationen, die von anderen Gläubigen aus christlichen Familien oft gar nicht verstanden werden. Denn die Mehrzahl der Eltern und Verwandten dieser frisch aus der nichtchristlichen Welt gewonnenen Jugend stehen dem Evangelium gegenüber fern. Vielfach haben solche Eltern und Verwandte gar keinen Sinn für das neue Leben ihrer Kinder und legen ihnen deshalb alle möglichen und unmöglichen „Steine“ in den Weg.

Wie soll sich nun die neu gläubig gewordene Jugend in dieser schwierigen familiären Lage verhalten? Die Bibel gibt uns Richtlinien für das Verhalten von Jugend, die von ihren Eltern und ihrer Familie nicht verstanden wird. Der Herr Jesus stand gerade in der Pubertät – er war ca. 12 Jahre alt. In einem heißen Klima werden Kinder früher reif als bei uns im Norden. Es wird uns ausdrücklich berichtet, daß seine Eltern ihn nicht verstanden. Er hatte in Jerusalem Arbeit zu tun, wofür die Eltern kein Verständnis hatten. (Lukas 2:49). Obwohl Maria seine Handlungsweise garnicht verstand, bewegte sie alle seine Worte in ihrem Herzen. Erst nach der Auferstehung von den Toten glaubten Maria und ihre Familie an ihn. Vorher zeigten seine Geschwister nur Unverstand ihrem Bruder gegenüber (Mark. 3:21, Joh. 7:5). Es wird erwähnt, daß sie erst später seine Jünger wurden (Matth. 13:55, Mark. 6:3, Apg. 12:7, 15:13, 21:18, 1. Kor. 15:7, Gal. 1:19,2:9,12, Jak. 1.1.) Der Herr Jesus wurde also von seiner Familie nicht verstanden, obwohl er immer ein Vorbild war. Wir sind oft keine so guten Vorbilder, so daß wir im Gegensatz zu Jesus Christus deshalb auf berechtigten Widerstand in der Familie stoßen.

In der Familie kennt jedes Familienmitglied das andere ganz genau. Dort gibt es wenig wirkliche Geheimnisse. Alle Schwächen, Unzulänglichkeiten, Untugenden und auch Tugenden sind innerhalb einer Familie offenbar und bekannt. Unsere eigenen Geschwister würden wohl kaum auf den Gedanken kommen, uns für „Heilige“ zu halten! Sie kennen uns zu gut! Eine Mutter kennt die Schwächen ihres Kindes durch und durch – auch wenn sie ihren Sohn oder ihre Tochter schützt. Bezeichnend ist es also, daß die Mutter vom Herrn Jesus, Maria, erst nach seiner Auferstehung von den Toten seine Jüngerin wurde. Das gleiche gilt auch für seine Brüder Jakobus, Joseph, Simon und Judas. Maria als Frau wußte ganz genau, daß Joseph nicht der Vater ihres ersten Sohnes war. Sie wußte auch, daß kein anderer Mann mit ihr vorehelichen Verkehr gehabt hatte. Sie wußte, daß sie vollkommen keusch gewesen war, und sagte das sogar dem Engel (Matth. 1:20,25, Lukas 1:34). Einen Engel lügt man nicht an! Folglich wußte sie, daß kein Mensch Vater ihres Kindes war. Maria glaubte auch an das Wort des Engels zu ihr – daß der Heilige Geist „Vater“ des Herrn Jesus war. Sie war die einzige menschliche Person (außer Jesus selber), die auf diesem Gebiet genau Bescheid wußte. Wenn sie gewußt hätte, daß der Ausspruch des Engels nicht stimmte, und sie ihm nichts gesagt hätte, wäre sie eine unvorstellbare Heuchlerin gewesen, als sie später Jüngerin ihres eigenen Sohnes wurde. Diese Tatsache war ein Bekenntnis, daß Jesus, ihr Sohn, Sohn Gottes und nicht Sohn Josephs war!

Maria kannte auch die Aussprüche ihres Sohnes bezüglich seiner eigenen Person und Abstammung. Er nannte sich Gottes Sohn und sagte, daß er existierte, ehe Abraham war (Joh. 8:58). Er sprach von der Herrlichkeit, die er beim Vater hatte, ehe der Grund der Welt überhaupt gelegt wurde (Joh. 17:5). Er sagte, wer ihn sähe, der habe den Vater gesehen (Joh. 14:9). Es gibt eine Fülle von anderen Aussprüchen, die in die gleiche Richtung deuten, nämlich, daß Jesus wußte und sagte, er sei in der Tat Gottes Sohn und deshalb an der Gottheit selbst teilhaftig. Über das spätere Leben von Joseph, dem Vater der Geschwister Jesu, hören wir wenig. Joseph wußte auch, daß er nicht der leibliche Vater des Herrn Jesus war. Er wollte sich von Maria trennen, als er entdeckte, daß sie schwanger war. Maria sagte dem Engel ganz ausdrücklich, daß sie mit keinem Mann irgendwelchen Verkehr gehabt hatte (Luk. 1:34). Wahrscheinlich starb Joseph früh, so daß der Herr Jesus früh die Versorgung der Familie übernehmen mußte. Als ältester Sohn arbeitete er dann als Zimmermann (oder vielleicht als Baumeister).

Diese Familienverhältnisse Jesu Christi bieten uns ein gutes Bild seiner Jugend. In einer kinderreichen, später vaterlosen Familie war er der Älteste. Familiennöte kannte er! Seine frommen Eltern verstanden seine Aufgabe nicht. Trotz dieses Mangels an Verständnis blieb der Herr Jesus seinen Eltern untertan. (Luk. 2:51). Gerade im schwierigsten Alter in und nach der Pubertät gehorchte der Herr seinen Eltern. Er war ca. 12 Jahre alt, als er bei den Ältesten in Jerusalem zurückblieb, um Fragen zu stellen und zu beantworten. Von der Lebensperiode zwischen Pubertät und seinem Hervortreten vor dem Volk mit ca. 30 Jahren hören wir nur das eine Wort über ihn: er war seinen Eltern unter-
tan!

Obwohl wir wissen, daß Maria ihn nicht immer verstand, war er ihr untertan! Von diesen Begebenheiten seiner Jugend können wir mancherlei lernen. Es war sicher Gott wohlgefällig, daß der Herr Jesus seinen Eltern untertan war. Denn Jesus tat immer das Gott-Wohlgefällige. So wird es auch heute Gott wohlgefallen, wenn gläubige Jugend ihren Eltern untertan ist… selbst wenn die Eltern sie nicht immer verstehen. Jesus ging diesen Weg auch. Das bedeutet nicht, daß der Herr Jesus so gehorsam war, daß er auf Geheiß seiner Eltern gesündigt hätte. Er lebte nach klaren Richtlinien, indem er Menschen gab, was Menschen gehörte, und Gott, was Gott gehörte. Sicher trug Jesu Art und Lebensweise in seiner Familie dazu bei, daß seine Mutter und seine Geschwister später zum Glauben fanden. Denn sie erkannten an Jesu Gehorsam in der Familie die Erfüllung des Gesetzes Gottes. Aus Liebe zu Jesus werden Kinder Vater und Mutter auch ehren wollen – auch wenn letztere noch ungläubig und vielleicht schwierig sind. Eltern sind Eltern, ob gläubig oder ungläubig, und verdienen als solche Ehre, auch wenn sie schwierig sind. Wie soll sich nun praktisch z.B. ein junges gläubiges Mädchen verhalten, wenn sie in die Bibelstunde oder in den Gottesdienst gehen möchte und ihre Eltern es ihr nicht erlauben? Im allgemeinen soll sie ihnen gehorchen, das ist klar. Andererseits lehrt uns die Bibel, daß wir unsere Versammlung unter Gottes Wort nicht vernachlässigen dürfen. (Hebr. 10:25).

Nach der Bibel sollte sie also gehen. Die Frage ist aber: Wie? Trotzig jähzornig und eigenwillig soll sie ihren Willen nicht durchsetzen. Auch ein Christ kann sich auf völlig ungerechte, ungottselige Art und Weise durchsetzen. Dabei nimmt man den Eigenwillen als Deckmantel für Gottes Willen. Es kann sein, daß die Eltern der Überzeugung sind, daß ihre Tochter unter der Jugend nicht immer unter genügender Aufsicht steht, oder daß sie dort keinen passenden Mann bekommt! Durch Gebet und Vorbild kann sich manches Elternherz mit der Zeit ändern. Die Lage ist natürlich anders, wenn die Eltern direkte Antichristen sind. Solange die Tochter von den Eltern finanziell abhängig ist und unter ihrem Dach wohnt, soll sie so weit wie nur möglich gehorchen, um den Eltern ein Vorbild zu sein. Wenn sie unter Gebet mit den Eltern so umgeht, kann Gott auch in solchen Fällen Wunder tun. Diese Situationen sind Glaubensproben für junge Menschen und sollen auch Gegenstand des Gebets in der Gemeinde sein.

Natürlich gibt es klare Fälle, wo es besser ist, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (Apg. 5:9). Doch bleibt die allgemeine Regel, daß man den Eltern untertan sein soll. Feste Regeln können in solchen Lagen gefährlich sein. Solange man einen biblischen Standpunkt in der Liebe vertritt, wird man nicht entgleisen, auch wenn man Fehler begeht. Im allgemeinen forderten die Apostel die Jünger immer wieder auf, der Behörde gehorsam zu leisten (Titus 3:1, Eph. 6:1 [Eltern] Kol. 3:20-22 [Eltern und Diener], 1. Petr. 3:6 [Eheleute]). Doch als die Behörde den Aposteln die Verkündigung des Evangeliums verbieten wollte, da zeigten die Apostel sofort einen klaren, endgültigen Standpunkt. Sie gehorchten nicht und gaben der Behörde auf der Stelle zu verstehen, sie hätten nicht die geringste Absicht zu gehorchen: „Man muß Gott mehr gehorchen als dem Menschen” (Apg. 5:29). Die Grundhaltung gläubiger Kinder gläubigen und ungläubigen Eltern gegenüber ist: Gehorsam – bis zu einem gewissen Punkt. Dieser Punkt ist oft schwer genau zu definieren. Doch wenn ein Kind zu klarer Sünde gegen Gott und sein Wort aufgefordert wird, dann muß es seine endgültige Wahl gegen den Gehorsam treffen. Der betreffende Punkt muß sehr klar sein, die Aufforderung zur Sünde muß sehr eindeutig sein, ehe man das Gebot des allgemeinen Gehorsams und der Liebe Eltern gegenüber verlässt.

2) Einige rein praktische Angelegenheiten

Ungläubige Eltern fühlen sich durch das „Anpredigen” (lies „Zeugnisablegen”) seitens ihrer frisch zum Glauben gekommenen Kinder oft stark abgestoßen. Sicher spielt in bestimmten Fällen ein schlechtes Gewissen eine Rolle. Aber man muß solche Eltern auch richtig verstehen. Sie sind erfahrener als ihre Kinder und meinen, daß deren neugefundener Glaube mit Unerfahrenheit, ja mit Naivität zusammenhängt. Da müssen die Kinder die Reife der Eltern anerkennen und ihnen Verständnis entgegenbringen.

Kaum sind Sohn oder Tochter zum Glauben an Christus gekommen, da fangen sie an, Eltern und Verwandte zu belehren! Diejenigen, die in den Augen der Eltern und Verwandten kaum aus der Wiege hervorgekrabbelt sind, fangen mutig an, über die tiefsten, ja über die letzten Fragen Vorträge zu halten! Es ist für ältere Menschen überhaupt schwierig, neue Erkenntnisse, besonders von jüngeren Menschen anzunehmen, ganz besonders von den eigenen Kindern! Sogar ältere Professoren können es oft schwerlich vertragen, wenn jüngere Kollegen das Vorlesungspult besteigen! Gerade diese Schwierigkeit verstärkt sich, wenn Buben oder Mädchen von 15-20 Jahren plötzlich anfangen, ihren Eltern Vorlesungen zu halten! Ihre Kinder, die nach ihrer Meinung kaum trocken sind, wollen den weißen Stein des Philosophen gefunden haben! Dazu kennen die Eltern alle Schwächen und Mängel ihrer Kinder – auch wenn sie sie liebhaben! Nun, ob die ungläubigen Eltern dem Zeugnis ihrer Kinder Glauben schenken oder nicht, wird davon abhängig sein, wie die Kinder nachher, nach ihrer Bekehrung, zu Hause in der Familie leben und sich benehmen. Wenn die Kinder wirklich nach ihrer Bekehrung verträglicher, netter, ordentlicher und rücksichtsvoller zu Hause geworden sind, dann werden die Eltern auf den neuen Glauben der Kinder eher hören.

Durch den Einfluss der angelsächsischen Länder ist es in einigen Teilen Europas Mode geworden, daß junge Menschen, die frisch zum Glauben gekommen sind, in Massenveranstaltungen Zeugnis davon ablegen. Das ist zu begrüßen und ist durchaus biblisch. Doch sollten sich solche Zeugnisse nicht so anhören, als ob mit dem Betreffenden die Weisheit sterben wird! Zeugnisablegen ist richtig, doch sollten alle Worte des Zeugnisses wahr sein und durch Taten im Lebenswandel bestätigt werden. Es ist vielleicht gut, wenn man sich zu Hause zuerst eine Zeitlang bewährt, ehe das öffentliche Zeugnis erfolgt.

Wenn der junge Sohn des Hauses, der Christ geworden ist, seine gleichgesinnte Auserwählte den ungläubigen Eltern vorstellt, muß man folgendes bedenken: Alle Eltern schauen sich die zukünftigen Schwiegerkinder kritisch an, besonders wenn die Kinder bewusste Christen sind und sie nicht. In einem solchen Fall darf die angehende Schwiegertochter nicht gleich eine Predigt halten. Es ist besser, der Schwiegermutter praktisch an die Hand zu gehen und ihr, wo sie nur kann, im Haushalt zu helfen und zu dienen. Wenn die Schwiegereltern offen sind, kann sie bezeugen, was sie glaubt. Eltern im allgemeinen brauchen keine Predigten. Sie müssen meist ohne Worte gewonnen werden.

Das gleiche gilt natürlich für den angehenden Schwiegersohn bei seinen noch nicht gläubigen künftigen Schwiegereltern. Die wichtigste Parole bleibt: nur keine großen, lehrhaften Worte fallen lassen! Ich weiß, man soll Farbe bekennen! Die Fahne muß gehißt werden! Doch kann man dies am effektivsten zuerst durch Taten und Wesen ausrichten. Erst wenn man durch Taten und Gesinnung die künftigen Schwiegereltern auf rein menschlicher Ebene gewonnen hat, darf man die Hintergründe dieser Gesinnung verraten. Es ist gut, Zeugnis abzulegen. Aber es ist nicht gut, falsches Zeugnis abzulegen! Und gerade das tut man, wenn man mit hohen Worten ein Zeugnis ablegt, das nicht waschecht ist.

In all diesen Problemen können wir uns die Weisheit Salomons schenken lassen: „Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit” (Pred. 3:7). Nach meiner Beobachtung kann ein junges Mädchen durch ihre Gesinnung und tatkräftige Hilfsbereitschaft die Herzen der Schwiegereltern für das gesprochene Wort öffnen. Ihr freundliches, heiteres, echtes, liebes Wesen überwindet, so daß die Eltern ins Fragen kommen. Dann erst ist es an der Zeit, mit dem Wort zu beginnen. Die Bibel lehrt obige Art von Priorität sehr direkt: „Gleicherweise, ihr Frauen, seid untertan (untergeordnet) euren Männern, damit, wenn etliche dem Wort nicht gehorsam sind, sie durch den Wandel ohne Wort gewonnen werden, wenn sie euren Wandel in Scheu und Zucht beobachten.” (1. Petr. 3:1).

 

3) Mode, Lebensstandard, Vergnügungen und Gesetzlichkeit

Obwohl viele Menschen großen Wert auf Kleider, Mode, Lebensstandard, Autos, Fußball, Fernsehen etc. legen, empfinden sie den Hang zu solchen Äußerlichkeiten beim Christen oft als abstoßend und inkonsequent. Im allgemeinen sind bei Nichtchristen Eitelkeit, teure Kleider und Schmuck, viel Geldausgeben für den Friseur (nebst viel Zeitverlust) durchaus selbstverständlich. Eine junge Christin, die ständig im Friseursalon sitzt, sich wie Jesebel schminkt, ständig neue Pelzmäntel trägt und hohe Rechnungen für Hotels und Restaurants verursacht, deren Lebenswandel wird mit Recht als unchristlich betrachtet Die Welt erlaubt sich selbst eine solche Lebensweise, – nicht aber dem konsequenten Christen!

Es gibt selbstverständlich nichtchristliche Ehepaare, die in jeder Hinsicht vorbildlich sind, gesunde Ansichten vertreten und nicht verschwenderisch leben. Solche muß man loben wo man nur kann. Es hat absolut keinen Sinn, Ehepaaren mit einer derart guten Gesinnung auf diesem Gebiet darauf hin anzupredigen, daß gute Werke dieser Art sie nicht zu Christen machen. Der Ansatzpunkt zu einem wirklichen Gespräch liegt eher bei der Gewinnung ihrer Liebe, ihres Respektes und ihres Vertrauens, indem man zugibt, daß ihre Sparsamkeit und gesunde Vernunft im biblischen Sinn liegt. Man soll unter keinen Umständen alle „guten” Werke verdammen, die sie tun, nur weil sie nicht gläubig sind.

Das Neue Testament bestätigt die Gedanken über Äußerlichkeiten, denn der Apostel Petrus, ein verheirateter Mann, schreibt: „Euer Anliegen sei nicht der äußere Schmuck durch Flechten der Haare und Umhängen von Gold oder Anziehen von Gewändern, sondern der verborgene Mensch des Herzens in dem unvergänglichen Wesen des sanftmütigen und stillen Geistes! Das ist köstlich vor Gott” (1. Petr. 3,3-4).

Der Sinn der Arbeit liegt darin, die Familie zu ernähren, zu erziehen und zu bilden. Es sollte aber auch regelmäßig etwas für Reichsgottesarbeit und die Armen zurückgelegt werden: „… sondern (man) mühe sich vielmehr und schaffe mit seinen Händen, was gut ist, damit (man) dem Bedürftigen etwas zu geben habe.” (Eph. 4:28). Eine verschwenderische, anspruchsvolle Lebensweise wirkt dem Prinzip des Arbeitens, um leben und geben zu können, entgegen und ist somit unbiblisch. Darüber hinaus stört eine solche Lebensweise die Empfindungen vieler vernünftiger Menschen, die Nicht-Christen sind.  . . .

Aus diesem Grund ist allgemeine Sparsamkeit zu empfehlen. Der Herr Jesus, selbst als er das große Wunder der Speisung der Fünftausend vollbrachte, ließ die Überreste nicht umkommen, sondern sammeln. Nun, nach einem solchen Wunder könnte man sich wohl fragen, ob solche Sparsamkeit wirklich nötig war. Jesus hätte doch mit einem Wort genug Brot und Fische leicht herbeigeschafft, um noch einmal Fünftausend Menschen satt zu bekommen! Warum hat er auf die Überreste Wert gelegt?

Die Antwort ist nicht weit zu suchen. Das Wunder der Speisung geschah mit Hilfe seines schöpferischen Logoswortes, womit er nie verschwenderisch umgeht. Sicher ging er großzügig damit um, aber nie verschwenderisch. Denn eine Verschwendung der heiligen, schöpferischen Kraft Gottes wäre undenkbar. Lieber als die Frucht dieser Kraft des Wortes, des Logos, zu verschwenden, ließ der Herr Jesus, unser Heiland und Vorbild, die Abfallkörbe herumschicken, um alles, was übrig war, aufzulesen. Das Wort darf nie verschwendet werden.

Vor einigen Jahren war unsere ganze Familie bei einer englischen Familie zu Gast, die ein großes Gut und eine große Familie besaß. Natürlich griffen wir alle bei der Küchenarbeit tüchtig zu, denn wir waren eine zusätzliche Belastung von sechs Personen. Da wollten wir nicht einfach genießen, sondern auch helfen. Wenn man in der Küche hilft, kann man es leider nicht vermeiden, daß man sieht, wie es in der Küche zugeht! Jeden morgen befanden sich im Mülleimer tadellose fertige Spiegeleier, Stücke Schinken, Toast etc. Man hatte sie weggeworfen, weil jemand keinen Appetit darauf hatte. Das Eigelb war zu hell oder die Kinder hatten ihren Frühstückswunsch geändert. Ganz frische Brote, Toast in Mengen, nebst schön gebratenem Speck verschwanden ohne Aufschub in den genannten Mülleimer – genug um eine zusätzliche Familie reichlich zu ernähren. Nicht einmal die Schweine bekamen die Leckerbissen, denn es kostete zu viel Mühe, das Eßbare von den leeren Konservenbüchsen getrennt zu halten.

Noch etwas schockierte unsere Kinder sehr. Die Kinder der Gastgeberfamilie betrachteten solche Verschwendung als „Statussymbol”. Dadurch wurde bewiesen, daß sie reicher waren als andere Menschen, die sparen müssen. Sie sagten das auch, als wir einmal zu zeigen versuchten, daß es nicht nötig ist, die Hälfte einer Kartoffel beim Schälen wegzuwerfen, sondern sie dünn zu schälen. Wir wurden einfach ausgelacht.

Dazu kam noch die traurige Tatsache, daß die Familie tief in Schulden steckte, so daß sie bald darauf das ganze schöne Gut verkaufen mußte.

Die gleiche Art der Verschwendung haben wir vielerorts in den USA beobachtet. In den sieben Jahren, die wir dort verbrachten, hat uns diese Wegwerfgesinnung mit am meisten gestört. Ungeöffnete oder frisch geöffnete Konservenbüchsen, ganze Brote und bebutterte Brotschnitten mit Fleischbelag darauf findet man vor jedem Würstchenstand. Die jetzige wirtschaftliche Krise ist sicher zum Teil eine Folge ähnlicher unchristlicher Verschwendung und Mißbrauch der Rohstoffe und Ernährungsstoffe unserer Welt… besonders in der Vergangenheit. Rohmaterialien sind rar geworden, sodaß auch die wohlhabenden Nationen von jetzt an sparen müssen. Wie gut ist es also, wenn ein Ehepaar christliche Sparsamkeit den Kindern von frühester Jugend an in der Familie vorlebt.

Wie kann ein Jünger Jesu, mit einem solchen Vorbild des Herrn vor sich, mit dieser verschwenderischen Welt mitvergeuden? Der Jünger Jesu muß deshalb die Produkte und die Rohmaterialien der Schöpfung Gottes auch sparsam und verantwortlich handhaben. Unser kostbarstes Rohmaterial ist natürlich unsere persönliche Zeit! – Nicht vergeuden! Heute werden auch Weltmenschen eine solche Gesinnung zu schätzen wissen! Und was man spart, kann gleich für das Reich Gottes verwendet werden. Hier müssen viele gläubige Menschen gründlich und anders als bisher denken lernen. Wir gehen anderen Zeiten entgegen! Unsere Verschwendung in der Vergangenheit rächt sich – wie alles sich mit der Zeit rächt, was nicht biblisch ist

 

4) Schlusswort

Noch ein letztes Wort zu obigem Gesamtthema! Es soll niemand meinen, daß obige Anschauungen gesetzlich und kleinlich sind. Man kann sie zwar so auslegen, wenn man es will. Folgende Geschichte dient zum Beweis, daß man nicht gesetzlich sein darf. Wir kennen eine christliche Organisation, die unter den NATO Streitkräften missionarisch tätig ist. Von dieser Organisation sagte uns einmal ein NATO-General, daß sie die zuverlässigsten, fleißigsten und auch wertvollsten Menschen unter seinem Kommando erfasse. Wir wissen, daß sie nebenbei zu den fleißigsten Betern und Bibellesern gehören. Man findet überall unter den NATO-Streitkräften Soldaten und Offiziere, die sie zum Glauben an den Herrn Jesus geführt haben.

Wie tun solche Menschen ihre Reichsgottesarbeit? Sie holen ihre Kameraden, geistig gesehen, dort ab, wo sie sind und nicht dort, wo sie sie haben möchten! Wie meinen wir das? Sie gehen mit den Männern, für die sie beten, mit zum Fußball, gehen mit zum Autorennen (der Nürburgring kommt in ihren Glaubensgeschichten oft vor!). Sie spielen Baseball oder Fußball mit ihren ungläubigen Kollegen. Sie sind auch bereit, einen Kollegen zu einem guten Film zu begleiten, oder einen Fußballmatch im Fernsehen anzuschauen. Alle diese Tätigkeiten üben diese Menschen mit nur einem Ziel aus: Nicht-Christen in ihrem Interessenkreis zu begegnen und abzuholen. Sie vergnügen sich nicht selbstsüchtig mit diesen Dingen, sondern gebrauchen sie strikt als Dienst. Sonst sind sie sehr sparsam mit Zeit und Geld für ein eigenes Vergnügen. Sie beten und lesen viel und versuchen, bei ihrer beruflichen Arbeit ein Vorbild zu sein. Sie sind eifrig im Studium der Bibel und lernen ganze Kapitel auswendig, so daß sie Gottes Wort immer frisch zur Hand haben.

 

Kapitel 5

 Die Wahl eines Ehepartners

Zu der Wahl eines Ehepartners oder einer Ehepartnerin gehört natürlich die Notwendigkeit einer sozialen, gesellschaftlichen Begegnung der beiden Geschlechter. Irgendwie muß man sich doch kennen lernen, ehe man an eine Wahl denken kann! Das Problem ist also das des sich gegenseitigen Kennenlernens!

1) Äußere Umstände

Wenn der junge Mann (oder das junge Mädchen) gläubige – und auch verständige – Eltern hat, wird das Problem des Kennenlernens erheblich erleichtert. Haben beide Geschlechter eine lebendige christliche Gemeinde hinter sich, ist das Begegnen auf sozialer Ebene auch weniger schwierig. Eltern und auch leitende Glieder einer Gemeinde (Männer sowie Frauen) müssen absolut diskret sein! Dazu gehört viel Weisheit seitens der Eltern oder Gemeindeglieder. Aber die jungen Männer und die jungen Mädchen müssen auch taktvoll und verständig sein!

Viele junge Leute lassen sich auf dem Gebiet von Geschlecht und der Wahl eines Ehepartners gar nichts sagen, was sehr unklug ist. Intelligenz wird als die Fähigkeit, von der Erfahrung (anderer) zu profitieren, definiert. Um auf dem Gebiet einer Ehewahl intelligent zu sein, müßte man von der Erfahrung anderer profitieren! Wer sich auf diesem Gebiet gar nichts sagen läßt, muß per definitionem unintelligent sein! Gefühle spielen natürlich eine starke Rolle in der Frage der Partnerwahl, doch sollen Weisheit und Verstand eine ebenso große Rolle einnehmen.

Allgemein herrscht in der heutigen Kultur die Ansicht, das Verliebtsein überfalle einen wie eine Grippe. Man kann eben nichts dagegen tun, man ist mehr oder weniger passiv dabei. Die Überzeugung stammt teilweise von Hollywood und den heutigen Illustrierten und wird fleißig propagiert.

Sicher ist das Verliebtsein eine starke Emotion. Es braucht einen aber nicht vollkommen passiv wie eine Grippe zu überfallen. Selbst einer Grippe gegenüber kann man viel tun durch Vernunft. Man kann durch ein gesundes Leben (richtige Kost, frische Luft, Vermeiden von Übermüdung und infizierten Menschen) vielen unnötigen Grippen entgehen. So kann ein Christ mit Hilfe seiner Vernunft auch beim Verliebtsein vieles tun, das ihn „vielen unnötigen und bösen Grippen” des Verliebtseins entgehen läßt, indem er die richtigen Ideale eines Partners gemäß der Bibel seinem Herzen einprägt, die richtigen jugendlichen Kreise aufsucht und die Plätze der Sünde meidet. Wenn nun die Vernunft bei meiner Liebeswahl aktiv mittätig ist, dann darf ich mich auf das stärkste verlieben. Dieses Verliebtsein ist unwiderstehlich und soll das auch sein. Die Erziehung von frühester Jugend auf durch eine weise, liebende, intelligente Mutter kann die maßgebliche Rolle der Vernunft in Liebesangelegenheiten bedingen.

Es gibt viele schöne junge Mädchen, die einen Mann geschlechtlich anziehen – also auf der körperlichen Ebene. Ein schöner stark entwickelter Körper bedeutet aber lange noch nicht, daß die dazugehörige Seele und der Geist auch schön und edel sind. Da kann man sich unendlich täuschen und für immer todunglücklich werden. Was nützt ein schönes Äußeres, wenn nicht selbstlose Liebe, Wahrhaftigkeit, Opferbereitschaft, Selbstdisziplin, gemeinsame Interessen und Ziele, etwa gleiches Intelligenzniveau, Ausgeglichenheit, Fleiß, Höflichkeit, ein dankbarer Geist, ein Herz für die Not anderer und Liebe zu Gottes Wort da sind? Denn diese Faktoren bestimmen das nahe Zusammenleben über die Jahre viel mehr als ein schönes Aussehen.  . . .

Wie in der Geschichte der Gemeinde Jesu immer der Fall gewesen ist, soll die christliche Familie und die christliche Gemeinde ein wahres Zentrum auch von Bildung im besten Sinn des Wortes werden. Junge Männer und junge Mädchen, die in solchen Kreisen verkehren, erhalten einen ganz anderen Einblick in das Wesen des christlichen Familienlebens als Menschen, die nur ab und zu zu großen Massenevangelisationen gehen. Wenn sie diese Art Familienleben vor der Ehe kennen lernen, werden sie bewußt oder unbewußt sich einen Lebenspartner aussuchen, der die gleichen Vorstellungen über christliches Familienleben hegt. Beide angehenden Partner sehen die Freuden aber auch die Mühen eines solchen Lebens. Sie wissen, was es für die Hausmutter bedeutet, wenn unerwartete Gäste plötzlich ohne Anmeldung (selbstverständlich nicht durch eigene Schuld, denn der rücksichtsvolle gebildete Christ meldet sich an und ab und ist der Hausordnung gegenüber feinfühlend) auftauchen. Bei solchen Überraschungen gehen Jungen und Mädchen der Hausmutter zur Hand und helfen ihr, wo sie nur können.

Wo findet man also eine bessere Vorbereitung in ein Leben des Dienstes Gottes und des Menschen als in einer solchen christlichen Familie, die als Prinzip Gastfreiheit walten läßt. Besonders die Mutter gestaltet die ganze Atmosphäre in einer Familie und von ihrer Freude und Opferbereitschaft hängt alles ab. Weh dem jungen Mann, der eine eitle, anspruchsvolle, egoistische Frau heiratet, die an nichts anderes denkt als an ihre eigenen Ansprüche, Friseur, Kleider und eigene Ruhe und Schönheit! Und wehe dem Mädchen, das einen Mann heiratet, der nur an sich selbst und seine Ansprüche, Stand und Rechte denkt! Wenn beide Partner dem Herrn Jesus so hingegeben sind, wie der Herr Jesus uns hingegeben war, dann erst kann man eine Familie gründen, die ein Stück Paradies auf Erden ist – auch wenn es mancherlei Mühen und Arbeit zur gleichen Zeit gibt.  . . .

Im Büro kann sich ein Mädchen jahrelang verstellen. Ihr gelingt das zu Hause weniger leicht. Ein gastfreies Haus bringt zwar mehr Arbeit und Mühe für Vater und Mutter mit sich. Die Jungen und Mädchen können jedoch durch solche plötzlich auftauchenden Notlagen in der Familie lernen, wie man erfinderisch wird, besonders wenn die unangemeldeten Gäste auftauchen. Die Notlagen sind eine Gelegenheit mehr, die Praxis christlicher Liebe, Disziplin und christlichen Fleißes an den Tag treten zu lassen. Gerade die Ausübung dieser Eigenschaften trägt zu ehelichem und familiärem Glück bei.

2) Christliche Veranstaltungen

Hat ein junger Mann oder ein junges Mädchen sich direkt aus der „Welt” heraus zu Christus bekehrt und keine gläubigen Eltern, die ein gastfreies christliches Haus führen, dann kann für die jungen Leute die gesellschaftliche Situation erschwert sein. Solche Eltern werden es wahrscheinlich nicht erlauben, daß sich ihre gläubige Jugend zu Hause trifft. Da muß die Jugend nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten.

Gerade aus diesem Grund sind christliche Veranstaltungen wie Sommer- oder Winterlager sehr wichtig. Sie bringen Familien und junge Leute auf ganz natürlicher Ebene ungezwungen zusammen. Skilager mit Bibelarbeit abends und Kurzbibelschulen, an denen intensive Bibelarbeit auf familiärer Basis getrieben wird, fallen in die gleiche Kategorie. Sie sind oft Meilensteine im Leben junger – und auch älterer – Christen. Zur gleichen Zeit bieten sie gesunde Erholung und wenn sie im Ausland stattfinden, erweitern sie den Erfahrungshorizont der Teilnehmer. Wenn nun der junge Mann oder das junge Mädchen, das keine christliche Familie hinter sich hat und deshalb kein christliches Familienleben kennt, an einem solchen Lager teilnimmt, kann er oder sie christliche Familien auf diese Weise von „innen” kennen lernen. Dies kann zum Anschluß an eine Familie in der Heimatstadt fuhren, die seine eigene Familie, die nicht gläubig ist, ein wenig ersetzt. Eine lebendige Gemeinde mitten in der Stadt bietet natürlich eine große Möglichkeit, andere christliche Jugend kennen zu lernen, und zwar in einem bewußt christlichen Milieu. Diese Art sich kennen zu lernen, ist besonders günstig, wenn die Gemeinde wirklich wie eine Familie im neutestamentlichen Sinn und nicht wie ein Verein zusammenkommt. Junge Menschen, die sich direkt aus der „Welt” zu Christus bekehren, finden in solchen Gemeinden eine Heimat und zur gleichen Zeit eine christliche Familie, in der sie wie ein eigenes Kind verkehren können. Wie richtig ist es doch, daß die christlichen Gemeinden sich wirklich auf der Basis einer neutestamentlichen Familie treffen!

Man denke an die Berichte über die Lebensweise der Gläubigen in der Apostelgeschichte, wo die Christen sich gegenseitig hin und her in den Häusern und den Familien trafen, um dort am gemeinsamen Tisch das Brot zu brechen (Apg. 2.46). Im Haus, in der Familie hielten sie ihre Gebetsgemeinschaften, legten die Bibel aus und praktizierten christliche Gemeinschaft. Sobald jemand gläubig wurde, wurde er oder sie in diesem familiären Kreis aufgenommen.

Auf diese Weise werden alle drei Ebenen (Geist, Seele und Leib) des Menschen gepflegt und gestärkt. Besonders wichtig ist es in einer Gemeinde, für junge Menschen aus weltlichen Verhältnissen so zu sorgen. Denn was sie in einem solchen Milieu lernen, wird später in ihren eigenen christlichen Familien, wenn sie heiraten, weitervererbt Diese gemeindliche und familiäre Praxis ist auch die Basis von vielen Erweckungsgegenden in Deutschland und Europa. Gruppen von christlichen Familien leben so, wie wir es oben geschildert haben. Eben diese Lebensweise zieht unbekehrte Menschen stark an, sicher so stark wie gute, mächtige Predigten. Denn beide bezeugen die Gnadengaben des Geistes Gottes.

3) Christliche Bildung

Auch die 2. Ebene des Menschen, seine Psyche oder Seele, wird in solchen Kreisen gepflegt. Hier können sich junge Menschen in Hausmusik weiterbilden und mit den geistigen Interessen anderer gebildeter Menschen und vertraut werden. Gemeinschaft mit anderen Menschen auf dieser Ebene in der Familie bildet den ganzen Menschen. Gerade dazu ist Gemeinschaft schlechthin da. Sie ist eine gottgegebene Gabe.

Unsere Eltern sorgten besonders im Teen-Alter dafür, daß wir eine vielseitige Ausbildung und Bildung erhielten. Sie schickten uns auf gute Schulen, besuchten mit uns naturwissenschaftliche, philosophische und Kunstveranstaltungen. Danach diskutierten sie mit uns zu Hause über das Gebotene vom biblischen Aspekt aus.

Etwas vom Schönsten ist das gemeinsame Musizieren einer Familie oder mit Freunden von guter, edler Musik. Was verbindet diese Art Gemeinschaft eine Familie! Oder das gemeinsame Lesen eines guten Buches, je nach Altersgruppe und Interesse! Wir lasen fast jeden Abend mit unseren vier Kindern voll Begeisterung die Narnia-Bücher von C. S. Lewis.  . . .

Die 3. Ebene – die Gemeinschaft des Geistes – muß natürlich auch vorhanden sein und gepflegt werden. Die Stärkung der 3. Ebene findet im Bibelstudium, Gebet und in Gesprächen mit Gleichgesinnten, ebenfalls in der Familie statt.

Nehmen wir nun an, daß junge christliche Menschen die 3 Ebenen verstehen und auch pflegen. Wie sollen solche nun eine Wahl eines Ehepartners praktisch vornehmen? Wie sollen sie ihre Prioritäten festlegen?

4) Die Wahl selber

Um eine gute Wahl zu treffen, muß man alle drei Ebenen auf denen menschliche Gemeinschaft gedeiht, ständig vor Augen haben. Fangen wir mit Ebene 1, dem Körper, an!

a) Ebene 1 Die meisten jungen Männer neigen zu einem bestimmten Typ Mädchen, der ihm rein menschlich gesehen am meisten entspricht. Das gleiche gilt für das Mädchen. Merkwürdigerweise neigen oft große, lange Männer zu kleineren niedlichen Frauen. Aber auch da sind die Geschmäcker verschieden! Das äußere Aussehen der beiden Partner spielt also eine Rolle. Die meisten Männer suchen eine hübsche Frau. Das Umgekehrte gilt natürlich auch! Dann spielt auf Ebene 1 das Alter eine Rolle, was man nicht übersehen darf. Die meisten Männer wollen keine Frau haben, die so alt aussieht, daß man sie für ihre Mutter halten könnte! Da ein Mädchen körperlich und psychisch allgemein früher als ein Junge reif wird, ist es im Großen gesehen gut, wenn der Mann einige Jahre älter ist als seine Braut. Sonst besteht die Neigung, daß das Mädchen ihren Mann bemuttert statt seine Frau sein zu wollen. Die Ausübung der wichtigen Ritterlichkeit und Höflichkeit in der Ehe fällt natürlich auch leichter, wenn der Mann etwas älter und reifer ist als die Frau.  . . .

Heutzutage muß man auf der Basis von Ebene 1 noch etwas erörtern. Es handelt sich um die Rassenfrage. Westliche Kulturen sind multirassische Kulturen geworden. In den USA und in England ist dieser Aspekt der dortigen Kulturen augenblicklich sehr akut Die Schwarzen und die Puertoricaner und ihr Verhältnis zu den anderen Amerikanern haben Probleme mit sich gebracht, die nicht leicht zu lösen sind. In England hat die fast unbeschränkte Einwanderung von Pakistanis und Schwarzen aus Jamaika ähnliche Probleme auftauchen lassen.

Die Bibel lehrt, daß man Rassendiskriminierung nicht durchführen darf. Gott hat alle Menschen aus einem Blut gemacht (Apg. 17:26), so daß die Menschheit eine Einheit bezüglich Spezies darstellt. Alle Rassen sind sicher vor ihm gleichwertig. Damit hat aber Gott nicht gesagt, daß ich jeden Menschen oder jegliche Rasse heiraten darf, nur weil alle Menschen vor ihm gleichwertig sind. Die Eheschließung setzt eine Wahl oder Diskriminierung im positiven Sinn voraus, so daß eine Wahl auch bezüglich Rassenfragen gestattet ist. In den multirassischen Gesellschaften von heute ist diese Wahl sehr wichtig geworden. Ich glaube nicht, daß die Ehewahl, die jeder treffen muß, irgendetwas mit Rassendiskriminierung, „Rassenreinheit” oder „Blut” zu tun hat. Keine Rasse ist „rein”. Vielmehr hat die Ehewahl mit den drei erwähnten Ebenen zu tun. Gelbe Menschen wohnen heute neben den Weißen und Rote (Indianer, nicht Kommunisten oder Maoisten!) neben den Schwarzen. Da muß man die Basis für eine stichhaltige Wahl auch bezüglich Rasse, soweit sie Ehewahl betrifft, in Händen haben.

In bezug auf Ebene 1 (Körper und deshalb auch Rasse) muß man vor einer Eheschließung folgendes bedenken. Sind die rassischen Unterschiede so groß, daß sie auf Ebenen 1 oder 2 unüberbrückbar sind? Bei Mischlingen sind diese Unterschiede teilweise durch die schon stattgefundene Vermischung der Rassen weniger groß, so daß Harmonie auf Ebene 1 wahrscheinlich eher möglich sein wird. Sind dagegen die Probleme der Unterschiede, rein körperlich gesehen, sehr groß, dann muß Vorsicht walten. Auch wenn die Braut und der Bräutigam die Unterschiede überwinden können (Liebe kann sehr stark sein), muß man bedenken, daß z. B. Ehen zwischen Japanern und Kaukasiern oft Kinder produzieren, die bedeutend weniger lang leben als Kinder aus rein japanischen oder rein kaukasischen Ehen. Rein genetisch gesehen, sind die Kinder aus Mischehen dieser Art oft schwächlich. . . .

Auch wenn beide Eltern, die aus 2 verschiedenen Rassen stammen, die Kluft auf Ebenen 1 und 2 (rassisch und gesellschaftlich) zu überbrücken verstehen und harmonisch zusammenleben, leiden oft die Kinder sehr darunter. Sie haben natürlich mit der freien Ehewahl der Eltern nichts zu tun gehabt Sie müssen das Joch tragen, das ihnen die Eltern zwangsläufig auferlegt haben. Aus diesem Grund entsteht oft Bitterkeit in den folgenden Generationen von Mischlingen, auch wenn die Eltern selber, die die Wahl freiwillig trafen, glücklich sind.

Ebenfalls auf Ebene 1 muß man die Frage der Familiengesundheit im allgemeinen berücksichtigen. Heute weiß man, daß gewisse Krankheiten (Zuckerkrankheit, zum Beispiel) genetisch bedingt sind. Somit werden sie auf die Kinder vererbt, ob es die Eltern wollen oder nicht. Der Körper trägt die ganze genetische Veranlagung des Menschen. Wenn also Zuckerkrankheit in der Familie eines der beiden Ehepartner liegt, kann sie in den Kindern früher oder später zum Vorschein kommen. Jugendzuckerkrankheit ist viel gefährlicher als die Krankheit, die nach dem 40. Lebensjahr auftritt Noch dazu muß man bedenken, daß all die anderen Beschwerden, die mit „Zucker” assoziiert sind (Kreislaufstörungen, Sehbeschwerden etc.) mit auftauchen können. Der ganze Krankheitskomplex wird durch fehlende genetische Informationen verursacht Die Information, die einem selber fehlt, kann man seinen Kindern und ihrem Erbgut nicht schenken! Man kann nur das den Kindern weitergeben, was man selber an genetischer Information besitzt. All das muß man in bezug auf Ebene 1 bedenken, wenn man eine Ehe schließt. Es gibt aber auch andere vererbbare Krankheiten.

Wenn Syphilis, Schwachsinn oder Epilepsie in der Familiengeschichte eines Partners liegen, soll man eine Eheschließung reiflich überlegen. Wir kennen eine Familie, die aus 7 Kindern und Vater (F) und Mutter (E) bestanden… 5 Töchter (zwei waren außerordentliche hübsche Mädchen) und zwei Söhne, die identische Zwillinge sind. Zwei der fünf Töchter sind schwachsinnig. Eine andere Tochter starb (nicht schwachsinnig) ziemlich früh. Beide Söhne sind jetzt schwer zuckerkrank, beide sind leberkrank und fast blind. Der Vater (F) dieser Familie kam aus einer kerngesunden Familie und starb als rüstiger alter Mann in seinem 97. Lebensjahr.

Als junger Mann hatte er sich in ein außerordentlich hübsches Mädchen (E) verliebt, deren Eltern aber beide schwer geschlechtskrank waren – der Mann hatte mit Dirnen unmoralisch gelebt und litt an tertiärer Syphilis, woran er auch in großem Elend starb. Er hatte seine Frau auch angesteckt. Man hätte nie geahnt, daß eine so hübsche Tochter (E) aus einem derart kranken Elternpaar hervorgehen könnte. Der junge Mann (F), der sich in das bildhübsche Mädchen (E) verliebte, kannte ihre Familiengeschichte gut. Auf den Rat seines Vaters ging er deshalb zu seinem Arzt und fragte ihn, ob er das Mädchen (E) heiraten dürfe. Der Arzt machte ihn darauf aufmerksam, daß das seine Wahl sei. Wahrscheinlich würden aber seine Kinder, die aus dieser Ehe hervorgingen, an den Folgen der Krankheit der Eltern zu leiden haben.

Der Arzt meinte sogar, daß Schwachsinn auftauchen könnte und machte ihn auf die Folgen von Trunksucht in folgenden Generationen aufmerksam. Die Ehe zwischen F und E wurde also mit offenen Augen geschlossen, mit den oben erwähnten Resultaten.

Nun, die Eltern F und E führten ein glückliches Eheleben. Doch überschattete die Krankheit der Kinder ihre Ehe. Der Vater war ein sensibler Mann und litt ein ganzes leben lang unter  diesem Schuldgefühl, besonders als er das Elend seiner schwachsinnigen Kinder ansehen musste. Dazu kam noch, dass die Söhne ein ausgesprochen schlechtes Verhältnis zu ihrem Vater hatten. . . .

Ferne sei von uns zu behaupten, der junge Mann hätte auf das hübsche Mädchen verzichten müssen. Der Zweck, warum wir diese Tatsache aufzählen, ist nur der: man muß sehr gut überlegen, was man tut, wenn man zur Eheschließung schreitet. Auch nachdem man die Sachlage gut überlegt hat und kein offenbares Hindernis zu einer Eheschließung vorliegt, können Krankheit und Not uns alle überraschen. Ob diese Nöte vorhersehbar sind, oder ob sie uns überraschen, ist aber nicht einerlei. Alle Nöte sollen im Geist der Geduld Jesu getragen werden. Doch soll man es womöglich vermeiden, Krankheiten kommenden, unschuldigen Generationen aufzubürden.

b) Ebene 2 ist, wie wir schon ausführten, das Gebiet der Seele oder der Psyche des Menschen. Hier spielen Familienverhältnisse, Bildung, Interessen und Intelligenz schlechthin die maßgebliche Rolle. Ebene 1 bedingt den Körper des Menschen. Ebene 2 bedingt dagegen die ganze Gedankenwelt des Menschen. Der Körper beeinflusst die Seele und umgekehrt natürlich, so daß man Seele und Körper nicht getrennt behandeln darf. Wie beeinflusst meine Gedankenwelt, meine Psyche meine Wahl des Ehepartners? Folgende Beispiele werden diese Frage besser klären als tausend Theorien:

Auf Ebene 2 wird ein berufsmäßiger Straßenfeger etwas Mühe haben, wenn er eine hochkultivierte Prinzessin heiratet. Sicher gibt es hochintelligente Straßenfeger! Aber im allgemeinen würden sie, Prinzessinnen und Straßenfeger, auf Ebene 2 kaum zusammenpassen. Natürlich sind auch auf diesem Gebiet Wunder möglich. Die Liebe, sagt ein englischer Spruch, ist blind, aber die Ehe öffnet einem die Augen! Unser Straßenfeger wird auf Ebene 2 mit seiner Prinzessin wahrscheinlich große Schwierigkeiten zu überwinden haben! Die Prinzessin auch!

Es ist ein Kardinalfehler zu meinen, daß Ebene 1 – Geschlecht, Schönheit und Libido – den Hauptpunkt bei der Ehewahl darstellt. Ebene 1 hält oft weniger als 6 Monate durch, wenn sie allein alles bestimmt. Vom rein körperlichen Geschlecht allein kann weder Mann noch Frau leben! Aber junge Menschen glauben das nicht! Ein überzeugter Vegetarier wird Mühe haben, mit einem überzeugten Metzgermeister eine ausgeglichene Ehe zu führen – selbst wenn beide Partner fromme Christen sind. Die Gedankenwelt der beiden Partner, Ebene 2, klafft zu weit auseinander. . .

Bei der Wahl einer Lebensgefährtin sollte der Mann bedenken, daß die Seele, der Charakter, die Interessen und die Bildung seiner angehenden Frau die Gestaltung der Atmosphäre im Heim bestimmen werden. Ihre Interessen brauchen mit denen des Mannes nicht identisch zu sein. Es ist oft sogar gut, wenn sie nicht identisch sind. Doch sollte zwischen den Interessen der Frau und des Mannes Harmonie bestehen. . . . Wollen wir die Lage so zusammenfassen: es ist nicht wichtig, daß die Bildung oder Ausbildung der beiden Ehepartner identisch sind. Es ist wichtiger, daß die verschiedenen Bildungsgrade der beiden Partner harmonisch sind. Wenn beide Partner eine identische Ausbildung besitzen, könnte es eher zu Eintönigkeit in der Ehe kommen. Denn letztere können nur da sein, wo Verschiedenartigkeit vorhanden ist. . . .

c) Ebene 3 Auch in bezug auf Ebene 3 gelten ähnliche Überlegungen. Identische christliche Erkenntnisse (gleiche Konfession z. B.) sind für eine glückliche Ehe nicht unbedingt erforderlich, obwohl sie eine große Hilfe sein können. Wichtig jedoch ist es, daß beide Ehepartner, ihren verschiedenartigen Erkenntnissen gemäß, in der Ehe und Familie zuerst das Reich Gottes nach Gottes Wort allein suchen (Matt. 6:33). Dieses „zuerst” muß auch bezüglich Konfession unbedingt gelten, sonst geht alles schief. Dann erst wird Gott so antworten, daß er alle seine Verheißungen, die von der Erfüllung dieser Bedingung abhängig sind (das Reich Gottes in allen Dingen zuerst), in eine solche Ehe und Familie hineinschenkt. Dann werden auch Konfessionsunterschiede der Bibel gemäß ausgebügelt werden.

Zu einer Ehe genügt es nicht, daß beide Ehepartner einfach „gläubig” sind. Natürlich, Gläubigsein auf Ebene 3 ist eine wichtige leitende Bedingung, die erfüllt werden soll, wenn man an eine Ehe denkt. Aber man soll Ebenen 1 und 2 neben Ebene 3 auch berücksichtigen. Man sollte als Christ „im Herrn” heiraten, das ist das Gebot Gottes. Wichtig ist es aber auch, daß die beiden unter Ebene 3 liegenden Ebenen zur Geltung kommen. Um eine ideale Ehe gründen zu können, muß man alle drei Ebenen auf Harmonie in beiden Partnern ernsthaft prüfen und dafür sorgen, daß Kompatibilität auf allen diesen Gebieten vorliegt.

Alle diese Überlegungen rühren daher, daß der Mensch als eine wirkliche Dreieinigkeit von Gott erschaffen wurde. So sollte in einer Ehe eine Dreieinigkeit mit einer anderen Dreieinigkeit harmonieren. Aus diesem Grund wird der Kuhhirt, der Christ ist, nicht gerade die Prinzessin oder die Künstlerin zur Frau nehmen wollen, wie wir schon erwähnten. Diese Überlegung hat mit Klassenunterschieden im üblichen Sinne des Wortes nichts zu tun. . . . Es geht um Bildungsgrade – und zwar um Bildungs- und Erkenntnisgrade zweier Menschen auf Ebene 2 und 3.

Nachdem man obige Vorbehalte auf Ebenen 2 und 3 geprüft hat, lasst uns zu unserer ursprünglichen Frage bezüglich der Basis einer Ehewahl auf Ebene 3 zurückkehren. Was sind nun die Überlegungen, die für eine Ehewahl auf Ebene 3 maßgeblich sein dürfen?

A) Offenbar sollten die Wahlüberlegungen rein christlich sein, denn wir behandeln unter diesem Abschnitt Ebene 3 bei Christen. Deshalb müssen die beiden angehenden Ehepartner wiedergeborene Menschen sein, die durch Vergebung ihrer Sünden neutestamentliche Christen geworden  sind. Sie sind  also Menschen, die durch das Blut Christi Eigentümer Gottes sind. Dies soll jede christliche Wahl auf Ebene 3 absolut bedingen.

B) Es gibt aber viele Christen, die durch Mangel an Erkenntnis oder Entschiedenheit ein laues Leben führen. Persönlich glaube ich, daß ein laues christliches Leben oft eine schlechtere Basis für eine Ehe bietet als gar kein Christentum. Denn, wie soll man errettet werden, wenn man Gottes Sohn vernachlässigt? Durch die Lauheit und die damit verbundenen Kompromisse entstehen Spannungen und Frustrierungen, die in einer nichtchristlichen Ehe praktisch unbekannt sind. In einer nichtchristlichen Ehe gibt es die frustrierenden Kompromisse und Spannungen zwischen Christentum und Welt gar nicht. Aus diesem Grund würde ich persönlich einen zusätzlichen Maßstab, den wir schon erwähnten, für eine christliche Ehewahl anlegen. Beide angehenden Ehepartner müssten sich ernsthaft prüfen, inwieweit sie in allen Dingen zuerst das Reich Gottes suchen. Inwieweit das Reich Gottes in ihrem Umgang mit ihrem Körper, in ihrem Studium, Geschäft, Beruf, Schule und Familie an erster Stelle steht.

C) Um Punkt B ganz zu erfüllen, müsste man einen weiteren Maßstab anlegen: anhand von welchem Maßstab darf ich annehmen, daß ich das Reich Gottes in allen Dingen zuerst suche? Wie kann ich mich ganz praktisch bezüglich dieses Punktes prüfen? Es ist meine persönliche Überzeugung, daß man hier den gleichen Maßstab anlegen muß, wie der Herr Jesus es selber tat: Er wurde Mensch, um an seinem Körper, durch sein Leben und seine Handlungsweise, die Bibel, das Wort Gottes und ihre Prinzipien zu erfüllen. Das heißt, daß er an seiner eigenen Person, in allem, was er tat und dachte, die Gesinnung des Lammes Gottes nach der Bibel realisierte. Das Wort Gottes war seines Fußes Leuchte und das Licht auf seinem Weg.

Jetzt wird also Punkt C klarer: der wirkliche Christ wird sich ein Mädchen zur Frau aussuchen, das die Gesinnung der Bibel in ihrem Leben ganz ausleben möchte. Ebenfalls wird das wirklich gläubige Mädchen einen Ehepartner aussuchen, der mit ihr und ihrer späteren Familie die ganze Bibel so liebt, daß sie das Wort in allen ihren gemeinsamen Wegen realisieren können. Denn eine solche Familie wird schnell das Zentrum von geistlichem Leben werden.

Ein junger Mann, der ein solches Mädchen auswählt, (sie wird ihm in Gottes Vorsehung geschenkt), wählt sich ein fruchtbares Leben aus. Ebenso das junge Mädchen. Es nimmt geistliches Leben an, denn die Gesinnung der Bibel ist die Basis aller wahren Gnadengaben. Auf diese Weise vermehrten sich die Christen in der Apostelgeschichte: „Das Wort des Herrn wuchs und mehrte sich” (Apg. 12:24).

Denn das Wort ist Geist und Leben. Wo kein Wort Gottes ist – oder wo ein geschwächtes, verdünntes Wort ist – da ist kein – oder nur ein geschwächtes – Leben. Es ist sicher besser, als Christ auf eine Ehe zu verzichten, als auf eine Ehe einzugehen, die keine Harmonie kennt. Unsere Erfahrung seit 35 Jahren ist immer wieder die gleiche gewesen: wo man in irgendeiner Gemeinde, sei sie kirchlich oder freikirchlich, geistliches Leben findet, da wird dieser Geist der Erweckung immer von einzelnen Familien getragen, die das Wort über alles lieben.

