Israel (René Pache)

6. Teil

Israel und die Wiederkunft Jesu Christi

– Auszug aus dem Buch DIE WIEDERKUNFT JESU CHRISTI, Seiten 219 bis 262.

Eingestellt von Horst Koch, Herborn, im November 2023 –

1. Kapitel


Die Berufung Israels

Nach der Schöpfung hatte Gott drei Versuche unternommen, der Menschheit das Glück zu sichern, sie wurden aber vereitelt. Er hatte den Menschen ins Paradies gesetzt, daraus ihn jedoch sein Fall vertrieb. Hierauf erweckte Er in Seth eine neue Linie, aber dann zwang ihn die Verderbzheit der ganzen menschlichen Rasse, die Sintflut zu senden. Und zuletzt zogen die aus den Fluten wunderbar gerettetet Nachkommen Noahs das Strafgericht vom Turmbau zu Babel auf sich. Mit Kapitel 11 des ersten Mosebuches verzichtet Gott zunächst darauf, Sich mit den Völkern abzugeben; sie treten in den Hintergrund, bis ihnen in der Apostelgeschichte das Evangelium gebracht werden kann.

Aber gerade um das Heil schaffen zu können, ruft Sich Gott ein Volk heraus, daß es der Welt die Bibel und den Messias bringe. In souveräner Gnadenwahl beruft Er Abraham, den Ahnherrn Israels, mit den Worten: „Gehe aus deinem Vaterland und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein land, das Ich dir zeigen will. Und Ich will dichzum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. . . . Und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ 1. Mose 12, 1-3. Diese Berufung enthält drei Hauptverheißungen:


1. Das Geschenk eines Landes: Palästina
2. die Zusage, daß Abraham und seine Nachkommen zum großen Volk werden sollen;
3. der Segen, den das auserwählte Volk vermitteln soll, wird über die ganze Erde strömen. Dieser Segen besteht in der Offenbarung Gottes in der Schrift und vor allem im Kommen des Heilands.

Zu wiederholten Malen gibt Gott Abraham diese Verheißungen und bekräftigt sie zuletzt als einen ewigen Bund. 1. Mose 15,18; 17,3-8. Von Abraham geht der Bund auf Isaak, Jakob und seine Nachkommen über, denen er feierlich bestätigt wird. Zu Jakob spricht Gott:
„Siehe, Ich will dich wachsen lassen und mehren und will dich zum Haufen Volks machen und will dies Land zu eigen geben deinem Samen nach dir ewiglich.“
1. Mose 48,4.
Am Sinai sagt der Herr zu Israel: „Werdet ihr nun Meinen Bund halten, so sollt ihr Mein Eigentum sein vor allen Völkern . . . Ihr sollt Mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein.“ 2. Mos. 19, 5-6.

David, dem König nach dem Herzen Gottes, dem Vorfahren des Messias, verheißt der Herr: „Dein Haus und dein Königreich soll beständig sein ewiglich vor dir, und dein Stuhl soll ewiglich bestehen. 2. Sa m. 7, 16. „Ich habe einmal geschworen bei meiner Heiligkeit, Ich will David nicht lügen: sein Name soll ewig sein und sein Stuhl vor mir wie die Sonne; wie der Mond soll er ewiglich erhalten sein. Ps. 89, 36-38. Jesus Christus wird Sich eines Tages auf den Thron Davids setzen und das Israel solange zuvor verkündete Messianische Reich aufrichten.

Welch wunderbare Berufung für das auserwählte Volk! Die Juden sind ihr nicht immer treu geblieben, aber Gott hat sie schon, sozusagen gegen ihren Willen, zur Erfüllung eines großen Teiles gebracht. Vergessen wir nicht, daß Jesus es selbst gesagt hat: „Das Heil kommt von den Juden!“ Joh. 4 ,22.


2. Kapitel


Die in Bezug auf Israel bereits erfüllten Weissagungen

In diesem Teil unsres Buches wollen wir die Zukunft des jüdischen Volkes zu beleuchten suchen, auf das sich in der Tat viele Weissagungen der Schrift beziehen. Um sie recht verstehen und deuten zu können, müssen wir uns kurz daran erinnern, wie sich einige Prophezeiungen über Israel in der Vergangenheit erfüllt haben.

Weissagung:

l. Die Israeliten werden nach Ägypten hinabgehen, 400 Jahre dort bleiben, zu Sklaven werden und dann mit großem Reichtum wieder ausziehen.
1. Mos. 15, 13-16.

Erfüllung: 
1 . Mos. 46, 1-7. 2. Mos. 1-12 (12,35-36).

2. Aus dem Stamme Juda werden die Königsfamilie und der König der Könige hervorgehen. 1. Mos. 49,10.

Erfüllung:
 2. Sam. 7,16. 
Hebr. 7,14.



3. Alle Kinder Israels, die sich weigerten, ins gelobte Land einzuziehen, sollen 40 Jahre in der Wüste umherirren und dort sterben. 4. Mos. 14, 32-34.
Erfüllung: 5. Mos. 2,1 4-15.


4. Israel ist ein ausgesondertes Volk, das nicht in andern aufgehen soll. 4. M. 23, 9.

Erfüllung:
 So besteht es auch seit Jahrtausenden

5. Es verwirft die von Mose eingeführte Theokratie, und wie alle andern Völker gibt es sich einen König. 5. Mos. 17, 14-15.
Erfüllung: 1. Sam. 8,5.


6. Das Volk wird abfallen, in die Gefangenschaft weggeführt werden, und sein Land wird verflucht sein. 5. Mos.
28, 20-24. 47-48. 64-66, etc.:
Dem Zehnstämmereich wird 65 Jahre zuvor gesagt, daß der König von Assyrien es 
zerstören werde. Jes. 7, 8, 17-20.

Juda soll vom König von Babylon auf 70 Jahre weggeführt werden. Jer. 25, 9-11; 29, 10.
Erfüllung: 2. Chr. 36, 20-21 und 2. Kön. 17, 6-7 



7. Gott verkündet lange zuvor, daß Er den Perserkönig Kores erwecken werde, daß er die Juden nach Palästina zurückführe und den Tempel wieder aufbaue. Jes. 44, 28; 45,13.
Erfüllung: Esra 1,1-2. 


8. Daniel hat 49 Jahre vorher Zeitpunkt und Umstände des Wiederaufbaus von Jerusalem
 angegeben. Dan. 9. 25.
Erfüllung: Neh. 2, 4-17; 6, 15-16. 


9. Israel wird den Messias nicht erkennen, Ihn verabscheuen, um dreißig Silberlinge verkaufen, Ihm die Hände durchbohren und Ihn martern. Jes. 53,2-3; 49,7; Sach. 11, 12-13; 12,10; 13,6.
Erfüllung: Matt. 26, 15; 27, 3-10. 22-23


10. Jerusalem soll wieder zerstört werden und vom Tempel kein Stein auf dem andern bleiben. Matt. 24, 1-2.
Erfüllung: Genau das geschah im Jahre 70, als 1.100.000 Juden unter den Angriffen von Titus fielen. 


11. Dann sollen die Israeliten wieder auf die Sklavenmärkte gebracht werden, ohne Käufer zu finden. 5. Mos. 28,68.
Erfüllung: In der Tat verkauften die Römer Massen von solchen, die sie nicht getötet hatten, so daß die Märkte von Alexandrien überfüllt waren. 


12. Jesus selbst kündigt das Strafgericht des Himmels über das Geschlecht an, das Ihn kreuzigen wird. Matt. 23,
36 ; 24,34; Luk. 21,20-24.
Erfüllung: Das traf 37 Jahre später richtig ein. Nach einem letzten Aufstand machten die Römer 132-135 nach Chr. dem jüdischen Staat ein Ende. Es gab noch 500 000 Tote, und Kaiser Hadrian ließ den Tempelplatz einpflügen.

Man erkennt leicht, wie buchstäblich diese und viele andere Prophezeiungen in Erfüllung gingen. Am Anfang dieses Buches stellten wir genau dasselbe bei all denen fest, die sich auf das erste Kommen Jesu bezogen. Die Schrift enthält aber noch zahllose andere Prophezeiungen über die Zukunft Israels. Matt. 5, 18 sagt Jesus: „Denn Ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe.“ Wir können es nicht immer so genau wissen, wie wir es möchten, wie alles geschehen wird, aber wir sind überzeugt, daß jede Weissagung durch Gottes Macht zur vollen Erfüllung kommen wird.

3. Kapitel



Wurde Israel nicht verworfen und durch die Gemeinde ersetzt?


1. Die Verwerfung Israels.
Da die Juden den Messias verstoßen und gekreuzigt hatten, hat sie Gott unleugbar Seinerseits verworfen. Die Weingärtner haben den viel geliebten Sohn, den Erben, getötet. „Der Herr des Weinbergs“, sagt Jesus, „wird diese Weingärtner umbringen und den Weinberg anderen geben . . . Darum sage Ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt. Mk. 12, 9; Matt. 21, 43.
Die Apostelgeschichte zeigt uns, wie die ungläubigen Juden (obwohl ihnen das Evangelium immer zuerst gepredigt wird) zugunsten der in die Gemeinde eintretenden Heiden allmählich beiseite gesetzt werden. „Euch mußte zuerst das Wort Gottes gesagt werden; nun ihr es aber von euch stoßet, und achtet euch selbst nicht wert des ewigen Lebens, siehe, so wenden wir uns zu den Heiden . . . Wohl hat der Heilige Geist gesagt durch den Propheten Jesaja zu unseren Vätern und gesprochen . . . Sie hören schwer mit den Ohren und schlummern mit ihren Augen, . . . damit sie sich nicht bekehren und Ich ihnen helfe. So sei es euch kund getan, daß den Heiden gesandt ist dies Heil Gottes; und sie werden’s hören.“ Ap. 13, 46; 28, 25-28.
Von da ab ist die Türe für Israel als Volk verschlossen. Ein Jude, der Buße tut und an Jesus Christus glaubt, kann ebensogut das Heil erlangen wie wir. Röm. 10, 12-13. Aber das auserwählte Volk ist vorerst seiner Vorrechte entsetzt. Aus lauter Liebe zu den Seinen nagt darum ständiger Kummer am Herzen des Paulus, und er beschreibt in sehr lebendigen Ausdrücken den Abgrund, in den sich Israel willentlich gestürzt hat: „Sie haben sich gestoßen an dem Stein des Anlaufens . . . Sie sind verstockt, wie geschrieben steht: Gott hat ihnen gegeben einen Geist des Schlafs, Augen, daß sie nicht sehen . . . Ihr Fall ist der Welt Reichtum und ihr Schade der Heiden Reichtum . . . Ihre Verwerfung ist der Welt Versöhnung . . . Etliche von den Zweigen (des Ölbaums) sind ausgebrochen (d.h. die ungläubigen Juden) . . . Gott hat der natürlichen Zweige nicht verschont . . . Darum schau den Ernst Gottes an denen, die gefallen sind . . . Ich will euch nicht verhalten, liebe Brüder, das Geheimnis . . . Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren, bis die Fülle der Heiden eingegangen sei.“ Röm. 9, 32; 11, 8-25.

Diese Verwerfung von Israel wurde – schon während der Laufbahn des Paulus wirksam geworden – gleich nach seinem Tode grauenvoll offenbar. So schrieb Paulus den Thessalonichern über die Juden, die jene verfolgten: „Welche auch den Herrn Jesus getötet haben und ihre eigenen Propheten und haben uns verfolgt, und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen zuwider, wehren uns zu predigen den Heiden, damit sie selig würden, auf daß sie ihre Sünden erfüllen allewege; denn der Zorn ist schon über sie gekommen zum Ende hin.“ 1. Thess. 2, 15-16. Kurz darauf, im Jahre 70, brach Gottes Gericht über sie herein.


II. Das neue Volk Gottes.

Mit Jesu Kommen trat der Neue Bund an die Stelle des Alten. Der Hebräerbrief erläutert es trefflich: Das alte Gesetz ist aufgehoben und durch ein neues ersetzt. Hebr. 7, 18-19; 8, 7.13. Jesus, unser Hoherpriester, ist der Mittler eines viel besseren geworden. Hebr. 8, 6; 9, 15. Kann man nun sagen, daß Israel, das alte Volk Gottes, ebenso völlig abgesetzt ist, um einem neuen Volk, der Gemeinde, Platz zu machen? Diese Frage bedarf einer näheren Prüfung. Sicher ist, daß Gott Abraham durch das Evangelium neue Söhne erweckt hat.


1. Die ungläubigen Juden sind nicht Glieder des wahren Israel. 
„Es sind nicht alle Israeliten, die von Israel sind; auch nicht alle, die Abrahams Same sind, sind darum auch Kinder . . . Nicht sind das Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind, sondern die Kinder der Verheißung werden für Samen gerechnet . . . Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig am Fleisch geschieht. Sondern das ist ein (wahrer) Jude, der’s inwendig verborgen ist (also durch den Glauben).“ Röm. 9, 6-8; 2, 28-29.

2. Die an Jesus Christus glauben, sind die geistlichen Kinder Abrahams.

Abraham ist „der Vater aller Unbeschnittenen, die glauben . . . und auch derer, die nicht allein beschnitten sind, sondern auch wandeln in den Fußstapfen des Glaubens, welcher war in unserm Vater Abraham.“ Die Verheißung gilt „allem Samen, nicht dem allein, der unter dem Gesetz ist, sondern auch dem, der des Glaubens Abrahams ist, welcher ist unser aller Vater.“ Röm. 4, 11-12. 16.
„So erkennt ihr ja, daß die des Glaubens sind, das sind Abrahams Kinder . . . Christus hat uns erlöst . . . auf daß der Segen Abrahams unter die Heiden käme in Christo Jesu . . . Seid ihr aber Christi, so seid ihr ja Abrahams Same und nach der Verheißung Erben.“ Gal. 3,7. 14.29.
Hagar, das leibeigene Weib Abrahams, entspricht dem „Jerusalem, das zu dieser Zeit ist (der jüdischen Synagoge), und ist dienstbar mit seinen Kindern. Aber das Jerusalem, das droben ist (die Gemeinde), das ist die Freie; die ist unser aller Mutter . . . Aber was spricht die Schrift? „Stoß die Magd hinaus mit ihrem Sohn, denn der Magd Sohn soll nicht erben mit dem Sohn der Freien.“ . . .
 Denn in Christo Jesu gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern eine neue Kreatur. Und wie viele nach dieser Regel einhergehen, über die sei Friede und Barmherzigkeit, und über das Israel Gottes.“ Gal. 4, 25-26.30; 6,15. „Denn wir sind die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen, und rühmen uns von Christo Jesu und verlassen uns nicht auf Fleisch.“ Phil. 3,3. So wurde Abraham zum Vater vieler Völker; seine Nachkommenschaft ist so zahlreich wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer . . . 1. Mos. 17, 4; 22,17; Röm. 4, 17.


3. Alle Gläubigen, Juden wie Heiden, bilden das Volk des Neuen Bundes.

Die Mehrheit der Israeliten hat leider den Messias verstoßen. Aber daß die Gläubigen unter ihnen ebenso zur Gemeinde gehören wie die bekehrten Heiden, ist ganz klar. „Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu. Seid ihr aber Christi, so seid ihr ja Abrahams Same.“ Gal. 3, 28. „Die Heiden sind Miterben und miteingeleibt (mit den Juden) und Mitgenossen Seiner Verheißung in Christo durch das Evangelium.“ Eph. 3, 6.


4. Wie steht es dann mit dem jüdischen Volk?

Bei dieser Sachlage könnten wir uns erstens fragen, ob nicht das alte Volk Israel (Abrahams Same nach dem Fleisch) vor Gott sein Daseinsrecht verloren habe, und dann, ob nicht wir alle früheren Verheißungen der Schrift für Israel im geistlichen Sinne für uns in Anspruch nehmen dürften? Das tat man vielfach zur Zeit der Reformation (und tut es noch heute in gewissen Kreisen). Wer so denkt, sieht in dem Wort „Zion“, so oft er ihm im AT begegnet, immer die Gemeinde und glaubt, in ihr seien alle Israel gegebenen Verheißungen erfüllt.


Da die, welche an Jesus Christus glauben, im geistlichen Sinne „den Samen Abrahams“ vorstellen, lassen sich zweifellos viele Verheißungen des AT auf sie anwenden. Obwohl Paulus als erster das Geheimnis der Gemeinde ganz enthüllt hat (Eph. 3,3- 10), haben sicherlich manche Propheten diese vorausgeschaut. So sahen wir, daß Sara, das freie Weib Abrahams, ein Sinnbild von ihr war. Gal. 4, 22-26. Aber es geht doch nicht an, allen dem Volk Gottes im AT verheißenen Segen geistlich auf die Gemeinde zu übertragen, aber die buchstäbliche Erfüllung eines jeden Fluches auf Israel zu beschränken! Gibt man sich zudem die Mühe, jede Weissagung der Schrift genau zu studieren, so kommt man rasch zur Erkenntnis, daß viele Prophezeiungen nur für Israel, nicht für die Gemeinde gelten können. Es ist wirklich unmöglich, sie alle einzig im geistlichen und christlichen Sinne aufzufassen. Wir sahen ja, wie Israel die merkwürdig wörtliche Erfüllung vieler Weissagungen erlebte. So glauben wir, daß sich die andern gleicherweise erfüllen werden, und daß das jüdische Volk noch eine außergewöhnliche Zukunft vor sich hat.

III. Gott verbeißt die Wiederherstellung Seines einstigen Volkes.

Wir wollen hier nicht die Verheißungen des AT anführen, auf die wir bald näher eingehen. Jetzt erinnern wir nur daran, mit welchen Worten bestimmte Texte im NT die Wiedereinsetzung Israels beleuchten.
Petrus sagt zu den Juden, die den Erlöser gekreuzigt hatten: „So tut nun Buße und bekehret euch, daß eure Sünden vertilgt werden, auf daß da komme die Zeit der Erquickung vom Angesicht des Herrn, wenn Er senden wird Den, der euch jetzt zu vor gepredigt wird, Jesus Christus, welcher muß den Himmel einnehmen bis auf die Zeit, da herwiedergebracht werde alles, was Gott geredet hat durch den Mund aller Seiner heiligen Propheten von der Welt an.“ Ap. 3,1 9-21.
Es kann sich hier nicht um die Wiederherstellung Israels nach der babylonischen Gefangenschaft handeln, sondern vielmehr um die so oft von den Propheten verkündete, glorreiche Rückkehr, die auf die Zerstreuung in der Welt und die Zeit der Völker folgen soll. Luk. 21,24.


Paulus wiederum erklärt, daß Gott aus lauter Gnade Israel erwählt hat. Er macht keinen Fehler bei Seiner ewigen und souveränen Wahl. Gottes Gaben und Berufung mögen Ihn nicht gereuen. Durch die Kreuzigung und die Verfolgung der Gläubigen sind die Juden zu Feinden geworden. „Nach der Wahl sind sie Geliebte um der Väter willen . . . So sage ich nun, Paulus: Hat denn Gott Sein Volk verstoßen ? Das sei ferne! . . . Gott hat Sein Volk nicht verstoßen, welches Er zuvor ersehen hat.“ Röm. 11, 28; 11, 1-2.
Von Ewigkeit her kannte Gott die künftige Haltung Israels; trotzdem hat Er ihm bleibende Verheißungen zeitlichen und geistlichen Segens gegeben. Und Gott wird nicht verfehlen, Sein Wort treu zu erfüllen. In der Tat kündet dreimal ein „bis daß“ einen Termin an, nach dem für Israel (und für die Welt) eine neue Ordnung anbrechen soll:


„Jerusalem wird zertreten von den Heiden, bis daß der Heiden Zeit erfüllt wird.“ Luk. 21, 24.

„Euer Haus soll euch wüste gelassen werden bis daß ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Matt. 23, 38.

„Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren, so lange, bis daß die Fülle der Heiden eingegangen sei, und also das ganze Israel selig werde.“ R öm. 11, 25.
Darum verkündet Paulus nachdrücklich, daß, wenn auch Gott Israel beiseite gesetzt hat, so doch nicht insgesamt und nicht für immer:

1. Unter den Israeliten gibt es und wird es immer einen Überrest geben,
 einen Samen nach der Gnadenwahl, der den Messias annimmt. Paulus und alle Apostel sind deutliche Beispiele dafür, ganz abgesehen von den „siebentausend”, die wir nicht immer kennen. Röm. 9, 27-29; 11,1-5. Das sind die Juden, die Paulus selbst das „Israel Gottes“ nennt. Gal. 6, 16.


2. Ganz Israel soll schließlich gerettet werden.
„So ihr Fall der Welt Reichtum ist, . . . wieviel mehr, wenn ihre Zahl voll würde? . . . Was wird ihre Annahme anders sein denn Leben von den Toten ? . . . So sie nicht bleiben in dem Unglauben, werden sie eingepfropft werden (auf den Ölbaum der Gnade Gottes); Gott kann sie wohl wieder einpfropfen . . . Wieviel mehr werden die natürlichen (Zweige) wieder eingepfropft in ihren eignen Ölbaum ? . . . Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden eingegangen sei, und also das ganze Israel selig werde, wie geschrieben steht: Es wird kommen aus Zion, der da erlöse und abwende das gottlose Wesen von Jakob. Und dies Mein Testament mit ihnen, wenn Ich ihre Sünden werde wegnehmen . . . Also auch jene haben nicht wollen glauben an die Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, auf daß sie auch Barmherzigkeit überkommen.“ Röm. 11, 12.15.23-27.31.
Der Bund, den Paulus erwähnt, ist selbstredend der Neue Bund, den Jeremia ankündigt, und der schon seit neunzehnhundert Jahren besteht. Jer. 31, 31-34; Hebr. 8,7 -11. Mit ihrer Bekehrung zu Jesus Christus werden die Juden in ihn aufgenommen.


3. Das jüdische Volk wird bis ans Ende der Zeiten fortbestehen.
Wir hörten von Paulus, daß sich Israel bei der Wiederkunft Jesu Christi bekehren wird, „wenn die Fülle der Heiden eingegangen“ ist, d.h. wenn die Vollzahl der Gemeinde erreicht ist. Wir werden sehen, daß alle Propheten des AT das bestätigen. Hier wollen wir nur erwähnen, daß Israel existieren und in Palästina zu der Zeit sein soll:

des Antichristen, Dan. 11, 41-12,1.7;
da Gog in das Land einfällt, Hes. 38, 8;
der Schlacht von Harmagedon, Joel 4,1.16;
da Christus auf dem Ölberg erscheinen wird, Sach. 14, 1-5.

Dann wird das Wort Jeremias in allem wahr: „So spricht der Herr, der die Sonne dem Tag zum Licht gibt und den Mond und die Sterne nach ihrem Lauf der Nacht zum Licht . . . Wenn solche Ordnungen vergehen vor mir, spricht der Herr, soll auch aufhören der Same Israels, daß er nicht mehr ein Volk vor mir sei ewiglich.“ Jer. 31, 35-36.

Als Schlußfolgerung dieses Kapitels können wir sagen: Gibt es auch im Blick auf das ewige Heil weder Juden noch Griechen, bleibt doch Israel auf Erden bestehen als das von Gott erwählte Volk. Jesus Christus ist gekommen, die den Vätern gegebenen Verheißungen zu bestätigen, und der Vorteil der Juden nützt „viel in jeder Hinsicht“, denn Israels Unglaube hebt Gottes Treue nicht auf. Röm. 15, 8; Röm. 3, 1.3. Darum verspricht der Herr feierlich: „Deine Nachkommen haben viel Gutes zu erwarten.“ Jer. 31,17.
Der göttliche Plan für die Juden, wie ihn die Schrift offenbart, wird ohne Fehl in Erfüllung gehen. Worin dieser Plan besteht, wollen wir nun genau untersuchen.


4. Kapitel

Die weltweite Zerstreuung Israels

Als wir von der Verwerfung der Juden sprachen, blieben wir bei ihrer Vertreibung aus Palästina im Jahre 70 stehen. Die folgende Etappe, d.h. ihre Zerstreuung über die ganze Welt (und nicht nur nach Babylon) war lange vorausgesagt worden.
I. Israel wird über den ganzen Erdkreis zerstreut.
„Der Herr wird euch zerstreuen unter die Völker, und wird euer ein geringer Haufe übrig sein unter den Heiden, dahin euch der Herr treiben wird . . . Der Herr wird dich zerstreuen unter alle Völker, von einem Ende der Welt bis ans andre.“ 5. Mos. 4,27; 28.64. ( S. auch Jer. 9,15 bzw.16) „Und sie werden fallen durch des Schwertes Schärfe (i.J. 70) und gefangen geführt unter alle Völker; und Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis daß der Heiden Zeit erfüllt wird.“ Luk. 21, 24. In der Tat gibt es kein Land der Erde, wo nicht heute Juden zu finden wären. Und erst im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts haben die Völker aufgehört, sie für minderwertig zu halten, und haben angefangen, ihnen dieselben Rechte einzuräumen wie den andern Bürgern.

II. Israel findet keine Ruhe in der Zerstreuung.
Bei der Kreuzigung Jesu schrieen die Juden: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“ Matt. 27, 25. Die Unglückseligen wußten nicht, was sie sagten. Buchstäblich erfüllten sich an ihnen die alten Prophezeiungen des Mose: „Du wirst unter diesen Völkern kein bleibend Wesen haben, und deine Fußsohlen werden keine Ruhe haben. Denn der Herr wird dir daselbst ein bebendes Herz geben und verschmachtete Augen und eine verdorrte Seele, daß dein Leben wird vor dir schweben. Nacht und Tag wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein. Des Morgens wirst du sagen: Ach, daß es Abend wäre! Des Abends wirst du sagen: Ach, daß es Morgen wäre! Vor Furcht deines Herzens und vor dem, das du mit deinen Augen sehen wirst.“ 5. Mos. 28, 65-67. (S. auch 3. Mos. 26, 36.38-39)
Man kann unmöglich alle Verfolgungen, Ausweisungen, Massenmetzeleien, Torturen, Erpressungen, Ausplünderungen aufzählen, welche Israel in den sog. christlichen Ländern im Lauf der Jahrhunderte erdulden mußte. Jeremia hatte es genau angesagt, wie sich ihre Henker rechtfertigen würden: „Wir tun nicht unrecht, darum daß sie sich haben versündigt an dem Herrn in der Wohnung der Gerechtigkeit, und an dem Herrn, der ihrer Väter Hoffnung ist.“ Jer. 50,7 Schon lange zählen die Opfer einer solchen Behandlung nach Hunderttausenden und Millionen.
Hier kurz ein Rückblick auf einige der durch die europäischen Völker den Juden zugefügten Qualen:

– Die Kreuzfahrer massakrierten die Juden überall, unter dem Vorwand, sie seien „Gottesmörder“.
– Mai bis Juli 1096 wurden 12000 Juden im Rheinland getötet.
– Am 1. November 1290 Ausweisung aller Juden aus England bei Androhung  des Erhängens. Erst 370 Jahre später wurden sie wieder zugelassen.
– Frühjahr bis Herbst 1298 werden 1.000.000 Juden in Franken, Bayern und Österreich umgebracht.
– September 1306 werden 100.000 Juden bei Todesstrafe aus Frankreich verbannt.
– 1348 schiebt man den Juden die Schuld an der Schwarzen Pest zu und tötet mehr als eine Million.
– Am 2. August 1492 verjagt die Inquisition 300.000 Juden aus Spanien, ebenfalls unter Todesstrafe.
– Von 1648 – 1658 werden etwa 400.000 polnische Juden im russisch – polnisch – schwedischen Kriege getötet.
– Erst 1791 hebt die Französische Revolution als erster Staat die Ausnahmegesetze gegen die Juden auf.

Nach Lord Beaconsfield Worten haben „die Pharaonen Ägyptens, die Könige von Assyrien, die Römischen Kaiser, die Kreuzfahrer . . . die Führer der Goten, die heiligen Inquisitoren ihre ganze Kraft an die Ausführung des einen Planes gesetzt. Ausweisung, Verbannung, Gefangenschaft, Konfiszierungen, raffiniert erdachte Torturen, Metzeleien in größtem Maßstab, alles wurde versucht, aber vergebens.“ (He shall come again, S.128).

Je mehr die Juden unterdrückt wurden, desto mehr haben sie zugenommen – wie einst in Ägypten. Nach den Massenmorden im Mittelalter gab es in der Welt:

– am Anfang des 16. Jahrhunderts nur noch 1 Million Juden,

– am Anfang des 18. Jahrhunderts gab es 3 Millionen,

– am Anfang des 19. Jahrhunderts gab es 5 Millionen,

– im Jahre 1896 gab es 11 Millionen,
im Jahre 1919 gab es 13 Millionen,
im Jahre 1933 gab es 16 Millionen,
also dreimal mehr als zur Glanzzeit Davids und Salomos .

Daß Israel diese entsetzlichen Mißhandlungen überleben konnte, ist ein wahres Wunder. Für die ganze Welt sind die Juden ein lebender Beweis für die Wahrheit der Weissagungen und der Absichten Gottes mit ihnen. Napoleon soll eines Tages vom Erzbischof von Mailand den kürzesten Beweis für die Echtheit der offenbarten Religion verlangt haben. Wortlos zeigte dieser nur mit dem Finger auf Marschall Massena, der ein Jude war.
Beachten wir zum Schluß, daß Gott gerade die Leiden Seines Volkes benutzte, um es mitten unter den Völkern zu isolieren und so zu erhalten. Sobald man den Juden alle bürgerlichen Rechte zuerkannte, zeigten sie die Neigung, ihre Eigenart und sogar ihre Religion aufzugeben.

III. Israel wird den Völkern zum Fluch, unter die es zerstreut ist.
„Sie sollen zum Fluch, zum Wunder, zum Hohn und zum Spott unter allen Völkern werden, dahin Ich sie verstoßen werde, darum, daß sie Meinen Worten nicht gehorchen, spricht der Herr.“ Jer. 29,18-19.
„Sie hielten sich wie die Heiden, dahin sie kamen, und entheiligten Meinen heiligen Namen, daß man von ihnen sagte: Ist das des Herrn Volk, das aus seinem Lande hat müssen ziehen? Aber Ich schonte Meines heiligen Namens, welchen das Haus Israel entheiligte unter den Heiden, dahin sie kamen.“ Hes. 36,20-21. Später, als der Herr von der Wiederherstellung Seines Volkes redet, sagt Er noch: „Wie ihr . . . seid ein Fluch gewesen unter den Heiden, so will Ich euch erlösen, daß ihr sollt ein Segen sein.“ Sach. 8, 13.

Jona, der ungehorsame Prophet, ist ein Bild des ungetreuen Israel. Zu den Heiden gesandt, weigert er sich, Gottes Botschaft auszurichten, genau wie Israel Jesus den Heiden hingibt, statt ihnen das Evangelium zu bringen. Wie der Prophet auf einem Schiff entflieht, fliehen die Juden seit zweitausend Jahren im Völkermeer vor dem Herrn. Überall entfesselt die Gegenwart des Propheten – wie auch die des treulosen Volkes – einen Sturm. Dieser legt sich, sobald man Jona – und oft auch die Juden – über Bord wirft. Der Fisch verschlingt Jona, ohne ihn verdauen zu können, und auch die Völker vermögen nicht, die Juden zu assimilieren. Der Fisch muß Jona an die Küste Palästinas ausspeien, woher er gekommen, und so werden die Völker Israel auf die Ufer seines Vaterlandes zurückwerfen. Gott beruft Jona zum zweitenmal; endlich gehorcht er, geht nach Ninive, und die ganze Stadt bekehrt sich. So wird auch Israel, wenn reuig nach Palästina zurückgekehrt, erneut berufen werden, die Heiden zu evangelisieren, die sich nun auf seine Worte hin bekehren. (Nach H. Schaedel).

Ganz sichtlich haben oft ein Verhängnis und ein Fluch den unglücklichen ewigen Juden auf seinen Irrfahrten verfolgt. Verdirbt der Beste, so wird er der Schlimmste. So wurden unleugbar manche Juden zur wahren Geißel für ihr Adoptivland, und scheinbar rechtfertigten sie damit zum Teil die Feindseligkeit gegen sie. Aber wer wäre ohne Sünde und könnte den ersten Stein auf sie werfen? Und haben nicht die „Arier“ gezeigt, welcher Greueltaten sie fähig sind?

IV. In dieser Ära beharren die Juden bei ihrer Ablehnung Jesu Christi.
Im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden schicken die Bürger ihrem abwesenden Herrn, den sie hassen, eine Botschaft nach und lassen ihm sagen: „Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche!“ Luk. 19, 14. Durch das abschreckende Zeugnis, das ihnen die „Christen“ vorlebten, zu einer ähnlichen Auflehnung getrieben, haben die Juden bis vor ganz kurzem immerzu den Namen Jesu verachtet, ja sogar gehaßt. In der Gesamtheit sind sie noch nicht zur Selbsterkenntnis gekommen und stehen nicht von ihrem Unglauben ab.

V. Dennoch ist ihnen alles genommen, was zur Religion des Alten Bundes gehörte.
Nach dem mosaischen Gesetz beruhte jede Gemeinschaft mit Gott auf dem blutigen Opfer, dem Opferdienst und dem Allerheiligsten des Herrn. All das ist dem Volk genommen, wie es Hosea ankündigte:
„Denn die Kinder Israel werden lange Zeit ohne König, ohne Fürsten, ohne Opfer, ohne Altar, ohne Leibrock und ohne Heiligtum bleiben.“ Hosea 3, 4. Davids Thron ist leer, und kein Prophet verkündet Israel das Wort des Herrn: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß Ich einen Hunger ins Land schicken werde, nicht einen Hunger nach Brot, oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des Herrn, zu hören; daß sie hin und her, von einem Meer zum andern, von Mitternacht gegen Morgen umlaufen und des Herrn Wort suchen und doch nicht finden werden.“ Amos 8, 11.
Den Israeliten fehlt das NT, und sie sind nicht imstande, das AT zu verstehen: „Ihre Sinne sind verstockt. Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke unaufgedeckt über dem Alten Testament, wenn sie es lesen, welche in Christo aufhöret; aber bis auf den heutigen Tag, wenn Mose gelesen wird, hängt die Decke vor ihrem Herzen. Wenn es sich aber bekehrte zu dem Herrn, so würde die Decke abgetan.“ 2. Kor. 3, 14-16.
Man fragt sich, wie fromme Juden einen solchen Zustand ertragen und eigentlich ohne Vergebung der Sünde und ohne wahre Gemeinschaft mit Gott leben können.

VI. Dennoch bleiben die Juden in der Zerstreuung für sich und vergessen weder ihres Gottes noch ihres Ursprungs.

Es ist ein Wunder, sagten wir, daß Israel trotz der Jahrtausende der Zerstreuung und der Verfolgung noch besteht, während alle Völker des Altertums verschwunden sind. Die Zeitgenossen der Propheten, die Ägypter, Assyrier, Babylonier, Perser, Griechen, Römer existieren alle nicht mehr. Nur die Juden sind noch da als Zeugen für die Wahrheit der Schrift. Bileam sagte schon von Israel: „Siehe, das Volk wird besonders wohnen und nicht unter die Heiden gerechnet werden.“ 4. Mos. 23, 9. Auch Jesus hatte gesagt: „Diese ,Rasse’ (das ist die zweite
Bedeutung des griechischen Worts für Geschlecht, Generation) wird nicht vergehen, bis daß dies alles geschehe.“ Matt. 24, 34. Ohne das wunderbare Eingreifen Gottes wäre eine solche Fortdauer Israels unerklärlich.

Aber es geht hier um mehr als um äußeren Fortbestand. Der Herr kündigt noch Folgendes an: „Eure Entronnenen werden dann noch an mich gedenken unter den Heiden, da sie gefangen sein müssen, wenn Ich ihr hurisch Herz . . . zerschlagen habe.“ Hes. 6, 9. „Ich will sie unter die Völker säen, daß sie Mein gedenken in fernen Landen, und
 sollen mit ihren Kindern leben und wiederkommen.“ Sach. 10, 9. Sie werden wie bei ihrer ersten Gefangenschaft die Liebe zu ihrem Lande bewahren: „Gedenkt des Herrn in fernem Lande, und laßt euch Jerusalem im Herzen sein.“ Jer. 51, 50.
„In fremden Landen . . . vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen. Meine Zunge
soll an meinem Gaumen kleben, wo ich dein nicht gedenke,wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.“ Ps. 137, 4-6.
Jeder kennt die fanatische Anhänglichkeit der frommen Juden an ihr Gesetz, und wie sie sich untereinander jahrhundertelang zuriefen: „Das nächste Jahr in Jerusalem!“

VII. Trotz Seiner Verwerfung Israels wacht Gott doch immer über ihm.
„Auch wenn sie schon in der Feinde Land sind, habe Ich sie gleich wohl nicht verworfen, und ekelt mich ihrer nicht also, daß es mit ihnen aus sein sollte und mein Bund mit ihnen sollte nicht mehr gelten; denn Ich bin der Herr, ihr Gott. Und Ich will über sie an Meinen ersten Bund gedenken.“ 3. Mos. 26, 44-45.
„Ja, Ich habe sie fern weg unter die Heiden lassen treiben und in die Länder zerstreut, doch will Ich bald ihr Heiland sein in den Ländern, dahin sie gekommen sind.“ Hes. 11, 16.
„Wer euch antastet, der tastet Seinen Augapfel an.“ Sach. 2, 8 (bzw.12)
„Denn Ich bin bei dir, spricht der Herr, daß Ich dir helfe. Denn Ich will mit allen Heiden ein Ende machen, dahin Ich dich zerstreut habe. Aber mit dir will Ich nicht ein Ende machen; züchtigen aber will Ich dich mit Maßen, daß du dich nicht für unschuldig haltest.“ Jer. 30, 11.
So kam die alte, Abraham gegebene Verheißung immer wieder zur Anwendung: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen.“ 1. Mos. 12, 3. Wir haben einen schlagenden Beweis dafür in Haman, dem seine Freunde sagten: „Ist Mardochai vom Geschlecht der Juden, . . . so vermagst du nichts an ihm, sondern du wirst vor ihm fallen.“ Esther 6, 13. Tatsache bleibt, daß die Verfolger, die ihre Wut an Israel ausließen, sich damit selbst rasch ins Verderben stürzten.

VIII. Während der Abwesenheit der Juden wird Palästina eine Öde sein.
Das Gelobte Land war ein Land, „darinnen Milch und Honig floß“, reich bewässert durch zwei Regenzeiten, und Gottes Auge ruhte darauf vom Anfang des Jahres bis ans Ende. 5. Mos. 11, 10-15. Aber infolge der Bosheit Israels lastet ein Fluch darauf.
„Euer Land soll wüste sein und eure Städte zerstört. Alsdann wird das Land sich seine Sabbate gefallen lassen, solange es wüste liegt und ihr in der Feinde Land seid, ja, dann wird das Land feiern.“ 3. Mos. 26, 33-34.

„Wenn sie die Plagen dieses Landes sehen und die Krankheiten, womit sie der Herr beladen hat, daß Er all ihr Land mit Schwefel und Salz verbrannt hat, daß es nicht besät werden kann, noch etwas wächst, noch Kraut darin aufgeht, . . . so werden alle Völker sagen: Warum hat der Herr diesem Land also getan? . . . So wird man sagen: Darum, daß sie den Bund des Herrn verlassen haben.“ 5. Mos. 29, 22-25.

„Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis daß die Städte wüste werden ohne Einwohner und die Häuser ohne Leute und das Feld ganz wüste liege. Denn der Herr wird die Leute ferne weg tun, daß das Land sehr verlassen wird.“ Jes. 6, 11-12.
Auch kündigen die Propheten das Ausbleiben des Regens an. Das wird die Öde des Landes vermehren, das zur Bewässerung nicht mit den Flüssen rechnen kann: „Hütet euch aber, daß sich euer Herz nicht überreden lasse, . . . daß der Herr den Himmel zuschließe, daß kein Regen komme und die Erde ihr Gewächs nicht gebe.“ 5. Mos. 11, 16. 
„ Ich will ihn (meinen Weinberg) wüste liegen lassen, daß er nicht geschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, daß sie nicht drauf regnen.“ Jes. 5, 6. 
„Du verunreinigst das Land mit deiner Hurerei, . . . darum muß auch der Frühregen ausbleiben und kein Spätregen kommen. Jer. 3 ,2-3.

Es ist eine bekannte Tatsache, daß Palästina seit fast zweitausend Jahren den Charakter einer Wüste trug und der Regen dort selten war. Das Land war nicht mehr wie einst bebaut und bewaldet, wodurch sich sogar auch das Klima veränderte.

IX. Am Ende ihrer Zerstreuung werden die Juden vom Herrn in der Wüste der Völker gerichtet werden.

Beachten wir zuerst, daß die Zerstreuung lange währen wird. „Die Kinder Israels werden lange Zeit ohne König, ohne Fürsten, ohne Opfer sein. . .“ Hos. 3, 4. „Die Berge Israels, welche lange Zeit wüste gewesen sind.“ Hes. 38, 8. Aber gegen das Ende dieser traurigen Zeit wird der Herr Sein Volk reinigen, damit es in Seinen Bund und ins Gelobte Land zurückkehre: „Ich will euch aus den Völkern führen und aus den Ländern, dahin ihr verstreut seid, sammeln mit starker Hand, mit ausgestrecktem Arm und mit ausgeschüttetem Grimm, und will euch bringen in die Wüste der Völker und daselbst mit euch rechten von Angesicht zu Angesicht . . . .” Hes. 20, 34-35.37-38.

Die jüngsten Ereignisse erinnern erstaunlich an das hier Gesagte. Die Juden sind mitten aus den Völkern herausgerissen worden, wo sie so fest saßen, und sie haben entsetzliche Prüfungen auf sich nehmen müssen. Wie mochten sie wohl alle gern in ihr Land zurückkehren, und doch wurden 5 Millionen umgebracht! Die jüdische Einwanderung nach Palästina nimmt heute noch zu. In einer Welt, da der Antisemitismus jederzeit wieder aufleben kann, scheint die Rückkehr Israels in sein Land die einzige Lösung zu sein.


5. Kapitel

Die Rückkehr Israels nach Palästina


I. Die Wiederauferstehung Israels.
Israel, sagten wir, hat Jahrtausenden der Verfolgung und der Zerstreuung – wie ein Wunder – getrotzt. Aber als unabhängige Volksgemeinschaft bestand es ja lange nicht mehr. Soll aber Israel in der Zukunft die ihm von den Propheten bestimmte Rolle spielen, so müßte es eine richtige Auferstehung erleben. Und gerade das verkündet Hesekiel in seiner berühmten Vision von Kap. 37:
Der Prophet wird in ein Tal versetzt, das mit ganz verdorrten, d.h. schon lange toten Gebeinen überdeckt ist. Gott fragt ihn: „Meinst du, daß diese Gebeine wieder lebendig werden?“ und er antwortet: „Herr, das weißt Du wohl.“ Und dann heißt es, auf einen Befehl des Herrn: „Da rauschte es, und siehe, es regte sich, und die Gebeine kamen wieder zusammen . . ., es wuchsen Adern und Fleisch darauf, und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen.“ Dann heißt der Herr Seinen Diener sprechen: „Wind, komm herzu aus den vier Winden und blase diese Getöteten an, daß sie wieder lebendig werden . . . ! Da kam Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und richteten sich auf ihre Füße. Und ihrer war ein sehr großes Heer . . . Und Er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsre Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns! Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der Herr Herr: Siehe, Ich will eure Gräber auftun und will euch, Mein Volk, aus denselben herausholen und euch ins Land Israel bringen . . . Und Ich will Meinen Geist in euch geben, daß ihr wieder leben sollt; und will euch in euer Land setzen, und sollt erfahren, daß Ich der Herr bin . . . Ich rede es und tue es auch, spricht der Herr. 37, 1-14.
Unbestreitbar regt es sich mehr und mehr unter den verdorrten Gebeinen Israels. Gott holt sie gewaltsam aus den Gräbern der Völker, die sie verschlungen hatten. Sie suchen einander, organisieren sich und kehren auch wohl z.T. nach Palästina zurück, aber „der Geist ist noch nicht in ihnen.“ Es wird etwas ganz anderes sein, wenn sie sich bekehren und das wahre Leben haben.

II. Der treue Überrest in Israel.


Zur Zeit Elias hatten – ihm unbekannt – noch siebentausend Israeliten ihre Kniee nicht vor Baal gebeugt. Zu Lebzeiten des Apostels Paulus gab es auch einen Überrest, nach der Wahl der Gnaden. Röm. 11, 2-5. Am Zeitenende wird es auch eine treue Schar geben, die nach Palästina zurückkehren und sich zum Heiland bekehren soll:
,,Zu der
Zeit werden die übriggebliebenen in Israel und die errettet werden im Hause Jakob . . . sich verlassen auf den Herrn, den Heiligen in Israel, in der Wahrheit. Die übriggebliebenen werden sich bekehren, ja, die übriggebliebenen in Jakob, zu Gott, dem Starken. Denn ob dein Volk, o Israel, ist wie Sand am Meer, sollen doch nur seine übriggebliebenen bekehrt werden . . . Wie eine Eiche und Linde, von welchen beim Fällen noch ein Stamm bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stamm sein . . . In der Zeit wird des Herrn Zweig lieb und wert sein . . . bei
denen, die erhalten werden in Israel. Und wer da wird übrig sein zu Zion und übrigbleiben zu Jerusalem, der wird heilig heißen . . . Ich will aus Jakob Samen wachsen lassen und aus Juda, der Meinen Berg besitze; denn Meine Auserwählten sollen ihn besitzen, und Meine Knechte sollen daselbst wohnen.” Jes. 10, 20-22; 6, 13; 65, 9.

An diesem Überrest wird der Herr Seine Verheißungen wahrmachen.


III. Wer führt Israel in sein Land zurück?


1. Vor allem wird Gott selbst es tun.

„Ich werde gedenken an Meinen Bund mit Jakob und an Meinen Bund mit Isaak und an Meinen Bund mit Abraham und werde an das Land gedenken, das von ihnen verlassen ist . . . Auch wenn sie schon in der Feinde Land sind . . . will Ich über sie an Meinen ersten Bund gedenken.“ 3. Mos. 26, 42-45.
„Denn der Herr wird Sich über Jakob erbarmen und Israel noch fürder erwählen und sie in ihr Land setzen . . . Denn Er ist’s, der durch meinen Mund gebeut, und Sein Geist ist’s, der es zusammenbringt . . . Denn ihr sollt nicht mit Eile ausziehen noch mit Flucht wandeln; denn der Herr wird vor euch herziehen, und der Gott Israels wird euch sammeln.“ Jes. 14, 1; 34, 16; 52, 12.

„Siehe, es kommt die Zeit, da man . . . sagen wird: So wahr der Herr lebt, der die Kinder Israels geführt hat aus dem Lande der Mitternacht und aus allen Ländern, dahin Er sie verstoßen hatte. Denn Ich will sie wiederbringen in das Land, das Ich ihren Vätern gegeben habe.“ Jer. 16, 14, usw., usw. Ja wahrlich, wer könnte denn sonst die so lange zerstreuten Gebeine sammeln und auferwecken?


2. Gott wird Sich der Völker bedienen, um Sein Volk zurückzuführen.
Gleich nach seiner Ankündigung, daß der Herr die Juden wieder in ihr Land einsetzen würde, sagt Jesaja: „Die Völker werden sie nehmen und bringen an ihren Ort . . . Siehe, Ich will Meine Hand zu den Heiden aufheben und zu den Völkern Mein Panier aufwerfen, so werden sie deine Söhne in den Armen herzubringen und deine Töchter auf den Achseln hertragen . . . Deine Söhne werden von ferne kommen und deine Töchter auf dem Arme hergetragen werden . . . Die Tharsisschiffe segeln voran (nach Menge), um deine Kinder aus der Ferne herzubringen, samt ihrem Silber und Gold (Tharsis, eine phönizische Kolonie in Spanien, bezeichnet den Westen des Mittelmeers – eigentlich die Gegend um die Landenge von Gibraltar) . . . Fremde werden deine Mauern bauen, und ihre Könige werden dir dienen. ” Jes. 14,2 ; 49,22; 60,4.9- 10.
Offenbar werden die hier genannten Völker den Juden freudig zu ihrer Rückkehr helfen. Denn glücklicherweise gibt es Völker, die ihnen um Christi willen geneigt sind. Dagegen werden andere zur Gewalt greifen, um sie loszuwerden. Nach den Worten: „Ich will sie wieder bringen in das Land, das Ich ihren Vätern gegeben habe“, sagt Jeremia: „Siehe, Ich will viel Fischer aussenden, spricht der Herr, die sollen sie fischen; und darnach will Ich viel Jäger aussenden, die sollen sie fangen auf allen Bergen und auf allen Hügeln und in allen Steinritzen.“ Jer. 16, 16.
Haben wir nicht unlängst die entsetzlichste Jagd auf die Juden erlebt? Wie das Wild gehetzt, verkauft, gejagt, gefährdeten diese Unglücklichen solche, die ihnen halfen, und fanden nicht eine Steinritze als Zufluchtsort. Gott scheint diese furchtbare Bosheit dazu benutzt zu haben, um die Juden, die sich so behaglich in Europa festgesetzt hatten, zu entwurzeln und zum Heimweh nach ihrem einstigen Vaterland zu zwingen.


IV. Wird das ganze Volk nach Palästina zurückkehren?



1. Kein Israelit wird fehlen.

Bei Hesekiel lasen wir, daß kein Rebell oder Abtrünniger ins Land Israels gelangen wird; diese werden, scheint es, da, wo sie sind, gerichtet und vernichtet. Hes. 20, 35.38. Aber alle anderen scheinen bei dem Stelldichein dabei zu sein: „Ihr Kinder Israel werdet versammelt werden, einer nach dem andern. Zu der Zeit wird man mit einer großen Posaune blasen; so werden kommen die Verlorenen . . . Es wird nicht an einem derselben fehlen; man vermisset auch nicht dies noch das. Denn Er ist’s der durch meinen Mund gebeut . . . Diese alle versammelt kommen zu dir…“ Jes. 27, 12; 60,4. Solche Versicherungen, vor kurzem noch unfaßbar, erscheinen heute wohl durchführbar. Hitler gedachte, ohne Ausnahme alle Juden in Europa auszurotten oder zu vertreiben. In Polen – um nur dies eine Beispiel zu nennen – gab es vor 1939 3.300.000 Juden. Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes waren dort nur noch 70.000. Und Gott kann unendlich viel wirksamere Mittel ergreifen, um die Israeliten zur Rückkehr in ihre Heimat zu bewegen. . . .



2. Die Heimkehrer werden zu zahlreich sein für das Land.

„Deine Baumeister werden eilen, . . . denn dein wüstes, verstörtes und zerbrochenes Land wird dir als dann zu eng werden . . . Die Kinder deiner Unfruchtbarkeit werden noch sagen vor deinen Ohren: Der Raum ist mir zu eng; rücke hin, daß ich bei dir wohnen möge. Du aber wirst sagen in deinem Herzen: Wer hat mir diese geboren? Ich war unfruchtbar, einsam, vertrieben und verstoßen. Wer hat mir diese erzogen?“ Jes. 49, 17-21.
„Ich will sie ins Land Gilead und Libanon bringen, daß man nicht Raum für sie finden wird.“ Sach. 10, 10.


Sogar nach dem mehrfachen Blutbad der letzten Jahre sind noch etwa elf Millionen Juden in der Welt. Würden sie alle zugleich in den schmalen Landstrich zwischen Jordan und Mittelmeer zurückkehren, würde ihnen der Raum natürlich nicht genügen. Raummangel geben daher die Araber als Hauptgrund gegen die Einwanderung der Juden an. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß das Abraham und seinen Nachkommen verheißene Land weit ausgedehnter ist als das kleine Palästina von heute. Als Gott den Bund mit dem Patriarchen machte, gab Er ihm das Land vom Fluß Äyptens bis zum Libanon und zum Euphrat. 1. Mos. 15, 18; Jos. 1, 4. Im Prinzip unterstand dieses Gebiet dem Salomo (1. Kön. 4, 21), aber Israel hat es noch nie ganz inne gehabt. (Wir sprechen noch von den erstaunlichen Möglichkeiten, die sogar seine Wüstenstriche zu bieten scheinen.) Diese neue Ausdehnung deutet Micha an: „Ein Tag kommt, da deine Mauern wieder aufgebaut, der Tag, da deine Grenzen hinausgerückt werden.“ 7, 11.
Die Bibel beschreibt noch den Vorgang, wie Israel das Land füllen wird: „Aber ihr Berge Israels . . ., Gott will bei euch der Leute viel machen, das ganze Israel allzumal; und die Städte sollen wieder bewohnt werden . . . Ich will die Menschen bei ihnen mehren wie eine Herde, . . . die verheerten Städte sollen voll Menschenherden werden.“ Hes. 36, 8-10. 37-38. (S. auch Sach. 2, 4; 8, 4-5; Jer. 31, 27.)


Solche Zusicherungen erhalten ihren vollen Wert, wenn man bestimmte Tatsachen festhält. In Palästina waren:

1908     41 000 Juden,

1920     58 000
1932   175 000

1933   227 000 

1934   307 000
1935   375 000
1939   420 000
1946   675 000
1951   nicht weit von 1 500 000.
Die Einwanderung hat seit der Gründung des Jüdischen Staates ungeheuer zugenommen.

Diese Zahlen sind darum so eindrucksvoll, weil nicht mehr als 60 000 Juden in etwa hundert Jahren aus der babylonischen Gefangenschaft zurück kehrten. Sicher gaben die Verfolgungen unter Hitler einen starken Impuls zur Einwanderung. Von da an sah man nicht nur ärmere Juden, sondern auch Intellektuelle, Kaufleute, Vermögende herbeiströmen. Andererseits steht die Geburtenziffer der Juden sehr hoch. Während sich die Bevölkerung von Europa verdreifacht hat, haben sich die Juden verfünffacht.


3. Welche Stämme Israels werden nach Palästina zurückkehren?

Die zwölf Stämme sind so lange schon zerstreut, daß man sie unmöglich mehr unterscheiden kann. Nach der babylonischen Gefangenschaft kehrte nur ein Teil der vom alten Königreich Juda Verbannten in ihr Land zurück, um im Jahr 70 nach Chr. wieder daraus vertrieben zu werden. Die anderen Juden, mitsamt den nach Assyrien deportierten zehn Stämmen, blieben in der Zerstreuung. Zur Zeit der Apostel waren sie schon im ganzen Römischen Reich verbreitet. Ap. 2, 5-11; 21,21; 26,7; Jak. 1,1; Joh. 7,35. (Die Theorie vom „Britischen Israel“, nach der die zehn Stämme sich nach England begeben hätten und zum britischen Volk geworden wären, entbehrt wohl jeder ernsteren Grundlage.) Die Propheten verkünden, daß Israel bald ganz geeint sein und nie mehr unter der Teilung leiden wird, die es seit Salomos Tod so geschwächt hat. „Zu der Zeit wird das Haus Juda gehen zum Haus Israel, und sie werden miteinander kommen von Mitternacht in das Land, das Ich euren Vätern zum Erbe gegeben habe . . . Ich will das Gefängnis Judas und das Gefängnis Israels wenden und will sie bauen wie von Anfang . . . Zur selben Zeit, spricht der Herr, werden kommen die Kinder Israel samt den Kindern Juda und weinend daher ziehen und den Herrn, ihren Gott, suchen.“ Jer. 3,18; 33,7; 50,4.


V. Aus welchen Ländern werden die Juden zurückkehren?
Nach 70 Jahren der Gefangenschaft kehrten sie nur aus Babylon zurück. Am Zeitenende aber werden sie aus allen Himmelsrichtungen wiederkehren (wir nennen nur die bekanntesten Gebiete): 
246
Aus Assyrien , Jes. 11,11; Sach. 1 0,1 0 ;
aus Ägypten, Jes. 11,11;
aus Äthiopien (Afrika) Jes. 11,11; 
aus Elam (Persien), Jes. 11,11; 
aus Sinear (Mesopotamien), Jes. 11,11; 
aus Übersee (den Inseln), Jes. 11,11; 
aus den vier Enden der Erde, Jes. 11,12; Jer. 31,8;
von Ost und West, Jes. 43, 5 ;
aus fernen Landen, Jes. 43, 6; 
aus allen Völkern und von allen Orten, dahin sie verstreut sind, Jer. 29, 14;
aus dem Lande der Mitternacht (Norden), Jer. 31, 8; 
von der Himmel Ende, 5. Mos. 30,4.

Diese Prophezeiungen haben sich natürlich nicht am Ende der babylonischen Gefangenschaft erfüllt. Nach der 70jährigen Verbannung kehrte Israel nur aus Mesopotamien zurück, und zwar nur ein kleiner Teil von Juda. Die damals Jerusalem wieder bauten, rufen voll Schmerz: „Siehe, wir sind heutiges tages Knechte in dem Land, das Du unseren Vätern gegeben hast.“ Neh. 9, 36. In der Tat erlangten die Juden nie mehr ihre Unabhängigkeit, weder vor noch nach dem Jahre 70 nach Chr. Darum muß ihre endgültige, von dem Propheten geschaute, glorreiche Wiederkehr nach ihrer weltweiten Zerstreuung am Zeitenende erfolgen.


VI. Wohin kehrt Israel zurück?

Darüber macht die Schrift so zahlreiche Angaben, daß wir ohne Zögern antworten können: nach Palästina.


Nach den Propheten kehrt Israel zurück:

in das Land ihrer Väter, das ihnen Gott zu eigen gegeben, 5. Mos. 30,5 ; Jer. 3,18 ; 16,15; 30,3; Hes. 37,25;

in ihr Land, Jes. 14,1; Hes. 36,24; 37,14.21 ; 39,28; Amos 9,15;

in ihre Grenzen, Jer. 31,17;

in das Land, das ihnen Gott zugemessen hatte, Jes. 34,17;

in das heilige Land, Sach. 2, 12;

in das Land des Herrn, Jes. 14, 2;

in das Land, das Gott Jakob gegeben hatte, Hes. 28, 25; 37, 25;

in das Land, daraus Israel in die Gefangenschaft mußte, Jer. 29, 14;

in das Land, das die Kanaaniter bewohnt hatten, Obadja 20;
auf die Berge, die so lange wüste waren, Hes. 38,8; 34,13.15; 36, 8;

nach Zion, nach Jerusalem, Jes. 35,10; Jer. 3,14; Sach. 8, 8;

auf die Weiden des Karmel und von Basan, Jer. 50, 19;

auf die Gebirge von Ephraim und Gilead, Jer. 50,19; Sach. 10,10; Obadja 19;

an die Küste des Philisterlandes, nach Askalon, Zeph. 2, 7;

zum Libanon, Sach. 10,10;

aufs Gebirge Esaus im Philisterland, Obadja 19;

ins Gebiet von Ephraim und Samaria, Obadja 19.


Nach einer solchen Aufzählung (und wir haben nicht alles genannt) läßt es sich kaum bezweifeln, daß Gott die Juden wirklich in ihre alte Heimat zurückführen will. Sogar Männer wie Cromwell und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen erwogen – wohl unter dem Eindruck so vieler Bibelstellen – eine Zeitlang den Plan, die Juden in ihrem Land wieder anzusiedeln. Übrigens ist es merkwürdig, daß man, seit die Frage einer nationaljüdischen Heimat akut wurde, mehr oder weniger ernsthaft vorgeschlagen hat, die Juden anderswo unterzubringen. Da die Araber Palästina besitzen, warum könnte man nicht Israel ein anderes Gebiet, z.B. in Afrika oder Südamerika zuweisen? Aber die Juden, mit den Zionisten an der Spitze, haben einem solchen Plan heftig widerstanden und rundweg erklärt, sie gingen nur nach Palästina.
Schon 1903 soll Chamberlain Herzl, dem Begründer des Zionismus, im Namen Großbritanniens vorgeschlagen haben, in Uganda eine Nationalheimat für Juden anzulegen. Herzl zögerte; da fielen seine Glaubensgenossen mit dem Ruf über ihn her: „Nieder mit dem Afrikaner!“ Da lehnte er das englische Angebot ab. Auch der Völkerbund versuchte seinerzeit vergebens, andere Vorschläge zu machen. Und heute ist die Rückkehr nach Palästina Wirklichkeit geworden. Mit dem Beschluß der UNO, Palästina in zwei Staaten, einen jüdischen und einen arabischen, zu teilen, ist die Ära der großen Erfüllungen angebrochen. England hat Palästina verlassen; der jüdische Staat ist ausgerufen und sehr bald von den Großmächten anerkannt worden. Die Araber haben ihn erfolglos bekämpft, und eine vielleicht sehr nahe Zukunft wird uns zeigen, wie sich die sehr genauen Weissagungen der Propheten weiter erfüllen werden.

VII. Für welche Zeitdauer wird Israel in sein Land zurückkehren?

Nach seiner Rückkehr aus Babylon blieb Isr el nur kurze Zeit in Palästina. Grausam wurde es durch die Römer wieder verjagt. Aber es soll bald auf immer heimkehren. „Ich will sie wieder in dies Land bringen und will sie bauen und nicht abbrechen, Ich will sie pflanzen und nicht ausraufen . . . Ich will sie wiederum an diesen Ort bringen, daß sie sollen sicher wohnen . . . Ich will sie in diesem Lande pflanzen treulich, von ganzem Herzen und von ganz er Seele.“ Jer. 24, 6; 32, 37.41.

VIII. Was geschieht bei der Rückkehr der Juden mit Palästina selbst?
Im vorigen Kapitel sahen wir, daß das Land nach dem Fortgang der Juden zu einer Wüste mit nur einzelnen grünen Oasen geworden war.
Die Araber lieben den Feldbau nicht und lassen lieber ihre Herden abweiden, was von selbst wächst. Und die Türken pflanzten kaum einen neuen Baum, wo sie einen gefällt hatten. Sie setzten sogar eine Steuer auf die Bäume. Während der letzten hundert Jahre ihrer Regierung war die Steuer so maßlos hoch, daß man es vorzog, die Bäume zu fällen, statt die Steuer zu zahlen. So war Palästina ohne genügende Vegetation, ohne Pflege und ohne Wasser sehr heruntergekommen. Aber das soll nun alles anders werden.


1. Diese Einöde wird wieder blühen und zu einem Obstgarten werden.
„Es werden auf dem Acker meines Volkes Dornen und Hecken wachsen . . . bis daß über uns ausgegossen werde der Geist aus der Höhe. So wird dann die Wüste zum Acker werden und der Acker wie ein Wald geachtet werden . . . Aber die Wüste und Einöde wird lustig sein, und das dürre Land wird fröhlich stehen und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und fröhlich stehen in aller Lust und Freude . . . Ich will in der Wüste geben Zedern, Akazien, Myrten und Ölbäume; Ich will auf dem Gefilde geben Tannen, Buchen und Buchsbaum miteinander . . . Denn der Herr tröstet Zion . . . und macht ihre Wüsten wie Eden und ihr dürres Land wie den Garten des Herrn.“ Jes. 32, 13. 35, 1-2; 41,19; 51, 3. „Das verwüstete Land soll wieder gepflügt werden, dafür, daß es verheert war, daß es sehen sollen alle, die dadurch gehen, und sagen: Dies Land war verheert, und jetzt ist’s wie der Garten Eden.“ Hes. 36, 34.


Ohne der Zukunft vorzugreifen, stellen wir heute schon fest, daß Palästina nicht wiederzuerkennen ist. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts suchen die Juden immer mehr landwirtschaftliche Kolonien anzulegen. Bis 1914 hatte Baron Edmond von Rothschild nicht weniger als 60 Millionen Goldfranken in dieses Unternehmen gesteckt. Eine einflußreiche Organisation, Keren Kayemeth Leisrael genannt, wurde zum Ankauf und Anbau von Ländereien gegründet. 1935 hatten die Juden, trotz des wachsenden Widerstandes der Araber, 1.200.000 Hektar Landes erworben. Die erzielten Erfolge grenzen ans Wunderbare: alle in im Jahre 1934 pflanzten sie 130.000 Bäume (in wenigen Jahren 1 473 000). Die Ebene Saron war einst den Sanddünen überlassen. Nun steht von Gaza bis Lydda ein riesiger Orangenwald. Der Ertrag an Citrusfrüchten (Orangen, Zitronen, Pampelmusen) hat sich so gehoben, daß er z.B. schon von Januar bis April 1935 über den Hafen von Jaffa den Versand von 7 Millionen Obstkisten ermöglichte. Es handelt sich wirklich um eine weltberühmte Pflanzung, denn die Palästinaorangen haben Weltruf auf den Märkten. Ein anderes typisches Beispiel ist die Urbarmachung der einst für ihre Fruchtbarkeit berühmten Ebene von Esdrelon (bzw. Jesreel). 1920 lag sie völlig brach, von übermannshohem Gras überwuchert, von Sümpfen durchsetzt, ein Pestherd der Malaria. Kein Baum, kein Haus in der Ebene; auf den Hügeln vier bis fünf kleine Araberdörfer (die Ebene ist 50 km lang). Heute sieht man überall Häuser, Obstgärten, Weiden, Bauernhöfe. Aber von den 8000 ersten Kolonisten starben 6000 an den dort wütenden Krankheiten. Die Wochenschrift „Minerva“ berichtet darüber: „Es wurde öfter behauptet, daß der Jude die Handarbeit verabscheut und es vorzüglich versteht, andere für sich arbeiten zu lassen. Für Palästina trifft das nicht zu. Der Jude ist und bleibt das Aufbauelement dieses Landes. Ich habe das Tal Jesreels nach dem Krieg von 1914 -1918 gekannt. Es war ein ausgedehnter, verpesteter Sumpf, wo die Malaria Alleinherrscherin war. Alle, die sich in dieser Gegend anzusiedeln versucht hatten, fanden den Tod. Als die ersten Pioniere („Maloutsim“ auf Hebräisch) dieses Gebiet besuchten und nach den Ruinen fragten, die dort zu sehen waren, kam die Antwort: „Ein verschwundenes Dorf . . . Deutsche wohnten dort.“ „Wo sind sie jetzt?“ – „Sie sind gestorben“ – „Und hat sich seitdem niemand hier niedergelassen?“ – „Araber sind gekommen. Sie sind tot, alle tot, tot . .“ – „Hier müssen wir siedeln“, sagte der Älteste. Und sie bauten sich dort an. Viele sind tot . . . tot: Aber so oft ein Pionier umfiel, fand sich sofort ein anderer, um Hacke und Schaufel des Dahingegangenen aufzunehmen.“ (30.11.45). Daher übertreffen auch die Erfolge jede Vorstellung.

1935 erwarb die „Palestine Land Development Company“ das ganze Gebiet von Meromsee, um dort die selbe Sanierungsarbeit vorzunehmen. Bis dahin war das ein ödes fieberverpestetes Land, wo nur einige Beduinenfamilien hausten. Solcher Beispiele könnte man noch mehr nennen. Die Juden, die man als untauglich für die Landarbeit ansah, haben sich in großer Zahl und mit unglaublichem Eifer ans Werk gemacht.


2. Regen und Wasser sollen in Fülle wiederkommen.

Wir sahen, wie Gott, den Weissagungen gemäß, nach dem Weggang der Juden den Wolken gebot, Palästina nicht mehr wie zuvor den Regen zu spenden. Jes. 5, 6. Aber nach der Schrift soll es bei der Rückkehr und Bekehrung der Juden wieder reichlich Regen geben:
„Werdet ihr nun Meine Gebote hören . . . so will Ich eurem Lande Regen geben zu seiner Zeit, Frühregen und Spätregen, daß du einsammelst dein Getreide, deinen Most und dein Öl, und will deinem Vieh Gras geben auf deinem Felde, daß ihr esset und satt werdet.“ 5. Mos. 11, 13-15.
„Ich will auf sie regnen lassen zur rechten Zeit, das sollen gnädige Regen sein . . . Und das Land wird sein Gewächs geben.“ Hes. 34,26-27.
„Und ihr, Kinder Zions, freuet euch und seid fröhlich im Herrn, . . . der euch herabsendet Frühregen und Spätregen wie zuvor.“ Joel 2, 23. Da das jüdische Jahr etwa um die Herbstgleiche beginnt, sind es die Frühregen, die das Getreide zum Keimen bringen. Der Spätregen im Frühjahr ist notwendig zur Entwicklung und Ausreifung des Korns. Diese letzteren waren seit langem ausgeblieben, nach dem Wort von Jer. 3,3 z.B. . . . Aber es heißt, daß sie sich seit etwa 60 Jahren wieder eingestellt haben, und daß sich das Klima Palästinas deutlich in der von den Propheten angezeigten Richtung entwickelt.


Den häufigeren Regenfällen entsprechend reichlichere Quellen: „Es werden auf allen großen Bergen und auf allen großen Hügeln zerteilte Wasserströme gehen . . . Denn es werden Wasser in der Wüste hin und wieder fließen und Ströme im dürren Lande . . . Ich will Wasserflüsse auf den Höhen öffnen und Brunnen mitten auf den Feldern und will die Wüste zu Wasserseen machen und das dürre Land zu Wasserquellen . . . Denn Ich will Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre.“ Jes. 30,25; 35,6; 41,18; 44,3.


Tatsächlich hat man bei Bohrungen in Palästina mancherorts neue, bedeutende Wasserquellen entdeckt. Die Bewässerung des Landes ist systematisch organisiert. Seit 1936 hat man fließendes Wasser in Jerusalem. Aber die größte Entdeckung wurde in der syrischen Wüste gemacht, die zu dem Abraham verheißenen Gebiet gehört. Als man 1933 Röhren zur Leitung des Petroleums vom Irak nach Haifa und Tripolis (Syrien) legte, mußte man etappenweise Dauerwachposten einrichten. Nun konnte kein Wächter inmitten einer der trockensten Wüsten der Welt ohne Wasser leben. So versuchte man artesische Brunnen zu bohren und entdeckte zur Überraschung in 20 m Tiefe ein ausgedehntes Wasserbett. Dieses Grundwasser wird durch eine breite Tonschicht geschützt und aus dem riesigen Becken gespeist, das die Gebirge von Persien und Armenien bilden. Und überall, wo dieses Wasser sprudelt, sieht
 man buchstäblich die Wüste erblühen. Wer kann wissen, welche Entfaltung eine ähnliche Entdeckung in den Ostjordangebieten ermöglichen würde?


Eine andere Auswertung des Wassers in Palästina ist die Erfassung der Wasserdruckkraft des Jordans. Sie ließ die Elektrifizierung des Landes und eine bedeutende Entwicklung seiner Industrie zu. Zur Frage des Jordans nennen wir noch die „Times“ vom 8.4.1946, die riesige Kanalisierungspläne zwischen diesem Wasserlauf und dem Meer zur Bewässerung Palästinas darlegt.

3. Das zerstörte Land soll wieder aufgebaut werden und die Menschen sich dort vermehren .
„Sie werden die alten Wüstungen bauen, und was vorzeiten zerstört ist, aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte, so für und für zerstört gelegt sind, erneuen.“ Jes. 61, 4. „An diesem Ort, davon ihr sagt: er ist wüst, weil weder Leute noch Vieh in den Städten Judas und auf den Gassen zu Jerusalem bleiben, die so verwüstet sind, daß weder Leute noch Bürger, noch Vieh darin sind, wird man dennoch wiederum hören Geschrei von Freude und Wonne . . . Denn Ich will des Landes Gefängnis wenden wie von Anfang, spricht der Herr.“ Jer. 33, 10. „Die Städte sollen wieder bewohnt und die Wüsten erbaut werden. Ja, Ich will bei euch der Leute und des Viehs viel machen . . . Ich will euch wieder bewohnt machen wie vorher . . . Ich will die Städte wieder besetzen, und die Wüsten sollen wieder gebaut werden . . . daß man sagen wird: Diese Städte waren zerstört, öde und zerrissen und stehen nun fest gebaut.“ Hes. 36, 10 .33-35. (S. auch Sach. 8, 4-5.8).
Auch auf diesem Gebiet wurde Außerordentliches erarbeitet. 1936 gab es 60.000 Juden in Jerusalem (mehr als 1920 im ganzen Land). 1909 wurde bei Jaffa auf ödem, mit Sanddünen bedecktem Gelände die ausschließlich jüdische Stadt Tel Aviv (Frühlingshügel) gegründet. Dank den unterirdischen Süßwasserquellen entwickelte sich die Stadt rasch und wurde von üppigen Gärten umgeben. 1932 hatte sie 46.000 Einwohner, 1935 102.000, 1939 200.000; 1946 hatte sie fast 300.000 erreicht. Sie besitzt einen Hafen, eine Oper, prächtige Läden, eine Universität, höhere Schulen u.a.m.
1936 lebten in einem einzigen Vorort Haifas 50.000 Juden. Auch in der Stadt Tiberias ist eine bedeutende Judenkolonie. In einem früheren Kapitel gaben wir eine Statistik der jüdischen Einwanderung in Palästina vor 1939. Seit der Zeit ist es schwierig, genaue Zahlen einzuholen. Beachten wir noch, daß zur selben Zeit, dank dem wachsenden Wohlstand im Land, auch die moslemische Bevölkerung dort zugenommen hat. Denn auch eine lebhafte moslemische Einwanderung sucht, der jüdischen das Gleichgewicht zu halten und ihr zu vorzukommen.

Palästina zählte:

1908 . . . . . . 41.000 Juden
 . . . . . . 250.00 Mohamedaner
1935 . . . . . . 375.000 Juden
         857.000 Mohamedaner

                                                        116.000 Andersgläubige
Summe 1935 . . . . 1.348.000



Seit der Gründung des Jüdischen Staates am 15. Mai 1948 hat sich die israelitische Bevölkerung in drei Jahren verdoppelt. 600 000 neue Einwohner sind also seit diesem Datum aufgenommen worden. Bis Ende 1951 wollten die Regierung und die Jeswish Agency (Jüdische Agentur) weitere 200 000 ins Land bringen. Die nicht jüdische Minorität beträgt etwa 140 000 Personen („Judenchrist!iche Gemeinde“, Juni 1951)



4. Großer wirtschaftlicher Wohlstand ist diesem Lande verheißen.


In der Tat halten die Juden einen Hauptteil des Weltvermögens in der Hand. Jesaja sagt, daß sie ihren Reichtum mitbringen werden: „ . . . Ich will Gold anstatt des Erzes und Silber anstatt des Eisens bringen und Erz anstatt des Holzes und Eisen anstatt der Steine.” Jes. 60,9.5.11.17. (S. auch Hag. 2,7 ; Sach. 14,14 u.a.). Wir wollen nur einige Beispiele anführen: Wir haben schon gesagt, daß Baron E. von Rothschild vor 1914 allein in den landwirtschaftlichen Kolonien 60 Millionen Goldfranken angelegt hatte. Als Tel Aviv erst 50 000 Einwohner zählte, hatte es bereits 125 Millionen Goldfranken gekostet. Die Gesellschaft zur Gewinnung von Pottasche und Brom aus dem Toten Meer besitzt ein Kapital von 136 Millionen Goldfranken. 1934 wurden hundert Millionen Pfund Sterling in Palästina angelegt. . . .


Aber es geht nicht nur um fremde Kapitalanlagen in Palästina. Das Land selbst birgt ungeheure Reichtümer. Man hat entdeckt, daß manche Hügel aus Phosphaten bestehen, die sehr gesuchte Düngemittel sind. Man fand auch, daß das Tote Meer das reichste Mineralbecken der Welt ist. Es enthält Salze von Chlor, Magnesium, Kali, Kalk, Natron und vor allem Brom. Nach Aussage eines Fachmanns könnte das dortige Vorkommen sogar auf 2000 Jahre den Weltbedarf an diesen chemischen Stoffen decken. Zur Ausbeutung dieser Schätze wurden Fabriken gebaut, zu deren Betrieb der Jordan die Elektrizitätskraft liefert. Gleichzeitig kam man darauf, daß diese bis dahin als verflucht geltende Ecke der Welt als Luftkurgebiet unübertroffen ist. Die von Sauerstoff geschwängerte Luft und die Mineralquellen haben eine wunderbare Wirkung. Noch etwas Bemerkenswertes: zwischen Jaffa -Tel – Aviv und Triest hält eine Handelsflotte unter der Flagge Israels eine regelmäßige Verbindung aufrecht. All dies ist ja nur ein Anfang. Den Umständen entsprechend wird der Aufschwung des Landes sicher immer weiter voranschreiten.


5. Auch auf kulturellem Gebiet erkennt man eine wirkliche Auferstehung.

Das alte Hebräisch, das so lange nicht mehr gesprochen wurde, ist wieder eine lebendige Sprache geworden. Ben Yehudah, ein jüdischer Gelehrter aus Odessa, hat ein hebräisches Wörterbuch in fünfzehn Bänden herausgegeben, in dem die Sprache allen Bedürfnissen des modernen Lebens und der Technik angepaßt ist. 1925 wurde eine jüdische Universität auf dem Berg Scopus in Jerusalem gegründet. Der Unterricht wird dort in Hebräisch erteilt. Sie zählt 80 Professoren und umfaßt alle Wissenschaften. Die Bibliothek enthält mehr als 300.000 Bände. Im ganzen Land wurden Schulen, Kindergärten, Technische Hochschulen usw. gegründet. Immer mehr wird Hebräisch die Umgangssprache der eingewanderten Israeliten, die aus allen Weltteilen kommen. . . . In den Gaststätten, den Autobussen, den Läden spricht man nur Hebräisch. Das ist nicht das kleinste Wunder der heutigen Zeit. Demnach wurde Hebräisch zur offiziellen Sprache des neuen jüdischen Staates erklärt. . . .


6. Die Zionistenbewegung und die Erklärung Balfours.

Die Häufung so vieler, außergewöhnlicher Ereignisse ist kein Zufall. Seit einigen Jahrzehnten leben die Israeliten nicht mehr weltweit zerstreut in der Verbannung und ohne Fühlung miteinander. Sie sind sich ihrer Volkseinheit bewußt und organisieren sich systematisch zur Wiedereinrichtung ihrer national-jüdischen Heimat. 1897 berief Dr. Theodor Herzl den ersten Zionistenkongreß nach Basel. Anfangs gedieh diese Bewegung wenig. Aber im Krieg von 1914-1918 bedurften die Alliierten der Unterstützung der großen israelitischen Bankherren, besonders in Amerika. Darum versprach der englische Minister Lord Balfour in einem Manifest vom 2. 11. 1917 die Gründung einer jüdischen Heimat in Palästina nach siegreichem Friedensschluß. Bald darauf ließ sich England vom Völkerbund das Mandat über Palästina übertragen. Seit 1919 hat der Zionismus immer größere Fortschritte gemacht und war die Triebfeder zu vielen der oben angeführten Leistungen.


7. Der Sechstage-Krieg vom 5. bis 10. Juni 1967.

Die arabischen Staaten haben niemals auch nur die Existenz des Staates Israel, noch den Verlust eines Teiles von Palästina mit seinem Flüchtlingsproblem anerkannt, auch nicht den „Gewaltstreich am Suezkanal”, durch den der Golf von Akaba für die israelische Schiffahrt geöffnet wurde. Im Laufe der Jahre haben sie ihre Bewaffnung 
unaufhörlich, vorwiegend mit Hilfe der UdSSR, ausgebaut. Dadurch kamen sie auf militärischer Ebene so weit voran, daß theoretisch das Gleichgewicht sich mehr und mehr zu ihren Gunsten zu verlagern schien. Israel bezog seine Waffen zunächst aus Frankreich und den Vereinigten Staaten. Durch die Anstiftung zum heiligen Krieg und
 Aufrufe zur Ausrottung der Juden wurde die Spannung im Mittleren Osten täglich ernster.
Am 26. Mai 1967 erklärte Präsident Nasser: „Wenn jemals der Krieg ausbräche, würde er total sein und die Zerstörung Israels zum Ziel haben“.
Ahmei Choukeiri,
der Chef der Organisation für die Befreiung Palästinas, (PLO) bestätigte, „es sei möglich, ja sogar wahrscheinlich“, daß seine Männer als erste das Feuer eröffnen würden. Wenn die Araber Israel erobern, sagte er,
 würden sie den überlebenden Juden zur Rückkehr in ihr Land verhelfen; „aber es wird meiner Meinung nach keine Überlebenden geben“.

Der Aufruf, der am 4. Juni 1967, am Vorabend der Feindseligkeiten an die ägyptischen Soldaten gerichtet wurde, lautet: „Ihr werdet in Israel eindringen . . . tötet sie bis zum letzten“. Anderntags, am 5. Juni, fügte das Radio hinzu: „Tötet sie alle und laßt keinen einzigen entschlüpfen, denn es wird immer gefühlvolle Herzen geben, um sie zu beklagen“. Nach der vollkommenen Niederlage, die ja bekannt ist, schrieb die große, täglich erscheinende, halbamtliche ägyptische Zeitung Al Achram die zynischen Worte: „Unser einziger Fehler ist, enthüllt zu haben, daß wir beabsichtigten, Frauen und Kinder zu ermorden.“ (Ergebnis einer vom Komitee „Action de Ja Resistance“ durchgeführten Umfrage, veröffentlicht von „Reforme“, 9. 9. 1967).

Israel war zwischen Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien, Syrien, dem Irak und dem Libanon eingeschlossen. Diese Staaten waren in der Lage, 472.000 Soldaten, 2380 Tanks und 848 Kampfflugzeuge einzusetzen. Der jüdische Staat, vergleichbar David im Angesicht Goliaths, verfügte nur über 264.000 Soldaten, 800 Tanks und 300 Flugzeuge. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, daß ein Völkermord im Bereich des Möglichen lag.

Nachdem Nasser den Rückzug der „Blaukappen“, der Schutztruppen der Vereinten Nationen, gefordert hatte, kündigte er die Schließung des Golfes von Akaba am Riegel bei Charm el-Cheikh an. Israel griff am Morgen des 5. Juni, an einem Montag, im Blitzkrieg an und zerstörte in einigen Stunden fast die ganze ägyptische Luftwaffe. Mit schwindelerregender Schnelligkeit folgten einander weitere Operationen. Die arabischen Armeen wurden buchstäblich überrannt.
Die Besetzung der ganzen Sinai-Halbinsel mit Charm el-Cheikh folgte. Dann wurde der Gazastreifen, die Altstadt von Jerusalem, das Westufer des Jordans und das Massiv von Golan und Syrien, Ausgangspunkt der dauernden Angriffe von Obergaliläa, besetzt. Es läßt sich leicht ermessen, welchen ungeheuren strategischen und defensiven Wert jeder dieser Punkte für den Staat Israel besitzt. Aber die erschütterndste Eroberung war jene der alten Stadt Jerusalem mit dem Tempelplatz und der berühmten Klagemauer.


General Dayan rief aus : ,,Wir sind zur allerheiligsten unserer heiligen Stätten zurückgekehrt und werden nie mehr von hier weichen!“

Yves Cuan schrieb im „Figaro“ am 23. 9. 1967:

Dies ist für die frommen Juden das Ende von zwei Jahrtausenden der Trübsal seit der Zerstörung des Tempels durch Titus. Auf dem heiligen Berg, wo die Römer Salz gestreut hatten, um jede Spur mosaischen Kultes auszulöschen, geht man jetzt überall in voller Sicherheit umher. Endlich ist das Gebet erhört, das von den Israeliten bei jedem Passahmahl seit 1900 Jahren gesprochen wird: ,Nächstes Jahr in Jerusalem!’ Sie besetzen die heilige Stadt.
Die letzte Spur vom Tempel Salomons, die Klagemauer, wird zur Freudenmauer.“
Die Soldaten reinigen den Platz von allem Unrat, der sich dort angesammelt hat. Als Oberhaupt der Armee läßt der Rabbiner die heilige Trompete, den „Schofar“, das Widderhorn, ertönen, das nur an hohen Festtagen erklingt, um das Volk zu Buße, Dank und Freude aufzurufen. „Es ist unmöglich“ , schreibt der Korrespondent von „La Terre Retrouvee“ im Juli 1967, „unsere Bewegung zu beschreiben. Zum ersten Mal in der Geschichte steht Israel als freies Volk gleichzeitig auf Sinai wie in Jerusalem auf den Ruinen dessen, was einst sein Tempel war“.

Viele Israelis riefen angesichts dieses wunderbaren Sieges aus: „Es ist übernatürlich, . . . aber vergeßt nicht, daß wir Gottes Volk sind!“ .

Ein Oberst antwortete einem Radiojournalisten, der ihn nach den Ursachen dieses wunderbaren Sieges fragte, „die Schlacht wurde vom Herrn der Heerscharen gewonnen“. (Figaro, 8. 6. 1967.

Die Texte sind nach Frau M. Blocher im „Chretien Evangelique“, November 1967, zitiert.)

Ein Augenzeuge beschreibt das erste jüdische Passahfest, das im wiedergewonnenen Jerusalem gefeiert wurde: „Am Abend dieses heiligen Sabbats habe ich vor der einzigartigen Mauer, (die nicht mehr Klagemauer ist) Gruppen junger, gläubiger Juden tanzen sehen. Junge Mädchen sangen: „Käme doch der Messias! Käme doch der Messias!“ (Claude Duvernoy in „Vie Protestante“, 19. 4. 1968).

Was wird der nächste Schritt auf geistlichem und prophetischem Gebiet sein?

Oft wird der Text Lk 21, 24 angeführt: „Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis daß der Heiden Zeit erfüllt ist“. Sollte seine Aussage vielleicht bedeuten: Wenn Jerusalem endgültig befreit und an Israel zurückgegeben ist, beginnt das messianische Zeitalter?