5) Die Gesinnung in der Wahl

In diesem Absatz drücken wir den gleichen Gedanken des vorhergehenden Absatzes etwas anders aus: der gläubige junge Mann oder das gläubige junge Mädchen, suche sich einen Ehepartner aus, der die Gesinnung Jesu nach Philipper 2 in seinem Leben zum Vorschein kommen lässt. Nun, die Gesinnung Jesu bestand darin, daß er lebte, um das Wort Gottes an seinem Leib zu erfüllen. Man kann diesen Gedanken aber mit den Worten des 2. Kapitels des Philipperbriefes anders ausdrücken! Jesus Christus erwies sich als Heiland der Welt, indem er auf seine Position und seinen Status als Schöpfer und Sohn Gottes verzichtete. Er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an. In Knechtsgestalt ging er freiwillig zum Kreuz, um das Heil der Welt zu erringen: „Diese Gesinnung heget in euch, die auch in Christus Jesus war, der, als er in Gottes Gestalt war, es nicht für einen Raub hielt, wie Gott zu sein, sondern sich selbst entäußerte, indem er Knechtsgestalt annahm, und dem Menschen ähnlich wurde: und der Erscheinung nach wie ein Mensch erfunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tode, ja, bis zum Tode am Kreuz” (Phil. 2:5-8).

Da besitzen wir eine klare Lebensrichtung, nach denen wir auch einen Ehepartner auswählen können, und zwar im Sinne von Ebene 3. Nehmen Sie also nach diesen Richtlinien keinen, der bei der Arbeit nicht zupacken will, der seine Hände vor lauter Würde nicht schmutzig machen will. Nehmen Sie, junger Mann, kein Mädchen, das nicht zupackt, das ständig nach Mode, Schminke, Kleidern und Äußerlichkeiten schaut. Nehmen Sie, junges Mädchen, keinen Partner, der seine Zeit für alles andere als für Arbeit, Reichgottesarbeit, Bibellesen und Gebet hergibt. Die Zeiten sind ernst, der Herr steht vor der Tür eines jeden von uns. Ein ganz kleiner Verkehrsunfall kann uns in einigen Sekunden vor sein Angesicht führen, wo wir für unsere Tätigkeit Rechenschaft abgeben müssen.

Nehmen Sie jemanden, der ständig bereit ist, sich zu erniedrigen, weil der Herr Jesus das gleiche tat. Nehmen Sie keinen, der ständig die Rolle des großen Herrn Direktors spielen will – auch nicht einmal, wenn es um die Rolle eines großen Missions- oder Evangelisationsdirektors geht!

Kurz zusammengefasst, suchen Sie sich jemanden aus, der nach Philipper 2 die Gesinnung Jesu vorlebt Und wenn Sie niemanden finden, der auf diesem Gebiet Phil. 2 entspricht, dann bitten Sie den Herrn der Ernte, Ihnen einen solchen Partner in den Weg zu senden. Er erhört gern Gebete dieser Art, die zu seiner Ehre sind.

6) Der Ernst einer Wahl

Ein letzter Punkt wird diesen Abschnitt abschließen. Eine Ehewahl muß tatsächlich eine Wahl sein. Wenn man durch die ständige Tätigkeit und Propaganda von Hollywood und Sexaufklärung in der Schule, Fernsehen und Radio zu der Überzeugung gelangt, daß das Verliebtsein einfach wie eine Krankheit oder die Grippe über einen kommt, und daß man dieser Krankheit keinen Widerstand leisten kann, dann verfügt man über keine wirkliche Wahl. Man wählt die Grippe nicht! Verliebtsein kann der Vernunft untergeordnet sein, auch wenn der Kampf sehr hart ist. Damit wollen wir unter keinen Umständen gesagt haben, daß Liebe nicht die stärkste Empfindung ist, derer ein Mensch fähig ist. Sie ist die stärkste und kann auch die beste Empfindung sein. Was wir gesagt haben wollen, ist, daß auch das Sicht-Verlieben in ein Mädchen (oder einen jungen Mann) Sache von höherer Vernunft sein darf. Liebe ist zwar blind, doch öffnet einem Gott und sein Wort den Verstand – auch in Liebesangelegenheiten!

7) Wahl, Unzucht und Petting

Man muß bedenken, daß in einer Ehe ein Partner dem anderen für das Leben total ausgeliefert ist. Es gibt Geheimnisse in der Ehe, die ein Außenseiter nicht verstehen kann noch soll. Aus diesem Grund hat es wenig Sinn, wenn ein Partner sich bei Außenseitern über den anderen Partner beklagt. Das sich bei anderen in Ehestreitigkeiten Beklagen kann sich leicht zu einer Art „Ehebruch” entwickeln, denn es vertieft – oder kann vertiefen – eine schon bestehende Kluft zwischen den beiden. So wird die Lage in der Ehe verschlimmert – wenn der Mann erfährt, daß seine Frau zu Dritten läuft, um sich über ihn zu beklagen, was beweist, daß sie ihm gegenüber nicht mehr volle Treue erweist. Dies schließt Seelsorge bei den Eheleuten keineswegs aus.

Wenn man verheiratet ist, ist man dem Wesen einer richtigen Ehe nach einander vollständig ausgeliefert. Das sich bei Dritten Beklagen bedeutet in Wirklichkeit, daß man sich von diesem Total-Ausgeliefertsein in der Liebe zurückziehen möchte. So wird das intimste Verhältnis beschädigt oder verletzt. Aus diesem Grund darf man keinen Partner wählen, zu dem man nicht unbedingtes, völliges Vertrauen haben kann. Nur hundertprozentige rückhaltlose Liebe und Treue zueinander können ein solches Vertrauen zueinander entwickeln.

Zu einer Ehewahl gehört heute leider sehr oft das sich gegenseitig „Ausprobieren” (sexuell gesehen). Wie wir bereits erwähnten, bezeichnet die Bibel eine solche Art „Ausprobierung” als „Unzucht”. Abgesehen davon ist eine derartige Praxis, eine Frau oder einen Mann zu wählen, nicht viel besser als ein Kuhhandel. Soll man wirklich meinen, daß man einen Partner auf der Basis einer solchen körperlichen Handlung aussuchen kann? Wenn eine Frau meint, daß sie eine solche „Prüfung” bestehen muß, ehe der Mann sie nimmt, wird sie, um sich mild auszudrücken, in jeder Hinsicht entwürdigt.

Die Bibel nennt eine solche Praxis „Unzucht” und zählt sie zu den Sünden, die Menschen vom Reich Gottes ausschließen. (Gal.5:19-21,1. Kor. 6:13,18,1. Kor. 10:8, 1. Kor. 7:2, Eph. 3:3, 1. Thess. 4:3). Die Tatsache bleibt, daß sexueller Verkehr nur und ausschließlich für die gedacht ist, die sich innerlich und äußerlich fürs Leben total und exklusiv ausliefern wollen. Unzucht stellt also eine Art Prostituierung der Gedanken Gottes über die passende Begleiterscheinungen (körperliches, geistiges und geistliches Glück, die höchsten „Satori”) zu der Zeugung (Erschaffung mit menschlicher Teilnahme) neuer Menschen durch Menschen. Sie sind für Paare reserviert, die fürs Leben „paaren”. Gott hat die Erzeugung neuer Menschen mit großem Glück auf körperlicher, geistiger und geistlicher Ebene verbunden. Der Missbrauch vom körperlichen Glück und seine Trennung von anderen Ebenen des Glückes stellt Unzucht dar. Einen so tiefgreifenden Verstoß gegen Gottes Ordnung im Glück der Schöpfung klassifiziert Gott als „Porneia” („Pornographie”) = Unzucht.

Die gleichen Überlegungen gelten natürlich auch für Petting, das dort praktiziert wird, wo verliebte Paare sich gegenseitig oft bis zum sexuellen Höhepunkt reizen. Weil solche Intimitäten direkt zu weiterer Unzucht mit ihren Folgen reizen, soll man sie vermeiden. Denn solcher Verkehr ist meist kasual und keineswegs der Ausdruck einer exklusiven Harmonie zwischen dem Paar auf allen drei Ebenen. Man will körperliches Glück, ohne geistige oder geistliche Harmonie in Betracht zu ziehen… oder die erste Ebene von den beiden anderen Ebenen trennen. Wie kann man Petting rechtfertigen, wenn man zur gleichen Zeit den Herrn um die Gnade bittet, nicht in Versuchung gebracht zu werden? „Führe uns nicht in Versuchung” kann man nur dann von Herzen beten, wenn man sich selber nicht in Versuchung begibt.

In gewissen sogenannten „progressiven” Kreisen Deutschlands empfiehlt man, daß die Schulkinder kopulative Körperbewegungen – mit und ohne Partner – einüben. Diese Überlegungen sollen sie auf eine spätere erfolgreiche Ehe vorbereiten. Auch diese Idee muß als pornographisch abgelehnt werden, und zwar aus folgenden Gründen:

1) Eheglück ist oft von ursprünglicher Unwissenheit (Nicht-Wissen) auf diesem Gebiet abhängig. Bei Unwissenheit begreifen beide Partner, daß sie keinen vorehelichen Sex getrieben haben.

2) Ein Teil des Glücks einer Ehe ist von vorhergehender Reinheit auf diesem Gebiet abhängig. Kein Partner will einen Mann oder eine Frau haben, die „vorher” mit allen Wassern gewaschen wurden.

3) Kinder sind für solche .sexuellen Erfahrungen, wie man sie bei Bewegungen dieser Art einübt, noch nicht reif. Triebe aufzuwecken, die noch schlummern, hindert die gesunde spätere Entwicklung derselben. Information und Übung auf diesem Gebiet sollen ausschließlich in der Ehe selber gesammelt werden. Das gemeinsame Lernen auf diesem Gebiet in der Ehe schafft Geheimnisse in der Erfahrung der beiden Ehepartner, was den beiden zusätzliche Ehegemeinschaft schenkt. Diese geheime Exploration in einer geheiligten Ehe ist ein wichtiger Punkt, der durch die vielen, trivialen und oft unverschämten Veröffentlichungen (auch in christlichen Kreisen) vernichtet wird. Man beschreibt, mit welchen körperlichen Bewegungen ein Mann den sexuellen Akt durchführt, was absolut überflüssig ist und nur als pornographisch bezeichnet werden kann. Bücher werden so verkauft, das ist klar. Ob dadurch Eheleuten und anderen geholfen wird, ist eine ganz andere Frage.

Kapitel 6

Kindererziehung

1) Früherziehung und Ernährung

Kinder sind eine Gabe des Herrn und selig ist das Paar, dem sie geschenkt sind. Es kann natürlich der Wille Gottes sein, daß einem Paar keine geschenkt werden. Da werden dem Paar andere Aufgaben anvertraut werden. Kinder sind unbedingt eine große Aufgabe, die viel Kraft, Weisheit, Ausdauer und auch finanzielle Mittel verlangen. Die erfolgreiche Erfüllung von vielen Aufgaben bereitet Freude und Genugtuung; die Erfüllung der „Kinderaufgabe” stellt keine Ausnahme dar. Also, jedes Paar, mit oder ohne Kinder, hat eine Aufgabe, man muß sie nur finden.

Aus den Evangelien geht klar hervor, daß der Herr Jesus Kinder verstand und liebte (Mark. 10:13, Mark. 9:36, Lud. 9:47, 48). Auf ähnliche Weise lieben Ehepaare die Kinder, die sie gezeugt haben und die deshalb von ihrem Gebein – und möglicherweise Geist von ihrem Geist – sind. Gläubige Eltern sehen sie als teure Geschenke Gottes an, die er ihnen zur Erziehung und zur Bildung anvertraut hat.

Es folgt, daß Kinder eine große Verantwortung (und auch eine Freude) für die Eltern darstellen, denn an unserer Erziehung der Kinder werden wir selbst geprüft, ob wir treu und weise sind, Gottes Familie, Gottes Gemeinde vorzustehen. Nur die Väter, die gläubige Kinder großgezogen hatten, wurden für den Ältestendienst und andere Dienste in der Gemeinde zugelassen (1. Tim. 3, Titus 1,2). So ist die Kindererziehung gewissermaßen eine Bewährungsprobe Gottes für die Eltern.

Junge Ehepaare wissen bei ihrem ersten Kind oft nicht, wie man mit dieser Erziehung anfangen soll. Heute leben wir in einem Zeitalter, in dem alles zugelassen wird. Da lässt man eben alles zu, auch beim Kleinkind. Nichts könnte falscher sein, denn auch ein Kleinkind lernt schnell, die Mutter (und den Vater!) um den Finger zu wickeln. Kinder, auch Kleinkinder, sind im allgemeinen nicht barmherzig, sie plagen und drängen, bis sie sozusagen selbst einen Engel außersich bringen würden! Schon in den ersten Wochen des Lebens lernen sie die Mutter einschätzen. Da rufen sie die Mutter alle drei oder vier Stunden die ganze Nacht, weil sie Durst haben. Wehe der Mutter, die immer nachgibt! Sie ruiniert sich selbst und ihr Kind. Komplexe beim Kind entstehen eher als Ergebnis der Nachgiebigkeit als der liebenden Strenge – eine Erkenntnis, die heute überall fehlt!

Viele Eltern wissen nicht, daß die Basis der ganzen charakterlichen Erziehung eines Kindes bis zum 5. Lebensjahr gelegt worden ist. Die ersten fünf Lebensjahre sind für das spätere Leben absolut maßgebend. So versündigt sich eine Mutter (oder ein Vater) an seinem anvertrauten Baby, wenn die Mutter in diesen Jahren durch Arbeiten-Gehen-Müssen das Kleinkind vernachlässigt. Selbstverständlich, wenn das Familienleben durch Armut und finanzielle Schwierigkeiten gefährdet wird, muß die Mutter zur Familienkasse beitragen. Doch tut sie das auf Kosten der ganzen Zukunft ihres Kindes. Wenn die ersten fünf Jahre für die grundlegende Erziehung des Kleinkindes richtig ausgenutzt worden sind, dann wird man später im Leben weniger Mühe mit dem Kind erwarten müssen. Aber die liebende Nähe der gerechten, vernünftigen Mutter ist für das Gedeihen des Kleinkindes unbedingt erforderlich, wenn es im späteren Leben maximal geraten soll.

Es ist eine bekannte physiologische Tatsache, daß das Kleinkind während des Spielens immer wieder die Spielzeuge liegen lässt und zu seiner Mutter geht, um dort psychologisch „aufzutanken”. Nachdem es das getan hat – es muß einige liebe Worte und Gesten der Mutter (oder ihre Nähe einfach) in Empfang nehmen – geht es wieder ganz befriedigt zu seinem Spielzeug zurück. Es muß aber immer wieder die Bestätigung der Liebe und der Nähe der Mutter erfahren. „Erziehe den Knaben seiner Weise (d. h. der Natur des Knaben gemäß) nach: er wird nicht davon weichen, auch wenn er alt wird” (Sprüche 22:6).

In den ganz frühen Monaten wird die Liebe, die Wärme und die Nähe der Mutter durch das Stillen unterstrichen oder gar vermittelt. Nichts kann dieses Verhältnis des Stillens ersetzen, weder für das Kind noch für die Mutter. Physiologisch werden durch die Muttermilch Immunkörper vermittelt, so daß das Kleinkind gegen Infektionen aller Art geschützt wird. Psychologisch „tankt” das Kind durch das Stillen auf. Die Milch verleiht dem Kind Schutz gegen körperliche Krankheit, das Stillen gibt ihm psychologischen Schutz. . . .

Erfahrene Kinderärzte können heute das Kleinkind unter anderen Kleinkindern erkennen, das den nahen intimen Brustkontakt mit der Mutter im Frühstadium des Lebens entbehrte. Ihr Verhalten ist eben etwas anders als das des Kindes, das den natürlichen, nahen Kontakt mit der Mutter genießen durfte.  . . .

Erfahrene Kinderärzte in Amerika betonen heute, daß das Baby, das an der Brust gelernt hat, sich der Wärme und Liebe der Mutter anzuvertrauen, zur gleichen Zeit lernt, sich anderen Menschen anzuvertrauen. In der heutigen Welt muß man mit Vertrauen sehr vorsichtig sein, denn viele Menschen sind leider nicht vertrauenswürdig. Da muß man allgemein zurückhaltend sein. Doch ist es eine schlimme Sache, wenn ein Mensch ohne die Fähigkeit groß wird, sich anderen, vertrauenswürdigen Menschen anzuvertrauen. Es gibt natürlich viele Fälle, die Ausnahmen zu dieser Regel darstellen.  . . .

Für eine Mutter selber hat die Brusternährung Vorteile, wobei man aber einiges beachten muß. Es ist z. B. vorteilhaft, daß keine Flaschen sterilisiert, warm gemacht und zubereitet werden müssen, was besonders günstig auf Reisen ist. Pudermilch, Heizvorrichtung und Maße müssen dann nicht mitgenommen werden. Jederzeit kann die Mutter ihr Kind einfach an die Brust legen und es stillen. Dazu hat die Milch immer die richtige Temperatur und Konzentration. So lange sie keine Gifte zu sich nimmt, wie Tabak, Alkohol oder Medikamente und sich nicht aufregt, bekommt ihre Milch dem Kind (Ausnahmen kann es hier natürlich geben). Zu beachten ist noch, daß das Stillen die Mutter in vielen Fällen erschöpft. Sie darf nicht zu viel körperliche Arbeit verrichten, Spannungen können ihr die Milch nehmen. Peinliche Sauberkeit ist erforderlich, sonst können Infektionen in die Brust eindringen, so daß Mastitis entstehen kann. Luftzüge und Kälte müssen während der Laktation vermieden werden. Erschöpfung und Neigung zu Mastitis können auch Folgen davon sein, daß zuviel Milch abgenommen wird. Dies kann besonders der Fall sein, wenn die Mutter zur gleichen Zeit einen großen Haushalt fuhren muß. Als Eltern glauben wir aber, daß die Mühen des Selber-Ernährens die Freude und die Gesundheit des Kindes wert sind. Kinder, die so gepflegt werden, sollen im späteren Leben ihrer Mutter Ehre erweisen, daß sie für ihr Wohl so viel auf sich nahm.

Von rein medizinischer Seite her gesehen, muß man aber noch einen Vorteil erwähnen. In Japan und Italien stillten bis vor kurzem fast alle Mütter ihre Babys. In diesen Ländern war Brustkrebs auch praktisch unbekannt. In westlichen Ländern kannte man vor hundert und mehr Jahren fast keinen Brustkrebs. Es hat sich nun herausgestellt, daß die Brustkrebsanfälligkeit einer Frau mit abnehmender Stillzeit steigt. Je länger eine Frau stillt, desto geringer ihre Brustkrebsanfälligkeit. Mit der Zunahme des Verkaufes von Baby-Milch in Italien nahm die Brustkrebsanfälligkeit parallel zu. Das gleiche gilt jetzt für Japan. Das gleiche Bild wiederholt sich in allen Ländern, in denen das Stillen zugunsten der Flaschenernährung abgeschafft wird.  . . .

2) Umwelt und Erbanlage

Wie sollen Vater und Mutter und Geschwister, wenn einmal der neue Erdenbürger glücklich zur Welt gekommen ist, an das wichtige Problem des Zusammenlebens mit dem kleinen neuen Organismus herangehen? Jeder Organismus ist das Resultat einer Wechselwirkung zwischen zwei Faktoren.

Erstens spielt seine Erbanlage, seine Charakteranlage, die er von Vater und Mutter und Vorfahren erhalten hat, eine maßgebliche Rolle. Diese Erbanlage ist in seinen Chromosomen niedergeschrieben, und zwar in einer codierten Form. Der Code ist praktisch (abgesehen von Mutationsmöglichkeiten und Umlagerungen) nach der Empfängnis unabänderlich. Er ist ein „geschriebenes” Buch, das die Instruktionen enthält, nach denen der Körper sich selbst bauen soll, und bleibt von der Empfängnis bis zum Tod konstant (abgesehen von Unfällen, Mutationen oder Umlagerungen).

Zweitens: Diese Erbanlage kommt aber nur dann optimal zur Entwicklung und zur Entfaltung, wenn ihre Umwelt, biologisch und psychisch gesehen, günstig ist. Diese Umwelt ist nicht nur körperlich zu beurteilen, obwohl körperliche Faktoren wie Ernährung, frische Luft, Bewegung etc. eine große Rolle spielen. Psychische Faktoren wie „Atmosphäre” in der Familie, Verhältnis von Vater zu Mutter, Bruder zu Schwester, können bei der Charakterentwicklung eines Kindes eine große Rolle spielen. Die Grundcharakterzüge sind natürlich von den Chromosomen und ihren Instruktionen abhängig. Doch werden diese Instruktionen durch die Umwelt, in der sie zur Entwicklung kommen, stark beeinflusst.

Von frühester Kindheit an ist das kleine Baby ein ausgeprägter Charakter. Jetzt muß die Umwelt in der Familie auf die vererbten Eigenschaften einwirken, so daß sie entwickelt und erzogen werden. Sobald das Baby etwas von Sprache verstand – was sehr früh geschieht – pflegten wir jeden Abend, als es im Bett lag, eine angepasste, spannende biblische Geschichte zu erzählen. So bekamen alle unsere Kinder sehr früh ein lebendiges Verhältnis zur Bibel alten und neuen Testamentes. Wie liebten unsere Kinder die Geschichten von David und Goliath, von Davids Flucht vor Saul und den wilden Jagden auf den Bergen, von Davids Begegnungen mit Saul in der Höhle und im Lager während der Nacht: Alle schliefen fest, was David die Gelegenheit gab, Sauls Spieß und Wasserkrug zu stehlen!

Diese Geschichten kann man für Kinder schön spannend ausschmücken, so daß sie ein festes Verhältnis zu den Personen der Bibel bekommen. Und die gruselige Geschichte der Hexe von Endor und Saul! Man kann diese Geschichte so bringen, daß jedes Kind drin lebt und ein Verhältnis, ein natürliches Verhältnis dazu bekommt Wir kennen keine Geschichten, die besser geeignet sind, ein Kind zum Lesen und zum Überlegen zu bringen, was eine ausgezeichnete geistige Erziehung nach sich zieht. Aber man muß recht früh anfangen und Ausdauer mit dieser Methode haben. Ich weiß, daß es jeden Abend etwas anderes zu tun gäbe, als den Kindern eine halbe Stunde spannende Geschichten zu erzählen. So beginnt aber ein Kind Charakter und Taten zu vergleichen, zu überlegen und sich ein Urteil zu bilden. So gewinnt es auch ein richtiges Verhältnis der Liebe und Verbundenheit zum Vater und zur Mutter (oder Tante). Der Vater, der dafür keine Zeit hat, darf sich später im Leben nicht fragen, warum seine Kinder wenig Gewicht auf seine Meinung und seine Weisungen geben!

Wir kennen eine fromme Christin, die ihren Kindern harmlose Freuden als „unchristlich” verbietet. So erlaubt sie es z. B. ihrem kleinen Sohn nicht, Märchen zu lesen. Um was für einen Reichtum beraubt sie da den Kleinen! Zumal die meisten Märchen von Grimm und Andersen in den Kindern sehr stark den Sinn für Tugend und Untugend, Gut und Böse prägen, also ihnen eine sittliche Basis für das Leben schaffen, und zwar im christlichen Sinne in der Form von Gleichnis oder Parabel.

Man denke da besonders an die Narnia-Märchen von C.S. Lewis. Auch Jesus bediente sich Gleichnissen und Parabeln, um Wahrheiten klarzumachen. Es ist klar, daß ein Märchen niemals die biblischen Geschichten ersetzen kann, es vermag sie aber bedeutend zu ergänzen, weil es oft die gleichen Grundwahrheiten übermittelt. Natürlich gibt es auch verwerfliche Märchen. Da müssen gläubige Eltern weise auswählen, genau wie mit anderer Literatur. Durch den Umgang mit auf christlicher Moral fundierter Literatur lernen die Jugendlichen Literatur gegenüber ein kritisches Urteil zu entwickeln und nicht später alles zu „schlucken”, was ihnen in den Schulen angeboten wird.

Das, was die Kinder so früh lernen, bleibt beim Kind bis zum Grab. Spätere Begebenheiten vergisst das Kind, diese frühsten Eindrücke vergisst es nie. Als unser drittes Kind, Clive, später ins Internat nach England kam, musste er beim Pfarrer eine Prüfung über Bibelkenntnisse ablegen – und zwar eine Prüfung ohne jegliche Vorbereitung. Er war das einzige Kind im ganzen Internat, das jede Frage aus dem Alten Testament richtig beantwortete. Der Pfarrer fragte ihn, wie er all das im Kopf behalten könne. Clive gab zur Antwort, daß er diese Dinge immer schon gewusst hätte! Er habe sie nie „erarbeitet”! Wenn Kinder später im Leben den Weg Christi nicht gehen, fragt man sich, inwieweit ihre Erziehung in frühester Kindheit in Ordnung war. Es kann natürlich Fälle geben, wo die Eltern wirklich in allen Dingen vorbildlich waren, und doch weichen die Kinder später ab. Auf alle Fälle soll man so früh wie möglich anfangen, den Kindern Gottes Wort interessant, lebendig und heilig darzustellen. So erhalten die Kinder ein Verhältnis zur Bibel und zu den Eltern. – Man kann die Erbanlage eines Kindes nicht ändern, man kann sie aber durch eine günstige Umwelt zur besseren Entfaltung bringen, als normalerweise der Fall sein würde.

3) Seelenhygiene in der Familie

Auf noch etwas haben wir Eltern von frühester Kindheit in der Familie geachtet. Bei der heutigen Anspannung kann in der Familie leicht ein hartes Wort fallen. Mutter ist überarbeitet. Vater hat Sorgen aller Art. Das Baby schreit. Da reißen ab und zu die Nerven auch in der bestgeregelten Familie. Dies ist besonders der Fall, wenn die Familie auf engem Raum zusammengepfercht ist. Moderne Wohnungen sind auf Maß gebaut, angeblich damit die Miete nicht zu horrent wird. Alle tierischen Organismen weisen Stress auf, wenn der ihnen zugedachte Wohnraum zu eng ist. Da muß es zu Explosionen kommen, auch wenn die Familie sonst im Frieden Gottes lebt. Der Friede Gottes wird die Spannungen herabsetzen, doch sind gewisse Grenzen vorhanden, die nicht überschritten werden dürfen. Moderne Wohnungen beachten diese Grenzen oft zu wenig.

Wir kennen diese Not sehr gut, denn, als wir in Genf wohnten, stand uns nur eine winzig kleine dreieinhalb Zimmer Wohnung zur Verfügung. Dort in Genf bekamen wir zu Hause unser viertes Kind. Damals genossen wir den Luxus einer Haustochter, die zu uns zur Ausbildung kam. Sie wohnte in einem halben Zimmer – kaum mehr als ein Korridor mit einer Tür darin. Zwei Kinder schliefen mit uns im Schlafzimmer und eins in der Wohnstube. Unter uns wohnten sehr empfindliche Nachbarn, die den leisesten Lärm heftig beanstandeten durch Klopfen und Schimpfen. Das Haus war modern – und extrem hellhörig.  . . .

Unter solchen strapaziösen Lebensbedingungen können einem die Nerven durchgehen. Wir haben deshalb sehr darauf geachtet, daß wir uns gegenseitig immer prompt entschuldigten, wenn etwas vorgekommen war, was wir als Christen nicht verantworten konnten. Diese gegenseitige „Katharsis” (Ausräumen von Schuld) haben die Kinder sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. So haben sie von Kind auf erfahren, daß man zu etwaigem Unrecht, das man getan hat, unbedingt stehen muß. Danach muß man sich gebührend entschuldigen, und zwar vor Gott und den Menschen. Sie lernen auch, daß eine ernsthafte Entschuldigung von der verletzten Seite immer angenommen wird. Durch diese Praxis unter uns Menschen lernten sie auch, daß Gott immer im Namen Jesu vergibt und gut macht, wenn echte Buße – eine ernsthafte Entschuldigung – vorlag.

So lernen die Kinder grundlegende göttliche Wahrheiten anhand des Vorbildes, das sie in ihren Eltern sehen. Wenn man den Ernst dieser Tatsache überlegt – wie oft haben wir Eltern versagt – sieht man, daß Gott die Familie dazu benutzt, um göttliche Prinzipien zu lehren. Kein Wunder also, daß die Atheisten aller Nationen die Familie und das christliche Familienleben zu vernichten suchen. Ein Kind, das die Vergebung Gottes in der Familie nie erfahren hat, weil es in irgendeinem staatlichen Institut erzogen wurde, findet es viel schwerer, auf das Angebot des Evangeliums einzugehen.

Die Kommunisten wie auch die Faschisten haben die christliche Familie als ihren Feind betrachtet, weil sie ihren Allmachtsanspruch über Menschen in Frage stellte. Gott, der Vater, nimmt den ersten Platz in der Familie ein und nicht irgendwelche atheistische Ideologie. Die Familie soll der Ort sein, wo Menschen jung und alt, Gott durch Anschauungsunterricht am ehesten kennen lernen. Man muß aber bedenken, daß nicht nur atheistische Kommunisten die Familie durch Gewalt zerstören.

Im Westen werden die wirtschaftlichen Verhältnisse durch die Lohnforderungen der Gewerkschaften und durch die zu hohen Gewinne der Kapitalisten derart zusammengedrängt, daß Vater und Mutter verdienen gehen müssen, damit die Familie durchkommt. Die hohen Lohnforderungen bringen Arbeitslosigkeit und deshalb auch Inflation mit sich. Beide zerstören das Familienleben, indem die Mutter mitverdienen muß. Es ist für die Familie natürlich unverantwortlich, wenn die Mutter (oder Vater) Extraarbeit nur deswegen annimmt, damit die Familie ein extra Auto, ein extra Fernsehgerät oder andere Luxusartikel bekommt. Es kommen jetzt aber immer häufiger Situationen vor, in denen die Mutter neben dem Vater arbeiten muß. Die Familie und Kleinkinder müssen dann tagsüber in Kinderhorte gegeben oder anderen irgendwie überlassen werden. Wir schreiben nichts gegen solche Einrichtungen, die viel dazu beitragen können, um eine Mutter zu entlasten. Doch, wenn sie zur Auflösung der jungen Familie führen, sind sie schlecht.

4) Familie und Bibel

Das Kind, das in einer christlichen Familie groß wird, besitzt Vorteile gegenüber anderen Kindern, die dieses Vorrecht nicht haben. Innerhalb der christlichen Familie, wenn die Familie neutestamentlich lebt, erhält das Kind ganz früh ein vertrautes Verhältnis zur Bibel, das andere Kinder nur von ferne sehen können. Natürlich, wenn eine Familie sich christlich nennt und nicht danach lebt, wird das Kind vom Christentum und von Christen gründlich abgestoßen werden. In einer Familie, die nach dem Neuen Testament zu leben versucht, lernt das Kind sehr schnell, daß die Familiengemeinschaft sich um die zentrale Wahrheit der historischen und gegenwärtigen Bibel sammelt.

In dieser Gemeinschaft und in diesem Wort findet das Kind einen absoluten Anker für die Psyche, wogegen andere Kinder oft nur relative Werte kennen. So lange die Eltern solcher Kinder sie in der biblischen Liebe erziehen, wird dieser absolute Anker sie nicht dogmatisch im negativen Sinne des Wortes gestalten.

Später besucht das Kind aus gläubiger Familie den Biologieunterricht in der Schule oder Universität. Da erlebt es oft einen sehr großen Schock – man lehrt dort, daß die Menschen keine Schöpfung Gottes seien. Sie seien alle per Zufall ohne Schöpfungstat oder Plan Gottes entstanden. Auch alle anderen Lebewesen, die Tiere und alle Pflanzen seien ebenfalls spontan aus dem Chaos der Urmaterie und nicht nach dem Plan Gottes entstanden. Der Mensch sei bloß ein höher entwickeltes Tier, lebt deshalb wie ein höheres Tier und stirbt ebenfalls wie ein Tier – ohne Plan und ohne Zukunft.

Kommt ein solches Kind in den Geologieunterricht, erlebt es wiederum einen Schock. Die Erde ist sehr alt, lernt es, Billionen von Jahren alt. Nach dem biblischen Bericht würde man meinen, daß die Erde und die Lebewesen viel jünger seien. Die Geschlechtsregister aus dem 1. Moses bestätigen die Ansicht, daß Adam vor relativ kurzer Zeit lebte. Eva stammt nach dem heutigen naturwissenschaftlichen Bericht nicht aus Adams Seite (also vegetativ), so daß Adams Ausspruch über Eva nur sehr sinnbildlich zu verstehen sei – „Gebein von meinem Gebein” sagte Adam zu Eva, als sie vor ihm erschien. Wiederum wird am total biblischen Glauben des jungen Mannes oder des jungen Mädchens gerüttelt.

Kommt der junge Mann oder das junge Mädchen in den Soziologieunterricht, findet man ähnliche traumatische Erlebnisse, wenn auch in etwas anderer Form. Die Geschichten der Nationen werden durch die dialektischen Prinzipien von Marx und Engels erklärt und nicht von irgendeinem Gott, der sich im Himmel aufhält „und die Nationen persönlich und bewusst „lenkt”. So geht ein „Ernüchterungsprozeß” in den jungen Menschen vor, wenn sie aus dem Einfluss des behüteten Elternhauses herauskommen. Dieser „Ernüchterungsprozeß” kann für den biblischen Glauben sehr traumatisch sein, wenn der junge Mann keine Verteidigungsargumentation von seinen Eltern, seinem Pastor oder sonst jemandem erhalten hat. Oft nimmt er dem jungen Menschen seinen Glauben an Gott und sein Wort.

Man muß bedenken, daß ein Glaube, der auf Nichttatsachen und Mythen aufgebaut ist, nicht sehr lange gedeihen wird. Er kann nicht sehr echt sein, wenn ein paar wissenschaftliche Tatsachen ihn so leicht zerstören! Lohnt es sich also, einen solchen Glauben, der wissenschaftlich nicht stichhaltig ist, zu behalten?

Wenn eine christliche Familie ihr Kind gründlich unterrichtet hat, werden diese traumatischen Schocks weniger schädlich sein, selbst wenn das Kind später zur Universität kommt. Denn am Elterntisch wird man gerade diese Probleme durchdacht und durchsprochen haben. Die Familiengemeinschaft ist teilweise dazu da, um das Kind auf all diese Probleme recht früh aufmerksam zu machen, so daß es später imstande ist, die Antworten auf Probleme selbst zu finden. Nur so wird der Glaube eines Kindes gut fundiert. Wir haben oben erwähnte Probleme ganz früh, je nachdem die Kinder fähig waren, am Tisch besprochen. Früh wussten die Kinder, daß die Welt draußen anders denkt als wir. Ganz früh sagten wir ihnen, wann die Welt anders denkt, und warum wir eben christlich denken. Als die Kinder dann in der Schule mit all ihren Problemen des Unglaubens in Kontakt kamen, waren sie keineswegs überrascht, sie erwarteten sie sogar. Sie verstanden sie schon – wenigstens teilweise. Sie hatten sie schon bewusst oder unbewußt bei uns am Familientisch in kasueller Unterhaltung bearbeitet. Sie wussten, daß die Tatsachen der Naturwissenschaften den christlichen Glauben nicht zerstören.

Eigentlich bereiten weder die Naturwissenschaftler noch ihre Tatsachen dem bibelgläubigen Kind Sorgen. Es sind viel eher die Probleme der Interpretation dieser Tatsachen, die brennend sind. Die Meinung wird heute vielfach vertreten, daß man dumm sein muß, wenn man konsequenter Bibelchrist sein will. Dies ist in Wirklichkeit gar nicht der Fall. Denn man muß im Gegenteil sehr vielseitig denken und überlegen können, Tatsachen erwägen, wenn man konsequenter Bibelchrist sein will. Leider kann nicht jeder Vater und jede Mutter imstande sein, die verzwickten Fragen der ungläubigen Naturwissenschaftler zu beherrschen. Dafür kann aber jeder Vater und auch jede Mutter wissen, wo berufene Literatur zu finden ist, die die oben geschilderten Probleme biblisch behandeln. Aber nicht nur die Naturwissenschaften bereiten dem gläubigen Kind Mühe. Moralische und literarische Fragen beschäftigen es auch.

Als unsere Kinder unter dem Einfluß eines kommunistischen Deutschlehrers in der Schule kamen, wurde Bert Brecht in fast jeder Stunde ad nauseam gelehrt. Brechts Materialismus und Kommunismus beschäftigte die Kinder unter dem Einfluß dieses Lehrers viel mehr als Goethe oder Schiller. Dazu kam noch, daß der Lehrer als Lehrer ausgezeichnet war – ein Mann, der sein Fach weit besser verstand als viele sogenannte christliche Lehrer. Er war richtiggehend engagiert in seinem Brechtglauben. Da las meine Frau zu Hause Brechts Werke mit den Kindern zusammen: „Der gute Mensch von Sezuan”, „Baal. Der böse Baal der Asoziale”, „Die Maßnahme” und wie sie alle heißen und besprach sie mit den Kindern. So lernten die Kinder am Familientisch die falschen, verderblichen Lehren von Brecht beurteilen und somit bekämpfen. Es gab rege Diskussionen in der Klasse, weil die Kinder nicht alles „schluckten”, was der Lehrer sagte.

Sie hatten alles vorher untersucht und überlegt, so daß der Lehrer sie nicht einfach mit Autorität überschwemmen konnte. Dies war für die Kinder und für den Lehrer heilsam. Meine Frau hat aber immer darauf bestanden, daß die Kinder höflich und zurückhaltend vor dem Lehrer antworteten, so daß er von den Kindern nicht abgelehnt wurde.

Auf diese Weise entsteht nicht nur eine bessere naturwissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch eine tiefe Familienverbundenheit. Eltern und Kinder lernen das Denken zusammen, was alle Familienglieder verbindet. Sie nehmen zusammen den intellektuellen Kampf gegen Atheismus auf. Sie lernen früh die Kunst des selbständigen Denkens. Anstatt alles zu schlucken, was ihnen erzählt wird, lernen sie kritisch denken, denn ihre Eltern haben ihnen am Tisch gezeigt, wie man die Fakten prüft und auseinandernimmt.

In der Schule werden heute nur zu oft fertige Meinungen gelehrt, statt daß man lehrt, wie man Meinungen anhand von Tatsachen bildet. Gerade weil dies oft der Fall ist, müssen die Eltern am Familientisch den Kindern diese hohe Kunst der Überzeugungsbildung beibringen.  . . .

In der westlichen Welt fängt ein Kind mit dem ernsthaften Lernen viel zu spät an. Vor allen Dingen soll man schon vor der Pubertät verschiedene Sprachen erlernen. Vor der Pubertät lernt ein Kind eine Fremdsprache viel leichter als nachher. Wenn der Engländer mit 13-14 Jahren Französisch zu lernen beginnt, kann er die Sprache nie ohne Akzent erlernen. Bekommt dagegen das Kind die Gelegenheit, mit Kindern seines eigenen Alters Französisch auf dem Spielplatz zu erlernen, wird es ganz anders die Fremdsprache erfassen. Wenn es eine Fremdsprache erlernt hat, wird es viel leichter eine dritte Sprache meistern. Aber das Kind muß mit Fremdsprachen beginnen, wenn es physiologisch dazu am reifsten ist, nämlich vor der Pubertät.

Die Russen fangen früh genug mit der Fremdsprache an. Wir haben viel vom Familientisch als Standort nicht nur des Essens und des Trinkens geschrieben, sondern auch als Quelle der Familienbildung. In der westlichen Welt war dies unbedingt der Fall bis vor 20-30 Jahren. Dann kam das Radio und das Fernsehen, welche den Familien erlaubten, vorgekaute Unterhaltung am Tisch oder im Sessel zu genießen. Natürlich, wenn die Familie nur von vorgekauten Meinungen im Radio oder Fernsehen lebt, wird der wirkliche Fortschritt in der Bildung zu wünschen übrig lassen. . . . So entsteht die typische amerikanische Familientischpraxis – die Familie kommt relativ selten geschlossen zum Tisch. Jedes Familienmitglied geht getrennt, gerade wenn es nach Hause kommt oder Lust dazu hat, zum Kühlschrank, macht eine Büchse auf und ißt für sich. Auf diese Weise verschwindet die Tischkultur in einer Familie, obgleich die Praxis bequem und der Hetze des modernen Lebens angepaßt ist! Auch in den USA gibt es hier natürlich viele Ausnahmen. An noch etwas muß man denken. Wenn alle Menschen immer die gleichen Nachrichten und die gleichen Meinungen über alle Themen hören, fangen sie mit der Zeit an, schablonenhaft zu denken. Meinungen werden genormt und Menschen können sehr leicht der Propagandamaschine eines modernen Staates zum Opfer fallen. Dr. Goebbels von Hitlers Propagandaministerium verstand diese Kunst der Manipulierung der öffentlichen Meinung nur zu gut.

Die Sowjets sind Meister dieser Kunst

Man muß andere Quellen der Information benutzen, um diese Gefahren zu vermeiden. Wenn die Familie regelmäßig Missionare und andere Menschen einlädt, berichten diese über ihre persönlichen Erfahrungen, die oft ganz anders sind als die, die man im Radio und Fernsehen hört. Mit dieser Vielseitigkeit von Informationsquellen erhalten die Kinder die Möglichkeit, sich eine ausgeglichene Meinung über Weltfragen zu bilden. Bevor wir diesen Absatz abschließen, müssen wir einen weiteren Feind des Familientisches mit seiner Bildung erwähnen. Das heutige Leben ist derart hastig geworden, daß junge Menschen kaum mehr imstande sind, ruhig an einem Tisch zu sitzen. Kommt das Wochenende, müssen sie Hunderte von Kilometern fahren, um sich zu „entspannen”. Sie „ersitzen” in ihren Autos all die Berge, die durch Straßenbau „ersitzbar” sind. Dadurch entbehren sie das Familiengespräch am Tisch und seine ganz natürliche Bildung. Gerade diese Art von Betriebsamkeit verdrängt das ruhige, konkrete Denken, das mit anderen Menschen so oft am Tisch geschieht

5) Glauben und Denken

In der Schule wird jedes Kind mit gewissen Fakten konfrontiert, die, wie man meint, den biblischen Glauben beeinträchtigen.

Wenn nun das Kind die Eltern liebt und den gleichen Glaubensweg wie die Eltern gehen möchte, wird es in einen inneren Zwiespalt kommen. Laßt uns konkret werden. Der Herr Jesus sprach von Adam und Eva als von geschichtlichen Personen. Wenn nun Jesus Gottes Sohn und deshalb der Inbegriff aller Wahrheit ist, muß das Kind eine Entscheidung treffen. Entweder kannte der Herr Jesus die wirkliche Geschichte der Welt nicht (denn die Personen Adam und Eva existieren nach Darwinscher Theorie nicht. Jesus hat sich also getäuscht, war also nicht allwissend und somit nicht Gott) oder der Herr Jesus wusste, daß Adam und Eva keine geschichtlichen Personen waren, behielt aber diese Erkenntnis für sich und paßte sich der damaligen Massenmeinung an. Dies wäre aber unaufrichtig und unwahrhaftig gewesen. Nun, ein Gott der Wahrheit (Jesus), der unwahrhaftig ist, ist undenkbar. Spannungen dieser Art zwingen viele Kinder, ihren Glauben an Jesus Christus als Sohn Gottes aufzugeben. Sie müssen das tun, um ihre intellektuelle Redlichkeit zu wahren. Andere Kinder lösen das Problem, indem sie ihren Glauben von Tatsachen trennen – sie „glauben” naiv und blind trotz der „Tatsachen”. So kann ein Glaube unecht und unehrlich werden.

Die Lage ist klar: Wenn Jesus an die Historizität von Genesis glaubte, die, nach der Wissenschaft zu urteilen, unwahr ist, dann war er nicht Gottes Sohn. Viele Kinder sehen diesen Impass. Die Logik würde ihren Glauben vernichten. Deshalb retten sie sich in einen blinden Glauben, der mit historischen Fakten wenig gemeinsam hat. Man muß die Augen schließen und blind glauben. So wird der Glaube eher eine Sache des Unverstandes als des Verstandes. Es ist klar, daß selbst der frommste Christ nicht alles verstehen kann. Wenn man aber behauptet, daß der Glaube den Verstand ausschalten muß, dann kommt man auf gefährlichen Boden. Denn die Bibel behauptet immer, daß sie auf historische Tatsachen gegründet ist – Tatsachen wie das Leben, der Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus. Wenn diese historischen Tatsachen nicht die Basis meines Glaubens bilden, wenn ich glauben kann, ohne diese Tatsachen als Basis meines Glaubens zu haben, dann wird mein Glaube Sache des Unverstandes und nicht des Verstandes, was unbedingt unbiblisch wäre.

Weil man solche Überlegungen oft außer acht gelassen hat, kommen viele Kinder aus gläubigem Haus in große Schwierigkeiten in Glaubensfragen. Sie können leicht zu dem Schluß kommen – viele haben diesen Schluß bereits gezogen -, daß der Glaube ihrer Eltern auf Unwisssenheit, Unkenntnis der Tatsachen gegründet ist. Wüssten die Eltern einige naturwissenschaftliche Tatsachen, würden sie ihren dummen Glauben aufgeben: das ist die Einstellung vieler studierter Kinder aus gläubigem Haus. So fangen die Kinder an, die Intelligenz und die intellektuelle Redlichkeit aller Gläubigen (und ihrer Eltern) in Frage zu stellen. So lernen sie, auf ihre Eltern und andere Christen herabzuschauen. Diese sind eben zu dumm, deshalb glauben sie. Wenn nun mein Glaube auf Dummheit und Unwissenheit aufgebaut ist, dann ist er ein dummer, naiver Glaube!

Ist aber ein biblischer Glaube dumm und naiv? Viele meinen heute, daß dies der Fall ist. Kann aber ein dummer, naiver Glaube eine ganze Welt erneuern, wie der Glaube der Apostelgeschichte es tat? Es war Wilberforces biblischer Glaube, der ihn dazu brachte, von England aus den Amerikanern bekannt zu geben, überall, wo die Engländer irgendeinen Sklaven fanden, würden sie diesen befreien. Gladstone, der englische Ministerpräsident unter Königin Viktoria, Wesley, der England vor der französischen Revolution bewahrte, Whitfield, der die amerikanischen Kolonien revolutionierte, alle wiesen einen absolut biblischen Glauben auf.

Spurgeon, Moody und Sankey haben den gleichen Glauben geteilt, der alles andere als naive Folgen hatte oder dumm war! Wenn das moderne Kind zum Schluß kommt, daß der Glaube seiner Eltern (und von Wilberforce, Wesley, Whitfield, Gladstone etc.) naiv und dumm ist, muß das Vertrauensverhältnis zwischen gläubigen Eltern und ihrem Kind beeinträchtigt werden. Das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kind ist die Basis des Familienglückes. So würde also die Basis des Familienlebens zerstört und Familiengemeinschaft auseinandergehen. Wenn eine gläubige Familie anfängt, an den Grundtatsachen und der absoluten Historizität der Bibel zu zweifeln, da muß man früher oder später mit einem Bruch in der Familiengemeinschaft rechnen – denn ihre Basis ist nicht mehr sicher – sie ist eben dumm – naiv!

Viele Eltern ängstigen sich gerade über dieses Auseinanderfliegen ihrer Familiengemeinschaft durch das Studium ihrer Kinder, und mit Recht. Denn sie haben unter ihren Freunden immer wieder das gleiche gesehen. Der Sohn oder die Tochter gehen zur Universität, und dort verlieren sie ihren christlichen, biblischen Glauben. Sie wollen das oft so vermeiden, indem sie ihre Kinder einfach nicht auf die Hochschulen schicken, was eine negative Lösung zu diesem Problem darstellt. So erweckt man den Eindruck, daß unser Glauben nur dort florieren kann, wo Unwissenheit und Dummheit herrschen. Wenn man die Unwissenheit durch ein Universitätsstudium beseitigt, beseitigt man zur gleichen Zeit den Glauben! Mit Recht spottet die Welt über eine solche Einstellung, denn sie entwertet den christlichen Glauben!

Die wirkliche Lösung findet man in einer vernünftigen Auseinandersetzung mit all diesen Fragen in der christlich gebildeten Familie, ehe das Kind überhaupt studiert. Deshalb müssen sich christliche Eltern durch Lesen, Bibelarbeit und Studium immer weiterbilden. …damit sie sich und ihren Kindern wirklich helfen können, mit all diesen Problemen rechtzeitig fertig zu werden. Deshalb müssen die Eltern dafür sorgen, daß guter Lesestoff über all diese Probleme im Haus vorrätig ist. Sicher soll der Hauptlesestoff die Bibel sein. . . . Auf diese Weise lernen die Kinder den Glauben der Eltern schätzen und respektieren. Ihr christlicher Glaube war also doch wohl durchdacht und fundiert! Noch ein letztes Wort über Kultur und Lesestoff am Tisch.

Das Bibellesen am Tisch soll mit Liebe und vor allen Dingen mit Geschmack und Inhalt geschehen! Die Aufgabe der Hauseltern ist also, dafür zu sorgen, daß die ganze Familie regelmäßig inhaltsreiche leibliche, geistliche und geistige Speise bekommt. Leib, Seele und Geist können nur dann gedeihen, wenn am Tisch wirklich etwas Grundlegendes für alle drei Ebenen geboten und verdaut wird. Unter einer solchen Tischgemeinschaft wird die Familie und ihre Gemeinschaft wachsen und gedeihen.

6) Erziehung und Anstand

In der heutigen sozialistischen Welt gibt es viele Christen, die der Überzeugung sind, daß jegliche Art von Anstand, Umgangsformen, Höflichkeit und auch Ehrfurcht vor anderen älteren Menschen einem vergangenen Zeitalter angehört. Form jeglicher Sorte kann, ihrer Meinung nach, nur eine äußere Politur sein. Weil sie nur äußerlich ist, muß sie auch heuchlerisch sein. So sind in den Augen vieler, besonders junger Menschen alle Anstandsformen entschieden abzulehnen, weil sie nur Äußerlichkeiten sind und deshalb im Prinzip heuchlerisch. Ein Christ darf keine Heuchelei praktizieren, deshalb darf er keine Anstandsformen ausüben! Der Ministerpräsident wird Willi genannt und der Rektor der Universität Hans! So versucht unsere heutige Gesellschaft ohne Anstand und Höflichkeit zu leben. Bert Brecht lehnt auch jede Form von Anstand und Lieblichkeit mit seinen marxistischen Freunden entschieden als Heuchelei ab. Jeder muß sich nach Brecht und Co. geben, wie er gerade ist

So gibt sich auch jeder, wie er ist, mit dem Ergebnis, daß man heute das leere, hohle, brutale Innenleben vieler in all seiner Häßlichkeit, Korruptheit und Geringschätzung anderer in den „Umgangsformen” der heutigen „Kultur” klar und unverblümt vor Augen sieht. Niemand nimmt auf andere Rücksicht, jeder setzt sich einfach durch. Das Überleben der „Tüchtigen” (lies Brutalen) ist maßgebend, so sind wir, meint man, aus tierischen Vorfahren, Menschen geworden. Nur so kann man am Leben bleiben! Diese Einstellung muß natürlich die ganze menschliche Kultur gründlich brutalisieren. All das wäre konsequent und richtig, wenn Höflichkeit und Anstand nichts anderes als äußere Formen sind. Die Bibel lehrt aber, daß Höflichkeit, Freundlichkeit und Achtung vor dem Nächsten nicht äußere Form zu sein brauchen, sondern Ausdruck einer inneren Geschliffenheit und Rücksicht. Sie lehrt, daß Höflichkeit eine innere Frucht der umformenden Tätigkeit des Heiligen Geistes Gottes in uns sein soll: „ Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit (oder Höflichkeit), Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit…” (Gal. 5, 22-23).

Frucht wächst als Ausdruck des Innenlebens gewisser Organismen und Bäume. Pflaumen pflückt man nicht auf Distelgewächsen und Äpfel nicht an Brombeersträuchern. Wenn nun Höflichkeit eine Frucht des heiligen Geistes ist, wird der Mann, der voll des Heiligen Geistes ist, durch seine Höflichkeit charakterisiert. Die Höflichkeit ist ein ganz natürlicher Ausdruck des Geistes, der in ihm wohnt und sein Leben dirigiert. Freundlichkeit, Enthaltsamkeit, Treue in Freundschaften werden ebenfalls die Frucht des gleichen Geistes sein. Eine freundliche Milde (neben geistgewirkter Entschiedenheit natürlich) wird den Mann kennzeichnen, der vom Geist Gottes ergriffen worden ist. Wenn nun Anstand und Höflichkeit ein Herauswachsen einer inneren Frucht darstellen, dann sind sie keine Heuchelei mehr. So entstanden eigentlich die Höflichkeitsformen unserer ursprünglich christlichen westlichen Kultur.

Die Menschen im Westen kannten die Bibel und ihre Frucht, versuchten danach zu leben und wurden freundlich und höflich, weil die Frucht des Geistes aus ihnen herauswuchs, genau wie die Äpfel auf dem Apfelbaum. Nur mit hochentwickelten Umgangsformen kann eine komplizierte, technische Gesellschaft funktionieren. Wenn jeder im Stadtverkehr rücksichtslos und unhöflich ist, funktioniert z. B. der moderne Autoverkehr nicht mehr und kommt schnell zum Stillstand. Wenn niemand treu ist und jeder schwindelt, wo er nur kann, kann man keinen Bankscheckverkehr ausüben. Jeder ist untreu und unterschreibt unverantwortlich Schecks. Weil man eine allgemeingültige Vertrauensbasis hatte, wurde fast die ganze Wirtschaft in den USA anhand von Privatscheckverkehr geführt – ohne Bargeld. Versuchen Sie, das gleiche in der Türkei z. B. zu tun!

Die Frucht des Geistes, die wir Treue nennen, braucht man, damit Verkehr dieser Art funktionieren kann. Die Schrift lehrt uns auch, daß einer den anderen höher achten soll als sich selbst (Phil. 2:3). Wenn man das wirklich als Frucht des Geistes Gottes tun möchte, wird man dafür sorgen, daß man nicht nur in der Wirtschaft so handelt. Auch in der Unterhaltung wird man anderen z. B. nicht ständig ins Wort fallen! Vor einiger Zeit versuchte ich mit einem sehr wichtigen Herrn Direktor ein Gespräch über innere Dinge zu führen. Nach einer Stunde gab ich den Versuch auf. Obwohl er ein lieber, gläubiger Mann ist, fiel er mir ständig ins Wort, so daß ich ihm keine Information zu vermitteln vermochte. Viele jüngere Christen haben derart Wohlgefallen an dem Ton ihrer eigenen Stimme, daß sie Zeit beim Reden und Vorträgehalten einfach nicht einhalten können. Sie stehlen anderen ihre Zeit – nicht nur den Zuhörern, sondern auch den Rednern, die nach ihnen reden müssen. So achten sie andere nicht höher als sich selbst. Noch etwas müssen wir erwähnen, was zu diesem Thema des Anstandes gehört.

Einmal kam bei uns ganz unverhofft eine christliche Familie zu Besuch. Wir hatten gerade unsere Mahlzeit beendet und waren beim Geschirrwaschen. Es war Sonntag gegen 13.30 Uhr. Da fragte ich höflich, ob sie schon zu Mittag gegessen hätten. Nein, die Kinder hätten Hunger! Zwei Buben und ein Baby waren mit den Eltern. Wir hatten nicht viel Auswahl im Haus, um den unverhofften Gästen ein Essen zuzubereiten. So begaben wir uns in die Küche, öffneten einige Büchsen – alles, was wir auf Lager hatten – und bereiteten ihnen ein nettes Essen aus Champignons und Hackfleisch. Als das Essen nach 20-30 Minuten aufgetischt wurde, riefen beide Buben laut und einmütig „UUH – UUH! Das essen wir nicht! Das ist ekelig, lieber essen wir nichts als das!” Das war sehr peinlich!

Wir sagten, daß es leider nichts anderes gäbe. Da setzten sich unsere Kinder zu ihnen an den Tisch und fingen an, mit Begeisterung das Extraessen verschwinden zu lassen. Als die beiden Buben das sahen, wollten sie es auch probieren. Es schmeckte ihnen ausgezeichnet und sie aßen alles ratzekahl weg! Es mangelte dieser Familie an Takt und Disziplin! Höflichkeit ist oft nur ein Ausdruck von Selbstdisziplin. Deshalb klassifiziert die Schrift Höflichkeit mit Enthaltsamkeit (Gal. 5).