Praktisch bleiben für Israel offensichtlich noch viele Probleme zu lösen. Bis jetzt hat es weder die Anerkennung seines Staates durch die arabischen Länder, noch die Unterzeichnung eines echten Friedensvertrages erreicht. Die Besetzung neuer Gebiete, in denen rund eine Million Araber leben, wirft große Schwierigkeiten auf. Die Zukunft ist weit entfernt davon, geregelt zu sein, ganz zu schweigen von Attentaten und den häufig sich ergebenden Zusammenstößen. So haben die Grundprobleme noch längst keine Lösung gefunden.

König Hussein von Jordanien hat gelegentlich einer Reise in die Vereinigten Staaten erklärt: „Wenn wir Israel nicht vernichten, wird der ganze Vordere Orient unter den Einfluß der Zionisten kommen“.
Ein Sprecher der ägyptischen Regierung fügte im Januar 1968 hinzu: „Wie kann man nur einem Lande (Israel), das alle seine Feinde in sechs Tagen zerstört, große Gebiete besetzt und gedroht hat, bei nächster Gelegenheit Kairo und Damaskus zu erobern, auch noch Waffen liefern?“
Und die Zeitung Al Achram hat sich folgendermaßen ausgedrückt: „Israels Macht wächst schneller als unsere Anstrengungen, es im Zaume zu halten“. (Dezember 1967).

Was die palästinensischen Flüchtlinge betrifft, so ist die gerechte Lösung ihres Falles sehr dringlich. 1948 hatten die arabischen Staaten ihre Brüder in Palästina ermutigt, die Kampfzone zu räumen. Sie versprachen ihnen eine schnelle Rückkehr zu ihren Heimstätten. 300.000 hatten in Jordanien Zuflucht gefunden und 300.000 im Gazastreifen. Seither haben sie sich vervielfacht, aber ihre Lage ist noch immer beklagenswert. 100.000 erhielten von Jordanien die Erlaubnis, rings um den persischen Golf und vor allem in Saudi Arabien Arbeit anzunehmen. Die anderen leben von Hilfsmitteln, die ihnen von der UNO zugeteilt und vorwiegend von den Vereinigten Staaten bezahlt werden. Statt ihre Arbeitskraft zu formen und zu nützen, mißbraucht man sie zur Unterstützung der arabischen Ansprüche auf Palästina, indem man Haß und Terror gegen Israel weiter nährt. Im Vergleich zu den Ländern, die von den Arabern regiert werden, hat Israel nur ein Gebiet von 2 % besetzt. Andererseits hat sich die Bevölkerung Palästinas, dank der beachtlichen Anstrengungen der jüdischen Siedler, seit vor 1948 auch vermehrt. Endlich mußte eine ansehnliche Menge von Israelis oft blühende Unternehmungen in den arabischen Staaten verlassen. Was hat man getan, um an ihre Stelle die palästinensischen Flüchtlinge einzusetzen? Beiträge von Juden aus aller Welt haben es den Opfern des Antisemitismus ermöglicht, in Israel aus bitterer Armut eine geordnete Existenz aufzubauen. Die arabischen „Öl-Scheichs“ sind unendlich reich. Wenn ein Teil ihrer großzügigen Unterstützungen für etwas anderes als zur Bewaffnung verwendet würde, könnten sie ihren unglücklichen Glaubensbrüdern damit zu Hilfe kommen.
Selbstverständlich geben wir nicht vor, ein so schwieriges und schmerzliches Problem lösen zu können.
Aber Gott ist gerecht und die sich auf ihn berufen, müssen es auch sein. Selbst wenn wir noch nicht sehen, wie dies geschehen soll, wird doch die endliche Erfüllung seines Planes auch eine gerechte Lösung für die Nachbarn Israels bringen. Denn er liebt sie und hat auch für sie seinen Sohn dahingegeben.

IX. Schlußfolgerung.


Natürlich stehen der totalen Wiedereinsetzung Israels in sein Land noch große Hindernisse im Weg. Aber erscheinen nicht die schon überwundenen Etappen bedeutender als die noch bevorstehenden? In einem Augenblick kann Gott mit denen fertig werden, die Seinen Absichten widerstehen.

Jesus sprach: „Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis daß der Heiden Zeit erfüllt wird.“ Luk. 21,24.

Das bedeutet auch, daß die Zeit kommt, da dieser Zustand aufhört, wie es das AT an vielen Stellen weissagt. Und wenn jetzt schon die verdorrten Gebeine zusammenkommen, obwohl noch nicht vom Geiste belebt, so bedarf es 
nur eines einzigen Wortes vom Herrn, damit sie wiederauferstehen.
Jesus sagte zu Seinen Jüngern: „An dem Feigenbaum lernet ein Gleichnis: Wenn sein Zweig jetzt saftig wird und Blätter gewinnt, so wißt ihr, daß der Sommer nahe ist. Also auch, wenn ihr das alles seht, so wißt, daß es nahe vor der Tür ist.“ Matt. 24, 32. In der Schrift ist der Feigenbaum (wie auch die Rebe) oft ein Symbol des Volkes Israel. Lange war der Stamm dieses Volkes dürr und tot. Nun brechen die Knospen auf, und die Blätter sprießen.
Darum wissen wir, daß der Sommer nahe ist und der Menschensohn vor der Tür.

6. Kapitel



Die Zeit der Angst „in Jakob“


I. In welcher inneren Verfassung kehrt Israel nach Palästina zurück?
Aus den Texten geht klar hervor, daß die Juden ohne innere Umkehr zu Gott oder Jesus Christus in ihr Land zurückkehren.
In dem Gesicht von Hesekiel 37 kommen die Gebeine zusammen, und Fleisch und Haut wachsen ihnen, bevor der Geist in sie kam. Genau das geht heute vor sich: Der Zionismus ist eine nationale, keine geistliche Bewegung, und ein großer Teil der jüdischen Rückkehrer nach Palästina hat den Glauben seiner Väter verloren. (Man sagt, daß
von über 1 Millionen Juden, die in New York wohnen, 86 % die Synagoge nicht mehr besuchen). Und traurig ist es, sagen zu müssen, daß die furchtbaren jüngst vergangenen Jahre wohl das Verlangen der Juden nach der Heimkehr steigerten, aber keine Bußbewegung bewirkten, so wenig übrigens wie bei den anderen Völkern !
Um daher mit Israel zu Seinem Ziele zu kommen, wird Gott es einer letzten und furchtbaren, aber entscheidenden Prüfung unterziehen müssen. .Aus allen Geschlechtern auf Erden habe Ich euch allein erkannt; darum will Ich euch heimsuchen in all eurer Missetat.” Amos 3,2.


II. Israel wird in die Hand des Antichristen gegeben werden.

Wir haben gesehen, daß der Antichrist offenbar sogar Israel verführt und mit ihm einen Bund auf sieben Jahre eingeht, ihn aber nach dreieinhalb Jahren bricht. Joh. 5,43 und Dan. 9,27. Womöglich wird es der Antichrist selber sein, der, um sich der Juden leichter zu entledigen, ihre Rückkehr nach Palästina beschleunigt und dazu den Widerstand der Araber bricht. Man hat sich gefragt, ob nicht die, welche der Hochmut über eine so hohe – aber diabolische – ,,Protektion” erfüllt, mit den Worten von Jesaja 28 gemeint sind: ,,Ihr sprecht: Wir haben mit dem Tod einen Bund und mit der Hölle einen Vertrag gemacht; wenn eine Flut dahergeht, wird sie uns nicht treffen . . . Darum spricht der Herr: Euer Bund mit dem Tod soll los werden und euer Vertrag mit der Hölle nicht bestehen. Und wenn eine Flut dahergeht, wird sie euch zertreten . . . Denn der Herr wird Sich aufmachen . . . , daß Er Sein Werk vollbringe auf eine seltsame Weise.“ Vs. 15.18.21.
Sacharja spricht davon, wie der Herr kein Mitleid mehr mit den Bewohnern des Landes haben und sie „in die Hand ihres Königs“ – wohl des Antichristen – geben wird. Der „törichte Hirte“ wird „das Fleisch der Fetten (Schafe) fressen und ihre Klauen zerreißen.“ Sach. 11, 6.15 -16. „Und ich sah das Horn (den Antichristen) streiten wider die Heiligen, und es behielt den Sieg über sie . . . . Er . . . . wird die Heiligen des Höchsten verstören . . . sie werden aber in seine Hand gegeben werden eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit . . . bis das Verderben, welches beschlossen ist, sich über die Verwüstung ergießen wird.“ Dan. 7,21.25; 8,24; 9,27. „Israel wird aufgefressen! Die Heiden gehen mit ihnen um wie mit einem unwerten Gefäß . . . Diese will Ich über sie sammeln ; sie sollen der Last des Königs der Fürsten (wohl des Antichristen selbst) bald müde werden.“ Hos. 8, 8.10. Das wird die schlimmste Zeit sein, die Israel je durchlebt haben wird!

III. Die Trübsal Israels.
„Wir hören ein Geschrei des Schreckens, es ist eitel Furcht da . . . Warum sind alle Angesichter so bleich? Es ist ein großer Tag, und seinesgleichen ist nicht gewesen, und ist eine Zeit der Angst in Jakob; doch soll ihm daraus geholfen werden.“ Jer. 30,5-7.
„Es wird eine solch trübselige Zeit sein, wie sie nicht gewesen ist, seitdem Leute gewesen sind bis auf diese Zeit . . . Und wenn die Zerstreuung des heiligen Volkes ein Ende hat, soll solches alles geschehen.“ Dan. 12,1.7.
Der Antichrist und alle seine Heere, Gog und alle seine Horden, alle Völker der Erde werden sich zuletzt versammeln, um Jerusalem zu vernichten. Sach. 12, 3; Hes. 38, 8-12. Dann „sollen in dem ganzen Lande, spricht der Herr, zwei Teile darin ausgerottet werden und untergehen, und der dritte soll darin übrigbleiben. Und Ich will den dritten Teil durchs Feuer führen und läutern, wie man Silber läutert, und prüfen, wie man Gold prüft . . . Siehe, es kommt dem Herrn die Zeit, daß man deinen Raub austeilen wird in dir. Denn Ich werde alle Heiden wider Jerusalem sammeln zum Streit. Und die Stadt wird gewonnen, die Häuser geplündert und die Weiber geschändet werden; und die Hälfte der Stadt wird gefangen weggeführt werden, und das übrige Volk wird nicht aus der Stadt ausgerottet werden.“ Sach. 13,8-9; 14, 1-2. Vor einigen Jahren hätten wir gezögert, derlei Weissagungen wörtlich zu nehmen. Aber seit wir in wenigen Jahren ein Drittel aller Juden umkommen sahen, wissen wir leider, daß alles möglich ist.

Maleachi spricht auch von diesem großen Schmelztiegel, der Israel läutern soll. Nach einem Hinweis auf Johannes den Täufer und auf das erste Kommen des Herrn sagt er weiter: „Und bald wird kommen zu Seinem Tempel der Herr, den ihr suchet, und der Engel des Bundes . . . Wer wird aber den Tag Seiner Zukunft erleiden können? . . . Dann werden sie dem Herrn Speiseopfer bringen in Gerechtigkeit . . . Und Ich will zu euch kommen und euch strafen.“ Mal. 3, 1-5.


Jesus Christus selbst deutet auf dieselben Ereignisse hin, wenn Er vom Greuel der Verwüstung spricht, den der Antichrist an heiliger Stätte aufrichten wird. Und Er fährt fort: „Alsdann fliehe auf die Berge, wer im jüdischen Lande ist . . . Denn es wird alsdann eine große Trübsal sein, wie nicht gewesen ist von Anfang der Welt bisher. Und wo diese Tage nicht würden verkürzt, so würde kein Mensch selig; aber um der Auserwählten willen werden die Tage verkürzt.“ Matt. 24, 16-22.

Man versteht, daß nach all dem „die Kraft des heiligen Volkes ganz gebrochen sein wird.“ Aber wie traurig, daß Israel nicht durch eine aufrichtige Wendung zur Buße und zum Glauben diesen Gerichten entgeht!


IV. Die Befreiung, die der Herr Seinen Auserwählten gewährt.

Ohne das Eingreifen Gottes könnte kein Mensch gerettet werden. Aber um der Auserwählten willen wird Er es tun. Hier sind neben der Androhung des Gerichts einige tröstliche Verheißungen: „Gehe hin, Mein Volk, in deine Kammer, und schließ die Tür hinter dir zu; verbirg dich einen kleinen Augenblick, bis der Zorn vorübergehe! Denn siehe, der Herr wird ausgehen von Seinem Ort, heimzusuchen die Bosheit der Einwohner des Landes.“ Jes. 26, 20.
Zur Zeit, wann Gog kommen wird über das Land, spricht der Herr Herr, wird heraufziehen Mein Zorn in Meinem Grimm . . . Und Ich will ihn richten.“ Hes. 38, 18. „Zur selben Zeit wird der große Fürst Michael, der für die Kinder deines Volkes steht, sich aufmachen.“ Dan. 12, 1. Dank dieser übernatürlichen Hilfe wird Israel nicht verschlungen werden. Endlich wird nach Israels Bekehrung das Erscheinen des Herrn die Lösung des Dramas zu Gunsten Seines Volkes bringen. „Aber der Herr wird ausziehen und streiten wider diese Heiden, gleichwie Er zu streiten pflegt zur Zeit des Streits. Und Seine Füße werden stehen zu der Zeit auf dem Ölberg . . . Und der Ölberg wird sich mitten entzwei spalten . . .“ Sach. 14, 3-5.


V. Die Völker werden nach ihrem Verhalten zu Israel gerichtet.

Gott hatte zu Abraham gesagt: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen.“ 1. Mos. 12,3. Dieses Wort wird sich bis zum Ende bewahrheiten. Zu derselben Zeit, da der Herr Sein Volk befreit, wird Er mit den Völkern abrechnen, die es mißhandelt haben. Oft haben sie geglaubt, Gottes Befehl gegen Israel auszuführen, haben aber das Maß in empörender Weise überschritten. Darum wird ihnen Gott das sagen, was Er einst dem Zerstörer des Zehnstämmereichs zurief:“ „O weh Assur, Meines Zornes Rute!“ Jes. 10,5.

„Ich will alle Heiden zusammenbringen im Tale Josaphat und will mit ihnen daselbst rechten wegen Meines Volks und Meines Erbteils Israel , weil sie es unter die Heiden zerstreut und sich in Mein Land geteilt . . . Die ihr Mein Silber und Gold . . . genommen . . . dazu auch die Kinder Juda und die Kinder Jerusalems verkauft, . . . Ich will ‘s euch vergelten auf euren Kopf.“ Joel 4, 2-7.
Er hat mich gesandt nach Ehre zu den Heiden, die euch beraubt haben; denn wer euch antastet, der tastet Seinen Augapfel an. Denn siehe, Ich will Meine Hand über sie schwingen, daß sie sollen ein Raub werden denen, die ihnen gedient haben.“ Sach. 2, 12.
„Und sollen sicher darin wohnen . . . . wenn Ich das Recht gehen lasse über alle ihre Feinde um und um.“ Hes. 28, 26. Sollte das nicht die Feinde des Volkes Gottes zum Nachdenken bringen ? Mögen wir nie zu ihnen gehören!


7. Kapitel



Die Bekehrung Israels


I. Das große Ziel Gottes.
Alle Fügungen Gottes mit Israel ha ben nur das eine Ziel, sie endlich zur Erkenntnis Jesu Christi als ihres Messias zu bringen. Wir ha ben gesehen , daß ihre Bekehrung nach Paulus das Ende unseres Zeitalters und den Beginn einer neuen Ara bestimmen soll : ,.Ganz Israel wird selig werde n, . . . wenn ihre Zahl voll würde, . . . was wird ihre Annahme anders se in als Le ben von den Toten ? Röm. 11,26.12.15. Wir wollen nun sehen, wie s ich dieses Große vollzieht.


II. Die Ausgießung des Heiligen Geistes auf Israel.
An Pfingsten wurde der Heilige Geist auf die Gemeinde, die Gläubigen, ausgegossen, „auf alles Fleisch“, d.h. auf alle Menschenrassen. Aber Israel als Gesamtheit hatte um seines Unglaubens willen keinen Anteil an dieser Gabe. Doch verheißen die Propheten, daß der Herr mit ihrer Rückführung in das so lang verödete Palästina den Juden auch einen mächtigen Geistesstrom von oben senden wird . . . daß über uns ausgegossen werde der Geist aus der Höhe . . . Ich will Meinen Geist auf deinen Samen gießen und Meinen Segen auf deine Nachkommen . . . Denen zu Zion wird ein Erlöser kommen und denen, die sich bekehren von den Sünden in Jakob, spricht der Herr. Und ich mache solchen Bund mit ihnen:
 Mein Geist, der bei dir ist, und Meine Worte . . . sollen von deinem Munde nicht weichen . . . von nun an bis in Ewigkeit.“ Jesaja 32, 13-15: 34,16: 44,3; 59,20-21.

„Ich will euch wieder in euer Land führen . . . Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben . . . Ich will Meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in Meinen Geboten wandeln und Meine Rechte halten . . . denn Ich habe Meinen Geist über das Haus Israel ausgegossen, spricht der Herr.“ Hes. 36,24-27; 39,28-29.

Und Hesekiel erzählt in seiner berühmten Vision, wie der Herr ihm befiehlt, über die schon zusammengebrachten Gebeine zu weissagen: „Wind (Geist), komm herzu aus den vier Winden und blase diese Getöteten an, daß sie wieder lebendig werden; . . . da kam Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig . . . Ich will Meinen Geist in euch geben, daß ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen.“ Hes. 37, 1-14.

Und Sacharja verkündigt, was dereinst geschehen wird, wann Israel endlich die Augen aufgehen :
 „Aber über das Haus David und über die Bürger zu Jerusalem will Ich ausgießen den Geist der Gnade und des Gebets; und sie werden Mich ansehen, welchen sie zerstochen haben.“12, 10.


So werden auch die Juden an der Pfingstausgießung teilhaben, um die sie willentlich gekommen waren: ,,Und nach diesem will Ich Meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen . . . Auch will Ich zur selben Zeit über Knechte und Mägde Meinen Geist ausgießen. Und Ich will Wunderzeichen geben am Himmel und auf Erden . . . ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt. Und es soll geschehen, wer des Herrn Namen anrufen wird, der soll errettet werden. . . .“ Joel 3, 1-5.
Der Schluß dieser Weissagung geht offenbar bei der Bekehrung der Juden noch genauer in Erfüllung als an Pfingsten. (Ap. 2,16-21).


III. Israel begrüßt Jesus Christus als seinen Erlöser.

Endlich werden die Juden, durch die Kraft des Geistes zerbrochen, „Mich ansehen, welchen sie zerstochen haben. Und werden um Ihn klagen, wie man klagt um ein einziges Kind . . . Sach. 12, 10.
Staunend wird Israel die Gottheit des Messias, des Sohnes Davids, erkennen: „Die Kinder Israel werden lange Zeit ohne König, ohne Opfer bleiben . . . Darnach werden sich die Kinder Israel bekehren und den Herrn, ihren Gott, und ihren König David suchen (ein und dieselbe Person); und werden mit Zittern zu dem Herrn und Seiner Gnade kommen in der letzten Zeit.“ Hos. 3 ,4-5.
Dann werden die Juden jene Worte verstehen und erfüllen: „Saget den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! sehet, euer Gott, der kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen. Als dann werden der Blinden Augen aufgetan werden, und der Tauben Ohren . . . Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott! . . . Er wird Seine Herde weiden wie ein Hirte . . . Saget der Tochter Zions: Siehe, dein Heil kommt!“ Jes. 35, 4-5; 40 ,9.
Zuletzt sagt Paulus, wie er von der Verstockung seines Volkes redet, die so lange dauern wird, bis „die Fülle (Vollzahl) der Heiden eingegangen ist“, daß ganz Israel dann gerettet wird. Er stützt sich dabei auf das oben genannte Wort Jesajas vom kommenden Erlöser (Kap. 59, Vs. 20). Röm. 11, 25. Dieser Erlöser wird, nach Jesu eigenen Worten, von den Juden klar erkannt und angenommen werden: „Ihr werdet Mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Matt. 23, 39.


Die Bekehrung des Saulus von Tarsus erscheint wie ein Symbol für die künftige Bekehrung seines Volkes. Wie einst Paulus ist Israel in seinem Judentum verstockt und ein heftiger Gegner Christi. Aber in dem Augenblick, da ihm der Herr in Seiner Herrlichkeit erscheint, zerbricht sein Herz, und er erkennt seinen Heiland. Alsbald wird er, kraft einer unfaßbaren Umwandlung, zum großen Missionar Dessen, den er lange verworfen hatte. Zinzendorf, einer der ersten Christen unserer Epoche, der für die Bekehrung der Juden gebetet hat, sagte sehr richtig: „Gott wird sie bekehren wie einen Saulus, indem Er sie zu Boden wirft.“


IV. Israels Reue

Den bisher verabscheuten Christus annehmen, den langen Irrweg des ganzen Volkes einsehen, ihr Verbrechen gegen Gott verstehen, alle die ihnen verlorengegangenen Segnungen erkennen, all das wird für die Juden sehr schmerzlich sein. Wenn sie Ihn ansehen, welchen sie zerstochen haben, werden sie bitterlich über Ihn und über ihre Sünden weinen. Zu der Zeit wird die Trauer groß sein zu Jerusalem. . . . 

Es kommt der Tag, da das widerspenstige Volk von selbst seinen Gott suchen wir: „Wie lange willst du in der Irre gehen, du abtrünnige Tochter? . . . Zur selben Zeit, spricht der Herr, werden kommen die Kinder Israel und weinend daherziehen und den Herrn, ihren Gott, suchen . . . Ihr werdet Mich suchen und finden. Denn so ihr Mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will Ich Mich von euch finden lassen, spricht der Herr, und will euer Gefängnis wenden und euch sammeln aus allen Völkern.“ Jer. 31, 22; 50, 4; 29, 14.

V. Gott schenkt den Juden ein neues Herz

Der Herr kann nicht hart sein gegen ein bußfertiges und gläubiges Menschenkind. Nach Seiner Verheißung gewährt Er ihm die Gnade der Wiedergeburt. So wird auch zuletzt das Gebet Jesu Christi erhört: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Schon lange bedurfte Israel dieser Gnade, hatte doch schon Mose ihnen gesagt: „Der Herr hat euch bis auf diesen heutigen Tag noch nicht gegeben ein Herz, das verständig wäre, Augen, die da sähen, und Ohren, die da hörten.“ 5. Mos. 29, 3. Dieses von Natur böse Herz hat sich durch die Jahrtausende der Empörung und des Unglaubens nur verhärtet. Aber eines Tages wird Gottes Gnade es besiegen: „Er wird dich in das Land bringen, das deine Väter besessen haben . . . Und der Herr, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, daß du den Herrn, deinen Gott, liebest von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf daß du leben mögest . . . Du aber wirst dich bekehren. . . daß du tust alle Seine Gebote, die ich dir heute gebiete.“ 5. Mos. 30, 5-6.8.

,,Eure Entronnenen werden dann an Mich gedenken unter den Heiden, da sie gefangen sein müssen, wenn Ich ihr abgöttisches Herz . . . zerschlagen habe . . . Ich will euch das Land Israel geben . . . und will euch ein einträchtiges Herz geben und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus eurem Leibe und ein fleischernes Herz geben, auf daß sie in Meinen Sitten wandeln und Meine Rechte halten und danach tun. Und sie sollen Mein Volk sein, so will Ich ihr Gott sein.“ Hes. 6, 9; 11,17-20. Die letztere Verheißung ist so wichtig, daß sie im 36. Kapitel, V. 26-28 weiter ausgeführt wird. (S. auch Jer. 24, 6; 31, 33). Endlich wird das wiedergeborene Volk die Schrift verstehen: „Ihre Sinne sind verstockt. Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke unaufgedeckt über dem Alten Testament, wenn sie es lesen, welche in Christo aufhört. Aber bis auf den heutigen Tag, wenn Mose gelesen wird, hängt die Decke vor ihrem Herzen; wenn es aber sich bekehrte zu dem Herrn, so würde die Decke abgetan.“ 2. Kor. 3, 14-16. Dann aber, und zwar zum erstenmal, wird Israel wirklich das Volk Gottes geworden sein.

VI. Das unvergleichliche Glück Israels

Die Propheten scheinen kaum Worte genug zu finden, um die ganze Glückseligkeit zu beschreiben, die endlich Israels Herz erfüllen wird. Bei der Rückkehr aus Babylon sangen die Juden: “Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.” Ps. 126, 1-2. Wievielmehr wird das bei ihrer endgültigen Heimkehr der Fall sein!


1. Israel wird Triumphgesänge anstimmen
„Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein . .“ Jer. 30,19.


2. Endlich wird es die Freiheit genießen

„Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, daß ihre Dienstbarkeit ein Ende hat, denn ihre Missetat ist vergeben.“ Jes. 40, 2. „Es soll aber geschehen zu derselben. Zeit, spricht der Herr Zebaoth, daß Ich sein Joch von deinem Halse zerbrechen will und deine Bande zerreißen, daß er nicht mehr den Fremden dienen muß.“ Jer. 30,8.


3. Es wird in Frieden und Sicherheit leben

Und sie (Meine Schafe) sollen sicher auf dem Lande wohnen und sollen erfahren, daß Ich der Herr bin, wenn Ich ihr Joch zerbrochen und sie errettet habe von der Hand derer, denen sie dienen mußten. . . .“ Hes. 34, 27-28.

„Mein Volk wird in Häusern des Friedens wohnen, in sicheren Wohnungen und in stolzer Ruhe.“ Jes. 32, 18.
Nur Israel, das Jahrtausende unter dem Gespenst der Ausbeutung und der Verfolgung gelebt hat, wird den wahren Wert einer solchen Befreiung würdigen können. . . . . . .



VII. Schlußfolgerung

Beim Abschluß dieser Skizze von der Israel vorbehaltenen Zukunft stehen uns zwei Texte besonders vor der Seele:

„Wie geschrieben steht: Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die Ihn lieben. 1. Kor. 2,9.



Kein Mensch hätte je eine solch wunderbare Laufbahn wie die Israels erdenken können, oft so düster infolge seiner Untreue, doch hell beschienen von der triumphierenden Gnade Gottes! Und zuletzt wird die Verwirklichung aller Liebesabsichten Gottes mit dem Volk der Erwählung ein ewiges Denkmal zur Ehre des Herrn sein.



Denn Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf daß Er Sich aller erbarme.

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!

Wie gar unbegreiflich sind Seine Gerichte und unerforschlich Seine Wege!
Denn von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge.
Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Röm. 11, 32-36


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Satan, Fürst der Welt (R.Pache)

 

Dr. René Pache

DIE WIEDERKUNFT JESU CHRISTI

– HIER ALS AUSZUG DIE SEITEN 118 BIS 126 –

3. Kapitel



Satan, der Fürst dieser Welt

Um die Endzeit recht zu verstehen, ist es unerläßlich, auch zu wissen, was die Bibel über den Satan lehrt. Ohne ihn wären die völlige Entartung der Menschheit, die blitzartige Entwicklung der Ereignisse, der ungeheure Einsatz des Kampfes undenkbar.

I. Woher kommt der Satan?
Die Schrift läßt uns wenig über den Ursprung des Feindes wissen, der die Menschheit an ihrer Wiege verführte. Doch hebt sie einen Zipfel des Schleiers in den beiden Bibelstellen von Hes. 28, 12-17 und Jes. 14, 12-15.
Es ist klar, daß die Propheten hinter den Königen von Tyrus und Babylon den erkennen, der diese zu seinen Werkzeugen machte (wie Jesus zu Petrus sagte: „Hebe dich weg von mir, Satan!“. Daraus erfahren wir:

1. daß der Satan ein Geschöpf ist, Hes. 28, 13. 15;
2. daß er ein Schutzengel auf dem heiligen Berge Gottes war, V. 14, d.h. daß er im Himmel mit großer Macht ausgerüstet war. Er erstrahlt in Herrlichkeit, Weisheit, Reichtum und Schönheit, Hes. 28, 12-13. Es ist die Rede von denen, die ihm zu Diensten waren, und von seiner großen Hantierung , V. 13, 16. Ruhmvolle Titel werden ihm gegeben, z.B. „Schöner Morgenstern“ (woraus Luzifer – Lichtträger wurde), Jes. 14,12. Judas reiht ihn unter die „Majestäten“ und sagt, daß sogar lange nach seinem Sturz der Erzengel Michael kein abfälliges Urteil gegen ihn zu fällen wagte. Jud. 8-9. Vielleicht war Satan das Haupt über alle Engel und kam direkt nach Gott und Seinem einigen Sohn.
3. Wie alle Werke Gottes, wurde der Satan vollkommen geschaffen. Er setzte der Vollkommenheit das Siegel auf, vollendet, wie er war, an Weisheit und Schönheit. In allem Tun war er ohne Tadel, vom Tage seiner Erschaffung an bis zu seinem Fall. Hes. 28,12.15.

II. Der Fall Satans und der Engel

Der Hochmut und der Wunsch, sich an Gottes Stelle zu setzen, trieben den Satan in eine wahnwitzige Auflehnung gegen den Schöpfer. Hes. 28, 16-17. 2; Jes. 14,13-14. Soviel wir wissen, hat der Sturz Satans dem Weltall den Anfang der Sünde gebracht. Im Himmel zog er die Empörung einer Engelgruppe nach sich, die, ohne Fehl und in Freiheit erschaffen, nun zu Dämonen wurde. Petrus sagt uns über den Fall der himmlischen Geister: „Gott hat die Engel, die gesündigt haben, nicht verschont, sondern hat sie mit Ketten der Finsternis zur Hölle verstoßen und übergeben, daß sie zum Gericht behalten werden.“ 2. Petr. 2,4.
( S. auch Jud. 6; Eph. 6,12; Offb. 12, 4. 9.)


III. Die vom Satan beherrschte Menschheit.

Nicht genug, daß Satan einen Teil des Himmels gegen Gott aufwiegelte, er setzte auch alles daran, die nach Gottes Bild erschaffene Menschheit zu verführen. Adam hatte den Befehl, die ganze Erde sich untertan zu machen. Durch seine freiwillige Unterwerfung unter den Versucher erlaubte er diesem, sich den Titel des „Fürsten dieser Welt“ anzumaßen, den ihm sogar Jesus zugesteht. Joh. 14,30. Seit dem Fall sind alle Sünder der Macht des Teufels unterworfen: „Wer Sünde tut, der ist vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang . . . Daran wird’s offenbar, welche die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels sind . . . Nicht wie Kain, der von dem Argen war und erwürgte seinen Bruder . . . Die ganze Welt liegt im Argen.“ 1. Joh. 3,8. 10. 12; 5 ,19.

IV. Der große Sieg des Kreuzes.

Durch ihre Torheit Sklaven Satans geworden, konnten sich die Menschen nicht selbst befreien. Hätte Gott in Seiner Liebe nicht eingegriffen, wären sie auf ewig verloren. Aber der Herr konnte den Angriff des Feindes nicht ohne Gegenangriff hinnehmen. Um der Empörung im Himmel und auf Erden Einhalt zu tun, sandte Er Seinen Sohn zum Tode am Kreuz: „Denn es ist das Wohlgefallen (Gottes) gewesen, daß . . . alles durch Ihn versöhnt würde zu Ihm selbst, es sei auf Erden oder im Himmel, damit, daß Er Frieden machte durch das Blut an Seinem Kreuz, durch Sich selbst.“ Kol. 1, 19-20. „An welchem wir haben Erlösung durch Sein Blut . . . nach Seinem Wohlgefallen, so Er sich vorgesetzt hatte in Ihm, daß es ausgeführt würde, da die Zeit erfüllet war, auf daß alle Dinge zusammen verfaßt würden in Christo, beide, das im Himmel und auf Erden ist.“ Eph. 1, 7-10. Allein durch Seine Macht hätte Gott mit einem Schlag alle Seine Feinde vernichten können. Aber Seiner Majestät entsprach ein Sieg durch Liebe und Opfer weit mehr. Der Sohn bot Sich als Lösegeld dar, so sühnte der Vater auf Dessen Haupt die Sünden der ganzen Welt. So wurde Seiner Gerechtigkeit Genüge getan und Seine Heiligkeit gerächt. Nun die Sünden getilgt und vergeben waren, wurde eine Generalamnestie für alle im Lager des Feindes proklamiert, die zur Buße und zur Versöhnung mit Gott bereit sind. Sofort wurden alle Opfer Satans, die aufrichtigen Herzens waren, von seinem widrigen Joch befreit. Sie konnten mit dem Apostel Paulus rufen: „Danksaget dem Vater . . . , der uns errettet hat von der Obrigkeit der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich Seines lieben Sohnes.“ Kol. 1, 12-13.

Durch das furchtbare Gericht, das die Sünde auf Golgatha heimsuchte, wurde Satan selber direkt getroffen. Wenn der mit unserer Missetat beladene Sohn vom Vater nicht verschont wurde, wieviel weniger wird es der Hauptschuldige im Weltall werden. Das Kreuz offenbart nicht nur Gottes Gnade gegen den reuigen Sünder, es enthüllt auch Seine unerbittliche Strenge gegen das Böse und seinen Urheber.
Darum kann Paulus sagen, daß Jesus am Kreuz „ausgezogen hat die Fürstentümer und Gewaltigen und sie schaugetragen öffentlich und einen Triumph aus ihnen gemacht durch Sich selbst“. Kol. 2, 15. Der Herr hatte selbst zu Beginn Seiner Passion gesagt: „Jetzt geht das Gericht über die Welt; nun wird der Fürst dieser Welt ausgestoßen w erden.“ Joh. 12, 31. Der Heilige Geist soll dann der Welt die Augen öffnen über „das Gericht, daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist.“ Joh. 16, 8.11. Am Kreuz erfüllte sich d e alte Prophezeiung vom Tage des Falls: Die Schlange hat die Ferse des dem Weibe verheißenen Sohnes verwundet, indem sie Ihn ans Fluchholz nageln ließ. Er aber hat Seinem Feinde den Kopf zertreten. 1.Mose 3, 15.

V. Wie kommt es, daß Satan noch weiterwirken kann?

Im Sterben konnte Jesus ausrufen: „Es ist vollbracht!“ Im Prinzip hat das Drama von Golgatha der Sünde und aller Macht des Feindes den Todesstoß versetzt. Aber auf das Kreuz folgt sofort die Gnadenzeit. In Seiner unendlichen Geduld gibt Gott den Menschen Zeit, das Evangelium zu hören und ihre Sünden zu bereuen. Die Ungläubigen behalten ihre Freiheit, und Gott läßt sie ihren Weg vollenden, da offenbar werde, wessen sie fähig sind. Sogar gegen den Satan beweist der Herr diese unfaßbare Geduld. Sein Schicksal ist längst besiegelt.
Aber noch läßt Gott ihn wirken und die Menschen versuchen. Und was noch unfaßbarer ist: der Satan hat jetzt noch Zugang zum Herrn, um seine Opfer und sogar die Auserwählten zu verklagen. Das Buch Hiob zeigt ihn uns zweimal, wie er vor Gott tritt, den Patriarchen anzugreifen, 1 ,6-12; 2,1-7. Derselbe Satan steht vor dem Herrn, den Hohenpriester Josua zu verklagen. Sach. 3, 1-2. Darum sagt Paulus, daß wir mit Fürsten in der Finsternis dieser Welt zu kämpfen haben, mit „den bösen Geistern in den himmlischen Örtern, also sogar auch da, wo Jesus sitzt zur Rechten Gottes. Eph. 6, 12; 1,21.
Aber Gottes Geduld findet ein Ende. Johannes sieht den Augenblick voraus, da der Satan aus dem Himmel verstoßen wird, und ruft aus: „Der Verkläger unsrer Brüder ist verworfen, der sie verklagte Tag und Nacht vor Gott.“ Offb. 12,10.


VI. Welches oberste Ziel verfolgt Satan in seinem Kampf gegen Gott?
Wir haben gesehen, daß Satans hochmütiges Begehren, Gott gleich zu sein, ja sogar, Ihn zu entthronen, schuld an seinem Fall war: „Ich will in den Himmel steigen und meinen Stuhl über die Sterne Gottes erhöhen . . . Ich will gleich sein dem Allerhöchsten.“ Jes. 14, 13-14. „Dein Herz erhebt sich und spricht: Ich bin Gott.“ Hes. 28, 2.

Seitdem hat sich das Ziel des Widersachers nicht geändert. Er hat die Menschen vom Schöpfer abgezogen, um sich von ihnen anbeten zu lassen. Als der eingeborene Sohn auf Erden erscheint, zeigte Satan Ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und wagte dann zu sagen: „Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.“ Matth. 4, 8-9. Triumphierend ist Jesus in den Himmel gestiegen, fern von Satans Reichweite. Nun stürzt sich dieser auf die Gemeinde, den Leib Christi. Gottes Kinder sind die einzigen Menschen, die ihm seine Herrschaft streitig machen. Darum kennt seine Wut gegen sie keine Grenzen. Die von Gott abgewandten Völker aber können durch Elend, Blut und Tränen erkennen, welch furchtbarem Joch sie verfallen sind.

Wir dürfen uns keine Illusionen machen über Natur und Einsatz des Kampfes, der auf unserem Planeten ausgetragen wird. Der Kampf geht weiter, nicht zwischen Individuen oder Völkern, sondern zwischen geistigen Mächten, welche die Menschen wie Marionetten lenken.
Der Teufel setzt seine ganze Macht ein, damit ihm die totale Herrschaft und die Anbetung aller auf Erden zufalle. Dieser Art hofft er, wenigstens an einem Punkt des Weltalls Gott die Obergewalt zu entreißen. Und unleugbar wird ihm dies, gemäß den Weissagungen, ein einziges Mal und auf ganz kurze Zeit gelingen, wahrscheinlich nach der Entrückung der Gemeinde, die allein ihm hier Widerstand leistet.
Die Menschheit wollte lieber dem Satan als Gott dienen. Sie muß ernten, was sie gesät hat, und zu ihrem Schaden erkennen, wie weit sie ihr Todfeind zu treiben vermag.


VII. Mit welchem Mittel gedenkt Satan endlich sein Ziel zu erreichen?
Um persönlich an die Menschen zu kommen und sie in dem Reich, das Er auf Erden gründen wollte, in Seine Gefolgschaft zu ziehen, mußte Gott selbst Fleisch werden. In der Gestalt Jesu von Nazareth ist der Schöpfer Mensch geworden. Angetan mit Macht aus der Höhe bezeugte der eingeborene Sohn durch nie gehörte Wunder Seine göttliche Sendung. Gnade und Wahrheit offenbarte Er der Welt, und durch das höchste Opfe Seiner Liebe trug Er den Sieg davon.

Luther hat gesagt: „Satan ist der Affe Gottes.“ Alles, was der Herr im Guten tut, äfft er im Bösen nach. Gott hat Seinen Christus auferweckt, so wird der Teufel seinen falschen Christus, den Antichrist der
Endzeit, hervorbringen. Solange der Feind unter den Menschen nicht Leib geworden ist, bleibt seine Macht über sie nur Stückwerk. Aber nur der Schöpfer kann nach Belieben einen Leib annehmen. Verkörpert sich aber Satan nicht buchstäblich, so kann er doch, wie wir wissen, ein Herz in Besitz nehmen, das sich ihm hingibt. In den Evangelien haben wir zahlreiche Fälle von Besessenheit. Matt. 12, 43-45; Luk. 8, 27-33;usw. Als sich Judas zur Auslieferung seines Meisters entschlossen hatte, fuhr der Satan in ihn. Luk. 22, 3. So konnte der Herr von Seinem Verräter sagen: „Euer einer ist ein Teufel.“ Joh. 6, 70. Später erklärt Petrus dem Ananias: „Warum hat Satan dein Herz erfüllt, daß du dem Heiligen Geist lögest?“ Ap. 5, 3. Aber so schlimm auch diese Fälle von Besessenheit waren, sie sind nicht zu vergleichen mit der, die noch nach der Schrift kommen soll. Am Zeitenende wird Satan einen Menschen finden, der sich ihm rückhaltlos ausliefert. Dieses Wesen, der Antichrist, wird der direkte Vertreter des Teufels auf Erden sein, das menschliche Werkzeug, wodurch die Macht der Hölle ihre Herrschaft hier aufrichten wird. Im nächsten Kapitel sehen wir, was die Bibel über ihn lehrt.

VIII. In welchem Maße läßt Satan schließlich die Maske fallen?
Am Zeitenende wird das vorher Verborgene enthüllt und von den Dächern geschrieen werden. Dann kommt die „Apokalypse“, d.h. die Offenbarung Jesu Christi. Offb. 1,1. Gott wird die ganze Herrlichkeit und Souveränität Seines Sohnes offenbaren. Aber auch das Geheimnis der Bosheit wird offenbar werden; entsetzt erleben die Völker die „Apokalypse“ des Antichristen und Satans. 2. Thess. 2, 7.9. Nun der Teufel in der Person des „Menschen der Sünde“ sein Meisterwerk vollbracht hat, hält ihn nichts mehr zurück. Da er weiß, daß ihm wenig Zeit bleibt, wird er sich auf der ganzen Linie als der zeigen, der er ist.

Wir sagten oben, daß Satan der „Affe Gottes” sei. Er will Gott nachahmen, aber es gelingen ihm nur Karikaturen der himmlischen Dinge. Wie Gott, besitzt er auf seine Art:

1. seinen (falschen) Christus, Offb. 13,2;
2.
seine Schule (s. Gemeinde), Offb. 2,9;
3.
seine Lehre. 1. Tim. 4, 1;
4.
seine Geheimnisse (die Tiefen Satans), Offb. 2, 24;
5.
seinen Thron, Offb. 13, 2;
6.
sein Reich, Luk. 4,6;
7.
seine Macht, Offb. 13, 2;
8.
seine Anbeter, Offb. 13,4;
9.
seine teuflische Dreifaltigkeit, Offb. 16,13;
10.
seine Engel, Offb. 12,7 ;
11.
seine Diener, 2. Kor. 11,15;
12.
seine Wunder, 2. Thess. 2,9;
13.
seine Söhne, Joh. 8,44; 1. Joh. 3,10 ;
14.
seine Opfer, 1 . Kor. 10,20;
15.
seine Gemeinschaft, 1. Kor. 10,20;
16.
seinen Tisch, 1. Kor. 10,2 1;
17.
seinen Kelch, 1. Kor. 10,21;
18.
seine Ehre, Judas 8-9;
19.
seine Heere, Jes. 24,21.