Im Grunde genommen ist die wichtigste Regel für den zwischenmenschlichen Bereich die Achtung vor dem Mitmenschen (Phil. 2:3). Höflichkeit resultiert daraus! Es ist unbedingt erforderlich, daß Eltern ihren Kindern von kleinauf im Geist der Heiligen Schrift gute Umgangsformen beibringen und vor allem selber vorleben. Durch die Erziehung zur Höflichkeit hilft man dem Kind beträchtlich im richtigen Umgang mit Menschen. Ich weiß, wie sehr ich mich über einen manierenlosen, undisziplinierten jungen Besuch – er mag noch so talentiert und auf seine Art gutmeinend sein – ärgere, der zuerst durch alle Türen spaziert, als erster am Tisch sitzt und vor der Hausfrau als erster zu essen anfängt, ohne Aufforderung halb liegend im besten Sessel versinkt (dafür muß ein älterer Mensch auf dem Stuhl Platz nehmen), jedem laut ins Wort fällt, alles besser wissen will, niemand anderen zu Wort kommen läßt. Wenn eine Dame oder eine ältere Person das Zimmer betreten, bleibt er sitzen, leistet der Hausfrau nicht die geringste Hilfe, sondern spricht noch ständig Extrawünsche aus. Jede Frau betrachtet er als seine persönliche Dienerin. Was nützt es, wenn dieser Gast die Bibel vorwärts und rückwärts auswendig und fromme Reden schwingen kann. Er lebt den Geist der Bibel nicht und ist ein vollkommener frommer Egoist, ohne es zu wissen. Was für ein Genuß ist dagegen ein gut erzogener Gast im Hause . . . Das Wort Gottes sagt uns zu diesem Thema (Philipper 4,8): „Allem, was wahr, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was wohllautend ist, wenn es irgendeine Tugend und wenn es irgendein Lob gibt, dem denket nach!”

7) Frauenemanzipierung und Ritterlichkeit

Früher wurden die Buben dazu angehalten, Mädchen gegenüber ritterlich und zurückhaltend zu sein. Heute benutzt der Bube das Mädchen und läßt es dann fallen nach dem Vorbild von Bert Brecht in „Baal. Der böse Baal der Asoziale”.
Es ist klar, daß die Mädchen die gleichen Rechte, die gleichen Löhne und die gleiche Behandlung wie Männer genießen sollen, wenn sie Gleiches leisten. Deshalb sagen sich viele junge Männer mit Recht, wenn die Mädchen alle männlichen Rechte haben wollen, warum sollen sie besondere frauliche Rechte genießen? Warum soll der junge Mann das Mädchen immer frei halten, wenn sie das gleiche verdient wie er? Früher war das anders. Weil Mädchen weniger oder gar nichts verdienten, wurden sie von jungen Männern überall freigehalten. Die soziale Gesetzgebung hat das heute gründlich geändert. Gleichzeitig führt dies zu einer gewissen Nivellierung des Verhältnisses zwischen jungen Männern und jungen Mädchen.

Die Bibel lehrt aber, daß Mädchen und Frauen nicht so wie Männer zu behandeln sind. Sie sagt, daß ein Mann seine Frau als Frau ehren soll (1. Petr. 3,7), wenn seine Gebete erhört werden sollen. Auf der anderen Seite betont sie, daß die Frau ihrem Mann Untertan sein soll. (Eph. 5,24). Die Frau ist dem Mann unbedingt gleichwertig, doch ist sie dem Mann nicht gleich.
Man will heute keinen Unterschied machen zwischen Mann und Frau. Gleiche Arbeit soll bei Mann und Frau gleich entlöhnt werden, was sicher richtig ist.
Doch zu meinen, daß alle Menschen, Frauen und Männer gleich sind, ist offenbar Unfug. Sie sind es nicht, auch wenn sie alle in Gottes Augen gleichwertig sind. Die Frau ist das schwächere Gefäß (1. Petr. 3,7). Physiologisch gesehen, weil sie eine Frau ist, muß sie zu besonderen Zeiten mit besonderer Rücksicht behandelt werden. Die heutige Idee, daß Mann und Frau so gleich sind, daß z.B. der Mann die Kinder genau so gut versorgen kann wie seine Frau, die mittlerweilen arbeiten gehen kann, um den Lebensunterhalt herbeizuschaffen, führt ins Unglück. Sicher kann ein Mann dem Baby die Flasche genau so gut halten wie eine Frau. Sicher kann der junge Mann genau so gut den Aufwasch machen wie die Frau. Aber der Mann kann die Atmosphäre im Heim und in der Familie nicht so schaffen wie die Frau. Er hat andere Aufgaben, die er besser erfüllen kann, als einen Haushalt zu pflegen. Dies ist eine einmalige Eigenschaft einer Frau und nicht die eines Mannes. Sicher kann der Mann die Familie gesellig machen, doch kann er nie und nimmer die Frau und Mutter ersetzen und sie nicht den Mann und Vater.

Jeder muß nach seinem besonderen Amt geachtet und gepflegt werden – die Frau nach ihrem fraulichen Amt und der Mann nach seinem. Mann und Frau können dafür sorgen, daß Anstand im Sinne der Frucht des Geistes in der Familie gepflegt wird. Es liegt aber immer besonders in den Händen der Frau, auf feine und taktvolle Weise das Familienleben so zu lenken, daß keiner sich vordrängt und keiner zu kurz kommt. Von ihren Augen können die Kinder oft ablesen, was sich in der Familie oder jeder Situation ziemt oder nicht ziemt. Solche Feinfühligkeit gehört zur Familienordnung, Wo solche Feinfühligkeit und die damit verbundene Ritterlichkeit gelebt werden, braucht es weniger Emanzipation der Frau, weil niemand unterdrückt wird. Goethe schreibt in seinem Torquato Tasso: „Willst du erfahren, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an.”

Kapitel 7

Das Verhältnis zum anderen Geschlecht

Vor hundert und mehr Jahren war man davon überzeugt, daß unverheiratete junge Menschen beider Geschlechter sich nur unter Aufsicht Dritter treffen durften. Daher stammt die Sitte der Anstandsperson (oder des „Anstandswauwaus”). Sicher ging diese Sitte oft zu weit und war mit Prüderie und Heuchelei verbunden. Genau so sicher ist es aber, daß das Pendel heute zu weit in die andere Richtung ausgeschlagen ist. Die Jugend beider Geschlechter trifft sich heute paarweise nicht nur ohne Aufsicht dritter Personen. Sie trifft sich, um freien Sex zu praktizieren. Oft werden private Zimmer zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt. Man „probiert” sich, wie man sagt, beiderseitig geschlechtlich aus, ohne die geringsten Hintergedanken an eine Eheverbindung. Junge Paare leben ohne weiteres zusammen, ohne eine feste Ehe zu beabsichtigen. Die Praxis von freiem Sex bringt aber allerlei Schwierigkeiten und Frustrierungen mit sich. Wie soll sich der junge Christ zu dieser Entwicklung auf dem Gebiet des freien Sexes verhalten?

1) Die drei Ebenen.

Das Geschlecht wurde dem Menschen nicht gegeben, um bloß für den Genuß des Augenblickes zu sorgen. Sex ist mit der langjährigen Verantwortung für die Fortpflanzung der Rasse verbunden. Schon deshalb ist kasualer Sex Unfug. Die geschlechtliche Vereinigung soll die Harmonie zweier Menschen auf allen drei Ebenen ihres lebenslänglichen Daseins darstellen. Die dauerhafte Erfahrung von Harmonie auf drei Ebenen bringt große Freude, Erfüllung und Befriedigung beiderseits mit sich, sie kann aber von Verantwortlichkeiten und Pflichten nie getrennt werden. Ein Paar, das sich auf drei Ebenen harmonisch und dauerhaft ausliefert, erfährt ein Glück, das ein wachsendes Geheimnis des Paares ist und bleibt. Die Befriedigung, die Erfüllung und die Freude können aber nie ohne entsprechende Verantwortlichkeit erlebt werden. Diese dreifache Harmonie kann natürlich nur bei denen erfahren werden, die sich nach Leib, Seele und Geist fürs Leben immer wieder ausliefern und auch gegenseitig bereit sind, für die natürlichen Folgen von natürlichem Geschlecht dauerhafte Verantwortung nach Leib, Seele und Geist zu tragen.

Ehepaare, die nach ihrer Eheschließung zu Christus finden, bezeugen, daß mit ihrer beiderseitigen Hingabe an den Herrn Jesus ein völlig neues Glück, eine neue Dimension, in ihr Eheverhältnis eintrat Es handelt sich um ein Glück, das das Paar vorher nie gekannt hatte. Harmonie und Einssein auf 2 Ebenen kann beglückend sein. Harmonie auf drei Ebenen bringt eine ganz neue Dimension in eine Ehe. Wenn nun unverheiratete Paare kasualen geschlechtlichen Verkehr auf Ebene 1 praktizieren, wirkt das Erlebnis nachträglich oft abstoßend für beide. Gegenseitige Verachtung über gegenseitige Disziplinlosigkeit kann Entfremdung hervorrufen, so daß die körperliche Zuneigung sich in eine Verachtung und Abneigung verwandelt. Die Geschichte von Amnon und Tamar illustriert diesen Aspekt vorehelichen Verkehrs. Amnons glühende „Liebe” und Zuneigung zu Tamar verwandelte sich direkt nach seinem Geschlechtsverkehr mit ihr sofort, radikal und plötzlich in einen ebenso glühenden Haß und eine tiefe Abneigung (2. Sam 13). Seine ursprüngliche Zuneigung zu Tamar geschah ausschließlich auf der Basis von Ebene 1, die offenbar nicht ausreichte, um eine Ehe im richtigen Sinne des Wortes zu bilden.

„Liebe” auf Ebene 1 allein erzeugt oft Abneigung. Ein Blick in B. Brechts „Baal” wird diese Behauptung vollkommen bestätigen. Nach ausgelebter Lust wurden ihm alle Partnerinnen regelmäßig ekelerregend. Wenn nun unverheiratete Jugendliche, die wenig von Ebene 2 und gar nichts von Ebene 3 auf geschlechtlichem Gebiet erfahren haben, auf geschlechtlichen Verkehr (Ebene 1) eingehen, entsteht eine vollkommene Einseitigkeit, d. h. eine Dissonanz im Paar. Der Körper geht auf etwas ein, das von den anderen Ebenen nicht getragen wird. Das Resultat ist, das die rein körperliche Zuneigung überlastet und beschädigt wird: Abneigung entsteht oft plötzlich. Eine Zeitlang danach wird die ganze Idee des Geschlechtes abstoßend und der Verkehrspartner ekelig; denn diese Art von geschlechtlichem Verkehr ist eine monodimensionale Karikatur der normalen dreidimensionalen Wirklichkeit im Geschlechtsleben. Der monodimensionale Verkehr findet bloß auf dem Niveau des Tieres statt. Somit verliert der Mensch de facto seine dreidimensionale menschliche Spezies, denn er praktiziert das, was unter dem Niveau seiner Spezies liegt. Er wird zur Bestie und zum Triebtier. Er entehrt sich selbst und beraubt sich seiner eigenen Würde. (Vergl. „Baal. Der böse Baal der Asoziale” von B. Brecht oder „Ostpreußisches Tagebuch”, Hans Graf von Lehndorff, dtv. 1967).

Er erlebt hier einen zweiten „Sündenfall”. Der erste Sündenfall degradierte den Menschen so, daß er aus dem Paradies Gottes ausgestoßen wurde – der Mensch starb auf der 3. Ebene seines Wesens, lebte aber als Körper und Psyche weiter. Im „2. Sündenfall” wird der Mensch zu einem Zustand und Niveau hinuntergestoßen, der mit dem des Tieres zu vergleichen ist. Er verliert sozusagen seine menschliche Spezies, seine Seele (Ebene 2). Er lebt nur nach den Prinzipien der körperlichen Lust. Der Apostel Paulus schreibt, daß der Mensch, der Unzucht treibt, sich an seinem eigenen Leib (nicht nur an seiner Seele) versündigt (1. Kor. 6:18). Das griechische Wort, das mit dem deutschen Wort „Unzucht” übersetzt wird, ist „porneuo”, welches Wort mit unserem Wort Pornographie verwandt ist. Unzucht oder „porneuo” heißt einfach menschlicher, geschlechtlicher Verkehr zwischen Unverheirateten. Zu dieser Art Geschlechtsverkehr schreibt der Apostel Paulus: „Fliehet die Unzucht. . . der Unzüchtige sündigt gegen seinen eigenen Leib. Oder wisset ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt, und daß ihr euch nicht selbst gehört? Denn ihr seid teuer erkauft worden: so verherrlicht nun Gott mit eurem Leib”. (1. Kor. 6:18-20).

Der Leib ist da, um Gott eine Wohnstätte zu bieten und um ihn zu verherrlichen. Unzucht aber verunehrt Gott, denn der Leib gehört dem Herrn. Gott kann in keinem verunreinigten Tempel Wohnung nehmen. Die Bibel spricht also unmißverständlich gegen freien Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten. Außerehelichen Verkehr zwischen Verheirateten nennt die Bibel Ehebruch.

Wenn wir bloß hochentwickelte Tiere nach der Evolutionslehre sind, warum sollen wir nicht ab und zu uns so auslassen wie gewisse Tiere? Aber beim Menschen kann Geschlechtsverkehr früher oder später zum Kind führen. Ein Menschenkind, ein Baby, darf aber nur dort geschenkt werden, wo beide Eltern auf allen Ebenen harmonieren, damit sie mit den Strapazen der Kindererziehung fertig werden können. Auch müssen beide Eltern über die wirtschaftlichen Mittel verfugen, um ihr Kind ernähren und ausbilden zu können. Ein großes Elend der heutigen Welt des freien Geschlechtsverkehrs besteht darin, daß Tausende von Kindern jährlich auf diese Welt kommen, die unerwünscht, unversorgt, ungepflegt und ungeliebt sind. Gott ist die Liebe.

Deshalb hat er die verantwortliche Zeugung von Kindern mit großer Liebe auf drei Ebenen verknüpft. Auf diese Weise sollte das menschliche Kind in eine Oase der Liebe in einer lieblosen Welt hineingeboren werden. Damit diese Liebe für das Kind stark genug sein kann, muß sie in einer Harmonie auf drei Ebenen bei den Eltern entstehen. Wir brechen durch diese gottgewünschte Mauer der versorgenden Liebe, wenn wir Kinder nur auf der Basis von Ebene 1 auf die Welt setzen. Aber auch wenn durch den Geschlechtsverkehr keine Kinder gezeugt werden, was mit modernen Verhütungsmitteln leicht  bewirkt werden kann, bleibt freier Sex vom göttlichen Standpunkt aus ein Unding. Solcher Verkehr ist eine Karikatur des Eigentlichen, denn Sex soll das totale, innere Einssein des Paares fürs Leben auf körperliche Weise versinnbildlichen. Sie werden zu einem Fleisch, untrennbar in- und – miteinander verschmolzen. Vor- und außerehelicher Verkehr versinnbildlicht alles andere als diese permanenete Verbundenheit für Lebzeiten. Seine Ausübung verhöhnt Mann und Frau. Wenn zwei Menschen sich körperlich außerhalb der Ehe vereinen, tun sie ihrem eigenen menschlichen Wesen tiefsten Schaden an. Sie erwarten so viel vom Verkehr und erhalten nur eine Verhöhnung des Wirklichen. So entstehen Ekel und chronische Enttäuschungen. Denn die Vereinigung muß auf allen drei Ebenen für Lebzeiten stattfinden, um vollkommen befriedigend und glückspendend zu sein.

2) Ärztliche Befunde

Ärzte haben wiederholt entdeckt, daß Unzucht eine Verletzung des ganzen Menschen mit sich bringt. Durch Unzucht haben sich physische Krankheiten wie Syphilis und Gonorrhöe im Westen epidemisch ausgebreitet. Die Erreger dieser Krankheiten sind auch zu einem erschreckenden Maße gegen Penicillin und andere Antibiotika resistent geworden. Die Medizin steht also jetzt vielfach machtlos dieser Epidemie mit all ihren Folgen gegenüber. So gehen die genannten Krankheiten wie ein Lauffeuer durch die Reihen der Jugend in der westlichen Welt.

Die Folgen (körperlich und psychisch) für die Generation, die darunter leidet, sind ernst. Doch viel ernster sind die Folgen für die kommenden Generationen. Bei syphilitischen Eltern können die Kinder blind geboren werden. Viele andere Symptome von jungen Kindern gehen auf Syphilis zurück und sind manchmal unheilbar. Diese Schäden treten zuweilen nach einigen Generationen immer noch auf.

Unzucht bringt aber nicht nur ansteckende physische Krankheiten mit sich. Sie verursacht auch die bereits erwähnten psychosomatischen Störungen. Durch den Mißbrauch ihrer Körper im vorehelichen Geschlechtsverkehr verderben sich viele das wirkliche spätere eheliche Glück. Wenn eine Braut entdeckt, daß ihr Mann Dutzende von vorehelichen Verbindungen mit vielen anderen Mädchen auf Ebene 1 schon erlebt hat, entsteht sehr oft in ihr ein Ekel vor ihrem Mann und vor ehelichem Verkehr mit ihm. Das gleiche gilt auch für den Mann, wenn er entdeckt, daß seine Frau keine Jungfrau war, als er sie heiratete, sondern sich anderen Männern vor ihm ausgeliefert hat. Geschlechtsverkehr schlechthin wird durch jeglichen Sexmißbrauch ekelig (vgl. B. Brecht!).
Aus diesem Grund können viele, auch christliche Eheleute, nie eine glückliche eheliche Verbindung finden. Es gibt zahlreiche Christen, die chronisch zu den Ärzten laufen, weil sie die größte Mühe haben, in ihrem ehelichen Verkehr einen Höhepunkt zu erreichen. Es kann sein, daß die Frau tief in ihrem Herzen ihren unzüchtigen Mann verachtet – oder er sie -, was normalen glücklichen Verkehr verdirbt. Ein solches Ehepaar kann sich gegenseitig nie das geben, was beide brauchen … nämlich die exklusive, gegenseitige Hingabe auf allen drei Ebenen. Aber gerade das kann sich das Paar geben, das rein in die Ehe hineinging. Eine ähnliche Situation kann bei Geschiedenen entstehen. Hier gibt es natürlich Ausnahmen, denn manche sind unschuldig geschieden. Da kann Gott gutmachen, was Menschen frevelhaft mißbraucht und deshalb verdorben haben. Der Mensch ist nicht für Unzucht, d.h. für geschlechtlichen Verkehr außerhalb oder vor der Ehe geschaffen. Wenn er es trotzdem tut, entsteht in ihm selbst nur Ekel davor – statt der großen Freude des natürlichen dreidimensionalen Verkehrs.

3) Geschlechtsverkehr zwischen Verlobten

In der modernen Welt wird es allgemein als selbstverständlich angesehen, daß Verlobte oder Paare, die vor der Verlobung stehen, sexuellen Verkehr praktizieren. In diesem Sinne gehen verlobte und noch nicht verlobte Paare zusammen zelten, sie übernachten in Hotels zusammen, unternehmen zusammen weite Reisen. Niemand findet etwas dabei. Und warum sollte man etwas dabei finden? Die Überzeugung besteht, daß Sex und Sexgenuß genau so notwendig und natürlich sind wie das Essen und das Genießen von Essen. Sex ist doch ein rein natürliches Phänomen, so natürlich wie Essen und Trinken. Ohne Sex kommt man genau so wenig aus wie ohne Essen und Trinken. Das ist die heutige Einstellung.

Warum soll man etwas dabei finden? Die Antwort auf diese Frage ist ganz einfach: Der Schöpfer, der uns erschuf, hat uns so gebaut, daß wir am besten nach Leib, Seele und Geist gedeihen, wenn unserem Sexleben andere Schranken gesetzt werden als Essen und Trinken. Ein Mann ist für eine Frau gebaut – und eine Frau für einen Mann. Wenn man Pluralität in das Sexleben einbaut, gedeiht der Mensch nicht, wie Gott es plante. Selbst Salomo, der weiseste aller Menschen, musste diese Tatsache bitter lernen.

Warum sollte aber das junge Paar, das sich verloben will, oder sich schon verlobt hat, auf sexuellen Verkehr bis nach der tatsächlichen Eheschließung verzichten? Stellen wir die Frage anders: Warum soll das Paar auf Verkehr verzichten, bis das Establishment ihm die Genehmigung dazu in der Eheschließung gibt? Viele junge Paare lehnen sich gegen die Hegemonie der Landeskirche und des Staates auf diesem Gebiet auf. Sie lehnen diesen amtlichen Trauschein und diese Zeremonien ab.

Die Landeskirche bestimmt den Glauben der Masse nicht mehr – sie (die Kirche) lebt nur noch von den Almosen und Kirchensteuern einer unwilligen Masse des Volkes. Auch der Staat hat, wie die Landeskirche, seine Glaubwürdigkeit teilweise verloren. Denn viele moderne Staaten werden heute von ehemaligen Terroristen geführt, die ihren Staat durch Gewalt eroberten und mit Hilfe der Polizeigewalt das Regiment führen. Man blicke nach dem Osten (und nach dem Westen), überall sieht man das gleiche Bild. Die Fürsten in der Vergangenheit waren oft auch nicht viel besser! Wie der Herr Jesus selber sagte, ergreifen die, die die Macht über uns haben, die Gewalt und nennen sich dann Wohltäter des Volkes (Luk. 22:25). Auch für ihre Trauscheine verlangen sie Gebühren, auf die der heutige Mensch keinen Wert mehr legt, denn er ist aufgeklärt! Unsere modernen Ehen sind unsere eigene Sache, für die wir keine Genehmigung solcher „Wohltäter“ brauchen! Wenn die Ehe von einem Establishment anerkannt werden muß, das sicher auf unser Geld und meist auf die Macht der Polizei aufgebaut ist, dann verzichten wir auf eine Genehmigung unserer Ehe vor einer solchen Behörde, sei sie zivil oder kirchlich! So denken viele heute!

Junge Paare sind heute besser orientiert über diese Dinge als früher. Sie hören ständig Radio und sehen jeden Tag Fernsehen – und respektieren Autorität wenig! Deshalb distanzieren sie sich von behördlichen Trauscheinen und kirchlichen Zeremonien. Aus diesen und ähnlichen Gründen sagen sich viele moderne Paare, daß ihre Ehe sie allein angeht und das kein Establishment irgendwelcher Art dazwischenzufunken hat. Wir lieben uns, wollen einander treu bleiben, wir leben deshalb einfach ohne weiteren Aufschub zusammen wie Mann und Frau! Wir lehnen Autorität und Hegemonien, seien sie staatlich, zivil oder kirchlich, als heuchlerisch entschieden ab.

Obwohl wir oben geschilderte Einstellung sehr gut verstehen, können wir sie als Christen nicht ganz billigen. Denn im Alten Testament ist die Einrichtung, die wir Ehe nennen, von Gott unter gewissen Bedingungen eingesetzt worden. Die Paare fingen nicht einfach an, miteinander zu leben, wie man es heute tut. Sie fingen erst an, als Ehepaar zusammenzuleben, nachdem sie einzeln und freiwillig vor ihrer Sippe bekannt hatten, daß sie hinfort als Mann und Frau bis zum Tode zusammenleben wollten, und von Gott eingesegnet worden waren. Selbst Rebekka durfte die lange Reise zu Isaak nicht anfangen, bis man sie öffentlich vor der Gemeinde der Verwandten und Freunde befragt hatte, was sie persönlich wegen Isaak beabsichtige. Als sie sich eindeutig und freiwillig zu ihm bekannte, dann erst durfte sie reisen. (1. Mose 24). Die Zeremonie vor der Sippengemeinschaft wurde also als Notwendigkeit und auch als Vorbedingung für eine Ehe angesehen. Dies ist auch die biblische Einstellung von Genesis bis zu der Offenbarung. Auch heute soll das christliche Brautpaar in einer öffentlichen Zeremonie den Segen Gottes auf ihren Bund erbitten, und zwar vor dem Zusammenleben.

Man darf also Zeremonien, die eine Gelegenheit zum öffentlichen, freiwilligen Bekenntnis zur Ehe bieten, nicht einfach ablehnen, wenn man innerhalb der Gesinnung des Wortes Gottes leben will. Sie sind biblisch und gehören zur gottgewollten gesellschaftlichen Ordnung. Der Wille zur Ehe soll vor Freunden und Familiengliedern öffentlich bekannt werden. Eine solche biblische Ehe wird nicht provisorisch geschlossen, bis man sieht, ob man zueinander passt. Eine biblische Ehe wird, ehe sexueller Verkehr beginnt, geschlossen, bis der Tod die beiden trennt.

Offenbar ist es gut, wenn ein Paar sich öffentlich und freiwillig zueinander bekennt, ehe es zusammenlebt. Denn das öffentliche Bekenntnis schützt beide Seiten. Wenn man sich schämt, dies in einer öffentlichen Zeremonie vor Freunden und der Familie zu tun, fehlt etwas in einem Verhältnis. Zu dem, was man tut, muß man auch öffentlich stehen.

Besonders unverantwortlich ist es, wenn ein Paar zusammenleben will, ohne sich permanent aneinander zu binden, auch wenn man behauptet, man will sich gegenseitig nur „ausprobieren”. Denn in der „Probe” sind sie bereits ein Fleisch geworden. Diese Situation ist ganz anders als die, die wir oben geschildert haben, wo ein Paar zusammenleben will, aber ohne öffentliche Zeremonie. Hier handelte es sich um kasualen Verkehr, bei dem keine bindende Absicht für eine spätere Ehe eine Rolle spielt. Man will sich ohne Verpflichtung „ausleben”. Und zwar sind heute oft die Aggressiven die Mädchen, die durch unanständige Kleidung, durch aufdringliches Benehmen, unsaubere Worte und Gebärden den Mann bewußt reizen und sich ihm anbieten. Vor den Reproduktionsfolgen kann sich ein Mädchen heutzutage schützen. Jede sexuelle Eroberung ist für sie ein Triumpf! Früher war es eher umgekehrt.

Warum machen wir diese Unterschiede zwischen kasualen und permanenten Verhältnissen bei Liebespaaren? Der Grund ist einleuchtend: ein junger Mann und ein junges Mädchen können auf Ebene 2 und 3 miteinander verkehren, ohne auf ein sexuelles Verhältnis auf Ebene 1 einzugehen. Das Paar kann gesellschaftlich und auch auf geistlicher Ebene in einer christlichen Familie oder in einer christlichen Gemeinde sehr gut verkehren, um sich besser kennenzulernen. Dieser Verkehr bietet die natürliche Basis menschlichen Verkehrs und auch die Gelegenheit, eine noch nähere Bekanntschaft anzubahnen. Wenn ein Paar dann festgestellt hat, daß sie auf Ebene 2 und 3 zusammengehören, erst dann entsteht eine Basis für Verkehr auf Ebene 1 in der Ehe. Aber der sexuelle Verkehr (Ebene 1) gehört nach der Bibel einzig und allein in eine Ehe und bietet nie eine Basis, auf Grund welcher ein Paar erfahren kann, ob es auf Ebenen 2 und 3 zusammengehört. Geschlechtlicher Verkehr soll eine Folge von Gemeinschaft auf Ebenen 2 und 3 sein und nicht die Basis von Gemeinschaft auf Ebenen 2 und 3. Das Paar, das sich gegenseitig auf Ebene 1 „ausprobiert”, um zu erfahren, ob es für eine Ehe zusammenpaßt, stellt die natürliche Reihenfolge in der Entwicklung einer Gemeinschaft zwischen Mann und Frau auf den Kopf. Das letzte Gemeinschaftsgebiet, das sich entwickelt, muß das Körperliche sein. Ein Teil der modernen Jugend beginnt mit dem, was zuletzt kommen soll.

Warum betonen wir diesen Unterschied im Verhältnis zwischen Verlobten und Ehepaaren? Ganz einfach, weil die Bibel die gleiche Betonung herausstreicht. Im Fall von Joseph und Maria haben wir bereits festgestellt, daß während der Verlobung absolut kein sexueller Verkehr stattfand. Die Tatsache der Jungfrauengeburt Jesu (eine zentrale Doktrin der Heiligen Schrift) ist von der absoluten Abstinenz Josephs und Marias auf diesem Gebiet während der Verlobungszeit abhängig. Die Bibel gibt sich aus, des Schöpfers verbindliches Wort an uns zu sein. Wenn sie auf diesem Gebiet ungenau Bericht erstattet, wie kann man ihr auf den anderen Gebieten Vertrauen schenken?

Wir wissen, daß der Schöpfer selber die Einrichtung der Ehe und des sexuellen Verkehrs erfand. Da der Herr Jesus derjenige ist, durch den Gott die ganze Welt, und alles, was darauf ist, erschuf, hat Jesus persönlich die Einrichtung der Ehe erfunden und entwickelt (Eph. 3:9). Seine Worte über den Ursprung der Ehe sind deshalb doppelt wichtig für Jünger Jesu: „Er aber antwortete und sprach: Habt ihr nicht gelesen, daß der Schöpfer sie von Anfang an als Mann und Weib geschaffen und gesagt hat: „Darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und seinem Weib anhangen, und die zwei werden ein Leib sein”? Somit sind sie nicht mehr zwei, sondern sie sind ein Leib. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.” (Matth. 19:4-7).

Der Herr Jesus selber sagt uns hiermit, daß die körperliche Verbindung zwischen Mann und Frau eine transzendente Verbindung auf höherer Ebene bewirkt. Mann und Frau stellen im sexuellen Verkehr eine organische Einheit zwischen ihren Körpern her, die nicht mehr aufzulösen ist. Sie werden eins. Deshalb wurde anfänglich nicht an die Möglichkeit einer Ehescheidung gedacht. Eine Ehescheidung würde eine so tiefgreifende chirurgische Operation darstellen, daß sie in Jesu Augen praktisch nicht durchführbar ist. Das Paar ist in den Augen Gottes eins geworden und dieses Einssein wird durch die eheliche Verbindung symbolhaft und dem Wesen nach dargestellt.

Wenn nun junge Menschen sich einfach gegenseitig „ausprobieren”, machen sie das tiefste, transzendenteste Bild des inneren, permanenten Einssein nach Leib, Seele und Geist zunichte. Deshalb müssen Unzucht, Ehebruch und vorehelicher Verkehr vor Gott, dem Erfinder ehelichen Verkehrs, immer ein Frevel sein, der den Menschen nach Leib, Seele und Geist vernichtet. Natürlich, Buße und Bekehrung kann durch Jesu Blut auch solchen Frevel aus dem Weg schaffen, doch bleibt immer eine große, häßliche Narbe in der Seele der Betreffenden zurück.

Die Sünde selber kann Vergebung erfahren, doch bleiben ihre permanenten Folgen nicht aus. Das eheliche Verhältnis ist für einen Mann und eine Frau gedacht, und zwar bis der Tod die beiden scheidet. Moses machte Ausnahmen wegen des Herzens Härtigkeit, doch waren Scheidung, Ehebruch, Unzucht und Unkeuschheit außerhalb der Herrlichkeit der Schöpfung Gottes, wie sie am Anfang gedacht wurde.

4) Warum die Frau die Kinder bekommt und nicht der Mann

Vom biologischen Standpunkt aus ist es nicht ganz selbstverständlich, daß der weibliche Teil einer Spezies die Kleinen bekommt. Gewisse nichtmenschliche Spezies teilen das Problem der Reproduktion und des Kindergebärens anders ein, wie wir schon gesehen haben. Das kleine Seepferd löst das Problem so, indem das Männchen die Eier vom Weibchen übernimmt und sie nicht nur befruchtet, sondern sie in seine eigene Bruttasche steckt, wo er sie schützt und ernährt Dann, wenn sie reif sind, bringt er sie durch männliche Geburtswehen lebend zur Welt. Vögel, Reptile besonderer Art, gewisse Fischarten und Piatypus (ein primitives Säugetier) legen Eier. In vielen Fällen brüten die Eltern die Eier nicht aus, sondern überlasse sie sich selbst. Es ist ein relativ rares Phänomen, daß das Weibchen die Eier in sich, wie beim Menschen, ausbrütet und dann so lange pflegt. Warum aber dieses langwährende und intime Verhältnis zwischen Mutter und Kind bei uns Menschen? Die Bibel gibt uns zwei Antworten auf diese Frage:

1) Das intime, langwährende Verhältnis zwischen Mutter und Kind beim Menschen soll uns Anschauungsunterricht über unsichtbare Dimensionen vermitteln. Wir können die transzendenten Dimensionen nicht wahrnehmen, und doch sollen wir etwas über sie wissen, denn früher oder später gehen wir alle ins Transzendente ein. Wir stammen auch aus dem Transzendenten. Deshalb sollen wir mit den Prinzipien dieser Dimension während unserer Lebzeit vertraut werden. Die transzendenten Dimensionen stellen die Sphäre dar, aus der wir stammen und für die wir erschaffen wurden. An der Sorge einer Mutter für ihr Kind, an ihrem intimen lange Zeit währenden Verhältnis zu ihrem Kind, sollen wir Gottes immerwährende Sorge für uns wahrnehmen, die wir nicht direkt sehen können, weil er transzendent ist und wir nicht. Der erste Grund ist also der des Anschauungsunterrichtes. Es ist natürlich klar, ein so hochentwickeltes Wesen wie ein menschliches Kind braucht viel mehr Zeit zum Wachstum und zur Entwicklung als Tiere, die ein so komplexes Schicksal und hohe Bestimmung nicht vor sich haben wie Menschen. Deshalb sorgte Gott in der Biologie des Menschen für diese überaus lange Entwicklung, indem er ein Mutter-Kind-Verhältnis menschlicher Art plante. Deshalb versuchen Atheisten wie die Kommunisten und auch die Nationalsozialisten das Mutter-Kind-Verhältnis und das Familienleben schlechthin zu kürzen oder zu vernichten. Sobald wie möglich nach der Geburt, wird das Kind von der Mutter weggenommen, so daß das Baby nie erfährt, wie eine Mutter für es sorgt und es liebt. Dann wird das Kind sein Leben lang Mühe haben, die Liebe Gottes und seine Fürsorge zu verstehen und zu erleben. Der Anschauungsunterricht einer Familie fehlt ihm für immer.

Der zweite Grund besteht darin, daß die Rolle der Frau beim Kindergebären und bei der Kindererziehung einen Ausgleich zwischen Mann und Frau darstellen soll, und zwar folgendermaßen: Am Anfang als Gott die Menschen erschuf, entstand Adam zuerst. Dann wurde Eva aus Adams Seite genommen. Sie wurde nach dem Genesisbericht aus Adams Rippe gebaut. Hat sich die Bibel auf einen biologischen Ast hinausgelassen, indem sie diese Aussage über Eva und Adams Rippe machte? Persönlich glaube ich als Naturwissenschaftler und Christ, daß man diese Aussage historisch hundertprozentig annehmen darf. Die biologischen Gründe dafür habe ich in meinem Buch „Grundlage zu einer neuen Biologie” ausführlich angegeben. Die moderne Theologie möchte dem biblischen Bericht keinen Glauben schenken, weil sie bis jetzt kaum imstande war, das Problem im Lichte der modernen Erkenntnis auf dem Gebiet der Molekularbiologie und des genetischen Codes zu untersuchen. Rein theoretisch gesehen kann man den Genesisbericht nur annehmen oder ablehnen, je nachdem wie man zur Historizität der Bibel steht. Bis vor 20 Jahren stand auch die biologische Wissenschaft kopfschüttelnd vor der biblischen Berichterstattung über Eva und Adams Rippe. Mit der Enträtselung des genetischen Codes ist es jetzt möglich geworden, die biblischen Aussagen als historisch wahr in allen Einzelheiten anzunehmen. „Grundlage zu einer neuen Biologie” gibt nähere Details über dieses Problem.

Nach der Bibel nahm also die Frau ihren Ursprung vegetativ aus Adams Seite: Sie verdankt ihr Sein dem Leib Adams, sie kam also durch Adam zustande und wurde für ihn gebildet. Wie die Schrift sagt, kam also die Frau durch den Mann (1. Kor.11:7-12). Körperlich wurde sie Adams Seite entnommen. Wie Adam selber sagte: „Dies ist nun endlich Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Die soll Männin heißen: denn vom Mann ist sie genommen” (1. Mose 2:23). Nach der biblischen Berichterstattung stammt die Frau also stofflich materiell vom Mann ab. Sie ist sein Fleisch und sein Gebein. Ihre ganze Grundlage liegt also im Manne.

Wenn nun die Geschichte der Frau so bliebe, könnte es so aussehen, als ob die Frau dem Manne total untergeordnet sei. Sie würde sozusagen sekundär sein, was nach der Schrift nicht der Fall ist. Sie ist durchaus eine ebenbürtige Gehilfin – nicht seine Sklavin. Um einen Ausgleich zu schaffen, hat nun der Herr es so verordnet, daß Eva, die vegetativ vom Körper des Mannes abstammte, die Mutter aller Lebenden wurde (1. Mose 3:20). Adam „gebar” Eva (auf nichtsexuelle Art und Weise) aus seiner eigenen Rippe. Eva gebiert auf sexuelle Weise alle Menschen, Frauen und Männer. So entsteht der vollkommene Ausgleich zwischen dem Wesen des Mannes und dem Wesen der Frau.

Aber es war die Frau, die in die Versuchung kam und dem Satan nachgab. Eva wurde vom Satan versucht und nicht Adam, so daß der Sündenfall durch die Frau zustande kam. (1. Timotheus 2:14). Infolge dieser Tatsache könnte die Frau ewig geknechtet werden, wenn nicht noch ein Ausgleich geschaffen worden wäre. Um diesen weiteren Ausgleich zugunsten der Frau zu verwirklichen, brachte die Jungfrau den Herrn Jesus, Gottes Sohn zur Welt, durch den die Erlösung und Befreiung aus dem Sündenfall geschah. So entstand die Frau aus dem Körper des Mannes: alle Menschen aber entstehen aus dem Leib der Frau, beide, Männer und Frauen. Durch die Frau drang die Sünde in die Welt: durch die Frau kam aber der Heiland (Retter) von Sünde auch zur Welt. So herrscht eine vollkommene Dialektik zwischen dem Wesen und der Funktion von Mann und Frau. Sie sind vollkommen gegeneinander und füreinander ausgeglichen. „Denn ein Mann soll das Haupt nicht verhüllen, da er ein Abbild und ein Abglanz Gottes ist: die Frau aber ist Abglanz des Mannes. Der Mann stammt ja nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann. Denn der Mann wurde auch nicht um der Frau willen erschaffen, sondern die Frau um des Mannes willen… denn wie die Frau vom Manne stammt, so ist auch der Mann durch die Frau, aber alles kommt von Gott.” (1. Kor. 11:7-12).

5) Zeugung und Erschaffung (Schöpfung)

Als Gott die Welt erschuf, erschuf er etwas, was anders ist als er selbst. Die ewige, göttliche „Substanz” ist anders als die nicht-ewige Substanz seiner Schöpfung. Seine Substanz ist ewig und transzendent. Der Stoff dieser Welt ist immanent und wurde von Gott erschaffen. Stoff ist nicht ewig. Die Materie dieser Welt hatte einen Anfang, Gott dagegen keinen. Deshalb, als Gott die Welt und den Stoff dieser Welt erschuf, brachte er etwas zustande, was anders ist als er selbst.
Die Pantheisten lehren, daß der Kosmos Gott ist. Somit müsste man schließen, daß der Stoff dieses Kosmos mindestens etwas zu tun hat mit der „Substanz” Gottes. Daß dies nicht der Fall sein kann, hat uns die moderne Physik längst bewiesen, denn kein Stoff ist ewig. Wenn Gott selbst der Stoff des Universums ist, müsste Gott auch vergänglich sein und nicht ewig. Gott erschuf also in der Erschaffung der Welt etwas anderes als sich selbst, außerhalb von sich selbst. Gott erschuf das Universum, ist aber nicht das Universum.

Wenn ich ein Auto baue, erschaffe ich etwas. Doch bin ich kein Auto. Wenn ich ein Radio bastle, oder ein Buch schreibe, bleibe ich persönlich unverändert, ich bin weder Radio noch Buch. Erschaffung setzt also voraus, daß man etwas anderes erschafft, als man selber ist. Es besteht ein stofflicher, wesensmäßiger Unterschied zwischen einem Schöpfer und seiner Schöpfung, ganz gleich, ob der Schöpfer Mensch oder Gott ist. Das ist die Basis von Schöpfung und Erschaffung.

Wenn ein Mann Kinder zeugt (nicht erschafft), pflanzt er sein eigenes Wesen fort. Das Gezeugte besteht aus dem gleichen Wesen und Stoff, die den Vater ausmachen. Zeugung ist also eine Art Erschaffung, doch mit dem Unterschied, daß bei Zeugung der Vater sein eigenes Wesen fortpflanzt. Ich erschaffe ein Radio, doch zeugt man ein Kind. Das Radio ist wesensmäßig anders als ich. Das Kind besitzt das gleiche Wesen wie der Vater.

Als nun Gott Adams Körper erschuf, war Adams Körper aus Stoff gebaut. Adams Körper unterschied sich deshalb von Gott. Adams Körper war also eine Schöpfung Gottes, er war stofflich, und somit anders als Gott.
Als Gott seinen Geist in Adams Körper hineinblies,
wurde Adam selber wesensmäßig Gott ähnlich, er bestand z.T. aus Gottes Geist, aus Gottes Substanz (Geist), weil Gott Geist ist. Adam wurde eine Person wie Gott, denn Gott ist persönlicher Geist. Adam ist persönlicher Geist geworden. Somit wurde er zur gleichen Zeit Schöpfung Gottes (Körper, weil erschaffen) und „Sohn” (Kind) Gottes (Geist, weil gezeugt).
Durch den Sündenfall wich der Geist Gottes von ihm, Adam starb und wurde bloß Schöpfung Gottes, Kind oder Sohn Gottes aber nicht mehr, sondern Kind des Teufels, der ihm seinen Geist der Finsternis einblies (Zeugung). So wurde Adam Sohn des Teufels, blieb aber Schöpfung Gottes… alles zur gleichen Zeit.

In der Wiedergeburt wird dieses Verfahren reversiert. Der wiedergeborene Mensch wird durch Zeugung (Gottes Geist) wieder Sohn oder Kind Gottes genannt und wird der göttlichen Natur wieder teilhaftig. „Da seine göttliche Macht uns alles, was zum Leben dient, geschenkt hat durch die Erkenntnis dessen, der uns vermöge seiner Herrlichkeit berufen hat, damit ihr durch diese göttlicher Natur teilhaft würdet… (2. Petrus 1:3-4). In der Wiedergeburt wird der Mensch neu gezeugt von Gott und der göttlichen Natur teilhaftig, er ist wieder Sohn geworden und nicht nur Kreatur.

Da der Mensch in Adam am Anfang sündig wurde, verlor er die Kindschaft Gottes und wurde ein Kind des Satans. Sein Geist wurde Gott gegenüber tot – tot in Sünden und Übertretungen. Dies ist der natürliche Zustand der ganzen Menschheit. Von Natur aus können wir diesen Zustand nur weitervererben, denn unsere Kinder erben von uns einen Hang zur Sünde und wiederholen in jeder Generation die Tat Adams und Evas. Sie sind Kreaturen Gottes aber nicht Kinder Gottes. Deshalb muß in jedem Menschen eine Neuschöpfung durch den Geist Gottes in der Wiedergeburt (Zeugung) stattfinden, wenn ein Mensch, eine Kreatur Gottes, Kind Gottes werden will. Die Zeugung durch den Geist Gottes geschieht in der Buße und Bekehrung. Die Erschaffung geschieht in Adam und in der Empfängnis. Wenn er aber der göttlichen Natur teilhaftig und Kind Gottes werden will, muß er die Wiedergeburt oder Zeugung des Geistes Gottes erleben

6) Die Jungfrauengeburt des Herrn Jesus

Jetzt sind wir in der Lage die Notwendigkeit der Jungfrauengeburt des Herrn Jesus besser zu verstehen. Ein Kind entsteht, indem 23 Chromosomen im genetischen Code der Mutter sich mit den 23 Chromosomen des Vaters
paaren. So zeugen Vater und Mutter ein Menschenkind, das 46 Chromosomen besitzt. Das Problem ist: wie konnte Maria, die Mutter Jesu, ihrem Baby die 46 Chromosomen geben, ohne die 23 Chromosomen Josephs zu beanspruchen, die ihn zum Vater des Kindes machen würden?  . . .

Es heißt ganz klar, daß, obwohl Joseph nicht sein Vater war, Gott den Herrn Jesus durch den Heiligen Geist in Maria zeugte. Gott war sein Vater – genetisch gesehen. Der Heilige Geist kam über Maria und zeugte das Kind in ihr. Der Herr Jesus selber stand auch zu dieser Erklärung seiner Geburt. Dies bringt mit sich, daß der Leib des Herrn Jesus sicher eine Schöpfung Gottes durch Maria war. Der Herr Jesus wurde ausdrücklich gezeugt von Gott – heute habe ich dich gezeugt, ist die diesbezügliche Aussage der Bibel (Joh. 1:14,14, Joh. 3:16,18. Heb. 11:17, 1, Joh. 45, Hebr. 1:6). So war der Herr Jesus der göttlichen Substanz und Natur teilhaftig, die ganze Gottheit wohnte leibhaftig in ihm (Kol. 1:19).

Durch Maria war sein Leib eine Schöpfung Gottes, die menschlich geboren werden mußte. Durch die Zeugung durch Gottes Geist in Maria war und blieb der Herr Jesus die zweite Person der Trinität Gottes, der Sohn Gottes. Hier haben wir die ganze Verbindung zwischen Zeit und Schöpfung mit Ewigkeit und Zeugung durch den ewigen Geist Gottes. Wahrhaftig ein großes Mysterium!

Und dieses Geheimnis der Gottseligkeit in Jesus wird immer so bleiben, denn der Herr Jesus hat den Leib, den er durch Maria bekam, nie abgetan. Sein Fleisch sah die Verwesung nicht, denn keine Sünde wohnte je in ihm. So wurde sein Leib in der Auferstehung von Transzendenz überkleidet und Jesus bleibt der Gott-Mensch im Himmel, gestern, heute und in aller Ewigkeit der gleiche.

Da Gott Jesu Vater war, da Gott ihn „heute gezeugt hat”, nehme ich an, daß Gottes Geist einen übertragenen Vaterdienst bei seiner Zeugung ausführte. In der ganzen Biologie musste Gott die Ordnung der Chromosomen liefern, damit lebende Organismen den vollen Satz von Chromosomenordnung erhalten.
Nun, Ordnung entsteht immer durch einen Geist. In der Schöpfung arbeitete Gottes Geist und erschuf Gottes Ordnung in Gottes Materie. Hier ist heiliger Boden, auf dem wir ehrfurchtsvoll treten müssen: Gottes Geist schrieb Jesu Schöpfungsgedanken im genetischen Code des Lebens, so daß Pflanzen, Tiere und Menschen entstanden.

Am Anfang erschuf Gott den Menschen, indem sein Geist die Materie so zu Chromosomen ordnete, daß sein Leib entstand. Dann wirkte Gottes Geist und blies Adams Leib den Odem in die Nase, so daß eine lebende Seele entstand. Wenn man diesen Vorgang in moderner Sprache fassen würde, müsste man sagen, daß Gott die Aminosäuren, Nukleinsäuren, Nukleotide, Ribose- und Phosphatmoleküle zu einer doppelten Helix ordnete. So entstand die grundlegende Ordnung des Leibes Adams, so entstand die Schöpfung Gottes, die wir Mensch nennen.

Dann kam aber der Geist Gottes wieder und blies ihm den Geist an; so wurde Adam gezeugt zum Sohn des lebendigen Gottes, der Geist ist. Diese Zeugung wurde aber durch den Sündenfall rückgängig gemacht, und Adam starb „geistlich” an dem Tag nach dem Wort Gottes. Diese Zeugung muß jetzt in jedem individuellen Sohn Adams neu nachgeholt werden, indem Adams Söhne durch die Zeugung seines Geistes Gottes Söhne werden.  . . .

7) Enthaltsamkeit und Sublimierung

Es wird oft behauptet, daß Sex für einen Mann genau so notwendig sei wie das Essen und Trinken. Sex sei ein normaler körperlicher Appetit, dem irgendwie entsprochen werden müsse, sonst werde man krank. Wenn man Sex, auch vor der Eheschließung, nicht praktiziere, werde man „komisch” oder gar „unmoralisch”.

Behauptungen dieser Art sind ganz leere Behauptungen, denn sie entsprechen nicht den Tatsachen. Viele junge vitale Männer haben jetzt und in der Vergangenheit freiwillig auf Sex verzichtet. Sie sind nicht unnormal geworden. Oft haben sie sogar körperlich und psychisch davon profitiert. Der Herr Jesus heiratete nicht, er praktizierte kein Geschlecht. Paulus, der Apostel, verzichtete auch. In diesem Verzicht hat der Herr Großes geleistet – er brachte die Kraft zum freiwilligen Tod am Kreuz auf, was eine überaus große charakterliche Festigkeit an den Tag legte.

Der Missbrauch von Sex und Mangel an sexuellem Verzicht kann viel eher Abnormalitäten mit sich bringen. Dies gilt für den jungen Mann und für das junge Mädchen. Die Abnormalitäten durch Sexmissbrauch können rein psychischer Art oder auch körperlich sein. Aber echte Enthaltsamkeit hat, so viel ich weiß, nie etwas Abnormales hervorgebracht. Alte Erkenntnisse auf diesem Gebiet sind oft gesünder als manche moderne Theorien. Früher wusste man, daß sexuelle Enthaltsamkeit psychologische Sublimierungen mit sich bringen könnte, die zu einer Veredlung des ganzen Menschen führte. Die besten Dichter und Komponisten waren oft Menschen, die unter dem Einfluss von sexueller Enthaltsamkeit ihre Höchstleistungen zustande brachten.

Die Praxis von Sex kann sicher wie eine Art von „Sicherheitsventil” bei der Jugend funktionieren. Durch Geschlecht lässt man sozusagen „Druck” oder „Dampf“ ab. Der Mensch, der vor Gott und in Treue und Gehorsam zu Ihm bewusst auf Sex verzichtet, speichert mehr „Druck” oder „Dampf“, die er dann für andere Aufgaben verwenden kann. Die Energie, die sonst der Praxis von Geschlecht zugute käme, wird in andere Kanäle geleitet, was man psychologische Sublimierung nennt Der junge Mann sublimiert seine Libido und leitet sie in andere Bahnen. Er komponiert oder dichtet in der Kraft dieser Energie.

Diese sublimierte Kraft sieht man in manchen künstlerischen Werken. Der Heilige Geist kann solche Kräfte heiligen und benutzen. So sind auch schönste Liebeslieder und geistliche Lieder entstanden. Eine Generation, die es nicht versteht, solche Schätze der Libido zu speichern, indem man bewusst verzichtet, wird Werke dieser Art nie zustande bringen. Die gespeicherte, sublimierte Kraft dazu fehlt. So entstehen die Flachheit und die schlechte Produktivität der heutigen Generation, die wenig von Disziplin, Enthaltsamkeit und Selbstverleugnung versteht. Der „Dampf“ einer solchen Generation wird in der Befriedigung aller Wünsche, auch der geschlechtlichen Wünsche, ständig verpufft.

Aus diesem Grund geht jedes Volk rapide zugrunde, das keine Enthaltsamkeit schlechthin kennt, und das sofort gleich alles, auch Sex, genießen muß. Ein Volk, das auf das Genießen schlechthin (also nicht nur von Geschlecht) nicht verzichten kann, wird keine gespeicherte, sublimierte Energie für Höchstleistungen auf Vorrat haben. Deshalb muß man heute immer mehr für immer weniger wirkliche Leistung bezahlen. Durch die Sucht des „Sofortvergnügens” auf allen Gebieten, das allen menschlichen „Dampf“ ablässt, sinkt das „Manometer” des Menschen auf Null – er ist so beschäftigt, sich selbst zu vergnügen, daß er fast nichts anderes fertigbringen kann, als sich selbst zu leben. So entsteht der fertige Egoist von heute. Er hat nur gerade Energie und Dampf genug, um seine eigene „Maschine” laufen zu lassen, sein eigenes Vergnügungsleben zu führen.

Auf der andern Seite kann eine von Gott disziplinierte Ehepraxis ganz neue und auch andere Kräfte in einem Menschen zur Entwicklung bringen. Mancher junge Mann ist von Komplexen aller Arten durch eine gottgegebene Ehe befreit worden. Seine Psyche, auch die seiner Frau, kann in einer glücklichen Ehe zur vollen Entwicklung kommen, was im ledigen Zustand nicht der Fall war. Eine vor Gott geführte Ehe kann im Manne wie in der Frau ganz neue Kräfte freisetzen, die Mann und Frau so gestalten, daß sie buchstäblich innerlich neu werden.

Oft denke ich an das Wort der Sprüche, wenn ich diese Art der Befreiung durch eine gottgewollte Ehe sehe: „An einem wackeren Weibe wer findet es? – hat man weit höheren Wert als an Korallen. Bei ihr steht vertrauend des Gatten Herz, des Gewinnes ermangelt er nicht Denn sie erweist ihm Gutes und nichts Böses die ganze Zeit ihres Lebens . . . ” (Sprüche 31:10-29)

Verzicht auf die Praxis von Geschlecht kann eine große Sublimierung im Menschen hervorrufen, die ihn zu Großleistungen befähigt. Da wirkt Verzicht vor Gott wie ein Katalysator. Aber Ausübung von Geschlecht vor Gott kann auch tiefgreifende Veränderungen in einem Ehepaar hervorrufen. Die Erfahrung des Glückes der totalen, gegenseitigen Auslieferung beider Ehepartner kann ein Vorgeschmack des Paradieses Gottes sein. Denn Gott selber spricht vom Herrn Jesus als vom Bräutigam und den Gläubigen als von der Braut. Das Sinnbild ist nicht willkürlich. Der junge Mann oder das junge Mädchen, die auf das Glück des Geschlechtes verzichten, werden mit einer Sublimierung belohnt, die ein Geheimnis derer ist, die sie ausüben. Und die, die eine gottgewollte und gottdisziplinierte Ehe ausüben, erhalten ein Glück, das an das des Himmlischen Bräutigams mit seiner Braut erinnert. Dieses Glück ist auch ein Geheimnis derer, die in der Ehe in der Gesinnung Jesu zusammenleben. Und die Kinder, die aus einer solchen Ehe hervorgehen, bereiten den Eheleuten ein zusätzliches Glück, das ein Geheimnis der Kinder und der Eltern bleibt

Die Hauptsache bleibt also, daß Menschen die verzichten und Menschen die Sex von Gott annehmen, beide auf ihre verschiedenartige Weise die Wahrheit des Wortes Jesu erfahren: „Suchet vielmehr zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit! DANN werden euch alle diese Dinge hinzugefügt werden” (Kleidung, Schönheit, Ernten, Leben die Fülle) (Matt 6:33).

Epilog

Sex, Liebe und Ehe sind Einrichtungen Gottes, die für unser Zeitraumkontinuum und nicht für andere Dimensionen oder Ewigkeit gedacht sind. Sterben und Vergänglichkeit haben im ewigen Zustand keinen Platz, so dass es dort auch keinen Sex und keine Ehe gibt. Sicher gibt es dort etwas besseres, das durch Sex und Ehe hier in der Zeit vorgespiegelt wird. Wo es aber keinen Tod und kein Altern gibt, da kann es keine Reproduktion durch Sex geben. Das Ehe- und Sexverhalten in der Zeit wird durch etwas Vollkommeneres in der Ewigkeit ganz sicher wiedergegeben werden. Dort werden sich ein Mann und seine Frau viel vollkommener gegenseitig geniessen als hier im Fleisch.

Das Sex- und Eheverhältnis in der Zeit wird vom Altern ständig überschattet. Wenn man bei der Trauung vor dem Altar steht, spricht der Pfarrer Worte aus, die uns an diese unwillkommene Tatsache erinnern: – „bis der Tod euch scheide”. Wir merken dann täglich die Erfüllung seiner Worte, das Näherrücken dieses Scheidens beschäftigt uns je mehr, je länger die Schatten des heranrückenden Abends und der Nacht werden. Die Kräfte fangen an nachzulassen. Die Freuden der Jugend verlangen einen immer höher werdenden Preis – man kann sich körperlich weniger leisten als früher. Deshalb empfinden manche Eheleute das Heranrücken des Abends als etwas Unangenehmes, als etwas, das man mit allen Mitteln fernhalten müsste. Man möchte die Runzeln entfernen lassen, die Haare färben, denn sie erinnern uns an den Abend. Man greift zur Schminkdose, um das heranrückende Alter vorläufig wenigstens zuzudecken. Man kleidet sich auffällig jugendlich. Niemand soll merken, daß die Schatten länger werden und die Nacht näher rückt.