Dieses ganze teuflische System, vorher so geschickt getarnt, wird bei der großen Abrechnung vollkommen entlarvt werden.
Vor nicht langer Zeit hielt man es für geistreich, die Existenz des Teufels zu leugnen. Doch heute läßt es sich nicht mehr bestreiten, daß eine übernatürliche, höllische Macht die Menschheit trotz aller guten Absichten der Völker und ihrer Führer in den Selbstmord treibt. Der berühmte Basler Psychologe Professor C. G. Jung schreibt darüber: „So sicher es ein Lager Buchenwald gegeben hat, gibt es auch Dämonen.“

Und Dr. Hoppeler ergänzt: „Was in Maideneck, Auschwitz, Mauthausen usw. geschehen ist, taten nicht lediglich „bestialische“ oder „entartete“ Menschen. Die einzig mögliche Erklärung dafür ist, daß sie „besessen“ und vom Teufelsgeist „erfüllt“ waren. In den Ausrottungslagern hat Satan sein wahres Gesicht gezeigt, und die Welt, die über diesen Glauben an den Teufel spottete, mußte mit Entsetzen erkennen, daß dieser Fürst über die Mächte der Finsternis tatächlich existiert. Die Bibel wird damit ganz und gar bestätigt: seit Jahrtausenden ermahnt sie die Menschen, den „Feind“ zu bekämpfen, den „Lügner von Anfang an“. Und die Schrift sagt über die Sendung Jesu auf Erden: Er ist gekommen, „die Werke des Teufels zu zerstören“. (Berner Sonntagsblatt, 9. 9. 1945)

Aber all das ist nur der Anfang. Bald wird Satan öffentlich als „der Gott dieser Welt“ anerkannt werden. 2. Kor. 4,4. Die Menschen wenden sich vom wahren Gott und Seinem Christus ab. Aber ohne Religion kommen sie nicht aus (der Mensch ist ein religiöses Geschöpf, sagte Buffon). Sie werden bald öffentlich zur Anbetung des Teufels und seines großen Werkzeugs, des Antichristen, übergehen. Der Apostel Johannes sagt es ganz klar in Offb. 13, 4. Die unbewußte Ehrung, die heute schon viele Menschen der Macht des Bösen zollen, wird einfach zu einer bewußten, offiziell organisierten werden. Hat sich dann die Menschheit dem Feind völlig ausgeliefert, wird er seine ganze Bosheit enthüllen können. Da er restlos über die Menschen verfügt, von denen er Besitz ergriffen hat, wird er endlich alle Bosheit hervorkehren, deren er fähig ist.

IX. Welches Ende steht Satan bevor?
Gottes unbegreifliche Geduld gegen Satan und die Menschheit wird aber ein Ende nehmen. Jesus sieht es voraus: „Ich sah den Satanas vom Himmel fallen wie einen Blitz.“ Luk. 10, 18. Es kommt der Augenblick, da der Herr die Weltherrschaft, die Er einstweilen den Völkern und jenem Thronräuber überlassen hatte, wieder an Sich nimmt. Dann erfüllt sich die Weissagung des Johannes: „Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen; und der Drache stritt und seine Engel, und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel. Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen.“ Offb. 12, 7-9.

Endlich wird der Feind keinen Zugang zu Gott mehr haben. Aus dem Himmel vertrieben, muß er während der großen Trübsal seine Tätigkeit auf die Erde beschränken. Wutentbrannt wird er sich mit beispiellos überschäumender Bosheit zu rächen suchen, denn er weiß, es bleibt ihm wenig Zeit. Doch diese letzte Periode wird sehr kurz sein. Jesus Christus wird in Herrlichkeit vom Himmel erscheinen und dem Reich des Antichristen und der Empörung Satans ein Ende machen. Während des Tausendjährigen Reiches wird dieser nicht mehr schaden können. Offb. 20, 1-3. Es ist zu beachten, daß Satan, wenn das Knäblein zum Himmel entrückt wird, daraus vertrieben wird. Offb. 12. Und wenn das Knäblein vom Himmel zurückkommt, wird Satan von der Erde verbannt und tausend Jahre eingeschlossen. Schon Jesaja hatte dieses Ereignis vorausgesagt: ,,Zu der Zeit wird der Herr heimsuchen das hohe Heer, das in der Höhe ist, und die Könige der Erden, die auf Erden sind, daß sie versammelt werden als Gefangene in die Grube und verschlossen werden im Kerker und nach langer Zeit wieder heimgesucht werden.” 24,2 1 -22. „Nach langer Zeit“ bedeutet „nach dem Millennium“, wenn das Endgericht stattfindet, genau wie es die Offenbarung ankündigt. Die durch das Fernsein Satans so beglückende Herrschaft Christi auf Erden wird aber nicht zu Ende gehen, bevor alle Menschen auf der Erde die Möglichkeit hatten, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Dazu müssen sie versucht werden und muß ihnen der Verführer nochmals den Weg der Empörung nahelegen. Offb. 20, 3. 7-10.

Später kommen wir auf das tragische Ende des Millenniums zurück. Hier wollen wir betonen, wie das endgültige Schicksal Satans besiegelt wird: er wird in den feurigen Pfuhl geworfen, um Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit gequält zu werden. Das ewige Feuer war dem Teufel und seinen Engeln bereitet worden. Matt. 25, 41. Es ist also keine Rede von der Vernichtung oder der schließlichen Bekehrung Satans, wie es manche behaupten. Der Urheber alles Bösen muß als erster die Strafe erleiden, die seiner freiwilligen Opfer wartet. Dann kehrt alles zur Ordnung zurück, und der Friede des Weltalls wird auf ewig nicht mehr gestört werden.


X. Wie werden wir den Sieg über einen solchen Feind erlangen?
Von der Schrift her wissen wir alles, was der Feind noch vor seinem Ende versuchen wird. Hüten wir uns, ihn lästernd zu verurteilen (Judas 8-9) und seine Macht und seine List zu unterschätzen! Er schleicht um uns her wie ein brüllender Löwe, und schon stürzt er sich auf die geistlich Gesinnten, da er weiß, wie wenig Zeit er hat. Laßt uns nüchtern sein, wachen und beten, daß der Feind uns nicht überrasche! Immer gegen ihn haben wir zu kämpfen, nicht gegen „Fleisch und Blut“. Eph. 6,12.
Vergessen wir nicht, daß für den Gläubigen dieser furchtbare Feind bereits besiegt ist. Wir haben Waffen gegen ihn, denen er nicht gewachsen ist:

a) das Blut des Kreuzes und unser Zeugnis: diejenigen, die Satan Tag und Nacht vor Gott verklagte, „haben ihn überwunden durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses.“ Offb. 12, 10-11;
b) den Geist des Herrn: „Ihr habt sie (die Gesandten Satans) überwunden; denn der in euch ist, ist größer, denn der in der Welt ist.“ 1. Joh. 4,4 ;
c) das Wort Gottes: „Ziehet an den Harnisch Gottes, daß ihr bestehen könnt gegen die listigen Anläufe des Teufels . . . Nehmet das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes.“ Eph. 6, 11. 17;
d ) den Glauben: „Vor allen Dingen ergreifet den Schild des Glaubens, mit welchem ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösewichts!“ Eph. 6, 16.
Gott schenke uns immer mehr von dem Glauben, der die Welt und ihren Fürsten überwindet, und Er mache endlich die Verheißung wahr, die uns voll Zuversicht macht: „der Gott des Friedens zertrete den Satan unter eure Füße in kurzem!“ Röm. 16, 20.

Eingestellt von Horst Koch, Herborn, im November 2023




Das Millennium (René Pache)

8. Teil

DAS MILLENNIUM

( das Tausendjährige Reich )

(Auszug aus dem Buch DIE WIEDERKUNFT JESU CHRISTI . Seiten 281 bis 324. Eingestellt von Horst Koch. Im November 2023)

 1. Kapitel

Einführung 

I. Was ist das Millennium?
Millennium ist ein lateinischer Ausdruck und bedeutet „tausend Jahre“. Man bezeichnet damit die so lange dauende Ära, da Christus nach Seiner Wiederkunft Gerechtigkeit und Frieden zur Herrschaft bringt.

II. Auf welchen biblischen Grundlagen beruht die Lehre vom Millennium?

1. Auf zahlreichen Stellen im AT.
Im AT gibt es, wie wir wissen, viele, noch unerfüllte Weissagungen. Denken wir an jene über die Endempörung der Völker, den Antichristen, die große Trübsal, Harmagedon; dann an die über Israel, das Ende ihrer weltweiten Zerstreuung, ihre Rückkehr nach Palästina und ihre Bekehrung, die Wiederherstellung des auserwählten Volkes, und schließlich über Jesus Christus selbst, nämlich über alles was Seine Rolle als Richter und König der ganzen Welt angeht!
Wir haben erkannt, wie wörtlich alle diese Prophezeiungen wohl in Erfüllung gehen sollen, ja, bereits im Zuge sind, sich zu erfüllen. Genau so sicher werden, unserer Überzeugung nach, alle Weissagungen auf die glorreiche Herrschaft des Messias auf Erden zur Vollendung kommen. Es wäre wirklich sonderbar, an die wörtliche Erfüllung der unserer armen Welt angedrohten Gerichte zu glauben, die alle gegenwärtigen Ereignisse bestätigen, alle verheißenen Segnungen hingegen zu „vergeistigen“, indem wir sie in den Himmel verlegen! In den folgenden Kapiteln werden wir ständig Gelegenheit haben, eine große Zahl solch wunderbarer Verheißungen anzuführen und aufzuzeigen, wie sie unmöglich alle erst im Jenseits zur Erfüllung kommen können.

Heben wir noch eines hervor: Im AT ist die Lehre vom Millennium so vollständig vorhanden, daß die Juden sie selbst im Talmud ganz zu entwickeln vermochten, obwohl ihnen die späteren Angaben aus dem NT abgingen. Sie hatten z.B. lange vor der Offenbarung behauptet, daß die messianische Herrschaft tausend Jahre dauern würde. So läßt es sich nicht behaupten (wie es manche getan haben), daß ohne die berühmte Stelle in Offb. 20, 1-10 die Lehre vom Millennium gar nicht bestünde.

2. Das NT bestätigt die Aussagen des AT.
Eines dürfen wir nicht vergessen: Das AT bedenkt vor allem die irdische Zukunft Israels und der Völker, auf die das Heil übergeht. Wir finden darin kaum etwas von dem erwähnt, was das Evangelium das „ewige Leben“ und das Jenseits nennt, es sei denn in kurzen Streiflichtern (doch genügend, um es den Juden in großen Linien verständlich zu machen, was ihrer in der anderen Welt wartet).

Das NT hingegen hat zum Hauptthema die Gemeinde, das geistliche Volk Gottes, und das ewige Heil oder die ewige Verdammnis der Menschheit. Nur gelegentlich spielen Christus und die Apostel auf das Millennium an. In ihrer Lehre scheinen sie sogar häufig die glorreiche Wiederkunft des Herrn und die Ewigkeit zusammen zufassen (wie es im AT oft mit dem zweifachen Kommen des Herrn der Fall ist). Aber was das NT über das messianische Zeitalter aussagt, genügt vollkommen, um die Lehre der alten Propheten zu bestätigen. Wir werden dies auch auf den folgenden Seiten sehen. Übrigens brauchte das NT die ausführlichen Beschreibungen vom Millennium, die im AT so zahlreich vorhanden sind, nicht zu wiederholen. Und gerade die noch fehlenden Offenbarungen zeigt Johannes auf:

Die Dauer des messianischen Reichs,
das Gebundenwerden Satans,
die erste Auferstehung zu Beginn der Tausend Jahre,
die zweite Auferstehung am Ende der Tausend Jahre,
die letzte Empörung,
den Zeitpunkt des Weltuntergangs und des letzten Gerichts. Offb. 20, 1-15.

III. Ist ein Millennium notwendig?
Zweifellos, da die Schrift soviel davon redet! Doch wir müssen auch den Grund dafür verstehen. Die Gegner dieser Lehre nennen den Glauben an ein sichtbares, herrliches Reich Christi auf Erden zu fleischlich, eines „Himmelsbürgers“, der von der Erde nichts erwartet, unwürdig. Diese biblische Wahrheit mag wohl zuweilen in fleischlichem Sinn entstellt worden sein. Überdenken wir aber die einfachen Angaben der Bibel, so scheinen sie die einzig mögliche Lösung zu erbringen für die letzten tausend Jahre der Erde vor ihrem Untergang.

Ginge die Entwicklung der Menschheit nur auf die Herrschaft des Antichristen und die Schlacht von Harmagedon hinaus, und sollte die Erde gleich danach vernichtet werden, so wäre im Grunde Satan der Sieger. Trotz der göttlichen Bemühungen, aus der Erde ein Paradies zu schaffen, hätte das Böse triumphiert. Haß , Krieg , Leiden, Abfall hätten sich bis zum Ende nur immer mehr gesteigert. Und Gott wäre als letzter Ausweg nur noch die Auslöschung einer unrettbaren Welt geblieben. In diesem Fall wäre die Wiederkunft Christi nur „ein Gang auf den Ruinen“ ( Mme. Brunel).
Ja, man kann sagen, daß es dann keine Aussicht auf irgendein weiteres Geschehen gäbe, da im Himmel Christus bereits den Thron Seiner göttlichen Majestät innehat. Nein, das ist unmöglich! Schon um der Ehre des Herrn willen ist es klar, daß die Schrift uns einen ganz anderen Ausgang vor Augen stellen mußte. Gott wird das letzte Wort haben und gewaltige Rache nehmen. Aber nicht die furchtbaren Gerichte der großen Trübsal sind Seine Rache – denn der Herr richtet nur ungern -, sondern es sind vielmehr die tausend Jahre einer unvergleichlichen Wonne und Wohlfahrt, die Er der ihrem Haupte nun endlich unterworfenen Menschheit gewähren wird. Gott rächt Sich im Segnen und im Beweis der unbegrenzten Macht Seiner wunderbaren Liebe. Seine Gnadenabsichten mit dem Menschen, als Er ihn ins Paradies setzte, sind nur eine Zeit lang zurückgestellt worden. Endlich kommen sie zur Ausführung. Danach – wenn der Sieg des Herrn sich vollauf erwiesen hat – werden auch die anderen Weissagungen erfüllt werden. Die Erde wird vernichtet werden, und die Ewigkeit bricht an.

IV. Wird das Millennium tatsächlich auf Erden errichtet werden?
Indem sie alle Verheißungen des AT vergeistigen, verweisen manche das herrliche Reich Christi in den Himmel (während sie die den Juden, dem Antichristen und den Völkern angedrohten Strafen wörtlich nehmen und der Erdenzeit vorbehalten). Aber aus den Propheten scheint uns klar hervorzugehen, daß Jesus Christus erst hienieden Sein Reich sichtbar aufrichten wird.

Der Stein, der die Füße des Bildes von Daniel zerschlägt, wird zum großen Berg, der „die ganze Welt füllte“, d.h. daß das Reich Gottes den Raum einnehmen wird, den bis dahin die Königreiche der Menschen innehatten. Dan. 2,35. 38-39. „Das Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel wird dem heiligen Volk des Höchsten gegeben werden.“ Dan. 7,27. „Und hast uns unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und wir werden Könige sein auf Erden“ Offb. 5, 10. Der Engel Gabriel sagt von Jesus: „Gott, der Herr, wird Ihm den Stuhl Seines Vaters David geben.“ Luk. 1 ,32. Nun ist Gottes Thron im Himmel, aber Davids immer nur auf Erden gewesen.
Wie zahlreich und bestimmt fanden wir die Texte über Israels Rückkehr nach Palästina und seine Wiederherstellung! Eine ähnliche Fülle von Einzelheiten werden wir nun bei den Propheten über die glorreiche Periode feststellen, welche die Geschichte unseres Planeten beschließen wird.

V. Vor welchen Irrtümern müssen wir uns in Bezug auf das Millennium hüten?
Mehrere unheilvolle Irrtümer haben viele ernste Christen von der hier vorliegenden Lehre abgebracht. Darüber müssen einige Worte gesagt werden.

1. Der Glaube an das Millennium war unter den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte sehr verbreitet. Aber einige von ihnen verstiegen sich darin (wie in vielen andern Dingen) zu solchen Übertreibungen, daß sie ihre Lehre in Mißkredit brachten. Besonders ließ Papias seiner Phantasie die Zügel schießen; er suchte z.B. auszurechnen, wie viele Reben jeder Weinstock und wie viele Trauben jede Rebe im messianischen Zeitalter hervorbringen werde, um so in astronomischen Ziffern den Weinertrag zu bestimmen. „Im Millennium“, sagte er, „wird eine Weintraube einem Menschen, der gerade eine andere pflücken will, sagen: „Nimm mich, du Auserwählter des Herrn, ich bin reifer als meine Nachbarn!“ Zu derlei Beschreibungen kamen noch viele kindische Einzelheiten hinzu.
Solche fleischlichen und lächerlichen Auffassungen lösten bei Origenes, Augustinus und anderen eine heftige Reaktion aus, die zur völligen Aufgabe des ursprünglichen Begriffs vom Millennium und damit wieder zu ebenso schweren Irrtümern führte

2. Augustinus glaubte zuerst selbst an das kommende Reich des Messias, dann aber fing er an zu lehren, die tausend Jahre seien in geistlichem Sinne zu verstehen und hätten begonnen, als Jesus Christus am Kreuz den Satan besiegte und band. Als daher das Jahr 1000 kam, erwarteten große Massen voller Angst das Ende der Welt. Die Kirche ließ sich irdische Güter gegen die Sündenvergebung vermachen und besaß bald fast die Hälfte der Ländereien.

3. Danach erklärte man, daß der Ausdruck „Tausend Jahre“ nur eine lange Zeit bedeute, und daß die tatsächliche Fesselung Satans bei der Bekehrung des Kaisers Konstantin stattgefunden habe. Da habe das Evangelium über das heidnische und christenfeindliche Rom gesiegt und sei das messianische Zeitalter angebrochen. Seither regiere Christus in der Gestalt der Kirche und ihres sichtbaren Oberhauptes, des Papstes.

Solche Ideen sind aus der Begeisterung des Sieges über das Heidentum im vierten Jahrhundert begreiflich, da di langen und schrecklichen Verfolgungen aufhörten. Aber daß sich solche Ansichten trotz der Nacht des Mittelalters, der Kriege und der Verfolgungen der Reformationszeit und aller Greuel der neuesten Zeit halten konnten, ist kaum zu verstehen. Und doch ist dies die vorherrschende Auffassung in den katholischen Kreisen und sogar bei vielen Protestanten. In seiner Anmerkung zu der Stelle in der Offenbarung über die Fesselung Satans auf tausend Jahre (20, 1 -3) schreibt Abbe Crampon: „Tausend Jahre: langer Zeitraum, wahrscheinlich von unbestimmter Dauer; umfaßt den Zeitabschnitt zwischen der Einschränkung der Macht Satans durch das erste Kommen des Erlösers und dem Zeitpunkt, da er, kurz vor dem Ende der Welt, wieder losgelassen wird (V. 3), positiv gesagt also, fast die ganze Zeit der Kirche im Kampf.“
Wenn dem so wäre, so müßte man die messianische Herrschaft eine wirklich jämmerliche nennen, denn es hat durchaus nicht den Anschein, als sei Satan gebunden und außerstande, die Völker zu verführen. Oder er müßte – wie es einmal einer gesagt hat – an einer schrecklich langen Kette liegen!

4. Seit der Reformation haben allerlei Sekten merkwürdige Theorien über das Millennium vertreten. Ein Schulbeispiel liefern die Schwärmer von Münster in Westfalen, die 1539 vorgeblich das “Neue Jerusalem” unter der direkten Herrschaft Christi gründeten. Ihre schauerlichen Ausschreitungen wirkten sehr ungünstig auf die Reformation in der Frage der Taufe und der Weissagung.

Von den heutigen Bewegungen nennen wir nur die „Zeugen Jehovas“, deren Anhänger die 144 000 Versiegelten aus der Offenbarung sein wollen. Ihnen zufolge ist Christus 1914 wiedergekommen und hat damals Seine wunderbare Herrschaft angetreten, wenigstens in den Enklaven der „Neuen Erde“, d.h. ihrer eigenen Gemeinschaftssiedlungen. In diesen Kolonien ist die Erde nicht mehr verflucht, ihre Eingeweihten sterben nicht mehr und leben zusammen wie die Engel im Himmel!

5. Zwei in gewissen Kreisen stark verbreitete Lehren sind die vom Post-Millennium“ und vom „A- (bzw. Anti) Millennium“.

Die Vertreter des „Prä- (bzw. Vor) –Millenniums“ glauben wie wir an die Wiederkunft Jesu Christi vor dem Millennium.

Der Glaube an das „Post-Millennium“ lehrt, daß die Menschheit, dank den religiösen, sittlichen, sozialen und technischen Fortschritten, sich immerzu aufwärts entwickelt und einem wunderbaren, goldenen Zeitalter des Friedens und der allgemeinen Brüderlichkeit entgegen geht. Der Herr käme dann nur, um diese Vergötterung der Menschenrasse mit ihrem Einlaß in die Ewigkeit zu krönen. Vor 1914 hatte diese Lehre viel Erfolg. Aber nach den beiden Weltkriegen, den Gaskammern, der Atombombe hat sie – und mit Recht – viele Anhänger eingebüßt. Entmutigt wurden diese zu A-Millennaristen, wie die Katholiken.
Der A-Millennarismus erklärt, daß wir überhaupt keine glorreiche Herrschaft Christi auf Erden zu erwarten haben. Hier einige der als Begründung für diese Ansicht vorgebrachten Argumente:
a) Die jetzige Periode der Gemeinde wird in der Schrift die „letzte Zeit“ genannt: „Gott hat am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn . . . Nun aber, am Ende der Welt, ist Er einmal erschienen, durch Sein eigen Opfer die Sünde aufzuheben.“ 1, 2; 9,26.
Petrus erklärt an Pfingsten: „Das ist’s, was durch den Propheten Joel zuvor gesagt ist: In den letzten Tagen will Ich ausgießen von Meinem Geist auf alles Fleisch.“ Ap. 2, 16-17.
Christus ist zuvor ersehen, ehe der Welt Grund gelegt ward, aber offenbart zu den letzten Zeiten.“ 1. Petr. 1, 20.
„Kinder, es ist die letzte Stunde! . . . es sind nun viele Widerchristen geworden; daher erkennen wir, daß die letzte Stunde ist.“ 1. Joh. 2, 18. Da wir – so sagen sie – schon am Zeitenende sind, bleibt kein Raum mehr für ein Millennium, und es steht uns nur noch die Ewigkeit bevor.

Darauf antworten wir: es geht hier nur darum, den Ausdruck „Zeitenende“ oder „letzte Stunde“ zu definieren. Wir glauben, daß das erste Kommen Christi wirklich den Anfang von Gottes Triumph bedeutet: es eröffnet die letzte Periode der Weltgeschichte. Aber das schließt zwei Tatsachen nicht aus:
Erstens, wenn die „letzte Stunde“ schon zweitausend Jahre gedauert hat, warum sollte sie nicht wenigstens tausend Jahre mehr andauern?
Zweitens, die so verlängerte „Endzeit“ kann sehr gut die an verschiedenen andern Stellen angekündigten Phasen umfassen, nämlich: die Zeit der Gemeinde, die große Trübsal, das Millennium und das letzte Gericht.

b) Mehrfach, sagt man, scheint die Schrift nur zwei „Zeitalter“ zu kennen:

das jetzige und
das zukünftige Zeitalter;
aber sie erwähnt keine Zwischenperiode (S. Matt. 12, 32 ; 20,34-35; Eph. 1,21 u.a.). Im Grunde wird immer derselbe Fehler gemacht: um eine Bibelstelle zu verstehen, darf man sie nicht für sich allein nehmen, sondern nur in Verbindung mit allen Texten, die dasselbe Thema behandeln. Weder diese „letzte Zeit“, noch „die letzte Stunde“ schließt den Triumph Gottes aus, mit dem sie beide zu Ende gehen.

Jesus bedient Sich eines ähnlichen Ausdrucks: „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, daß die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben.“ Joh. 5, 25. Diese „Toten“ sind die Menschen, denen das geistliche Leben infolge ihrer Sünden abgeht (Eph. 2, 1), und die Stunde, von der Jesus spricht, hat nun fast zweitausend Jahre gedauert. Auf sie folgt eine andere „Stunde“, da alle, die in den Gräbern sind, leiblich auferstehen werden (Joh. 5, 28), die Gerechten vor den tausend Jahren, die Gottlosen gleich darnach. Ebenso nennen die Propheten sowohl die furchtbaren Endgerichte wie auch das darauf folgende messianische Reich den „Tag des Herrn“ (oder „diesen Tag“). Zeph. 1, 14-18; Sach. 14, 1.9.13.20 usw. Es ist also klar, daß in der Schrift Ausdrücke wie Zeit und Tag, Zeitalter, Jahrhundert, Endzeit verschiedene und oft sehr ausgedehnte Perioden decken können. Nur das gründliche Studium der Gesamttexte ergibt den Sinn einer jeden einzelnen Stelle.

c) Weiter sagt man, daß das NT ohne Unterbrechung (d.h. ohne Zwischenstadium des Millenniums- die glorreiche Erscheinung Christi und den Eingang in die Ewigkeit (Matt.    25,31),
– die Auferstehung der Gerechten und der Gottlosen (Joh. 5,28; Ap. 24,15),
– die Bestrafung der Empörer und die Belohnung der Auserwählten (Matt.      13,30.41-43; 2. Thess. 1, 6-10 ),
– den Tag des Herrn und die Vernichtung der Erde (2. Petr. 3,10)
  beschreibt.

Ein solches Vorgehen darf uns nicht befremden. Wir haben ja gesehen, daß manche Propheten offenbar auch nicht die Zwischenzeit der dreieinhalb Jahre unterscheiden, welche die Entrückung der Gemeinde von ihrer glorreichen Herabkunft trennt. Ganz genau so sagten wir, wird im AT das zweifache Kommen Jesu zusammengefaßt:
Jes. 61, 1-2 spricht im gleichen Satz vom Kommen Jesu als Heiland und als Richter;
Jes. 53, 13-15 beschreibt gleichzeitig das Leiden, die Herrschaft und die               Herrlichkeit des Herrn;
Ps. 2 zeigt den vom Vater gezeugten Sohn, Seine Verwerfung, Seine Gerichte und Seine Herrschaft (Apg. 4, 25.)
Mal. 3, 1-2 scheint den Dienst Johannes des Täufers und das glorreiche Kommen des souveränen Richters nebeneinander zu stellen; usw., usw.

Solche Zusammenstellungen heben also keineswegs die vielen anderen Stellen auf, die von der Zeit der Gemeinde zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen des Herrn und vom Millennium zwischen Seiner Wiederkunft und dem Weltuntergang reden.

d) Endlich erklärt man, die Gemeinde sei himmlisch und dürfe nur geistliche Segnungen erwarten. Wir sind schon mit Christus in die himmlischen Örter versetzt. Eph. 1,3; 2,6. „Unser Bürgertum ist im Himmel“. So haben wir kein irdisches, materielles Reich in Ausicht.

Auf die Rolle der Gemeinde während des Millenniums werden wir später eingehen. Hier genüge es zu sagen, daß die auferstandenen Gläubigen, die mit Christus auf Seinem Throne sitzen, von der Herrlichkeit her mit Ihm regieren werden (wohl aus den „himmlischen Örtern“, in die wir schon hier im Glauben versetzt sind). Eine solche Perspektive schließt keineswegs aus, daß die Erde noch vor ihrer endgültigen Vernichtung am sichtbaren Triumph des Herrn teilhat.

Die Argumente der Millenniumsgegner scheinen uns also von der biblischen Sicht her nicht begründet; ganz abgesehen davon, daß ihre Lehre den Juden keine Zukunft mehr läßt und damit vielen, völlig klaren Texten widerspricht. Diesen Punkt haben wir ja bereits im Teil über Israel berührt.

6. Merkwürdigerweise begegnet man bis in die politische Welt hinein dem brennenden Wunsch, mit rein menschlichen Mitteln ein goldenes Zeitalter auf Erden herbeizuführen. „Die politischen, sozialistischen wie kommunistischen Bestrebungen unserer Tage, diese Vorläufer des Tausendjährigen Reichs, sind nichts anderes als ein grober Chiliasmus (Millenniumslehre). Nicht alles ist falsch an dem Ideal, das die Sozialisten und Kommunisten verfolgen. Was die Kirche übersah, haben sie erahnt, gesucht, heiß erstrebt. Auch darin sind die Kinder dieser Welt klüger gewesen als die Kinder des Lichts. Aber sie wollen dieses Ziel aus eigener Kraft erreichen, ohne Gott, ohne Christus. Da sie aber den Eckstein verworfen haben, wird das Werk den Bauleuten völlig mißlingen.

7. Wie köstlich ist es, den oben beleuchteten Irrtümern und sonderbaren Irrlehren die einfache Botschaft der Bibel gegenüber zu stellen! Läßt man sie allein zu Worte kommen, so staunt man über das Ausgeglichene und Geistliche ihrer Unterweisung. Durch all die Fälschungen aber sucht Satan die Gläubigen von der wunderbaren Hoffnung abzubringen, die unserer armen Erde geschenkt ist. Denn der Gedanke, bald gebunden und von dieser Ära der Heiligkeit und der Wonne ausgeschlossen zu werden, ist ihm entschieden unerträglich.

VI. Wie lange wird das Messianische Zeitalter dauern?

Sechsmal erklären die ersten sieben Verse von Offb. 20, daß es tausend Jahre dauern wird (daher der Name Millennium).

Manche behaupten, diese Zahl, wie viele andere in der Bibel, habe rein symbolische Bedeutung. Auf der menschlichen Ebene drückt sie die Totalität, hier die vollkommene Dauer aus. Es mag schon sein, daß Gott diese Zahl nicht zufällig bestimmt hat. Aber das läßt es uns, nach unserer Ansicht, durchaus zu, sie auch wörtlich zu nehmen. Daß Johannes diese Zeitangabe sechsmal wiederholt, berechtigt uns wohl zu dieser Annahme. Wir fanden oben, daß Daniel und Johannes, um unsere Aufmerksamkeit auf die dreieinhalbjährige Dauer der großen Trübsal zu lenken, sie achtmal in vier verschiedenen Ausdrücken wiederholen. Daher glauben wir, daß Christi Herrschaft auf Erden wirklich tausend Jahre währen wird.

Schon vor dem Kommen des Herrn haben die jüdischen Rabbiner, wie bereits einmal erwähnt, gestützt auf das AT, die Dauer des messianischen Reichs auf tausend Jahre festgelegt. Sie gründeten ihre Ansicht auf den Sabbat Gottes als Symbol für das Millennium.

Beachten wir noch, daß die Propheten des AT zuweilen das messianische Reich auf Erden und im Himmel in einer und derselben Vision vereinigen. Von ihrer Entfernung aus können sie nicht immer das Millennium von der Ewigkeit unterscheiden. Mit der Beschreibung des irdischen Königreiches verkündigen sie, daß der Messias ewig regieren werde. (S. z.B. Ps. 72,5-7; Dan. 7, 14-27 usw.!) Aber es ist klar, daß diese Herrschaft in den Himmel einmünden wird, und daß die tausend Jahre nur wie der Vorhof des königlichen Palastes sind.

VII. Einige Symbole für das Millennium.

1. Der Sabbat.
Ständig findet man in der Schrift den Zyklus von sechs Arbeitsperioden, auf die eine siebente der Ruhe folgt, während die achte einen neuen Anfang einleitet:

a) In sechs Tagen schuf Gott die Welt und ruhte am siebten Tage, Mose 2,2-3;
b) Jede Woche sollte Israel sechs Tage arbeiten und am siebenten 2. Mos. 20,8-1;
c) Es gab den Zyklus der sieben Wochen von Pfingsten. Mos. 23,15-16;
d) Ein anderer Zyklus von sechs Monaten führte zu den großen Festen der Posaunen, der Versöhnung und der Laubhütten, denen der siebente Monat geweiht war. Mos. 23, 24-25. 27. 34.
e) Die Israeliten sollten das Land sechs Jahre bebauen und es im siebenten ruhen lassen. 3. Mo 25,2-4. (Man findet noch solche Siebener-Zyklen im Jubeljahr, in der siebzigjährigen babylonischen Gefangenschaft und in den siebzig Jahrwochen von Daniel 9.)
Gestützt auf diese Analogien waren die Rabbiner zu der Ansicht gelangt, die Welt solle einen Zyklus erleben von:

sechs Jahrtausenden der Arbeit: 6 Tage;
tausend Jahren der Ruhe: 7. Tag;
darnach den Eingang in die Ewigkeit im Morgenrot des 8. Jahrtausends: 8. Tag.

Später drückten alte Kirchenväter denselben Gedanken in neuer Form aus. Sie glaubten, die Erde würde in großen Linien

zweitausend Jahre ohne das Gesetz sein – von Adam bis Abraham;
zweitausend Jahre unter dem Gesetz – von Abraham bis Christus;
zweitausend Jahre unter der Gnade – das jetzige Zeitalter;
eintausend Jahre unter der Herrschaft des großen Königs – das Millennium.

Selbstverständlich geben wir diese Einzelheiten nur dokumentarisch und mit allem Vorbehalt weiter. Wir möchten uns hüten, auch nur dem Anschein nach ein Datum für die Wiederkunft Christi festzulegen. Möglicherweise findet sie bald statt; aber sollte sie auch noch lange verziehen, so würde das unsern Glauben in keiner Weise erschüttern, denn Er allein kennt Tag und Stunde. Immerhin glauben wir – allein auf die Analogie des Glaubens gestützt und unter Vermeidung jeder Übertreibung – mit den Rabbinern aus dem Sabbatzyklus schließen zu dürfen, daß die aufgewühlte Weltgeschichte im Sabbat-Jahrtausend der großen Ruhe ihr Ende findet.

2. Das Jubeljahr.
Nach sieben Sabbatjahren, d.h. nach 49 Jahren, sollte Israel das Jubeljahr feiern. „Ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt ein Freijahr ausrufen im Lande allen, die darin wohnen; denn es ist euer Halljahr. Da soll ein jeglicher bei euch wieder zu seiner Habe und zu seinem Geschlecht kommen . . . Ihr sollt nicht säen auch was von selber wächst, nicht ernten; denn das Halljahr soll unter euch heilig sein.“ 3. Mos. 25,10-12. Und alle Kaufverträge mußten den Zeitabstand bis zum nächsten Jubeljahr berücksichtigen.
Welch schönes Bild vom kommenden großen Jubeljahr haben wir hier! Bald werden völlige Freiheit, Gleichheit, Eigentumsrecht, Ruhe, allgemeiner Wohlstand nicht mehr bloße Worte sein, sondern zur herrlichen Wirklichkeit werden. Könnten wir doch auch alle unsere Geschäfte von heute ab im Blick auf das kommende Reich erledigen!

3. Die Stiftshütte.
Gott hatte die Stiftshütte mit ihren Opfern und Riten als Mittel ersonnen, um Sein Wohnen unter dem Volke Israel zu ermöglichen: „Sie sollen Mir ein Heiligtum machen, daß Ich unter ihnen wohne. . . Da Ich Mich euch bezeugen und mit dir reden will . . . Daselbst will Ich . . . geheiligt werden in Meiner Herrlichkeit. So will Ich die Hütte des Stifts mit dem Altar heiligen . . . Und will unter den Kindern Israel wohnen und ihr Gott sein, daß sie wissen sollen, Ich sei der Herr, ihr Gott, der sie aus Ägyptenland führte, daß Ich unter ihnen wohne . . . Da bedeckte die Wolke die Hütte des Stifts, und die Herrlichkeit des Herrn füllte die Wohnung“ 2. Mos. 25, 8; 29. . . .

4. Das Gelobte Land.
Nach Jahrhunderten der Versklavung und Verbannung in Ägypten und mühevollen Wüstenwanderungen genossen die Israeliten unter Josuas Führung endlich die Freiheit, Ruhe und Fülle im Gelobten Land. Die Segnungen, die ihnen zuteil werden sollten, falls sie treu blieben, gleichen sehr den Verheißungen fürs Millennium: Gott selbst wird vor ihnen hergehen und mit ihnen sein; Er wird es z um heiligen Volk machen und zum Herrn über alle Völker. Großer materieller Wohlstand wird sein Erbteil in einem Lande sein, da „Milch und Honig fließt“. So wird das Volk in Freude und Frieden die Erfüllung der Verheißungen Gottes erleben. 5. Mos. 31, 8. Dann wird das Laubhüttenfest eine ständige Erinnerung an die vergangene Zeit seines Nomadenlebens in Zelten sein. 3. Mos. 23, 42-43. Der Hebräerbrief sieht im Einzug Israels in Palästina ein Bild der Ruhe, in die der Gläubige, indem er das vollkommene Werk Christi annimmt, im Glauben eingeht. 4, 8-10. Aber man darf auch darin ein Bild der Wonne im Millennium sehen. . . .

5. Die Herrschaft Salomos.
Nach der bewegten Zeit der Richter und all den Kriegen Davids (1. Chr. 28,3) erschien Salomo seinem Volke wahrlich als ein Friedenskönig. Er begann damit, seines Vaters Diener zu belohnen und Feinde zu bestrafen. Er gab seinem Volk Ruhe und Sicherheit, daß jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen konnte. Mit großer Weisheit begabt, baute er dem Herrn ein festes, prächtiges Haus. Gott schenkte ihm Reichtum, Güter und Ehren, wie ie vor ihm kein König besessen hatte. Mit außergewöhnlichem Scharfsinn übte er Gericht. . . .
Alle diese Symbole lassen uns die wunderbare Wirklichkeit ahnen, die uns die lichtvollen Blätter der Propheten vorführen sollen.

2. Kapitel

Aufrichtung des Reiches

Mehrere wichtige Ereignisse sollen zu Beginn des Millenniums stattfinden, auf die wir im einzelnen eingehen müssen.

I. Satan wir gebunden
Und ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in den Hand. Und er griff den Drachen, die alte Schlange, welche ist der Teufel und Satan, und band ihn tausend Jahre und warf ihn in den Abgrund und verschloß ihn und versiegelte obendrauf, daß er nicht mehr verführen sollte die Heiden, bis daß vollendet würden tausend Jahre; und danach muß er los werden eine kleine Zeit“. Offb. 20, 1-3.

Welche Veränderung, wenn der Versucher nicht mehr imstande ist, die Völker zu verführen! Wunderbarer wird es sein als im Paradies, da Satan dort unsere ersten Eltern zu Fall bringen konnte. Ganz abgesehen davon, daß Christus im Millennium in Herrlichkeit offenbart und bei den Menschen wohnen wird.

II. Die erste Auferstehung
„Und ich sah, . . . die Seelen derer, die enthauptet sind um des Zeugnisses Jesus und um des Wortes Gottes willen, und die nicht angebetet hatten das Tier noch sein Bild und nicht angenommen hatten sein Malzeichen an ihre Stirn und auf ihre Hand, diese lebten und regierten mit Christo tausend Jahre. Die anderen Toten aber wurden nicht wieder lebendig, bis daß tausend Jahre vollendet wurden. Dies ist die erste Auferstehung! Über solche hat der andere Tod keine Macht; sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein und mit Ihm regieren tausend Jahre“. Offb. 20, 4-6. Über die Entrückung der Gemeinde hörten wir, daß alle Gläubigen, ob lebend oder tot, den Auferstehungsleib bekamen und mit Christus in die Herrlichkeit eingingen. Mit Ihm kommen sie nun wieder und setzen sich auch auf den Richterstuhl. Andererseits hat sich, so wir es recht verstehen, seit der Entrückung die große Trübsal abgespielt, in der alle getötet wurden, die Christus und nicht den Antichristen zum Herrn wählten. Offb. 12, 6.17; 13,15. Johannes hat schon am Anfang der Offenbarung die Seelen dieser Märtyrer gesehen, die Gott um Gerechtigkeit anflehten. 6, 9-11. Diese erwachen nun zum Leben und haben teil an der ersten Auferstehung. Daraus folgt:

a) Die „erste Auferstehung“ umfaßt die Gläubigen im Blick auf das Millennium. Die daran teilhaben, werden selig gepr iesen; sie entrinnen der Hölle und werden mit dem Herrn tausend Jahre lang Könige und Priester sein. Diese Vorrechte sind allen vorbehalten, denen Christus der Heiland geworden ist. Offb. 1, 5-6; 2,11; 3,21. Folglich glauben wir, daß die ganze entrückte Gemeinde an derselben „ersten Auferstehung“ teilhat, wie die hier erwähnten Märtyrer. Johannes führt nur die letzteren an, weil die Gemeinde ja schon auferstanden ist und auf dem Richterstuhl sitzt.

b) Die erste Auferstehung unterscheidet sich klar von der zweiten. Mehrere Stellen der Schrift erwähnen beide: „Viele, so unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen; etliche zum ewigen Leben, etliche zu ewiger Schmach.“ Dan. 12,2. „Sie warten . . . der Auferstehung . . . der Gerechten und Ungerechten.“ Ap. 24, 15.
„Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden Seine (Christi) Stimme hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“. Joh. 5, 28. Aber es ist die Offenbarung, die uns lehrt, daß die ganze Dauer des Millenniums die zwei Auferstehungen voneinander trennt. Ohne diese Zahl anzugeben, sagte Jesaja faktisch dasselbe, als er schrieb: „Zu der Zeit wird der Herr heimsuchen . . . die Könige der Erde, die auf Erden sind (bei Harmagedon), daß sie versammelt werden als Gefangene . . . im Kerker und nach langer Zeit wieder heimgesucht werden.“ 24, 21. Wie wichtig ist es, daß ein jeder von uns weiß, welche Auferstehung seiner wartet, und ob er teilhaben wird an der ersten Auferstehung!

III. Das Völkergericht.

1.Wenn Christus durch die Endgerichte und den Sieg bei Harmagedon alle Feinde, die sich offen gegen Ihn empörten, vernichtet hat, wird es noch viele Menschen auf Erden geben. Nach der Schrift scheinen zwei Drittel der Juden und ein Viertel der Menschheit in der großen Trübsal umzukommen. . . .

2. Die Gemeinde scheint zusammen mit Christus die Völker zu richten. . . .

3. Die so vom Herrn ausgewählten Menschen werden in Fleisch und Blut auf der Erde weiterleben . . . Wir werden auf den folgenden Seiten sehen, wie viele Texte deren geistliches und materielles Leben während der Tausend Jahre beschreiben. . . .

3. Kapitel

Die Merkmale des Messianischen Reiches

Im Millennium wird der Herr den wunderbaren Plan ausführen, den Er von jeher für die Menschheit vor hatte, und der im Garten Eden nur vorübergehend mißlang. Er wird die Fülle Seiner Güte offenbaren und alles tiefe Sehnen stillen, das Er selbst in des Menschen Herz gelegt. Alles, was die Menschen an höchsten Gütern ohne Gott vergebens erstrebt haben, wird nun im Reich Seines Sohnes in Hülle und Fülle über sie ausgeschüttet werden. Laßt uns die Merkmale dieses Reiches näher betrachten!

I. Die Gerechtigkeit
Daß Sünde und Ungerechtigkeit heute überall triumphieren, das macht unser Erdendasein in so schwierig. Jesus Christus wird das alles ändern.
„Das Zepter Deines Reichs ist ein gerades Zepter. Du liebest Gerechtigkeit und hassest gottloses Wesen.“ Ps. 45,7-8. . . .
Dann werden alle sozialen Probleme gelöst sein. Was die Moral in ihrer Ohnmacht nicht vermochte, was die politischen Parteien nicht erzwingen konnten, was die Kirchen vergeblich zu erreichen suchten, wird eines Tages durch den einzig Gerechten auf Erden verwirklicht werden, Jesus Christus.
„Euch aber, die ihr Meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln.“ Mal. 4, 2. . . .

II. Friede
Ungerechtigkeit führt immer zum Krieg. Ist jene endlich ausgemerzt, wird dieser auch verschwinden: „Laß die Berge den Frieden bringen unter das Volk und die Hügel die Gerechtigkeit . . . Großer Friede . . . wird blühen, bis daß der Mond nimmer sei. ” Ps. 72, 3.7.
„Er wird richten unter den Heiden und strafen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen . . .
Er heißt . . . Friedefürst, auf daß . . . des Friedens kein Ende werde auf dem Stuhl Davids und in Seinem Königreich, daß Er’s zurichte und stärke mit Gericht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. . . . Jes. 2, 4; 9, 5-6.

Seit Kain seinen Bruder getötet hat, ist die Menschheit in Kriege verstrickt. . . . Auf geistlicher Ebene besteht
dieser Friede schon zwischen dem Herrn und allen Seinen wahren Kindern. Aber eines Tages wird er sich hier auf Erden herrlich offenbaren. Dann geht endlich die Engelsbotschaft der Weihnacht in Erfüllung: „Friede auf Erden!“

III. Glückseligkeit
„Und es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind . . . Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht .   . . .

IV.  Langes Leben und Gesundheit
Der Tod lag ursprünglich nicht im Plan Gottes, er ist durch die Sünde in die Welt gekommen. 1. Mos. 3,19. Nach dem Sündenfall haben die Patriarchen soga r noch sehr lange gelebt. Adam wurde z.B. 930, Methusalah 969 Jahre alt. Erst die Verderbtheit der Generation der Sintflut ließ Gott die Lebenszeit des Menschen auf höchstens 120 Jahre kürzen, während späterhin nur die Kräftigsten im Durchschnitt 70 bis 80 Jahre erreichten. 1. Mos. 5, 5. 27.

Nach den Weissagungen soll das Leben der Menschen in der messianischen lüa wieder bedeutend länger werden. Keiner stirbt mehr eines frühzeitigen Todes, und ein Hundertjähriger wird noch jung sein . . .

Wir werden gleich sehen, daß der Tod nur ausnahmsweise über solche verhängt wird, die auf dem Weg der Sünde beharren. Dagegen sollen anscheinend Unzählige die Möglichkeit haben, fast das ganze Millennium hin durch zu leben. Solche Behauptungen konnten vor einigen Jahren ein Lächeln hervorrufen. Aber gelehrte Biologen haben entdeckt, daß unsere Organe so beschaffen sind, daß sie viel länger leben könnten. Man versteht nicht, weshalb der Tod so bald eintritt. . . . Und wir glauben, daß es für den allmächtigen Gott ein Kinderspiel sein wird, das Menschenleben zu verlängern, wenn Er den Augenblick für gekommen hält, die Weissagungen zu erfüllen. Bis dahin aber wollen wir Gott danken, daß Er unser Leben, wie es jetzt ist, nicht verlängert. In unserer Welt voll Sünde, Leiden und Gebrechen wäre Langlebigkeit keine Wohltat, eine sehr große dagegen im kommenden goldenen Zeitalter. Aus anderen Texten scheint hervorzugehen, daß der Herr auch in reichem Maße die Gabe der Gesundheit schenken wird:

„Alsdann werden der Blinden Augen aufgetan werden, und der Tauben Ohren werden geöffnet werden; alsdann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch…“ Jes. 35,5-6.
Das erscheint ganz natürlich, da auch zur Zeit der irdischen Wirksamkeit Jesu Christi „die Stummen redeten, die Krüppel gesund waren, die Lahmen gingen, die Blinden sahen.“ Matt. 15, 30. So wird der Herr auch auf diesem Gebiet die „Wiederherstellung aller Dinge“, von der Petrus spricht, bewirken (Ap. 3, 21) . . .

V. Materieller Wohlstand
Gott hat uns einen Leib so gut wie einen Geist und eine Seele gegeben, und Er weiß wunderbar für die Bedürfnisse dieses Leibes zu sorgen. Er hatte Adam in einen Lustgarten gesetzt, wo eine üppige Fülle herrschte. Seitdem hat Er unaufhörlich den Menschen Gutes getan, indem Er „vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, unsre Herzen erfüllt mit Speise und Freude“. Ap. 14, 17. Denn der Herr gibt uns „reichlich, allerlei zu genießen“. 1. Tim. 6, 17.

So entspricht es wohl ganz dem göttlichen Willen, der Erde im messianischen Reim einen paradiesähnlichen Glückszustand zu gewähren. Auch die Erde soll an der „Wiederherstellung aller Dinge“ teilhaben; genau wie die durch Wiedergeburt und Auferstehung völlig wiederhergestellte Menschheit. Damit richtet Gott alles wieder auf, was im Sündenfall zerschlagen wurde. Manche halten diese Perspektive für viel zu wenig „geistlich“, als daß man sie in Betracht ziehen dürfe. Wenig „geistlich“ waren allerdings die Übertreibungen gewisser überspannter Lehrer wie Papias. Doch die Segnungen, die Gott unserm Leib und der Erde aufbewahrt hat, können nur heilig und vollkommen sein. Um ein Bild von ihnen zu haben, brauchen wir nur die Texte unverändert reden zu lassen:

„Auf Erden . . . wird das Getreide dick stehen; seine Frucht wird rauschen wie der Libanon, und sie werden grünen in den Städten wie das Gras auf Erden.“ Ps. 72,16. „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß man zugleich ackern und ernten und zugleich keltern und säen wird; und die Berge werden von süßem Wein triefen, und alle Hügel werden fruchtbar sein. Denn Ich will das Gefängnis Meines Volkes Israel wenden, daß sie sollen . . . Weinberge pflanzen und Wein davon trinken, Gärten machen und Früchte daraus essen.“ Amos 9,13-14.
„Zu derselben Zeit, spricht der Herr Zebaoth, wird einer den anderen laden unter den Weinstock und unter den Feigenbaum . . . Der Weinstock soll seine Frucht geben und das Land sein Gewächs geben, und der Himmel soll seinen Tau geben“. Sach. 3,10 ; 8,12.
So erfüllen sich an der ganzen Erde die alten Verheißungen, die Gott Seinem Volk gegeben hatte, falls es treu bliebe: „Werdet ihr Meine Gebote halten und tun, so will Ich euch Regen geben zu seiner Zeit, und das Land soll sein Gewächs geben und die Bäume auf dem Feld ihre Früchte bringen.  . . . 3. Mos. 26,3-5. 10.

So wird die Erde zum größten Wohl der Menschheit wieder ein Paradies werden, ein Paradies jedoch, das das erste gewissermaßen übertrifft, nicht seiner Fruchtbarkeit wegen, sondern weil Christus in ihm ist und der Teufel keinen Zugang hat. Der Wohlstand rührt also nicht von der materialisierten, mechanisierten Zivilisation her. Es ist gut, wenn wir das ein für allemal wissen.

VI. Der Fluch wird von der Natur genommen werden.
Nach dem Sündenfall spricht Gott zu dem Menschen: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen . . . Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“ 1. Mos. 3, 17-19.
Darum sagt Paulus: Das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, . . . denn auch die Kreatur wird freiwerden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar.“ Röm. 8, 19-22. Soll die Erde zu der oben beschriebenen Fruchtbarkeit kommen, so muß erst der Fluch, der auf ihr liegt, aufgehoben werden. „Es sollen Tannen für Hecken wachsen und Myrten für Dornen . . . Ich will die Wüste zu Wasserseen machen und das dürre Land zu Wasser quellen; Ich will in der Wüste geben Zedern, Akazien, Myrten und Kiefern.“ Jes. 55, 13; 41,18.

Zudem werden auch die Raubtiere ihre Wildheit verlieren: „Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden auf der Weide gehen . . . . Man wird nirgends Schaden tun noch verderben auf Meinem ganzen heiligen Berge.“ Jes. 11, 6-9 (s. auch Hes. 34, 25. 28; Hos. 2, 20).
Zuletzt dürfen wir wohl auch annehmen, daß die Erde nicht mehr von solchen Naturkatastrophen verwüstet werden wird, an denen Satan nach Hiob 1,12. 16. 19 nicht immer unbeteiligt ist. Wie herrlich werden diese „Zeiten der Erqui ckung“ sein, wenn alle Dinge in ihren paradiesischen Zustand zurückversetzt sind!

VII. Hat das „Atomzeitalter“, wie man es schon nennt, etwas mit diesen großen angekündigten Umwälzungen zu tun?
Tatsache ist, daß das Leben der Menschen, das Jahrtausende lang statisch geblieben war, sich seit etwa hundert Jahren gänzlich verändert hat: Kohle, Dampfkraft, Elektrizität, Treibstoffe, Eisenbahn, Motore, Industrie, Chemie, Chirurgie, das Luftwesen, alle diese Dinge haben die frühere Lebensweise ganz über den Haufen geworfen. Heute stehen wir an der Schwelle einer Zeit viel gewaltigerer Neuerungen: Radio, Fernsehen, wahnsinnige Geschwindigkeiten und vor allem die Atomenergie scheinen Möglichkeiten zu eröffnen, die über unsere Denkkraft gehen.
Es sind dies übrigens Möglichkeiten zum Guten und zum Bösen hin. Verkehrt angewandt, kann die Atomenergie die schlimmsten Katastrophen verursachen, dagegen kann sie, wie es scheint, unser Leben auf vielen Gebieten günstig beeinflussen und verbessern, wenn sie in der rechten Weise gebraucht wird: Gesundheit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Heizung, Transport und Verkehr, Arbeit usw. Ist es nicht merkwürdig, daß diese unbegrenzte Kraftquelle gerade jetzt entdeckt wurde, da unsere Welt vor den zwei großen Umwälzungen steht, die ihre Geschichte beschließen sollen: dem Weltenbrand der Endgerichte und dem Anbruch des goldenen Zeitalters, das unseren Planeten umwandeln soll?

In Seinem Tun hat Gott natürlich tausend Mittel und Wege, und wir wollen nicht behaupten, daß Er Sich nur der von den Menschen entdeckten Kraftquellen bedienen werde, um das Gericht und die Erneuerung der Erde durchzuführen. Und doch wissen wir, daß Er oft zu ganz einfachen, natürlichen Mitteln greift (dem Wasser der Sintflut z.B.); und die uns jetzt schon bekannten genügen vollauf, die Gedanken der Propheten über die neue Lebensgestaltung in der Zukunft zu bestätigen.

5. Kapitel


Die Stellung der Gemeinde im Millennium


l. Die Gemeinde ist vor allem ein himmlisches Volk

Vergessen wir nicht, daß das Millennium vor allem der Israel und der Erde verheißene Segen sein soll, während die Gemeinde das himmlische Volk Gottes ist. So herrlich auch die messianische Zeit hier sein mag, so kann sie doch immer nur ein Vorgeschmack des Himmels sein. Wohl wird sie wunderbar sein für alle Wesen von Fleisch und Blut,
die auf Erden leben. Aber für die durch die Auferstehung schon zu den Wonnen der anderen Welt eingegangenen Gläubigen kann kein Geschehen auf Erden mehr ein Ziel an sich bedeuten.


Wir sind doch jetzt schon Fremdlinge und Pilgrime auf Erden und suchen ein himmlisches Vaterland. Hebr. 11, 13 -16. Durch den Glauben sind wir bereits mit Christus in die himmlischen Örter versetzt. Eph. 2,6. Mit dem Augenblick des Todes sind wir „bei Christo”, was „viel besser ist” als Freuden der Erde. Phil. 1,23. Und bei Seiner Wiederkunft werden wir alle auferweckt und verklärt, um im Himmel mit Ihm die Hochzeit des Lammes zu feiern. 1. Thess. 4, 1 6- 1 7 ; Offb. 1 9,6-8. Unsere Segnungen sind daher von vornherein auf ewig, nicht nur auf
tausend Jahre. Folglich handelt es sich für die Gemeinde nicht darum, von der herrlichen Stellung, in die sie ihr himmlischer Bräutigam gebracht, wieder herabzusteigen. Die auferstandenen Gläubigen werden
nicht auf die Erde in das materielle Leben zurückkehren, um dort mit allen Untertanen des Reichs am Ende des Millenniums versucht zu werden. Darum müssen wir genau wissen, was die Schrift über die der Gemeinde in der messianischen Zeit zugedachte Aufgabe sagt.


ll. Die Gemeinde wird mit Christus regieren.

So wie die Gläubigen am Gericht über die Welt und die Engel teilhaben, werden sie mit ihrem Heiland auch die Herrschaft teilen.
„Dulden wir, so werden wir mitherrschen.“ Tim. 2,12. Er „hat uns zu Königen und Priestern gemacht vor Gott und Seinem Vater . . . Wer da überwindet und hält Meine Werke bis ans Ende, dem will Ich Macht geben über die Heiden. Und er soll sie weiden mit einem eisernen Stabe, und wie eines Töpfers Gefäße soll er sie zerschmeißen, wie Ich von Meinem Vater empfangen habe . . . Wer überwindet, dem will Ich geben, mit Mir auf Meinem Stuhl zu sitzen, wie Ich überwunden habe und Mich mit Meinem Vater gesetzt auf Seinen Stuhl. Offb. 1, 6; 2, 26-27; 3,21.

„Du hast uns Gott erkauft mit Deinem Blut aus allerlei Geschlecht und Zunge und Volk und Heiden, und hast uns unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und wir werden Könige sein auf Erden“ . . . Die Märtyrer „lebten und regierten mit Christo tausend Jahre . . . Selig ist der und heilig, der teilhat an der ersten Auferstehung; über solche hat der andere Tod keine Macht, sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein und mit ihm regieren tausend Jahre“. Offb. 5, 9-10; 20,4-6.
Jesus verkündigt selbst, welchen Teil an Seiner Regierung er den Seinen einräumen wird: „Wahrlich, Ich sage euch: ihr, die ihr Mir seid nachgefolgt, werdet in der Wiedergeburt, da des Menschen Sohn wird sitzen auf dem Stuhl Seiner Herrlichkeit, auch sitzen auf zwölf Stühlen und richten die zwölf Geschlechter Israels . . . Ihr aber seid’s, die ihr beharrt habt bei Mir in Meinen Anfechtungen; und Ich will euch das Reich bescheiden, wie Mir’s Mein Vater beschieden hat . . . Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Re ich zu geben.“ Matt. 19, 28; Luk. 22, 28-29; 12,32. Und zu Seinen treuen Dienern sagt der Herr: „Ei, du frommer Knecht, dieweil du bist im Geringsten treu gewesen, sollst du Macht haben über zehn Städte“, und nachher: „Du sollst sein über fünf Städte. Luk. 19, 17-19.

Der Mensch wurde geschaffen, um sich „die Erde untertan“ zu machen. Er fiel und überließ seinen Platz dem Thronräuber Gottes. Welches Glück und welche Freude für ihn, wenn er, seiner ursprünglichen Bestimmung zurück gegeben, die Ehre haben wird, die Herrschaft seines allmächtigen Herrn zu teilen!


III. Wo wird sich die Gemeinde während des Millenniums aufhalten und wie sich betätigen?

Darüber wird nichts ausdrücklich gesagt; doch können wir aus der Schrift einige Schlüsse ziehen, müssen uns dabei aber hüten, von Gott nicht klar Enthülltes selbst erdenken zu wollen. Jetzt sind wir schon im Glauben in die himmlischen Örter versetzt, während wir noch auf Erden tätig sind. Nach der Auferstehung werden wir mit Christus in der Herrlichkeit sein, aber tausend Jahre lang mit Ihm hienieden herrschen. Nach der Hochzeit des Lammes wird die Gemeinde das „Neue Jerusalem“, die „Braut des Lammes“ sein. Offb. 21, 2-9. Sie wohnt dann zweifellos schon an dem wunderbaren Ort, den die Offenbarung Kap. 21 beschreibt. Damit sie gleichzeitig auf Erden wirken können, werden vielleicht bei den Gläubigen ähnliche Umstände walten wie bei Christus zwischen Ostern und Himmelfahrt. Denken wir zur Beleuchtung der unser harrenden Möglichkeiten an die Heiligen, die beim Tode Jesu leiblich auferstanden, in die heilige Stadt gingen und vielen erschienen. Matt. 27, 52-53. Vielleicht wird uns das auch möglich sein, aber, wie gesagt, ohne daß wir dabei unser früheres Leben wieder aufnehmen müßten. Andererseits erklärt der Herr, die Auferstandenen werden weder freien noch sich freien lassen. Denn sie können hinfort nicht sterben; denn sie sind den Engeln gleich und Gottes Kinder, die weil sie Kinder sind der Auferstehung“. Luk. 20, 35-36. Schon heute üben die Engel, deren Wohnort der Himmel ist, einen ausgedehnten Dienst auf Erden aus. Da wir ihnen gleich sein werden, verstehen wir einigermaßen, wie wir von der Herrlichkeit aus an der Herrschaft auf Erden werden teilnehmen können.

Nun können wir uns die drei Menschengruppen vorstellen, die am Millennium teilhaben sollen :


1. Die Gemeinde, im Allerheiligsten, d. h. in den himmlischen Örtern, Teilhaber Christi an der Königsherrschaft und am Priestertum;
2. Israel, im Heiligen, Diener Gottes im Heiligtum auf Erden, wie einst die Leviten;
3. die Völker, im Vorhof, Anbeter Gottes, wie einst die zwölf Stämme Israels.

Man hat aber auch seit langem in der Verklärungsszene eine Art Vorschau des messianischen Reiches gesehen, Luk. 9,28-43 :

1. Der Berg, das Neue Jerusalem, die prächtige Himmelsstadt, wo der Herr und die Seinen sind;

2. der verklärte Christus in der Herrlichkeit des Reiches, wie Er sich später Seinem Apostel Johannes (Offb. 1, 13-16) zeigen und während des Millenniums offenbaren wird;
3. Mose und Elia, auch sie verklärt, jeder ein Sinnbild : der erstere der verstorbenen und auferstandenen Heiligen, der letztere der entrückten Gläubigen, die den Tod nicht geschmeckt haben;
4. die Jünger, Vorbilder der Menschen im messianischen Reich, vor allem des wiederhergestellten Israel, das nun zum Segensträger für die ganze Welt geworden ist;
5. die Volksmenge, die ihnen am Fuß des Berges entgegenläuft, ein Sinnbild der Völker, die begierig sind, Christus kennen zu lernen.

Der Apostel Petrus selbst weist uns auf diese Deutung hin, wenn er in Erinnerung an die Verklärung schreibt: „Wir haben euch kundgetan die Kraft und Zukunft unsers Herrn Jesu Christi; . . . wir haben Seine Herrlichkeit selber gesehen, da Er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, . . . da wir mit Ihm waren auf dem heiligen Berge. Und wir haben desto fester das prophetische Wort.“ 2. Petr. l ,16-19. Das genügt zur Erkenntnis der wunderbaren Aussichten, die unser warten. Für uns ist es die Hauptsache, zu wissen, daß wir auf ewig beim Herrn und Ihm gleich sein werden, als Teilhaber an Seiner Wirksamkeit und sitzend mit Ihm auf Seinem Thron. „Wenn aber Christus, euer Leben, Sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit Ihm in der Herrlichkeit.“ Kol. 3, 4.


6. Kapitel



Die Stellung Israels im Millennium


l. Israel wird wieder das Hauptvolk der Erde werden.

Wir verließen Israel zur Zeit seiner Wiederherstellung und seiner Bekehrung bei der Wiederkunft Jesu Christi. Gehen wir nun über zu den Weissagungen über seine Rolle im Tausendjährigen Reich!
Einstmals wollte Gott das auserwählte Volk zu einem „priesterlichen Königreich und einem heiligen Volk“ machen. 2. Mos. 19, 6. Er hatte ihm verheißen: „Wenn du der Stimme des Herrn, deines Gottes, gehorchen wirst . . . so wird dich der Herr, dein Gott, zum höchsten machen über alle Völker auf Erden . . . daß du alle Seine Gebote hältst und Er dich zum höchsten mache, und du gerühmt, gepriesen und geehrt werdest über alle Völker, die Er gemacht hat; daß du dem Herrn, deinem Gott, ein heilig Volk seist, wie Er geredet hat. 5. Mos. 28, 1; 26,18. Nun ist aber Israel wegen seiner Untreue immer tiefer gesunken; es ist der Schwanz geworden, nicht mehr das Haupt. 5. Mos. 28, 43. Es wurde von den Völkern unterjocht, die es zerstreut, gehaßt und verfolgt haben. Aber Gott läßt Sich Seine Gaben nicht gereuen. Er wird dem wiederhergestellten und bekehrten Israel den ursprünglichen Vorrang zurückgeben. „Es wird dazu kommen, daß . . . Israel blühen und grünen wird, daß sie den Erdboden mit Früchten erfüllen . . . Die Völker werden sie nehmen und bringen an ihren Ort, daß sie das Haus Israel besitzen wird im Lande des Herrn zu Knechten und Mägden . . . Und deine Tore sollen stets offen stehen . . . daß der Heiden Macht zu dir gebracht und ihre Könige herzu geführt werden . . . Ihr aber sollt Priester des Herrn heißen . . . Siehe, Ich breite aus den Frieden bei ihr (Jerusalem) wie einen Strom und die Herrlichkeit der Heiden wie einen ergossenen Bach.“ Jes. 27, 6; 14,2; 60, 10; 61,6; 66,12. Es nimmt uns vielleicht wunder, daß im messianischen Reich ein Volk eine solche Vormachtstellung über die anderen haben soll. Sagt nicht die Schrift, daß in Christo „kein Jude noch Grieche, kein Sklave noch Freier sei?“ Gal. 3, 28. Das stimmt in Bezug auf das Heil. Aber vergessen wir nicht, daß in der Gemeinde und in der christlichen Familie der Mann die Autorität über seine Frau behält. 1. Tim. 2, 11-14; Eph. 5, 22-24. Das Millennium wird noch nicht der Himmel, sondern viel eher eine Theokratie, eine autoritäre Gottesherrschaft auf Erden sein. Es wird daher gut sein, wenn Israel in heiliger, geistlicher Weise an der Spitze der Völker steht, um sie dem Herrn zuzuführen.


II. Die Israeliten werden die Weltmissionare sein und Gottes Segnungen vermitteln.

Israel erhält nicht dazu die Oberhoheit wieder, damit es zu seinen eigenen Gunsten eine rein menschliche Herrschaft auf Erden wieder aufrichte. Sie soll ihm nur dazu helfen, die Völker unter das beseligende Joch Jesu Christi zu bringen. Wir haben schon gehört, daß der Überrest Israels sich bekehren wird. Diesen wird dann der Herr zur Ausbreitung Seines Wortes gebrauchen:
Wer da wird übrig sein zu Zion und übrig bleiben zu Jerusalem, der wird heilig heißen . . . Ihr aber sollt Priester des Hernn heißen, und man wird euch Diener unsers Gottes nennen . . . Ich will . . . ihrer etliche, die errettet sind, senden zu den Heiden, gen Tharsis, gen Phul und Lud zu den Bogenschützen, gen Thubal und Javan und in die Ferne zu den Inseln, da man nichts von Mir gehört hat, und die Meine Herrlichkeit nicht gesehen haben; und sollen Meine Herrlichkeit unter den Heiden verkündigen. Und sie werden alle eure Brüder aus allen Heiden herzubringen, dem Herrn zum Speisopfer.“ Jes. 4, 3; 61,6; 66, 20. „Wie ihr vom Hause Juda und vom Hause Israel seid ein Fluch gewesen unter den Heiden, so will Ich euch erlösen, daß ihr sollt ein Segen sein . . . Zu der Zeit werden zehn Männer aus allerlei Sprachen der Heiden einen jüdischen Mann bei dem Zipfel ergreifen und sagen: wir wollen mit euch gehn, denn wir hören, daß Gott mit euch ist.“ Sach. 8, 13. 23.

„Sie werden dir folgen, in Fesseln werden sie gehen und werden vor dir niederfallen und zu dir flehen; denn bei dir ist Gott, und ist sonst kein Gott mehr . . . Der Herr Herr, der die Verstoßenen aus Israel sammelt, spricht: Ich will noch mehr zu dem Haufen, die versammelt sind, sammeln . . . Und die Heiden werden in deinem Lichte wandeln und die Könige im Glanz, der über dir aufgeht; hebe deine Augen auf und siehe umher: diese alle versammelt kommen zu dir.“ Jes. 45, 14; 56,8; 60,3-4. Hatte nicht Paulus gesagt, daß Israels Bekehrung für die Welt wie ein Leben aus dem Tode sein würde? Röm. 11. 12. 15. Schon heute sind die für Jesus Christus gewonnenen Juden, welche alle Vorzüge ihrer Rasse in Seinen Dienst stellen, die bedeutendsten Missionare. Einst genügte ein Israelit, Saulus von Tarsus, um das ganze römische Reich zu erschüttern, Tausende von Seelen zu gewinnen und überall Gemeinden zu gründen; gerade Paulus kann als Typus des verstockten Israel gelten, das durch die herrliche Erscheinung Jesu Christi überwunden wird und sich sofort einsetzt, die Welt zu evangelisieren. Was vermag nicht die ganze jüdische Elite, wenn sie sich ganz und gar der Verherrlichung Gottes unter den Völkern weiht? Dann wird in einem neuen Sinn das Heil von den Juden kommen. Zu Beginn unseres Zeitalters hat Gott gläubige Juden gebraucht, um die Erstlinge unter den Heiden der Gemeinde zuzuführen. So wird auch Gott im Millennium das bekehrte Israel zum Volk von Evangelisten machen, das die Menge der Heiden für das Heil gewinnen wird.


III. Jerusalem wird die Hauptstadt der Welt sein.
Überraschend ist die Feststellung, wie sehr Palästina im Zentrum der Kontinente liegt. Zieht man eine Diagonale vom Südwesten der Länder zum äußersten Nordosten und eine von Nordwesten nach Südosten, so schneiden sich die beiden Linien ungefähr in Palästina. Rund um diese geographische Mitte hat nun Gott die Völker gruppiert: „Da der Allerhöchste die Völker zerteilte und zerstreute der Menschen Kinder, da setzte Er die Grenzen der Völker nach der Zahl der Kinder Israel. 5. Mos. 32, 8. „Er h at gemacht, daß von einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen, und hat Ziel gesetzt und vorgesehen, wie lange und wie weit sie wohnen sollen; daß sie den Herrn suchen sollten.“ Ap. 17, 26. In der Tat sind die großen historischen Weltreiche rund um Palästina verteilt worden, damit sie mit dem wahren Gott in Berührung kämen. Im Osten lagen Assyrien, Babylonien und Persien; im Norden Syrien, Phönizien und Kleinasien; im Westen Griechenland, Rom und die Mittelmeerländer; im Süden Arabien, Ägypten und Äthiopien. Dabei wachte Gott darüber, daß dieses so zentral gelegene Land so abgesondert blieb, daß es die empfangene Offenbarung rein erhalten konnte. Geographisch lag Israel nach außen hin abgeschlossen: im Westen durch das Meer, im Süden und Osten durch die Wüste, im Norden durch das Gebirge; geistlich gesehen, war ihm durch strenge Gesetzesvorschriften die Vermengung mit den Völkern verwehrt. Dann kam der Zeitpunkt der Zerstreuung der Juden in ferne Länder, zur Vorbereitung der antiken Welt auf den kommenden Messias. Und wiederum waren es bekehrte Juden, die von Jerusalem aus die frohe Botschaft von Jesus überall hin brachten.
Im Millennium wird der Herr wieder von Palästina und von Jerusalem aus Sein Licht nach Nord und Süd, Sonnenaufgang und -untergang ausstrahlen lassen. „Der Herr wird Juda erben als Sein Teil in dem heiligen Lande und wird Jerusalem wieder erwählen . . . So spricht der Herr: Ich kehre Mich wieder zu Zion und will zu Jerusalem wohnen, daß Jerusalem soll eine Stadt der Wahrheit heißen und der Berg des Herrn Zebaoth ein Berg der Heiligkeit . . . Also werden viele Völker und die Heiden in Haufen kommen, zu suchen den Herrn Zebaoth zu Jerusalem, zu bitten vor dem Herrn . . . Alle übrigen unter allen Heiden . . . werden jährlich heraufkommen, anzubeten den König, den Herrn Zebaoth.“ Sach. 2, 16, (s . auch Micha 4,1-2; Jes. 60,13). „Zur selben Zeit wird man Jerusalem heißen „Des Herrn Thron“, und werden sich dahin sammeln alle Heiden um des Namens des Herrn willen.“ Jer. 3,17. Und als der Herr vom Tempel redet, der zu Jerusalem wieder erbaut werden soll, und wo die der Erde neugeschenkte Herrlichkeit des Herrn wohnen wird, sagt Er: „Das ist der Ort Meines Throns, da rin Ich ewiglich will wohnen unter den Kindern Israel. Hes. 43,7.

Ein jeder weiß, daß, trotz der vom Völkerbund getroffenen Entscheidung, Jerusalem zu internationalisieren, der Staat Israel seine Absicht kundgab, den Sitz seiner Regierung dorthin zu verlegen. Als letzteres geschah, erklärte Ben Gourion: „Jerusalem ist nicht nur die Hauptstadt Israels und des Weltjudentums, es soll auch nach dem Wort der Propheten die geistliche Hauptstadt für die ganze Welt werden. Wie viele Erfüllungen müssen denn noch kommen, damit unsern Zeitgenossen das Verständnis für das Zeitgeschehen aufgehe?

7. Kapitel


Die Völker während des Millenniums


I. Die Völker gehören zu dem Reich, das Jesus Christus verheißen ist.
Christus soll, wie wir gesehen haben, als Davids Sohn regieren und das Reich Israel wiederaufrichten. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß dem Messias die Weltherrschaft versprochen ist:
„Es wird das Zepter von Juda nicht entwendet werden . . . bis daß der Held (d.h. der, dem das Zepter gebührt) komme; und demselben werden die Völker anhangen.“ 1. Mos. 49,10.
„Siehe, das ist Mein Knecht . . . Er wird das Recht unter die Heiden bringen . . .Ich habe Dich zum Bund unter das Volk gegeben, zum Licht der Heiden . . . Es ist ein Geringes, daß Du Mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten Israels wiederzubringen; sondern Ich habe Dich auch zum Licht der Heiden gemacht, daß Du seist Mein Heil bis an der Welt Ende.“ Jes. 42,1. 6; 49,6.

„Der gab Ihm (dem Menschensohn) Gewalt, Ehre und Reich, daß Ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten.“ Dan. 7,14.
Teilweise sind diese Weissagungen durch die Predigt des Evangeliums unter allen Rassen erfüllt worden. Ap. 13, 47. So ist Jesus wirklich das „Licht der Heiden“ geworden. Aber Er hat noch nie über die Völker geherrscht, und in ihrer Gesamtheit haben diese – weit davon entfernt, sich Ihm zu beugen – Ihn abgelehnt. Darum müssen im Lauf des Millenniums alle Verheißungen von der Bekehrung, nicht nur von Einzelmenschen, sondern der Völker selbst in Erfüllung gehen.


II. Die Evangelisation der Völker.

Vor fast zweitausend Jahren befahl der Herr Seiner Gemeinde, das Evangelium bis an die Enden der Erde zu tragen. Gewiß sind Fortschritte gemacht und ist die Botschaft in immer mehr Ländern verkündigt worden. Aber wie ziehen wir es hin, wie wenig bemühen wir uns! Wir haben gehört, daß alle Menschen noch vor dem Ende ernstlich gewarnt sein müssen. Und doch wissen wir, daß heute einerseits, trotz aller Verkündigung, das Zahlenverhältnis der Heiden in der Welt zunimmt und andererseits die große Mehrheit der Menschen der Endzeit, vom Feinde umgarnt, sich lieber dem Antichristen zuwenden wird.
Wann kommt denn die Zeit, da sich der größte Teil der Menschheit auf Erden für den Heiland gewinnen läßt, wenn nicht im Millennium?
„Dann wird das Ende kommen, das Ende, das das Tor zur Ewigkeit sein wird. Im vorigen Kapitel sagten wir, daß Israel nach seiner Bekehrung das Evangelistenvolk in der neuen (göttlichen) Haushaltung sein wird (Jes. 66, 18-19). „Siehe, das ist Mein Knecht . . . Er wird nicht matt werden noch verzagen, bis daß Er auf Erden das Recht anrichte; und die Inseln werden auf Sein Gesetz warten . . . (So weit sind wir noch nicht, es wird wohl im Millennium geschehen) . . . Siehe, Ich habe Ihn den Leuten zum Zeugen gestellt, zum Fürsten und Gebieter den Völkern. Siehe, du wirst Heiden rufen, die du nicht kennst, und Heiden, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des Herrn willen, deines Gottes, und des Heiligen in Israel, der dich herrlich gemacht hat.“ Jes . 42, 1.4; 55,4-5.

III. Die Bekehrung der Völker.

1. Gott wird neue Bedürfnisse ein die Herzen legen.
„Zu der Zeit wird sich der Mensch halten zu Dem, der ihn gemacht hat, und seine Augen werden auf den Heiligen in Israel schauen. Jes. 17,7.
„Der Herr wird ein Neues im Lande erschaffen: das Weib wird den Mann umgeben.“ Jer. 31,22. Zunächst wird das bildlich für Israel gesagt. Gott, der Sich hier als Mann bezeichnet, liebt und sucht Sein Volk, das Er zu Seinem Weib machen will. Aber die Menschheit hat sich lange ihrem Schöpfer versagt. Doch es kommt der Tag, da erst Israel und dann die Völker von sich aus ihren himmlischen Bräutigam suchen werden. Das wird etwas Neues sein auf Erden. 

„Alsdann will Ich den Völkern reine Lippen geben, daß sie alle sollen des Herrn Namen anrufen und Ihm einträchtig dienen. Man wird Mir Meine Anbeter, Mein zerstreutes Volk, von jenseits des Wassers im Mohrenland herbeibringen zum Geschenk.“ Zeph. 3, 9-10.

2. Dann werden die Allerverhärtesten verstehen.

„Zu derselben Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buchs, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen
. . . Der Sehenden Augen werden sich nicht blenden lassen, und die Ohren der Zuhörer werden aufmerken, und die Unvorsichtigen werden Klugheit lernen, und der Stammelnden Zunge wird fertig und reinlich reden. (Welcher Unterschied zum heutigen Zustand der Herzen! Wieviele Diener Gottes wünschten sich heute schon Zuhörer
mit einem solchen Verständnis und Zeugenmut!) . . . Du sollst öffnen die Augen der Blinden und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen, und die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker . . . Die Blinden will Ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen; Ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen; Ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen und das Höckerichte zur Ebene.“ Jes. 29,18; 32,3-4; 42,7.16.


3. Die Gesamtheit der Völker wird sich zum Herrn bekehren.

„Er wird herrschen von einem Meer bis ans andere und von dem Strom an bis zu der Welt Enden. Vor Ihm werden sich neigen die in der Wüste und Seine Feinde werden Staub lecken. Die Könige zu Tharsis und auf den Inseln werden Geschenke bringen; die Könige aus Reicharabien und Seba werden Gaben zuführen. Alle Könige werden Ihn anbeten; alle Heiden werden Ihm dienen. Ps. 72,8-11.

„Und es wird geschehen zu der Zeit, daß die Wurzel Isai, die dasteht zum Panier den Völkern, nach der werden die Heiden fragen. Jes. 11,10.

„Und die Fremden, die sich zum Herrn getan haben, daß sie Ihm dienen . . . die will Ich zu Meinem heiligen Berge bringen und will sie erfreuen in Meinem Bethause, . . . denn Mein Haus wird heißen ein Bethaus allen Völkern. Der Herr Herr, der die Verstoßenen aus Israel sammelt, spricht: Ich will noch mehr zu dem Haufen derer, die versammelt sind, sammeln . . . Und alles Fleisch wird einen Neumond nach dem andern und einen Sabbat nach dem andern
kommen, anzubeten vor Mir, spricht der Herr.“ Jes. 56,6-8; 66,23.
Zum Unglück bedeutet diese allgemeine Bekehrung der Völker nicht, daß sich alle bis auf den letzten Mann Gott ergeben werden. Es bleibt eine unselige Minderheit, die sich nur äußerlich Seiner Macht beugt. Aber verglichen mit der heutigen Lage, wird es doch ein ungeheurer Fortschritt sein. Heute ist die große Masse unwissend, gleichgültig oder feindselig eingestellt, und nur eine kleine Zahl von Gläubigen kennt den Herrn Jesus. Dann aber wird es umgekehrt sein: Die Gesamtheit der Völker wird dem Herrn mit Freuden dienen, die letzten Widerspenstigen aber werden die Minderheit bilden. Man wird nicht mehr mühsam nach einigen Bekehrten suchen müssen: von selbst werden die Menschen herbei eilen und sich um das Evangelium scharen.


4. Alle Völker werden zur Anbetung nach Jerusalem kommen.

„Weiter werden noch kommen viele Völker und vieler Städte Bürger; und werden die Bürger einer Stadt gehen zur andern und sagen: Laßt uns gehen, zu bitten vor dem Herrn und zu suchen den Herrn Z baoth . . . zu bitten vor dem Herrn (in Jerusalem, Jer. 3,17) . . . Zu der Zeit werden zehn Männer aus allerlei Sprachen der Heiden einen jüdischen Mann bei dem Zipfel ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir hören, daß Gott mit euch ist.“ Sach. 8,20-23 (s. auch 14,16; Jer. 3,17; Micha 4,1-2). Das bedeutet nicht, daß man an keinem anderen Ort mehr den allgegenwärtigen Herrn anbeten kann. Aber Jesus Christus wird Seinen Thron in Jerusalem haben, und diese Stadt wird in der Weltregierung an die Stelle aller unserer Hauptstädte getreten sein. Es wird also ganz normal sein, daß die Vertreter aller Völker der Erde regelmäßig zur Anbetung und zum Zeugnis ihrer Ergebenheit dort erscheinen.


IV. Endlich wird die Erde voll der Erkenntnis des Herrn sein.

Wenn Israel wiederhergestellt und die Völker für Jesus Christus gewonnen sind, dann erfüllen sich die Worte Jesajas: „Das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.“ 11,9. „Mir sollen sich alle Kniee beugen und alle Zungen schwören und sagen: Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke.“ 45, 23-24. Ist die Herrschaft Gottes endlich auf Erden aufgerichtet, so sollen „in dem Namen Jesu sich beugen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden . . . sind.“ Phil. 2, 10.

8. Kapitel


Die Schatten des Millenniums


So schön das Millennium auch sein mag, der Himmel ist es doch noch nicht. Wenn der Herr auch der Erde eine Ära unsagbarer Wonne gewährt, wird Er trotzdem die innere Freiheit eines jeden achten. Und die Entartung der Menschennatur ist ,o groß, daß es ihr gelingen wird, dem bezaubernden Bild, das die Propheten für uns gemalt, einige dunkle Striche hinzuzufügen.

I. Im Millennium wird die Sünde noch möglich sein.

Die Propheten machen einige Andeutungen darüber. Der Herr wird „mit dem Odem Seiner Lippen den Gottlosen töten.” Jes. 11,4. Es sollen „die Sünder hundert Jahre alt verflucht werden.” 65,10. Manche Familien und Geschlechter werden sich weigern, nach Jerusalem zur Anbetung zu kommen. Sach. 14,17. Solche Handlungen werden umso unverzeihlicher sein, als der Versucher abwesend und die Offenbarung Gottes viel größer sein wird.

II. Der Tod wird, obwohl selten, in gewissen Fällen eintreten.

Wir lasen oben, daß der Herr mit dem Odem Seiner Lippen (Seinem Wort) die Bösen töten wird. Wer mit hundert Jahren stirbt, wird jung sein, und der Fluch trifft einen Sünder, der hundertjährig ist. Jes. 1 1,4; 65,20.

Jesaja lehrt uns zugleich, daß die Lebensdauer, wie zur Zeit der Patriarchen, wesentlich verlängert wird. In einem Reich, das nur tausend Jahre währt, wird daher der Tod eine Seltenheit sein (Methusalah lebte 969 Jahre! 1. Mos. 5,27). Er wird aber die hartnäckigen Sünder treffen, denen der Herr hundert Jahre Zeit gelassen hat, sich aufrichtig zu Ihm zu kehren.
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III. Der Herr wird mit eisernem Stabe regieren.

Im Millennium wird der Herr ein autoritäres Regime, eine Theokratie, einführen. Durch Jahrtausende hat sich die Menschheit einer totalen Freiheit unwürdig erwiesen. Solange Gott nur Langmut übte, wählten die Völker stets den Weg der Ungerechtigkeit und des Krieges. Um endlich der Erde Gerechtigkeit und Freude zu bringen, wird der Herr selbst die Zügel der Regierung wiede r in die Hand nehmen (Offb. 11, 15.17) und die Erde zwingen müssen, sich unter Sein Gesetz zu beugen. Wer den Gehorsam verweigert, wird streng bestraft werden (Wir verweisen auf die bereits zitierten Worte in Ps. 2, 8-12; Jes.11,4; 65,20; Offb. 19,15).
Die so Betroffenen sollen allen als Warnung dienen, die in Versuchung sind, ihnen nachzuahmen. „Sie werden hinausgehen und schauen die Leichname der Leute, die an Mir übel gehandelt haben; denn ihr Wurm wird nicht sterben, und ihr Feuer wird nicht verlöschen, und werden allem Fleisch ein Greuel sein.“ Jes. 66,24.

Auch die werden zur Ordnung gerufen, die sich weigern, nach Jerusalem zu kommen, um sich Gott zu unterwerfen: „Es wird über sie auch nicht regnen. Das wird die Plage sein, womit der Herr plagen wird alle Heiden, die nicht heraufkommen, zu halten das Laubhüttenfest.“ Sach. 14,17-19.

Wagen wir es ja nicht, die Untertanen dieses autoritären Reiches zu bedauern! Mißbrauchte Freiheit führt zur Anarchie und zum Tode. Und wie gesagt, dieses durch die Schwachheit der menschlichen Natur bedingte Regime wird das einzige Mittel sein, allen Menschen, die guten Willens sind, ein volles, dauerndes Glück zu sichern.