Nun, was soll man zu dieser Einstellung sagen? Der Tod ist und bleibt der letzte Feind, der erst durch Tod und Auferstehung rückgängig gemacht wird. Bis zur Auferstehung und zum Wiederkommen des Herrn Jesu wird er unbesiegt bleiben. Unbesiegt ist er grausig und hässlich, er erinnert an Verwesung. Während des Älterwerdens feiert der Tod seine Siege. Menschen lassen die Freude ihres Lebens durch die Furcht des Todes überschatten. Älterwerden ist oft recht schmerzhaft. Selbst das schleichende Gefühl der herannahenden, progressiven Machtlosigkeit des Alters plagt den Menschen, der an Macht gewöhnt ist. Denn Macht macht sehr leicht machtsüchtig.

Auf der anderen Seite müssen wir bedenken, daß, auch wenn die Freuden und die Vitalität der Jugend der Neige entgegengehen, andere Freuden Begleiterscheinungen von wachsender Reife sein können… echte, neue Freuden, die man in der Jugend nicht genießen konnte, weil man über die nötige Reife dazu noch nicht verfügte. Dies setzt natürlich voraus, daß man tatsächlich reifer wird. Dann birgt das Alter mehr Freude in vielen Richtungen: z. B. an der Schönheit von Weisheit. Oder, so lange man den Sinn für schöne Musik während der Jugendzeit kultiviert hat, genießt man sie im Alter ganz anders als in der Jugend. Auch die Schönheit von Menschen und Tieren lernt man mit wachsender Reife besser genießen. Persönlich sagen uns die Tiefen der Bibel und ihre Aussagen über die Person des Heilandes jetzt viel mehr als früher.

Wenn man jung ist, meint man oft, daß das Altern dem Hässlichwerden gleichzusetzen ist. Später entdeckt man im alten Menschen, der ein Leben in der Nachfolge Christi hinter sich hat, eine milde, reife, verborgene Schönheit, die man früher übersah. Die jugendliche Vitalität geht der Neige entgegen, doch entsteht dafür eine Frische des Alters, die die Vitalität der Jugend ersetzt „Die auf den Herrn harren, empfangen neue Kraft, daß ihnen Schwingen wachsen wie Adler, daß sie laufen und nicht ermatten, daß sie wandeln und nicht müde werden” (Jesaja 40:31).

Der Körper und seine Kräfte lassen nach. Das „Zelt” (wie die Bibel den Körper nennt), in dem wir wohnen, wird dünn und baufällig und bekommt allmählich überall Risse, so daß es uns immer weniger vor dem rauhen „Wetter” dieses Lebens zu schützen vermag. Es ist die Aufgabe von uns „Zeltbewohnern”, uns während der Zeit unserer Pilgerschaft in verweslichen Zelten auf das Wohnen in einem ewig währenden Zelt vorzubereiten!
„Denn wir wissen, daß wir, wenn unsere irdische Zeltwohnung abgebrochen sein wird, einen Bau haben, den Gott bereitet hat, ein nicht mit Händen gemachtes ewiges Haus in den Himmeln. Denn deshalb seufzen wir auch, indem wir uns sehnen, mit unserer Behausung aus dem Himmel überkleidet zu werden, … damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde.” (2. Kor. 5:1-5).

Wir werden also eines Tages unseren materiellen, verweslichen Körper gegen einen neuen Körper vertauschen. Der Zweck der Erschaffung des Menschen liegt gerade in diesem Austausch eines sich zersetzendes Leibes gegen einen permanenten, unverweslichen Körper ohne „Zeit”. Die menschliche, ewige Psyche wohnt jetzt in einem zeitbedingten Leib, der baufällig wird. Aber der Sinn der Erschaffung des Menschen ist und bleibt die Behausung der menschlichen Psyche in einer ewigen Wohnung, die nie baufällig oder alt wird. „Eben zu diesem Zweck hat uns Gott gemacht” (2. Kor. 5:5).

Der Beweis dafür, daß dies Zweck und Ziel der Menschenschöpfung ist, liegt in der großen Tatsache, daß Gott uns als Angeld für die Wahrheit dieser Aussage seinen uns innewohnenden Geist gab. Heute ist das Christentum derart heruntergekommen, daß Christen mit Schärfe darüber argumentieren, ob der Geist mit der Wiedergeburt oder nachher als spezielle Gabe gegeben wird! Als ob ein Mensch nicht wüsste, wann der Heilige Geist persönlich in ihm Wohnung nahm! Wenn er vom Zeitpunkt dieses großen Ereignisses nichts Bestimmtes weiß, müsste man sich fragen, ob es überhaupt geschehen ist! Die Juden in der Wüste wussten sofort, wann Gottes Geist persönlich auf die Arche fiel, um bei ihnen mitten im Lager zu wohnen. Sie wussten auch, daß die Sünde ihn vertrieb – obwohl sie auch nach seinem Rückzug noch sein Volk blieben und auch hießen.

Diese Überlegungen geben uns einen Schlüssel zum Problem des Alterns. Unser verderbliches Zelt, unser Körper, wird durch ein besseres, bleibendes Zelt ersetzt. Dieser Tausch stellt den Sinn der Menschenschöpfung dar. Der Genuß des Wohnens in einem vorübergehenden verweslichen Körper wird durch den Genuß des Wohnens in einem besseren, herrlichen und ewigen Körper ersetzt. Gerade um diesen Wechsel zu erleben, hat Gott den Menschen erschaffen – daß wir ein besseres, ewiges Zelt nach dem Verschwinden des zeitlichen bekommen. Der Genuß des einen alten Zeltes bereitet uns aber auf den Genuß des zweiten neuen vor. Das Ablegen des ersten ist schwer, wenn wir vergessen, daß dieses Ablegen des alten Vorbedingung für die Annahme eines neuen ist Wenn wir unsere Blicke nur auf das Schwinden des ersten richten, wird das Schwinden schwer. Wenn wir aber die Symptome des Schwindens als Diagnose für das Herannahen des neuen interpretieren, dann dürfen wir uns über diese Symptome der Hinfälligkeit des alten Zeltes sogar freuen. Der Apostel Paulus schreibt genau das: wir wollen nicht, sagt er, entkleidet werden (sterben, den alten Leib ablegen), sondern wir wollen alle vom neuen Leib überkleidet und so verherrlicht werden. (2. Kor. 5). Gerade darin liegt das Ziel und der Zweck der Erschaffung des Menschen. Der uns innewohnende Geist ist Gottes Angeld für die Wahrheit dieser Aussage.

Im Lichte obiger Tatsachen können wir jetzt zwei Aspekte des Altwerdens berücksichtigen:

1) Der Christ wird wie alle anderen älter, doch darf er die Symptome des Alterns nicht als bloße Symptome des Zerfalls des Körpers betrachten, sondern als Symptome des bevorstehenden herrlichen „Zeltwechsels”. Durch diesen Tausch wird er seinem Herrn Jesus ähnlich.

2) Aber selbst diese Symptome des Altwerdens treten beim Christen oft langsamer auf als bei Nichtchristen. Denn der reifende Christ darf kraft seines Vertrauens zu seinem Herrn und kraft der Freude, die Gott denen gibt die vor ihm leben, eine immer wiederkehrende Frische erleben. Christen, die sich bewusst auf den Zeltwechsel vorbereiten, kriegen tatsächlich oft auch im Alter neue Energie und neue Freude. Denn die Kraft Gottes, die den Herrn Jesus von den Toten auferweckte, wirkt jetzt in den reifenden Kindern Gottes und wird auch sie von den Toten auferwecken: „Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt” (Röm. 8:11). – „Daher werden wir nicht mutlos, sondern, ob auch unser äußerer Mensch zerstört wird, so wird doch unser innerer von Tag zu Tag erneuert” (2. Kor. 4:16).

Die Botschaft von 2. Kor. 4:16 ist also, nicht mutlos werden, wenn der äußere Mensch Symptome des Altwerdens aufweist, denn der gleiche Geist Gottes, wohnt jetzt schon in dem reifenden Christen. Man müsste also erwarten, daß der Mensch, der diesen Geist bei Lebzeiten in sich hat, auffahren wird wie ein Adler, laufen wird und nicht müde wird. Der gleiche Geist wohnte auch in Mose, der mit 120 Jahren vital war. Seine Augen waren nicht dunkel und seine natürlichen Kräfte hatten nicht nachgelassen (5. Mose 34,7).

Wir kennen alte, reifende Gläubige, die bis zum Ende ihres Lebens rüstig, froh und vital bleiben. Junge Menschen sind froh, wenn sie mit solchen Alten zusammensein dürfen. Jung und alt sind in diesem Fall alle beide recht jugendlich. Dieses Jungsein bedeutet nicht notwendigerweise, daß man rein physische, jugendliche Kräfte, Geschlechtskräfte wiederbekommt. Es bedeutet, daß eine Altersfrische blüht. Trotz der Schwäche des Körpers funkeln die Augen, der Geist ist rege und die Lebenslust bleibt, auch wenn man jederzeit bereit ist abzuscheiden, um beim Herrn zu sein.
In dieser Kraft freut sich der alte Ehegatte über die Auserwählte seiner Jugend, die ihm treu alle Tage seines Lebens beigestanden hat. Sie freut sich ebenso ihres Mannes und liebt ihn noch viel inniger als am Tage ihrer Vermählung mit ihm. Die beiden kennen sich durch und durch, haben immer wieder trotz Schwierigkeiten Ja zueinander gesagt, haben die Fortschritte der Gnade Christi in ihrer Ehe gesehen und verfolgt. Sie wissen aus persönlicher Erfahrung, daß Gott auch die hoffnungslosesten Fälle vervollkommnet – denn ihr ganzes Leben hindurch haben sie gerade dieses Verfahren der Vervollkommnung (meist durch Leid, aber auch durch Freude) in ihrer eigenen Ehe und bei ihren Kindern beobachtet. Obwohl sie keine leiblichen Kinder mehr zeugen können, bringen sie doch noch junge Menschen durch die Wiedergeburt „zur Welt” – in ihrem Haus und in ihrer Gemeinschaft finden Menschen das neue Leben im Herrn Jesus Christus. So sind sie fruchtbar bis ins hohe Alter.

Diese Frische im Alter ist eine Begleiterscheinung der geistlichen Reife. Selbst in Krankheit und in großer körperlicher Schwäche blüht sie. Sie ist eine Frucht des Geistes. Man kann sie nicht züchten, sie wächst von selbst an Bäumen, die Gott gepflanzt hat.

Trotz dieser Tatsache fürchten besonders unsere lieben Frauen das Hässlichwerden des Alterns. Eine Frau bleibt eben eine Frau trotz aller Geistlichkeit und Reife. Es liegt im tiefsten Grund der Seele einer Frau, alles schön machen zu wollen – und auch möglichst schön zu sein. Diese Empfindung ist geradezu ein Bestandteil ihres Wesens, das Männer selten ganz verstehen. So bleibt der gesunde Sinn für Schönheit bei einer Frau sicher eine gottgegebene Eigenschaft – so lange er sich nicht zur Eitelkeit ausartet.

Die Frau fürchtet also den Verlust ihrer jugendlichen Schönheit durch zunehmendes Alter. Sicher ist es, daß sie mit 70 Jahren nicht wie 17 aussehen wird. Wenn sie mit 70 Jahren wie 17 aussehen will, wirkt sie lächerlich. Was man dabei vergißt, ist die Tatsache, daß eine Frau von 70 Jahren, die eine innere Reife erworben hat, eine echte eigene Schönheit bekommt, die die von 17 Jahren übertreffen kann. Die beiden Arten von Schönheit sind natürlich grundverschieden. Aber genau wie es unter Männern Kenner von jugendlicher Schönheit unter Frauen gibt, so gibt es auch Kenner für die Frische der reifen Schönheit. . . .

Die Bibel erzieht uns dazu, alle Arten von Schönheit zu schätzen. Offenbar genoß der Herr Jesus die Schönheit der Kleinkinder, denn er nahm sie gern auf den Schoß und herzte sie (Mark. 10:16). Wenn nun der Meister sie schön findet, sollen wir versuchen, seine Gesinnung auf diesem Gebiet mit ihm zu teilen. Der Herr liebte den reichen Jüngling, als er ihn sah: „Da blickte ihn Jesus an, gewann ihn lieb…” (Mark. 10:21). Gott hat seine Freude an den Menschenkindern. Auch zur Zeit ihres Alters trägt er sie, weil er sie liebt: „Der Jünglinge Zier ist ihre Kraft und der Schmuck der Greise das graue Haar” (Sprüche 20:29).

Der Herr betrachtet also seine Kinder, ganz gleich wie alt sie sind, als seine Zier. Er will sie alle mit Heiligung schmücken und zieren, denn er liebt die Werke seiner Hände… und die Kinder seiner Zeugung. Er findet die verschiedenen Stadien ihrer Schönheit, die Schönheit des Babys, die des Kindes, die des Jünglings und des jungen Mädchens, die der Erwachsenen, der Mütter und der Väter, die des Alternden und nicht zuletzt die der Sterbenden: „Teuer in den Augen des Herrn ist der Tod (oder das Leben) seiner Frommen” (Psalm 116:15). . . .

Wenn zwei Menschen in der Ehe zu lernen versuchen, wie man alt wird, werden sie die verschiedenen Stadien des Altwerdens so lieben und schätzen lernen, wie Gott es selber tut. Er findet die Frommen aller Alterstufen so schön, daß er sie seine Zier nennt. Die Augen auf Ihn gerichtet, wird man hier auf Erden etappenweise in sein eigenes, schönes Bild der Herrlichkeit umgewandelt, von einer Herrlichkeit zur anderen. Diese Herrlichkeit ist innerer Art, die aber äußerlich körperlich reflektiert wird: „Wir aber alle schauen mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn und werden dadurch (durch dieses Schauen des Herrn Jesus im Wort der Bibel) in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit wie von dem Herrn aus, welcher Geist ist” (2. Kor. 3:18).

 

Weitere Beiträge von Dr. Wilder-Smith auf dieser Seite:

Herkunft und Zukunft des Menschen

Die Demission des wissenschaftlichen Materialismus

Aids – Verschwiegene Fakten

Die Ursache der Drogenepidemie

Freimaurerei und Christentum

Warum lässt Gott es zu?

 

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info@horst-koch.de

 

A. E. Wilder-Smith (1915 -1995) studierte die Naturwissenschaften an der Universität Oxford und erhielt 1941 seinen Doktor in Organischer Chemie von der Universität Reading. 1945 – 49 betrieb er Krebsforschung als Countess of Lisburne Memorial Fellow am Middlesex Hospital, Medizin. Institut der Universität London. Er war Forschungsleiter der Pharmazeutischen Abteilung einer Schweizer Firma von 1951- 55 und las Chemotherapie und Pharmakologie an der Universität Genf 1955 – 64. Von der Universität Genf erhielt er 1964 einen Doktor der Naturwissenschaften. Im gleichen Jahr wurde ihm in Zürich von der E. T. H. sein dritter Doktortitel verliehen.

Prof. Dr. Wilder-Smith war Gastprofessor der Pharmakologie an der Universität von Illinois, am Medical Center, Chicago, von 1957- 58 und 1964 – 69, und lehrte 1960 – 62 als Gastprofessor der Pharmakologie am Medizinischen Institut der Universität Bergen in Norwegen. Von 1969 -71 arbeitete er als Professor der Pharmakologie in Ankara in der Türkei. Von 1970  -77 war er Drogenberater bei den U.S. NATO-Streitkräften in Europa.

In den letzten 20 Jahren seines Lebens unternahm er Vortragsreisen in der ganzen Welt und sprach in mehr als 1000 öffentlichen Auditorien und Gemeinden und hielt 370 Vorlesungen und Debatten an Universitäten.




Antwort auf Moskaus Bibel (Wurmbrand)

RICHARD WURMBRAND

ANTWORT AUF MOSKAUS BIBEL

Inhalt

Das Handbuch des Atheisten
Wer sind unsere Gegner?
Die Schwierigkeit, ein Atheist zu sein 
Der Ursprung des Christentums
Das Zeugnis der Evangelien
Lehrt das Christentum Unterwürfigkeit gegenüber tyrannischen Obrigkeiten?
Ein himmlisches oder ein irdisches Paradies
Wer ist Gott?
Schauen Sie auf Jesus von Nazareth
Die Schöpfung
Prophetie
Das Leben nach dem Tod
Versöhnung  

– Der vorliegende Text sind Auszüge aus dem Buch ANTWORT AUF MOSKAUS BIBEL (1975). Da der aggressive Atheismus mit dem nominellen Zusammenbruch von kommunistischen Staaten keineswegs erloschen ist, halte ich Richard Wurmbrands Gedanken nach wie vor für zeitgemäß und hilfreich. – Die Hervorhebungen sind von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im November 2012 –

VORWORT

Das Handbuch des Atheisten

Wo immer Menschen schreiben können, verfügen sie über ein heiliges Buch. Auch die kommunistische Welt besitzt ihre Bibel, genannt »Das Handbuch des Atheisten« (Sprawotschnik ateista). Es wurde erstmals 1961 von der Akademie der Wissenschaften in Moskau (Staatsverlag für politische Wissenschaften) als Gemeinschaftswerk zahlreicher Experten, unter ihnen die Historiker Beljajew und Belinowa sowie die Philosophen Tschanischew, Eischina und Emeliah, herausgegeben. Verleger ist der Universitätsprofessor S. Kowalew. Seit seiner Herausgabe ist es mehrmals neu aufgelegt worden.

Dieses Buch – eine Zusammenfassung atheistischer Grundsätze – ist bereits in viele Sprachen übersetzt und in anderen sozialistischen Staaten weit verbreitet worden. Von der Grundschule bis zur Hochschule, in Rundfunk und Fernsehen, in Filmen und auf atheistischen Tagungen werden die Gedanken dieses Buches propagiert. Stirbt ein Atheist, wird den trauernden Hinterbliebenen in der Grabrede im Einklang mit der Lehre der kommunistischen Bibel versichert, daß die Toten für immer tot seien, daß es keinen Trost für die Trauernden gäbe, daß die nun Getrennten nie wieder vereint sein würden und daß es keinen Gott und kein ewiges Leben gäbe.

Das Hauptziel des Buches besteht darin, zu beweisen, daß es angeblich keinen Gott gibt.

Wir könnten auf diese Behauptung mit einer Frage antworten: Wenn es keinen Gott gibt, wie läßt es sich dann erklären, daß es überhaupt noch Schafe gibt?

Diese Frage wurde tatsächlich auf einer atheistischen Kundgebung in Rußland gestellt. Der Redner hatte erklärt, Leben trete spontan auf und entwickle sich durch natürliche Auslese. Im grausamen Überlebenskampf siegten nur die Tiere, die schneller oder stärker seien als andere, während die schwächeren unterliegen würden.

Ein Gläubiger fragte: »Wie kommt es, daß die Schafe überlebten, daß sie von den Wölfen nicht völlig ausgerottet wurden? Die Wölfin wirft im Jahr fünf oder sechs Junge, das Schaf nur eines. Das Verhältnis steht also etwa 5:1 für den Vernichter, der über scharfe Zähne, Klauen, Kraft und Schnelligkeit verfügt. Das Schaf kann sich nicht verteidigen. Wie kommt es, daß es noch immer Schafe gibt? Heute werden sie vom Menschen beschützt. Die Tierwelt existierte jedoch vor dem Menschen. Wer beschützte damals die Schafe? Man kann vieles erklären, ohne zu der Hypothese der Gottesexistenz zu greifen. Aber Schafe mit vier Beinen könnten ohne ihn ebensowenig existieren wie die geliebten Schafe Christi, die seit Bestehen der Kirche ihren grausamen Verfolgern schutzlos ausgeliefert sind.«

Die Antwort, die dieser Gläubige erhielt, war ein paar Jahre Haft in sowjetischen Gefängnissen.

Das atheistische Buch könnte auch zum Thema Christus eine sehr einfache Antwort erhalten.

Auf einer Gesellschaft sowjetischer Intellektueller wurde über Shakespeare diskutiert. Jemand zitierte Lady Macbeth, nachdem sie den schlafenden König Duncan ermordet hatte. Mit einem Blick auf ihre blutbefleckten Hände ruft sie: »Fort, verdammter Fleck! Fort, sag ich!«

Ein Christ stellte die Frage: »Welche Möglichkeiten hat eine Lady Macbeth, von der Last ihrer Schuld befreit zu werden?« Ein Kommunist antwortete: »Der Mensch ist ein vernünftiges Wesen. Eine entsprechende Erziehung und ein guter Rat hätten sie, selbst in letzter Minute, von ihrer abscheulichen Tat abgehalten.« Diese Antwort war keine Hilfe. Lady Macbeth hatte den Mord begangen, und über die Erziehung zu philosophieren, die sie hätte haben sollen, war müßig.
Ein anderer Kommunist sagte: »Meiner Meinung nach sollten Mörder mit dem Tode bestraft werden.« Auch dieser Vorschlag war unbrauchbar, da ein zum Tode verurteilter Mensch dennoch mit dem Bewußtsein der Schuld stirbt. Ein dritter Kommunist versicherte den Anwesenden, in der zukünftigen glücklichen sozialistischen Gesellschaft gäbe es keine Könige mehr, müßten keine egoistischen Wünsche erfüllt werden, und es bestünde keine Notwendigkeit oder Bedürfnis, Verbrechen zu begehen. Doch die kommunistische Gesellschaft gibt es nirgends.

Der Gläubige bemerkte daraufhin: »Die Lösung der Bibel bleibt die einzig gültige: Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde« (1. Johannes 1,7).

Wir können aber bei einfachen Antworten nicht stehenbleiben. Mitglieder einer Akademie der Wissenschaften haben über sechshundert Seiten geschrieben, um zu beweisen, daß Religion im allgemeinen und Christentum im besonderen falsch seien. Wir wollen versuchen, sie zu verstehen und auf alle Punkte einzugehen, die sie zur Sprache bringen. Es ist ein Gebot der Höflichkeit und der Liebe, diese Herausforderung anzunehmen.

Die Bibel des Atheisten ist langweilig. Das kann in der Tat auch nicht anders sein. Niemand kann für den Atheismus beredt sein. Atheismus ist ein Leugnen. Wer kann schon begeistert über eine Verneinung schreiben? Wer kann ein Sonett für eine Verneinung dichten, ein Konzert für eine Verneinung geben oder eine Verneinung modellieren? Die Religion hat zu Symphonien, Gemälden, Statuen und Poesie inspiriert. Der Atheismus könnte von Natur aus niemals solche Wirkungen erzielen. Der Atheismus hat keine Flügel. Seiner eigenen Lehre zufolge ist der Mensch nur Staub und Schatten — reine Materie. Welchen Antrieb hat die Materie zur Zerstörung der Religion? Kann Materie im Kampf um ein Ideal Leidenschaft entfachen, wenn Ideale, die nicht Materie sind, definitionsgemäß nichts sind?

Moskaus Bibel benutzt auch irreführende Methoden und eine gewalttätige Sprache, die einer Akademie der Wissenschaften nicht gut anstehen.

Wir wollen die Langeweile pseudowissenschaftlicher Argumente so gut wie möglich vermeiden. Wir werden selbst angesichts von Ironie und Verleumdung mit der Sanftmut der Liebe antworten.

Wir können uns diese Haltung leisten, da ein guter Amboß die Schläge vieler Hämmer nicht fürchtet. In Paris steht ein Denkmal, das den Hugenotten gewidmet ist. Es zeigt einen Amboß und etliche zerbrochene Hämmer und trägt die Inschrift: »Hämmer weg, ihr feindlichen Scharen! Eure Hämmer zerbrechen; Gottes Amboß bleibt bestehen!«

Wir können diese Haltung einnehmen, weil wir unsere Gedanken ernsthaft prüfen und es als einen Vorteil betrachten, kritisiert zu werden. Es schadet dem Atheismus in kommunistischen Ländern, daß er den Menschen eine Diktatur aufzwingt. Wie kann einer, der keine Kritik verträgt, wissen, daß er recht hat?

In allen christlichen Ländern des Westens genießt der Atheismus volle Propagandafreiheit. Das Christentum hat nicht den geringsten Grund, ihn zu fürchten. In der freien Diskussion kann nur das Christentum gewinnen. Stellen wir uns zwei Räume vor, die durch einen dicken Vorhang voneinander abgetrennt sind. In dem einen herrscht Dunkelheit, der andere wird von einer Kerze erhellt. Wird der Vorhang zurückgezogen, behauptet sich nicht die Dunkelheit. Die Dunkelheit kann das Licht der Kerze nicht überwinden, da sie keine Energie ist. Sie ist das Fehlen von Licht. Nur das Licht, das Energie ist, kann die Oberhand gewinnen. Das Zimmer, das dunkel war, wird somit sichtbar, verwandelt durch die brennende Kerze.

Christen haben weder kommunistische Gefängnisse noch Folterwerkzeuge gefürchtet. Auch fürchten wir uns nicht vor atheistischen Büchern. – Richard Wurmbrand, 1975

Das Vernünftige am Atheismus

Atheisten sollten vor allem wissen, daß wir Christen nicht ihre Feinde, sondern ihre besten Freunde sind. Wir lieben die Atheisten. – Und Liebe versteht.  –  Wir sind nicht erstaunt, daß es Atheisten gibt.

Im 20. Jahrhundert, in dem Millionen unschuldiger Menschen in Konzentrationslagern verschiedener politischer Regime ermordet worden sind, von denen sich einige christlich nannten, fällt es schwer, an einen Gott zu glauben, der sowohl allmächtig als auch gut ist. Wenn er allmächtig ist, warum verhinderte er diese Gewalttaten nicht? Wenn er gut ist, warum hat er dann eine so grausame Welt geschaffen?

Wir können niemandem einen Vorwurf machen, Atheist zu sein, wenn sogar hohe Prälaten der christlichen Kirche oft auf der Seite der Unterdrücker und Ausbeuter stehen, wenn sie Tyrannen schmeicheln oder Seite an Seite mit Rebellen kämpfen, auch solchen Rebellen, die davon träumen, die Tyrannen von morgen zu sein.

Als Jesus machtlos am Kreuz hing und rief: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Matth. 27, 46), muß es schwierig gewesen sein, jemanden zu überzeugen, der Gekreuzigte sei die Hoffnung der Menschheit, oder der Eine, den es nach Wasser dürstete und der nur Essig erhielt, besitze alle Macht im Himmel und auf Erden. Erst die Auferstehung machte die Verkündigung der Wahrheit möglich.

In unseren Tagen brachten sich diejenigen, die sich nach dem Sohn Gottes nennen, in zwei Weltkriegen gegenseitig um. Ein auf den Namen Christi getaufter Mann gab den Befehl zum Abwurf der ersten Atombombe.

Auch wenn die verlorenen Söhne in ihr Vaterhaus zurückkehren wollten, könnten sie es nicht finden. An seine Stelle sind viele voneinander abweichende Konfessionen getreten, die alle behaupten, die Wahrheit zu besitzen. Sie stimmen in nur einem Punkt überein — die allumfassende Liebe gegenüber Unschuldigen, die noch hinter Gittern sitzen oder in Konzentrationslagern umkommen, nicht zu praktizieren.

Viele Menschen bringen zudem Religion mit Übersinnlichkeit, Rückständigkeit oder seltsamen Dogmen in Verbindung. Der Atheismus ist die Folge dieser sowie vieler anderer Ursachen. Wir können nichts anderes erwarten; es ist nur allzu logisch, daß viele Menschen Atheisten sind.

Gott gab dem Atheismus in der Welt Raum. Die Bibel lehrt, daß Gott eine materielle Welt mit Gesetzen und einer endlosen Kette von Ursachen und Wirkungen schuf. Er schränkte sich selbst ein, um auch anderen ein Existenzrecht einzuräumen. Daher war die Möglichkeit des Atheismus im Schöpfungsplan mit enthalten. Und als entschieden wurde, daß Christus für die Sünden der Menschheit mit seinem Blut sühnen werde, war er bereit, auch für die Sünden von Atheisten zu sühnen.

Wenn Gott den Atheismus zuläßt, wie können wir ihn dann verbieten? Wir haben volles Verständnis für Atheisten. Aber auf der anderen Seite müssen Atheisten auch gelten lassen, was von ihrem Standpunkt aus eine Anomalie ist: Viele, die auf dieser von Gott geschaffenen Welt entsetzlich leiden müssen, lieben ihn von ganzem Herzen. Tradition und Brauchtum können für Kirchgang und Teilnahme an religiösen Riten verantwortlich gemacht werden. Wie aber können sich Atheisten erklären, daß diese brennende Liebe zu Gott sich manchmal gerade bei denen zeigt, die am meisten leiden? Wie können sie das erklären, was Christen »Freude im Herrn« nennen, die von Menschen empfunden wird, die um ihres Glaubens willen geschlagen und gefoltert werden und die vielleicht schwere Ketten an den Füßen tragen?

Die Religion blüht in einigen sehr armen Ländern. Hungrige Menschen versammeln sich sonntags mit verhungernden Kindern und singen zur Ehre Gottes. Warum?

Die Fragen, die Atheisten an Christen stellen, sind vernünftig. Wenn Gott allmächtig ist, weshalb läßt er dann den Tod auf der Welt regieren? Warum, fragt der Atheist, wurde mir mein Liebstes genommen? Warum muß mein Kind leiden oder stirbt mein Freund jung?

Aber wie können Atheisten die Tatsache erklären, daß andere, die einen ähnlichen Verlust erlitten haben oder selbst dem Tod nahe sind, diese Tragödien mit Ruhe annehmen? Für sie bedeutet der Tod, zum Vater zu gehen.

Manche Menschen sehen dem Tod gelassen entgegen, andere mit Freuden, weil sie der Ansicht sind, daß Sterben für sie die Rückkehr in die Welt des Geistes bedeutet.

In Dostojewskis »Schuld und Sühne« unterhält sich Raskolnikow mit der Prostituierten Sonja. Sie nahm diese Tätigkeit auf, weil ihr Vater Alkoholiker war und ihre jüngeren Geschwister hungern mußten. Sie litt entsetzlich unter diesen Bedingungen, die ihr durch bittere Umstände aufgebürdet worden waren. Raskolnikow fragte sie: »Du betest also viel, Sonja?« Sie antwortete flüsternd: »Was wäre ich ohne Gott?« Er forschte tiefer und fragte wieder: »Aber was tut Gott für dich?« Ihre Antwort lautete: »Fragen Sie nicht. Sie sind es nicht wert, das zu wissen … Alles tut er.«

 Raskolnikow fragte auch ihre arme, unglückliche jüngere Schwester Polenka: »Kannst du auch beten?« Ihre Antwort war: »Ei freilich, wir alle können das! Schon lange. Seit ich groß bin, bete ich für mich allein, aber Kolja und Lida beten laut mit Mama; zuerst beten sie das ‘Ave Maria’ und dann noch ein anderes Gebet: ‘Lieber Gott, vergib unserer Schwester Sonja und segne sie’, und dann noch: ‘Lieber Gott, vergib unserem zweiten Papa und segne ihn’; denn unser erster Papa ist schon gestorben, und dieser hier ist der zweite, aber wir beten auch für den anderen.«

Wie können die Sonjas und Polenkas Gott lieben? Könnte ihre Religion lediglich ein Betäubungsmittel, wie Drogen oder Alkohol, sein? Aber Drogen und Alkohol zerstören den menschlichen Verstand. Der Glaube an Gott machte Sonja so stark, daß sie den Mörder Raskolnikow zur Reue bewegen und ihn anleiten konnte, ein neuer Mensch zu werden. Hinter ihrem Glauben mußte also eine gewisse Realität stehen.

Sonja gab Raskolnikow ein Kreuz und las ihm aus dem Neuen Testament vor. Das brachte einen unentdeckten Mörder dazu, sich der Polizei zu stellen, nach Sibirien zu gehen und ein neues Leben zu beginnen. Was wäre geschehen, wenn sie ihm Hammer und Sichel gegeben und ihm eine von Stalins langatmigen Reden oder »Das Kapital« von Marx vorgelesen hätte? Sonja, die in der Tragödie der Prostitution gefangen war, und Raskolnikow, der aus der Tragödie des Verbrechens erwachte, glaubten.

Für viele ist Religion nur eine der vielen Freuden des Lebens, eine Feinheit wie Kunst oder Luxus. Aber es gibt auch Menschen, für die sie alles bedeutet, die nach Gott verlangen, wie der Hirsch nach Wasserquellen. Sie behaupten, Gott zu kennen. Sie sagen, er sei liebevoll und vertrauenswürdig, auch wenn seine Wege geheimnisvoll und das Leben auf ihnen sehr hart seien. Sie verstehen das Phänomen des Atheismus. Aber können Sie, die Sie Atheisten sind, die Gläubigen verstehen?

Im September 1932 kündigte die Moskauer Zeitschrift »Molodaja Gwardija« (Die junge Garde) an, bis 1937 müßten in Übereinstimmung mit dem atheistischen Fünfjahresplan jedes Zeichen der Religion endgültig beseitigt und das Wort Gottes für immer zum Schweigen gebracht werden. Aber es kam nicht dazu. Im Gegenteil, das Christentum blüht in vielen kommunistischen Ländern, obwohl es schon lange verboten und durch Verfolgung bedroht ist. Weshalb? – Der Atheismus wird erst vernünftig, wenn er den Grund für tiefen Glauben entdeckt.

Das Unvernünftige am Atheismus

Die Gesellschaft ändert sich sehr rasch. Religiöse Systeme haben mit den Umwandlungen nicht Schritt gehalten. Oft predigen Geistliche über Gespräche, die Jesus mit Menschen vor zweitausend Jahren über damalige Probleme führte, anstatt im Geiste Christi Antworten auf die Probleme der heutigen Menschheit zu geben. Deshalb kommen viele zu dem Schluß, Religion sei belanglos.

Viele Riten sind veraltet. Darüber hinaus äußern Kirchen den Wunsch, die Menschen vor einer zukünftigen Hölle zu bewahren. Dann sollten sie aber ihre Liebe zu den Menschen beweisen, indem sie helfen, die Welt vor der heutigen Hölle des Analphabetentums, des Hungers und Elends, der Tyrannei, Ausbeutung, Umweltverschmutzung und des Krieges zu bewahren.

Christen lassen all diese Kritik der Atheisten gelten. »Die Liebe glaubt alles« (1. Kor. 13, 7). Wir können an die Gründe, Atheist zu sein, glauben. Wir sagen mit Hegel: »Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Sogar die Ansicht eines Atheisten kann gute Gründe haben. Aber die Atheisten sind im Nachteil, wenn sie die Kritik von Gläubigen ablehnen.

Große Mystiker, wie Meister Eckehart, haben gelehrt, daß der Mensch, der mit Gott vereint ist, keinen Gott mehr hat, den er anbeten kann. Von dieser Warte aus kann er jene verstehen, die Gott nicht anbeten, weil sie ihn nicht kennen. Das christliche Denken spiegelt die gesamte Wirklichkeit wider, das atheistische nur einen Teil davon.

Atheisten vertreten eine materialistische Philosophie, die Christen teilen. Die wichtigste Lehre unserer Religion ist, daß Gott in Jesus Christus Fleisch (d. h. Materie) geworden ist. Der christliche Gott ist keine Idee, sondern eine Person. Das Ziel des Christentums ist nicht nur die Rettung von Seelen, sondern auch die Auferstehung des Leibes in Unverweslichkeit.
Aber wir bleiben nicht beim Materialismus stehen. Materialistische Atheisten sind einseitig: Sie wissen nichts über die Gottheit und den ewigen Geist der Liebe und Wahrheit, der diese Welt regiert.

Hat man je eine Münze mit nur einer Seite gesehen? Oder Elektrizität mit nur einem Pol? Das Christentum umfaßt sowohl den Bereich des Geistes als auch den der Materie. Da der Atheismus einseitig ist, ist er falsch.

Ein Narr wurde geschickt, um Mehl und Salz zu kaufen. Er nahm ein Gefäß mit, in dem er seine Einkäufe tragen wollte. Man sagte ihm, er solle die beiden Zutaten nicht mischen, sondern sie getrennt halten. Nachdem der Verkäufer das Gefäß mit Mehl gefüllt hatte, dachte der Narr an die Anweisung, drehte das Gefäß um und bat, das Salz auf den umgedrehten Boden des Gefäßes zu schütten. Damit war zwar das Mehl verlorengegangen, er hatte aber das Salz. Er brachte es seinem Herrn, der fragte: »Wo ist aber das Mehl?« Da drehte der Narr das Gefäß um, um nach dem Mehl zu sehen. Auf diese Weise verlor er auch das Salz.

Atheisten handeln manchmal wie dieser Mann. Sie üben sehr ernste und nützliche Kritik an der Religion. Sie haben das Salz. Aber verlieren sie dabei nicht das Mehl? Werfen sie nicht Argumente für die Religion weg, die auch richtig sein mögen? Und werden sie schließlich im Augenblick der tiefen Krise nicht auch das Salz des Atheismus verschütten müssen? Es ist der Stolz des wahren Christentums, das Mehl und das Salz zu haben. Seine Philosophie ist das, was Solowjew »Theomaterialismus« nannte, der Materie und Theos (griech. Gott), deren Schöpfer, umfaßt. In der Tat ist sich das Christentum der Wahrheit, die es besitzt, sicher.  . . .

Atheisten betrachten die materielle Seite der Dinge und glauben, die ganze Wirklichkeit zu erfassen. Die Buddhisten glauben, der Geist sei die einzige Wirklichkeit, und die materielle Welt gehöre der Maja, dem Bereich der Illusion, an. Die Bibel gebraucht jedoch sowohl im Hebräischen als auch im Griechischen ein und dasselbe Wort für »Geist« und »Wind«. Er weht ständig, aus vielen Richtungen. Menschen, die den Geist Gottes haben, sehen die ganze Wirklichkeit. Sie können sich weder auf die materialistische noch auf die idealistische Philosophie beschränken.

Tatsächlich warnt uns die Bibel, in philosophischen Dingen vorsichtig zu sein, da die meisten Philosophen ihre eigene Ansicht haben, von der aus sie die Wirklichkeit betrachten. Aber jeder Standpunkt ist ein Zeichen von Blindheit: Er verwehrt uns den Zugang zu jedem anderen Standpunkt. Von einem bestimmten Standort aus hat der Raum, in dem ich schreibe, keine Tür. Ich drehe mich um. Nun sehe ich die Tür, aber das Zimmer hat keine Fenster. Ich schaue auf. Von diesem Standort aus hat das Zimmer keinen Fußboden. Ich senke den Blick, und es hat keine Decke. Wenn wir ungewöhnliche Standpunkte vermeiden, sind wir fähig, einen Eindruck vom Ganzen zu gewinnen.  . . .

Darwin, der große Favorit meiner Gegner, schrieb: »Die Unmöglichkeit der Vorstellung, dieses großartige und wundersame Universum mitsamt unserem bewußten Ich sei durch Zufall entstanden, scheint mir das Hauptargument für die Existenz Gottes zu sein.«

Für Atheisten ist der Atheismus einleuchtend. Warum ist es dann notwendig, das Offensichtliche zu propagieren? Christen betrachten das Christentum nicht als so selbstverständlich wie die Tatsache, daß zwei und zwei vier ist. Wenn dem so wäre, gäbe es keine Atheisten. Wir finden einige Ansichten unserer Gegner vernünftig. Sie haben in unserem Verständnis für sie Platz. Der Atheismus kennt nur den Atheismus und spricht der Religion jegliches Existenzrecht ab. Deshalb ist er nicht vernünftig.

Max Stirner, der Theoretiker des individualistischen Anarchismus, sah die Mißstände der Gesellschaft richtig. Seine Lösung war, die menschliche Gesellschaft zu vernichten. Aber er war ja ein Teil von ihr. Schopenhauer empfahl der Menschheit den Selbstmord als Antwort auf ihre Probleme. Als aber in seiner Stadt die Cholera ausbrach, floh er. Er liebte das Leben. Zur selben Kategorie gehören diejenigen, die die Religion aufgrund ihrer großen Unzulänglichkeiten im Denken und Handeln loswerden wollen.

Sollten wir keine Mäntel mehr tragen, weil einige keine schöne Farbe haben? Sollten wir das gewaschene Kind mit dem schmutzigen Bade ausschütten? Wir haben das, was am Atheismus vernünftig ist, eingeräumt und wollen nun zusammen mit den Atheisten das Vernünftige an der Religion suchen. Vielleicht werden wir einen gemeinsamen Nenner finden.

Die falsche Perspektive der Moskauer Bibel

Einige Leute haben in Moskau ein Buch über die größten Probleme des Lebens geschrieben, Probleme, über die die klügsten Köpfe nachgedacht haben, seit der Mensch denken kann: die Existenz oder Nichtexistenz Gottes, den Sinn des Lebens, seine Hoffnungen und Sorgen, die Rolle der Religion usw.

Wer sind diese Leute? Es ist viel wichtiger, sie zu kennen als den Inhalt ihres Buches.

Es ist viel wertvoller, den Lehrer zu kennen als seine Lehre. Wissen erwächst immer aus der Frage: »Was bin ich?« Wenn ich die Antwort darauf nicht weiß, wie weiß ich dann, ob die Gedanken dieses »Ichs« es wert sind, an andere weitergegeben zu werden?

Die Autoren der Moskauer Bibel sagen, sie seien nicht von einem Gott erschaffen worden. Es gäbe keinen Plan bei den zufälligen Prozessen der Materie, die sie produziert habe. Kann das Herumwirbeln von Atomen und Protonen und ihre zufällige Verbindung einen Verstand zuwege bringen, der reine Wahrheit hervorbringen wird?   . . .

Wir sind unendlich klein, und wir wissen ebensowenig über das Universum wie eine Ameise über den Marxismus Bescheid weiß, wenn sie über ein Buch von Marx gekrabbelt ist.

Ich freue mich am Gezwitscher der Vögel, ohne zu wissen, welcher von ihnen noch heute von einem Adler erbeutet wird. Ich höre den Wind durchs Geäst streichen, aber ich weiß nicht, welcher Baum von einem Wurm ausgehöhlt wird. Wir sind auf Ruhm, Macht, Geld, Vergnügen und Wissen aus. Diejenigen, die einige Jahrzehnte vor uns dieselben Begierden hatten, sind heute Staub und Asche.

Bucharin war einer der größten Theoretiker des kommunistischen Atheismus. Er begann sein Buch »Der dialektische Materialismus« mit einem Lob auf diese Philosophie, da sie, so sagte er, die Möglichkeit böte, die Zukunft vorauszusehen. Das einzige, was der arme Mann nicht voraussah, war, daß die eigenen Genossen ihn foltern und töten würden.

Es ist ein kühnes Unterfangen, ein Buch zu schreiben, um ein Lehrer der Menschheit zu werden. Kann man wissen, welche Freuden und Tragödien zukünftige Leser erleben werden, und ob dieses Buch im Augenblick großer Heimsuchung eine Hilfe sein wird?

Kennt ein Mensch auch nur eine der Milliarden von Zellen, die sein Gehirn bilden? Eine kleine Störung in ihnen kann einen Menschen verrückte Dinge schreiben lassen. Dies ist schon Genies widerfahren. Kann es bei Ihnen passieren? Sie stellen in den Schriften anderer Wahnsinn fest. Kann es in den Ihrigen keinen geben? Sie wissen nichts über Ihren Körper. Was wissen Sie über die Tiefen Ihrer Psyche? Ich bin mir täglich eine Überraschung.

Wir leben geheimnisvolle Leben in einer geheimnisvollen Welt, von der wir nur ein paar Randzonen kennen. Wir sind im Kerker unserer Sinne gefangen.  . . .

Atheisten behaupten, es gäbe keinen Gott. Wie können sie sich so sicher sein?

Der Inhalt des vorliegenden Buches wurde in einem Gefängnis in Worte gefaßt. Die Wärter durchsuchten unsere Zellen regelmäßig nach verbotenen Gegenständen, wie Schachfiguren, Messern, Nadeln, Büchern und Papier. Sie fanden sie nicht. Wir warteten, bis sie weggegangen waren. Dann holten wir die Sachen aus ihrem Versteck. Man durchsucht eine Zelle nach einem Gegenstand und findet ihn nicht. Ist es aber richtig, zu behaupten, er sei nicht dort? Wer hat das unendliche Universum so durchsucht, daß er behaupten kann, es gäbe keinen Gott?

Können also Sie, lieber atheistischer Autor, die Dinge, die Sie behaupten, sicher wissen?

Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde die Unveränderlichkeit der Elemente als sicher angesehen. Dies war eine auf der Erfahrung von Jahrtausenden basierende Behauptung, und dennoch war sie falsch. Männer von beachtlichem Intellekt waren sich der Unteilbarkeit des Atoms und der Unmöglichkeit eines Mondfluges sicher. Sie, die sie die überwältigende Erfahrung der Menschheit auf ihrer Seite hatten, irrten sich. Wie viele Möglichkeiten haben Sie, um recht zu haben, lieber atheistischer Freund?

Der christliche Lehrer Tertullian ist wegen seiner Worte »Credo quia absurdum« (Ich glaube, weil es widersinnig ist) oft geschmäht worden. Und heute verwirklicht die Wissenschaft gerade das, was dem Verstand absurd erschien. Wir sind klein und unbedeutend. Wir sind unwissend. »So aber sich jemand dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll«, sagt die Bibel (1. Kor. 8, 2).

Wer sind unsere Gegner?

Wenn mich ein Mann in Zivil auffordert, mich auszuweisen, reagiere ich zuerst mit der Frage, wer er sei. Er muß mir seine Zugehörigkeit zur Polizei beweisen; sonst hat er kein Recht, mich auszufragen.

Die Autoren des »Handbuches des Atheisten« leugnen die Existenz Gottes. Doch existieren sie selbst? Wer sind sie? Können sie ihre eigene Existenz beweisen?

Um kühne Fragen stellen zu können, muß ein atheistischer Autor Milliarden Jahre der Existenz von Galaxien und Astralstaub voraussetzen. Es muß Sterne, Himmelsmechanismen und eine Sonne gegeben haben, die die Bewegung der Erde regulierten, ohne die Leben unmöglich gewesen wäre. Der Atheist kann gerade deswegen kühne Fragen stellen, weil Wasser, Pflanzen, Tiere, Mikroorganismen, Elektrizität und Hitze existieren und weil es gebackenes Brot, vergorenen Wein, kosmische Strahlen, Regen und die überwältigende Tatsache der menschlichen Persönlichkeit gibt. Es muß eine ganze Reihe von Vorfahren, Milch in seiner Mutter Brust und Liebe in ihrem Herzen gegeben haben.

Selbst wenn wir die Annahmen des Atheisten gelten ließen, hat eine unergründliche Wirklichkeit durch die Wechselwirkung von Zeit und Zufall über eine unermeßliche Zeitspanne von Milliarden Jahren hinweg sowohl einen atheistischen Lehrer als auch einen christlichen Heiligen hervorgebracht. Warum? Wer sind sie? Weshalb gibt es sie? Gibt es sie wirklich?

Darüber weiß man soviel wie über die Frage, warum die Erde mitsamt dem ganzen Sonnensystem unentwegt einer bestimmten Konstellation entgegenrast, als ob sie eine Verabredung hätte. Sie werden angezogen. Was aber ist diese universale Anziehungskraft? »Anziehungskraft« ist ein Wort, das wir manchmal anstelle von »Liebenswürdigkeit« gebrauchen. Wer liebt? Wer ist der Geliebte?

Atheisten predigen wie Geistliche. Wie wäre es, wenn wir nicht mehr ihren verwirrenden Stimmen, sondern denen der Blätter, Bäche, Winde, Stürme, Vögel und kleinen Kinder zuhören würden? Diese könnten viel lehrreicher sein als viele unserer Worte.

Menschen, die naturverbunden leben, glauben. Der Atheismus entstand als ein städtisches Phänomen in den verformten Gedanken derer, die hinter sozialen sowie strukturellen Mauern leben mußten.

Wie wäre es, wenn wir der großen Stille lauschen würden? Woher kommt die Schönheit der Schneeflocken, Blumen, Farne und Flechten, die, jedes für sich, eine erlesene Stickerei sind? Woher die wunderbare Anordnung der Elementarteilchen in einem Atom?

Wie ist es möglich, daß das Elektron in seiner Umlaufbahn Hunderte von Millionen Male pro Hunderttausendstel einer Sekunde rotiert, damit das, was in ständiger Bewegung ist, uns als fester Gegenstand dienen kann?

Haben Sie je von einer Maschine mit achtzig Billionen elektrischer Zellen gehört? Einer ihrer Bestandteile, der nur rund 1,5 Kilogramm wiegt, ist ein aus zehn Milliarden Zellen bestehender Mechanismus, der Energie erzeugt, empfängt, speichert und abgibt. Diese einzigartige Maschine ist Ihr Körper. Wie wären Sie dankbar, wenn Ihnen jemand ein Auto schenken würde! Ihnen wurde jedoch eine viel bessere Maschine anvertraut. Von wem?

Wie läßt es sich erklären, daß durch einen Gefühlswandel hervorgerufene chemische Veränderungen in den Neuronen des Gehirns zu einem neuen Gedanken werden? Wie kann ein Mensch, der giftiges Kohlendioxid ausatmet, dieses in ein Wort der Liebe oder gar in ein Wort verwandeln, das die Botschaft des ewigen Lebens in sich trägt?

Wie ist es möglich, daß eine unsichtbare Hand Sie von einer geplanten bösen Tat zurückzuhalten scheint? Wessen Hand ist es? Selbst wenn die Stimme des Gewissens nicht stark genug ist, Sie von einem schlechten Vorhaben abzubringen, werden Sie sie später in Form von Bedauern und Reue wiederhören.

Wer sind Sie, der Sie nach der Identität der Wirklichkeit fragen? Was wäre, wenn diese Wirklichkeit Ihnen antworten würde: »Da du dich in deiner Vermessenheit als Autorität aufspielst, sag bitte zuerst, wer du bist.« Könnten Sie tatsächlich auf eine der Tausenden von Fragen antworten, die Ihnen die Realität stellt? Die Entwicklung der Wissenschaft hat die Sachkenntnis nicht um so viel erweitert, wie sie die Anzahl der Fragen erhöhte, auf die wir die Antwort finden müssen.

Sie fragen die Wirklichkeit nach ihren letzten Geheimnissen, nach ihrem Sinn, nach ihrem Plan und nach der Existenz eines Schöpfers. Wem sollte die Wirklichkeit antworten, und in welcher Sprache? Die Eingeborenen, zu denen die ersten Missionare gingen, kannten keine Worte für Begriffe, wie »Liebe«, »Glaube«, »Vergebung«, »Geist«, »heilig«, »Zug«. Die Missionare waren in der Fähigkeit, ihre Botschaft weiterzugeben beziehungsweise die Gegebenheiten in ihrer Heimat mitzuteilen, eingeschränkt. Kennen Sie eine Sprache, die der Wirklichkeit am nächsten ist?

Und zu wem sollte diese Wirklichkeit wiederum sprechen? Sie anerkennen nur die Vernunft. Nach Ihrer materialistischen Lehre arbeitet das menschliche Gehirn jedoch durch die Vernunft. Das Gehirn eines Elefanten ist anders konzipiert. Es wird vorwiegend durch den Instinkt gesteuert. Dem Ihrigen haben Sie einen schöneren Namen gegeben. Und trotzdem beharren Sie darauf, beide Gehirne seien Zufallserscheinungen der Evolution, die wahllose, von keinem Schöpfer beeinflußte Anhäufung von Atomen im Laufe von Äonen.

Sie betrachten den Atheismus als die Wahrheit. Doch bevor Sie dem Atheismus den Begriff »Wahrheit« zuordnen, müssen Sie definieren, was Sie unter »Wahrheit« verstehen.

Pilatus fragte: »Was ist Wahrheit?« (Joh. 18, 38). Wer immer die Antwort auf diese Frage nicht weiß, hat keine Grundlage für die Behauptung, irgend etwas sei wahr.

Skeptiker haben gesagt, »Wahrheit ist eine Vermutung, die sich behaupten konnte« oder »eine Halluzination, auf die sich eine Mehrheit einigen konnte«. Was sie aber als Halluzination abtun, könnte ein Irrtum sein, der in die richtige Richtung weist. Alchimie und Astrologie waren solche furchtbaren Irrtümer, die Vorläufer von Chemie und Astronomie.

Wie lautet Ihre Definition der Wahrheit? Ein Marxist würde sagen, die Wahrheit werde von der sozialen Klasse bestimmt. Die ökonomischen Bedingungen, unter denen ein Mensch lebe, würden seine Denkweise festlegen.  . . .

Spielt Furcht in Ihrem Denken keine Rolle? In den nichtkommunistischen Ländern wenden sich Atheisten oft der Religion zu. Angenommen, ein Mitglied der Moskauer Akademie der Wissenschaften käme nach gründlicher Erwägung aller Für und Wider zu dem Schluß, das Christentum habe recht — wie es bei Swetlana Stalina, Pasternak, Sinjawskij und Solschenizyn der Fall war; man kann seine Überzeugung in beliebiger Richtung ändern — was wäre das Ergebnis? Es würde augenblicklich seine Mitgliedschaft in der Akademie, seine Professur, die Möglichkeit, Bücher zu veröffentlichen, und nicht zuletzt auch seinen hohen Lebensstandard verlieren. Generalmajor Grigorenko, Mitglied der Moskauer Akademie, äußerte zu einigen politischen und militärischen Fragen Ansichten, die von denen der Sowjetregierung abwichen. Für diese »Abweichung« mußte er in einer Irrenanstalt büßen. Kennen Sie, meine Gegner, überhaupt keine Angst? Ohne die völlige Freiheit der Forschung und Meinungsäußerung, ob die jeweiligen Ansichten falsch oder richtig sind, kann der Verstand keine richtigen Resultate erzielen. Ihr Verstand wird von einem Gefühl beeinflußt — von der Angst.

Der Verstand jedes Menschen wird von Gefühlen der einen oder anderen Art beeinflußt. Bei einigen ist es der Wunsch nach Ruhm oder Gewinn. Solche Gefühle sind zu bedauern, aber in keinem Fall kann der Verstand allein richtige Ergebnisse hervorbringen. Warum sollten Sie nach richtigen Resultaten suchen, wenn Sie nicht von einer Leidenschaft, der Wahrheitsliebe, beseelt wären? Eine solche Leidenschaft, ein starkes Gefühl, kann manchmal ein Hindernis, manchmal aber auch die treibende Kraft für richtige Schlußfolgerungen sein. Sie ist die Voraussetzung dafür.

Woher wissen wir, daß Vernunftschlüsse richtiges Denken erzeugen? Nun, wir fühlen es ganz einfach. Und wir fühlen es nicht nur im kleinen, sondern auch im großen. Einstein sagte noch vor der Feuerprobe seiner berühmten Theorie, er habe das Gefühl, daß sie richtig sei. Was ist dieses Gefühl? Es gehört ebensowenig der Vernunft an wie die Intuition. Doch es befriedigte einen Einstein.

Ein Beweis ist nicht nur äußerlich. Es gibt auch einen innerlichen Beweis, der manchmal unserem Verstand widerspricht. Diese innere Überzeugung, der Glaube, ist an sich eine der großen Tatsachen des Universums. Sie muß respektiert und wie jede andere Tatsache der Natur erklärt werden.

Einsteins Beweisführung stützte sich auf eine außerhalb des Verstandes liegende Annahme.

Der Atheismus beruht ebenfalls auf einem Glauben. Auch er geht von bestimmten Voraussetzungen aus. Er beruht auf dem Gefühl, es lohne sich, das Leben mit der Verneinung des Nichtexistenten zu verbringen. Nietzsche, der große Prophet des Antichristen, war so ehrlich, dies zuzugeben. Er schrieb: »Sogar wir, die Verfechter des Wissens, wir, die Gottlosen und Antimetaphysiker, entnehmen unser Feuer auch heute noch einer Flamme, die ein Glaube, der Tausende von Jahren alt ist, entfachte — jenem christlichen Glauben, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit und die Wahrheit göttlich ist.« Nietzsche bedauerte es, aber er betrachtete sich als »immer noch fromm«.

Wenn Gefühle in der Überzeugung von Gläubigen und Ungläubigen gleichermaßen eine so große Rolle spielen, warum sollte der Höchste zu dir sprechen, du stolze Vernunft, und nicht auch zu diesen Gefühlen?

Wenn Sie kein Gefühl für das Geheimnisvolle haben, können Sie nicht zur Wahrheit gelangen.

Weshalb glauben Sie, was Ihnen Ihr Verstand sagt? Sie wissen, daß er nicht verläßlich ist. Sie erwachen soeben von einem stundenlangen Schlaf, in dem dieser selbe Verstand Ihnen eine illusorische Welt vorgaukelte. Er belügt Sie jede Nacht. Er belügt Sie in Ihren Tagträumen und in Ihrer Phantasie. Ist es vernünftig, sich blind auf Ihren Verstand zu verlassen?

Millionen Menschen, die sich auf ihren Verstand verließen, jubelten einem Hitler und einem Stalin als großen Genies zu. Dieser selbe Verstand klagte sie später als Massenmörder an. Oft mußten Sie schon entdecken, daß sich Ihr Verstand geirrt hat. Er ist eine Hure, die Ihnen lieber das erzählt, was Sie gerne hören möchten. Dem Atheisten sagt er, es gäbe keinen Gott; dem religiösen Menschen sagt er, er könne Hoffnung haben; dem Mitglied einer politischen Partei sagt er, ihr Programm sei das beste.

Wir alle haben große Fehler gemacht. Die ganze Menschheitsgeschichte ist ein großer Friedhof von Ideen, für die Menschen zu sterben bereit waren. Sind Sie sicher, daß Ihre Ideen nicht eines Tages als ebenso unsinnig betrachtet werden wie die Vorstellung, die Erde werde von Atlas getragen?

Neunundneunzig Prozent der Bevölkerung unseres Jahrhunderts glauben im Vertrauen auf ihren Verstand an die absolute Gültigkeit des Gesetzes von Ursache und Wirkung. Heisenberg hat jedoch zusammen mit sehr wenigen, die seine Behauptung verstehen, recht mit der Aussage: »Die Lösung der Paradoxie der Atomphysik kann nur durch den Verzicht auf alte und gehegte Ideen gefunden werden. Die wichtigste dieser Ideen ist, daß Naturphänomene genauen Gesetzen gehorchen — dem Prinzip der Kausalität.«

Wer bist du, Verstand?  Wer ist deine letztliche Autorität, die du über die Wirklichkeit befragen und von der du die Enthüllung der letzten Geheimnisse fordern kannst?

An der Oberfläche des Ozeans der Wirklichkeit zeigt sich ein winziger Tropfen — mein Sein. Es geht aus dem Ozean hervor. Es kann den Ozean keinen einzigen Augenblick verlassen. Mein Sein ist ein Teil davon, verwüstet durch seine Stürme.

Sobald mein Ich sich zum König aufschwingt und die Wirklichkeit beurteilen will, anstatt sich bescheiden von ihr zu ernähren, bin ich keine Wirklichkeit mehr, sondern ein Nichts, eine Illusion.

Es gibt nur eine Wirklichkeit — Gott. Er hat alles geschaffen, aber in sich selbst. In ihm haben wir unser Sein, unser Leben und unsere Bewegung. Er umfängt alles, was er erschafft. So wie Milliarden von Zellen, jede mit vollständigem Aufbau und allen Lebensfunktionen, ihr Leben vom Körper empfangen, davon und darin existieren, so sind wir alle Teil einer höheren Wirklichkeit. Wir leben in Gott. Wenn wir uns ihm widersetzen, verliert unsere Existenz ihren Sinn.

Die Schwierigkeit, ein Atheist zu sein

Wir möchten unseren atheistischen Freunden so weit wie möglich entgegenkommen. Der Atheismus kann der Übergang von der falschen Religion zur Wahrheit sein.

Der Atheismus in einer bestimmten Generation ist im allgemeinen die Folge des Aberglaubens einer heuchlerischen Religion der vorangegangenen Generation. Dann wird er zur Übergangsphase. Bleiben Sie nicht im Übergangsstadium stehen!

Wir wissen auch, daß nicht alle, die sich Atheisten nennen, es wirklich sind. Baron Holbach, einer der bekanntesten atheistischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, nannte Gott seinen persönlichen Feind. Für ihn existierte nur die Natur. Seiner Ansicht nach erschafft die Natur, die selbst nicht erschaffen worden ist, alles. Genau das aber glauben wir von Gott. Die Natur sei unbegrenzt und ewig. Das glauben wir wiederum von Gott. Die Natur habe ihre Gesetze und Ordnungen, ihr Ziel und ihren Geist. Je mehr Sie über Holbachs Naturverständnis nachlesen, desto klarer wird Ihnen, daß er lediglich das Wort »Natur« für »Gott« gebrauchte, gegen den er eine Abneigung hatte. Das ist nicht wahrer Atheismus.

Für viele ist der Atheismus eine reine Schutzreaktion gegen die Enttäuschung einer erfolglosen Suche nach der Religion. Ihr Atheismus ist unterdrückte Religiosität, und es ist unser Fehler, nicht mit ihnen umgehen zu können. Christen sollten im Umgang mit Ungläubigen ihr »christliches Gehabe« verlernen. Ärzte sprechen unter ihresgleichen in ihrer Fachsprache, doch im Gespräch mit einem Patienten wird ein weiser Mediziner eine für diesen verständliche Sprache gebrauchen. Nicht alle Religionslehrer und Christen wissen, wie sie ihren Glauben denen verständlich machen sollen, die an die biblische Sprache nicht gewohnt sind. Das hält viele von der Religion ab. Dafür müssen wir Verständnis haben.

Wir haben auch Mitleid mit den Kümmernissen eines Atheisten. Es ist bestimmt schwieriger, ein Atheist zu sein als ein religiöser Mensch. Atheisten haben einen sehr anstrengenden Glauben. Sie werfen uns vor, wir würden ohne Beweise glauben. In diesem Buch werden wir den Beweis für unseren Glauben erbringen. Doch wer wird je in der Lage sein, die ungeheuren Lehrsätze des Atheismus zu beweisen?

Sein erstes Dogma lautet: »Seit jeher besteht die sich ständig verändernde Materie, die das Leben erschuf.«

Wie können die Atheisten das wissen? Der bekannte Astronom Hoyle erbrachte den Beweis für das Gegenteil. In seinem Buch »Die Natur des Universums« schreibt er:

»Um die Frage nach der Schöpfung zu vermeiden, müßte die ganze Materie des Weltalls unendlich alt sein — und das kann sie aus einem sehr praktischen Grund nicht sein. Wenn dem nämlich so wäre, könnte im Weltall kein Wasserstoff mehr vorhanden sein. Ich glaube, ich habe bei der Besprechung über das Innere der Sterne gezeigt, daß Wasserstoff im gesamten Universum ständig zu Helium umgewandelt wird; diese Umwandlung ist ein einseitiger Vorgang, das heißt Wasserstoff kann nicht in jeder beliebigen Menge durch Zerfall anderer Elemente gebildet werden. Wie kommt es aber dann, daß das Universum fast ausschließlich aus Wasserstoff besteht? Wäre die Materie unendlich alt, so wäre dies ganz unmöglich. Wir sehen also, daß man, so wie das Weltall nun einmal ist, die Schöpfungsfrage nicht umgehen kann.«

Die Bibel spricht wissenschaftlich, wenn sie sagt: »Was sichtbar ist, das ist zeitlich.«

Welche Beweise haben die Atheisten für das Gegenteil? Was macht sie glauben, die Materie habe seit jeher existiert? Welchen Beweis können sie für deren ständige Entwicklung erbringen? Und dennoch müssen sie glauben, es gäbe keinen Gott, keinen liebenden Vater, keinen Sinn in allem, keine Hoffnung für unser so kurzes Leben.

Ist alles Bestehende eine Zufallsverbindung von Elementarteilchen? Der kommunistische Schriftsteller Anatole France schrieb: »Zufall ist vielleicht das Pseudonym Gottes für Fälle, in denen er nicht unterschreiben wollte.«

Der Mensch ist in Krisenzeiten, im Augenblick der Verliebtheit oder bei der Betrachtung von Schönheit kein Atheist. Der Mensch bleibt auf dem Sterbebett selten gottlos. Einige bleiben allerdings ihrer Rolle bis zum Ende treu; sie würden selbst im letzten Augenblick ihre Zweifel nicht bekennen. Doch wenn eine erfahrene religiöse Persönlichkeit zu einem solchen Menschen ans Sterbebett kommt, kann sie diesen bekehren.

Eine große Lebenskrise kann auch die Überzeugung eines Atheisten erschüttern.

Als die russische Revolution aufgrund der Belagerung von Petersburg durch die antikommunistischen Truppen unter General Kornilow in großer Gefahr war, hielt Lenin eine Rede, in der er verschiedene Male ausrief: »Daj Bosche…« — »Gebe Gott…« Man könnte einwenden, es handle sich hierbei um eine geläufige russische Redewendung. Doch Lenin gebrauchte sie außer in diesem Moment der Krise nie.

Drei Männer führten gegen die Nazis Krieg: Churchill, Roosevelt und Stalin. Die beiden Erstgenannten waren Christen. Churchill widmete sechs Bände seiner Memoiren diesem Krieg. Der Name Gottes kam den beiden Christen nie über die Lippen. Nur Stalin sagte: »Gott möge der Operation ,Torch’ zum Erfolg verhelfen« (,Torch’ = die Invasion in Nordafrika), »Die Vergangenheit gehört Gott« und so weiter.

Mao war ein fanatischer Atheist. Doch als er, Mitglied des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, im Jahre 1936 schwer erkrankte, verlangte er, getauft zu werden, und wurde von einer Nonne getauft. Als seine Frau von den Truppen Tschiangkaischeks erschossen wurde, verfaßte er ein religiöses Gedicht mit dem Titel »Die Unsterblichen«. In einem Interview mit der englischen Zeitung »Snow« sagte er im Jahre 1971: »Bald werde ich vor Gott treten müssen.«

Solche Vorfälle sind sehr aufschlußreich. Wenn Sie der Ingenieur einer Brücke sind, ist für Sie eine Katze, die darüberläuft, kein Beweis für die Stabilität der Brücke. Ein Zug muß über sie fahren. Wir können den Atheismus nicht als nützlich betrachten, wenn er lediglich eine Gut-Wetter-Lehre ist.

Sinowjew, ein Präsident der Kommunistischen Internationale, starb auf Befehl Stalins. Seine letzten Worte waren: »Höre, Israel, unser Gott ist der einzige Gott.« Der sowjetische Innenminister Jagoda, der ebenfalls auf Geheiß Stalins starb, sagte: »Es muß einen Gott geben, weil meine Sünden mich eingeholt haben.« Jaroslawskij, Präsident der Liga der Gottlosen in der UdSSR, bat Stalin auf seinem Sterbebett: »Verbrennt alle meine Bücher! Schaut, Er ist hier! Er wartete auf mich. Verbrennt alle meine Bücher!«

Als ich in kommunistischen Gefängnissen mit Kommunisten einsaß, die nach Parteisäuberungen von ihren eigenen Genossen eingekerkert worden waren, wurde ich selbst Zeuge ähnlicher Szenen. Ich empfehle unseren atheistischen Freunden, über diese Dinge nachzudenken.  . . .

 

Der Ursprung des Christentums

Das »Handbuch des Atheisten« beginnt mit einem Kompliment an uns Christen: »Zumindest in seinen Anfängen verzichtete das Christentum sowohl auf den Opferdienst als auch auf jede Form des Rituals. F. Engels erklärte, dies sei ein revolutionärer Schritt gewesen. Im Gegensatz zu den anderen Religionen des Altertums lehnte das Christentum kategorisch alle ethnischen Abgrenzungen in Glaubensfragen ab, da seine Predigten an alle Stämme und Völker gerichtet waren. In Fragen des Glaubensbekenntnisses wies das Christentum auch die sozialen Schranken kategorisch zurück. Diejenigen, die die Lehre Jesu propagierten, sprachen zu allen Menschen, ohne Rücksicht auf deren ethnische Herkunft oder soziale Stellung.«

Immerhin verlieren unsere Gegner auch einmal gute Worte über uns. Keine nationale oder rassistische Diskriminierung innerhalb des Christentums, und dies schon vor 2000 Jahren! Aber in Polen und in der Sowjetunion werden die Juden diskriminiert. In Rußland wurden alle Tataren, die Tschetschenen, die Inguschen, die Kalmücken und die Wolgadeutschen deportiert, nur weil sie einer bestimmten Nation angehörten. In Rotchina werden die Tibetaner unterdrückt. In jedem kommunistischen Land lautet die erste Frage, die Ihnen gestellt wird: »Wie ist Ihre soziale Herkunft?« Wehe Ihnen, wenn Ihr Vater zufällig Fabrikbesitzer war! Es gab keine sozialen Schranken in dem Christentum, wie Christus es lehrte.

Weiter macht das »Handbuch des Atheisten« uns keine Komplimente. Dagegen wird behauptet: »Die griechischen, römischen und jüdischen Schriftsteller des ersten Jahrhunderts geben uns absolut keine Informationen über das Christentum.« Achten Sie bitte auf das nette Wort »absolut«! Diese Behauptung ist nämlich absolut falsch.

Römische Schriftsteller über das Christentum

Der römische Historiker Tacitus lebte etwa in den Jahren 60—120 nach Christus. In bezug auf den Brand von Rom im Jahre 64 n. Chr. schreibt er (Annalen XV, 24):

»Doch kein menschliches Zutun, weder die Freigebigkeit des Kaisers noch die Sühne der Götter, vermochte der allgemeinen Meinung abzuhelfen, daß der Brand auf Befehl gelegt worden sei. So ließ denn Nero jene Leute als Täter angeben und denselben die ausgesuchtesten Strafen antun, welche, wegen ihrer Laster verabscheut, gewöhnlich Christen genannt wurden. Christus, von welchem ihr Name abgeleitet wird, war unter Tiberius’ Regierung durch den Statthalter Pontius Pilatus mit dem Tode bestraft worden; worauf die für den Augenblick unterdrückte fluchwürdige Schwärmerei wieder hervordrang, nicht bloß in Judäa, der Heimat dieses Unheils, sondern auch in der Hauptstadt, wo alles, was scheußlich oder schandbar ist, sich von allen Seiten zusammenfindet. Demnach wurden zuerst diejenigen gefaßt, welche Geständnisse ablegten, und nach deren Angabe eine außerordentliche Zahl Menschen, die nicht eben wegen der ihnen angeschuldigten Brandlegung, wohl aber als Gegenstände des Hasses für die ganze Welt schuldig erkannt wurden. Man hatte noch seinen Scherz mit den Sterbenden, daß man sie mit Tierhäuten bedecken und so von Hunden zerreißen, oder ans Kreuz genagelt und zum Anzünden hergerichtet sterben ließ, und daß sie, wenn’s mit dem Tage aus war, zur nächtlichen Beleuchtung brennen sollten. Seinen eigenen Park hatte Nero zu dieser Schaustellung hergegeben und hielt jetzt ein Wagenrennen, indem er, als Wagenlenker gekleidet, sich unter den Pöbel mischte, oder wirklich auf einem Wagen stand. So kam es, daß die strafbaren Leute, welche das Äußerste zu leiden verdienten, Teilnahme erregten, als Menschen, die nicht zum gemeinen Besten, sondern für das mörderische Gelüsten eines einzelnen sterben müßten.«

Das »Absolut« des »Handbuches des Atheisten« ist also nicht absolut. Es gibt einen römischen Historiker des ersten Jahrhunderts, der die Existenz Christi bezeugt.

Wir können unseren Gegnern sogar mit einem weiteren aufwarten: Suetonius (um 75-160 n. Chr.). Er schreibt in »Vita Claudii«: »Da die Juden unter ihrem Anführer Christus beständig Unruhe stifteten, vertrieb er (Claudius) sie aus Rom.«

Hier wird die Existenz Christi erneut bestätigt, ja noch mehr: Zur Zeit des Kaisers Claudius hatte dieser Christus bereits viele Jünger in Rom. Im Jahre 64 n. Chr. wurden sie schon heftig verfolgt, wie derselbe Schriftsteller in »Vita Neronis« (XVI) beschreibt:

»Viele alte Vorschriften wurden während seiner (Neros) Regierungszeit wieder eingeführt und streng gehandhabt, aber es wurden auch neue Bestimmungen getroffen: … über die Christen, Menschen, die sich einem neuen und gefährlichen Aberglauben ergeben hatten, wurde die Todesstrafe verhängt.«

Es folgt ein dritter römischer Historiker, Plinius der Jüngere, 62 bis ca. 113 n. Chr. Er schreibt an den Kaiser Trajan:

»Es ist mir heiliges Gebot, o Herr, alles, worüber ich im Zweifel bin, Dir vorzutragen. Wer könnte nämlich besser meinem Zögern eine Richtung weisen oder meine Unwissenheit erhellen?

An Verhandlungen gegen Christen habe ich niemals teilgenommen; deshalb weiß ich nicht, was und inwieweit man hier gewöhnlich straft oder untersucht. Auch bin ich nicht wenig im unklaren, ob ein Unterschied im Alter gemacht wird, und ob den Reuigen Verzeihung gewährt wird oder ob es dem, der überhaupt einmal Christ war, nichts nützt, davon abgelassen zu haben. Inzwischen habe ich bei denen, die mir als Christen angezeigt wurden, folgendes Verfahren beobachtet: Ich fragte sie, ob sie Christen seien. Die darauf beharrten, ließ ich hinrichten.«

Wir können unseren Gegnern mit einem vierten Dokument dienen. Wir besitzen den ersten Brief des heiligen Clemens, Bischof von Rom, der unmittelbar nach der neronischen Verfolgung geschrieben wurde. Er stammt aus dem ersten Jahrhundert und enthält viele Angaben über das Christentum. Durch ihn kennen wir die damalige Lage der Gemeinde in Korinth. In ihm wird uns berichtet, daß der Apostel Petrus als Märtyrer gestorben, und Paulus siebenmal im Gefängnis gewesen sei.

Der heilige Clemens, der im ersten Jahrhundert lebte, kennt Christus als historische Wirklichkeit. Er schreibt: »Christus gehört nämlich denen an, die demütigen Sinnes sind, nicht denen, die sich erheben über seine Herde. Das Zepter der Majestät Gottes, der Herr Jesus Christus, ist nicht gekommen in prunkender Prahlerei und nicht im Stolz, obwohl er es gekonnt hätte, sondern in Demut, wie der Heilige Geist über ihn verkündigt hatte.«

Ein Abschnitt von Sulpicius Severus, einem christlichen Schriftsteller des vierten Jahrhunderts, wurde als einen Bericht angesehen, der auf einem verlorengegangenen Schriftstück von Tacitus basiere. Darin wird uns von einem Kriegsrat berichtet, der nach der Eroberung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. von Titus abgehalten wurde. Es wird berichtet, Titus habe die Ansicht vertreten, der Tempel von Jerusalem solle zerstört werden, damit die Religion der Juden und Christen gründlicher ausgemerzt werden könnte. Die Christen seien aus den Juden hervorgegangen, und wenn die Wurzel ausgerissen werde, könne der Stamm leicht zerstört werden.

Was bleibt von der Behauptung, das erste Jahrhundert gäbe uns keinerlei Informationen über das Christentum?

Das Zeugnis der Evangelien

Ein Grundsatz der atheistischen Bibel lautet, die Evangelien seien nicht im ersten Jahrhundert geschrieben worden, sondern von späteren, geschickten Fälschern. Das Johannesevangelium sei angeblich erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts entstanden.

Doch Ignatius zitierte daraus, obwohl er vor dem Jahre 116 den Märtyrertod starb. Der Philosoph Justinus zitierte es. Er starb um das Jahr 165. Sogar Loisy, der französische Bibelkritiker, gibt zu, daß dieses Evangelium bereits um das Jahr 130 Rom erreicht habe.

Eine einfache Analyse des Inhalts der Evangelien zeigt, daß sie keine späteren Fälschungen sein können. (Mit dieser Behauptung stellen sich meine Gegner sogar gegen Engels, der die Idee, das Christentum sei das Werk von Betrügern, für lächerlich hält. Siehe F. Engels, »Bruno Bauer und das alte Christentum«.)

Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts, als die Evangelien angeblich erfunden wurden, waren die Namen der Apostel in christlichen Kreisen sehr geachtet. Warum also sollte ein Fälscher, der wollte, daß seine Schriften als von Gott inspiriert betrachtet würden, den Gemeinden erzählen, Jesus habe Petrus »Satan« genannt (Matth. 16, 23) und auch die anderen Apostel zurechtgewiesen? Solche Worte wären niemals im Evangelium erschienen, wenn sie nicht wirklich ausgesprochen worden wären. Die Apostel waren in den Gemeinden hochangesehen. Mißbilligende Worte über sie wären von keinem Christen erfunden worden.

Ende des zweiten Jahrhunderts wurde Christus in der ganzen Gemeinde als Gott angebetet. Das Werk eines Fälschers, der so dumm gewesen wäre, ihm auch nur die geringste Freundschaft mit Frauen oder eine Schwäche zuzuschreiben, die ihn am Kreuz ausrufen ließ: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Matth. 27, 46), wäre nie als heiliges Buch anerkannt worden. Dasselbe gilt für die Beschreibung von Jesu Furcht und Verzagtheit in Gethsemane (Matth. 26, 37—39). Solche Vorfälle machten den Namen des Erlösers zur Zielscheibe von Angriffen.

Celsus verspottet Jesus in einem Buch aus dem Jahre 178 wegen seines Seelenschmerzes am Kreuz und erinnert uns dabei daran, seine Jünger hätten ihr Leiden in mutigem Schweigen erduldet. Er muß die Fakten über Jesus aus den Evangelien gekannt haben. Die Evangelisten schrieben sie nicht zu ihrem eigenen Nutzen nieder, sondern weil sie Zeugen der Geschehnisse waren; und sie kümmerten sich nicht darum, ob sein Seufzen, seine Tränen, sein Leiden und sein Schmerz ihn in den Augen vieler degradieren würden. Solche Darstellungen sind der Beweis für die Echtheit und frühe Niederschrift der Evangelien.

Spätere Fälscher wären voll des Lobes über Jesus gewesen. Sie hätten uns nicht erzählt, Jesus sei von einigen seiner Zeitgenossen, von seinem eigenen Volk, von den Leuten, die ihn am besten kannten, als Teufel betrachtet worden (Joh. 7, 20), und er habe zu einem jungen Mann gesagt: »Was heißest du mich gut?« (Matth. 19, 17).

Die Evangelien und Episteln enthalten einige aramäische Worte. Aramäisch war die Sprache der Juden in Palästina. Weshalb hätten die Fälscher die aramäischen Äußerungen einflechten sollen, wenn die Evangelien Ende des zweiten Jahrhunderts in der griechischsprachigen Welt geschrieben worden wären? Sie hatten nur in den ersten Jahrzehnten christlicher Geschichte einen Sinn, als die Mehrheit der Christen Juden waren.

Die Evangelien enthalten große Debatten zwischen Jesus und seinen Gegnern über die richtige Art, den Sabbat zu halten, und über den Wert jüdischer Zeremonien. Diese waren für jüdische Leser des ersten Jahrhunderts wichtig. Heidenchristen des zweiten Jahrhunderts hätten sie nicht verstanden oder wären vom Inhalt der Diskussionen nicht betroffen gewesen. Ein Fälscher hätte erklären müssen, was Gebetsriemen, der Zehnte, die jüdischen Waschungen, wer die Pharisäer und Sadduzäer usw. waren. Doch die Evangelisten setzten dieses Wissen voraus, weil sie die Evangelien sehr früh schrieben und die Episoden des Lebens Jesu genau so wiedergaben, wie sie sich zugetragen hatten.

Nirgendwo im Neuen Testament finden wir die geringste Spur einer Dorfgemeinde. Das Christentum muß in erster Linie ein städtisches Phänomen gewesen sein. Warum hätten Fälscher Jesus immer wieder Anspielungen auf das Landleben, auf Vögel, Blumen und bäuerliche Arbeit in den Mund legen sollen?

Fälscher müssen schlaue Menschen sein. Wären die Evangelisten Fälscher gewesen, hätten sie weder so schlimme Fehler gemacht, noch wäre es ihnen gelungen, ein als Heilige Schrift anerkanntes Buch zu schreiben.

Eine Einzelheit aus dem Evangeliumsbericht, die sowohl seine historische Genauigkeit als auch sein Alter beweist, findet man in Johannes 19,34. Es wird berichtet, »Blut und Wasser« seien herausgeflossen, als einer der Soldaten mit dem Speer die Seite des gekreuzigten Herrn öffnete. Der Grund wird nicht genannt. Doch der Evangelist Johannes war Augenzeuge gewesen, und er schrieb, was er gesehen hatte. Weder er noch irgend jemand konnte zu dieser Zeit erklären, was geschah. Erst achtzehn Jahrhunderte später erklärte ein gewisser Dr. Simpson, Entdecker des Chloroforms, Jesus Christus sei an einer Extravasation des Blutes oder, in unserer Sprache ausgedrückt, an einem gebrochenen Herzen gestorben. Bei diesem Tod werden die Arme ausgeworfen (Jesu Arme waren natürlich am Kreuz ausgestreckt), der Sterbende stößt einen lauten Schrei aus, wie es auch Jesus tat, »das Blut entweicht in den Herzbeutel und hindert das Herz am Schlagen. Dort steht das Blut für kurze Zeit und teilt sich in Serum (Wasser) und Blutgerinnsel (die roten Blutkörperchen). Als der Soldat in die Seite (in den Herzbeutel) stach, flossen Blut und Wasser heraus.«

Ist es einleuchtend, daß ein Schriftsteller eine Begebenheit schildert, die sich nie ereignete und für die erst nach nahezu zweitausend Jahren die genaue und passende wissenschaftliche Erklärung gefunden werden konnte?

Die Behauptung, das Evangelium sei eine spätere Fälschung, ist in sich selbst eine spätere Fälschung.

Ist es denkbar, daß eine nichtexistente, mythische Person der Schöpfer der ganzen christlichen Zivilisation war, deren Bürgerzahl die eines jeden weltlichen Staates übersteigt?

Kein Reich besteht seit zweitausend Jahren wie das christliche, das die Verfolgungen, den Haß und die Entbehrungen von zwanzig Jahrhunderten überdauerte.

Das Christentum ist die überwältigendste Tatsache der Welt – und diese größte Tatsache wurde von einer nichtexistenten Person ins Leben gerufen? Barer Unsinn! Wer kann so etwas glauben?

John Stuart Mill schrieb: »Es ist sinnlos zu sagen, Christus, wie er in den Evangelien dargestellt wird, sei nicht historisch. Wer von seinen Jüngern oder Proselyten wäre fähig gewesen, die Jesus zugeschriebenen Aussagen zu erfinden oder sich das Leben und den Charakter vorzustellen, wie sie in den Evangelien offenbart werden? Sicherlich nicht die Fischer von Galiläa, und sicher nicht der heilige Paulus.«

Wer könnte die Person Jesu erfunden haben – nicht nur seine Güte und Milde, sondern auch seine Begabung, mit Menschen und Problemen umzugehen, seinen Scharfblick und sein Talent als Evangelist?

Und zudem, wer wären die Erfinder Jesu gewesen? Juden hätten ihn nicht erfinden können, da im ersten Jahrhundert ihr Monotheismus so hartnäckig aufrechterhalten wurde, daß sie niemals einen Mann erfunden hätten, der die Menschwerdung ihres unsichtbaren Gottes darstellte.

Die Juden verachteten andere Nationen. Sie hätten kein Glas Wasser von einem Samariter entgegengenommen. Daher hätten sie Jesus sicher nicht erfunden, der mit Fremden Freundschaft schloß. Sie glaubten, das auserwählte Volk zu sein. Warum hätten sie jemanden erfinden sollen, der alle Rassenunterschiede ignorierte und alle Menschen annahm?

Auch die ersten Christen konnten ihn nicht erfunden haben.

Wir sehen ganz einfach, daß sie, unfähig, einen Jesus zu erfinden, lediglich seinen schönen Namen hätten verderben können.

Schon der heilige Paulus schreibt, zu seiner Zeit hätten manche aus Habgier, Ruhmsucht und egoistischen Motiven gepredigt und das Wort Gottes verdreht (Philipper 1, 15-16). Habsüchtige und egoistische Prediger können keinen Jesus erfinden.

Und selbst wenn die Menschen in der Lage gewesen wären, einen menschgewordenen Gott zu erfinden, hätten sie ihn nie als einen Juden erfunden, als einen Menschen, der einer verachteten Rasse angehörte, als einen Zimmermann, als einen Ungebildeten, der in einer Krippe geboren wurde, an einem Kreuz starb und nicht eine Zeile hinterließ.

Solche Dinge können nicht erfunden werden.

Bezüglich der drei Fragen, die der Teufel Jesus stellte, als er ihn in der Wüste versuchte: »Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden « (Matthäus 4, 3) — »Bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab; denn es steht geschrieben: ‘Er wird seinen Engeln über dir Befehl tun, und sie werden dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest’« (Matthäus 4, 6) — »Das alles (alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit) will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest« (Matthäus 4, 9) schreibt Dostojewski in »Die Brüder Karamasow«:

»Wenn jemals auf Erden ein wirkliches, gewaltiges Wunder vollbracht worden ist, so an jenem Tage, am Tage dieser drei Versuchungen. Gerade darin, daß diese drei Fragen auftauchten, bestand das Wunder. Wenn man sich, nur zur Probe und als Beispiel, vorstellen wollte, daß diese drei Fragen des furchtbaren Geistes spurlos aus der Schrift verschwunden wären und, wiederhergestellt, von neuem erdacht und formuliert werden müßten, um sie wieder in die Schrift einzusetzen, und daß man zu diesem Zweck alle Weisen der Erde, alle Herrscher, Hohenpriester, Gelehrten, Philosophen und Dichter versammelte und ihnen die Aufgabe stellte: ersinnt und formuliert drei Fragen, die nicht nur der Größe des Ereignisses entsprechen, sondern überdies noch in drei Worten, in drei Sätzen die ganze künftige Geschichte der Welt und der Menschheit enthalten— glaubst du wohl, alle Weisheit der Welt vermöchte, wenn sie sich vereinigte, etwas zu ersinnen, das an Kraft und Tiefe den drei Fragen gleichkäme, die dir damals in der Wüste von dem mächtigen und klugen Geist vorgelegt wurden? Schon allein an diesen Fragen, allein schon an dem Wunder, daß sie gestellt wurden, ist zu erkennen, daß man es hier nicht mit der vergänglichen menschlichen Vernunft zu tun hat, sondern mit der ewigen und absoluten.«

Ingersoll, der bekannte atheistische Schriftsteller, sagte über Jesus:

»Mit Renan glaube ich, daß Christus der einzige vollkommene Mensch war. ‘Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch’, ist die Vervollkommnung von Religion und Moral. Es ist das Summum bonum. Es ist erhabener als die Lehren von Sokrates, Plato, Mohammed, Mose oder Konfuzius. Es übersteigt die Gebote Mose, die dieser von Gott zu haben behauptete, denn nach den Worten Christi ‘das tut ihr ihnen auch’ könnte es keinen Mord, keine Lüge, Habgier und keinen Krieg geben.« Der vollkommene Mensch konnte nicht von sehr unvollkommenen Aposteln erfunden werden.

Die Botschaft des Neuen Testaments

Die Kritik am Neuen Testament, es sei eine phantasievolle spätere Fälschung, ist unbegründet. Wenn dem aber so ist, warum wurde sie vorgebracht?

Angenommen, das Neue Testament wäre ein schlechtes Buch, warum werden dann 700 Seiten geschrieben, die es widerlegen sollen? Jedes Jahr erscheinen in der Sowjetunion gute und schlechte Romane. Niemand führt einen weltweiten Kreuzzug gegen einen schlechten Roman. Die Leser legen ihn von selbst beiseite. Die Linie der kommunistischen Partei ändert sich ständig. Bücher, die als großartig angesehen wurden, werden plötzlich verbannt. Wer hätte vor zwanzig Jahren gewagt, das Werk des großen Genies Stalin nicht in seiner Bibliothek zu haben? Doch eines Tages erging ein Befehl. Die Bücher verschwanden ganz einfach. Niemand widerlegte sie. Sie wurden in aller Stille zu Grabe getragen, als ob sie nie geschrieben worden wären. Dann begann Chruschtschow, seine etwas bescheidenere Sammlung von Artikeln und Reden zu veröffentlichen, gut ausgewählt, damit die Leser nicht daran erinnert würden, er sei einer von Stalins Schmeichlern gewesen. Auch diese Bücher verschwanden. Keine Widerlegungen. Keiner widerlegt die -zig Bände Trotzkis.

Warum wird ein solcher Kampf geführt, um das Neue Testament zu kritisieren und zu zerreißen, während es der Bevölkerung in der Sowjetunion gleichzeitig verboten ist, ein Exemplar davon zu besitzen, aufgrund dessen sie sich ihre eigene Meinung bilden könnte?

Der Grund dafür liegt darin, daß die Evangelien und das Neue Testament als Ganzes eine Botschaft von höchster Wichtigkeit für jeden Menschen enthalten. Können Sie sich ein gutes Essen ohne Koch vorstellen? Die Natur ist ein Festmahl: sie erzeugt Getreide, Kartoffeln, Milch, Fleisch und Früchte aller Art. Es gibt Sonnenschein und Regen, schöne Blumen und das fröhliche Gezwitscher der Vögel. Es gibt nützliche und schöne Dinge, die Ihren Körper befriedigen und Ihre Seele beglücken. Wer ist der Koch beim Festmahl der Natur? Es ist ein weiser Schöpfer, Gott.

Man erzählt sich die Geschichte eines Wissenschaftlers, der vom Labor nach Hause kam und von seiner Frau zum Essen gerufen wurde. Sie setzte ihm einen Salatteller vor. Da er Atheist war, sagte er: »Wenn Salatblätter, Salzkörner, Essig- und Öltropfen und Eischeiben seit ewigen Zeiten in der Luft herumgeflogen wären, hätte endlich zufällig ein Salat entstehen können.« — »Ja«, antwortete seine Frau, »aber nicht ein so schöner und gut angemachter wie meiner.« Atome, die sich zufällig vereinigten, hätten nicht ein so schönes Universum ergeben.

Das Atom ist geheimnisvoll. Das Leben ist geheimnisvoll. Die Wissenschaftler sind von der Entdeckung seiner Geheimnisse weit entfernt. Um wieviel geheimnisvoller ist erst Gott, der Schöpfer von Materie und Leben! Im Johannesevangelium steht geschrieben: »Niemand hat Gott je gesehen.« Als Mose ihn einst bat: »Laß mich deine Herrlichkeit sehen« (2. Mose 33, 18), erhielt er die kategorische Antwort: »Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht« (2. Mose 33, 20). Kein Philosoph kann ihn begreifen, aber sogar der einfachste Mensch kann ihn erfassen, so wie kein Wissenschaftler bis heute die Geheimnisse des Atoms begreift, und doch jeder mit Materie umgehen kann, die aus Atomen besteht.

Das Neue Testament berichtet uns von diesem Gott, wie die Natur auch.

Ich sprach einmal mit einem Mitglied der kommunistischen Partei. Es sagte mir in einem vertraulichen Moment: »Im Herbst betrachtete ich durchs Fenster einen kahlen Baum. Ich wußte, er würde im nächsten Frühjahr wieder voller Blätter und Knospen sein, und Vögel würden in seinen Zweigen zwitschern. Da betete ich das »Ich-weiß-nicht-Wer« oder das »Ich-weiß- nicht-Was« an, das mir Bäume, Getreide und Blumen gibt. Ich werfe schwarze Kohlen ins Feuer, und das Feuer verwandelt sie in schöne weiße Flammen. Ich bete die Kraft oder die Person an – ich weiß nicht, wer oder was es ist -, die unser Böses mit Gutem vergilt und manchmal häßliche Leben, Leben ehemaliger Verbrecher, in schöne Leben von Märtyrern für eine heilige Sache verwandelt. Ich kenne solche Menschen unter euch Christen.« Dieser kommunistische Offizier verstand Gott nicht, aber er hatte ihn erfaßt.

Es ist für das »Handbuch des Atheisten« ein leichtes, die primitiven Vorstellungen von Gott zu belächeln, wie wir ihn auf Ikonen sehen: den alten Mann mit weißem Bart, der auf einem Thron sitzt.

Christen werden als Kinder in einer kindlichen Art über Gott belehrt. Wenn sie älter werden, versäumen viele von ihnen, der biblischen Aufforderung nachzukommen und abzulegen, was kindisch ist (1. Kor. 13, 11). Sie bleiben bei diesen kindlichen Vorstellungen, über die die Atheisten sich leicht lustig machen können. Aber Gott ist anders als gewisse unreife Vorstellungen von ihm.

Die Ikonen sind sicherlich nicht lächerlicher als das Bild, das der große Physiker Nils Bohr vom Atom zeichnete. Das Atom ist anders, als wir es zeichnen können, und Gott ist anders als unsere Gedanken über ihn. Doch die Wissenschaft käme ohne ihre Näherungswerte nicht aus. Wir Christen brauchen ebenfalls menschliche Worte und menschliche Malereien, um unsere Gefühle über Gott auszudrücken. Thomas von Aquin, einer unserer größten Lehrer, schrieb: »Gott ist nicht bestehend, sondern Überdasein. Also ist er nicht verstehbar, sondern liegt über jedem Verstand.« Unser Verstand ist zu klein, als daß er das unendliche Sein umschreiben könnte; doch er kann es, wie gesagt, erfassen.

Ein Christ fragte einmal einen Atheisten, mit dem er durch die Wiesen streifte: »Wer hat all diese schönen Blumen gemacht?« — »Vergiß es!« war die Antwort. »Komm nicht noch einmal mit deinem dummen Gerede über Gott. Die Blumen existieren von selbst.« Der Christ beharrte nicht weiter darauf. Einige Tage später besuchte ihn dieser selbe atheistische Freund. In seinem Wohnzimmer hatte er ein schönes Blumengemälde hängen. Der Atheist fragte ihn: »Wer hat es gemalt?« Der Christ sagte: »Fang nicht mit religiösem Unsinn an! Niemand hat diese Blumen gemalt. Sie kamen von selbst auf das Bild. Die Natur machte den geschnitzten Rahmen. Dann sprang das Bild von selbst an die Wand, an einen Nagel, der zufällig dort war, von niemandem eingeschlagen. Das ist alles.« Der Atheist nahm den Scherz schlecht auf. Doch der Christ fragte: »Ist es logisch, zu glauben, diese drei Blumen auf dem Gemälde, die weder riechen noch leben, müßten von jemandem erschaffen worden sein, während die Millionen von lebenden Blumen in den Tälern und auf den Hügeln mit ihrem berauschenden Duft keinen Schöpfer haben sollen?«

Gott ist ein Geheimnis. Jesus lehrt uns sagen: »Unser Vater im Himmel« (Matth. 6, 9), nicht »Unser Vater, der du auf den Straßen gehst und von jedem an jeder Straßenecke gesehen werden kannst.« Er ist auf der Welt inkognito.

Stecken Sie einen Schmetterling mit einer Nadel an ein Brett, so haben Sie ihn getötet. Es ist kein Schmetterling mehr, sondern seine sterbliche Hülle. So können wir Gott auch nicht mit einer Definition festnageln. Wir geben ihm Namen, obgleich wir wissen, daß sie unzulänglich sind. Das Äußerste, das wir über ihn sagen können, ist, er sei der Eine, über dem es nichts Größeres geben könne.

Doch Gott offenbarte sich in der Person Jesu Christi, des Gottessohnes, der einst auf diese Erde kam. Von ihm berichtet das Neue Testament. Das Leben von Millionen Menschen wurde durch ihn verändert.

Falsch ist die Behauptung des »Handbuches des Atheisten«, Christi Lehre zerstöre die Lebensfreude. Der Freude zu entsagen, ist unchristlich. Die Ablehnung der Freude ist eine Ablehnung dessen, was wir Christen als die Schöpfung Gottes betrachten. Warum sollten wir das zurückweisen, was ein guter Vater uns gegeben hat? Das Alte Testament sah vor, der Mensch könne für kurze Zeit allen irdischen Freuden entsagen. Wenn diese Zeit um war, mußte er Gott als Sühne für die Sünde, Gottes wunderbare Gabe der Freude verschmäht zu haben, ein Opfer bringen (4. Mose 6, 2-16). Das Christentum bringt niemanden um die Freude. Es fügt im Gegenteil den rein irdischen Freuden himmlische Freuden hinzu. Welche größere Freude gibt es, als die zu lieben?

Akzeptieren Sie all diese unbewiesenen Falschheiten, die uns zur Last gelegt werden, nicht, besonders, wenn es christlichen Schriftstellern nicht erlaubt ist, darauf zu antworten. Die einfache Tatsache, daß die Atheisten uns mundtot machen, während sie Bücher schreiben, zeigt, daß sie unfair und daher nicht vertrauenswürdig sind.

Setzen Sie Ihr Vertrauen auf Gott! Dieser Gott leidet mit uns. Er teilt alle unsere Sorgen. Er opfert sich für uns. Er begehrt uns.

Marx und der historische Materialismus beraubten die Wirklichkeit ihrer eigentlichen Seele, Gott, und zerstörten sie so.

Die Vertrautheit mit Gott ist der Schlüssel zum tiefen Verständnis der Welt. Wir haben nicht die Wirklichkeit plus Gott, sondern die in die Schönheit Gottes gekleidete Wirklichkeit. Wir finden vergleichsweise auf einem Gemälde nicht eine Landschaft plus einen Sonnenuntergang; vielmehr sind alle Hügel, Täler und Bäume in die Farben der untergehenden Sonne getaucht. Das Neue Testament spricht in einer gewissen »Röntgenart« von Universum und Geschichte. Die Materialisten sehen nur das Äußere der Dinge. Die Gläubigen sehen alle äußerlichen Dinge plus das, was Universum und Geschichte beseelt, das Innere, Gott, der an seiner Schöpfung arbeitet und sich in seinen Handlungen als die Liebe manifestiert.

Gott sandte seinen eigenen Sohn, Jesus Christus, zu unserem Heil. Wie ein Bäcker Ihre Sorge um das Brot auf sich nimmt, wie der Bauer für Sie Gemüse pflanzt, der Schuhmacher Ihnen sein Erzeugnis anbietet und ein Professor Ihnen Ihre Unwissenheit nimmt und Ihnen über Jahrhunderte hinweg gesammelte Kenntnisse vermittelt, so nahm Jesus, der Sohn Gottes, der einzige, der nie eine Sünde beging, die Sorge um Sie auf sich. Er gibt Ihnen seine Gerechtigkeit. Sie werden wie ein neugeborenes Kind, wie ein Mensch, der nie gesündigt hat. Ihr Leben beginnt in Vereinigung mit Gott von neuem. Ihre Sündhaftigkeit nahm er auf sich.

Irgendwie haben Sie das Gefühl, Ihre Sünden seien sehr schwerwiegend gewesen. Sie brachten anderen Leid. Vielleicht wurden Blut und Tränen vergossen, und Sie sind daran schuld. Nun, er trug nicht nur Ihre Sünde, sondern auch die Strafe dafür. Er trug sie, als er am Kreuz auf dem Hügel Golgatha in der Nähe Jerusalems starb. Durch seine Wunden sind wir geheilt (Jes. 53, 5).

Im Neuen Testament heißt es: »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben« (Joh. 3, 16). Beachten Sie das Wort »alle«, sogar der Autor eines »Handbuches des Atheisten«, jedermann; sogar Menschen, die die schlimmsten Verbrechen begangen haben. Das Neue Testament lehrt uns, Jesus stehe an unserer Herzenstür und klopfe an. Wenn jemand ihn höre und ihm die Tür öffne, gehe er hinein und spreche mit ihm von Herz zu Herz (Offb. 3, 20).

Das Leben besteht nicht nur aus Arbeit für den Staat oder aus Essen, Trinken und sexuellen Freuden. Christus ist ein geistliches Wesen. Er möchte Sie befähigen, die Sünde, den Tod und die Hölle zu überwinden, und er wartet nur auf Ihre Entscheidung. Er verspricht nicht nur einen zukünftigen Himmel, sondern schon jetzt ein himmlisches Leben in Ihrer Seele.

Das Neue Testament erzählt uns, Christus, der Sohn Gottes, habe die Menschen so geliebt, daß er für seine Mörder betete, als er die Qualen des Kreuzes litt (Luk. 23, 34). Sie mögen ein Dieb gewesen sein. Christus starb zwischen zwei Dieben, und während er am Kreuz hing, rettete er einen von ihnen, der bereut hatte, für das Paradies (Luk. 23, 43). Er scheute weder Halunken noch Huren. Es war ihm eine große Freude, schwere Verbrechen zu vergeben.

Das Neue Testament wird von Atheisten verworfen, weil es die Liebe zum Leitprinzip des Lebens erklärt und weil es aus dem Herzen eines Menschen einen Winkel des Himmels macht. Der Verstand beginnt aufrichtig zu denken, weil Irrtümer im Leben oft nichts anderes als Mangel an Liebe sind. Wenn Sie einmal ernsthaft in den Spiegel der Wahrheit geblickt haben, der Christus ist, wird ein tiefes Mitgefühl für alle Menschen Ihre Seele erfüllen, und Sie werden wunderbar frei sein.

Der sowjetischen Bevölkerung ist es nicht erlaubt, die Botschaft des Neuen Testaments zu kennen, da diese sie mit Gott vereinigen würde. — Daher die heftigen, aber unbegründeten Angriffe. Doch für uns Christen, die wir einen tiefen Einblick in die großen Realitäten von Sünde und Vergebung haben, ist es leicht zu verstehen, warum unsere atheistischen Freunde vor dem Kreuz schaudern und warum sie sogar Bücher dagegen schreiben. Die Atheisten haben nämlich letztlich eine innere Schau, daß die Bibel die letzte Wahrheit enthält.

Stalin ist tot, doch nie wird ein Kommunist singen: »Stalin, Geliebter meiner Seele«, noch ist er gewillt zu singen: »Chruschtschow, mein Liebster«, und seine Nachkommen werden in hundert Jahren zu Ehren Breschnews nicht singen: »Ich brauch’ dich allezeit.«

Diese Lieder werden jedoch in aller Welt zu Ehren Jesu gesungen, der vor fast zweitausend Jahren gekreuzigt wurde. Trotz aller Versuche wird es den Kommunisten nie gelingen, diese Lieder im heiligen Rußland zum Schweigen zu bringen. Aber über sie wird man keine Lieder singen.

Respektlose Angriffe gegen die Bibel

Von der Kritik am Neuen Testament geht das »Handbuch des Atheisten« zur Kritik an der gesamten Bibel über.

Es tut uns leid, daß auch diese Angriffe vulgär und oberflächlich sind. Wir hätten etwas anderes erwarten können. Es gibt so etwas wie eine elegante, großzügige Form des Unglaubens.

So ist beispielsweise der Atheismus von Ludwig Feuerbach. Er glaubte nicht an Gott, wollte jedoch die Religion beibehalten, die den Menschen edel, liebreich und gerecht mache. Feuerbach nennt in »Das Wesen des Christentums« die Religion »heilig «, weil sie »die Überlieferung des ersten Bewußtseins« sei, das für ihn Kindheit bedeute. Ist es nicht schön, die Erinnerungen der Kindheit zu bewahren, fragt er.

Jesus hätte nichts dagegen eingewandt, die Religion kindlich zu nennen. Er lehrte uns, wir sollten wie die kleinen Kinder werden (Matth. 18, 3). Wir alle schätzen die Kindheitserinnerungen. Weshalb sollen wir sie so rigoros verbannen, wie die Kommunisten es tun? Tun sie es, weil sie an eine Zeit erinnert werden, in der ihre Seelen schöner waren als jetzt?

Wir empfehlen unseren Gegnern, »Die Messe des Atheisten« von Honore de Balzac zu lesen. Die Hauptperson ist ein atheistischer Chirurg, Desplein. Ein Wasserträger namens Bourgeat hatte dem sehr armen, hungrigen Studenten in christlicher Liebe durch harte Arbeit und persönliche Opfer geholfen, das Studium zu finanzieren, nach dessen Abschluß Desplein ein angesehener Arzt wurde.

Desplein war ein Ungläubiger. Doch als Bourgeat ihn auf dem Sterbebett bat, für sein Seelenheil Messen zu lesen, erfüllte ihm der atheistische Professor aus Dankbarkeit diesen Wunsch. Er sprach regelmäßig die gewünschten Gebete für den verstorbenen Katholiken, der ihm Gutes getan hatte.

Wir haben versucht, den Atheisten Verständnis entgegenzubringen, doch wir erwarten von gebildeten Atheisten, unserer Ansicht nach mit Recht, die Anerkennung ihrer kulturellen Abhängigkeit von der Bibel sowie zumindest ein anständiges Vorgehen bei ihren Angriffen.

Friedrich Nietzsche war der erste, der erklärte, Gott sei tot. Er war Hitlers Lieblingsphilosoph. Hitler zog die richtigen Schlüsse: Wenn Gott tot war, brauchte er, Hitler, keine Skrupel bei der Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen zu haben. Doch Nietzsche war seinem zukünftigen Anhänger sehr wenig ähnlich. Er sprach mit heiliger Ehrfurcht vom Tode Gottes. Nach der Verkündigung dieser Nachricht ging er in seinem Wahn in verschiedene Kirchen und sang das »Requiem aeternam Deo«, eine Hymne, die den toten Gott beklagt. Für Nietzsche war Gott tot. Für ihn war diese Schlußfolgerung die Quelle eines tiefen Dramas, und man spürt sein echtes Bedauern darüber, daß Gott nicht mehr lebte.

Bei vielen Atheisten ist es genau umgekehrt. Sie feiern den Tod Gottes. Sie brauchen sich nun nicht länger mit Gedanken über Gewissen, Aufrichtigkeit und Liebe zu quälen. Sie können tun, was ihnen gefällt. Dieser Atheismus ist unanständig.

R. Garaudy, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Frankreichs, schrieb: »Ohne zu verarmen, können wir nicht den grundlegenden Beitrag des Christentums vergessen.«

Lunatscharskij, ehemaliger Erziehungsminister der Sowjetregierung, schrieb: »Die Idee von Gott enthält immer etwas unendlich Schönes… Die Sorge wohnt immer im Menschen. Wer die Welt nicht auf religiöse Weise zu erfassen weiß, ist zum Pessimismus verurteilt…«

Die kommunistischen Atheisten beginnen die Geschichte des richtigen Denkens bei sich selbst, was zu katastrophalen Ergebnissen führt. Sie enden mit dem Außerachtlassen der Wahrheit, die die Menschheit sich im Laufe von Jahrtausenden aneignete, oder mit dem Versuch, sie auszulöschen. Folglich machen sie aus der Religion eine Karikatur. Wir bedauern dies. Karikaturen sind immer gefährlich für ihre Zeichner.

Eine junge Frau hatte einst eine Diskussion mit dem großen Satiriker Hogarth. Sie äußerte den Wunsch, das Karikieren zu erlernen, worauf Hogarth antwortete: »Ach, junge Dame, das ist keine beneidenswerte Gabe. Befolgen Sie meinen Rat, und zeichnen Sie nie Karikaturen. Ich habe es so lange gemacht, bis ich die Freude am Schönen verlor. Ich sehe jedes Gesicht nur in seiner Verzerrung. Ich habe nie die Befriedigung, das menschliche Gesicht als göttlich zu betrachten.«

Wer die Religion karikiert, befindet sich in derselben Lage. Im Zerrspiegel seines entstellten Verstandes scheinen sogar Engel teuflische Züge zu haben.

Solche Menschen sind sich nicht bewußt, daß mit der Nichtbeachtung der Bibel als wertloses Buch die gesamte berühmte Weltliteratur untergehen würde. Was bliebe von Dostojewski, Tolstoi, Milton, John Bunyan, Walter Scott und Anatole France? Tennyson sagte, das Buch Hiob sei das beste Gedicht, das er je gelesen habe. In seinen Werken zitiert er die Bibel 300 mal. Shakespeare entlieh über 500 Ideen und Sätze daraus. Byrons Gedicht »Dunkelheit« wurde vom Buch Jeremia inspiriert.

Sogar »Das Kapital« von Marx sowie seine anderen Schriften und auch die von Engels müßten abgeändert werden, da sie mit Verweisen auf die Bibel durchsetzt sind.

Nähme man die Bibel weg, wären die Werke von Michelangelo, Raphael, Leonardo da Vinci, Rembrandt und die vieler anderer großer Maler wie auch die berühmten Musikwerke von Bach, Beethoven, Mozart, Haydn, Brahms und anderen uns unverständlich.

Hören Sie auf das Zeugnis namhafter Männer!

William Gladstone, der viermal Premierminister von Großbritannien war, sagte: »Wenn ich gefragt werde, was für eine Medizin es für die tieferen Sorgen des menschlichen Herzens gäbe, was der Mensch zu seinem Fortkommen hauptsächlich als die Kraft ansehen solle, die ihm in Schwierigkeiten Halt geben und ihn befähigen könne, seine unausweichlichen Nöte zu bewältigen, muß ich auf etwas hinweisen, das in einem bekannten Lied ,die alte, alte Geschichte’ genannt wird, die in einem alten Buch erzählt wird, welches das größte und beste Geschenk ist, das der Menschheit je gegeben wurde.« Er meinte damit die Bibel.

Jean-Jacques Rousseau schreibt: »Wie unbedeutend, wie verachtenswert sind die Worte unserer Philosophen mit all ihren Widersprüchen im Vergleich zur Heiligen Schrift. Ist es möglich, daß ein Buch, das gleichzeitig so einfach und doch so vollendet ist, lediglich die Worte von Menschen enthalten kann?«

Goethe schreibt: »Ich bin überzeugt, daß die Bibel immer schöner wird, je mehr man sie versteht.«

Heinrich Heine, der sehr weit davon entfernt war, ein religiöser Enthusiast zu sein, schreibt über die Bibel: »Welch ein Buch, groß und weit wie die Welt, wurzelnd in die Abgründe der Schöpfung und hinaufragend in die blauen Geheimnisse des Himmels, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Verheißung und Erfüllung, Geburt und Tod, das ganze Drama der Menschheit, alles ist in diesem Buche!«

Die englische und die deutsche Sprache wären in gewisser Hinsicht nicht das, was sie sind, wenn sie nicht von der Bibel geprägt worden wären. Sie ist das eine Buch, mit dem bereits Hunderten von Völkern und Stämmen das erste Alphabet vermittelt worden ist. Sie ist das erste Buch, mit dem sie lesen lernten.

Garibaldi, der italienische Patriot, der sein Vaterland politisch befreite und einigte, sagte von der Bibel: »Dies ist das Geschütz, das Italien befreien wird.«

Nachstehend die Zeugnisse einiger der bekanntesten Präsidenten Amerikas:

Washington: »Vor allem hatte das reine und unbeugsame Licht der Offenbarung einen erleuchtenden Einfluß auf die Menschheit und mehrte die Wohlfahrt der Gesellschaft.«

Lincoln: »Ich suchte stets bei Gott Rat und unterbreitete ihm meine Pläne; ich schlug nie einen Weg ein, ohne, soweit es mir möglich war, seiner Zustimmung sicher zu sein. Ich wäre der vermessenste Dummkopf auf dieser Erde, wenn ich auch nur einen Augenblick glaubte, ich könnte die Pflichten, die auf mich zukommen, seit ich an dieser Stelle bin, ohne die Hilfe und Erleuchtung des Einen erfüllen, der weiser und stärker ist als andere.«

Grant: »Haltet an der Bibel als dem Anker eurer Freiheit fest! Schreibt ihre Gebote in euer Herz und praktiziert sie in eurem Leben! Dem Einfluß dieses Buches verdanken wir jeglichen Fortschritt der wahren Zivilisation, und wir müssen es auch in Zukunft als unsere Richtschnur betrachten.«

Garfield: »Erwählt den unsterblichen Jesus zu eurem ewigen Freund und Helfer! Folgt ihm nicht nur als einem Nazarener, dem Mann von Galiläa, sondern auch als einer ewigen geistlichen Person voller Liebe und Barmherzigkeit, die euch in Leben, Tod und Ewigkeit zur Seite stehen wird! Die Hoffnungen der Welt sind falsch, doch wie die Rebe am Weinstock, so lebt Christus im Christen, und er wird nie sterben.«

McKinley: »Wir müssen Handelnde und nicht nur Zuhörer sein. Um nach dem Wort handeln zu können, müssen wir zwingenderweise zuerst das Wort hören; und dennoch genügt es nicht, nur in die Kirche zu gehen. Wir müssen uns mit der Bibel beschäftigen, es aber nicht dabei bewenden lassen. Wir müssen sie im täglichen Leben anwenden.«

Wilson: »Wenn jeder in den Vereinigten Staaten jeden Tag ein Kapitel der Bibel lesen würde, verschwänden die meisten unserer nationalen Probleme.«

Wie aber äußern sich die Kommunisten?