IV. Das Millennium wird einen unfaßlichen Ausgang nehmen.


1. Am Ende der tausend Jahre wird Satan für kurze Zeit losgelassen.

Er ward in den Abgrund geworfen und verschlossen worden, „daß er nicht mehr verführen sollte die Heiden, bis daß vollendet würden tausend Jahre; und darnach muß er loswerden eine kleine Zeit . . . Und wenn tausend Jahre vollendet sind, wird der Satanas los werden aus seinem Gefängnis und wird ausgehen, zu verführen
die Heiden an den vier Enden der Erde, den Gog und Magog, sie zu versammeln zum Streit.“ Offb. 20, 3.7-8.
Zunächst könnte es befremden, daß Satan wieder in Freiheit gesetzt wird, da doch seine Entfernung zur Entfaltung des Millenniums so nötig gewesen war. Wird Gott Sein Werk durch den Feind verderben lassen? Denken wir aber darüber nach, so werden wir es verstehen, weshalb Satan für kurze Zeit losgelassen werden muß. Tausend Jahre wurden die Völker einer wunderbaren, aber autoritären Regierung unterworfen. Alle mußten sich dem „eisernen Stab“ Christi beugen. Nach vielen – bereits angeführten – Stellen zu schließen, nahm glücklicherweise die Mehrheit der Menschen dieses Joch mit Freuden an. Aber die Schrift gibt zu verstehen, daß einzelne wenige es nur widerwillig ertrugen. Diese haben sich äußerlich gebeugt (um nicht vernichtet zu werden), in ihren Herzen aber hat die Auflehnung unter der Asche geschwelt.
Nun kommt der Augenblick, der eines jeden Schicksal endgültig besiegelt. Gott, der die geheimsten Gedanken kennt, könnte sehr gut diese Seiner Gnade widerstrebenden Herzen der Hölle überantworten. Aber würden solche Menschen dann nicht leicht sagen: „Herr, womit haben wir eine solche Strafe verdient? Haben wir uns nicht gebeugt wie die anderen und immer gehorcht?“ Um ihnen jeden Vorwand zu solcher Rede zu nehmen und ihnen Gelegenheit zu geben, die Tiefen ihres bösen Herzens zu offenbaren, wird Gott ihre Versuchung zulassen.
Vergessen wir übrigens nicht, daß für das Geschöpf die Versuchung gleichsam das Lösegeld für die Freiheit ist. Gott will keine .Sklaven zu Dienern haben, sondern Wesen, die aus freiem Willen Ihn lieben und Ihm gehorchen. Alle Seine mit einem Willen begabten Geschöpfe wurden in Versuchung geführt: die Engel im Himmel, Adam und
Eva im Paradies und alle Menschen aller Zeiten; es ging sogar unser göttlicher Heiland zur Zeit, da Er im Fleische war, darauf ein, wie wir in allen Dingen versucht zu werden. Gott wollte aus dem ersten Paradies keinen goldenen, aber zugesperrten Käfig machen; so möchte Er auch, daß die Untertanen des Millenniums wenigstens einmal die Möglichkeit haben, ihren Willen offen und ohne jeden Zwang kundzutun. Natürlich bleibt dem Teufel, sobald er wieder frei ist, nur das eine übrig: die Völker gegen Gott und die Seinen aufzustacheln. Er ist ein Lügner und Mörder von Anfang und bleibt es bis zum Ende.

2. Eine Menge, zahlreich wie der Sand am Meer, wird der Versuchung unterliegen.

„Er wird ausgehen, zu verführen die Heiden an den vier Enden der Erde, Gog und Magog, . . . welcher Zahl ist wie der Sand am Meer.” Offb. 20,8. Das ist die Tatsache, die uns am meisten bedrückt. Wir verstehen schließlich, daß der Teufel kurze Zeit losgelassen werden muß. Aber es übersteigt unseren Verstand, daß nach all den Herrlichkeiten und Wonnen des Millenniums der Teufel eine Menge, so zahlreich wie der Sand am Meer, finden soll, die ihm ins Garn geht. Jedenfalls können wir, nach dem, was uns die Propheten über die Bekehrung der Völker gesagt haben, kaum glauben, daß diese Empörer die Mehrheit der Menschen vorstellen werden. Doch wird sich die Menschheit während der tausendjährigen Ausschaltung von Krieg, Leiden und sogar Tod ungeheuer vermehrt haben. Die Fruchtbarmachung selbst der Wüsten und der durchweg gesegnete Boden werden der Erde den Unterhalt
dieser riesigen Bevölkerung ermöglicht haben. Folglich können noch ungeheure Scharen übrig sein, die Gott treu geblieben sind, auch wenn die Empörer so zahlreich sind wie der Sand am Meer.

Wie dem auch sei, allein die Tatsache des Erfolgs der Revolte genügt, um uns jede Illusion über den Wert der menschlichen Natur zu nehmen. Welche Undankbarkeit und welche Verblendung! Nach tausendjährigem Genuß aller Gaben des Himmels und aller Freuden der Erde den Satan Gott vorzuziehen, das ist wahrlich der Gipfel der Torheit und der Schuld! Man versteht, daß für solche Menschen nach all dem nur noch die Hölle übrigbleibt. Sie gleichen Kindern einer frommen Familie, die, widerwillig in der Atmosphäre des Glaubens erzogen, diese so satt haben, daß sie alles über Bord werfen, sobald sie frei sind. Sie wurden mit Wohltaten überhäuft und durch die väterliche Autorität vor Versuchungen bewahrt; doch sobald sie sich dieser entziehen können, stürzen sie sich in die Sünde. Damit wird der erdrückende Beweis erbracht, daß „das Fleisch“ (d.h. die menschliche Natur) sich trotz der tausend Jahre des Segens nicht verändert hat. Diese letzte Revolte wird im Gegenteil die ganze Gefahr des Hochmuts, der Lauheit, der fleischlichen Sicherheit aufzeigen, die eine lange Ära zeitlichen und geistlichen Wohlseins ohne Leiden und ohne Versuchungen vom Teufel her in sich birgt. Wahrlich, alle Zeitalter der Menschheit haben ein trauriges Ende genommen, und wie könnte es mit dem letzten anders sein! So können sich die Menschen nicht ihrer herrlichen Erfolge rühmen. Alles, was im Millennium gut war, kam einzig und allein von der Gegenwart des Herrn.

3. Was bedeuten die Namen Gog und Magog?
Bei Hesekiel steht Gog im Lande Magog für den großen Feind des Nordens, der sich im Augenblick der Schlacht von Harmagedon auf Palästina zuwälzt. 39,1-2. In der Offenbarung (20,8) werden die Namen Gog und Magog, in Erinnerung an den Aufruhr, der die große Trübsal beschloß, auf die bezogen, die sich von allen Enden der Erde (nicht nur vom Norden her) in den letzten Angriff hineinziehen lassen.

4. Der Angriff wird gegen die Heiligen und gegen Jerusalem gerichtet sein.
Noch einmal, aber zum letztenmal, wird sich die Wut der Feinde auf die Gläubigen und auf die Stadt des großen Königs stürzen: „Und sie zogen herauf auf die Breite der Erde und umringten das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt (zweifellos Jerusalem)“. Offb. 20,9. Diese Taktik kennt man. Da der aus dem Himmel gestürzte Satan nicht an Gott heran kann, wirft er sich auf Seine Vertreter auf Erden. Tausend Jahre war Jerusalem der Thron und das Heiligtum des Herrn. Kein Wunder, daß Satan das Herz des verhaßten Reiches zu treffen sucht! Aber diesmal ist der Aufruhr von kurzer Dauer.

5. Ein vernichtendes Gericht sichert den Sieg des Herrn.
„Und es fiel Feuer aus dem Himmel und verzehrte sie. Und der Teufel, der sie verführte, ward geworfen in den feurigen Pfuhl und Schwefel, da auch das Tier und der falsche Prophet war; und sie werden gequält werden Tag und Nacht, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Offb. 20,9.10.

Gott hat Satan nur für „eine kleine Zeit” losgelassen. Sobald die Versuchung das Innerste der Herzen enthüllt und es jedem erlaubt hat, sich unter das Banner seiner Wahl zu stellen, wird die Revolte sofort im Keim erstickt. Die Empörer werden durch Feuer vom Himmel verzehrt, und der Verführer wird in die Hölle geworfen, wo er auf ewig gequält werden wird. Welche Erleichterung, zu denken, daß es danach in alle Ewigkeit keinen Aufruhr mehr gegen den Willen Gottes geben wird!

V. Schlußfolgerung.
Nach der langen Sündennacht kommt die allerdunkelste Stunde der großen Trübsal (die Stunde vor Tagesanbruch ist die dunkelste und kälteste). Dann bricht das strahlende Morgenrot des Millenniums an, wenn die Sonne der Gerechtigkeit aufgeht und der Welt Heil unter ihren Flügeln bringt. Mal. 4,2 (bez. 3,20). Zuletzt versinkt der herrliche Tag der messianischen Ara in den Schatten der kurzen Endrevolte, gerade in dem Augenblick, da für die einen die ewige Höllennacht, für die anderen der ewige Himmelstag beginnt.

Wir wollen aber dem Aufruhr nach dem Millennium keine Bedeutung beilegen, die er nicht in der Schrift hat. Und vergessen wir nicht, daß die Menschheit, abgesehen von diesen kurzen Augenblicken, tausend Jahre eines goldenen Zeitalters vor sich hat. Wir, die Gläubigen, sind die Bevorzugtesten der Menschen. Denn wir allein sehen für die Welt und für uns einer frohen Zukunft entgegen. Alle menschlichen Systeme, die politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen, haben versagt und werden immer versagen. Wir aber haben eine untrügliche Hoffnung: das Kommen des Herrn ist so gewiß wie der Anbruch der Morgenröte (Hos. 6,3), und Sein herrliches Reich wird alles edle Verlangen erfüllen, das Gott selbst ins Menschenherz gelegt hat.

Da wir nun diese Botschaft kennen, würden wir eine große Schuld auf uns laden, wollten wir sie nicht um uns her verbreiten. In der ganzen Welt hören wir die politischen Parteien in unerschütterlichem Glauben Ideale verkünden, die ohne Gottes Kraft sind und darum nie verwirklicht werden können. Warum sollten wir nicht die einzige Lösung von den Dächern schreien, die jemals in der Praxis eine Antwort auf alle individuellen, sozialen, nationalen und internationalen Bestrebungen geben kann? Eines Tages werden wir Rechenschaft ablegen müssen über das uns für uns selbst und für andere anvertraute Licht.

Eine letzte Frage, bevor wir dieses Thema verlassen: Sind wir sicher, daß wir am Millennium teilhaben werden? Dazu müßten wir entweder mit der Gemeinde entrückt werden, um an der ersten Auferstehung teilzuhaben, oder zur Rechten des Weltenrichters stehen, um von Ihm die trostreichen Worte zu vernehmen: ,,Kommet her, ihr Gesegneten Meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt.“ Matt. 25 ,34.

Möchten wir doch auf die eine oder andere Weise bei dieser herrlichen Begegnung dabei sein!

 

Separat eingestellt von Horst Koch, Herborn, im November 2023.
Aus dem Buch DIE WIEDERKUNFT JESU von René Pache, um den Haupbeitrag nicht zu groß sein zu lassen.

info@horst-koch.de

 

 

 

 

 

 




Die Wiederkunft Jesu Christi (Pache)

Dr. RENÉ PACHE

DIE WIEDERKUNFT JESU CHRISTI

 

Titel der Original-Ausgabe:

 LE RETOUR DE JESUS-CHRIST


 Übersetzt von Frau E. Wieter-Eoll, 1957

– Hier für meine HP leicht gekürzt eingestellt. Viele Textbetonungen sind auch von mir. Im November 2023. Horst Koch, Herborn
PS. Hier im ersten Teil geht es um die generelle Bedeutung von PROPHETIE; um ihre Quellen, Zeiten und Zeichen derselben usw. H. Koch –


Vorwort
Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist, denn die Zeit ist nahe: Offb. 1.3.


Mit Freuden bringen wir unsern Lesern dieses Buch, in dem wir den Versuch gemacht haben, die Weissagungen der Bibel, die sich auf die Wiederkunft Jesu Christi beziehen, systematisch zu erforschen. Dieses Studium hat uns so bereichert, daß wir unmöglich einen solchen Schatz für uns behalten könnten. Wir bitten den Herrn, tausendfach die zu segnen, die an der Hand dieses Buches das prophetische Wort lesen, hören und behalten wollen!


Die Wiederkunft Christi wird an so vielen Stellen der Bibel verkündigt (1527mal im AT und 319mal im NT), daß – nach der Geburt und dem Tod des Erlösers – für den Christen nichts von größerer Bedeutung ist. Die noch unerfüllten Weissagungen sind so zahlreich, daß wir alle in bezug auf das Jenseits (die Toten, Auferstehung, Gericht, Jüngstes Gericht, Hölle, Lohn der Gläubigen, Himmel usw.) für ein weiteres Buch (Das Jenseits) zurückstellen mußten. Im vorliegenden Band behandeln wir daher nur die Voraussagen, welche die Zukunft unsrer Erde bis zum Ende des Tausendjährigen Reichs betreffen. . . .
Zu Anfang des Buchs geben wir unsere Methode in der Auslegung der Weissagung an. Dabei möchten wir betonen, daß wir keineswegs einen Anspruch auf Unfehlbarkeit erheben. Um der Klarheit unserer Ausführungen willen mußten wir, gemäß unserer eigenen Überzeugung, einen bestimmten Standpunkt einnehmen und festhalten. . .

Hüter, was dünkt dich um die Nacht?
Der Hüter spricht: Der Morgen naht – und auch die Nacht.
Jes. 21, 11-12.

Vorwort zur 6. Auflage
Seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches im Jahre 1948 hat sich viel in der Welt ereignet.  . . .
So bildet jedes Kapitel ein Ganzes in sich, und wir meinen, die Darlegungen damit klarer gemacht zu haben . . . Doch sind wir uns vollkommen der Schwierigkeit bewußt, den buchstäblichen oder symbolischen Wert jeder Stelle, sowie die Zeitfolge bestimmter Ereignisse von vornherein festzulegen. Wie es einer gesagt hat: Die
Weissagung wandelt auf den Höhen der Geschichte, sie wirft ihr Licht nur auf die Spitzen und Gipfel der Berge. Die einzig vollständige Auslegung der Weissagung wird uns in ihrer Erfüllung gegeben werden. . . . Es ist wirklich unser Gebet, daß unsere Leser nicht von unseren Urteilen abhängig seien, sondern von der Schrift selbst und von dem allein unfehlbaren Ausleger, dem Heiligen Geist.
Als die Einwohner von Jerusalem Jesum kreuzigten, erfüllten sie damit die Worte der Propheten, die sie doch jeden Sabbat lasen. Apg. 13,27. Genau so laufen viele Namenchristen Gefahr, beim zweiten Kommen Christi gerade durch die Weissagungen verdammt zu werden, die sie lesen, ohne ihnen Beachtung zu schenken. . . . 

Vielleicht mag der eine oder andere Leser nicht mit jeder einzelnen Auslegung einig sein, aber es bleibt bei diesen Mahnworten doch der starke Eindruck, daß der Verfasser bewußt unter dem gewaltigen Ernst seines Auftrags steht, und es kann wohl keiner das Buch ohne ganz persönlichen Segen lesen.
Möge die deutsche Ausgabe dieses Buches dazu dienen, daß auch in Deutschland der Weckruf gehört werde, und daß alle Kinder Gottes sich zur wartenden Gemeinde sammeln, die sich bereit macht auf die 
Wiederkunft Jesu Christi.

E. F. Wieter-Eoll


ERSTER TEIL

Einführung

1. Kapitel
Bedeutung und Merkmale der biblischen Weissagung. 


1. Welchen Raum nimmt die Weissagung in der Bibel ein?
Unbestreitbar nimmt die Weissagung einen sehr großen Raum in der Hl. Schrift ein. Von den 39 Büchern des AT sind 17 prophetischen Inhalts, die zahlreichen Voraussagen nicht eingerechnet, die z. B. bei Mose und in den Psalmen zu finden sind. Im NT sind auch ganze Kapitel der Evangelien, viele Abschnitte der Episteln und die ganze Offenbarung der Weissagung gewidmet. Wir glauben mit Paulus, daß „alle Schrift, von Gott eingegeben, nütze ist zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, daß ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt“. 2. Tim. 3, 16-17. Wollen wir wahre Christen sein, so müssen wir, ob es uns gefällt oder nicht, die ganze Botschaft der Propheten annehmen und uns zu eigen machen. Viele sog. Gläubige vernachlässigen die Weissagung, weil sie sie nicht verstehen oder gar fürchten. Aber es ist leicht erkennbar, daß ihrer geistlichen Nahrung ein wesentlicher Lebensstoff abgeht, und daß ihr Leben und Wirken der allein richtigen Orientierung entbehrt. Ihre Frömmigkeit gleicht einem Kompaß, dessen entmagnetisierte Nadel keine Richtung mehr anzeigt.

Vergessen wir nicht, daß Weissagung und Wunder zwei starke Beweisgründe bei der Verteidigung der christlichen Religion darstellen. Die Weissagung erbringt den Beweis für das übernatürliche in Worten, das Wunder dagegen in Werken. Sie beweisen damit die Allwissenheit, bzw. die Allmacht Gottes. Nur die Bibel bedient sich der Weissagung, denn sie allein ist das Wort Gottes; die anderen Religionen sind der Weissagung unfähig, da sie Irrlehren sind. Zudem zeigt uns die Prophetie Gott als Lenker der Geschichte, ein nicht geringer Trost für unsere gequälte Zeit.

II. Was sind die Hauptmerkmale der biblischen Weissagung?
An zwei berühmten Stellen erklärt der Apostel Petrus in meisterhafter Weise, was die Botschaft der Propheten ist (1. Petr. 1,10-12 und 2. Petr. 1,16.19-21).
Entnehmen wir diesen Versen die folgenden Tatsachen:

1. Das große Thema aller Propheten ist Jesus Christus. 1. Petr. 1,11.
2. Zeitraum und Umstände des zweifachen Kommens Christi werden von den Propheten angegeben. Vs.11.
3. Zwischen den Propheten des AT und des NT besteht volle Übereinstimmung. Vs.12.
4. Der Heilige Geist ist der alleinige Urheber der Weissagung. 2. Petr. 1,21.
5. Die Propheten haben selbst versucht, die ihnen aufgetragenen Weissagungen zu erforschen. Vs. 10-12.
6. Es gelüstet die Engel, in das Wunderbare hineinzuschauen, das Gott durch Seine Boten ankündigt. Vs. 12.
7. „Ihr tut wohl, daß ihr darauf (auf das prophetische Wort) achtet.“ 2. Petr. 1,19.
8. Das prophetische Wort „ist ein Licht, das scheint in einem dunklen Ort“.
9. Keine Weissagung der Schrift geschieht aus eigener Auslegung. Vs. 20-21.


III. „Der Herr, Herr tut nichts, Er offenbare denn Sein Geheimnis den Propheten, Seinen Knechten.“ Amos 3,7.

Als Jesus von Seiner Wiederkunft sprach, sagte Er zu Seinen Jüngern: ,,Ihr aber sehet euch vor! Siehe, Ich habe es euch alles zu vor gesagt!” Mk. 13,23. Diese Versicherungen geben den Weissagungen, die wir besitzen, ein ganz besonderes Gewicht. Wenn dem so ist, dürfen wir damit rechnen, in ihnen die großen Linien der Hauptereignisse zu finden, die sich bis zur Wiederkunft Christi abspielen sollen (und wir werden bald sehen, daß dies auch der Fall ist).
Schauen wir rückwärts, so erkennen wir, daß kein bedeutendes Ereignis, besonders kein großes Gericht, stattgefunden hat, ohne daß der Herr versucht hätte, die Welt, und vornehmlich die Gläubigen, darauf vorzubereiten. Dafür einige Beispiele:

1. Die Sintflut ist nicht unversehens hereingebrochen. Lange zuvor hatte Gott die Generation Noahs vor dem drohenden Strafgericht gewarnt. Und Er hatte alles zur Rettung Seines Knechtes vorbereitet. 1. Mose 6 -7.
2. Die Zerstörung Sodoms und Gomorras war auch vorhergesagt worden, und Lot wurde vom Herrn zur Flucht gedrängt, bevor es zu spät wäre. 1. Mose 18-19.
3. Als Gott die Vernichtung Ninives beschloß, beauftragte Er Jona ausdrücklich, es der ganzen Bevölkerung der Stadt kundzutun. Jona 3. Und diese Botschaft gab Ninive die Gelegenheit zur Buße und zur Errettung.
4. Die heidnischen Könige Nebukadnezar und Belsazar wurden ebenfalls zeitig von ihrem bevorstehenden Sturz unterrichtet, und die Stadt Babylon fiel erst nach eindringlicher Warnung vor ihrem kommenden Schicksal. Dan. 4-5.
5. Jerusalem, Samaria und dem ganzen Volk Israel war ihre unvermeidliche Vernichtung und Wegführung lange zuvor durch die Propheten angesagt worden. Um so größer wurde ihre Schuld, weil sie alle Warnungen Gottes mißachteten. 2. Chron. 36, 15-16. Genau so war es vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 unserer Zeitrechnung: Die Zeitgenossen Jesu wußten ganz gut, was ihnen bevorstand, und sie hatten Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten.
 Luk. 19,41-44; 21, 29-34.
Die Beispiele ließen sich häufen. Aber diese genügen, um klarzumachen, wie Gott Seine Kirche und zugleich die Welt auf das große Endgeschehen vorzubereiten sucht. Die Wiederkunft Jesu Christi und alle Begleitumstände sind mit einer solchen Überfülle von Einzelheiten vorausgesagt, daß auch der Ungelehrteste das Wesentliche zu verstehen vermag.
 Lassen wir uns diese Warnungen tief zu Herzen gehen, und gedenken wir der Ermahnung des Apostels: “Die Weissagung verachtet nicht“ 1. Thess. 5,20.


IV. Verfahren bei der Auslegung der Weissagung

1. Wörtliche und symbolische Auslegung.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Bibeltexte aufzufassen. Häufig liegt hinter der zunächst wörtlichen Bedeutung ein bildlicher oder geistlicher Sinn. Das trifft bei vielen Ereignissen in der Geschichte Israels zu, die das AT berichtet. “Solches aber widerfuhr jenen zum Vorbilde; es ist aber geschrieben uns zur Warnung.” 1. Kor. 10,11. Offensichtlich glauben die Apostel, daß die von ihnen angeführten Ereignisse sich wirklich zugetragen haben; das hindert sie aber nicht, in ihnen einen tiefen geistlichen Sinn für uns zu finden.

Hier einige aus den vielen Beispielen:



a.) Der Fels, den Mose am Horeb schlug, um das Volk zu tränken, stellte Christus dar, wie Er auf Golgatha für unser Heil geschlagen wurde. 2. Mose 17, 1-6; 1. Kor. 10,4 )
b.) Das Manna, das die Israeliten in der Wüste gegessen haben, war ein Sinnbild auf Christus, das vom Himmel gekommene, lebendige Brot. 2. Mose 16; Joh. 6, 31-35. 48-51.

c.) Das geschlachtete Osterlamm stellte Jesus dar, das Lamm Gottes, für uns geopfert. 2. Mose 12; 1. Kor. 5,7.
d.) Hagar und Sarah, die beiden Frauen Abrahams, versinnbildlichen den zweifachen Bund, den des Gesetzes und den der Gnade. Gal. 4, 22-26 usw
Auch in den Weissagungen, die sich beim ersten Kommen Christi erfüllten, finden wir oft, daß in demselben Text der wörtliche und der bildliche (oder geistliche) Sinn einander bei- oder übergeordnet sind.
Man urteile selber:

l.  Psalm 22 sagt die Leiden Christi voraus. Einige Verse sprechen in alltäglichen Ausdrücken von Dingen, die dann buchstäblich eingetroffen sind:
Christus wurde am Kreuz von Seinem Vater verlassen. Vs. 2.
Er wurde verachtet und verspottet vom Volk. Vs. 7-9.
Seine Hände und Füße wurden durchgraben. Vs. 17.
Die Soldaten teilten Seine Kleider unter sich und warfen das Los um Sein Gewand. Vs. 19.

Andere Verse dagegen bedienen sich der bildlichen (oder rein poetischen) Sprache:
Zahllose Stiere haben Mich umringt. Vs. 13.
Hunde haben Mich umgeben. Vs. 17.
Errette Meine Seele vom Schwert. Vs. 21.
Rette Mich von den Hunden, dem Löwen, Vs . 21-22.

Der Sinn dieser Bilder ist völlig klar, und er hat sich auch ganz real erfüllt.

2. Nach Jesaja 53 soll folgendes buchstäblich den Messias treffen:
Er wird von Seinem Volk verachtet und verstoßen, Vs. 3,
gestraft und gemartert, aus der Angst und dem Gericht genommen, Vs. 7-8, und
bei Gottlosen (zwei Mördern) am Kreuze getötet, Vs. 9, und

bei Reichen begraben werden. Vs. 9.

Gleichzeitig aber enthält diese Stelle folgende Bilder:
Wie ein Reis wird Er aus dürrem Erdreich emporsprießen, Vs. 2,

wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt werden, Vs. 7, und

durch Seinen Opfertod die Starken zum Raube haben. Vs. 12.

Viele andere Stellen ließen sich noch anführen. Halten wir es auf jeden Fall fest, daß wir bei der Ausdeutung der noch unerfüllten Weissagungen auf gleiche Weise vorgehen müssen. Wir werden daher:

a) zunächst die wörtliche Bedeutung, die einfachste Anwendung festzustellen suchen – und beim AT den Sinn, der zu Israel am ehesten in Beziehung steht;

b) davon ausgehend, noch einer etwa möglichen symbolischen Bedeutung forschen, einem geistlichen Sinn. Dabei wollen wir uns vom Text selber leiten lassen, oder, falls dessen Sinn dunkel, von anderen klaren Stellen über dasselbe Thema.
Es wäre in der Tat töricht, alles wörtlich nehmen zu wollen, und ebenso falsch, alles symbolisch zu deuten. Gott helfe uns bei dieser schwierigen Aufgabe und leite uns Schritt für Schritt auf dem schmalen Pfad der Wahrheit!


2. Zwei große Richtungen in der prophetischen Auslegung.
Was wir nun sagen, bezieht sich besonders auf die Art, die Offenbarung zu deuten, das Buch, das wir oft anführen werden müssen. Die meisten Ausleger dieser Prophetie nehmen einen der beiden folgenden Standpunkte ein:

a) den „historischen“ Standpunkt. Man betrachtet die Offenbarung als ein ununterbrochenes Freskengemälde der Geschichte der Kirche. Die ersten Siegel beginnen zur Zeit der Apostel, dann folgen die Trompeten und die Schalen, die uns in Etappen der Reihe nach bis zum Ende der Zeiten führen. Es scheint wohl, als schreite die sündige Menschheit unaufhaltsam dem Abgrund zu, und als entwickelten sich die Gerichte Gottes seit langem auf die Endlösung hin. Von diesem Standpunkt aus kann man allerdings in der Offenbarung und den Weissagungen Züge finden, die ein helles Licht auf gewisse, heute schon vergangene Ereignisse werfen. Aber das Ziel unseres Buches ist nicht, uns der Vergangenheit zuzuwenden, sondern den der Schrift gezeigten Zukunft der Welt. Wir ziehen daher den zweiten Standpunkt vor, ohne behaupten zu wollen, daß er immer eine andere Auffassung ausschließt.

b) den „futuristischen“ Standpunkt.
Hat es auch Teilerfüllungen der Weissagungen seit Christi Weggang gegeben, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die wichtigsten angekündigten Ereignisse noch vor uns liegen. Der allgemeine Abfall, das Offenbarwerden des Antichristen in Person, die Rückkehr der Juden nach Palästina und ihre Bekehrung, die furchtbarsten Gerichte, die Schlacht von Harmagedon, die endgültige Abrechnung, das Erscheinen des Herrn und Seine glorreiche Herrschaft, all das liegt ganz oder teilweise in der Zukunft. Und auf diese große Endlösung hin sind alle prophetischen Texte unentwegt ausgerichtet. Bengel hat gesagt, daß kein Ereignis zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft Christi diesem großen Endgeschehen an Bedeutung gleich sein wird. Darum berühren sich für die Propheten das erste und das zweite Kommen des Herrn. Wir werden uns daher bei den biblischen Weissagungen vor allem mit dem abgeben, was die Gegenwart und Zukunft betrifft. Was die Vergangenheit schon erfüllt hat, wird uns nur zuweilen als Beispiel und Bestätigung dienen.

3. Die fortschreitenden Erfüllungen der Weissagung und ihre Zeitfolge.

Zum rechten Verständnis gewisser Prophezeiungen muß man sich darüber klar sein, daß sie eine Erfüllung in fortschreitender Linie oder mehrere, in ihrer Folgenreihe sich stetig ergänzende umfassen. Z. B.:

a) In Matth. 24 und Lukas 21 erschaut Jesus offensichtlich in einem und demselben Bild zwei ähnliche, aber zeitlich weit auseinanderliegende Ereignisse:
einerseits
die Belagerung Jerusalems und die Leiden der Juden,
andererseits die letzte Belagerung der heiligen Stadt durch den Antichristen und die große Trübsal Israels. Beide Erfüllungen zusammen erschöpfen erst den Sinn der Worte Jesu.

b) In seinen Botschaften spielt der Prophet Jeremia immer wieder gleichzeitig auf die beiden Verbannungen und die beiden Wiederherstellungen Israels an. (So z.B. Jer. 25,39; 31,31-40; 32,36-44.) Die Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar, die babylonische Gefangenschaft, die Rückkehr mit Esra sind nur ein schwaches Vorspiel zu der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70, der weltweiten Zerstreuung der Juden und ihrer völligen Wiederherstellung bei der Wiederkunft Christi

c) Die Stellen, die sozusagen das erste und zweite Kommen des Erlösers verquicken, sind sehr zahlreich. Führen wir nur einige an:
die Geburt des Sohnes und die Herrschaft des Friedefürsten; 9,9-10;
der Einzug Jesu in Jerusalem auf einem Esel und Seine Weltherrschaft; Mal. 3, 1-3:
die Erscheinung Johannes des Täufers und die des Herrn, der Israel im Ofen der  Trübsal bekehren wird. . . . Diese beiden Handlungen, die die gegenwärtige Heilszeit eröffnen und beschließen – und jetzt schon fast 2000 Jahre umfassen -, werden in demselben Satz erwähnt. Doch hat Jesus Seine Lesung in Nazareth folgerichtig mit dem ersten Teil des Satzes beendet. Luk.4, 17-19.

Anfänger im Studium der Weissagung sollen sich aber nicht durch solche Nebeneinanderstellungen erschrecken lassen. Erblicken wir eine Gebirgskette von weitem, so erscheinen uns vielleicht zwei Gipfel wie ein einziger. Im Weitergehen aber erkennen wir, daß ein tiefes Tal sie trennt, oder wir sehen, daß die ganze Kette in einem steten Auf und Ab sich allmählich zu ihrem höchsten Punkt erhebt.
Es war für die Juden des Alten Bundes nicht leicht, alle Weissagungen auf das erste Kommen Christi zu verstehen. Sollte nicht Jesus kommen

aus Bethlehem, Mich. 5, 1,
aus Ägypten, Hos. 11, 1,

aus Galiläa, Jes. 8,23,

nach Jerusalem, Sach. 9,9,

in den Tempel, Mal. 3,1 ?

Wie konnten sie so viele widersprechende Angaben in Einklang bringen? So ist auch die Wiederkunft des Herrn sehr vielseitig, und möglicherweise werfen wir manche Pläne zusammen. Wir werden ihre ganze Reihenfolge erst im Maße ihrer völligen Erfüllung verstehen. Weit voneinander entfernte Sterne bilden für uns eine Konstellation, die auf derselben Ebene zu liegen scheint. So ist es auch mit manchen Ereignissen der Prophetie. Die Bibel selbst scheint sie zu verquicken, wenn sie zum ersten Mal von ihnen spricht. Matthäus zeigt uns in Kap. 24 u. 25 in ein und demselben Bild die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70, die Entrückung der Gläubigen, die große Trübsal, die Errichtung des Reichs und das Endgericht, aber spätere Prophezeiungen unterscheiden diese Ereignisse ganz klar. So kündet Joh. 5, 28-29 die beiden Auferstehungen gleichzeitig an, während die Offenbarung sie um 1000 Jahre voneinander trennt (20, 4-5).

Bemühen wir uns daher, alles soweit wie möglich zu verstehen! Aber wir wollen auch warten können! Denen, die auf das prophetische Wort achten, wird im gegebenen Augenblick das erwünschte Licht geschenkt werden.


2. Kapitel



Die Botschaft von der Wiederkunft Jesu Christi.

I. Wichtigkeit der Lehre von der Wiederkunft Jesu Christi


1. Welchen Platz nimmt diese Lehre in der Schrift ein?
Die Antwort auf diese Frage gibt uns von vornherein einen Begriff von der Bedeutung, die Gott selbst ihr beimißt.
Beachten wir zu allererst, daß im AT mindestens die Hälfte der zahlreichen Weissagungen auf Jesus Christus sich auf Seine Herrlichkeit und Seine Herrschaft beziehen. Das tritt so deutlich hervor, daß die Juden und die Jünger selbst nur diesen Teil der Botschaft der Propheten in Erinnerung hatten: sie erwarteten unbedingt den Messias als den Sieger, der „das Reich Israel wieder aufrichten“ und Sein Volk von Seinen Feinden erlösen würde. Ap. 1,6; Luk. 24,21. Ihr einziger Irrtum lag darin, daß sie nicht erkannten, daß Christus nach denselben Weissagungen erst nach Seinem Leiden am Kreuz in Seiner Herrlichkeit erscheinen würde.
Was das NT betrifft, so hat man ausgerechnet, daß 319 Verse, d.h. 1 auf 25, der Wiederkunft Christi gewidmet sind. So darf man behaupten, daß wenige Lehren der Bibel die eine, die uns hier beschäftigt, an Bedeutung übertreffen.


2. Welchen Platz räumt Jesus Seiner Wiederkunft in Seiner Lehre ein?

Er hat oft und lang darüber geredet. Wir wollen hier nur folgendes anführen:

a) Seine großen endgeschichtlichen Reden in

Matth. 24 u. 25,

Markus 13,

Luk. 17 u. 21;

b) einige der Gleichnisse, die dasselbe Thema behandeln:

Unkraut und Weizen, Matth. 13,24-30 (bes. Vs. 38-43),
das Netz, Matth. 13,47-50,

die zehn Jungfrauen, Matth. 25,1-13,

die Pfunde, Luk. 19,12-27 (bes. Vs. 12: „Ein Edler zog ferne in ein Land, daß er ein Reich einnähme und dann wiederkäme“,

die getreuen und ungetreuen Knechte, Luk. 12, 35-46; Matth. 24, 45-51,

der ungetreue Richter, Luk. 18,1-8 (bes. Vs 7-8),
die verschlossene Tür, Luk. 13,23-30 usw.

Wie könnten wir also Christen sein, ohne den Voraussagen Christi zu glauben und freudig auf Seine Rückkehr zu warten?

3. Sollen wir die buchstäbliche Erfüllung der Weissagungen auf das zweite Kommen Christi erwarten?

Um das zu wissen, brauchen wir nur zu bedenken, wie buchstäblich sich die Voraussagen auf Sein erstes Kommen verwirklicht haben. Hier einige der genauesten Aussagen der Propheten:

Jesus ist von einer Jungfrau geboren, Jes. 7,14 ; Matth. 1,22-23,

aus dem Geschlechte Davids, Jes. 11,1,
in Bethlehem, Micha 5, 1; Matth. 2,4-6,

bei dieser Gelegenheit wurden die kleinen Kinder gemordet, Jer. 31, 15; Matth. 2,16-18,

das Kind Jesus wurde nach Ägypten gebracht, woher es später zurückgerufen ward, Hos. 11,1; Matth. 2,15,
Er wurde in Galiläa erzogen, Jes. 8, 23 ; Matth. 2,22-23,

Er wurde mit dem Geiste gesalbt, Jes. 11,2; Luk. 4, 17-21,

Er trug unsere Krankheit und lud auf Sich unsre Schmerzen, Jes. 53,4; Matth. 8, 16-17,

Er zog auf einem Esel reitend in Jerusalem ein, Sach. 9,9; Matth. 21,4-5,

Er wurde von einem Seiner Vertrauten verraten, Ps. 41, 10; Joh. 13,18,

Seine Jünger verließen Ihn, Sach. 13,7; Matth. 26,31,

Er wurde um 30 Silberlinge verkauft, die dann für den Töpferacker gegeben wurden, Sach. 11, 12-13; Matth. 26, 15:

Er wurde angespien und den Schlägen preisgegeben Jes. 50,6; Matth. 27,30,

Man bot Ihm Galle mit Essig zu trinken, Ps. 69,22; Matth. 27,3 4.48,

kein Bein wurde Ihm zerbrochen, 2. Mose 12,46; Joh. 19,33.

Seine Hände und Füße wurden durchgraben, Ps. 22, 17; Joh. 20,25-27,

Seine Kleider wurden verteilt und verlost , Ps. 22, 19 ; Joh. 19, 23.24,

Er mußte mit Übeltätern sterben und hatte bei Reichen Sein Grab, Jes. 53,9; Matth. 27,38. 57-60.

Da alle diese Weissagungen viele Jahrhunderte vor dem Kommen des Herrn geschrieben wurden, ist es für keinen aufrichtigen Geist möglich, darin nicht einen starken Beweis für die göttliche Inspiration der Bibel zu sehen. Und es ist klar, daß die Voraussagen auf die Wiederkunft Christi, von denselben Propheten geschrieben, auch dieselbe Vollmacht besitzen und sich ebenso wörtlich erfüllen werden. Jesus hat ausdrücklich erklärt: „Ich sage euch, bis daß Himmel und Erde zergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe“; und nachdem Er Seine eigenen Weissagungen über die Endzeit ausgesprochen hatte, fügte Er hinzu: „Himmel und Erde werden vergehen; aber Meine Worte werden nicht vergehen.“ Matth. 5, 18; 24,35.
Wenn die Weissagungen der Bibel – weit davon entfernt, Träumreien oder poetische Bilder zu sein – bestimmt sind, bis ins Kleinste in Erfüllung zu gehen, wie wichtig sind sie dann doch für die Zukunft unsrer aus den Fugen geratenen Welt!


II. Weshalb muß Jesus Christus wiederkommen?
Aus allem bisher Gesagten geht deutlich hervor, daß Jesus Christus wiederkommen muß, um Sein Werk zu vollenden. Nicht als ob etwas zu der am Kreuz gebrachten Sühne für die Sünden hinzuzufügen bliebe – konnte doch Jesus mit dem Rufe verscheiden: “Es ist vollbracht!“ Aber noch sind nicht alle Absichten Gottes verwirklicht. Er hat Seinen Sohn mit Preis und Ehre gekrönt, darum, daß Er den Tod erlitten, und hat nichts gelassen, das Ihm nicht untertan sei. „Jetzt aber“, fährt der Hebräerbrief fort, „sehen wir noch nicht, daß lhm alles untertan sei.“ Nach der Himmelfahrt wollte der Herr in Seiner Gnade den Menschen und den Völkern eine lange Zeit der Freiheit lassen, in der sie Gelegenheit hätten, das Evangelium anzunehmen. Aber wenn die Zeit der göttlichen Geduld zu Ende ist, wird die Abwicklung Seines Planes ihren Lauf nehmen. Jesus Christus wird erscheinen, um auf den drei folgenden Gebieten Sein Werk zu vollenden:
1. Er wird die Seinen erlösen, Luk. 21,28;

2. Er wird die sündige Welt richten, 2. Thess. 1, 7-8;

3. Er wird Sein ewiges Reich der Gerechtigkeit und des Friedens aufrichten, Dan. 7,13-14.
Würde das zweite Kommen Christi nicht dieses dreifache Ergebnis bewirken, so wären wir wahrlich der Verzweiflung anheimgegeben. Die Gemeinde, die unter den Anläufen des Feindes und der Verfolgung der Welt leidet, würde niemals befreit werden. Die Ungläubigen würden unaufhörlich weitersündigen und Blut vergießen, ohne daß eine Abrechnung ihnen je Halt gebieten würde. Auf Erden würde weiterhin das Böse regieren und zunehmen, ohne jede Aussicht auf eine Ära des Friedens, der Gerechtigkeit und des wahren Glücks. Aber dem Herrn sei Dank, es wird anders kommen! Christus wird bald wiederkommen und den Willen des Vaters auf Erden wie im Himmel zur Vollendung bringen.


III. Aus welchen Gründen bereitet die Botschaft von der Wiederkunft Christi den einen tiefe Freude, den anderen Angst?

Weil sie je nach dem geistlichen Zustand des Hörers wunderbar oder erschrecklich ist.
„Hüter, ist die Nacht schier hin?“ Der Hüter aber sprach:
„Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein.“ Jes. 21, 12.

Jesus Christus wird wiederkommen um –
– der Gemeinde die Herrlichkeit,

– Israel die Wiederherstellung,

– der Welt das Gericht zu bringen.

Es ist daher sehr begreiflich, daß die Menschen Seiner Wiederkunft mit ganz verschiedenen Gefühlen entgegensehen.


1. Die Haltung der Ungläubigen.
Die Menschen, die in ihrem Unglauben und ihrer Unbußfertigkeit beharren, haben nichts Gutes von der Wiederkunft Christi zu erwarten. Sein Erscheinen als ihr Richter wird das Zeichen für eine furchtbare Abrechnung sein. Die Geduld Gottes wird zu Ende sein. Die gottlose und verderbte Kultur, die armselige Wissenschaft, die sonderlich der Vernichtung dient, werden kläglich zusammenbrechen. Unkeuschheit, Lüge und Bosheit werden endlich ihren gerechten Lohn empfangen.

Man versteht, daß die Welt sich nicht gern mit einer solchen Aussicht abgibt. Zur Selbstberuhigung sucht sie der biblischen Lehre von dem unabwendbaren Gericht und der Verdammnis eine völlig andere entgegenzustellen: sie behauptet, der Mensch sei gar nicht gefallen, sondern er stamme vom Affen ab und entwickle sich stetig aufwärts. Dank dem Fortschritt in Technik und Erziehung würde der Wohlstand zunehmen, Kriege aufhören, Glück und Frieden herrschen, und die Erde werde zum Paradiese werden. All das natürlich ohne Gott und einzig dank den Bemühungen des Menschen! Noch vor wenigen Jahren wurden diese Ideen mit einem dreisten Gleichmut gelehrt. Der Kampf auf Leben und Tod, der vor kurzem erst die „zivilisiert” genannten Völker aufeinander hetzte, spricht so laut vom Bankrott der materialisierten Welt, daß diese schöne Selbstsicherheit doch etwas erschüttert worden ist. Aber es gibt keine tauberen Menschen als die, die nicht hören wollen! Die meisten Menschen sind trotz allem überzeugt, daß sich schließlich alles wieder einrenken und daß die Menschheit mit einigen Reformen und guten Friedensverträgen von neuem ihren aufsteigenden Kurs einschlagen wird.