Engels schreibt: »Luther hatte der plebejischen Bewegung ein mächtiges Werkzeug in die Hand gegeben durch die Übersetzung der Bibel. … Die Bauern hatten dies Werkzeug gegen Fürsten, Adel, Pfaffen, nach allen Seiten hin, benutzt.«

Stalin und Mikojan waren beide Schüler an einem Priesterseminar gewesen. Letzterer hatte sogar einen theologischen Titel. Die Bibel war der Grundstein ihrer Bildung. Chruschtschow bekannte öffentlich, er habe anhand der Bibel lesen gelernt.

Die Grundidee jeder sozialistischen Verfassung — »Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen« — stammt wörtlich aus der Bibel (2. Thess. 3, 10). Die Idee des Kommunismus stammt aus der Bibel, die uns sagt:

»Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein.

Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wie viel ihrer waren, die da Äcker oder Häuser hatten, die verkauften sie und brachten das Geld des verkauften Guts und legten es zu der Apostel Füßen; und man gab einem jeglichen, was ihm not war« (Apostelgeschichte 4, 32—35).

Die ersten Jünger Jesu lebten unter dem Kommunismus, einem Kommunismus jedoch, der auf Liebe und freiem Willen beruhte. Niemand wurde unter Druck gesetzt, und es wurde auch niemand enteignet. Die Liebe trieb jeden dazu, mit seinem Bruder zu teilen. Trotz der Verschiedenartigkeit ist auch der heutige Kommunismus biblischen Ursprungs.

Ich kann verstehen, daß ein Mensch nicht an die Bibel glaubt. Dies sollte ihn aber nicht davon abhalten, sein Erbe zu respektieren. Fällt es nicht ins Gewicht, daß die Bibel das erste in Europa gedruckte Buch war? Fällt es nicht ins Gewicht, daß christliche Missionare die Eingeborenen in Afrika vom Kannibalismus abbrachten, sie lesen und sich wie zivilisierte Menschen benehmen lehrten?

Ein ehemaliger Kannibale sagte einmal zu einem kommunistischen Propagandisten: »Was? Dieses Buch ist nicht wahr? Ich nehme es in mein Haus, setze mich hin und lese es, und es läßt mein Herz vor Freude zerspringen. Wie kann es eine Lüge sein? Ich war ein Menschenfresser, ein Säufer, Dieb und Lügner, und dieses Buch sprach zu mir und machte aus mir einen neuen Menschen. Nein, dieses Buch ist keine Lüge.«

Kommunistische Propagandisten wären in vielen Teilen der Welt von Eingeborenen verspeist worden, hätten die Missionare ihnen nicht zuerst die christliche Religion vermittelt. Diese Propagandisten sollten bei der Verbreitung des Atheismus dem Christentum für die Schaffung der Zivilisation und der Möglichkeit freien Wirkens dankbar sein.

Ein ehrenhafter Atheist verneigt sich in Dankbarkeit vor dem Christentum, dem die Menschheit so vieles verdankt. In die Quelle zu spucken, aus der Sie und die ganze zivilisierte Welt getrunken haben, ist völlig falsch.

Lehrt das Christentum Unterwürfigkeit gegenüber tyrannischen Obrigkeiten?

Die Worte Jesu »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist« (Matth. 22, 21) sind für die Autoren des »Handbuches des Atheisten« Beweis genug für die Behauptung, Jesus habe die Unterwürfigkeit gegenüber dem, was wir heute Kolonialherrscher nennen würden, gelehrt. Zunächst einmal sagte Jesus diese Worte nicht zu seinen Jüngern, sondern zu seinen schlimmsten Gegnern, den Pharisäern, deren ganzes Leben eine Verhöhnung der Religion war. Er sagte zu ihnen: »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« Er war sicher, seine Gegner würden in diesem Bestreben bald herausfinden, daß für Gott nicht mehr viel übrigbliebe, wenn sie verrückten Herrschern gefällig wären (viele römische Kaiser waren verrückt).

Die Jünger Jesu müssen die Bedeutung dieser Worte, die schon so oft mißbraucht worden sind, richtig verstanden haben.

Wenn jemand unehrlich war und den Schaden bei den Betrogenen wiedergutmachen möchte, muß er zuerst so genau wie möglich feststellen, was er schuldet, und es dann zurückzahlen. Was schuldete ein Jude dem Kaiser? Was schuldet ein Tscheche Tschernenko oder Gorbatschow? – Nichts.

Sogar in Rom gehörte dem Kaiser rechtmäßig nichts. Julius Cäsar, ein siegreicher römischer General, stürzte bei seiner Rückkehr von einem Feldzug in Gallien die Republik mit militärischer Macht. Er war also kein rechtmäßig eingesetzter Herrscher. Seine Nachfolger waren Tyrannen, von denen die meisten eher in ein Irrenhaus gehört hätten als auf einen Thron. Diese Tyrannen beraubten die Bevölkerung des Römischen Reiches ihrer Freiheit. Sie gaben ihr nichts dafür.

Noch weniger gehörte in Palästina etwas dem Kaiser. Gaius Pompejus nutzte die Spaltung innerhalb der Juden aus, besetzte dieses kleine Land und zwang ihm eine Herrschaft des Terrors und der Korruption auf.

Cäsar baute nie eine Straße in Palästina. Die Juden verrichteten die Arbeit. Er baute keine Häuser. Er pflanzte keinen Baum. »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist«, ist ein revolutionärer, patriotischer Ausspruch, der dem Usurpator im Grunde jegliches Recht abspricht.

Wenn einem aufrichtig denkenden Bürger in der Sowjetunion während der Invasion der Nationalsozialisten gesagt worden wäre: »Gib Hitler, was Hitlers ist, und Gott, was Gottes ist«, hätte er diese Worte folgendermaßen verstanden: »Wirf Hitler und seine Truppen hinaus, weil ihm in der Sowjetunion nichts gehört. Er hat nicht einmal das Recht, sich hier aufzuhalten.« Dasselbe würde für den sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei, in Afghanistan usw. gelten.

Die römische Obrigkeit und die jüdischen Hohenpriester, die deren Strohmänner waren, wandten auf die Worte Jesu offensichtlich meine Interpretation an. Der Beweis dafür ist, daß sie ihn nicht als treuen Bürger des Reiches betrachteten, sondern als Rebellen, und ihn kreuzigten.

Das »Handbuch des Atheisten« verfälscht die Wahrheit, wenn es die Autoren des Neuen Testaments als Schmeichler der römischen Obrigkeit darstellt. »Es enthält keine Anklagen gegen die römische Regierung«, sagen sie. »Die ganze Schuld an der Kreuzigung wird den Juden zugeschoben, während Pilatus als passiver Beobachter beschrieben wird.«

Es ist einfach, eine solche Behauptung in einem Land aufzustellen, in dem Bibeln eine Seltenheit sind. In der Apostelgeschichte 4, 27 ist zu lesen: »Wahrlich ja, sie haben sich versammelt über deinen heiligen Knecht Jesus, welchen du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und dem Volk Israel.« Der jüdische Mob forderte, von Priestern angestachelt, die Kreuzigung Jesu. Aber Pilatus fügte von sich aus Grausamkeit um Grausamkeit hinzu. Wir wissen dies aufgrund der Worte: »Da nahm Pilatus Jesum und geißelte ihn« (Joh. 19, 1). Der Text deutet die völlige Erniedrigung eines römischen Statthalters an, der Freude daran hat, einen Gefangenen eigenhändig auszupeitschen, von dessen Unschuld er offensichtlich überzeugt ist. Dann sagt das Evangelium ganz klar, Pilatus habe ihn ausgeliefert, damit er gekreuzigt würde (Joh. 19, 6).

Mit welchem Recht behaupten die Kommunisten, die ersten Christen hätten, da sie der römischen Obrigkeit untertänig gewesen seien, Pilatus nur als passiven Beobachter beschrieben? Nun, mit dem »Recht« von Usurpatoren mit einem Monopol bei der Veröffentlichung von Büchern, mit Verboten gegen Christen und der Verweigerung des Rechts auf freie Meinungsäußerung.

Johannes ist nicht der einzige, der den römischen Statthalter anklagt. Alle Evangelisten stellen ihn als Gefolgsmann dar. Matthäus schreibt: »Jesum ließ er geißeln und überantwortete ihn, daß er gekreuzigt würde« (Matth. 27, 26). Markus schreibt: »Pilatus aber geißelte Jesum und überantwortete ihn, daß er gekreuzigt würde« (Mark. 15, 15). Lukas zitiert Pilatus wörtlich: »Ich finde an dem Menschen der Sachen keine, deren ihr ihn beschuldigt;… Darum will ich ihn züchtigen« (Luk. 23, 14-16).

Die Verfasser des Neuen Testaments beschönigten die Beteiligung der Römer an der Kreuzigung Jesu nie. Sie beteiligten sich an der Schuld. Spätere Kirchenhistoriker berichten pflichtbewußt, wie römische Herrscher Christen den wilden Tieren vorwerfen ließen und sie allen möglichen Greueltaten aussetzten.

Wahre Christen waren zu allen Zeiten weit davon entfernt, sich Tyrannen zu unterwerfen, wie ihnen vorgeworfen wird, und sie anerkannten sie nie als ihre rechtmäßigen Herrscher. Auch hielten sie es nicht für ihre Pflicht, ihnen Gehorsam zu leisten. Das erste uns bekannte Buch gegen das Christentum ist »Das wahre Wort« von Celsus. Es stammt etwa aus dem Jahr 175 n. Chr. Es wirft den Christen vor, den Kaiser nicht zu verteidigen, weder für ihn zu kämpfen noch an seinen militärischen Expeditionen teilzunehmen und auch nicht für ihn zu arbeiten. Christen in der Sowjetunion betrachten die kommunistischen Führer als ihre Unterdrücker. Sie werden von den Jüngern Christi keine Schmeicheleien zu hören bekommen.

Das »Handbuch des Atheisten« zitiert eine weitere Schriftstelle, um zu zeigen, das Christentum lehre die blinde Unterwerfung unter ungerechte Herrscher, und es sei deshalb ein Hindernis für den Fortschritt der Humanität. Der Text steht in Römer 13, 1-2: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen.«

Doch dasselbe Kapitel definiert, was ein Christ unter der »Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat« und der er Gehorsam schuldet, versteht: Nur der verdient diesen Namen, der als Diener Gottes diejenigen lobt, die Gutes tun, und über diejenigen zornig ist, die Böses tun (Verse 3 und 4). Wenn ein Herrscher das Gegenteil tut, wenn er das Gute bestraft und das Böse belohnt, können wir ihn nicht länger als eine von Gott eingesetzte Autorität betrachten.

Bibelverse wie die vorhergehenden veranlaßten Christen, der Tyrannei zu widerstehen.

Savonarola wurde im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er gesagt hatte: »Es gibt nichts, was dem Tyrannen verhaßter wäre als der Dienst Christi und das rechte christliche Leben, denn es ist geradezu sein Gegenteil, und ein Gegenteil sucht das andre zu vertreiben.«

Ich zitiere aus einem Gespräch zwischen der schottischen Königin Maria Stuart und dem protestantischen Reformator John Knox:

 Maria Stuart: »Ihr habt das Volk gelehrt, einen anderen Glauben anzunehmen, als ihn seine Fürsten erlauben können. Wie kann diese Lehre von Gott sein, wo doch Gott den Untertanen gebietet, ihren Oberen zu gehorchen?«

Knox: »Hoheit, da die rechte Religion weder ihre ursprüngliche Kraft noch ihre Autorität von weltlichen Fürsten, sondern allein von dem ewigen Gott bekam, sind die Untertanen nicht daran gebunden, ihre Religion nach den Gelüsten ihrer Fürsten zu gestalten… Wenn die Nachkommen Abrahams die Religion des Pharaos angenommen hätten,… welche Religion hätte in der Welt bestanden? Oder wenn alle Menschen in den Tagen der Apostel die Religion der römischen Kaiser ausgeübt hätten, welche Religion wäre auf dem Erdboden zu finden gewesen?«

Maria Stuart: »Ja, aber keiner dieser Männer erhob das Schwert gegen seine Fürsten.«

Knox: »Und doch, Hoheit, könnt Ihr nicht leugnen, daß sie widerstanden. Denn wer nicht gehorcht, … widersetzt sich irgendwie.«

Maria Stuart: »Doch widersetzten sie sich nicht mit dem Schwert.«

Knox: »Hoheit, Gott hatte ihnen die Kraft und die Mittel dazu nicht gegeben.«

Maria Stuart: »Denkt Ihr, daß Untertanen, die solche Macht haben, sich ihren Fürsten widersetzen sollen?«

Knox: »Wenn die Fürsten ihre Grenzen übertreten, Hoheit,… wird ihnen ohne Zweifel widerstanden, sogar mit Gewalt. Was, wenn ein Vater in seinem Wahn seine eigenen Kinder umbringen wollte? Sollte man ihn nicht ergreifen und ihm das Schwert oder die Waffen gewaltsam entreißen? So ist es auch mit Fürsten, Hoheit, die die Kinder Gottes, die ihnen untertan sind, umzubringen gedenken. Ihr blinder Eifer ist nichts als eine wahnsinnige Raserei… Deshalb ist es nicht Ungehorsam gegen Fürsten, ihnen das Schwert wegzunehmen, ihre Hände zu binden und sie ins Gefängnis zu werfen, bis sie wieder bei klarem Verstand sind, sondern nur Gehorsam, weil es mit dem Willen Gottes übereinstimmt.«

Welcher Kommunist wagte so mit Stalin zu sprechen?

Die Bibel inspirierte Lincoln und Wilberforce, für die Abschaffung der Sklaverei zu kämpfen. Marx anerkannte in seinem »Kapital« die Rolle des Christen Shaftesbury bei der Einführung von Gesetzen zum Schutze der Arbeit in England. Ein russischer Christ, Graf Lew Tolstoi, sprach dem Zaren jede Autorität ab. Thomas Jefferson, Präsident der Vereinigten Staaten, schrieb: »Ich habe vor dem Altar des ewigen Gottes jeder Tyrannei über die Menschen ewige Feindschaft geschworen«; und »Rebellion gegen Tyrannen ist Gehorsam gegen Gott.«

Lincoln schrieb: »Wenn die Sklaverei nicht falsch ist, ist nichts falsch.«

Emerson schrieb: »Wenn du eine Kette um den Hals eines Sklaven legst, schlingt sich ihr Ende von selbst um den deinen.« Emersons Worte erwiesen sich als prophetisch. Die sowjetische kommunistische Partei legte ihren politischen Gegnern eine Kette um den Hals: zuerst den Monarchen, dann den Grundbesitzern, den Kapitalisten, den oppositionellen Sozialisten, den nationalistischen Führern der russischen Nation und den unterdrückten Völkern, wie den Ukrainern, Weißrussen und Grusiniern. Doch dann schlang sich das andere Ende der Kette auch um den Hals der Kommunisten. Genosse Chruschtschow sagte dies in seiner Rede auf dem zwanzigsten Parteikongreß. Er wies darauf hin, Stalin habe bei seinen berüchtigten Säuberungsaktionen fast alle Mitglieder des Zentralkomitees liquidieren lassen.

Das Christentum steht, im Gegensatz zum Kommunismus, nicht auf der Seite der Sklaverei.

Lincoln sagte in seiner Rede vor dem Kongreß am 1. Dezember 1862: »Indem wir den Sklaven die Freiheit geben, geben wir den Freien die Freiheit.« Nach dem Zweiten Weltkrieg befreiten christliche Nationen alle ihre Kolonien. Auf der anderen Seite unterjochte die Sowjetregierung die baltischen Völker, die Ungarn und die Tschechen. Die chinesischen Kommunisten versklavten Tibet.

Ich empfehle meinen atheistischen Freunden, das alte Sprichwort zu beachten: »Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.« Die Kommunisten täten besser daran, die Sklaverei nicht zu erwähnen. Ich selbst war Sklave in einem kommunistischen Lager.

Weshalb aber schafften die ersten Christen die Sklaverei nicht ab? Sie wurden verfolgt. Sie hatten keine Macht im Staat. Die meisten waren selbst Sklaven. Erst kurze Zeit zuvor waren der große Sklavenaufstand unter Spartakus blutig niedergeschlagen und Zehntausende von Sklaven getötet worden. Nur Narren rebellieren, wenn der sichere Ausgang der Rebellion eine Niederlage ist.

Gott erschien auf dem Berg Sinai, um uns die Zehn Gebote zu geben. Die Einleitung dazu lautet: »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause, geführt hat« (2. Mose 20,2). Als er sich seinem Volk vorstellt, charakterisiert er sich lieber als Sklavenbefreier und nicht als den Schöpfer des Himmels und der Erde. Das ist unser Gott! . . .

Lesen Sie, was dieselben Autoren in einem anderen Teil ihres Buches zu sagen haben: »Die Führer der Reformation übersetzten die Heilige Schrift in die Sprachen verschiedener Völker. Große Volksmassen, denen die Bibel zum ersten Mal zugänglich war, entdeckten in einigen ihrer Thesen sogleich eine Rechtfertigung ihres Kampfes um soziale Gleichheit.«

Da haben wir es: »Die Bibel rechtfertigt den Kampf um soziale Gleichheit.« — »Die Bibel lehrt Sklaverei und Unterwerfung unter Tyrannen.« Zwei Behauptungen derselben Autoren in ein und demselben Buch!

Die Akademiemitglieder, die das »Handbuch des Atheisten« verfaßt haben, mögen denken, was sie wollen. Ihre Vorgesetzten wissen es besser. Sie wissen, daß Christen Diktatoren gegenüber nicht unterwürfig sind. Sie haben dies bewiesen, indem sie Millionen unserer Glaubensbrüder umbrachten und noch immer Zehntausende unserer Mitchristen gefangenhalten.

Atheisten sollten die Unterwerfung unter grausame Herrscher besser nicht erwähnen. Vergötterten sie nicht Stalin, den sie nun als den größten Massenmörder der Geschichte verdammen? Mitglieder einer Akademie der Wissenschaften können nicht sehr jung sein. Sie müssen also gestern noch zu Stalins Bewunderern gehört haben, sonst wären sie heute nicht mehr am Leben und könnten ihn folglich nicht verurteilen.

Ich war unter Stalin und seinen Nachfolgern im Gefängnis. Hätte die Untergrundkirche Rußlands nicht ein größeres Recht, über die Opposition gegen die Tyrannei zu sprechen als die Atheisten? Was ist über die Vergötterung eines anderen Mörders, Mao Tse-tung von Rotchina, zu sagen? Chinesische Kommunisten, alles Atheisten, fügten sich ihm. Millionen chinesischer Christen wurde umgebracht, weil sie es vorzogen, zu sterben, als sich zu fügen.

Wahre Christen waren und sind Kämpfer für die Freiheit. Christen als eine Gruppe von Speichelleckern gegenüber Tyrannen zu bezeichnen, dient nur dazu, sie lächerlich zu machen. Was die Atheisten also ablehnen, ist nicht das Christentum, sondern sein Zerrbild.

Ein himmlisches oder ein irdisches Paradies

Das »Handbuch des Atheisten« zitiert die Aussage von Friedrich Engels, die Hoffnung des Christentums sei auf den Himmel, das ewige Leben nach dem Tod, gerichtet.Seiner Meinung nach will das Christentum in dieser Welt eine soziale Veränderung nicht herbeiführen. Im Gegensatz dazu sei die kommunistische Bewegung auf die Befreiung aller werktätigen Menschen auf Erden ausgerichtet. Dies ist eine reine Erfindung.

Es stimmt nicht, daß das Christentum nur ein himmlisches Ziel hat. Jesus lehrte uns zu beten: »Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel« (Matth. 6,10). In Johannes 3,12 erinnert er uns: » … wenn ich euch von irdischen Dingen sage,…«

Als zu Beginn des Lukasevangeliums die Leute Johannes den Täufer fragten, was sie tun sollten, antwortete er ihnen nicht: »Jaget dem ewigen Leben nach!« Die Antworten des Täufers waren sehr irdisch: »Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat; und wer Speise hat, der tue auch also.« Zu den Zöllnern sagte er: »Fordert nicht mehr, denn gesetzt ist.« Zu den Soldaten sagte er nicht: »Sucht den Himmel«, sondern »Tut niemand Gewalt noch Unrecht und lasset euch genügen an eurem Solde«, der höher war als der Lohn der Durchschnittsbevölkerung (Luk. 3,11-14).

Jesus trieb Händler mit der Peitsche aus dem Tempel (Joh. 2, 15). Er klagte die Schriftgelehrten und Pharisäer öffentlich an, die Häuser der Witwen zu fressen (Matth. 23, 14). Zu einem reichen jungen Mann sagte er: »Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen« (Matth. 19,21).

Das Christentum sieht auch eine soziale Veränderung in dieser Welt vor. Es ist eine seltsame Tatsache, daß Mitglieder der Sowjetregierung selbst sagen, sie müßten den wirtschaftlichen Stand von Ländern mit christlichem Erbe, wie beispielsweise der Vereinigten Staaten von Amerika, erreichen und übertreffen. Demnach führen die letzteren im Schatten des Christentums wohl ein wesentlich reicheres Leben in dieser Welt als die Sowjetbürger.

In Amerika und anderen westlichen Ländern können Arbeiter im eigenen Auto zur Kirche oder zu Streikposten für höhere Löhne fahren. In der Sowjetunion besitzen Arbeiter nicht einmal ein Fahrrad, mit dem sie zu den kommunistischen Veranstaltungen fahren könnten, bei denen keiner fehlen darf.

Der Reichtum und die Freiheit des Westens sind nicht ohne Kampf erreicht worden. Wären die Vorwürfe richtig, die Engels dem Christentum macht, hätte dieser Kampf nicht stattgefunden. Engels schrieb:

»Die sozialen Dogmen der Evangelien stellen einen passiven religiösen Widerstand gegen die Ungerechtigkeit dar, eine Revolte auf den Knien, was in Wirklichkeit einer Rechtsprechung der Unterdrückung gleichkommt, an erster Stelle der Rechtfertigung der ursprünglichen sozialen Ungerechtigkeit des Altertums — der Sklaverei. Das Christentum war nicht die Ideologie unterdrückter Menschen, die sich an einen revolutionären Kampf wagten, sondern die Ideologie unterdrückter Menschen, die jede Hoffnung auf den Kampf verloren hatten und die im Gebet und in der Hoffnung auf eine wundersame Erlösung einen Ausweg suchten.«  – Dies ist irreführend.

Die Hauptlehre des Evangeliums ist, ein Christ müsse dem Beispiel Christi folgen. Stand Christus selbst der Ungerechtigkeit passiv gegenüber? Was dachten die Händler, die mit der Peitsche hinausgejagt wurden, über seine Haltung? War es passiver Widerstand, als er den Priestern und Pharisäern im Tempel entgegentrat und sie Otterngezüchte und Heuchler nannte (Matth. 12, 34)?

Ist das »Magnifikat«, der Gesang der Jungfrau Maria, ein Lied der Resignation? Sie sagt, ihr Sohn werde die Mächtigen von ihrem Thron stürzen und die Niedrigen erhöhen. Er werde den Hungrigen gute Gaben geben und die Reichen mit leeren Händen wegschicken (Luk. 1, 46-55). Das klingt nicht nach sanftmütiger Unterwerfung gegenüber Ausbeutern.

Die Weisheit lehrte die Jünger Christi, sich passiv und sanftmütig zu verhalten, wenn keine Hoffnung auf den Sturz einer Tyrannei bestand. Doch wenn die Voraussetzungen für einen solchen Umsturz günstig waren, haben Christen stets gekämpft.

Als sich die Bauern zur Zeit der Reformation gegen die Grundbesitzer erhoben, waren ihre Hauptargumente religiöser Art. Ihre Revolutionslieder lauteten: »Als Adam pflügte und Eva spann, wer war da der Edelmann?« – Und »Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.«

Als in England die Bewegung des industriellen Proletariats ins Leben gerufen wurde, sangen die Chartisten: »Britannias Söhne, obgleich ihr Sklaven, Gott, euer Schöpfer, machte euch frei; Leben und Freiheit war’n seine Gaben, doch macht nie er einen Sklaven.«

Die ersten, die die Demonstrationen organisierten, die in Rußland zur Revolution von 1905 führten, waren nicht unsere kommunistischen Freunde, sondern christliche Arbeiter unter der Leitung eines Priesters Gapon. Die Kommunisten profitierten davon und hängten den Priester später.

Das Christentum ist so revolutionär wie der Kommunismus, doch unsere Revolutionen unterscheiden sich von den seinigen. Kommunistische Revolutionen beginnen mit dem Blutvergießen ihrer Gegner, Unschuldiger oder anderer. Bald wird der Aderlaß zur Gewohnheit, ja zum Vergnügen, und am Ende haben wir eine schlimmere Tyrannei als die, die gestürzt wurde. Lenin schrieb einst: »Der Terror und die Tscheka sind unbedingt notwendig.«

Zar Nikolaus II. hätte den Terror nie zu den absoluten Notwendigkeiten der Politik gezählt. Wie viele Menschen brachte er um? Wie viele tötete Kerenskij? Fragen Sie sich selbst, wie viele Menschen Stalin umbringen ließ. Wahrscheinlich war er es, der Lenin, der ihm die Technik des Terrors beigebracht hatte, vergiftete. Danach ließ er beinahe alle engen Freunde Lenins umbringen.

Heute noch sterben unzählige Sowjetbürger an Unterernährung und Überarbeitung in den Konzentrationslagern Rußlands. Der Kommunismus tötete Millionen Menschen in Rotchina. Der dortige Terror wurde sogar von sowjetischen Zeitungen bestätigt. In Polen erschossen Gomulka und Jaruselskij in Ausübung der Diktatur des Proletariats Proletarier. Kommunistische Revolutionen sind immer negativ und zerstörerisch.

Wir Christen sind in einem ganz anderen Sinn revolutionär. Christen gebrauchen vor allem das Schwert des Geistes, das Sünde töten kann, ohne den Sünder umzubringen.

Mit dem Schwert des Geistes korrigierten Christen viele Mißstände. Wo christliche Zivilisation herrscht, sind die Menschen frei; sie haben sogar die Freiheit, Atheisten zu sein. Ich fordere meine Gegner auf, mir den Namen eines einzigen Menschen zu nennen, der in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien oder in Westdeutschland wegen seiner atheistischen Gesinnung im Gefängnis ist. In kommunistischen Ländern sind jedoch Millionen meiner Glaubensbrüder in Gefängnisse gesperrt oder umgebracht worden. Wer hat für die Freiheit gekämpft und sie erlangt – Atheisten oder Christen?

Christen schließen die Notwendigkeit der Rebellion gegen Tyrannei nicht aus. Wenn Tyrannen sie durch ihre Unmäßigkeit zur Rebellion zwingen und die Gelegenheit dazu günstig ist, wird ihr Ziel immer sein, die Tyrannei durch ein politisches System zu ersetzen, das Frieden und Gerechtigkeit unterstützt, wogegen Marx seine »permanente Revolution« befürwortete. Permanente Revolution wofür? Revolution um der Revolution willen? Nie ein erreichbares Ziel? Nicht einmal die Utopie eines zu erreichenden Ziels? Das ist reiner Sadismus.

Christen vergessen nie, daß der erste Rebell der Teufel war. Sie greifen nicht voreilig zur Rebellion, nicht einmal zur Rebellion gegen das kommunistische Regime. Sie interessieren sich für irdische Schicksale, sie haben jedoch auch höhere als nur irdische Ziele. Menschen sind wie Frösche, die auf dem Grund eines dunklen Brunnens leben, von dem aus sie nichts von der Außenwelt sehen können. Gläubige sind Menschen, die, obwohl sie unter solchen Umständen leben, eine Lerche singen hören. Und Wunder aller Wunder — sie verstehen das Lied! Es spricht von Sonne, Mond und Sternen, von baumbewachsenen Bergen und Hügeln und einem wunderschönen See. Sie glauben an dieses Lied. Sie haben die Versicherung, daß es ein himmlisches Paradies gibt.

In diesem Glauben kämpfen Christen für die Gerechtigkeit in dieser Welt und streben gleichzeitig nach dem himmlischen Paradies.

Gibt es einen Gott?

Meine Gegner wollten mit ihren Argumenten einen bestimmten Kurs verfolgen. Ich bin deshalb mit ihnen gegangen. Ich diskutierte über ihre Argumente.

Doch jetzt möchte ich mich auf die Hauptfrage, um die es zwischen Atheisten und Christen geht, konzentrieren: Gibt es einen Gott, den man anbeten soll, auf den Verlaß ist, der einen beschützt und tröstet, oder nicht?

Nach der Lehre des französischen kommunistischen Theoretikers R. Garaudy ist nichts größer als der Mensch. Garaudy schreibt: »Uns Atheisten ist nichts versprochen, und niemand erwartet uns.« In der Tat traurige Worte! Atheisten ist nicht einmal die treue Freundschaft ihrer eigenen Genossen versprochen. Garaudy wurde aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, nachdem er ihr sein Leben lang gedient hatte. Niemand wartete darauf, ihm eine helfende Hand zu reichen, als er in Not gekommen war. Er wurde allein gelassen.

Ein junger Komponist war arm und mußte in einem gemieteten Zimmer leben. Ein Freund ermutigte ihn: »Wenn du stirbst, wird man an der Mauer dieses Hauses eine Inschrift anbringen.« Der Komponist freute sich: »Meinst du wirklich?« – »Sicher«, war die Antwort. »Die Inschrift wird lauten: Zimmer zu vermieten.« Garaudy kann nach seinem Tod nicht mit mehr rechnen. Und sogar in diesem Leben schuf sein Ausschluß aus der Partei lediglich für einen anderen einen Platz, der wie er auch betrogen werden wird.

Der Mensch ist Gott. Das ganze kommunistische Bekenntnis atmet diesen Glauben.

Angesichts dieses Trugbildes schrieb der sowjetische Untergrunddichter I. Gabaj die folgenden Verse:

Hiobs verspätetes Glaubensbekenntnis

Ich bin mein eigener Gott. Doch welch ein schwacher, unberechenbarer Gott,
Unvernünftig, wahnsinnig und kraftlos.
Bewahre Gott, daß einer solch einen Gott liebe
Und sei wie er — bewahre Gott dich davor!

Ein Gott? — Vielleicht. Ein lasterhafter, erbärmlicher Gott.
Doch wenn ich in der Tat das »Gesicht ohne Falsch« bin,
möge Gott dir helfen, ein friedvoller Atheist zu sein;
Ein Gott zu sein — davor möge Gott dich bewahren!

Vergib mir meinen Größenwahn,
Doch es gibt keines Gottes Größe in meinem Schicksal,
Mich selbst zu bestrafen und mir selbst die Sünden zu vergeben.
Vergib mir meinen Größenwahn!

Gottes Größe zu strafen — Würde ich keinem meiner Nachbarn wünschen,
Ich wage nicht, ihm solche Macht zu wünschen.
Bewahre dich Gott, dich selbst zu Gott zu machen,
Dich selbst zu rechtfertigen oder von Sünde freizusprechen.

Ich bin, was ich bin. Gott — nur Er ist Gott.
Welch ungeheurer Stolz, welche Sorge;
Verhüte Gott, daß du dich auf dein Gewissen verläßt
Und lebst, es herauszufordern. Bewahre Gott!

Gibt es ein höheres Wesen als den Menschen? Gibt es einen Gott, im üblichen Sinne dieses Wortes den Schöpfer des Himmels und der Erde, den Einen, den Jesus uns unseren Vater nennen lehrte?

Wer ist Gott?

Da Atheisten das Opfer Christi am Kreuz, das uns von Sünde befreit, nicht anerkennen, können sie Gott nicht sehen. Sie haben aber das Recht, uns zu fragen: »Ihr behauptet, Gott zu sehen. Sagt uns, wer er ist!«

Eine sehr wichtige Frage! Sie besteht für beide Seiten. Ein Atheist muß in der Lage sein, die Frage zu beantworten: »Wer ist der Eine, dessen Existenz wir leugnen?«, genauso wie ein Christ auf die Frage: »Wer ist der Eine, an den wir glauben?«, Auskunft geben muß.   –   Wer ist Gott?

De Broglie, der größte zeitgenössische Theoretiker für Fragen des Lichts, schrieb: »Wieviel wüßten wir, wenn wir wüßten, was ein Lichtstrahl ist!« Der große Biologe Jacob von Uexküll schrieb: »Niemand von uns weiß, was Leben ist.« Und wir werden gefragt, wer der Geber von Leben und Licht sei!

Wo liegt die Schwierigkeit bei der Antwort? Wenn Sie fragen: »Was ist Licht oder Leben?« oder »Wer ist Gott?«, liegt die Schwierigkeit nicht in den Worten »was«, »wer«, »Leben«, »Licht« oder »Gott«. Irgendwie können wir erklären, was wir unter diesen Worten verstehen. Was die Verständlichkeit der Frage beeinträchtigt, ist das kleine Wörtchen »ist«. Was bedeutet das Wort »ist«? Wenn wir dies nicht verstehen, bleibt alles andere rätselhaft.

Durch das Christentum geht eine große Spaltung. Sie dreht sich um das Wort »ist«. Laut dem Neuen Testament, das in Griechisch verfaßt wurde, reichte Jesus beim letzten Abendmahl vor seiner Kreuzigung seinen Jüngern Brot und sagte: »Das ist mein Leib«, und einen Kelch mit Wein und sagte: »Das ist mein Blut« (Matth. 26, 26—28). Die orthodoxen und katholischen Christen glauben, das Wort »ist« könne in diesem Zusammenhang nur eines bedeuten: daß die Christen bei der heiligen Kommunion tatsächlich den Leib und das Blut Jesu essen und trinken. Während der Priester die Worte Jesu in der Liturgie wiederholt, findet eine Veränderung der Elemente statt. Äußerlich bleiben sie Brot und Wein. Aber ihr Wesen wurde verwandelt. Was vorher Brot und Wein war, wurde zum Leib und Blut Christi. Die Protestanten lesen dieselbe Bibel und interpretieren das Wort »ist« anders. Für sie symbolisieren Brot und Wein den Leib und das Blut Christi. Obwohl sie Brot und Wein bleiben, haben sie doch einen anderen Wert als diese, so wie ein Ring für den Empfänger einen höheren Wert hat, wenn er ihn vom Geliebten bekommt.

Die Tatsache, daß schon Tausende von Büchern über dieses Thema geschrieben worden sind und sich große Institutionen deswegen entzweiten, zeigt, daß das Wort »ist« nicht so einfach ist, wie es aussieht. Sie, der Sie die Fragen: »Wer ist Gott?« oder »Was ist Licht?« beantwortet haben möchten, sagen mir zuerst, was Sie unter dem Wort »ist« verstehen.

Das Christentum stand früheren Kulturen nicht ablehnend gegenüber. Wie wir bereits erwähnten, nahm es die griechische Philosophie, vor allem die von Aristoteles, in sein Denken auf. Das Christentum übernahm die Vorstellung von einem Gott, der, selbst unbeweglich, alle Bewegung der Welt erzeugt. Er sitzt ruhig auf einem unerschütterlichen Thron und lenkt alle Dinge und Menschen in ihrer unaufhörlichen Bewegung. Aristoteles hätte gesagt, Gott »ist« im engsten Sinne des Wortes.

Doch ein unbeweglicher »Beweger« ist unfaßbar. Was statisch ist, kann nicht aktiv sein. Ein Motor, der eine Maschine antreibt, hat eine eigene Bewegung. Ein Motor schließt außer dem bloßen Sein noch etwas anderes in sich – nämlich, er bewegt sich.

Die Wirklichkeit kennt kein Sein. Kant schreibt in »Die Kritik der reinen Vernunft«: »Sein« ist kein wirkliches Prädikat … Im logischen Gebrauch ist es nur die Kopula oder das Bindeglied einer Beurteilung.« Die Worte, Gott sei gut oder gerecht, ergeben einen Sinn. Wenn man sagt, Gott oder irgendein Gegenstand ist, bedeutet dies, im Bereich leerer Worte zu bleiben.

Wenn wir uns fragen, was »Sein« bedeutet, lautet die Antwort, »Sein« existiere nur als ein Werden, ein Entstehen, ein Bewegen oder ein Verändertwerden. Heraklit sagte: »Panta rhei« – »Alles fließt.« Und: »Man kann nicht zweimal im selben Fluß baden.«

Sir James Jeans sagte: »Materie ist nicht, sie geschieht.« Materie existiert nicht, sie fließt. Alles – und vor allem lebendige Wesen – verändert und erneuert sich unaufhörlich.

Wie kann der Eine, der alles bewegt, unbeweglich sein? Wenn Bilder von Gott erlaubt wären und die Wirklichkeit wiedergeben könnten, wäre das getreueste Bildnis Gottes das Deckengemälde Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle, das Gott im Sturm fliegend zeigt. Im Buch Ruth lesen wir von den Flügeln Gottes (Ruth 2,12).

Thomas von Aquin sagte: »Wenn wir sagen, Gott sei nur »Sein«, so dürfen wir nicht in den Irrtum jener verfallen, welche in Gott jenes allgemeine Sein sehen wollten, von dem her jedes Ding der Form nach sein »Sein« hätte. Das »Sein« nämlich, das Gott ist, hat die Grundeigentümlichkeit an sich, daß keinerlei Hinzufügung zu ihm je statthaben kann; daher ist es ein durch seine eigene Reinheit von jedem anderen Sein unterschiedenes Sein.«

Das Wort »Sein« ist nicht nur ein Hauptwort, sondern auch ein Verb. Kein erschaffenes Sein kann nur durch ein Hauptwort ausgedrückt werden, weil es sich entwickelt, sich bewegt, eine Geschichte lebt. Der Begriff »ist« in seiner begrenzten Bedeutung eines festen Zustandes kann nicht auf die Schöpfung und noch weniger auf den Schöpfer angewendet werden. Wenn Sie sagen: »Gott ist«, sagen Sie viel zuwenig über ihn. Gott geschieht.

Es gibt ein Ereignis, die »Gottheit«. Sie ist ein riesiges Kommen und Werden. Ihr hebräischer Name ist »El«, was eine Beziehung ausdrückt: »El« bedeutet »in Richtung«, »gegenüber«, die Bewegung von Alpha in Richtung Omega.

Die wörtliche Übersetzung des hebräischen Namens, den Gott Mose enthüllte, »Ehjeh asher ehjeh«, bedeutet: »Ich werde sein, was ich sein werde.«

In Gott gibt es weder eine Veränderlichkeit noch die Andeutung eines Wandels in bezug auf seine beständige Eigenschaft der Liebe. Doch die Äußerung dieser Liebe ist jeden Augenblick neu.

Dies erschwert die Antwort auf die Frage: »Wer ist Gott?«, da sich die Güte Gottes in immer neuer Form über die Menschheit ergießt. Die Flammen seiner Liebe verändern sich fortwährend wie die Flammen des Feuers. Sie können eine Person nicht wirklich porträtieren. Jeder Mensch ist eine Folge vieler Gesichtsausdrücke. Sie können nicht wirklich eine Wahrheit nennen. Wahrheit ist immer eine ganze Kette von Aussagen über ein sich änderndes Subjekt beziehungsweise Person.

Daher kennt die hebräische Sprache, in der Gott sich zuerst offenbarte, das Wort »Gesicht« nicht, sondern nur »Gesichter«»panim«. Jeder Mensch und jeder Gegenstand verändert sein Aussehen ständig. Die Bibel gebraucht den Plural »panim« auch in bezug auf Gott. Auch sein Ausdruck der Liebe und Gerechtigkeit ändert sich fortwährend.

Wenn Sie sich fragen: »Wer ist Gott?«, ziehen Tausende von Bildern wie in einem Kaleidoskop an Ihrem Auge vorbei, eines schöner als das andere. Deshalb war es den Juden verboten, sich Götzenbilder zu machen.

Die hebräische Sprache vermeidet den Ausdruck »ist«. Jesus, der Hebräisch oder den hebräischen Dialekt Aramäisch sprach, sagte nie: »Das ist mein Leib«, sondern nur: »Das — mein Leib.« Hätten Theologen die biblischen Sprachen besser beherrscht, hätte es einen Streit weniger darüber gegeben, was Jesus nie gesagt hat.

Wir wissen, daß Gott das Alpha, der Schöpfer des Himmels und der Erde ist. Wir wissen, was er sein wird: Das »Alles-in-Allem«. Was ist er jetzt? Er ist nicht ein »Ist«. Gott fliegt von einem Pol zum anderen.

Die Atheisten haben ein Argument. Wir können nicht sagen, wer Gott ist, und sie können nicht sagen, was Atheismus ist. Auch er entwickelt sich ständig. Der Atheismus der Narren aus alter Zeit, die Gott schlechthin leugneten, durchlief viele Stadien bis zum militanten und wissenschaftlich fundierten Atheismus, der heute die kommunistischen Staaten regiert.

Doch die Tatsache, daß wir nicht sagen können, wer Gott ist, erschüttert unser Denken nicht.

Der Apostel Paulus schrieb: »Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt« (Röm. 1, 20).

Giordano Bruno ist der Autor des Wortspiels, »intellectio « (der Intellekt) sei »interna lectio« (die innerliche Lektion), die uns die Natur erteile.

Je besser ich eine Maschine kenne, desto mehr bewundere ich den Ingenieur, der sie erfand. Je schöner ein Palast ist, desto mehr respektiere ich seinen Architekten. Die Liste atheistischer Wissenschaftler, die meine Gegner erstellten, ist unrichtig. Unser Universum trägt den Namen Einsteins. Er muß etwas davon verstehen. Er schreibt in »Mein Weltbild«:

»Wenn man das Judentum der Propheten und das Christentum, wie es Jesus Christus gelehrt hat, von allen Zutaten des Späteren, insbesondere der Priester, loslöst, so bleibt eine Lehre übrig, die die Menschheit von allen sozialen Krankheiten zu heilen imstande wäre. Dem wohlmeinenden Menschen erwächst die Pflicht, in seinem Kreis unentwegt zu versuchen, diese Lehre der reinen Menschlichkeit lebendig zu machen, so gut er es vermag. Wenn er dies ehrlich versucht, ohne von den Zeitgenossen verstoßen und vernichtet zu werden, so darf er sich und seine Gemeinschaft glücklich preisen.«

Bernett sagt in einem Vorwort zu seiner Biographie: »Das kosmische Leben der Religion ist das kraftvollste und edelste Motiv für die wissenschaftliche Erforschung der Natur.«

Milner beginnt sein Buch »Relativität und die Struktur der Sterne« mit den Worten: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.«

Der Biologe Hans Spemann schreibt: »…so will ich bekennen, daß ich bei meinem experimentellen Arbeiten oft das Gefühl einer Zwiesprache habe, bei der mir mein Gegenüber als der bedeutend Gescheitere vorkommt.«

Immanuel Kant schrieb: »So wie ein Gesicht schön ist, weil es eine Seele enthüllt, ist die Welt schön, weil man durch sie einen Gott sieht.«

Es gibt viele Dinge, die aus manchen Wissenschaftlern Gläubige machen. Sie staunen über die Übereinstimmung zwischen den Naturgesetzen und unserer Fähigkeit des Begreifens durch die Sinne, die Vernunft, die Intuition und den Glauben.

Der Biologe Max Hartmann spricht von »dem Wunder der Harmonie zwischen dem Universum und unserem Denken«.

De Broglie sagt, in der einfachen Tatsache, daß Wissenschaft möglich sei, liege ein größeres Wunder, als wir glaubten.

Einstein schrieb: »Was im Universum ewig unverständlich bleibt, ist, daß man es verstehen kann.«

Sogar Voltaire, den die Atheisten fälschlicherweise als einen von ihnen betrachten, sagte folgendes: »Ich urteile unverzüglich, daß, wenn die Werke der Menschen, auch meine eigenen, mich zwingen, eine Verstandeskraft in uns anzuerkennen, ich mich zur Anerkennung einer weit überlegenen bereit finden muß, die in diesem so vielfach Geschaffenen wirkt. Ich schließe auf diese höchste Intelligenz, ohne zu fürchten, daß mich je etwas von meiner Meinung abbringen kann. Nichts erschüttert mich in diesem Axiom: ,Jedes Werk deutet auf einen Werkmeister hin.‘«

Wer kann glauben, daß es Uhren gibt, aber keine Uhrmacher? Unsere Uhren zeigen die Zeit nach der Bewegung der Erde an. Wer schuf diesen Chronometer?

Das zweite, das jeden beeindruckt, der die Schöpfung aufmerksam betrachtet, ist die strenge Ordnung in der Natur, die ebenfalls nicht das Ergebnis des Zufalls sein kann.

Uexküll sagt: »Wir lesen in der Natur eine ganze Partitur.«

Der Geologe Cloos schreibt: »Wer ihn (den inneren Weg) betritt, schaut die Schönheit, hört die Musik der Erde.«

Kant, der vielen vernünftigen Beweisen der Theologie für den Glauben an die Existenz Gottes sehr kritisch gegenüberstand, anerkannte die Gültigkeit des sogenannten kosmologischen Beweises. Die Ordnung in der Natur weist auf einen Schöpfer hin.

Charles Darwin, Opfer des englischen merkantilistischen und utilitaristischen Lebensstils seiner Zeit, dachte, die Natur arbeite auch nach diesem utilitaristischen Prinzip. Dem ist aber nicht so. In der Natur ist ein großer Künstler und einfallsreicher Architekt am Werk.

Die außergewöhnliche Schönheit der Pfauenfeder kann nicht damit erklärt werden, sie sei durch die Anhäufung kleiner Variationen entstanden, weil diese den Vorteil böten, Artgenossen leichter anzuziehen. Auch die Krähe findet einen Partner, und Unkraut am Straßenrand lockt ebenso Bienen und Wespen zur Befruchtung an wie die prächtige Lilie. Weshalb sind einige winzige Fische so nutzlos schön? Nun, es ist Kunst um der Kunst willen. Warum besitzt der Papagei die Fähigkeit zu sprechen? Wieso gibt es Vögel, deren Zwitschern wie das Läuten kleiner Glocken klingt? Es ist nur die Laune eines Künstlers. Wie steht es mit dem Geweih des Hirsches? Warum hat das Zebra so regelmäßige Streifen? Warum hat jede Blume eine andere Farbe?

Nietzsche sagte: »In jedem von uns ist ein Kind, das spielen will.«  – Gibt es nicht etwas Kindliches an Gott, das ihn veranlaßte, all dies zu erschaffen? Gehört es nicht zum Wesen der Gottheit, sich auch in einem im Stall geborenen Kind und in einem kleinen Jungen, der auf den Straßen von Nazareth mit anderen spielt, auszudrücken? Woher stammen die präzisen Winkel, die Symmetrie und die schönen Formen der Kristalle?  . . .

Betrachten Sie einen Getreidehalm genau: Seine Höhe ist ungefähr 130 cm und der Durchmesser kaum 5 mm. Stellen wir uns vergleichsweise ein 250 m hohes Gebäude vor (etwa 100 Stockwerke), und dies auf einer Grundfläche von nur einem Quadratmeter. Oben auf dem Halm sitzt die schwere Frucht. Er wird vom Wind bewegt, bricht aber nicht. Der Halm enthält ein herrlich ausgearbeitetes mechanisches System. Es ist dem Menschen immer noch ein Rätsel, wie das Wasser bis zur Spitze gelangt. Wir brauchen Pumpen, um die oberen Stockwerke eines hohen Hauses mit Wasser versorgen zu können. Etwas so Herrliches wie den Halm könnten wir nicht herstellen.

Der Physiker Urey, der Entdecker des schweren Wasserstoffs, schrieb: »Keine einzige der bestehenden Theorien über den Ursprung der Welt ist ohne die Voraussetzung eines Wunders denkbar.«

Da wir gerade beim Wasser sind — lassen Sie uns seine Wunder betrachten! Jeder physikalische Gegenstand dehnt sich bei Erhitzung aus und zieht sich bei Kälte zusammen; nur das Wasser vergrößert sein Volumen beim Erkalten und bildet Eis. Das Eis, das leichter ist als Wasser, bleibt an der Oberfläche. Es bildet eine Kruste, die die Fische im Winter vor Kälte schützt. Ohne diese Besonderheit des Wassers wäre das Leben in den Flüssen unmöglich, und die primitiven Menschen, die sich von Fischen ernährten, hätten nicht überlebt.

Woher kommt diese Ausnahme? Ist sie nur Zufall oder ordnete sie ein weiser Schöpfer an?

Lassen wir einen bekannten Techniker, Werner von Siemens, zu Wort kommen: »Je tiefer wir in das harmonische, durch unabänderliche Gesetze geregelte und unserem vollen Verständnis dennoch so tief verschleierte Walten der Naturkräfte eindringen, desto mehr fühlen wir uns umgekehrt zu demütiger Bescheidenheit angeregt, desto kleiner erscheint uns der Umfang unserer Kenntnisse, desto lebhafter wird unser Streben, mehr aus diesem unerschöpflichen Born des Wissens zu schöpfen, und desto höher steigt unsere Bewunderung der unendlich ordnenden Weisheit, welche die ganze Schöpfung durchdringt!«

Zwar können wir nicht sagen, wer Gott ist, aber wenn wir die Dinge, die er schuf, genau betrachten, können wir seine unsichtbare Kraft sehen. Sie sprechen von Gott als einem mächtigen Herrscher und großen Künstler. Von ihnen wissen wir, daß Gott ein Gott der Ordnung ist.

Jesus antwortete seinen Jüngern, die ihn baten, ihnen den Vater zu zeigen: »So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater; wie sprichst du denn: Zeige uns den Vater?… Glaubst du nicht, daß ich im Vater bin und der Vater in mir ist?… Der Vater aber, der in mir wohnt, der tut die Werke« (Joh. 14, 9-10).

Mit diesen Worten lehrt uns Jesus, wie wir über ihn und auch über uns selbst denken sollen. Wir wollen zwar den Sinn für die richtigen Proportionen wahren, aber doch bemerken, daß, wer immer mich oder Sie sieht, auch wenn Sie der Autor eines atheistischen Buches sind, den Vater sieht, da wir alle nach seinem Bild geschaffen sind. – Der heilige Gregor von Nyssa schrieb: »Der Mensch ist das menschliche Gesicht Gottes.«   . . .

Der Mensch, jeder Mensch, irgendein Mensch — ein Atheist, ein Krimineller, ein Heiliger — ist wundervoll, zunächst aufgrund der Beschaffenheit seines Körpers. Auch der schlechteste und jämmerlichste Mensch hat ein Herz, das eine Pumpe ist, wie sie Ingenieure nicht konstruieren können — eine Pumpe, die das Blut täglich 600mal durch den Körper zirkulieren läßt. In einer Zeitspanne von fünfzig Jahren geschieht dies 10.950.000mal, und das ohne eine einzige Minute Unterbrechung. Zum zweiten ist der Mensch aufgrund seiner Seele ein wundervolles Geschöpf. Die Seele ist eine weitere überraschende, beinahe undefinierbare Wesenheit. Sie ist so vollkommen, daß sie gewissermaßen den Körper entbehren kann. Sie zeigt ihre Unabhängigkeit in der neunten Symphonie des tauben Beethoven oder im geweihten Leben der Helene Keller, die Schriftstellerin und eine große Philanthropin wurde, obwohl sie taubstumm und blind war, oder in der Tatsache, daß Pascal im Alter von neun Jahren die Axiome der euklidischen Geometrie wiederentdeckte oder im Leben Mozarts, der mit fünf Jahren zu komponieren begann.

Doch der Mensch birgt noch ein drittes wundervolles Gebilde in sich. Sein Körper mag dem der Tiere ähneln (dies ist nichts Beschämendes, auch wenn man gegen die Evolutionstheorie eingestellt ist), er hat jedoch einen Geist, der Gott ähnlich ist. Meine Gegner anerkennen seine Existenz nicht, weil er mit den Sinnen nicht nachgewiesen werden kann. Wie sollte die Existenz des Geistes nachgewiesen werden, wenn er selbst der Prüfer ist?

Das Auge sieht sich selbst nicht, und die Nase riecht sich selbst nicht. Der Geist gehört nicht zu dem Schauspiel, das von den Sinnen aufgeführt wird. Er ist Zuschauer und reagiert nach seinem eigenen Geschmack auf das, was in seinen Bereich eindringt. Aristoteles sagte: »Wenn du im Menschen nur das Menschliche erkennst, betrügst du ihn und wünschst ihm Unglück, da er durch alles Essentielle in seinem Wesen — den Geist — zu etwas Höherem als nur zum menschlichen Leben berufen ist.« Es ist unmenschlich, nur menschlich zu sein. Es ist einer Raupe unwürdig, sie nur als Raupe zu betrachten: sie ist auch ein zukünftiger Schmetterling. Es ist uns also nicht erlaubt, die Menschen zu degradieren, zu denen Jesus sagte: »Ihr seid Götter« (Joh. 10, 34). In einem Samen steckt mehr als nur der Same: er enthält die im Keim vorhandene Blume.

Der Mensch ist ein Wesen, das Gottes Abbild trägt. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie Gott aussieht, doch sehen Sie den Menschen an, betrachten Sie die besten Exemplare der Menschheit, und Sie werden etwas von der Gottheit sehen: Lebensfreude, schöpferische Begeisterung, die Tiefen des Wissens, den Sinn für Schönheit, die Fülle des Lebens, die Fähigkeit, Möglichkeiten wahrzunehmen und auszuwählen, um immer größere Höhen zu erreichen.

Welch erhabenes Wesen der Mensch ist! Er ist Gott ähnlich, weil er auch der Schöpfer eines Universums ist: seines eigenen inneren Universums. Die Natur um mich herum ist ein brodelnder Strudel von Energie, eine Vielzahl von Wellen, Strahlungen und Schwingungen von Elektronen, Protonen und Elementarteilchen; doch die unhörbare Welle wird in einem Ohr hörbar, die unsichtbare Strahlung wird in einem Auge sichtbar, und das unverständliche Universum wird dem menschlichen Verstand verständlich.

Außerhalb meiner selbst gibt es eine Realität. Ich ordne sie nach Quantität, Qualität, Kausalität, Finalität und Modalität ein. Ich fange diese scheinbar chaotische Realität mit einem Netz ein, das ich selbst gewebt habe, und mache daraus ein geordnetes Universum. Die Natur verwirklicht ihre Schönheit in mir. Wenn ich eine Rose betrachte, erwacht sie zum Leben in roter Pracht und entfaltet ihren Duft. Wenn es den Menschen nicht gäbe, hätte die Rose keinen Wert und wäre eine bloße Ansammlung von Atomen.

Das einzige Objekt in der Natur, das ich durch und durch kenne, bin ich selbst. Und in mir trage ich die Fähigkeit, Ordnung ins Chaos zu bringen, mein eigenes Universum zu schaffen— sei es ein gütiges, um mir Freude zu bereiten, oder ein düsteres, um mich und andere zur Verzweiflung zu treiben. In allen Bereichen des Wissens leben wir durch Extrapolation (Weiterführung). Wir schreiten vom Bekannten zum Unbekannten. Wenn ich mehr bin, als ein außenstehender Beobachter sehen kann, ist es dann nicht möglich, daß in der Welt um mich herum mehr steckt als das, was an der Oberfläche liegt?

Lenin macht Bischof Barkeley, dem Gründer der solipsistischen Philosophie, ein Kompliment, indem er ihn den idealen, äußerst schwer zu schlagenden Philosophen nennt, weil Barkeley ein vernünftiges Argument für den Glauben an Gott lieferte, ein Argument, das auch mir sehr kraftvoll erscheint. Er sagt, das Universum könne nur im Geiste existieren; außerhalb des Geistes sei die Realität chaotisch. Sie sei ein Tohuwabohu. Es sei der Geist, der aus sich selbst ein Universum schaffe, seine Gesetze diktiere, ihm eine Ordnung gäbe und es bestimme. Ein Universum kann nur im Geiste existieren; doch der Mensch existierte nicht immer und sein Geist auch nicht. Daher muß es vor dem Auftreten des Menschen einen Geist gegeben haben, in dem das Universum existierte. Der Mensch betrachtet sich als Teil eines organisierten Universums. Der Geist aber, in dem das Universum immer existiert hat, heißt Gott. Ich bin auch Schöpfer eines Universums, eines inneren Universums — aber ich bin ein Schöpfer! Deshalb sieht jeder, der mich sieht, den Vater. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer Gott ist, doch Sie können etwas von der Gottheit verstehen, wenn Sie den Menschen ansehen.

Schauen Sie auf Jesus von Nazareth

Schauen Sie das größte und beste Geschöpf der Menschheit an, das Sie kennen, das geliebteste Wesen, und Sie werden in ihm, wenn auch nur undeutlich, etwas vom Vater sehen. Doch es gibt einen Menschensohn, in dem Sie Gott in besonderer Weise sehen können. Es ist Jesus von Nazareth — weil er nicht nur der Menschensohn, sondern auch Gottmensch war.

Gott weiß alles, aber es gibt einige Dinge, die er nur von außen kannte. Ein Richter kann das ganze Strafgesetzbuch und die ganze Wissenschaft des Strafvollzugs kennen und doch nicht fähig sein, gerecht zu richten, weil er nie das Leben eines Gefangenen gelebt hat. Fünf Jahre Haft, Tag für Tag im Gefängnis verbüßt, unterscheiden sich völlig von fünf Jahren Haft, die im Strafgesetzbuch für ein Vergehen vorgeschrieben sind und durch Urteil verkündet werden.

Gott kann weder lügen noch kennt er aus Erfahrung eine andere Übertretung des Moralkodexes, wogegen diese Sünden gerade das Lebenselement sind, das Sie täglich umgibt. Weder Gott noch Engel können sterben. Der Tod ist für sie nur ein Geschehen, das sie von außen betrachten.

Deshalb wurde Christus, der Sohn Gottes, ein Mensch mit allen Merkmalen und Beschränktheiten des Menschen. Als männliches Wesen kannte er die Versuchung der Frau; als armer Zimmermann einer unterdrückten Nation kannte er die Versuchung der Rebellion oder der Unredlichkeit. Als Gefangener, der gegeißelt und anschließend gekreuzigt wurde, kannte er die Versuchung der Verzweiflung und des Grolls. Ohne eine Sünde begangen zu haben, kannte er solche Tiefen des Bösen, so daß die Evangelisten es für klug hielten, die Geschehnisse seines Lebens zwischen seinem zwölften und dreißigsten Lebensjahr nicht niederzuschreiben. Doch sie hielten fest, daß seinen Feinden während seines dreieinhalbjährigen Wirkens seine Freundschaft mit Zöllnern und leichten Mädchen oftmals mißfiel.

Jesus, der Sohn Gottes, beschloß, an der menschlichen Natur mit all ihren Neigungen teilzuhaben und den Tod zu erleben, damit er nicht nur der gerechte Richter der Menschheit, sondern auch ihr Verteidiger und Erlöser werden konnte. Das Leben Jesu und sein Tod am Kreuz von Golgatha waren — abgesehen von ihrer Wirksamkeit bei der Errettung der Menschheit — Gottes Weg, eine persönliche, genaue Kenntnis menschlicher Probleme zu erlangen. Vor der Erfahrung von Golgatha wußte Gott weniger als nachher. Nachdem er sich nun im Fleisch mit uns identifiziert hat, versteht er uns besser und kann uns besser vergeben. Das Himmelreich ist uns näher gekommen.

Womit können wir diese große Erniedrigung des Gottessohnes vergleichen?

Christus ließ sich nicht nur auf die Stufe des Menschen herunter. Im Leib der Jungfrau Maria wurde er durch einen Befruchtungsvorgang, der für immer ein Geheimnis bleiben wird, zu einem Embryo, der seine Nahrung sowohl aus anorganischen als auch aus organischen Quellen bezog und neun Monate in der Gebärmutter verbrachte, um ein Säugling, dann ein Heranwachsender und schließlich ein Mann zu werden. Und welch ein Mann! Er wurde nicht ein Held wie Bar Kochba, ein großer Eingeweihter wie Apollonios von Tyana, ein Philosoph wie Plato. Um ein Retter der Menschheit, jedes einzelnen Menschen, zu werden, mußte Christus so tief in die Materie eindringen, wie die Menschheit selbst darin verstrickt war. Deshalb wurde er, nachdem er sich dem normalen Prozeß der menschlichen Entwicklung unterzogen hatte, ein jüdischer Zimmermann, ein Mitglied einer sozialen Klasse ohne Kultur. Er hatte eine arme Sprache; er mußte sich manchmal in Diskussionen auf einem demütigenden Niveau einlassen, weil dies das Niveau der Menschen war, mit denen er debattierte. Er kannte Schwäche, Ärger, Schmerz, Angst, und er wurde mit Verbrechern auf eine Stufe gestellt.

Diese Wesenszüge Jesu Christi, die den Menschen unangenehm sind, werden für diejenigen, die sie verstehen, zum Ansporn, seine herrliche Bescheidenheit und unergründliche Liebe zu bewundern.

Und wenn Sie Christus fragen, warum er dieses Opfer gebracht habe, antwortet er Ihnen mit erhabener Einfachheit, Gott habe die Welt so geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gegeben habe, damit alle, die an ihn glaubten, nicht verlorengingen, sondern ewiges Leben hätten. Er sagt, der Vater habe ihn gesandt.

Wir können nicht sagen, wer Gott ist, doch wenn wir Christus ansehen, verstehen wir etwas von seinem Charakter. Wir sehen, daß die Eigenschaften, die Gott am besten ausdrücken, Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gegenüber der Menschheit sind. Wir spüren, daß er so eine Liebe hat und daß diese Liebe ihn veranlaßte, seinen Sohn für uns in den Tod zu geben.

Prophetie

Die Autoren des »Handbuches des Atheisten« bestreiten die Möglichkeit der Prophetie. Sie weisen Prophetien »im Namen der Wissenschaft« zurück. Wie ist es dann zu erklären, daß Sir Isaac Newton, ein Wissenschaftler wie er im Buche steht, der Mann, der »der Vater der Vernunft« genannt wurde, ein Buch mit dem Titel »Betrachtungen der Prophetie« schrieb? Er lieferte die erste wirklich wissenschaftliche Chronologie der Geschichte Jesu.

Doch anstatt uns darüber auszulassen, ob Prophetie möglich ist oder nicht, wollen wir die Tatsachen analysieren. Erwiesene Tatsachen sprechen für sich. Gibt es Tatsachen, die auf die Erfüllung von Weissagungen hinweisen?

Bereits eine oberflächliche Kenntnis der Bibel enthüllt Hunderte von Prophetien, die bereits in Erfüllung gingen, und andere, die sich vor unseren Augen erfüllen.

Zunächst gibt es Weissagungen über Jesus Christus, der das Thema der Bibel ist. In der Bibel wurde prophezeit, Christus werde ein Nachfahre Abrahams sein und zum Stamm Juda gehören. Der Prophet Micha prophezeite sieben Jahrhunderte vor dem tatsächlichen Geschehen, Christus werde in der Stadt Bethlehem geboren werden (Micha 5, 1).

Ungefähr zur selben Zeit sprach Jesaja von Jesu Sendung und seinem Leiden und gab einen Abriß seiner Lebensgeschichte (Jesaja 9; 11; 50; 53; 61). Der Prophet Sacharja sagte voraus, Jesus werde auf einem Esel in Jerusalem einziehen (Sacharja 9, 9). Der 41. Psalm weissagt den Verrat durch einen seiner Jünger (V. 10). Sacharja sagte, wieviel dieser Jünger für seinen Verrat erhalten und was mit dem Geld geschehen werde (Sacharja 11, 12, 13). Auch die Tatsache, daß Jesus gegeißelt und angespien wurde, war vorausgesagt worden (Jesaja 50,6).

Ungefähr fünf Jahrhunderte vor Christus schrieb der Prophet Sacharja, die Leute würden den sehen, den sie durchstochen hätten (Sacharja 10, 12). David wies darauf hin, daß sowohl seine Hände als auch seine Füße durchbohrt werden würden (Psalm 22, 17). Die Auferstehung Jesu wurde ebenfalls vorausgesagt.

Zugegeben, einige dieser Prophetien — wie die, Jesus werde auf einem Esel in Jerusalem einziehen, oder die Voraussage seines Ausrufes am Kreuz »Mich dürstet« (Psalm 22, 16) — können ins Lächerliche gezogen oder mit der Begründung zurückgewiesen werden, ihre »Erfüllung« sei von Jesus und seinen Nachfolgern schlichtweg arrangiert worden. Trugen die römischen Soldaten jedoch absichtlich zur Erfüllung der in einem Psalm enthaltenen Weissagung bei: »Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand« (22, 19)? Was wußte ein römischer Soldat über jüdische Prophetien beziehungsweise was kümmerten sie ihn? Und doch hielt jeder Chronist peinlich genau die Einzelheit fest, die Soldaten hätten bei der Kreuzigung um das Gewand Jesu gelost (Matthäus 27, 35; Markus 15, 24; Lukas 23, 34; Johannes 19, 23, 24). Johannes fügte noch hinzu, der nahtlose Rock sei zu wertvoll gewesen, um zerrissen und unter die vier Soldaten verteilt zu werden (Johannes 19, 23, 24).

Doch was ist mit dem größten Ereignis, Jesu Auferstehung von den Toten? Konnte er diese in Szene setzen?

Hätte er als großer »Betrüger«, wie ihn die Atheisten gerne nennen, es unter den wachsamen Blicken der Juden und der Römer einrichten können, am Kreuz nicht zu sterben, seine Gebeine nicht wie die der Diebe brechen zu lassen (Johannes 19,32,33) (in Erfüllung einer weiteren eindeutigen Prophetie [2. Mose 12,46]) und nicht in dem versiegelten, bewachten Grab umzukommen? Und selbst wenn ihm soweit alles gelungen wäre, hätte er von seinen verängstigten, feigen Jüngern erwarten können, eine Schar Soldaten zu überwältigen, den versiegelten Stein wegzurollen und ihn ungehindert zu befreien? Es ist undenkbar.

Mommsen, ein in der römischen Geschichte bewanderter Historiker, bezeichnet die Auferstehung des Erlösers als die am besten belegte Tatsache der römischen Geschichte. Sie konnte kaum von Menschen inszeniert worden sein. Sie war die Erfüllung einer Prophetie.

Prophetien über das jüdische Volk

»Keine Prophetie«, sagen sie. Diejenigen, die wir Propheten nennen würden, seien lediglich intelligente Menschen und daher in der Lage gewesen, Ereignisse vorauszusagen.

Laut dem »Handbuch des Atheisten« waren die intelligentesten Genies der Menschheit Marx, Engels, Lenin und andere wie sie. Sie vertraten den historischen Materialismus, den das »Handbuch des Atheisten « als die größte Voraussetzung zum Verständnis politischer und sozialer Ereignisse betrachtet.

Marx schrieb ein Buch mit dem Titel »Die jüdische Frage«. Er hatte offensichtlich das Potential, mit dem der historische Materialismus einen Denker ausrüstet. Wie konnte er, der er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte, nicht wissen, daß die Juden, die unter die Völker verstreut waren, in ihr Land zurückkehren und einen eigenen Staat gründen würden?

Lenin lebte im 20. Jahrhundert. Die zionistische Bewegung bestand bereits und wurde immer stärker. Er, das große Genie der Menschheit, betrachtete es weder als wahrscheinlich, daß sich die Juden in ihrem eigenen Land vereinigen würden, noch erwähnte er, der aufmerksame, mit der mächtigen Waffe des historischen Materialismus ausgestattete Beobachter des politischen Lebens, die Zionisten auch nur mit einem Wort. Er nahm weder Notiz von dieser Bewegung noch erwartete er ihren Triumph.

Stalin verfaßte ein Buch mit dem Titel »Marxismus und nationale Frage«. In diesem Buch, das vor dem  Ersten Weltkrieg geschrieben wurde, anerkannte er, den die Atheisten einst als das größte Genie der Menschheit bezeichneten, die Juden nicht einmal als eine Nation, weil das jüdische Volk nicht zu seiner Definition einer Nation paßte.

Doch das jüdische Volk kümmerte sich in seiner Entwicklung weder um den Antisemitismus in dem Buch von Marx noch um die Tatsache, daß es in Stalins Buch übergangen worden war. Die Juden gründeten einen Staat und erfüllten damit die Voraussage eines ganz anderen Buches – der Bibel (Hesekiel 37).

Friedrich der Große, König von Preußen, bat einmal seinen Kaplan: »Gib mir einen sicheren Beweis für die Inspiration der Heiligen Schrift!« Der Geistliche gab zur Antwort: »Es ist der Jude, Eure Majestät.« Die Juden und ihre wundersame Geschichte sind ein weiterer Beweis für die Wahrheit der biblischen Prophetie.

Seltsamerweise sind etliche der Autoren des »Handbuches des Atheisten« Juden, die damit die biblische Prophetie erfüllen, einige Juden würden ein Fluch für alle Völker werden (Jeremia 29,18). Es gibt jedoch auch Juden, die den Atheismus bekämpfen, das Wissen um Gott in alle Welt tragen und damit eine Prophetie in derselben Bibel erfüllen, die besagt, ein Überrest von Juden in Israel werde sich in den letzten Tagen ihrem Erlöser Jesus Christus zuwenden und ein großer Segen sein.

Die Prophezeiungen über die Juden beginnen vor rund 4500 Jahren mit einer Verheißung an den ersten Juden, Abraham. Sie lautet: »Ich will dich zum großen Volk machen« (1. Mose 12, 2).

Die christliche Welt trägt den Namen eines Juden, Jesu Christi. Das kommunistische Lager trägt den Namen eines anderen Juden, den von Marx. Das Universum als Ganzes trägt den Namen eines weiteren Juden, den Einsteins. Über 60 Prozent der Nobelpreisträger sind Juden, unter ihnen der sowjetische Schriftsteller Boris Pasternak. Juden – Männer wie Trotzki, Sinowjew und Kamenew – spielten in der Oktoberrevolution eine außerordentlich große Rolle. Lenin war Halbjude. Juden spielen heute im Kampf gegen die Regierung in der Sowjetunion eine große Rolle. Litwinow, der Schriftsteller Daniel, Levitin Krasnow und andere Freiheitskämpfer, die im Gefängnis waren, sind Juden. Juden sind am wirtschaftlichen und politischen Leben der Vereinigten Staaten und vieler anderer Länder aktiv beteiligt. In vielen westlichen Ländern sind sie in Regierungspositionen. Der Jude Teller wird »der Vater der Wasserstoffbombe « genannt. Dr. Sale Harrison schreibt in seinem Buch »The Remarkable Jew« (Der bemerkenswerte Jude): »Niemand wird bezweifeln, daß die Juden heute die Geldkassen der Welt verwalten. Wo immer sie hinkamen, wurden sie zu Zauberern der Finanzen.«

Basil Mowll sagt in seinem Buch: »Bible Light in Present Events« (Biblisches Licht in Ereignissen der Gegenwart): »Eine vorsichtige Schätzung der Universitätsprofessoren Westeuropas vor dem Ersten Weltkrieg, ausgenommen Großbritannien, ergab, daß über 70 Prozent jüdischer Abstammung und jüdischen Glaubens waren.«

Hebräisch ist die einzige alte Sprache, die man Wiederaufleben ließ und die heute in Israel fließend gesprochen wird. Dies war bei der lateinischen, altgriechischen, slawonischen, irischen und walisischen Sprache nicht der Fall.

So wurde die Prophetie erfüllt. Ein kleiner Beduinenstamm wurde eine große Nation — groß in jeder Hinsicht, im guten wie im bösen. Sogar Jaroslawskij, der Gründer der Internationalen Gesellschaft der Gottlosen und deren Leiter, war Jude.

Die Prophetie sagt weiter: »Du sollst ein Segen sein« (1. Mose 12,2). Wer auch immer sich durch den Kommunismus gesegnet fühlt, verdankt dies dem Juden Marx. Wer sich durch den Kapitalismus gesegnet fühlt, verdankt dies den Juden, die zur Schaffung dieses Systems beitrugen. Wer vom Christentum gesegnet ist, verdankt dies einem Juden, Jesus.

Das Wort Gottes lautet im selben Kapitel weiter: »Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen« (1. Mose 12, 3). Es ist eine Tatsache, daß die Geschichte die Freunde der Juden bevorzugt hat. Als die Spanier die Juden vertrieben, ging die Sonne ihres Weltreiches unter. Das zaristische Rußland verfolgte die Juden und bekam seinen Lohn dafür. So verhielt es sich auch mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Länder, in denen die Juden frei sind, genießen selbst die Freiheit.

Lange Zeit nach Abraham gab es Weissagungen, denen zufolge die Juden unter alle Völker zerstreut würden (5. Mose 4, 27). Heute gibt es drei zerstreute Rassen: die Zigeuner, die Armenier und die Juden, doch die Juden sind am weitesten zerstreut. In nur wenigen Ländern gibt es keine Juden.

Jesus sagte die Zerstörung Jerusalems voraus, die im Jahre 70 n. Chr. stattfand (Matth. 24, 2, 15). Der Prophet Hosea (9,17) sagte voraus: »Mein Gott wird sie verwerfen, darum daß sie ihn nicht hören wollen; und sie müssen unter den Heiden in der Irre gehen«, was tatsächlich mit ihnen geschah. Im 5. Buch Mose 28, 37 steht: »Und wirst ein Scheusal und ein Sprichwort und Spott sein unter allen Völkern, dahin dich der Herr getrieben hat.« Auch dies widerfuhr ihnen. »Dreckiger Jude« ist zu einem gebräuchlichen Schimpfwort geworden.

Doch auch die Rückkehr der Juden nach Palästina war vorausgesagt, und dies spielte sich vor unseren Augen ab. Das Volk der Bibel, das mit bangem Herzen umherirrte, erhielt sein Vaterland zurück (Hesekiel 36, 24).

Die Bibel sagt wiederholt, Gott habe die Juden zu einem einzigartigen Volk bestimmt — und das sind sie wirklich (z. B. 5. Mose 7, 6; 14, 2).

Die Herkunft anderer Völker ist in Legenden und Mythen gehüllt. Wer kann sagen, wer der erste Russe, der erste Deutsche oder Türke war? Fragen Sie irgendeinen Juden, wer der erste Jude gewesen sei, und er wird Ihnen ohne Zögern antworten: »Abraham.«

Die Juden sind als Zeugen für die Verläßlichkeit des Bibelberichts einzigartig. Einzigartig ist ihre Zerstreuung unter alle Völker, und ebenso einzigartig ist ihre Entwicklung. Die Juden machen nur ungefähr ein halbes Prozent der Weltbevölkerung aus; doch wie unverhältnismäßig groß sind dagegen ihre Leiden, aber auch ihre Befreiung und Rückkehr in ihr Land. Sie sind aufgrund der Tatsache einzigartig, daß ihre ganze Geschichte vorausgesagt wurde. Gott sprach durch Mose: »Euch aber will ich unter die Heiden streuen, und das Schwert ausziehen hinter euch her, daß euer Land soll wüst sein und eure Städte zerstört« (3. Mose 26,33); »Und der Herr wird euch zerstreuen unter die Völker, und wird euer ein geringer Haufe übrig sein unter den Heiden, dahin euch der Herr treiben wird« (5. Mose 4, 27).

Später sagt eine weitere Prophetie die Sammlung des zerstreuten Volkes Israel voraus: »Denn ich will euch aus den Heiden holen und euch aus allen Landen versammeln und wieder in euer Land führen« (Hesekiel 36, 24).

Die Juden sind auch insofern einzigartig, als sie auch während der Zeit der Zerstreuung in alle Welt von anderen getrennt lebten. Wo immer man einen Juden findet, ist er ein Jude. Er ist kein jüdischer Russe, sondern ein russischer Jude. Die Juden bleiben Juden, obwohl sie keine geballte Macht und keine weltweite Regierung haben.

Sie sind das einzige Volk, das durch außerordentliche Leiden nicht zerstört werden konnte. Ägyptische Pharaonen, assyrische Könige, römische Kaiser, die Kreuzfahrer, Inquisitoren und Nationalsozialisten setzten sie der Ausbürgerung, dem Exil, der Gefangenschaft, Beschlagnahme, Folter und dem Massaker von Millionen Volksangehörigen aus — was jedem anderen Volk das Herz gebrochen hätte —, doch die Juden überlebten.

Gott verhieß, er werde die Vertriebenen Israels sammeln und die Zerstreuten Judas von allen vier Enden der Welt wieder zusammenfuhren (Jesaja 11, 12). Dies war von Jesaja vorausgesagt worden, der etwa 700 Jahre vor Christus und rund 800 Jahre vor der Zerstörung Jerusalems und der darauffolgenden Zerstreuung der Juden lebte. Wie konnte er wissen, daß die Juden zerstreut und dann aus allen Kontinenten wieder zusammengeführt werden würden?

Sehr wenige Juden, die nach Israel zurückkehrten, sind religiös. Die meisten von ihnen kennen die Heilige Schrift und die Prophetie nicht, und nur die wenigen, die sie kennen, glauben daran. Und dennoch werden sie zurückgeführt — Sie mögen es blinden Instinkt nennen, so wie es die Vögel im Herbst in den Süden zieht — beziehungsweise die Kraft Gottes treibt sie, damit sein Wort erfüllt werde.

In einer anderen wichtigen Prophetie über die Rückkehr der Juden nach Palästina werden zwei Arten ihrer Rückführung genannt (Jeremia 16,14—16).

Gott werde »Fischer« senden, die sie »fischen« würden; und die zionistische Bewegung »fischte« tatsächlich Tausende von Juden mit dem Köder einer eigenen nationalen Heimat.

In demselben Vers heißt es auch, Gott werde viele »Jäger« senden, die die Juden »jagen« würden. Der Antisemitismus in der ganzen Welt, vor allem der Hitlers, »jagte« die Juden und trieb sie in Richtung Palästina.

Eine weitere verblüffende Prophetie über die Juden betrifft die Zuwendung des Überrestes des Volkes Israel zu Christus in der Endzeit. Auch das erfüllt sich heute.

Ich erwähnte bereits, der Jude Einstein sei ein Bewunderer des Nazareners gewesen.

Franz Werfel, der berühmte jüdische Dichter, schrieb ein bekanntes christliches Buch mit dem Titel »Das Lied von Bernadette«. Schalom Asch, der große jüdische Romanschriftsteller, wurde Christ und schrieb das bekannte Buch »Der Nazarener«. Martin Buber, der große jüdische Philosoph, nannte Jesus »meinen großen Bruder«. Henri Bergson bezeugte seinen christlichen Glauben. Niels Bohr, der große Physiker, war ein Judenchrist; desgleichen Auguste Piccard, der Mann, der als erster in die Stratosphäre eindrang.

Lassen Sie mich hier kurz darauf hinweisen, daß auch die Kommunisten Prophezeiungen machten, diese aber nicht in Erfüllung gingen. Engels prophezeite in einem Brief an Sorge vom 10. September 1888, innerhalb von zehn Jahren werde Kanada von den Vereinigten Staaten annektiert werden. Ein Jahrhundert ist vergangen, doch es gibt keine Anzeichen für eine derartige Möglichkeit.

Genosse Chruschtschow prophezeite im Jahre 1958, Rußland werde innerhalb von fünf Jahren den Lebensstandard der Vereinigten Staaten erreichen und übersteigen. Seither sind weit mehr als fünf Jahre vergangen, und die Sowjetunion importiert immer noch Weizen aus Amerika! Menschen, die nicht eigens von Gott dazu befähigt werden, können die nahe und die ferne Zukunft nicht voraussagen.

Unsere atheistischen Freunde prophezeiten die ewige Solidarität zwischen den kommunistischen Nationen, und nun sehen wir nichts als Streitereien unter ihnen. Die im Wort Gottes verbürgte verläßliche Prophetie ist ausschließliches Vorrecht des Geistes Gottes.

Prophetien über die letzten Tage

Das »Handbuch des Atheisten« lehnt die Prophetie mit folgenden Worten ab: »Zahlreiche biblische Prophetien wurden erst nach dem Eintreffen der vorausgesagten Ereignisse gemacht. Die betreffenden Texte sind der Bibel nachträglich beigefügt worden, das heißt nachdem die jeweiligen Ereignisse schon eingetreten waren.«

Erwarten unsere atheistischen Freunde wirklich, daß wir glauben, der Sieg Israels in der Geschichte und die Wiederherstellung des jüdischen Staates seien erst kürzlich der Bibel beigefügt worden? Bezeugen nicht die Schriftrollen vom Toten Meer aus dem ersten Jahrhundert vor Christus das hohe Alter der Prophetien? Enthalten nicht Manuskripte des Neuen Testaments die auf eine atomare Zerstörung hinweisende Voraussage des Fischers Petrus, die Elemente würden infolge großer Hitze schmelzen (2. Petrus 3, 10)?

Weltkriege waren vor 3000 Jahren nicht möglich, da es zwischen den Kontinenten keine oder nur eine sehr primitive Verbindung gab.

Doch der Prophet Jeremia, der etwa 600 Jahre vor Christus lebte, sagte Weltkriege voraus. Er wußte nicht um die Existenz Amerikas, Australiens oder Japans, aber er schrieb: »…denn ich rufe das Schwert herbei über alle, die auf Erden wohnen … Er wird singen ein Lied… über alle Einwohner des Landes, des Hall erschallen wird bis an der Welt Ende. … Es wird eine Plage kommen von einem Volk zum andern… Da werden die Erschlagenen des Herrn zu derselben Zeit liegen von einem Ende der Erde bis ans andere Ende« (Jeremia 25, 29-33).

Diese Voraussage wurde 26 Jahrhunderte später erfüllt. Tausende von Menschen kamen in einem Krieg um, der sich von Japan über Rußland bis nach Frankreich erstreckte, einem Krieg, in dem Amerikaner, Japaner, Deutsche, Juden und viele mehr starben. Solche Geschehnisse sind Vorzeichen für den nächsten Weltbrand.

Jesus sagte über die letzten Tage: »Es wird alsdann eine große Trübsal sein, wie nicht gewesen ist von Anfang der Welt bisher und wie auch nicht werden wird« (Matth. 24,21). Und so ist es. In der Geschichte der Menschheit gab es noch nie so schwere Trübsale wie die der Nazis und die der Massenmorde Stalins oder Mao Tse-tungs.

Als Christus sagte: »Wo diese Tage nicht würden verkürzt, so würde kein Mensch selig« (Matth. 24, 22), gab es noch keine Vernichtungsmethoden, die alle Menschen gefährden konnten. Niemand konnte die Existenz der ganzen Menschheit gefährden. Heute sind die Mittel zur allgemeinen Zerstörung verfügbar.

Doch warum sollen wir so weit ausholen? Der Kommunismus selbst ist die Erfüllung einer Prophetie. Er gleicht dem Antichristen, der in der Heiligen Schrift angekündigt wird: »Es wurde ihm gegeben zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden, und es wurde ihm Macht über alle Geschlechter, Sprachen und Nationen gegeben« (Offenbarung 13,7).

Ein anderer Prophet hat Mächte wie die des Kommunismus beschrieben: »…, welcher seinen Rachen aufsperrt wie die Hölle und ist gerade wie der Tod, der nicht zu sättigen ist, sondern rafft zu sich alle Heiden und sammelt zu sich alle Völker« (Habakuk 2, 5).

Wir Christen halten diesen Ehrgeiz für unvernünftig. War Stalin glücklich, als er einer Milliarde Menschen seinen Willen aufgezwungen hatte und als das größte Genie gefeiert wurde? Seine Frau beging Selbstmord. Er sperrte Mitglieder seiner eigenen Familie ins Gefängnis. Er hatte zu niemandem Vertrauen, nicht einmal zu seinen besten Genossen, und das zu Recht. Seine engsten Mitarbeiter warteten auf seinen Tod, um ihn als Verbrecher zu brandmarken. Chruschtschow sagte, Stalin habe einmal ausgerufen: »Ich habe nicht einmal zu mir selbst Vertrauen!«

Es gibt eine Geschichte über einen reichen Mann, der sehr krank war. Man sagte ihm, er werde nur dann wieder genesen, wenn er das Hemd eines glücklichen Menschen trage. Daraufhin sandte er seine Diener, einen glücklichen Menschen zu finden und dessen Hemd um jeden Preis zu kaufen. Doch die Diener konnten keinen glücklichen Menschen ausfindig machen. Jeder beneidete den anderen um sein Glück, begehrte mehr, als er hatte, oder war von unerreichbarem Ehrgeiz erfüllt. Nach langem Suchen fanden sie endlich einen Holzfäller mit entblößtem Oberkörper, der seine schwere Arbeit fröhlich tat und dazu sang. Sie fragten ihn: »Bist du glücklich?« Seine Antwort war: »Vollkommen.« Da boten sie ihm für sein Hemd viel Geld an, doch leider hatte er keines.

Das Glück besteht nicht im Beherrschen der Welt, sondern im Einssein mit Gott. Unsere kommunistischen Freunde kennen dieses Geheimnis nicht. Deshalb haben sie weitgesteckte Ambitionen, sind jedoch nie befriedigt und entfernen sich immer weiter von der Utopie, die sie herbeizuführen behaupten. Wir können ihnen versichern: sie werden Erfolg haben! Der Antichrist, dem sie den Weg bereiten, wird die Welt beherrschen. Der Kommunismus wird, geschichtlich gesehen, für eine kurze Weile triumphieren.

Doch am Ende wird Jesus zurückkommen. Seine Füße werden auf dem Ölberg in Israel stehen (Sacharja 14, 4). Die Bibel sagt: »Es werden ihn sehen alle Augen« (Offenbarung 1, 7). Auch das muß unverständlich gewesen sein, als der Evangelist Johannes es niederschrieb. Wie konnte jemand in Spanien oder Nordafrika Jesus vom Ölberg zum Himmel auffahren sehen, und wie wird er ihn wieder dorthin zurückkommen sehen?

Nun, das Fernsehen beweist die Richtigkeit dieser biblischen Prophetie. Die ganze Welt kann die Olympischen Spiele miterleben. Die ganze Welt wird auch Zeuge der Wiederkunft Jesu sein.

Dann werden sich »im Namen Jesu die Knie all derer beugen, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen werden bekennen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters« (Philipper 2, 10).

Nach der Wiederkunft Jesu Christi auf die Erde wird der gesegnete Tag anbrechen, an dem alle Macht in seinen Händen liegen wird, und unter seiner vollkommenen Herrschaft wird unser armer Planet seine Sünden und Sorgen los sein (Jesaja 11).

Zuvor werden wir durch schreckliche Katastrophen gehen müssen. Unter den Zeichen des nahenden Unheils befinden sich die vielen Friedens- und Abrüstungskonferenzen, die in der Bibel ebenfalls vorausgesagt werden: »Wenn sie werden sagen: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, — so wird sie das Verderben schnell überfallen, gleichwie der Schmerz ein schwangeres Weib, und werden nicht entfliehen« (1. Thessalonicher 5, 3).

Als der Apostel Paulus diese Prophezeiung niederschrieb, hatten die Menschen keine Möglichkeit, eine blitzartige Zerstörung über die Erde kommen zu lassen. Sie konnte nicht mit Schwertern oder Speeren durchgeführt werden. Heute besitzen Nationen Atomwaffen.

In unseren Tagen wird die Prophetie außerordentlich wichtig. Jesus hatte vorausgesagt, die Heiden würden Jerusalem beherrschen, »bis daß der Heiden Zeit erfüllt wird« (Luk. 21, 24). Die Tatsache, daß die Juden im Jahre 1967 die Herrschaft über Jerusalem und Palästina wiedergewannen, könnte ein erstes Anzeichen dafür sein, daß die Zeit der Heiden — das heißt die Zeit, in der die Heiden (die Nicht-Juden) sich der Gemeinde Christi anschließen und für die Ewigkeit gerettet werden können — nahe gekommen ist. Es ist von größter Wichtigkeit, daß die Menschen an Christus glauben und zu ihm kommen, solange noch Zeit ist. Die Verbreitung von Zweifeln bezüglich der Gültigkeit der Prophetie durch die Atheisten ist gerade in dieser Zeit ein teuflischer Kunstgriff. Dadurch ist dieses Buch selbst eine tragische Erfüllung einer biblischen Prophetie: »Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden« (1. Korinther 1, 18).

Wer erschuf Gott?

Es gibt einen Gott. Wir können mit ihm Gemeinschaft haben. Er offenbarte sich durch seine Propheten und durch seinen Sohn Jesus Christus.

Die Natur ist wie ein Festmahl. Es gibt Bananen, Melonen, Tomaten und Getreide. Doch es kann kein Festmahl ohne einen Koch geben. Genausowenig kann es eine Welt ohne einen Schöpfer geben. Dies ist das beste Argument für die Existenz Gottes.

Unsere Gegner haben jedoch das Recht, mit einer weiteren Frage zu antworten. Wenn alles eine Ursache haben muß und man die Ursache Gott nennt, muß auch Gott eine Ursache haben. Wer erschuf ihn? Es wäre eine Ausflucht, wenn man sagen würde, diese Frage sei gotteslästerlich. Ich finde sie höchst berechtigt. Als Kind stellte ich sie selbst.

Jede Masse oder Materie befindet sich in ständiger Bewegung. Sie ist nicht mehr genauso wie noch vor einer Sekunde. Es gibt immer eine Ursache, die die Veränderung hervorrief. Die Bewegung der Materie wird durch die Zeit gemessen. Bestimmte Stadien der Materie erzeugen rechtzeitig Wirkungen, die wiederum zu Ursachen neuer Veränderungen werden. Materie ist ohne eine erste Ursache undenkbar.

Doch die Existenz in der Zeit ist nicht die einzige Form der Existenz. Es gibt auch eine Zeitlosigkeit, in der es kein Vorher und kein Nachher gibt, keine Ursache und keine Wirkung. Dies ist der Bereich Gottes. Er hat alles erschaffen. Er gehört einer Sphäre der Selbstexistenz an. Niemand erschuf ihn.

Was war zuerst, die Henne oder das Ei? Dies ist die klassische Frage. Wenn das Ei zuerst war, wer legte es? Wenn es die Henne war, woher kam sie? Sie können über diese Frage jahrtausendelang diskutieren, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen, wenn Sie nicht erkennen, daß die ursprüngliche Frage drei Voraussetzungen hat:

1. es gibt ein Huhn,
2. es gibt ein Ei,
3. es gibt ein »Vorher« und ein »Nachher«.

»Vorher« und »Nachher« sind Kategorien unseres Denkens, Formen unseres Empfindungsvermögens, Begriffe, um die aufeinanderfolgenden Stadien der sich fortwährend bewegenden Materie zu verstehen. Doch die Zeit ist nichts Eigenständiges gegenüber den Bewegungen, zu deren Messung sie dient. Die Zeit hat keine objektive, von Materie und Phänomenen unabhängige Existenz. Dies ist das ABC der einsteinschen Relativitätstheorie. Kinetische Energie erzeugt Bewegung und schafft den Begriff der Zeit. Was ist mit der potentiellen Energie? Sie ruht. Stellen Sie sich eine Welt mit ausschließlich potentieller Energie vor! Es gäbe nicht die geringste Bewegung, es gäbe nichts zu messen. Sie wäre ein Universum ohne Zeit. Zeitlos ist auch der Bereich des Geistes, der Bereich Gottes. Wir nennen ihn ewig. Die Ewigkeit ist nicht endlose Zeit, sondern Zeitlosigkeit.

Lassen Sie mich dies anhand eines Beispiels verdeutlichen. Stellen Sie sich vor, auf einem 2000 Lichtjahre entfernten Planeten gäbe es Wesen höherer Ordnung, als wir es sind, mit Teleskopen, mit denen sie nicht nur unsere Erde, sondern auch deren Bewohner sehen könnten.

Stellen Sie sich vor, diese Superwesen würden heute Bethlehem betrachten. Was würden sie sehen? Die Geburt Jesu Christi. Sie würden die Hirten, die Weisen, Maria, Josef und das Kind sehen — weil das Licht von diesen Personen bis zu dem entfernten Planeten 2000 Jahre benötigen würde. Für uns ist die Geburt Christi ein vergangenes Ereignis. Für sie würde sie heute stattfinden. Stellen Sie sich solche Superwesen auf einem 3500 Lichtjahre entfernten Stern vor! Sie würden sehen, wie sich das Volk Israel unter der Führung von Mose den Grenzen Palästinas nähert. Sie würden ihre Freude über die Ankündigung der Geburt eines Erlösers sehen. Für sie wäre die Geburt Jesu ein zukünftiges Ereignis.

Ein und dasselbe Ereignis ist, vom Standpunkt der Erde aus gesehen, vergangen, von dem eines Planeten gegenwärtig und von dem eines anderen Planeten aus zukünftig. Wie ist es für den Geist, der die Geschehnisse auf allen drei Planeten gleichzeitig mitverfolgen und die Gedanken aller lesen kann? Für ihn gibt es weder Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft.

Die Frage »Was war zuerst, die Henne oder das Ei?« ist gelöst. Es gibt kein Zuerst und kein Später. Die Frage hat in einem Bereich, in dem es weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Ursache noch Wirkung gibt, keinen Sinn. Die Frage »Wer war vor Gott und erschuf ihn?« kann nicht gestellt werden. Es gibt kein Vorher.

Einstein schreibt: »Jeder Bezugskörper (Koordinatensystem) hat seine besondere Zeit; eine Zeitangabe hat nur dann einen Sinn, wenn der Bezugskörper angegeben ist, auf den sich die Zeitangabe bezieht.« Für den ewigen Geist gibt es keine Zeit. Für ihn steht alles in gegenseitiger Beziehung und bildet eine Einheit. Gott ist eins.

Für einen Reisenden im Zug ist die Zeit, die der Zug für die Strecke zwischen zwei Pfosten benötigt, eindeutig kürzer als für einen Beobachter, der am Bahngleis steht. Die Zeit ist nicht nur für den ersteren kürzer, sondern auch für alles andere im Zug, einschließlich seiner Uhr, die langsamer geht.

Stellen Sie sich nun eine Rakete vor, die annähernd mit Lichtgeschwindigkeit fliegt. Erdbewohner, die den Herzschlag des Astronauten aufzeichnen, würden eine Verlangsamung feststellen. Dasselbe würde mit den Vorgängen im Körper des Astronauten geschehen, obwohl diese für den Astronauten selbst gleichbleiben würden.

Nach Langevins unanfechtbarer Berechnung würde ein Mensch, der die Erde mit einer um ein Zwanzigtausendstel unter der Lichtgeschwindigkeit liegenden Schnelligkeit verläßt, nach seiner eigenen Zeit ein Jahr lang reist und mit derselben Geschwindigkeit auf die Erde zurückkehrt (das heißt nach seiner Uhr zwei Jahre nach seiner Abreise), nach unserem Kalender zwei Jahrhunderte später zurückkehren. Der Urenkel seiner Tochter, die am Tag der Abreise, als der Astronaut 30 Jahre alt war, geboren wurde, wäre hundert Jahre alt, während er selbst 32 wäre.

Eine solche Rakete ist nicht reine Phantasie. Es gibt eine, für die selbst die Lichtgeschwindigkeit ein Kinderspiel ist. Es ist die Rakete des Geistes. In Sekundenschnelle schweifen meine Gedanken von fernen Galaxien zu meiner alten Mutter, von dort zum Paradies, vom Paradies in meine Nachbarzelle und von dort zurück zu entlegenen Sternen. Dann kann ich mit Adam und Abel Gemeinschaft pflegen, sie blitzschnell wieder verlassen und meine Zeit in zukünftigen Jahrtausenden verbringen, in meine Zelle zurückkehren und das Essen zu mir nehmen, das soeben gebracht wurde. Der Geist ist weder an Raum noch an Zeit gebunden. Der Tod gehört der Zeit an. Im Raum der Zeit folgen die Ereignisse aufeinander. Ich wurde geboren, ich wuchs auf, ich werde sterben, ich werde auferweckt werden. Im Bereich der Zeitlosigkeit geschehen die Ereignisse nicht nacheinander. Es gibt dort keinen Raum für die Vergänglichkeit meiner Persönlichkeit.

Wenn ich in einem Zug mit gleichbleibender Geschwindigkeit in eine bestimmte Richtung reise, habe ich den Eindruck, daß die Städte und Dörfer an mir vorbeiziehen. Ich sehe sie durch das Fenster wie einen endlosen Strom von Orten. Doch in Wirklichkeit existieren die Orte gleichzeitig nebeneinander. Nur für mich scheinen sie aufeinanderzufolgen. Im Kino sehe ich die Entwicklung mehrerer Personen von der Wiege bis zur Bahre mit all ihren Schwierigkeiten. Doch auf der Filmspule existieren diese Ereignisse gleichzeitig nebeneinander. Nur für mich spielen sie sich in zeitlicher Reihenfolge ab.

Wir sind an die Beschränkungen des Gewichts gewöhnt. Es war eine ziemlich große Entdeckung, als die ersten Astronauten feststellten, daß sie auch in einem Zustand der Schwerelosigkeit leben konnten. Wir leben in der Zeit, in der Dinge erscheinen und verschwinden. Deshalb glauben wir an den Tod und den Zerfall. Doch es gibt auch den Bereich der Zeitlosigkeit, den Bereich Gottes. Er ist der nichterschaffene Urheber der ganzen Schöpfung. In ihm haben wir unser ewiges Leben, die Existenz und Bewegung. Da wir im Raum der Zeit leben, erscheint uns die Wirklichkeit wie eine Folge von Ereignissen. Doch die Anwendung unseres Zeitbegriffes auf den Geist ist ebenso töricht, wie wenn man ihn auf die Atomphysik anwenden würde.

Nach der Relativitätstheorie bleibt bei Lichtgeschwindigkeit jede Uhr stehen, da die Masse gegenüber jedem Versuch, sie zu beschleunigen, unendlich träge ist. Ist es deshalb nicht vernünftig, daß Gott in der Bibel »das Licht« (1. Joh. 1, 5) und die Christen »das Licht der Welt« (Matth. 5, 14) genannt werden?

Jedermann verneigt sich vor dem Namen Einsteins, doch meine Gegner täten gut daran, sich zu erinnern, daß Lenin das Prinzip der Relativität angriff, daß Mach, der die Werke Einsteins inspirierte, von Lenin als der Judas der Wissenschaften gebrandmarkt wurde, und daß die sowjetischen Philosophen Einstein und das ganze Gebiet der Kybernetik lange Zeit nicht beachteten.

Das Leben nach dem Tod

Marxisten wissen nicht, was Leben ist. Das russische Akademiemitglied Oparin sagt: »Die zweite Richtung des Materialismus ist der Ansicht, daß das Leben eine besondere Form der Existenz der bewegten Materie ist.« Was kann ein junger Mensch mit einer solchen Definition anfangen? Er fragt seinen marxistischen Vater: »Wie soll ich an das Leben glauben? Wie kann ich mein Leben am besten nutzen?« Doch sein Vater kann ihm möglicherweise keine Antwort darauf geben, da der Sohn in Wirklichkeit fragte, wie sich eine der Bewegungsformen der Materie mit ihren wesentlichen, unveränderlichen Gesetzen verhalten solle. Wieviel kraftvoller ist die Antwort des Christen: »Das Leben ist eine Person, Jesus Christus, dessen Freundschaft man annehmen und dessen Beispiel man folgen kann. Das Leben ist eine ewige Gnade. Seine irdische Zeitspanne soll großzügig für andere, seine ewige Nachwirkung im Paradies — zu dem die Erde das Vorzimmer ist — zur eigenen Freude am Schöpfer und seiner Herrlichkeit genutzt werden.«

Da die Marxisten nicht wissen, was Leben ist, wissen sie auch nicht, was Tod ist. Deshalb ist der Tod ein Schrecken ohne den Trost und die Hoffnung der Religion. Es ist ein schlechter Trost, wenn man den Trauernden sagt: »Wir sterben und verschwinden für immer. Doch der Sozialismus schreitet voran, und bald werden wir auf dem Mond spazierengehen.«

Voll Trauer schrieb Marx in einem Brief an Lassalle vom 28. Juli 1855: »Der Tod meines Kindes hat mir Herz und Hirn tieferschüttert, und ich fühle den Verlust noch so frisch wie am ersten Tag. Meine arme Frau ist auch völlig downbroken (gebrochen).«

Wir verstehen seine Gefühle. Er kannte den Sieg des Christen über den Tod nicht.

Der sowjetische Christ Talantow starb für seinen Glauben im Gefängnis. Sein ältester Sohn führte den christlichen Kampf weiter. Er starb auch im Gefängnis. Da nahm der jüngere Sohn den Kampf auf. Auch er kam im Gefängnis ums Leben. Sie fürchteten den Tod nicht.

Skripnikow wurde in der Sowjetunion wegen seines christlichen Kampfes erschossen. Seine Tochter Aida machte das Anliegen ihres Vaters, ungeachtet seines Schicksals, zu dem ihrigen. Sie ist noch jung. Sie war bereits viermal im Gefängnis, weil sie ihren Glauben an Christus bekennt.

Für Atheisten ist der Tod wie das Damoklesschwert über ihrem Kopf, das sie daran erinnert, daß alle ihre Freuden — oder Sorgen! — bald vorüber sein werden.

Der Tod wird von denen nicht gefürchtet, die ihn kennen.

Jesus versicherte: »Wer da lebt und glaubt an mich, wird nimmermehr sterben« (Joh. 11, 26). Er sagte diese Worte in der Nähe des Grabes eines Menschen, der an ihn geglaubt hatte. Jesus behielt recht. Geburt und Tod sind unsere Art, die Wirklichkeit des Lebens aus der Sicht der Zeit zu verstehen. Christen brauchen den Tod nicht zu furchten.

Während der russischen Revolution unter dem großen Terror der Tscheka wurde der Befehl gegeben, eine Gruppe von Christen zu ertränken. Einer von ihnen rief aus: »Wir gehen zu Gott! Welchen Unterschied macht es, ob wir zu Land oder zu Wasser gehen?« Sie hatten keine Angst.

Das »Handbuch des Atheisten« bezeichnet den Glauben an das Leben nach dem Tod als »die Grundlage der religiösen Theorie« und als »äußerst gefährlich «. Was ist jedoch das Leben, wenn nach dem Tod nichts nachfolgt?

Nehmen wir an, das kommunistische Ideal sei verwirklicht. Wir hätten eine vollkommene Gesellschaft ohne Unterschiede zwischen Arm und Reich, ohne Kriege und Revolutionen, mit Wohlstand, Kultur und Glück für jedermann. Doch der Mensch müßte immer noch sterben. Arme Menschen sterben leicht. Sie haben nicht viel zu verlieren. Für glückliche Menschen ist der Tod eine Katastrophe. Kirow, der von Stalin ermordete Generalsekretär der kommunistischen Partei des Leningrader Gebiets, bekleidete eine Machtposition. Er genoß das Leben. Seine letzten Worte waren: »Ich möchte leben, leben und nochmals leben!« Hätte Stalin ihn nicht umgebracht, wäre er einige Jahre später eines natürlichen Todes gestorben, und seine tragischen letzten Worte wären dieselben gewesen.

Wir müssen alle sterben. Die Entscheidung liegt nicht bei uns. Wenn nichts folgt, ist das schönste Leben nicht mehr als eine Henkersmahlzeit. Der zum Tode Verurteilte erhält Leckerbissen und wird dann gehängt. Er mag in einer idealen Gesellschaft gelebt haben, doch letztlich wird er verwesen und von allen vergessen sein.

Versuchen Sie einen sterbenden Krebskranken oder seine Familie mit den Worten zu trösten: »Wir bauen eine glückliche kommunistische Gesellschaft auf«, oder »Die Wissenschaft leistet Großes. Wir waren auf dem Mond, und bald werden wir auf der Venus sein.« In diesen Worten liegt nicht viel Trost. Erzählen Sie jedoch dem Sterbenden und den Trauernden vom himmlischen Vater und der Hoffnung des Christen auf ein ewiges Leben bei ihm, und Sie werden den Unterschied sehen!

Das Leben geht jedoch nach dem Tod weiter. Der Gedanke an die Ewigkeit und an die Vergeltung des Guten und des Bösen ist tief im menschlichen Herzen verankert.  . . .

Der Apostel Jakobus schreibt: »Was ist euer Leben? Ein Dampf ist’s, der eine kleine Zeit währt, darnach aber verschwindet er« (Jakobus 4,14). Es löst sich aber nicht in nichts auf. Dampf wird zu Wasser. Nichts geht verloren. Das irdische Leben vergeht, doch es wird nicht zu nichts. Eine Raupe wird zur Puppe, eine Puppe zum Schmetterling. Tote sind unserer Sicht entschwunden. Dies bedeutet aber nicht, daß es sie nicht mehr gibt.

Stellen wir uns vor, wir könnten mit einem Embryo sprechen und ihm erzählen, sein Leben im Mutterleib sei nur eine Vorbereitungszeit. Das wirkliche Leben folge in einer ihm unbekannten Welt unter ihm unvorstellbaren Bedingungen. Wenn der Embryo die Intelligenz eines Akademiemitglieds hätte, würde er wie das »Handbuch des Atheisten« antworten: »Laßt mich mit diesem religiösen Aberglauben in Ruhe! Das Leben in der Gebärmutter ist das einzige, das ich kenne, und es gibt kein anderes. Euer Gerede ist reine Erfindung habgieriger Geistlicher!«

Stellen Sie sich aber vor, dieser Embryo könnte scharfsinniger denken als unsere Akademiemitglieder. Er würde sich sagen: »In meinem Kopf entwickeln sich Augen. Zu welchem Zweck? Es gibt nichts zu sehen. Es wachsen mir Beine. Ich habe nicht einmal genug Platz, sie auszustrecken. Warum also wachsen sie? Und wozu wachsen mir Arme und Hände? Ich muß sie über meiner Brust verschränken. Sie stören mich und meine Mutter. Meine ganze Entwicklung in der Gebärmutter ist sinnlos, wenn nicht ein Leben mit Licht, Farben und vielen Dingen folgt, die meine Augen sehen können. Der Ort, an dem ich dieses andere Leben verbringen werde, muß groß und vielfältig sein. Ich werde dort umherlaufen müssen. Deshalb wachsen meine Beine. Es wird ein Lebender Arbeit und des Kampfes sein. Deshalb wachsen mir Arme und Fäuste, die hier nutzlos sind.« Überlegungen über seine Entwicklung würden einen Embryo zum Wissen um ein anderes Leben führen, obwohl er damit noch keine Erfahrungen gemacht hat.

Dies ist auch genau unsere Situation. Das Christentum lehrt uns, das Leben in dieser Welt habe auch einen embryonischen Charakter und sei nur eine Vorbereitung auf das wirkliche, nachfolgende Leben. Wie können wir das wissen? Wenn Gott (oder, um der Argumentation willen, die Natur) uns nur für dieses Leben erschaffen hätte, hätte er uns zuerst die Weisheit und Erfahrung des Alters und dann die Tatkraft der Jugend gegeben. Wir hätten dann zu leben gewußt. Uns fehlt aber in Wirklichkeit in der Jugend die Weisheit, und wir verschwenden nur zu oft unsere Jahre mit Nichtigkeiten. Wenn wir endlich Weisheit und Erfahrungen gesammelt haben, wartet schon der Leichenwagen vor unserer Tür. Warum also sammeln wir Weisheit? Warum wachsen denn dem Embryo Augen, Beine und Hände? Nur für das nachfolgende Leben. Unsere Entwicklung in diesem Leben weist auf ein zukünftiges hin.

Körper und Geist haben nicht nur eine getrennte, sondern eine widersprüchliche Entwicklung. Wenn wir älter werden, zerfällt unser Körper, während unser Geist bereichert wird. Geist und Körper sind wie zwei Wanderer, von denen der eine bergauf und der andere bergab geht. Welche Logik wird mich glauben machen, der Geist werde mit dem Körper untergehen, wenn letzterer am Fuße des Berges und damit beim endgültigen Zerfall angelangt ist? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß er sich nach einem steilen Aufstieg in »den Himmel der Himmel« aufschwingen wird, wie Mao Tse-tung es vom Geist seiner verstorbenen Frau sagte (sein Gedicht »Die Unsterblichen«)!

Ich war viele Jahre ohne Bücher in Einzelhaft, wo ich meine Zeit damit verbrachte, mir die verschiedensten Situationen vorzustellen. Ich stellte mir vor, ich sei der Erste Parteisekretär der Sowjetunion, König von England, der Papst, ein Millionär und ein Bettler. Ich konnte mir alle diese Situationen vorstellen. Sie sind denkbar, weil sie Möglichkeiten des Lebens sind. Das Leben ist reich. Es konnte aus einem Korporal einen französischen Kaiser und aus diesem Kaiser einen Gefangenen auf einer Insel machen. Mittellose Menschen wurden Millionäre. Reiche Menschen wurden arm. Stalin, der Sohn eines trunksüchtigen Schuhmachers, ein Georgier und ehemaliger Schüler eines Priesterseminars, wurde der Diktator der Sowjetunion und des gesamten kommunistischen Blocks. Kurz nach seinem Tod wurde sein Name aus der Geschichte gestrichen. All dies ist im Leben möglich und daher vorstellbar. Ferner versuchte ich mir vorzustellen, ich sei tot, was mir aber nie gelang, da der Tod nicht zu den Möglichkeiten des Lebens gehört.

Wenn Sie sich den Tod vorzustellen versuchen, sehen Sie sich bewegungslos in einem Sarg im Leichenhaus liegen. Die Tatsache, daß Sie sich im Sarg sehen, zeigt, daß Sie nicht tot sind. Ein Toter sieht sich selbst nicht. Die Unvorstellbarkeit des Todes ist kein unbedeutendes Argument für die Ewigkeit des menschlichen Lebens.

Es ist wichtig, die Ewigkeit nicht mit einer endlosen Zeit zu verwechseln, da sich diese zwei Begriffe widersprechen. Eine endlose Zeit gibt es nicht; Ewigkeit ist Zeitlosigkeit.

Die Möglichkeiten des Traumlebens, in dem geistige Vorgänge oft sehr rasch vollzogen werden, lassen uns einen flüchtigen Blick darauf werden. Ein Handlungszyklus, der normalerweise lange Zeit beanspruchen würde, zieht während eines Traumes in einem kurzen Augenblick durch unser Gehirn. Auch das Raumverhältnis ist aufgehoben. Wir können riesige Strecken in Sekundenbruchteilen bewältigen. Im Traum sind wir weder an Raum noch an Zeit gebunden. Wenn wir über das Traumleben nachdenken, stellen wir fest, daß die Mauern von Zeit und Raum, die uns während des Wachzustandes gefangenhalten, uns eine weitere, jenseits der begrenzten Sphäre liegende Lebensqualität vorenthalten, die wir gewöhnlich »Wirklichkeit« nennen.

Der menschliche Körper braucht zu seiner vollständigen Befriedigung nur sehr wenig: Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Ruhe und in einem bestimmten Alter einen Partner anderen Geschlechts. Wie kommt es dann, daß Kapitalisten oder die obere Klasse der Sowjetunion, die von alledem viel haben, manchmal melancholisch und unzufrieden sind? Wie ist es möglich, daß wegen ihres Glaubens eingekerkerte, hungrige, frierende, mit Ketten gebundene und jahrelang von ihrer Familie getrennte Menschen vor Freude jubeln können? Was ist das geheimnisvolle Wesen, das niedergeschlagen sein kann, während der Körper alle guten Dinge hat, und das sich freuen kann, während der Körper durch Leiden geht? Es ist etwas anderes als der Körper. Es ist die Seele.