Die Ungläubigen sind sich des unverwischbaren Gegensatzes zwischen ihrem Zukunftsbild und dem biblischen derart bewußt, daß sie die Bibel immerzu mit Spott überschütten (zweifellos, um sich vollends beruhigen zu können). Wir wollen uns aber nicht durch solche stören lassen, die unsre Erwartung der Wiederkunft Christi ins Lächerliche ziehen, sondern der Worte des Petrus gedenken: ,,Und wisset das aufs erste, daß in den letzten Tagen kommen werden Spötter, die nach ihren eigenen Lüsten wandeln und sagen: Wo ist die Verheißung Seiner Zukunft? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Kreatur gewesen ist. Aber aus Mutwillen wollen sie nicht wissen, daß der Himmel vor Zeiten auch war, dazu die Erde aus Wasser und im Wasser bestanden durch Gottes Wort; dennoch ward zu der Zeit die Welt durch dieselben mit der Sintflut verderbt. Also auch der Himmel, der jetzt und ist, und die Erde werden durch Sein Wort gespart, daß sie zum Feuer behalten werden auf den Tag des Gerichts und der Verdammnis der gottlosen Menschen.” 2. Petr. 3, 3-7. Wir werden noch sehen, daß der Herr, wenn Er auch verzieht, nicht weniger gewiß und sogar in Kürze kommen wird. . . .

2. Die Haltung der Juden.
Die Weissagungen schenken dem jüdischen Volk die herrlichsten Verheißungen: Sie verkünden, daß Israel nach langen Leiden nach Palästina zurückgeführt, zum Herrn bekehrt und in wunderbarer Weise wiederhergestellt wird. Die orthodoxen Juden erwarten wohl noch ihren Messias, wollen aber nicht zugeben, daß dieser Jesus Christus selbst ist. Die liberalen Juden hingegen (die zahlreich sind) glauben nicht mehr an die Propheten und sind nur noch der Rasse nach Juden; sie möchten lediglich in einem Land, das ihnen gehört, in Frieden leben. Die Botschaft von der Wiederkunft Christi läßt sie daher gleichgültig. Und doch ist nichts wichtiger und tröstlicher für Israel als die nahe Wiederkunft des Erlösers. Das jüdische Volk hat eine entsetzliche Zeit der Verfolgung durchgemacht. In zahlreichen Ländern wurde es aus geplündert, hingemetzelt oder vertrieben. Diese Leiden werden nach den Propheten so lange anhalten, bis die Juden, nach Palästina zurückgekehrt, ihre Blicke auf Den richten, „Den sie zerstochen haben“, und Ihm endlich als ihrem Messias zu jauchzen. Dann wird Jesus vom Himmel auf den Ölberg herabsteigen und sie endgültig von jeder Unterdrückung befreien. Sach. 12,10; 14,3-4. Suchen wir darum nach Möglichkeit den Israeliten, die wir kennen, die Botschaft von der Wiederkunft Christi nahezubringen, denn für sie ist diese Botschaft mehr als jede andere eine Mahnung zur Bekehrung und eine starkmachende Gewißheit.


3. Die Haltung der religiösen Welt .
Diese Haltung ist je nach der Einstellung des einzelnen sehr verschieden.

a) Gewisse Kreise meinen, wir seien jetzt im Tausendjährigen Reich, wie es die Offb. 20,1-10 beschreibt. Durch Seinen Kreuzestod hat Christus den Satan besiegt und gebunden und regiert seitdem in der Verkörperung der sichtbaren Kirche. Eines Tages kommt wohl das Ende der Welt, das mit dem Endpunkt und dem Übergang in die Ewigkeit zusammenfällt. Aber sie glauben nicht, daß Jesus zu vor kommen soll, um Seine Gemeinde zu Sich zu nehmen und 1000 Jahre mit ihr auf einer neuen Erde zu regieren. Alle diesbezüglichen Verheißungen der Schrift werden vergeistigt und auf die jetzige Zeitperiode bezogen. So bleibt die Lehre von der glorreichen Wiederkunft des Heilands verhüllt, wenn sie nicht gar als gefährlich gilt. Sie ist nicht mehr die lebendige Hoffnung solcher, die vielfach Grund haben, das jüngste Gericht zu fürchten, da ihnen oft die Heilsgewißheit abgeht.
Und doch läßt sich leicht erkennen, daß eine solche Auffassung zu zahlreichen prophetischen Stellen im Widerspruch steht. Wie kann man vor allem glauben, daß Satan 1900 Jahre gebunden liegt und abgehalten ist, die Völker zu verführen (Offb. 20,3), während er uns in der Vergangenheit wie auch jetzt tätiger denn je zu sein scheint. Wenn das wahr wäre , dann wäre die Herrschaft Gottes mehr als eine Täuschung.
b) Andere wieder haben sich von den Theorien der ungläubigen Welt über die Menschheitsentwicklung beeinflussen lassen. Für sie sind die Berichte der Genesis eine Legende und der Sündenfall ein Mythos. Die Menschheit macht immer weitere Fortschritte. Durch die Arbeit der Kirche wird die Welt immer besser. Durch rührige Verbreitung einer vor allem sozialen Religion und guter Moral werden die Gläubigen die Ursachen des Elends überwinden. Selbst Kriege wird es nicht mehr geben, sie werden unmöglich gemacht durch die gegenseitige Fühlungnahme der Kirchen, den Pazifismus und die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Hat der Sauerteig des Evangeliums den ganzen Teig zum Aufgehen gebracht, dann ist die ganze Welt christlich geworden. Durch ihre Frömmigkeit werden die Menschen Christus zum König ihrer Herzen krönen und selbst das Reich Gottes auf Erden aufrichten. Unter diesen Umständen braucht Christus garnicht leibhaftig in Seiner Herrlichkeit wiederzukommen (übrigens glaubt man nicht an Seine Auferstehung). Und die Apostel, Paulus allen voran, haben sich schweren Illusionen hingegeben, als sie glaubten, daß der Herr in Bälde wiederkehren würde. Auch alle, die nach ihnen an die nahe Wiederkunft glaubten, haben sich schwer getäuscht. Man komme doch nicht mit diesem alten Irrtum, nur weil die Lage etwas schlecht ist. Auch diesmal wird alles wieder in Ordnung kommen! Übrigens ist ja Christus an Pfingsten geistlich wiedergekommen. Er kommt auch beim Tode eines jeden Gläubigen, um dessen Seele zu Sich zu holen. Nur so darf man Seine Wiederkunft erwarten.

Es ist offensichtlich, daß eine solche Ansicht der biblischen Offenbarung nicht Rechnung trägt. Wir werden noch Gelegenheit haben, auf mehrere dieser Argumente eine Antwort zu geben.

c) Wieder andere Leute haben eine ganz orthodoxe, aber tote Lehre. Ihre Ansichten sind zwar biblisch begründet, doch haben sie sie im Kopf, ab er nicht im Herzen. Sie glauben an die ganze Bibel und wissen sehr gut, daß Christus wiederkehren wird. Aber wollt ihr ihnen etwas zuliebe tun, bitte ja nicht davon reden! Sind nicht alle, die sich mit den Weissagungen abgeben, Adventisten oder etwas ähnliches? (Genau, wie man alle, die vom Heiligen Geist reden, zu den „Pfingstlern“ rechnet.) Von der Wiederkunft Christi wissen sie nur den einen Satz aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis: „von dannen Er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.“ Und da sie vor dem Gericht Angst haben, finden sie eine solche Lehre eher beunruhigend. O nein, sagt uns ja nicht, daß die Rückkehr des Herrn nahe sein könnte! Gewiß, Er kommt wieder, aber erst in tausend Jahren, vielleicht . . . ! Wäre das nicht wie die Haltung einer jahrelang von ihrem Bräutigam getrennten Braut, die auf die Frage, ob er bald käme, ob die Hochzeit bevorstehe, ausriefe: „Sprecht mir nur nicht davon! Nichts bringt mich mehr in Unruhe! Gewiß, er kommt wieder, ich zweifle nicht an seinem Wort! Aber vor zwanzig, vierzig Jahren kann ich nicht an seine Rückkehr denken. Was würdet ihr von der Liebe und der Treue eines solchen jungen Mädchens denken?

d) Für den Gläubigen ist nichts so wunderbar wie die Aussicht auf die Wiederkunft Christi. An dem Tag wird endlich die sehnlichst erwartete Erlösung kommen! Dann wird nicht Leid noch Sünde mehr sein. Dann werden wir mit den Erlösten aus allen Zeiten und unsern im Glauben entschlafenen Lieben in der Herrlichkeit und der Wonne die Hochzeit des Lammes feiern. Wir werden den König sehen in Seiner Schöne, verwandelt werden in Sein Bild und mit Ihm eingehen in Sein Reich.
Ja, in der verzweifelten Lage unsrer Welt sehen nur die wahrhaft Gläubigen einer trostvollen Zukunft entgegen. Denn wir haben uns bekehrt, „zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu warten Seines Sohns vom Himmel, welchen Er auferweckt hat von den Toten“ 1. Thess. 1 ,9-10. Wir sind „Gäste und Fremdlinge auf Erden“ und warten „auf eine Stadt, die einen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“. Hebr. 11,10.13. Darum bitten wir täglich erneut: „Dein Reich komme“, und sprechen mit dem Geist und der Braut in den Worten auf der letzten Seite der Schrift: „Amen, ja, komm, Herr Jesu!“ Offb. 22,17.20.


IV. Inwiefern ist die Botschaft von der Wiederkunft Christi aktueller denn je?

Trotz aller Gleichgültigkeit und sogar Gegnerschaft, welcher die Botschaft von der Wiederkunft Christi bei den meisten unsrer Zeitgenossen begegnet, halten wir ihre Verkündigung für dringlicher denn je. Ohne Übertreibung könnten wir sagen, daß zu keiner andern Zeit die Erde so verwirrt war wie heute. Nun ist es ganz normal, daß die Gläubigen in den schweren Zeiten, da die schlimmsten Prüfungen über die Menschen kommen, ihre Augen zum Himmel erheben, woher ihr Erlöser kommen soll. Wird der Bankrott dieser Welt zu offenbar, so erinnern sich die Christen an die Weissagungen, die ihnen eine bessere Welt verheißen. So ist periodisch in den dunklen Stunden der Geschichte die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi neu erstanden, die verzagten Herzen zu beleben. Wie sehr haben wir das heute nötig!

Aber mehr noch! Es wird ganz deutlich, daß wir uns rasch dem Ende der Welt nähern. Wir erleben den Zusammenbruch einer Kultur. Die Wissenschaft, die der Menschheit endgültiges Glück sichern sollte, hat sich als mörderisch und ohnmächtig erwiesen. Allerseits fragt man sich, ob wir ins Mittelalter zurückverfallen. Es ist aber wiederum klar, daß bestimmte Weissagungen sich erfüllen. Wie die Bibel vorausgesagt, werden die Kriege nur grauenvoller und weltumfassender. Die antireligiöse Bewegung entwickelt sich mit unerhörter Dreistigkeit. Die Juden kehren nach Palästina zurück. Mit Riesenschritten gehen wir der Weltdiktatur entgegen, die dem Antichristen vorbehalten ist. Man müßte blind sein, um nicht zu erkennen, wie erstaunlich die jetzige Lage dem Bilde der Bibel von der Endzeit gleicht. So ist es nicht verwunderlich , daß allerorts die Eschatologie (das Studium der letzten Dinge) die Geister beschäftigt. Die aufrichtigen Menschen verstehen endlich das Wort Christi: „Ohne Mich könnt ihr nichts tun“, und sie fangen an, nach Seinem Erscheinen als Heiland zu seufzen. Überall entstehen Kommentare über die Weissagungen, und die neuen Bücher über die Offenbarung lassen sich nicht zählen. . . .

V. Vor welchen Klippen müssen wir uns hüten bei unsrer Verkündigung der Wiederkehr Jesu Christi?

Ist je eine Lehre übertrieben und entstellt worden, so ist es wohl diese. Diese Tatsache beweist, nebenbei gesagt, wie sehr der Feind sie fürchtet und in Mißkredit zu bringen sucht (fast so sehr, könnte man sagen, wie die Lehre vom Heiligen Geist). Zu oft hat man das Datum der Wiederkunft Christi zum voraus festsetzen wollen, trotz der ausdrücklichen Worte der Schrift: „Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.“ Mk. 13, 32. . . . Jedesmal wurden solche unvorsichtigen Propheten enttäuscht, aber leider hat das andere nicht abgehalten, es wieder zu tun.

Gewisse Sekten verbreiten die weitere Irrlehre, daß Jesus Christus bereits wiedergekommen sei, 1844 nach den einen, 1914 nach den andern (die „Zeugen Jehovas“, die „Ernsten Bibelforscher“, „Wachtturm“).
Das Tausendjährige Reich hätte bereits begonnen (man würde es wirklich nicht vermuten!), da und dort tauchten Inselchen der neuen Welt auf, und die Anhänger dieser Lehre, die jetzt schon auferweckten 144.000 der Offenbarung, würden niemals den Tod schmecken. Ein Kommentar erübrigt sich.

Andere, sonst in jeder Hinsicht ernste Gläubige, haben sich auf dem Gebiet der Prophetie ungemein phantasievolle Deutungen erlaubt, die weder durch die Tatsachen, noch durch die Schrift gestützt werden. Nichts ist gefährlicher als der Versuch, Texte mit einer vorgefaßten Theorie gewaltsam in Einklang zu bringen. Will man in jedem Satz der Propheten das geringfügigste Ereignis der Gegenwart sehen, so läuft man Gefahr, mindestens alle zehn Jahre seine Deutungen revidieren zu müssen. Bleiben wir doch vor allem nüchtern und streng biblisch! Halten wir uns an die von der Schrift klar gewiesenen, großen Linien, und lassen wir die Anmaßung, alles erklären zu wollen! Gedenken wir der Warnungen der Apostel: Denn wir sind nicht klugen Fabeln gefolgt, da wir euch kundgetan haben die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Christi . . .


VI. Welche Sonderverheißungen gelten denen, welche die Weissagungen beherzigen und auf die Wiederkunft Christi warten?
Die Offenbarung, das große Buch vom Endsieg unsres Heilands, wird von zwei Verheißungen eingerahmt:
„Selig ist, der da liest, und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darinnen geschrieben ist, denn die Zeit ist nahe“. Offb. 1 ,3.
„Siehe, Ich komme bald. Selig ist, der da hält die Worte der Weissagung in diesem Buch!“ Offb. 22,7.

Paulus schreibt an Timotheus: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte Richter, geben wird, nicht mir aber allein, sondern auch allen, die Seine Erscheinung lieb haben.“ 2.Tim. 4,7-8. . . .
In den wenigen obigen Versen heißt also viermal der Herr die selig, die gemäß der Schrift auf Seine Rückkehr warten. Er verheißt, daß die Verständigen im gegebenen Augenblick sogar die bis dahin versiegelten Stellen verstehen werden, und Er bewahrt die Krone der Gerechtigkeit für alle, die Seine Erscheinung liebgehabt haben. Wollen wir in Wirklichkeit zu diesen gehören?

Zweiter Teil

Der Gegenstand der Verheißung


1. Kapitel

Jesus Christus, unsere Hoffnung

Die Welt sieht meist in der Wiederkunft Jesu Christi ein schreckliches Ereignis, das mit den furchtbaren Endgerichten in Verbindung steht. Von ihrem Standpunkt aus haben diese Leute nur zu sehr recht, wie wir gesehen haben. Aber ganz anders steht es bei der Kirche Christi. Für sie gibt es keine freudigere Aussicht als das Kommen ihres himmlischen Bräutigams. Mögen hier einige Texte zeigen, wie sehr diese Hoffnung für die Kinder Gottes zugleich als Trost und als Ansporn wirkt.

I. Der, auf den wir warten
Die wahren Gläubigen erwarten nicht das Ende der Welt, noch die Gerichte, nicht einmal die Entrückung der Gemeinde mit den herrlichen Vorrechten, die sie mit sich bringt. Der Gegenstand ihrer Hoffnung ist der Heiland selbst, Er, den Paulus mit Recht „Jesus Christus, unsere Hoffnung“ nennt. 1. Tim. 1,1. In Ihm haben wir alles vollkommen, denn „in Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“. Kol. 2, 9-10. Nicht seine Gaben sind uns das Wichtige, sondern Sein Leben, Seine Gegenwart, Seine Person. Das Kommen Jesu wird die Antwort auf all unser Sehnen, die Lösung all unserer Probleme sein. Mit Ihm auf ewig vereint werden wir in Sein Bild verwandelt sein. „Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, Sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in der Herrlichkeit“ Kol. 3, 3-4.


II. Die einzige Hoffnung der Gemeinde
Erwarten wir den Sohn Gottes in Person, so gibt es für uns keine andere Hoffnung nebenher: „Ihr seid berufen auf einerlei Hoffnung eurer Berufung.“ Eph. 4 ,4. Wohl ist die Zukunft dunkel, menschlich gesehen. Aber die Gläubigen erwarten die Besserung ihrer Lage oder den Sieg ihrer Sache nicht von menschlichen Anstrengungen. Der gute Wille der Völker, Friedensverträge, politische Gruppierungen, Wissenschaft, Kultur, Moral, Evangelisation der Welt, der Einfluß der Kirchen, irgendein Übermensch, der auftreten und die Massen mit sich reißen könnte – nichts von all dem stellt die Hoffnung der Getreuen dar. Wir haben nur die eine Hoffnung auf Erden: das Kommen des Herrn. . . .


III. Die drei Erscheinungen Jesu Christi

Eine Stelle im Hebräerbrief wirft ein auffallendes Licht auf die Wiederkunft unseres Erlösers:


a) Sein erstes Kommen auf Erden: „Er ist einmal erschienen, um durch Sein Opfer die Sünde aufzuheben.“ 9,26.
b) Sein Erscheinen im Himmel: „Er ist eingegangen in den Himmel selbst, nun zu erscheinen vor dem Angesichte Gottes für uns.“ Vs. 24.


c) Sein zweites Erscheinen auf der Erde: „Christus ist einmal geopfert, wegzunehmen vieler Sünden; zum andern Mal wird Er ohne Sünde erscheinen denen, die auf Ihn warten zur Seligkeit.“ Vs. 28.

Der Verfasser des Hebräerbriefes bezieht sich auf Vorgänge im Alten Bund am großen Versöhnungstag. An dem Tag vollzog der Hohepriester folgende drei Handlungen:



1. Er opferte vor der Stiftshütte das Sühnopfer für das ganze Volk.

2. Er ging hinein in das Allerheiligste, um für die Sünder vor Gott zu erscheinen; er trug mit sich das vergossene Blut als Beweis dafür, daß dem Gesetz Genüge getan war (der Tod ist der Sünde Sold, Röm. 6 ,23) , und daß an Stelle der Schuldigen ein anderes Leben geopfert worden war.

3. Nachdem er die Vergebung für alle Übertretungen erlangt hatte, trat er wieder aus dem Heiligtum heraus, und, auf der Schwelle stehend, hob er die Hände, das Volk zu segnen.

Die vor dem Brandopferaltar versammelte, bußfertige Menge sah mit Zittern den Hohenpriester in die Gegenwart des dreimal heiligen Gottes eintreten, und während seiner Abwesenheit verharrte sie, angstvoll zu Boden gebeugt, im Gebet. Aber wenn er erschien und durch den Segen bezeugte, daß ihnen das Heil erworben war, brach das Volk in Jubelrufe und Lobpreisungen aus.

So sahen auch die Gläubigen den Herrn nach Seinem großen Opfer am Kreuz mit Seinem eigenen Blut in den Himmel selbst eingehen, nachdem Er eine ewige Erlösung erfunden. Hebr. 9, 12. Solange Er abwesend ist, besitzen wir nicht das völlige Heil. Unsere Nöte gehen weiter und leider oft auch unsere Niederlagen, während der Feind einen unbarmherzigen Kampf gegen uns führt. Laßt uns aber Mut fassen: bald werden wir in Lieder der Wonne und der Anbetung ausbrechen, wenn Jesus wieder aus dem himmlischen Heiligtum heraustreten und uns völlig und endgültig erlösen wird!

IV. Die Hoffnung auf das ewige Leben
Da Christus zu unserer Seligkeit wiederkommen wird, kann Paulus wohl sagen, daß wir in der Wartezeit nur in Hoffnung selig werden: „Wir selbst , die wir haben des Geistes Erstlinge, sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unseres Leibes Erlösung. Denn wir sind wohl selig, doch in der Hoffnung.“ Röm. 8,23-24.

Sicher haben die aufrichtig Gläubigen schon hienieden durch den Heiligen Geist die Gewißheit des ewigen Lebens und der Gotteskindschaft. 1. Joh. 5, 13; Röm. 8, 16. Sie wissen, daß schon jetzt nichts Verdammliches ist an denen, die in Christo Jesu sind , und daß nichts sie zu scheiden vermag von der Liebe Gottes. Röm. 8, 1.38-39. Aber was wir hier auch empfangen und erleben dürfen, ist nur ein Angeld auf die ewige Erlösung, eine Erstlingsgabe des Heiligen Geistes, das Pfand unseres himmlischen Erbteils. 2. Kor. 1,21-22; Eph. 1, 13-14. . . .  Eine solche Hoffnung, auf ähnliche Verheißungen gegründet, wird zu einer wunderbaren Gewißheit. Selig sind , die sie besitzen!

V. Die dreifache Äußerung des christlichen Lebens
Paulus schreibt an die Thessalonicher: „Sie verkündigen . . . wie

a) ihr bekehret seid zu Gott von den Abgöttern,

b) zu dienen dem lebendigen und wahren Gott
c) und zu warten Seines Sohnes vom Himmel, welchen Er auferweckt hat von den Toten, Jesum, der uns von dem zukünftigen Zorn erlöst“. 1. Thess. 1,9-10. . . .


VI. Der Anker der Seele

„Die Hoffnung, welche wir haben als einen festen Anker unserer Seele, der auch hineingeht in das Inwendige des Vorhangs, dahin der Vorläufer für uns eingegangen, Jesus . . .“

Jedes Schiff, das nicht fest verankert ist, mag noch so nahe am Ufer sein, vom Sturm gepeitscht, treibt es ab und zerschellt. Wem der feste und sichere Anker der Hoffnung auf die Wiederkehr Christi fehlt, ist jedem Unwetter hienieden ausgeliefert. . . .  Sind wir dagegen bei Gott für die Geduld unserer Hoffnung bekannt, so bleiben wir unerschüttert im Hafen bewahrt.

VII. Die christliche Hoffnung ist das Ergebnis von Glaube und Zeugnis.
„Heiliget aber Gott, den Herrn, in euren Herzen. Seid allezeit bereit zur Verantwortung jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist, und das mit Sanftmütigkeit und Furcht.“ 1. Petr. 3,15. Das Merkmal des Christen, nachdem er Vergebung erlangt hat, ist die lebendige Hoffnung in seinem Herzen. Er schaut nicht auf die Vergangenheit – Gottes Gnade hat sie für ihn ausgelöscht -, sondern auf die Zukunft. . . .

VIII. Auch die Schöpfung hat teil an der Hoffnung der Gläubigen
Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit . . . auf Hoffnung, daß auch sie frei werden wird von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar“. Röm. 8,19-22. Nach dem Sündenfall wurde die Schöpfung der Sünde wegen verflucht. Aber auch sie wird bei der Erscheinung Jesu Christi neugeboren und frei werden. Wenn das ganze Weltall an dem Warten auf Christus teilnimmt, wie könnten wir uns dem entziehen?


IX. Schlußfolgerung
Gibt es aus der Schau all dieser Bibelstellen etwas Köstlicheres als die christliche Hoffnung auf die Wiederkunft des Heilands und die endgültige Erlösung? In der Tat, Jesus selbst ist unsere Hoffnung. Diese Feststellung genügt als Beweis dafür, daß die Rückkehr des Herrn für die Christen nichts Erschreckliches hat. Ganz im Gegenteil! Für sie wird durch diese wunderbare Aussicht die Zukunft in Licht getaucht. Beim ersten Erscheinen Jesu auf Erden ist Er nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten. Luk. 9,56. So wird es auch bei Seiner Rückkehr sein. Vor allem wird Er kommen, die aufrichtigen Menschen zu erretten und ein Reich der Glückseligkeit zu errichten.
 . . .

2. Kapitel



Die siebenfache Schau des Reiches Gottes

Vom Anfang der Bibel bis zum Ende wird uns das Reich Gottes von sieben verschiedenen Blickpunkten gezeigt, und es ist sehr wichtig, diese gut auseinanderzuhalten. Es sind:
1. Das irdische Paradies (der Garten Eden),

2. die Theokratie in Israel,

3. das von den Propheten angekündigte Gottesreich,

4. das beim ersten Kommen Jesu angebotene und abgelehnte Gottesreich,

5. das noch verborgene Reich Gottes in den Herzen,

6. das herrliche Königreich der Tausend Jahre auf Erden,

7. das ewige Reich im Himmel.

I. Das irdische Paradies
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Als Schöpfer aller Dinge ist der Ewige auch deren Besitzer und König. In Seiner Hand hält Er das ganze Weltall, wenn auch Seine väterliche Regierung Seinen Geschöpfen ein erstaunliches Maß an Freiheit läßt. Besonders eindrücklich unterstreichen die Psalmen diese Herrschaft Gottes: „Der Herr ist König immer und ewiglich.“ Ps. 10, 16. . . .
Von Anfang an offenbarte Gott Seinen Willen, Seine Herrschaft auf Erden auszuüben. Der Garten Eden war eine Theokratie (Gottesherrschaft). Der Mensch unterstand unmittelbar der Autorität Gottes. Nur in enger Abhängigkeit von Gott war er geheißen, über die Tiere zu herrschen und sich die Erde untertan zu machen. 1. Mose 1, 28. Durch die Sünde hat sich der Mensch willentlich der Untertänigkeit unter Gott entzogen und sich damit dem Teufel unterstellt. Auf diese Weise ist Satan durch einen Thronraub „der Fürst dieser Welt“ geworden, und so kann er vorgeben, ihm seien „alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit übergeben, um sie dem zu verleihen, welchem er will“. Luk. 4,5-6. Gleich nach dem Sündenfall bewies die Menschheit und weiter vor der Sintflut und beim Turmbau zu Babel, daß sie sich selbst zu regieren und unter der Herrschaft des Feindes zu bleiben gedachte.
So wurde der Idealzustand, den der Herr als erste Offenbarung Seines Reiches für den Menschen gewollt hatte, zerstört. Und fortan werden, die ganze Geschichte hindurch, alle Bemühungen Gottes dahingehen, dieses verlorene Reich wiederherzustellen und auf unzerstörbarer, vollkommener Grundlage neu zu errichten. Wir werden sehen, durch welche Stufen hindurch Er zur völligen Verwirklichung Seines Plans gelangen wird.

II. Die Theokratie in Israel
Da sich die Völker von Gott abkehrten, hat Er sie dahingegeben. In Seiner unfaßbaren Geduld überließ Er ihnen sogar weitgehend die Regierung der Welt. Aber darum hat Er Seinen Plan doch nicht aufgegeben. In Abraham erweckte Er Sich ein neues Volk, das die Wiederherstellung Seiner Autorität hienieden und zugleich das Heil der Welt sichern sollte. Und ganz natürlich baute der Herr dieses Volk, um es glücklich zu machen und zu seiner Aufgabe zu befähigen, als Theokratie auf. So suchte Er Sich bei den Menschen eine Basis zurückzugewinnen, von der etwas später Seine große Offensive gegen das Böse ausgehen könnte. Darum spricht Er zu Israel: „Ich habe euch auf Adlersflügeln getragenn und zu Mir gebracht. Werdet ihr nun Meiner Stimme gehorchen und Meinen Bund halten, so sollt ihr Mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Welt ist Mein; ihr sollt Mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein.“ 2. Mose 19,4-6.
Und als Er von der Niederlassung des Volkes in Palästina redet, fügt Er hinzu: „Ihr sollt das Land nicht verkaufen für immer; denn das Land ist Mein, und ihr seid Fremdlinge und Gäste vor Mir.“ 3. Mose 25,23.
Moses erinnert Israel in den folgenden Worten an die Taten Gottes: „Denn du bist ein heilig Volk dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der Herr erwählet zum Volk des Eigentums, aus allen Völkern, die auf Erden sind.“ 5. Mose 7,6.

. . .  Darum verlangten sie von Samuel, daß er ihnen einen König gebe, der, wie sie meinten, weniger streng und leichter zu beeinflussen wäre, da er ihrer eigenen Fehler teilhaftig sei. Gott sprach zu Samuel: „Sie haben nicht dich, sondern Mich verworfen, daß Ich nicht soll König über sie sein!“ 1. Sam. 8,4-9.
Es ist dem Menschen unmöglich, zwei Herren zugleich zu dienen. Mit dem Augenblick, da Israel einen König begehrte, verwarf es die Oberhoheit Gottes. So geschah es gegen den Willen Gottes und in offener Empörung gegen Ihn, daß die Gottesherrschaft auf Erden und bei Israel ein Ende fand.  . . .


III. Das von den Propheten angekündigte Gottesreich
In dem Augenblick, da die Theokratie verschwand, sorgte Gott für die Ankündigung, daß sie noch viel herrlicher wieder erstehen würde. Es liegt in der Tat etwas Symbolhaftes in dem Auftreten der beiden ersten Könige Israels:
Saul, den der böse Wille des aufständischen Volkes zum König gewählt, setzt sich an Gottes Stelle und bürdet seinen Untertanen ein hartes Joch auf. Er wird seines Ungehorsams wegen verworfen und kommt elendiglich um. Saul ist das Bild der schlechten, vom Volk gewählten Oberhäupter, denen hörig zu sein viel mühseliger ist, als Gott zu dienen.

David ist der König nach dem Herzen Gottes, der Israel von allen seinen Feinden befreit, und dessen Stuhl ewiglich bestehen soll. 1. Sam. 13,14; 2. Sam. 7, 15. Seine Nachkommen werden auf immer über Jerusalem regieren, und durch den glorreichsten unter ihnen, Jesus Christus, wird das Reich Gottes (die frühere Theokratie) endgültig und auf ewig aufgerichtet werden. Ps. 89,21; 30, 36-38.
Von da an verkündigen die Propheten fortgesetzt das Kommen des Königs aller Könige und die Aufrichtung Seines herrlichen Reichs. Wir werden später eine Anzahl Prophezeiungen über das Tausendjährige Reich betrachten. Hier wollen wir nur einige anführen.
Um der Empörung der Menschen ein Ende zu machen, wird der Ewige selbst erscheinen und in der Person Seines Sohnes unter ihnen wohnen.
Dieser soll von einer Jungfrau geboren werden. Jes. 7,14; 9,5; Jer. 23,5-6. Um das Reich Gottes zu ermöglichen, wird der Messias damit beginnen, daß Er durch Sein Opfer die Sünden hinwegnimmt. Jes. 53, 68.12.
Dann wird der Herr den Menschen ein neues Herz schenken und Seinen Geist in sie geben können; dadurch werden sie imstande sein, Seinem Gesetz nachzuleben und Sein Joch zu ertragen (was sie in der früheren Theokratie nie vermochten). Hes. 36,26. Und wenn der Messias den Widerstand der Nationen mit einer eisernen Rute zerschlagen hat, wird Gott Seinen Sohn zum König über Zion und über die ganze Welt salben. Alle Könige werden vor Ihm niederfallen und alle Völker Ihm dienen. Ps. 2, 6-9; 72, 8.11.

Das Reich Gottes wird immerdar währen, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Dan. 2, 44; 7,14-18. Nach tausend Jahren auf der jetzigen Erde wird es in dem neuen Himmel und auf der neuen Erde auf ewig fortbestehen. Jes. 65, 17.22.
Noch keine dieser Weissagungen ist schon erfüllt. Aber wir wissen, daß sie es eines Tages alle sein werden, nach den Worten Jesu selbst: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen . . . Denn Ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe.“ Matth. 5,17-18.

IV. Das beim ersten Kommen Jesu angebotene und abgelehnte Gottesreich
Nach den Aussagen der Propheten stellt sich der Heiland nach den Evangelien von vornherein als der erwartete König dar.

1. Die Geburt des Königs
Die erste Bestätigung im NT über Seine Person besagt, daß Er als der Sohn Davids der Erbberechtigte des Thrones Israels ist. Matth. 1,1. Der Engel spricht zu Maria: „Gott, der Herr, wird Ihm den Stuhl Seines Vaters David geben; und Er wird ein König sein über das Haus Jakob ewiglich, und Seines Königreichs wird kein Ende sein. Luk. 1,32-33. Bald nach Jesu Geburt erscheinen die Weisen in Jerusalem und fragen: „Wo ist der neugeborene König der Juden?“ Ohne Zögern antworten die Schriftgelehrten, daß Christus aus der Königsstadt Bethlehem, der Heimat Davids, kommen sollte. Matth. 2, 4-6.

2. Das Angebot des Königreichs
Johannes, der Täufer, erscheint wie die Herolde, die den Fürsten vorausgehen, und ruft: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ Matth. 3, 2. Auch Jesus Christus beginnt Seinen Dienst mit demselben Ruf an Sein Volk: „Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbei gekommen!“ Matth. 4, 17. Und dann verkündigt Er mit der wunderbaren Bergpredigt das Grundgesetz Seines Reiches. Matth. 5-7.
Durch den Heiligen Geist tut der Herr Wunder und treibt Teufel aus und beweist so Seine Vollmacht. So kann Er zu den Juden sagen: „Das Reich Gottes ist zu euch gekommen.“ Matth. 12,28. Dasselbe läßt Er in ganz Palästina durch die 70 Jünger wiederholen, die Er aussendet, um dem Volk zu verkünden: „Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen.“ Luk. 10,9.
Aber die Juden versteifen sich in ihrem Hochmut, und ihr Herz verhärtet sich von Tag zu Tag mehr. Von den Weissagungen hatten sie nur die eine vom siegreichen Messias im Gedächtnis behalten, der kommen und mit Israel alle Völker beherrschen sollte. Sogar solche, die an Christus glaubten, waren von der Erwartung Seines sichtbaren Triumphs beherrscht. Die Emmausjünger sagen in bitterer Enttäuschung: „Wir aber hofften, Er sollte Israel erlösen. Und über das alles ist heute der dritte Tag, daß solches geschehen ist.“ Da erklärt ihnen Jesus, wie gerade nach den Propheten Sein Leiden Seiner Herrlichkeit und Seiner Herrschaft vorausgehen mußte. Luk. 24, 21. 25-27.

Und bis an den Tag der Himmelfahrt fragen die versammelten Apostel: „Herr, wirst Du auf diese Zeit wieder aufrichten das Reich Israel?“ Apg. 1, 6. Gerne hätten die Juden Christo zugejubelt, wenn Er sie vom römischen Joch befreit und mit Ruhm bedeckt hätte. Einmal, bei Mehrung des Brots, hatten sie geglaubt, ihr Traum ginge in Erfüllung, und hatten Ihn ergreifen wollen, um Ihn zum König zu machen. Da Er aber ihre fleischlichen Beweggründe und ihr unbußfertiges Herz erkannte, entwich Er ihnen allein auf den Berg. Joh. 6, 15. Ein anderes Mal fragten die Pharisäer Jesus: „Wann kommt das Reich Gottes?“
Er antwortete ihnen: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier oder da ist es. Denn seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Luk. 17, 20-21. Solange sich Jesus in Seiner Erniedrigung dem Volke darbot, war das Reich Gottes tatsächlich in Reichweite der Juden. Das hindert Jesus aber durchaus nicht, in den folgenden Versen von diesem Reich zu sagen, daß es bald allen Augen sichtbar würde:
„Denn wieder Blitz oben vom Himmel blitzt und leuchtet über alles, was unter dem Himmel ist, also wird des Menschen Sohn an Seinem Tage sein.“ Luk. 17, 24. Und wenig später: „Auch der Himmel Kräfte werden sich bewegen. Und alsdann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen in der Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit“ Luk. 21, 26-27.

Trotz der sichtlichen Herzensverhärtung der Juden wollte ihnen Jesus ein letztes Mal das Reich anbieten. Am Palmsonntag zog Er voll Demut und Sanftmut auf einem Esel in Jerusalem ein. Matth. 21, 4-5. In einem Augenblick der Begeisterung brach die Menge in den Ruf aus: „Hosianna dem Sohne Davids!“ „Gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt.“ Matth. 21, 9; Mk. 11, 10. Aber der Herr gab sich keiner Illusion hin. Am selben Tag, beim Einzug in die Stadt, weinte Er über sie und sprach: „Wenn doch auch du erkennetest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dienet! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen . . . Deine Feinde . . . werden keinen Stein auf dem andern lassen, darum, daß du nicht erkannt hast die Zeit, darin du heimgesucht bist.“ Luk. 19, 41-44.

3. Die Ablehnung des Reiches
Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden ist ein treffendes Bild dafür, wie Israel das Angebot des Reiches angenommen hat. Jesus erzählte dieses Gleichnis, weil Er nahe bei Jerusalem war, und man glaubte, das Reich würde in Bälde in Erscheinung treten. „Ein Mann von vornehmer Abkunft reiste in ein fernes Land, um für sich dort eine Königskrone zu gewinnen . . . Seine Mitbürger aber haßten ihn und schickten eine Gesandtschaft hinter ihm her, durch die sie sagen ließen: Wir wollen diesen Mann nicht zum König über uns haben.“ Luk. 19, 11-14.
Jesus ist tatsächlich, weil Er König war, abgelehnt und gekreuzigt worden. Als solcher wurde Er von Pilatus gerichtet. Der Statthalter fragte Ihn: „Bist Du der Juden König? . . . so bist Du dennoch ein König?“ Jesus antwortete: „Du sagst es. Ich bin ein König.“ Später schrieen die Juden aber und sprachen: „Läßt du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum Könige macht, der ist wider den Kaiser!“ (Mit diesem Argument brachen die Juden den Widerstand des Statthalters und erreichten den Tod Christi.) „ . . . Spricht Pilatus zu ihnen: Soll ich euern König kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König, denn den Kaiser. Da überantwortete er Ihn, daß Er gekreuzigt würde.“ Joh. 18, 33; 19,16.

Die Ablehnung der Königsherrschaft Jesu trat ebenso in Seinen Martern zutage, wie in Seiner Verurteilung. Die Kriegsknechte flochten eine Krone von Dornen, setzten sie auf Sein Haupt und legten Ihm ein Purpurkleid an und sprachen: “Sei gegrüßet, lieber Judenkönig!“ Joh. 19, 2-3. „Sie gaben Ihm ein Rohr in die rechte Hand“, um ein Zepter darzustellen. Matth. 27, 29. „Pilatus aber schrieb eine Überschrift und setzte sie auf das Kreuz, und war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König . . . Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: der Juden König, sondern daß Er gesagt habe: Ich bin der Juden König. Pilatus aber antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ Joh. 19, 19. 21-22.

Nach alldem hatten die Juden nur noch das furchtbare Gericht Gottes zu erwarten. Bald entlud es sich über ihnen, nach den Worten des Herrn in dem Gleichnis: „Doch jene Meine Feinde, die nicht wollten, daß Ich über sie herrschen sollte, bringet her und erwürget sie vor Mir!“ Luk. 19,27. Im Jahre 70 kamen die Römer, zerstörten Jerusalem, metzelten einen großen Teil der Bevölkerung nieder und zerstreuten den Rest über die ganze Welt. Jesus Christus hatte alles, was geschehen sollte, vorausgewußt und darum in tiefem Ernst erklärt: „Jerusalem,
Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe Ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus soll euch wüst gelassen werden. Denn Ich sage euch: Ihr werdet Mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Matth. 23,37-39. Bis sich die Juden am Ende der Tage zum Herrn bekehren, wird ihnen demnach das Reich Gottes entzogen, um in neuer Gestalt den Heiden gegeben zu werden.

V. Das in den Herzen verborgene Reich Gottes
Infolge der Ablehnung des Königs tritt das sichtbare und herrliche Reich vorerst zurück. Christus ist gegangen, Sich mit der Königswürde bekleiden zu lassen. Luk. 19,12. Während Seiner Abwesenheit läuft die Aera der Kirche, die Jesus selbst ein Geheimnis nennt. Als Er Seinen Jüngern die Gleichnisse erzählt – auf die wir später eingehen -, sagt Er ihnen: „Euch ist ‘s gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmelreichs erkennt.“ Matth. 13,11. Das kommende Reich der Herrlichkeit war für die Juden kein Geheimnis, es war ja durch die Propheten klar angekündigt worden. Aber die gegenwärtige Zwischenperiode mit ihren beängstigenden Formen mußte zum Gegenstand einer besonderen Offenbarung werden. Die Jünger mußten lernen, daß die Gemeinde, der Leib Christi, lange innerhalb einer dem Anschein nach evangelisierten Christenheit und einer dem Wesen nach mehr denn je heidnischen Welt verborgen sein sollte, und zwar bis zur Wiederkunft des Herrn, der eine neue und glorreiche Phase Seines Königreichs einleiten würde. Betrachten wir nun die Hauptmerkmale der gegenwärtigen Periode:

1. Sofort nach der Kreuzigung offenbart sich das Reich Gottes an Pfingsten mit Macht in einer neuen Gestalt
Es gibt keine Lücke in der Durchführung von Gottes Plan. Seine ewigen Ziele werden niemals wirklich vereitelt. Die Kreuzigung Jesu, scheinbar eine Niederlage, ist in Wirklichkeit ein Triumph. Israel und das irdische Reich sind allerdings, wie gesagt, eine Zeitlang beiseite gestellt. Nun aber die Sünden gesühnt sind und der Heilige Geist herabgekommen ist, kann Jesus Christus Sein Reich in den Herzen der Gläubigen errichten. In diesem Sinn hatte Er vor Seinem Tode gesagt: Wahrlich, Ich sage euch: „Es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in Seinem Reich. . . bis daß sie sehen das Reich Gottes mit Kraft kommen“. Matth. 16,28. Auch als Er Seine Jünger aussandte, das Land zu evangelisieren, hatte Er ihnen gesagt: „Wahrlich, Ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis des Menschen Sohn kommt.“ Matth. 10,23. (Dieser Vers hat wahrscheinlich noch die weitere Bedeutung, daß die Evangelisation Israels erst bei der glorreichen Wiederkunft Christi vollendet werden wird.) Seit Pfingsten ist die Kirche Christi gegründet, werden Seelen zu Tausenden gewonnen, vermehren sich die Gemeinden, erschließt sich ein Land nach dem andern dem Evangelium.