Sie zeigt während unseres irdischen Lebens ihre Abhängigkeit, aber auch ihre Unabhängigkeit vom Körper. Sie ist so unabhängig vom Körper, daß sie den Selbstmord beschließen kann. Die Seele kann beschließen, den eigenen Körper aus psychologischen Gründen zu töten. Es gibt keinen Grund zu glauben, der Tod des Leibes müsse auch den Tod dieses willensstarken, unabhängigen Wesens nach sich ziehen.  . . .

Ich habe ein reiches und ein armes Leben, ein fröhliches und ein trauriges Leben, das Leben eines freien und das eines gefangenen Menschen, das Leben eines Gesunden und das eines Kranken gelebt. Wenn ich mich mit einer dieser Lebensformen identifiziere, hört mein Leben auf, sobald diese bestimmte Lebensform zu Ende geht. Für einige Menschen verliert das Leben mit dem Verlust des Wohlstands seinen Wert.

Der Körper ist nicht mein »Ich«. In gewisser Hinsicht habe ich viele Körper gehabt: den eines Embryos, eines Säuglings, eines Kindes und den eines jungen Mannes. Petrus schreibt: »…solange ich in dieser Hütte bin …« (1. Petrus 1, 13). Er bezieht sich auf ein bestimmtes Stadium, in dem sich sein Körper befindet. Ich habe in mehreren Hütten gewohnt, doch es gibt einen klaren Unterschied zwischen mir und der Behausung, in der ich eine Zeitlang lebe.

Jesus sagte im Garten Gethsemane: »Meine Seele ist betrübt bis an den Tod« (Matth. 26, 38). Beachten Sie seine Ausdrucksweise! Jedermann könnte sie gebrauchen. Er spricht von einer Seele und von einem Besitzer der Seele, der diese beobachtet und feststellt, daß sie betrübt ist. Doch ich bin ebensowenig mit einem bestimmten Zustand meiner Seele identisch, wie ich mit einem bestimmten Zustand meines Körpers identisch bin.

Ich leide an meinem Leib oder an meiner Seele. Ich weiß, daß ich leide. Was ist die letzte Wirklichkeit in mir, die alles beobachtet, was mit meinem von mir als solches betrachteten »wirklichen Ich« geschieht? Er weiß: »Ich bin jetzt gesund« oder »Ich sterbe jetzt«. Wer kennt und beobachtet alle diese Veränderungen? Er selbst bleibt unverändert. Er ist nicht ein Leben, sondern das Leben, der Sohn Gottes in mir, der Eine, der nicht sterben kann.

Jesus sagte: »Ich bin die Wahrheit.« Wie kann eine Wahrheit je untergehen? Wer wird mich zerstören können, wenn ich mich, wie er, mit der ganzen Wahrheit identifiziere? Es ist unumstößlich, daß zwei und zwei vier gibt, ob ich nun gefangen oder frei, lebendig oder tot bin. Ich werde eins mit der von äußeren Ereignissen unabhängigen Wahrheit.

Wenn ich mich mit Christus vereinige, wenn ich die Worte »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« für mich in Anspruch nehme, werde ich ewig leben.

Wir verwahren ein Gemälde von Leonardo da Vinci und eine Skulptur von Michelangelo sehr sorgfältig. Sollte da der Schöpfer die Künstler, die diese Werke schufen, nicht mit mindestens derselben Sorgfalt bewahren?

Es gibt ein ewiges Leben, und so wie ein unbußfertiger Hitler dieses nicht gut an demselben Ort verbringen kann wie die unschuldigen Kinder, die er umbrachte, muß es einen Himmel für die Gerechten und eine Hölle für die Ungerechten geben.

Sie könnten von den letzten Worten großer Gegner der christlichen Religion lernen. Talleyrand: »Ich erleide die Qualen der Verdammten.« Mirabeau: »Gebt mir Laudanum, damit ich nicht an die Ewigkeit denken muß.« Voltaire: »Ich bin von Gott und den Menschen verlassen. Ich werde zur Hölle gehen. O Christus, o Jesus Christus!« Karl IX., König von Frankreich: »Welches Blut, welche Morde, welch bösen Rat habe ich befolgt. Ich bin verloren, ich sehe es wohl.« Tom Paine: »Ich gäbe Welten, wenn »Das Zeitalter der Vernunft« (ein antichristliches Buch) nie veröffentlicht worden wäre. O Herr, hilf mir! Christus, hilf mir! Bleibe bei mir! Es ist die Hölle, allein gelassen zu werden.«

Ich hoffe, damit zumindest bewiesen zu haben, daß der Glaube an ein ewiges Leben nicht so lächerlich ist, wie es die Autoren des »Handbuches des Atheisten « glauben machen wollten.

Auf einem internationalen Symposium für Ärzte wurde darüber diskutiert, welche Operation die schwierigste sei. Ein Deutscher sagte, es sei die Gehirnoperation, ein Franzose meinte, es sei die Herzoperation. Der sowjetische Delegierte behauptete, die schwierigste Operation sei eine Mandeloperation. Alle lachten, doch er sagte: »Sie halten meine Behauptung für dumm. Sie vergessen aber, daß wir seit der Revolution die Mandeln nach der Schädeleröffnung über das Gehirn entfernen müssen, weil es uns verboten ist, den Mund aufzumachen.«

Ich habe den Mund ohne die Erlaubnis einer kommunistischen Regierung aufgemacht.

Wissenschaft und Religion

Die kommunistische Geheimpolizei ist für ihre Fähigkeit, unschuldigen Personen Geständnisse für angebliche Verbrechen abzunötigen, bekannt. Tausende von solchen »Kriminellen« wurden unter Chruschtschow rehabilitiert. Doch die Methoden haben sich nicht geändert.

Unter den von der russischen Geheimpolizei gefolterten Gefangenen befindet sich ein gewisser Genosse namens Wissenschaft. Unter Schlägen und mit glühenden Schürhaken drangsaliert oder auf andere Art mißhandelt, erzielte dieser Gefangene namens Wissenschaft sensationelle, im »Handbuch des Atheisten« wiedergegebene Geständnisse. Kein wirklicher Wissenschaftler würde dafür einen Groschen geben. Sehen wir uns ein paar davon an:

»Die Wissenschaft erbrachte den unwiderlegbaren Beweis für die Nichtexistenz übernatürlicher Kräfte.« – »Die Wissenschaft beweist, daß Leben im Universum weit verbreitet ist… Die Anzahl von Planeten, auf denen vernünftige Wesen leben, ist unendlich groß… Die wissenschaftliche These über die Vielzahl von bewohnten Welten versetzt dem Dogma des Sühneopfers, welches das Wesen des Christentums ist, den Todesstoß… Die Nichtexistenz von Wundern ist gänzlich bewiesen«, und so weiter.

Wir müssen diesen ganzen Abschnitt als Unsinn abtun. Gehen wir zu anderen Behauptungen über. Ein Grundsatz des »Handbuches des Atheisten« ist, zwischen Wissenschaft und Religion bestehe ein unüberbrückbarer Konflikt. Zwischen welcher Wissenschaft und welcher Religion? Beide sind in ständiger Entwicklung begriffene Wesenheiten.

Die Religion ist nicht mehr das, was sie vor fünf Jahrhunderten oder auch noch vor einem Jahrhundert war.

Am Anfang waren die Christen überzeugt, Jesus werde noch zu ihren Lebzeiten wiederkommen. Sie glaubten, die Welt sei flach, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums, und Gott sitze nicht sehr weit davon entfernt auf seinem Thron und beschäftige sich hauptsächlich mit den Geschehnissen auf der Erde. Heute denken Christen nicht mehr so.

Was Gott offenbart hat, ist ewig. Was Menschen über diese Offenbarung gedacht haben, ist vergänglich.

Doch auch die Wissenschaft verändert sich. Ein Mittelschüler betrachtet die Wissenschaften des Euklid, Galilei oder Newton heute nicht mehr als endgültig.

Unsere Gegner greifen zu einem alten Trick: Sie vergleichen die moderne Wissenschaft mit der primitiven Religion, die Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts mit den religiösen Vorstellungen der Juden vor 3500 Jahren, die damals gerade der jahrhundertelangen Knechtschaft entkommen und ungebildet waren und die auf einem viel niedrigeren kulturellen Niveau lebten als die Zigeuner von heute. Dies ist jedoch unehrlich. Es ist so, wie wenn man die heutige Sowjetunion mit dem vorkolonialen Amerika vergleichen würde, um die wirtschaftliche Überlegenheit der Sowjetunion aufzuzeigen.

Die heutige Wissenschaft muß mit den höchsten religiösen Gedanken von heute verglichen werden, und dann werden wir eher eine Übereinstimmung als einen Widerspruch sehen.

So soll es auch sein. Wir zitieren noch einmal Einstein: »Die meisten Leute sagen, der Intellekt mache einen großen Wissenschaftler aus. Sie haben unrecht; es ist der Charakter.« Der Charakter ist nicht ein wissenschaftlicher, sondern ein religiöser und moralischer Wert. Niemand kann ein wahrer Wissenschaftler sein, ohne einen auf Ehrlichkeit und Redlichkeit beruhenden Charakter zu haben. Dies sind die Werte, die das Christentum lehrt.

Ein Mensch, der nur die Wissenschaft hat, ist als Wissenschaftler nicht glaubwürdig. Er muß aufrichtig sein; er muß an das glauben, was er in seinem Labor entdeckt. Er muß Hoffnung haben, da er ohne sie niemals seine ganze Zeit der Forschung widmen würde. Er muß begeisterungsfähig sein, sonst würde er nicht zahllose Stunden im Labor verbringen. Er muß demütig sein, um die Ordnung der Dinge schlichtweg zu akzeptieren. Er muß sich ganz seinem Ziel widmen, denn wenn er seine Interessen verteilen würde, würde er nichts entdecken. Ein Wissenschaftler muß in der Lage sein, mit seinen Kollegen im selben Labor zusammenzuarbeiten. Dazu ist die Geduld einer Madame Curie erforderlich, die acht Tonnen Pechblende reinigte, um daraus ein paar Milligramm Radium zu gewinnen. Er benötigt Scharfsinn und richtiges Urteilsvermögen. Er muß der Welt genau und ohne jede Übertreibung berichten, was er herausgefunden hat. Er muß auch weise und opferbereit sein und für sich behalten, was für die Menschheit schädlich ist. Ein Mensch, der nur Wissenschaftler ist, ist kein Wissenschaftler. Er muß zuallererst die ethischen Werte akzeptieren, die nicht der Atheismus, sondern die Religion der Menschheit gegeben hat.

Stalin verkündete: »Die Wissenschaft ist die Retterin der Menschheit.« Dies sagte er genau zu Beginn des Atomzeitalters, als die Wissenschaft Werkzeuge für die blitzschnelle Zerstörung ganzer Städte und Waffen zur Verfügung stellte, mit denen die ganze Menschheit vernichtet werden kann. Und dies alles, weil einige Wissenschaftler die Werte nicht achteten, auf denen das ganze Gebäude der Wissenschaft aufgebaut ist. Die Wissenschaft muß in enger Verbindung zur Religion bleiben, da sie sonst nicht in der Lage sein wird, uns beim Erlangen des Glücks zu helfen. Da es diese enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Religion nicht immer gegeben hat, setzen die Menschen heute weniger Vertrauen in den Frieden als vor den großen Entdeckungen dieses modernen Zeitalters.

Sogar der Atheismus ist ohne die ethischen Werte des Christentums nicht möglich, so merkwürdig diese Behauptung auch klingen mag.

Das »Handbuch des Atheisten« schreibt: »Die materialistische Vorstellung sagt, in der Welt existiere nichts außer ewiger und unendlicher, sich in Bewegung befindlicher Materie.« Wenn es nichts außer der Materie gibt, muß die materialistische Philosophie, die sagt, alles sei Materie, auch Materie sein. »Es existiert nichts als Materie.« Dann sind auch die atheistischen Überzeugungen Materie. Meine Gegner lieben den Atheismus und hassen die Religion. Sind ihre Liebe und ihr Haß Materie? Sie kämpfen für ein Ideal, sie schreiben für ein Ideal, während sie die Existenz geistiger Werte bestreiten. Sie selbst leben von solchen Werten, auch wenn sie diese verdrehen.  . . .

Atheisten sind oft viel besser als ihre Theorien. Atheistische Soldaten starben während des Krieges, um das Leben ihrer Genossen zu retten. Welcher Idiot würde für einen hölzernen Schreibtisch sterben? Wer würde auf jede Freude verzichten, um ein Stück Papier glücklich zu machen? Atheisten, die ihr Leben für ihre Genossen geben und die ihre Abende opfern, um andere vom religiösen »Aberglauben« zu befreien, glauben tief in ihrem Herzen selbst nicht, daß sie und ihre Genossen nur Materie seien. So wie die Wissenschaft ohne Religion nicht funktionsfähig ist, können der Atheismus und die Atheisten nicht ohne Berücksichtigung einiger grundlegender religiöser Werte existieren.

Mit der gebührenden Hochachtung vor dem akademischen Grad meiner Gegner wage ich zu behaupten, daß Einstein zumindest ein kleines bißchen mehr von Wissenschaft verstand als sie. Der Beweis dafür ist, daß unser Universum den Namen Einsteins trägt, und nicht den der Autoren des »Handbuches des Atheisten «. Einstein spricht über »die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist«.

Vielleicht möchten Sie wissen, was der große Physiker Max Planck in einem seiner Vorträge sagt: »Es ist der stetig fortgesetzte, nie erlahmende Kampf gegen Skeptizismus und gegen Dogmatismus, gegen Unglaube und gegen Aberglaube, den Religion und Naturwissenschaft gemeinsam führen, und das richtungweisende Losungswort in diesem Kampf lautet von jeher und in alle Zukunft: Hin zu Gott!«

Sir Isaac Newton lebte in einem früheren Jahrhundert, doch praktisch gesehen leben wir noch immer im Newtonschen Universum. Er hatte in seinem Labor ein Miniatursonnensystem aufgebaut. Ein Ungläubiger fragte ihn: »Wer hat das gemacht?« Newton antwortete: »Niemand.« — »Lügen, Unsinn!« antwortete der Ungläubige. »Sag mir die Wahrheit! Wer hat es gemacht?« Darauf antwortete Newton: »Es ist nichts anderes als eine unbedeutende Nachbildung eines viel größeren Systems, und ich kann dich nicht davon überzeugen, daß dieses bloße Spielzeug keinen Konstrukteur und Schöpfer hat! Hast du behauptet zu glauben, das große Original dieser Imitation sei ohne einen Schöpfer entstanden? Sag mir, durch welche Überlegung du zu einer so widersinnigen Erklärung kommst.«

Die atheistischen Professoren anerkennen, daß Newton sein fundamentales wissenschaftliches Werk »Mathematische Prinzipien der Naturlehre« mit Worten über die »Herrschaft eines mächtigen und weisen Wesens« und mit dem Bekenntnis seines Glaubens an einen ersten Impuls, das heißt eine Schöpfung beschließt. Sie erklären dies aufgrund der Tatsache, daß Newton Anfang des achtzehnten Jahrhunderts lebte, als man viele, heute bekannte atomare, chemische und biologische Prozesse noch nicht kannte und die Wissenschaft noch sehr stark mit der Theologie verknüpft war. Sie behaupten ferner, Newtons Religiosität sei für seine Wissenschaft ein Hindernis gewesen. Doch dann bleibt das Rätsel, daß das Newtonsche Universum im zwanzigsten Jahrhundert zum Einsteinschen Universum wurde. Einstein wußte zumindest etwas über die atomaren Prozesse, über die jüngsten Entwicklungen der Wissenschaft, und er, der in seiner Jugend Atheist gewesen war, wurde durch die Tatsache zum Glauben geführt, daß er auf dem Gipfel der Wissenschaft angelangt war.

Wir wollen jedoch gleich feststellen, daß Einstein meine Gegner nicht beunruhigt. Die Tatsache, daß seine Bücher in den kommunistisch regierten Teilen des Einsteinschen Universums verboten sind, spricht für sich. Man kann sie dort in keiner Buchhandlung finden. Weshalb können sie sagen, Einstein habe die »Unvereinbarkeit zwischen Wissenschaft und Glauben« durchweg unterstrichen. Ich habe soeben Einsteins Worte zitiert, die das Gegenteil beweisen.

Die Autoren des »Handbuches des Atheisten« zitieren Descartes zu Unrecht als Unterstützer ihrer Lehre. Descartes war ebenfalls ein bekennender Christ. Sie entstellen die Bedeutung seiner Worte, indem sie ihnen einen materialistischen Sinn verleihen. Er schrieb: »Gib mir Materie und Bewegung, und ich werde das Universum bauen!« Die Worte sind klar. Die Existenz des Universums erfordert Materie, Bewegung und ein intelligentes Wesen, das es baut. Die Worte Descartes’ lauten: »Gib mir Materie und Bewegung.« Ohne dieses »Ich« würden Materie und Bewegung allein kein Universum ergeben. Es ist nur dieses »Ich«, das von Gott kommt, der große Taten vollbringen kann, weil wir als Schöpfer geschaffen wurden.

Heisenberg, der große Atomwissenschaftler, rief zur Vereinigung von Wissenschaft und Religion auf. Sir James Jeans, der bekannte Astronom, schreibt in seinem Buch »Der Weltraum und seine Rätsel«:

»… Das Weltall sieht allmählich mehr wie ein großer Gedanke als wie eine große Maschine aus. Der Geist erscheint im Reich der Materie nicht mehr als ein zufälliger Eindringling; wir beginnen zu ahnen, daß wir ihn eher als den Schöpfer und Beherrscher des Reiches der Materie begrüßen sollten — natürlich nicht unseren individuellen Geist, sondern den Geist, in dem die Atome, aus denen unser individueller Geist entstanden ist, als Gedanken existieren… Wir entdecken, daß das Weltall Spuren einer planenden oder kontrollierenden Macht zeigt, die etwas Gemeinsames mit unserem eigenen individuellen Geist hat…; wir sind im Weltall nicht so sehr Fremdlinge oder Eindringlinge, wie wir zuerst dachten.«

Hören wir den großen Psychologen C. G. Jung, der ebenfalls in unserem Jahrhundert lebte: »Seit 30 Jahren habe ich eine Klientel aus allen Kulturländern der Erde. Viele Hunderte von Patienten sind durch meine Hände gegangen… Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits 35, ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, daß er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht …«

Nicht die Mentalität eines Jahrhunderts, sondern die Wissenschaft macht den Menschen religiös. Daher schrieb Kepler vor mehreren Jahrhunderten: »Wir denken Gottes Gedanken nach.«

Ich weiß nicht, wie das »Handbuch des Atheisten« dazu kommt, sich auf Bertrand Russell als auf einen Wissenschaftler zu berufen. Wir kennen von ihm keine wissenschaftliche Entdeckung. Er ist für unsere Gegner eine Autorität, weil er sich für linke Politik einsetzte. Doch da sein Name hier erwähnt wurde, sollten wir meines Erachtens anführen, was er über das Christentum schrieb:

»Es gibt bestimmte Dinge, die unser Zeitalter braucht, und bestimmte Dinge, die es vermeiden sollte. Es braucht Erbarmen… Es braucht vor allem mutige Hoffnung und den Antrieb, sie zu schaffen… Die Wurzel davon ist eine sehr einfache und altmodische Sache, eine so einfache Sache, daß ich mich beinahe schäme, sie zu erwähnen, aus Angst vor einem spöttischen Lächeln, mit dem weise Zyniker meine Worte begrüßen werden. Das, was ich meine — bitte verzeihen Sie mir, daß ich es erwähne —, ist die Liebe. Christliche Liebe oder christliches Erbarmen. Wenn Sie diese empfinden, haben Sie ein Motiv für die Existenz, einen Leitfaden für das Handeln, einen Grund für den Mut, eine zwingende Notwendigkeit für eine intellektuelle Aufrichtigkeit.«

C. Chant, Professor der Astrophysik an der Universität Toronto, sagt: »Ich habe keine Bedenken zu behaupten, daß mindestens neunzig Prozent der Astronomen zu dem Schluß gekommen sind, daß das Universum nicht das Ergebnis eines blinden Gesetzes ist, sondern daß es von einer großen Intelligenz geordnet wird.« Viele der restlichen zehn Prozent sind sowjetische Astronomen, und diese dürfen nicht offen sagen, was sie denken.

Falls es also einen unvereinbaren Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion gibt, wie das »Handbuch des Atheisten« behauptet, wissen die meisten Wissenschaftler nichts davon.  Stellen Sie sich vor, einige der sowjetischen Akademiemitglieder wären wie Einstein und Planck zu religiösen Schlußfolgerungen gelangt. Hätten sie ein Werk über ihre Ansichten veröffentlichen können? — Sicherlich nicht — nur im geheimen und mit dem Risiko, dafür ins Gefängnis gesteckt zu werden. Wir können von Autoren, die unter solchen Bedingungen schreiben, nicht viel verlangen. Nicht jeder Mensch ist ein Held.

Eine weitere grundlose Behauptung des »Handbuches des Atheisten« ist, die Religion rechtfertige die Unwissenheit. Wer gründete die ersten Universitäten in Europa? Waren es nicht die Christen? Waren nicht die Klöster die ersten Kulturzentren? Wer möchte bestreiten, daß die deutsche und die englische Sprache — und viele andere — durch die Bibel geformt wurden?

Meine atheistischen Freunde können alles behaupten. Sie repräsentieren einen Diktator, und ihre Gegner werden mundtot gemacht.

Nein, die Wissenschaft kann nicht im Gegensatz zur Religion stehen. Die Wissenschaft kann nur gegen eine gewisse Art von rückständiger Religion sein. Wenn ich das Wort »Schiff« ausspreche, kann dies in Ihren Gedanken verschiedene Vorstellungen auslösen. Sie sehen vielleicht die Arche Noah vor sich oder das primitive Schiff, auf dem die Polynesier den Ozean überquerten, ein Wikingerschiff, ein Dampfschiff des letzten Jahrhunderts oder einen modernen Transatlantik-Luxusdampfer.

Wenn ich »Religion« oder »Gott« sage, löst dies erneut verschiedene Vorstellungen in Ihnen aus. Verschiedene Menschen haben zu verschiedenen Zeiten je nach ihrem Denkvermögen, ihren Gefühlen und ihrer geistlichen Erkenntnis Gott unterschiedlich verstanden. Sie legten seine Offenbarung ebenfalls unterschiedlich aus.  . . .

Wissenschaft und Religion gehören zwei verschiedenen Sphären an. Die Wissenschaft zeigt uns nur den materialistischen Aspekt der Dinge. Wenn Sie einen Wissenschaftler fragen, was ein Kuß sei, wird er sagen: »Er ist die Annäherung zweier Lippenpaare bei einer reziproken Übertragung von Mikroben und Kohlendioxyd.« Hinter dem Kuß steckt jedoch mehr. Aus der Sicht der Wissenschaft ist jede Blume das Gleichgewicht eines biochemischen Mechanismus, der Pottasche, Phosphate, Stickstoff und Wasser in bestimmten Mengen benötigt. Doch jeder Blumenfreund wird bestreiten, daß der Wissenschaftler alles über eine Blume gesagt hat. Die Wissenschaft geht nur den halben Weg. Ein Teil des Weges wird von der Kunst gegangen, ein Teil von der Philosophie und das letzte Stück von der Religion.

Sie wissen sehr wenig über das Leben, wenn Sie es lediglich als einen protoplasmischen Organismus betrachten und vergessen, was Sie darüber von Shakespeare, Dickens, Michelangelo, Raphael, von den großen religiösen Persönlichkeiten der Welt und von unserem menschgewordenen Gott, Jesus Christus, gelernt haben.

Wäre es richtig, von der Umarmung eines Liebenden als von einer beschleunigten Abgabe von Adrenalin an das Blut zu sprechen und zu sagen, dies sei eine ausreichende Erklärung für alles, was in diesem Moment geschähe?

Es ist unwissenschaftlich und daher unrichtig, das Leben auf die Wissenschaft zu beschränken. Die Autoren des »Handbuches des Atheisten« gehen von den theoretischen Betrachtungen über die Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion zur praktischen Seite des Problems über. Luther habe angeblich eine »strenge Maßnahme gegen die Ketzerei Kopernikus’« verlangt. Es bleibt ein Geheimnis, wann Luther diese Zwangsmaßnahmen verlangte. Sie würden in den Werken Luthers vergeblich nach solchen Worten suchen.

»Aber ließ Calvin nicht den großen Wissenschaftler Servetus verbrennen?« fragen unsere Gegner. – Ja, das stimmt leider. Doch die Behauptung des »Handbuches des Atheisten«, er habe ihn aufgrund seiner wissenschaftlichen Entdeckungen auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen, ist schlichtweg falsch. Er wurde zum Tode verurteilt, weil er eine falsche religiöse Lehre verbreitet hatte. Dies geschah vor ungefähr 500 Jahren und ist sehr bedauerlich, es ist aber nicht an unseren Gegnern, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Nicht ein Servetus, sondern Millionen Menschen sind in kommunistischen Konzentrationslagern zum Tode verurteilt oder langsam umgebracht worden, weil sie es gewagt hatten, eine andere politische Lehre zu unterstützen als die eines Diktators, der später von seinen eigenen Genossen verleugnet wurde.  . . .

Weder die theoretischen Aussagen der Verfasser des »Handbuches des Atheisten« über Wissenschaft und Religion noch ihre Angaben zur praktischen Seite dieser Angelegenheit können einer Untersuchung standhalten.

Es ist ein anerkannter Grundsatz der Biologie, daß die Funktion das Organ schafft. Wir haben Augen, damit wir Licht und Farbe sehen können. Wir haben Ohren, damit wir Geräusche hören können, und Hände, weil es materielle Gegenstände zum Anfassen gibt. Uns wurde ein Verstand gegeben, weil es Dinge gibt, über die wir nachdenken sollen. Woher haben wir die eigenartige Fähigkeit zu glauben? Sogar ein Kind besitzt diese Fähigkeit. Es muß also eine entsprechende Wirklichkeit geben. Wäre es logisch in dieser Welt, wo alles in uns mit einer äußeren Wirklichkeit übereinstimmt, daß gerade diese Fähigkeit des Glaubens in uns kein durch den Glauben verständliches »Außerhalb« hätte? Wir haben die Fähigkeit des Glaubens, weil es einen Gott gibt, an den wir glauben können. Es gibt nicht nur Materie, sondern auch eine Wirklichkeit, die wir nicht mit physikalischen oder chemischen Ausdrücken erklären können, ohne uns lächerlich zu machen.  . . .

Ich denke, ich habe zum Thema Wissenschaft und Religion genug gesagt.

Was diese atheistischen Autoren von der Inanspruchnahme des Rechts, im Namen der Wahrheit zu sprechen, abhält, ist das vollkommene Fehlen von Äußerungen des Zweifels in ihrem Buch.

Die Autoren der Bibel verzichteten nie darauf, ihren Zweifeln Ausdruck zu geben, obwohl sie tief religiöse Menschen waren. Sie finden Zweifel in den Psalmen und im Buch Hiob. Sogar Johannes der Täufer hatte im Gefängnis Zweifel, ob Jesus wirklich der Messias sei (Matth. 11, 2-3). Jesus selbst rief am Kreuz: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Matth. 27, 46).

Die Autoren des Leitfadens für Atheisten bringen in allem eine übertriebene Selbstsicherheit zum Ausdruck. Ihnen ist kein Zweifeln erlaubt; sie müssen den ihnen von der kommunistischen Partei erteilten Auftrag, gegen die Religion zu schreiben, erfüllen.

Kein Mensch ist vollkommen religiös. Auch religiöse Menschen haben ihre Zweifel. Desgleichen ist kein Mensch immer ein Atheist. Auch Atheisten haben ihre Momente des Glaubens, doch während die Autoren der Bibel, wie beispielsweise David und Hiob, manchmal beinahe gotteslästerlich anmutende Gedanken äußern, erscheinen unsere atheistischen Gegner immer sehr selbstsicher. Sie sind alle wie aus einem Guß: Atheisten, und nur Atheisten! Das ist unnatürlich. Sie sagen nicht alles, was sie denken.

Es ist, als ob sie nie von Heisenbergs berühmter Unschärferelation gehört hätten! Die politische Macht, meine atheistischen Freunde, ist auf Ihrer Seite. Die wissenschaftliche Wahrheit ist jedoch auf der unseren. Jesus kann als der Begründer wissenschaftlichen Denkens betrachtet werden. Er sagte: »Gehet hin und verkündiget Johannes, was ihr gesehen und gehört habt« (Luk. 7, 22); »Wir reden, was wir wissen, und zeugen, was wir gesehen haben« (Joh. 3, 11); und »Sehet die Vögel unter dem Himmel an… Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen« (Matth. 6, 26—28). Er lehrt uns, genau zu beobachten. Christen werden dazu angehalten, zu sagen, was sie wissen, was sie gehört und gesehen haben. Die Wissenschaft beruht auf denselben Prinzipien.

Versöhnung

Das »Handbuch des Atheisten« spricht noch über vieles andere, ich muß jedoch auf den Umfang dieses Manuskripts achten. Es wird in gedruckter Form in kommunistische Länder geschmuggelt werden und sollte daher nicht zu umfangreich sein.

Doch ich schulde meinen Gegnern etwas. Christus lehrte uns, Böses mit Gutem zu vergelten. Sie haben unsere Religion verleumdet; ich muß ihnen den Weg des Heils zeigen. Die Autoren eines atheistischen Propagandabuches können ebenso gerettet werden wie diejenigen, die andere Sünden begangen haben.

Wir leben mit dieser entsetzlichen Wirklichkeit der Sünde. Ich habe meine Sünden; meine Gegner haben die ihrigen. Weder die humanistische, die atheistische oder die religiöse Philosophie noch Spekulationen Geistlicher oder deren gottloser Feinde können das Geringste zur Befreiung des Menschen von der Sünde ausrichten. Gott vollbrachte deshalb ein mächtiges, wirksames Werk. Ich habe versucht, die Verläßlichkeit der Heiligen Schrift zu beweisen. Aus der Heiligen Schrift können meine Gegner erfahren, wie sie von ihren Sünden befreit werden, um Kinder Gottes und Erben ewigen Lebens zu werden.

Paulus schreibt: »Ich habe euch gegeben, was ich auch empfangen habe, daß Christus gestorben sei für unsere Sünden nach der Schrift; und daß er begraben sei, und daß er auferstanden sei am dritten Tage nach der Schrift« (1. Korinther 15, 3 – 4).

Niemand kann voll und ganz verstehen, was der Tod Christi in Palästina vor 2000 Jahren mit meinen Sünden zu tun hat und wie meine Sünden durch ein Opfer getilgt werden können, das Er damals brachte. Doch ebensowenig können wir eine genaue Erklärung für das Wesen der Elektrizität, der Schwerkraft oder der physiologischen und psychologischen Vorgänge in uns abgeben. Wir brauchen keine vollständige Erklärung des Sühneopfers, um daraus einen Nutzen zu ziehen. Es genügt, wenn wir glauben, Christus sei um unserer Sünden willen gestorben, er habe unsere Strafe getragen, und unsere Sünden würden uns nicht mehr angerechnet.

Christus ist der menschgewordene Gott. Und doch erniedrigte er sich und nahm die Strafe für unsere Sünden durch sein eigenes Leiden auf sich. Petrus drückt dies mit folgenden Worten aus: »Wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes« (1. Petrus 1, 18-19). Im Himmel wird zur Ehre Christi ein Lied gesungen: »Du bist erwürget und hast uns Gott erkauft mit deinem Blut aus allerlei Geschlecht und Zunge und Volk und Heiden und hast uns unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und wir werden Könige sein auf Erden« (Offenbarung 5, 9-10).

Wenn Christus mit seinem Blut Menschen jeder Nation erkaufte, erkaufte er auch Kommunisten und Atheisten.

Wie ich bereits sagte, können wir das Versöhnungsopfer nicht vollständig verstehen, aber wir können etwas davon verstehen. Petrus schreibt: »Sintemal auch Christus einmal für unsre Sünden gelitten hat, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führte« (1. Petrus 3, 18). Und Johannes schreibt: »Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde« (1. Joh. 1, 7). Johannes der Täufer sagt im Hinblick auf Jesus: »Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt« (Joh. 1, 29). Paulus schreibt: »So werden wir ja vielmehr durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn Gottes nachdem wir durch sein Blut gerecht geworden sind« (Römer 5, 9).

Die Versöhnung ist das Thema, über das Christen seit 2000 Jahren nachdenken. Verbreitet ist die Stellvertretungslehre, derzufolge Jesus stellvertretend für uns um unserer Sünden willen starb. Meiner Meinung nach ist für einen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts die Lehre der Übertragung die einleuchtendste Erklärung. Wir alle haben in unserer Psyche den Mechanismus der Übertragung. Wenn wir etwas nicht finden können und deswegen aufgebracht sind, genügt es uns, jemand anders, unsere Frau oder unser Kind, für das Verlegen des betreffenden Gegenstandes verantwortlich zu machen. Wir haben einen Sündenbock gefunden, auf den wir die Schuld laden können. Wenn ein Kind gegen einen Stuhl stößt, genügt es, wenn die Mutter den Stuhl für den Schmerz, den er verursachte, »verprügelt «, und das Kind ist augenblicklich besänftigt. Der Mechanismus der Übertragung ist tief in uns verwurzelt. Unser Herz findet Frieden, wenn wir unsere Probleme einem anderen in die Schuhe schieben können: der Monarchie, die Bourgeoisie, den Gutsbesitzern, den Amerikanern, den Imperialisten, den Kommunisten, den Trotzkisten, Stalin, den Juden, den Schwarzen, den Weißen, allen, nur nicht mir selbst.

Jesus benutzte diesen Mechanismus der Übertragung ganz bewußt. Daher wurde er als der Sohn Gottes Mensch. Es ist, als ob er gesagt hätte: »Wenn du dazu neigst, deine Sünden auf andere zu schieben, ist es am besten, wenn du sie auf meine Schultern lädst. Ich trage die Verantwortung, weil die ganze Schöpfung durch mich gemacht wurde. Ich bin bereit, alle Schuld und alle Sünden auf mich zu nehmen. Du hast das Gefühl, daß deine Sünden eine Strafe verdienen. Kant sagte: ,Der Verbrecher hat ein Recht auf Bestrafung.’ Ich werde die Strafe tragen, die du verdienst, und du wirst frei sein.«

Ich empfehle meinen atheistischen Gegnern, die durch die Verbreitung verleumderischer Lügen über die Religion Millionen Menschen Schaden zufügten, dieses Vergehen auf die Schultern Christi zu legen, den sie angegriffen haben. Christus ist das Lamm Gottes, das die Sünden der ganzen Welt hinwegnimmt. Er nimmt also auch die Sünden der Autoren des »Handbuches des Atheisten« hinweg. Glauben Sie an Christus, und Sie werden gerettet werden!

Sie haben versucht, der Religion mit atheistischen Theorien entgegenzutreten. Das ist kindisch. Eine kritische Analyse steht der inneren Angst machtlos gegenüber. Atheistische Theorien helfen einem Sterbenden oder seinen trauernden Hinterbliebenen nicht. Ihre eigenen Lehren sind für Sie wertlos, wenn Sie die Qual des Zweifels erleben und sich fragen, ob Sie mit der Abfassung dieses Buches nicht ein schreckliches Vergehen begangen haben. Sie denken vielleicht nicht heute darüber nach, es wird aber der Tag kommen, an dem Sie daran denken müssen, Ihr Sterbetag.

Moskau, Peking und Washington wetteifern miteinander, welche Stadt den größten Einfluß in der Welt haben werde. — Keine von ihnen! Die Stadt mit der größten Einwohnerzahl, die Stadt, in der sich Könige und Republikaner, Kapitalisten und Kommunisten, Stalinisten und Trotzkisten, Atheisten und religiöse Menschen, Geistliche und ihre Feinde treffen werden, ist die Stadt des Grabes. Und dem Ungläubigen bleibt jenseits des Grabes nur die Reue.

Sogar unmittelbar vor dem Tod wird es nicht zu spät sein. In diesem Augenblick können Sie das Gebet sprechen: »Herr Jesus, Sohn Gottes, sei mir Sünder gnädig!« Glauben Sie an das für Sie vergossene Blut Jesu Christi, und Sie werden gerettet werden! Meine lieben atheistischen Freunde! Wir haben ein paar Stunden miteinander verbracht. Jetzt werden wir auseinandergehen.

In der Bibel wird die Geschichte erzählt, daß zu der Zeit, als die Juden in Ägypten Sklaven waren, drei Tage lang Finsternis geherrscht habe. Während die Dunkelheit, die die Ägypter umgab, so dicht gewesen sei, daß sie sich gegenseitig nicht sehen konnten, hätten sich alle Kinder Israels des Lichts erfreut (2. Mose 10, 22—23).

Dieses Licht ist das Wort Gottes. Das Volk Gottes hatte dieses Licht, und es leuchtete in ihre Herzen hinein.

Ein Wort zum Schluß

Jeder Mensch hat eine gottgewollte Leere in seinem Herzen. Anstatt diese Leere mit Gott zu füllen, schrieben Sie ein Buch über die Struktur und Schönheit eines Vakuums. Sie mußten es schreiben. Atheistische Bücher sind die einzigen Bücher über den Atheismus. Luther sagt jedoch: »Unser Herr hat die Verheißung der Auferstehung nicht allein in Büchern niedergeschrieben, sondern auf jedem Blatt im Frühling.«

Sie erschlagen Seelen, indem Sie ihnen die Freude an Gott nicht ermöglichen. Deshalb gebe ich Ihnen den Rat, den Sonja dem Mörder Raskolnikow gab: »Steh auf! Geh jetzt, geh noch im selben Augenblick, stell dich an die Straßenecke, beuge dich nieder, küsse erst die Erde, die du  geschändet hast, und dann verneige dich nach den vier Seiten vor aller Welt und sage laut: ,Ich habe getötet!’ Dann wird dir Gott dein Leben wiederschenken. Gehst du? Gehst du?«

Ich verneige mich selbst vor Ihnen, da ich in der Vergangenheit auch Seelen getötet habe. Wie Sie, war auch ich bis zu dem Tag, an dem ich zu mir kam und das tat, was Sonja riet, ein Atheist. Heute erschauere ich vor dem Leben der Gewalt und des Leidens, das Sie erwartet, wenn Sie in Ihrem Atheismus verharren. Ich wurde von Christus gefunden und vom Atheismus, vom Verbrechen, befreit. Dieser Weg steht auch Ihnen offen. Werden Sie ihn gehen? Werden Sie ihn gehen?

www.horst-koch.de

info@horst-koch.de

Weitere Bücher von Pfr. Wurmbrand auf meiner Webseite:

Gefoltert für Christus

Christus auf der Judengasse

Wo Christus noch leidet

Was Christen glauben

Das blutbeschmutzte Evangelium

Atheismus – ein Weg?

Karl Marx und Satan

Marx and Satan (engl.)

Wer ist Jesus Christus?

Christus wird siegen, was immer geschieht (Biographie)

Jesus gestaltender Künstler (von Pfr. Schweikendieck

Die zwei Naturen im Kinde Gottes (von Pfr. Braun)

 




Homos – Die privilegierte Klasse? (Hunt)

Dave Hunt

Homosexuelle: die neue privilegierte Klasse ?

Ein todbringendes Übel, eine zerstörerische Verschwörung

Okkultismus ist stets mit Unmoral und sexueller Perversion verbunden. Gegen den Willen der Eltern werden an Schulen Kondome verteilt und die Kindern im »Safer Sex« unterwiesen. Die Empfehlung von Verzicht auf vorehelichen Verkehr als bester Schutz wird als religiöse Vorstellung abgewiesen. Doch sogar säkulare Studien haben gezeigt, dass voreheli­cher Verkehr die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass eine spätere Ehe in der Scheidung enden wird. Das ist genau das Gegenteil dessen, was heute propagiert wird und was jene meinen, die vorehelichen Sex praktizieren.

Eine der todbringendsten Sexualpraktiken ist die Homosexualität. Wer in ausschließlich homosexuellen Kreisen verkehrt, wird sich mit einer 1000­-fach höheren Wahrscheinlichkeit AIDS zuziehen als ein Heterosexueller. Homosexuelle Praktiken umfassen die übelsten  Ausgeburten pervertier­ter animalischer Fantasie. 37 % der Homosexuellen praktizieren Sado­masochismus.

Wer sich gegen Homosexualität ausspricht, wird als borniert denun­ziert. Doch allein die Statistiken sollten bei jedem zu einer ablehnenden Einstellung führen. Der Volksprotest gegen diese tödliche Gewohnheit sollte weit lauter sein als der Protest gegen Rauchen. Das mittlere Ster­bealter ist bei verheirateten heterosexuellen Männern fast doppelt so hoch wie bei Homosexuellen: 75 Jahre im Vergleich zu 39. Nur 1 % der Homo­sexuellen wird älter als 65. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei verheirateten Frauen ist 79 Jahre, im Vergleich zu 45 Jahre bei Lesben. Die Selbstmordgefahr ist bei Homosexuellen um 87 % höher als bei He­terosexuellen und sie sterben mit einer um 23 % höheren Wahrschein­lichkeit an Herzinfarkt. Aufgrund dieser Fakten ist es allgemein verwerf­lich, für Homosexualität einzutreten.

Diese Zahlen werden jedoch von der Öffentlichkeit ferngehalten. Die Politiker sind eingeschüchtert und müssen sich unter die Wählermacht der Schwulen und Lesben beugen. Das gilt insbesondere für die Clinton-Regierung. Immer mehr religiöse Führungspersonen, Katholiken wie Protestanten, lassen Homosexualität als rechtmäßig gelten. Billy Graham hat sie als Sünde bezeichnet, doch andererseits schweigt er praktisch zu diesem Thema. Während seiner Evangelisation in Portland (Oregon) vom 23. – 27. September 1992 forderte Graham zu Neutralität in politischen Streitfragen auf. Er weigerte sich, zum staatlichen Gesetzesvorschlag 9 Stellung zu nehmen, der die Regierung davon abhalten würde, »Homo­sexualität zu fördern, zu verbreiten oder zu erleichtern«.

Besorgte Konservative rufen zu einer »Rückkehr zu traditionellen ethi­schen Werten« auf. Ja sicher, aber welche »Tradition« soll das sein, und aufgrund welcher Autorität? Im gegenseitigen Einvernehmen mit einer anständigen Gesellschaft? Wer definiert diese Begriffe? Wir haben es dringend nötig, auf den Rat Gottes zu achten! Christus sagte: »Ich über­führe und züchtige alle, die ich liebe. Sei nun eifrig und tue Buße!« (Offb 3,19). Man erweist Homosexuellen einen weit größeren Liebesdienst, wenn man sie korrigiert, als wenn man sie »akzeptiert«. Wer diese irrege­leiteten Seelen wirklich liebt, wird sie auf die Bibel hinweisen, die ihr Verhalten als sündiges Greuel für Gott brandmarkt. Wer sie liebt, wird sie flehentlich bitten, mit dieser Sünde zu brechen, die ihnen und ihren »Partnern« nur einen vorzeitigen und schmerzlichen Tod und letztlich die Hölle einbringen wird.

AIDS erfreut sich eines Status, wie er nie zuvor einer hochgradig an­steckenden und tödlichen Krankheit zugebilligt wurde. Anstatt dass sie als todbringende Plage behandelt wird, hat AIDS sich zu einem bürgerli­chen Recht etabliert. Wer AIDS hat, hat damit einen privilegierten Sta­tus und sogar das Vorrecht, seine Infektion geheim zu halten. Die Hygie­negesetze verbieten jedem, der an Krankheiten wie Hepatitis leidet, die Arbeit in einem Restaurant, doch viele AIDS-Kranke üben eine solche Beschäftigung aus. Die Identifikation von AIDS-Kranken, die der gesun­de Menschenverstand eigentlich fordert, ist als »Diskriminierung« unter­sagt, obwohl es das sichere Todesurteil für jemanden ist, der sich infolge dieser unvernünftigen Rücksichtnahme mit dem HIV-Virus infiziert.

Solche kriminelle Dummheit bedroht uns mit einer beispiellosen Ka­tastrophe. Die Verseuchung von Blutkonserven aufgrund von Ignoranz und Fahrlässigkeit führte zu einer großen Zahl von an AIDS gestorbenen Bluterkranken. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen haben sich auch solche mit AIDS angesteckt, die im medizinischen Bereich arbeiten und mit HIV-Patienten zu tun hatten. Kürzlich wurde eine ganze Familie (Eltern und Kinder) von AIDS ausgelöscht. Wie sie sich den HIV-Virus zugezogen haben, bleibt rätselhaft.

Bei den neuesten, Ende November 1997 veröffentlichten Studien wur­den neue Arten des HIV-Virus entdeckt, die weit schwieriger zu identifi­zieren sind, sowie eine epidemieartige Ausbreitung, die schneller voran­schreitet, als zuvor geschätzt, mit mittlerweile 30 Millionen (1 % aller se­xuell aktiven Erwachsenen) Infizierten. Hilfe erhofft man immer noch von einem Impfstoff, obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, dass ein sol­cher niemals gefunden werden wird.

Sowohl die Medien als auch die öffentlichen Schulen werden von der kleinen, aber militanten Minderheit von Homosexuellen (Umfragen zu­folge ca. 2 bis 3 %) unter Druck gesetzt und stellen so Homosexualität als natürlich und vertretbar dar. Die Türen der Schulen, die christlichen Rednern verschlossen sind, öffnen sich weit für solche, die sich durch Verdrehung der Tatsachen und offensichtliche Lügen für Homosexuali­tät aussprechen. »Project 10« ist nur eines der öffentlichen Schulprogram­me, das darauf ausgelegt ist, Amerikas Kinder für Homosexualität zu öff­nen. Die Kinder werden aufgefordert zu experimentieren, um ihre sexu­elle »Orientierung« oder »Vorliebe« in Erfahrung zu bringen.

In den gesamten USA werden Lesebücher für das erste Schuljahr zur Förderung von Homosexualität eingesetzt (z. B. Papas Freund, das Ho­mosexualität als normal hinstellt, und Heather Has Two Mommies – »Hea­ther hat zwei Muttis« –, die Geschichte eines Kindes eines lesbischen Paares, das durch künstliche Befruchtung zur Welt kam). Eine Schwulen­zeitung prahlte:

Wenn der religiöse rechte Flügel sich schon über Papas Freund auf­regt, Michael Willhoites bahnbrechendes Kinderbuch über einen Jun­gen, der mit seinem schwulen Vater und dessen Liebhaber zusammen­lebt, dann geht Willhoite davon aus, dass sie erst recht in die Luft ge­hen, wenn er den Nachfolgeband Daddy’s Wedding (»Papas Hochzeit«) fertig gestellt hat. Er spricht bereits von sich selbst und seiner Kollegin Leslea Newman, die das gleichfalls umstrittene Kinderbuch Heather Has Two Mommies schrieb, als »antichristliches Zwillingspaar« (Philadelphia Gay News, April 1995).

Sich selbst als »antichristliches Zwillingspaar« zu bezeichnen, ist ein Ein­geständnis des antichristlichen Wesens dieser Perversion. Es wird einge­standen, dass die homosexuelle Gesellschaft fest entschlossen ist, die Ju­gend zu pervertieren. Willhoite sagt: »Ihr Denken [das der Eltern] können wir vielleicht nicht ändern, aber wir können zumindest einen Schuss auf sie abfeuern, indem wir das Denken ihrer Kinder ändern.«  Das ist ein unab­sichtliches Eingeständnis, dass entgegen ihren Behauptungen niemand homosexuell geboren wird, sondern dass man zu dieser Sünde verführt wird.

Die homosexuelle Propaganda verbreitet zahlreiche Lügen

Der Ho­mosexuelle wird als weit liebevoller und freundlicher dargestellt als der Durchschnittsbürger. Wenn das stimmt, warum beharren dann Homose­xuelle in einem Verhalten, das sowohl für ihre »Partner« wie auch für die ganze Bevölkerung lebensbedrohlich ist? Eine weitere Lüge ist die Be­hauptung, AIDS sei nicht wirklich ansteckend. Warum gibt es dann eine AIDS-Epidemie? Dr. John G. Barlett, Leiter der Abteilung für Infekti­onskrankheiten am John Hopkins Hospital, hat AIDS in Wirklichkeit als »die tödlichste Epidemie der Geschichte« bezeichnet. Dann gibt es den cleveren Missbrauch von Statistiken, dass sich mehr Hetero- als Homo­sexuelle an Kindern vergehen. Ja, auf die 98 % der heterosexuellen Bevölkerung fallen mehr Sexualvergehen als auf die 2 % der Homosexuel­len. Diese Minderheit von 2 % ist jedoch stets für ein Drittel bis die Hälfte allen sexuellen Kindesmißbrauchs verantwortlich und sieht diesen auch noch als normales Verhalten an. Die bis heute ausführlichste Studie über männ­lichen Kindesmißbrauch zeigt, dass Homosexuelle durchschnittlich 7,5-mal so viele Sexualdelikte an Jungen verüben wie Heterosexuelle an Mädchen (Catholic Family News, 1994).

Ein hauptsächliches Ziel einer Schwulenvereinigung (National Gay Task Force) ist die Aufhebung aller Gesetze zur Einschränkung von Min­derjährigen. Schockierende Tatsache ist, dass NAMBLA (die »Nordame­rikanische Liebesvereinigung für Beziehungen zwischen Männern und Jungen«), die ausdrücklich für Pädophilie eintritt, in einer Kirche ge­gründet wurde. Daran war eine Reihe von katholischen wie protestanti­schen »christlichen« Führungspersonen beteiligt, die ihre Stimme zuguns­ten dieser Perversion abgaben. Traurigerweise ist ein bedeutender Pro­zentsatz der Pädophilen römisch-katholische Priester.

Vom 29. Mai bis 1. Juni 1997 fand in Disney World in Orlando der siebte Jahrestag der Schwulen und Lesben statt. In Werbeanzeigen wa­ren Mickey Mouse und Donald Duck Hand in Hand abgebildet, die an einem Schild mit der Aufschrift »Schwulentag in Disney« vorbeispazier­ten. Die Veranstaltung zog 60.000 »Schwule, Lesben, Bisexuelle und ihre Familien« an, im Vergleich zu 30.000 im Vorjahr. Wie böse ist es doch, Kindern eine sexuelle Perversion zu empfehlen, die die Lebenserwartung voraussichtlich halbiert!

Im Rahmen der Festivitäten zur Begrüßung der Clinton-Regierung in Washington DC. im Januar 1993 fungierte die US-Hauptstadt als Gast­geber eines »Homosexuellen-Einführungsballs«, der vom Einführungs­komitee des Präsidenten finanziert wurde und dessen Einladungen das offizielle Siegel des Präsidenten trugen. Über den Köpfen der tanzenden und feiernden Homosexuellen zeigte ein riesiger Videoschirm – unter dem Beifall der Schwulen – Clips aller positiven Aussagen aus Clintons Reden über Homosexuelle. Clinton hat zahlreiche Schwulen und Lesben in Schlüsselpositionen seiner Regierung eingesetzt.

Um Ihrer Kinder willen

Nicht lange nachdem Bush und Quayle die Wahl verloren und Clinton und Gore gewonnen hatten, erschien eine Ausgabe des Atlantic Monthly mit einer Titelstory unter der Überschrift »Dan Quayle hatte Recht«. Sie stellte heraus, was jetzt, nach zwei Jahrzehnten Forschung, sogar die So­ziologen zugeben: dass die Auswirkungen von der Zerstörung der Fami­lie katastrophal und verheerend sind. Der zunehmende Spott, der sich gegen heile Familien mit Müttern und Vätern richtet, die um jeden Preis ihre Verbindung der Liebe und Treue erhalten wollen, hat Chaos und Unheil angerichtet. Die Mißachtung biblischer Sexualmoral führt nicht nur zu Scheidungen, allein erziehenden Müttern und Vätern und unehe­lichen Kindern, sondern ist der tiefe Grund der meisten gesellschaftli­chen Probleme, die uns heute große Sorgen bereiten. Auch ein noch so hoher Etat kann weder die von Kriminalität geplagten Städte noch die zerbrochenen Familien heilen, und die »neue Moral« und »alternative Lebensstile«, die von der liberalen Regierung befürwortet werden, ma­chen alles nur noch schlimmer.

Viele christliche Eltern haben den Lügen der Psychologie geglaubt und somit versäumt, ihre Kinder auf liebevolle und biblische Weise mit der nötigen Zucht zu erziehen. Ohne dieses Schutzschild ist dem gefährli­chen Einfluß der Welt nur umso mehr Tür und Tor geöffnet. In vielen Fällen wird der Glaube der Eltern nicht mehr an die Kinder weiterver­mittelt.

Jemand, der in Drogen und Rebellion verstrickt war, aber das Übel erkannte und floh, schreibt:

Ich war ein Kind der 60er, gehörte zur Blumenkinder-Bewegung. Ich erinnere mich, wie aufregend es mir vorkam … zum weltweiten Bünd­nis der Jugend zu gehören, mit einer neuen Vision des Friedens, der Liebe und der Brüderlichkeit, verbunden durch Drogen und Musik.

Anfänglich schien mir alles neu und wunderbar. Am Ende kam et­was ganz anderes dabei heraus. Ich habe Glück gehabt, dass ich da mit intaktem Verstand herausgekommen bin, wenngleich ich Jahre ge­braucht habe, um wieder durchzublicken und von der geistlichen Ge­bundenheit befreit zu werden, in die ich geraten war. Andere Freunde hatten dieses Glück nicht. Tod und Verlust von Verstand und Geist waren an der Tagesordnung. Ich war noch nicht mal ein richtiger Hip­pie – nur ein normales Baptistenkind, das Spaß hatte an Drogen und Spielarten des Satanismus, die ich damals nicht durchschaute 

Ich … staune darüber, wie ich verführt wurde … Ich habe mit Freun­den geredet … und wir haben über diese Zeit nachgedacht … ungläu­big zurückgeblickt, als wären wir eine Zeit lang hypnotisiert gewesen … [Außer den] Drogen … gab es noch eine andere mächtige Kraft … Die Rockbands waren unsere Idole, unsere Gurus … Musik hat sicherlich zur Hinwendung zu Mystizismus, Drogen und dem Geist des Antichristen … beigetragen. Unsere geliebten Beatles wandten sich den östlichen Religionen und den Drogen zu – und wir folgten ihrem Beispiel.

Trotz allen Protests seitens der Eltern sind die Verfechter des Umschwungs fest entschlossen, fortzufahren und ihren spirituellen Fahrplan durchzu­ziehen. Eltern sollten

 – tägliche Familienandachten halten und sicher­stellen, dass ihre Kinder Christus persönlich kennen und ihm ihr Leben übergeben und geweiht haben;

 – darauf achten, dass ihre Kinder dem Herrn aus freier Entscheidung glauben und nachfolgen und dies nicht aufgrund elterlichen oder gemeindlichen Drucks tun;

 – darauf achten, dass die aufrichtigen Fragen der Kinder beantwortet werden und dass sie auf der Grundlage des Wortes Gottes wissen, was sie und warum sie glau­ben;

 – wissen, was ihren Kindern auf der Schule beigebracht wird (sei es eine staatliche oder christliche Schule), die Kinder wappnen, um Falschem widerstehen zu können und ggf. die Kinder aus Klassen oder Program­men herausnehmen, die darauf konzipiert sind, ihren Glauben und ihre Moralmaßstäbe zu untergraben;

 – sorgsam Freundschaften, Aktivitä­ten und andere Einflüsse auf ihr Leben beobachten, die genauso todbrin­gend sein können wie der Einfluß der öffentlichen Schule; und

 – ernst­lich Gott um Weisheit bitten, die Kinder inbrünstig lieben und alle Zeit zu biblischen Ratschlägen bereit sein, die sie ihnen in Geduld und Liebe mit auf den Weg geben.

Jugendliche sollten vollkommen überzeugt davon sein, dass es aus­schließlich darauf ankommt, was Gott von ihnen denkt und was er ihnen sagen wird, wenn sie eines Tages vor ihm stehen werden. So wie Jim Elli­ot sagte, einer der Märtyrer von Ecuador, der sich als junger Mann auf Kosten einer einträglichen Karriere für das Missionsfeld entschied:

»Der ist kein Tor, der hingibt, was er nicht behalten kann, auf dass er gewinne, was er nicht verlieren kann.«

 

Dem Buch OKKULTE INVASION (Seite 330-335) entnommen von Horst Koch, Herborn, im März 2006

 

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