2. Während dieser neuen Gnadenzeit (Dispensation) ist das Reich Gottes ein geistliches
Christus ist geistlich und noch nicht leibhaftig darin gegenwärtig, Darum geschieht alles darin auf der geistlichen, der himmlischen Ebene. In diesem Sinne konnte Jesus zu Pilatus sagen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre Mein Reich von dieser Welt, Meine Diener würden darum kämpfen, daß Ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist Mein Reich nicht von dannen.“ Joh. 18,36. Da die Juden ihren König verstoßen haben, wird Jesus Christus nicht in dieser aufrührerischen Welt und nicht mit irdischen Mitteln Sein Reich errichten. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß Er, nachdem Er durch Seinen Geist in den Herzen der Gläubigen geherrscht, am Ende dieser jetzigen Welt aus dem Himmel wiederkehren und Sein Reich der Herrlichkeit auf Erden gründen wird.
Bis dahin können wir nur durch die Wiedergeburt das Reich Gottes sehen (mit dem geistlichen Auge) und hineinkommen. Joh. 3,3. 5. Jesus spricht: „Wahrlich, Ich sage euch : Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Matth. 18,3. . . . „Danksaget dem Vater, der uns versetzt hat in das Reich Seines lieben Sohnes.” Kol. 1, 12. . . . Und Jesus sagte schon: „Sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ Luk. 17,21.
Dieser rein geistliche Charakter des Reiches Gottes im gegenwärtigen Zeitabschnitt muß kräftig betont werden. Zu oft haben religiös gesinnte Menschen die Zeit, da Christus durch Seine Wiederkunft mit Vollmacht und sichtbar Sein Reich hienieden aufrichten wird, vorauszunehmen gesucht. Durch Feuer und Schwert suchten sie, den Unglauben und die „Ketzerei“ auszurotten. Mit weltlichen und fleischlichen Mitteln, z. B. durch Verbindung Thron und Altar, von der zeitlichen Macht und den Reichtümern der Geistlichkeit, wollte man die Autorität der Kirche befestigen. Andere, die uns zeitlich näher stehen, glaubten, durch die Verquickung mit der Politik die Sache Gottes zu fördern. Alle diese verkehrten Auffassungen haben zu Katastrophen geführt; denn das Reich ist nicht von dieser jetzigen Welt.


3. Während das Reich Gottes in den Herzen verborgen bleibt, ist die Welt eine traurige Mischung von gut und böse
Die Gottesherrschaft ist auf der Erde noch nicht wiederhergestellt. Wir haben die Zeit der Langmut Gottes, die dem Menschen den freien Gebrauch seines Willens läßt. Sind auch alle berufen, so sind doch wenige auserwählt, da die Wahrheit den breiten, bequemen Weg vorzieht, der zur Verdammnis führt. Die sog. Gleichnisse vom Reich Gottes in Matth. 13 geben ein treffendes Bild von der heutigen Welt.

a) Das Gleichnis vom Sämann. Matth. 13,4-9; 18-23. In diesem wohlbekannten Gleichnis wird das Evangelium das „Wort vom Reich“ genannt, das in die Welt ausgestreut wird, Vs. 19. Aus Mangel an einem gut vorbereiteten Boden geht der größte Teil des göttlichen Samens verloren (je drei aus vier Körnern). Der Teufel ist eifrig am Werk und verhindert die verhärteten Herzen, das Gehörte zu bewahren. Während das Evangelium gepredigt wird, gibt es Trübsal, Verfolgung und Niederlagen auf der Erde, die Menschen lassen sich hingegen von der Sorge dieser Welt und dem Betrug des Reichtums einfangen, Vs. 21. Nur eine kleine Minderheit hört auf den Ruf Christi, und noch dazu mit sehr unterschiedlicher Treue, Vs. 23. Ist das nicht das genaue Bild unserer Zeit? Ganz anders wird das sein, wenn Jesus Sein Reich der Herrlichkeit hienieden aufrichten wird. Dann ist Satan gebunden, Offb. 20,2-3. Ganz Israel wird gerettet werden, Röm. 11,26, und „alle übrigen unter den Heiden . . . werden jährlich heraufkommen (nach Jerusalem), anzubeten den König, den Herrn Zebaoth“, Sach.14,16. Der zertretene, steinige oder dornige Boden wird ausgeschieden oder urbar gemacht sein.


b) Das Gleichnis vom Unkraut gibt eine wunderbare Übersicht über die Hauptmerkmale der jetzigen Zeitperiode, Matth. 13, 24 bis 30
.

1. Jesus Christus besät die Welt; denn Er möchte alle Menschen retten, Vs. 37-38.
2. Der gute Same, den Er überall setzt, sind Seine wahren Jünger… In jedem Land, in jedem Kreis erweckt Er Seine treuen Jünger.

3. Der Teufel bleibt nicht untätig. Er nutzt den Schlaf der Gläubigen aus, um das verderbliche Unkraut zwischen sie zu streuen und das Werk des Herrn zu hemmen, Vs. 25. 38-39.

4. Das Unkraut sind „die Kinder der Bosheit“, die bis zur Wiederkunft Christi groß an Zahl auf Erden sein werden. Besonders beunruhigend ist es, daß der Feind, um das Werk Gottes zu zerstören, sie mit Vorliebe zwischen die Gläubigen setzt. Beginnt das Unkraut zu sprießen, sieht es dem Weizen erstaunlich ähnlich; und die Wurzeln der beiden Pflanzen sind so verflochten, daß man keine herausreißen könnte, ohne die andere zu entwurzeln. Man wird sie daher bis zur Ernte miteinander wachsen lassen. Die religiöse Welt bietet tatsächlich diese verwirrende Mischung: In der sogenannten Christenheit stehen die falschen Gläubigen oft Seite an Seite mit den wahren, zum größten Ärgernis der aufrichtigen Seelen, wie auch der Ungläubigen. Das darf uns gewiß bekümmern, aber nicht befremden, denn so wird es sein, bis mit Gottes Geduld auch die Welt ein Ende nimmt.

5. Vergessen wir jedoch nicht, daß der Acker, auf dem der Herr das Unkraut duldet, die Welt ist (sogar die religiöse), aber nicht die wahre Kirche, Vs. 38. Zuweilen stützt man sich auf dieses Gleichnis, um zu behaupten, man könne unmöglich gegen Untreue und Ärgernis vorgehen, „da das Unkraut ja bis zum Ende mit dem Weizen vermengt sein werde“. Man müßte also die Kirchen und die Reichsgottesarbeit so lassen, wie sie seien, um nicht empfindsame Seelen noch mehr zu beunruhigen, das hieße sonst den Weizen entwurzeln! Nichts wäre falscher als das, da im Gegenteil Jesus Christus und Seine Apostel eine strenge Zucht innerhalb der Gemeinde fordern. „Sündigt aber dein Bruder an dir, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm allein . . . Hört er dich nicht, so nimm noch einen oder zwei zu dir . . . Hört er die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er die Gemeinde nicht, so halte ihn als einen Heiden und Zöllner“. . . .

6. Den jetzigen Zeitlauf wird eine ungeheure Katastrophe beschließen, die der Herr das Ende der Welt nennt, Matth. 13,39-42. Christus wird kommen und alle, die da Böses tun, aus Seinem Reiche herausziehen: Er wird sie in den feurigen Ofen werfen, wo „Heulen und Zähneklappen“ sein wird. Unsere sündige Welt geht also nicht einer Vergöttlichung, sondern einem furchtbaren Gericht entgegen.

7. Auf das in den Herzen verborgene Gottesreich, das auf der Erde zur Zeit eine solch beängstigende Mischung von gut und böse beläßt, wird das Reich der Heiligkeit und Herrlichkeit folgen. „Dann werden die Gerechten leuchten, wie die Sonne in ihres Vaters Reich“, und der Weizen wird in Seine Scheuer gesammelt, Vs. 43.30. Diese Gnadenzeit ist also nur vor übergehend und nicht das letzte Wort Gottes auf der Erde. Bald wird Er kommen und mit Ihm eine furchtbare Vergeltung.

c) Das Gleichnis vom Sauerteig. „Das Himmelreich ist einem Sauerteig gleich, den ein Weib nahm und vermengte ihn unter drei Scheffel Mehl, bis daß es ganz durchsäuert ward“, Matth. 13,33.
Manche haben in diesem Gleichnis ein Bild vom alles durch dringenden Einfluß des Evangeliums sehen wollen, das manchmal auf verborgene Weise in jeden Kreis, in jedes Land seinen Weg findet; bis zu den Enden der Erde. Wie Paulus sagt: „Das Evangelium ist zu euch gekommen, wie auch in alle Welt, und ist fruchtbar, wie auch in euch“, Kol. 1 ,6.
Eine solche Auslegung würde förmlich den Gleichnissen vom Unkraut und vom Netz im Meer widersprechen. Im Gegenteil! „Bis daß es ganz durchsäuert ward, kann leider das bedeuten, daß gerade der verderbliche Einfluß des schädlichen Sauerteigs zuletzt den Sieg in der sogenannten Christenheit, in der Welt um uns her, davontragen wird. An anderer Stelle, da Er von der Endzeit redet, sagt uns Jesus ausdrücklich: ,,Ihr müsset gehaßt werden um Meines Namens willen von allen Völkern . . . Und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhand nehmen, wird die Liebe in vielen erkalten“, Matth. 24,9. „Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, daß Er auch werde Glauben finden auf Erden?“ Luk. 18,8. . . . Diese Warnrufe allein können auch uns davor bewahren, den Glauben zu verlieren, wenn wir sehen, wie das in den Herzen der Gläubigen seit 1900 Jahren verborgene Reich die Welt am Versinken in den Abgrund nicht hindert. Es ist uns aber gesagt worden: wenn der Sauerteig der Sünde sich voll ausgewirkt hat, werden das Gericht Gottes und mit ihm unsere Erlösung nahe sein.

d) Das Gleichnis vom Netz im Meer.
„Abermals ist gleich das Himmelreich einem Netze, das ins Meer geworfen wird, damit man allerlei Gattung Fische fängt. Wenn es aber voll ist, so ziehen sie es heraus an das Ufer, sitzen und lesen die guten in ein Gefäß zusammen, aber die faulen werfen sie weg. Also wird es auch am Ende der Welt gehen; die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden . . .“ Matth. 13,47-50. Hier wieder legt dieses Gleichnis den Nachdruck auf die beiden Hauptgedanken, die wir bei den vorigen betont haben: im gegenwärtigen Gottesreich sind gut und böse vermischt, und, nach dieser Periode findet die große Scheidung statt und zugleich das Gericht über die Ungerechten. Es ist ja klar, daß ein solch entzweites Reich niemals Christi Reich der Herrlichkeit sein könnte, das die Propheten verkündet haben. Für die Welt bedeutet es auch nichts Wertvolleres als die früheren Epochen, nach den Geschehnissen unserer Tage zu urteilen. Im Gegenteil! Glücklicherweise bleibt das Reich Gottes für unsere arme Erde nicht immer verhüllt, wie es jetzt ist!

4. Von der Art unserer Annahme des verborgenen Reiches wird unser Schicksal im zukünftigen Reich der Herrlichkeit abhängen.
Die vier oben angeführten Gleichnisse müßten uns zu ernstem Nachdenken führen. Um ohne Angst der Zukunft entgegensehen zu können, müssen wir wissen, was wir sein wollen:
Ein unfruchtbarer Boden oder ein gutes Land?

Unkraut oder guter Same? 
Sauerteig oder Süßteig ?
Unter den faulen oder den guten Fischen im Netz ?
Haben wir diese wichtigste Frage gelöst?

Wer hier zum Unkraut gehört, wird beim Erscheinen des Königs verbrannt werden. Er wird in den Feuerofen geworfen werden, wo Heulen und Zähneklappen sein werden. Die Gerechten hingegen werden in die Scheuer Gottes gesammelt und werden leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich, Matth. 13,30. 41-43. Die Guten werden als kostbar bewahrt werden, während die Bösen in die Verdammnis geworfen werden, Vs. 48-50. Wollen wir daher bald in Christi Reich der Herrlichkeit eingehen, so laßt uns Ihn von nun an als den alleinigen König unseres Herzens krönen!


VI. Das herrliche Reich, das tausend Jahre lang auf Erden bestehen wird
Das in den Herzen verborgene Reich kann nicht ewig fortdauern. Der König selbst ist abwesend, und Sein Wille geschieht nicht auf Erden wie im Himmel. Seine Kirche leidet und seufzt nach Seiner Rückkehr. Die aufständische Welt versinkt in Schlamm und Blut. Die Verheißungen der Schrift sind noch nicht erfüllt. Darum wird Jesus in Seiner Herrlichkeit wiederkehren und tausend Jahre im Frieden und mit Gerechtigkeit auf der Erde regieren. (Bei unserer Behandlung des Tausendjährigen Reichs werden wir ausführlich auf diesen Gegenstand zurück kommen.)

VII. Das ewige Reich im Himmel
Das irdische Königreich, so herrlich es auch sein mag, kann nicht hat von ewiger Dauer sein. Die Erde ist von zu viel Verbrechen besudelt, so muß sie verschwinden. Wohl wird die Menschheit im Tausendjährigen Reich glücklich und dem König der Könige untertan sein, und doch werden in ihrer Mitte Menschen sein, die noch einen letzten Versuch zur Empörung gegen den Herrn unternehmen werden, Offb . 20,7-9. Darum muß das Reich Gottes an einem an deren Ort und in vollkommener, endgültiger Form errichtet werden.
„ … darnach das Ende, wenn Er das Reich Gott und dem Vater überantworten wird, wenn Er aufheben wird alle Herrschaft und alle Obrigkeit und Gewalt. Er muß aber herrschen, bis daß Er alle Seine Feinde unter Seine Füße lege . . . Wenn aber alles Ihm untertan sein wird, alsdann wird auch der Sohn selbst untertan sein Dem, der Ihm alles untergetan hat, auf daß Gott sei alles in allen“ 1. Kor. 15, 24-26. 28.
Dann wird Gott alles neu machen und die Seinen in das himmlische Jerusalem versetzen, wo der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz noch Sünde, Offb. 21, 1-5. Und dieses Reich wird nicht tausend Jahre währen, sondern in alle Ewigkeit. „Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergeht, und Sein Königreich hat kein Ende. . . Des Reich ewig ist“ Dan. 7,14.27. „Seine Knechte werden Ihm dienen und sehen Sein Angesicht . . . und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit“, Offb. 22,3-5. Freuen wir uns darum, nicht nur über die tausend Jahre der Herrlichkeit, die der Herr für uns hienieden bereit hält, sondern vor allem über die Ewigkeit einer unaussprechlichen Seligkeit, die unser in Seiner Gegenwart wartet. Laßt uns alles tun, was an uns liegt, um ihrer teilhaftig zu werden!
„Darum, liebe Brüder, tut desto mehr Fleiß, euren Beruf und Erwählung festzumachen; denn wo ihr solches tut, werdet ihr nicht straucheln. Und also wird euch reichlich dargereicht werden der Eingang zu dem ewigen Reich unseres Herrn und Heilands Jesu Christi“, 2. Petr. 1, 10-11.

DRITTER TEIL

DER ZEITPUNKT DER WIEDERKUNFT CHRISTI

1. Kapitel

Wann wird Jesus Christus wiederkommen
Zu allen Zeiten wollten die Gläubigen. Bei den Jüngern angefangen, gern den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi wissen. In der Tat fragten diese Jesus einmal: „Sage uns, wann wird das geschehen? Und was wird das Zeichen sein Deiner Ankunft und des Endes der Welt?“ Matth. 24,3
Als Jesus im Begriff war, von den Elfen zu gehen, sagte Er: „Ihr aber sollt mit dem Heiligen Geist getauft werden nicht lange nach diesen Tagen.“ Die aber so zusammengekommen waren, fragten Ihn und sprachen: „Herr, wirst Du auf diese Zeit wieder aufrichten das Reich Israel?. Apg. 1, 5. Im Laufe der Jahrhunderte hat die Kirche der treuen den Horizont abgesucht, um zu sehen, ob ihr himmlischer Bräutigam nicht bald käme, um sie zu holen Und heute mehr denn je sprechen wir unter Seufzen: „Herr, wie lange noch?“
Auf diese natürliche Frage antwortet der Herr auf weise, mannigfache Art:

I. Niemand weiß Zeit noch Stunde
„Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater“. Mak. 13, 32. (Wir glauben, daß der Sohn, als Er Mensch war, so sprechgen konnte, daß Ihm aber nun in der Herrlichkeit kein Geheimnis Seines vaters verborgen bleicht.) Auf jeden Fall ist Jesus in Bezug darauf, was die Menschen angeht, völlig sachlich. Er sagt uns: „Darum wache euert, denn ihr wisset nicht, welche Stunde euer Herr kommen wird. Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausvater wüßte, welche Stunde der Dieb kommen wollte, so würde er ja wachen und nicht in sein Haus brechen lassen. Darum seid ihr auch bereit; denn des Menschen
 Sohn wird kommen zu einer Stunde, da ihr ‘s nicht meint.“ Matth. 24, 42-44.
„So du nicht wirst wachen, werde Ich über dich kommen wie ein Dieb, und wirst nicht wissen, welche Stunde Ich über dich kommen werde“ Offb. 3,3.
Suchen wir daher nicht zu erraten, was der Herr uns geheimhalten wollte! Denken wir an Seine Antwort auf die Frage der Jünger: „Es gebührt euch nicht zu wissen Zeit oder Stunde, welche der Vater Seiner Macht vorbehalten hat.“ Apg. 1,7. Gott hat gute Gründe, den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi geheimzuhalten. Hätte Er den ersten
Jüngern gesagt: „Es vergehen mindestens 19 Jahrhunderte bis zu diesem großen Ereignis“, was wäre dann geschehen? In dem Gedanken, noch so lange warten zu müssen, wäre die Kirche Christi sicher noch rascher
eingeschlafen, als sie es wirklich tat. Wir haben eine solche Neigung zur Trägheit und Schlaffheit, daß wir immer in Atem gehalten werden müssen. Würde man den Menschen von heute sagen: „Jesus Christus kommt erst in 10 oder 50 Jahren wieder“, so würden die meisten ausrufen: „Dann haben wir noch lange Zeit, Buße zu tun! Da wir die Zeit im voraus wissen, können wir uns in der letzten Minute darauf vorbereiten“. Ja, sagte man sogar den Christen, daß dies Ereignis erst in sechs Monaten stattfinden sollte, würden sie sich fünfeinhalb Monate lang von der Pflicht zu wachen entbunden fühlen. Wer aber nicht mehr wacht, ist praktisch der Versuchung bereits erlegen.
Wenn uns also der Herr die Stunde Seiner Wiederkunft vorenthalten hat, so will Er, daß wir immer darauf vorbereitet seien. Selig die Knechte, die der Herr, wenn Er kommt, wachend findet! Darum wachet, denn ihr wisset weder Tag noch Stunde!

II. Lasset euch niemand verführen in keinerlei Weise!
Gott braucht nur etwas zu verbieten, so sinnen der Teufel und die Menschen, wie sie es trotz dem tun können. Im Garten E den war unseren ersten Eltern alles gestattet, nur nicht die verbotene Frucht zu essen, und gerade danach gelüstete es sie. Über die Wiederkunft Christi hat uns Gott alles Wesentliche geoffenbart, nur deren Zeitpunkt nicht.
Aber gerade diesen möchten viele Menschen und Sekten um je den Preis bestimmen. So manches Mal hat man den ersehnten Zeitpunkt festgelegt. Es wurde z.B. behauptet, Jesus käme im Jahre 1844, 1934, dreieinhalb Jahre nach Ausbruch des Krieges von 1939, usw. Manche behaupten sogar, Christus sei 1914 wiedergekommen, und das Tausendjährige Reich habe damals begonnen (wer könnte das vermuten?).
Ist es nicht merkwürdig, daß der Feind die Christen immer wieder dazu treibt, entweder einen Zeitpunkt für die Wiederkunft Christi festzulegen, so daß sie, bald enttäuscht, überhaupt daran zweifeln, oder auch dieses Ereignis in eine so ferne Zukunft hinauszuschieben, daß sie schließlich gar nicht mehr daran denken
Der Herr selbst hat diese immer mehr zunehmen den Mißbräuche und Fallstricke vorausgesehen. Wiederholt hat Er uns davor gewarnt: „Sehet zu, lasset euch nicht verführen! Denn viele werden kommen in Meinem
Namen und sagen, ich sei es, und: die Zeit ist herbeigekommen. Folget ihnen nicht nach!“ Luk. 21,8.
Und Paulus fügt hinzu: „Aber der Zukunft halben unseres Herrn Jesu Christi und unserer Versammlung zu Ihm bitten wir euch, liebe Brüder, daß ihre euch nicht bald bewegen lasset von eurem Sinn noch erschrecken, weder durch Geist, noch durch Wort, noch durch Brief, als von uns gesandt, daß der Tag Christi vorhanden sei. Lasset euch niemand verführen in keinerlei Weise; denn Er kommt nicht, es sei denn, daß zuvor der Abfall komme und offenbart werde der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens ( der Antichrist)“, 2. Thess. 2,1-3.
Seien wir daher fest entschlossen, allein auf dem Boden der Schrift zu bleiben! Und wir wollen demütig und gehorsam genug sein, um uns an die Offenbarungen der Bibel zu halten; sie sind ganz und gar vollständig und ausreichend.

III. Der Meister verzieht zu kommen
Es ist offenbar, daß Gott allein die genaue Stunde der Wiederkunft Jesu Christi kennt. Und doch enthüllt die Schrift jedem aufmerksamen Leser, daß eine ziemlich lange Zeit zwischen dem Weggang und der Rückkehr unseres Heilands vergehen wird. Zunächst waren den Jüngern verschiedene Tatsachen mitgeteilt worden, die vor dem Kommen Christi in Herrlichkeit in Erfüllung gehen sollten: Der Heilige Geist sollte an Pfingsten ausgegossen werden und der Gemeinde die Offenbarungen des NT aufschließen, Joh. 16, 7.13. Petrus sollte den Märtyrertod erleiden; so konnte der Herr nicht zu Lebzeiten Seines Apostels erwartet werden, Joh. 21,18. Vor dem Ende sollte das Evangelium allen Völkern gepredigt werden und sollte der Antichrist mitten im Abfall auftreten, Matth. 24,14; 2. Thess. 2, 3.
Die ersten Jünger hätten also von vornherein verstehen können, daß eine gewisse Frist vor der Wiederkunft des Herrn vergehen würde. Aber wir wissen noch mehr. . . . Aber „da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; gehet aus, ihm entgegen!“ Matth. 25,5-6.
Im Gleichnis von den Pfunden zog der Meister weg, nachdem er jedem seiner Knechte eine gewisse Summe anvertraut hatte. „Über eine lange Zeit kam der Herr dieser Knechte und hielt Rechenschaft mit ihnen“, Matth. 25,19. . . . „In den letzten Tagen werden Spötter kommen, die nach ihren eigenen Lüsten wandeln und sagen: Wo ist die Verheißung Seiner Zukunft? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Kreatur an gewesen ist“, 2. Petr. 3,3-4.

Genau das geschieht heute! Weil Jahrhunderte verstrichen sind und man in der Erwartung der Wiederkunft Christi öfter getäuscht wurde, werden diejenigen verspottet, die noch hoffen. „Ihr seht doch“, heißt es, „daß Gott die Erde vergessen hat, und daß Christus nicht wiederkommt.“ In Wirklichkeit aber liegt die Ursache für dieses Hinhalten der Erwartung in Gottes Verlangen, allen Menschen die Möglichkeit zur Errettung zu geben. Die Endereignisse werden sich erst abspielen, wenn „die Fülle der Heiden eingegangen ist“, Röm. 11,25. Gott kennt ja die Zahl derer, die das Heil annehmen werden, und Er wird die Gnadenpforte nicht zuschließen, bevor Er sie alle geborgen hat. Darum sagt
Petrus noch: „Der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern Er hat Geduld mit uns, und Er will nicht, daß jemand verloren werde, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre“, 2. Petr. 3,9. . . .


IV. Siehe, Ich komme bald!
Eines ist gewiß: Gott hat den Augenblick für die Wiederkunft Seines Sohnes genau bestimmt, und Er wenigstens weiß den Tag und die Stunde. Paulus schreibt an Timotheus: „Ich gebiete dir . . . , daß du haltest das Gebot ohne Flecken, untadelig, bis auf die Erscheinung unseres Herrn Jesu Christi, welche wird zeigen zu Seiner Zeit der allein Gewaltige, der König aller Könige und Herr aller Herren“, 1. Tim. 6, 13. Die Offenbarung zeigt uns einen Engel, der schwört: „daß hinfort keine Zeit mehr sein soll“ (d. h. kein Aufhalten in der Erfüllung der göttlichen Beschlüsse), sondern „so soll vollendet werden das Geheimnis Gottes, wie Er hat verkündigt Seinen Knechten, den Propheten“, Offb. 10,5. . . .
In demselben Sinne spricht die Bibel auch von den „letzten Zeiten“ als dem Zeitabschnitt zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi: „Christus, das unschuldige und unbefleckte Lamm, ist zuvor ersehen, ehe der Welt Grund gelegt ward, aber offenbart zu den letzten Zeiten um euretwillen, die ihr durch Ihn glaubet an Gott“, 1. Petr.
1 ,20)


Vor ewigen Zeiten hat der Herr unser Heil vorbereitet und es in Jesus Christus geoffenbart. Natürlich sind die paar tausend Jahre menschlicher Geschichte in Seinen Augen sehr kurz. Er sieht Seinen Sieg am Ende unserer armseligen Jahrhunderte kommen. Darum kann Johannes auch schreiben: „Kinder, es ist die letzte Stunde“ 1. Joh. 2, 18 (d.h. wir stehen in der letzten Geschichtsperiode der sündigen Menschheit). Danach wird Gott wieder die Zügel der Regierung der Welt in die Hand nehmen. Die letzte Stunde beginnt mit dem ersten Kommen Christi, dem Endziel der Geschichte. Sein zweites Kommen wird das Ende vom Ende sein. Wir wollen es lernen, den Blickpunkt Gottes einzunehmen, wenn wir die Wiederkunft Christi ins Auge fassen. . . . 


V. Siehe, Ich habe es euch alles zuvor gesagt, Mk. 13,23.

Viele Christen meinen, es werde immer unmöglich sein, die mehr oder weniger nah bevorstehende Wiederkunft Christi vorauszuahnen. Da nur Gott Tag und Stunde weiß, halten sie es für vergeblich oder gar gefährlich, mehr darüber wissen zu wollen. Eines schönen Tages, früher oder später, werde Christus wie ein Blitz aus dem Himmel hernieder fahren und alle Welt überraschen. Das ist nur zum Teil richtig. Ein Blitz fällt nicht aus heiterem Himmel: er kommt aus Wolken, die sich allmählich zusammengezogen haben. Wer darauf achtete, konnte das Nahen des Gewitters bemerken. Allerdings wahrt Gott das Geheimnis von Tag und Stunde, aber Er hat die Epoche der Endzeit deutlich gekennzeichnet, damit die Christen sie erkennen und sich rüsten können. Die Ungläubigen aber und die vorgeblichen Gläubigen, die das prophetische Wort mißachtet haben, werden völlig unvorbereitet überrascht werden. Es wird ihnen so gehen wie der Generation Noahs: „Gleich aber wie es zu der Zeit Noahs war, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes. Denn gleich wie sie waren in den Tagen vor der Sintflut . . . bis an den Tag, da Noah zu der Arche einging; und sie achteten’s nicht, bis die Sintflut kam und nahm sie alle dahin: also wird auch sein die Zukunft des Menschensohns“, Matth. 24,37-39. Den wahren Gläubigen hingegen, welche die ganze Schrift beachten, hat der Herr mehrere Vorzeichen für das Ende aufgezeigt und hinzugefügt: „Also auch, wenn ihr das alles sehet, so wisset, daß es nahe vor der Tür ist“, Matth. 24,33.
Auf diese Vorzeichen wollen wir nun näher eingehen.

2. Kapitel



Die Zeichen für die Wiederkunft Jesu Christi

I. Gibt es Zeichen für die Wiederkunft Christi, und darf man ihnen nachforschen?

Die Jünger fragten Jesus eines Tages: „Sage uns, wann wird das geschehen? Und welches wird das Zeichen sein Deiner Zukunft und des Endes der Welt?“ Matth. 24,3. Und statt sie anzufahren, deutete ihnen Jesus auf ganz natürliche Weise nicht nur ein einzelnes, sondern eine ganze Reihe von Anzeichen für Sein Kommen an. Es ist also nicht nur erlaubt, sie zu kennen, sondern für jeden Christen eine Pflicht, sie zu durchdenken. Wollen wir nicht wie die Weltmenschen durch die Wiederkunft Christi überrascht werden, so müssen wir unbedingt Seine Voraussagen ernst nehmen.

ll. Welches sind die Zeichen für die Wiederkunft Christi?

Um sie kennenzulernen, fragen wir ganz einfach die Schrift und nehmen als erstes die Antwort, die Jesus in den Evangelien auf die Frage der Jünger gibt. Es ist möglich, daß das Bild, das die Schrift von der Endzeit entwirft, uns nicht gefällt, weil es ein ganz düsteres ist. Aber unsere Meinung ändert weder die Tatsachen noch das Wort Gottes. „Himmel und Erde werden vergehen, aber Meine Worte werden nicht vergehen“, Matth. 24,35.


1. Der Abfall am Ende der Zeit
„Sehet zu, daß euch niemand verführe. Denn es werden viele kommen unter Meinem Namen und sagen: Ich bin Christus, und werden viele verführen“, Matth. 24,4-5. Dieses Zeichen scheint Jesus so wichtig, daß Er es noch zweimal in diesem Kapitel erwähnt. „Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele
verführen. Und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhand nehmen, wird die Liebe in vielen erkalten“. . . . In der Hauptsache verkündet Jesus dreierlei:

a) Das Auftreten falscher Christi und falscher Propheten.
Satan hat solche Angst vor dem wahren Christus und Seiner Wiederkehr, daß er eine Menge von Christus- Karikaturen erzeugt, um die allermeisten zu verführen. Und schon Paulus konnte berichten: „Denn das weiß ich, daß nach meinem Abschied werden unter euch kommen greuliche Wölfe, die der Herde nicht verschonen werden. Auch aus euch selbst werden aufstehen Männer, die da verkehrte Lehren reden, die Jünger an sich zu ziehen“, Apg. 20,29. Seitdem hat es gewuchert von falschen Propheten, und gefährliche Sekten und falsche Lehren mehren sich heute mehr denn je. Von all den vielen, die wir anführen könnten, wollen wir nur wenige nennen: Mrs. Baker- Eddy von der „Christlichen Wissenschaft“ (die weder wissenschaftlich noch christlich ist), Josef Smith, den großen „Offenbarer“ der Mormonen , Rudolf Steiner, den Mann der „Anthroposophen“, usw., usw.


Unter dem Deckmantel des Evangeliums führt man den Götzendienst wieder ein, der die Seelen zugrunde richtet. Von sogenannten christlichen Kanzeln herab leugnet man die Grundwahrheiten des Glaubens. Man stellt einen falschen Christus auf, der, aller Göttlichkeit entkleidet, weder die Sünden sühnen noch den Tod besiegen könnte. Manche behaupten, es gäbe keine Verdammnis, und alle, mitsamt dem Teufel, würden gerettet werden. Man geht sogar soweit, die Person Gottes anzuzweifeln. Wieder andere lehren, daß Materie, Krankheit und sogar der Tod nur Einbildung wären. Viele sogenannte Offenbarungen und menschliche Überlieferungen werden der Schrift angehängt und ihr übergeordnet. Man sieht falsche religiöse Erweckungen, und der Feind erdreistet sich sogar, in wenig gefestigten Herzen die Wirkung des Heiligen Geistes nachzuahmen.

Der Spiritismus muß besonders erwähnt werden, der in den großen Städten seine Anhänger nach Zehntausenden zählt. Die angebliche Totenbeschwörung ist in Wirklichkeit ein Verkehr mit den Dämonen und wurde deshalb im AT mit dem Tode bestraft. Paulus reiht sie unter die Zeichen der Endzeit: „In der letzten Zeit werden etliche von dem Glauben abtreten und anhangen den verführerischen Geistern und Lehren der Teufel“, 1. Tim. 4,1.

Die falschen Laienpropheten lassen sich nicht mehr zählen, die heutigen Götzen mögen sich Fortschritt, Wissenschaft, Politik, Partei, Sport, Staat oder, wer weiß wie, nennen. Sie flößen ihren Anbetern denselben Fanatismus, denselben blinden Glauben wie irgendeine verachtete Religion ein. Tatsächlich sind sie nur neue Formen eines alten immer gleicchen Kults: des menschlichen Hochmuts, der sich selbst anbetet. Wie Paulus sagt: „Sie haben Gottes Wahrheit verwandelt in die Lüge und haben geehrt und gedient dem Geschöpf, mehr denn dem Schöpfer, der da gelobt ist in Ewigkeit“, Röm. 1,25. Aber es wird noch schlimmer. Jesus kündigt nicht nur das Kommen falscher Propheten, sondern auch falscher Christi an, die sich nicht scheuen werden, frech zu behaupten: „Ich bin Christus“ . . . Alle diese Menschen und die, die noch kommen werden, sind nur die Vorläufer des großen, falschen Christus, des Antichristen der Endzeit.

b) Der Abfall der Massen.
„Sie werden viele verführen, und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhand nehmen, wird die Liebe in vielen erkalten“, Matth. 24, 11.
„Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinest du, daß Er auch werde Glauben finden auf Erden?“ Luk. 18, 8.
Und die Apostel fügen hinzu: „Lasset euch niemand verführen auf keinerlei Weise, denn Er kommt nicht, es sei denn, daß zuvor der Abfall komme und offenbart werde der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens (der von allen angebetete Antichrist)“ 2. Thess. 2,3.


Was ist eigentlich der Abfall? Es ist das Drangeben des Glaubens durch solche, die ihn einmal gekannt und bekannt haben. Ohne jegliche Übertreibung kann man sagen, daß die sogenannten christlichen Völker mitten im Abfall begriffen sind. Die Massen unserer evangelisierten Länder wenden sich vom Evangelium ab. Sie „lieben die Wollust mehr denn Gott“; sie wahren vielleicht „den Schein eines gottseligen Lebens, aber seine Kraft verleugnen sie“. Schon lange enthüllen die Statistiken einen erschreckend en Tatbestand: In Frankreich, der früher „ältesten Tochter der Kirche“, halten (nach den Angaben der Priester selbst) nicht mehr als 3-4 Millionen Katholiken „ihre Ostern“. In Paris sollen nur 3 Prozent der Bevölkerung an den Gottesdiensten teilnehmen. In eben dieser Hauptstadt erklärte der Geistliche einer großen Pfarrei von 70 000 Seelen: „Ich habe zahlreiche Katholiken, welche die religiösen Bräuche einhalten, aber kaum zehn Christen, die wirklich ihres Glaubens leben. Unter den etwa 600.000 Gliedern der protestantischen Kirche bekundet auch nur eine bescheidene Minderheit eine wirkliche Frömmigkeit. Es gibt also in Frankreich mindestens 35 Millionen Menschen, die so leben, als gäbe es keinen Gott. In den protestantischen Ländern ist die Lage kaum besser: die Ereignisse der jüngsten Zeit in Deutschland beweisen es. Und die religiösen Blätter Englands sagen, daß nur 5 Prozent der Einwohner Londons die Gotteshäuser besuchen. Zu der passiven Haltung der Mehrheit kommen noch die Verheerungen des vordringenden Atheismus und die Fortschritte des ausgesprochenen Neuheidentums.

Aus dem Studium der Weissagungen und der Tatsachen geht es klar hervor, daß wir die Bekehrung der gesamten Menschheit zum Evangelium nicht vor der Wiederkunft des Herrn erwarten dürfen. Heute, wie zu Jesu Zeiten, sind viele berufen , aber wenige auserwählt, da die große Mehrheit sich weigert, die Sünde zu lassen. Hätte uns die Schrift dies nicht alles vorausgesagt, würden wir den Mut verlieren. Denn das Evangelium wird seit 2000 Jahren gepredigt, und die Welt wird nur immer schlechter. Aber nach der Bibel kann es gar nicht anders sein, denn die Welt will nichts vom Heil wissen. „Nicht etwa kommt Christus noch nicht, weil die Welt noch nicht christlich genug ist; sondern Er kommt deshalb noch nicht, weil die Welt noch nicht ungläubig genug ist.” ( Erich Sauer)


2. Der Krieg
„Ihr werdet hören Kriege und Geschrei von Kriegen; sehet zu und erschrecket nicht. Das muß zum ersten alles geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da. Denn es wird sich empören ein Volk wider das andere und ein Königreich wider das andere“, Matth. 24,6-7. Seit dem Brudermord Kains hat es immer Kriege gegeben, und sie
werden bis zum Ende hin immer häufiger werden. Die Gesellschaft für Internationales Recht veröffentlichte Dokumente, nach denen es im Laufe der vergangenen 34 Jahrhunderte nur 268 Friedensjahre gegeben hat, in denen sich die Völker übrigens auch nur mit Mühe verstehen konnten. Während dieser 3400 Jahre sind 8000 Friedensverträge unterzeichnet worden. Obwohl nach der Meinung ihrer Verfasser für die Ewigkeit geschlossen, dauerte ihre Wirkung im Durchschnitt nicht länger als zwei Jahre. Die Worte „sehet zu und erschrecket nicht; denn das muß zum ersten alles geschehen“, bedeuten durchaus nicht, daß der Krieg gottgewollt ist. Im Gegenteil, er ist eine Übertretung aller Gebote Gottes! . . .


a) Der letzte Krieg wird restlos die ganze Welt einbeziehen. In der Offenbarung sieht Johannes in der Gestalt von symbolischen Reitern die Plagen, die schließlich die wider Gott empörte Menschheit treffen werden. „Und es ging heraus ein ander Pferd, das war rot; und dem, der drauf saß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde, und daß sie sich untereinander erwürgten; und ihm ward ein großes Schwert gegeben“, Offb. 6,4. . . .


b) Der letzte Krieg wird auch entsetzlich mörderisch sein. In seiner Beschreibung der Plagen, die den letzten Krieg begleiten sollen, sagt Johannes weiter: „Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten den vierten Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden.“ Offb. 6,8. . . . Wer vor einigen Jahren solche Prophezeiungen las, zuckte die Achseln. Sollte nicht der Krieg von 1914-18 der letzte sein? Hatten wir nicht den Völkerbund?
Brachte es die Abrüstungskonferenz nicht fertig, mit ernsten Gesichtern zu verhandeln, während die Regierungen aufrüsteten wie nie zuvor? . . .

Dabei haben wir noch nicht von chemischen oder bakteriologischen Waffen geredet, die im Geheimen in den Laboratorien der Großmächte vorbereitet werden. . . . Man bereitet auch psycho-chemische Produkte vor. Sie bewirken Panik oder vollkommene Sinnesverwirrung, ohne jedoch den Tod nach sich zu ziehen . . .Wirklich, man braucht es nicht noch einmal zu wiederholen: Unsere einzige Hoffnung auf Frieden und Überleben ist die siegreiche Ankunft des Friedensfürsten!


3. Die Hungersnot


„ . . . und werden sein Pestilenz und teure Zeit.“ Matth. 24,7. Johannes sagt weiter: „Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd; und der darauf saß, hatte eine Waage in der Hand…!“ Offb. 6,5-6. Die Hungersnot ist die zwangsläufige Begleiterscheinung des Krieges; wir wissen etwas davon. Schon hatten mehr denn zehn Millionen Arbeiter unter der Arbeitslosigkeit und der Lahmlegung der Geschäfte gelitten. Aber das bedeutete noch nichts. Wer hätte geglaubt, daß man mitten im 20. Jahrhundert mit seinen modernen Mitteln in der Landwirtschaft und im Transport buchstäblich Hungers sterben könnte?

Und doch ergab die Hungersnot von 1921 in Rußland täglich 30.000 Tote. Dr. Nansen sagte: „Ohne Zweifel ist dies das Schrecklichste, das je in der Geschichte der Menschheit geschehen ist.“ (Aber wir haben leider gelernt, Schlimmeres zu sehen und zu erwarten.) Nach den offiziellen Schätzungen sind in Griechenland 1942 in elf Monaten 150-200.000 Personen auf diese Weise umgekommen. In Rumänien, der Kornkammer des Balkans, gab es mehrere brotlose Tage die Woche. Im Süden Frankreichs, wo nur der Wein gedeiht, hat es an Wein gefehlt (wie in Charleroi an Kohlen!), und im übrigen Teil des Landes, das doch so reich ist, hat man sehr schwere Tage erlebt Wer hätte geglaubt, daß parallel zur Zivilisationshöhe und zur Technik, auf die unser Zeitalter so stolz ist, die Not auf der Erde so anwachsen würde?
. . . Heute sind in Afrika, Asien, Lateinamerika viele Millionen von Menschen unterernährt. Jedes Jahr wächst die Zahl der Menschen, die in ihrer Existenz oder Gesundheit vom Hunger bedroht sind, um mehrere Millionen. Wo liegen die Ursachen dieses furchtbarsten Problemes, das sich je der Menschheit gestellt hat? Wie kann man eine Weltkatastrophe vermeiden?


Die Bevölkerungsexplosion. Das Problem des Hungers ist aufs engste mit folgenden Tatsachen verknüpft: „Die Erdbevölkerung wächst mit alarmierender Geschwindigkeit . . . Man schätzt sie zu Anfang unseres Jahrtausends auf zwei- bis dreihundert Millionen. 1650 hatte ihre Zahl fünfhundert Millionen erreicht und zwei Jahrhunderte
später, also 1850 eine Milliarde. 1930 erreichte die Erdbevölkerung die Grenze von zwei Milliarden, und seither hat sich das Anwachsen so beschleunigt, daß 3,3 Milliarden überschritten sind. . . . Im Jahre 2000 werden sich also
sieben Milliarden Menschen auf unserem Planeten drängen.
Und wie wird man alle diese Leute ernähren, ganz zu schweigen von denen, die nach ihnen kommen? . . .



4. Erdbeben
„Und werden geschehen große Erdbeben.“ Luk. 21, 11. In ihrer bilderreichen Sprache sagt die Offenbarung außerdem: „Da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz . . . Es hat allerdings immer Erdbeben gegeben. Aber die Schrift prophezeit, daß sie in der Endzeit immer häufiger und furchtbarer sein werden. Ohne natürlich sagen zu können, wie nahe die endgültige Auflösung bevorsteht, stellen viele Wissenschaftler ein unbestreitbares Neuaufleben der Erdstöße fest . . .

. . . Der Prophet Sacharja verkündet, daß sich im Augenblick der Erscheinung Christi in Herrlichkeit der Ölberg in einem Erdbeben entzwei spalten wird: „Und Seine Füße werden stehen zu der Zeit auf dem Ölberge . . . Und der Ölberg wird sich mitten entzwei spalten, vom Aufgang bis zum Niedergang, sehr weit von einander.“ 14,4
Vor einigen Jahren haben wir nun in einer Pariser Zeitung, dem Jour-Echo de Paris, einen bemerkenswerten Artikel gelesen. Er berichtete, daß kurz zuvor, gemäß einer alten, biblischen Prophezeiung, ein erster Erdstoß auf dem Ölberg eine sichtbare Spalte von oben bis unten bewirkt habe. Weiter heißt es dort, daß auf dem Abhang des Berges ein von Kaiser Wilhelm II. erbauter Palast mit einem großen Mosaikbild steht. Dieses Mosaik war durchspalten und zerstört worden. Beim Erdbeben von 1927 gab es in Palästina 700 Tote, 3000 Verwundete und großen Sachschaden. Professor Bailey Willis, Sachverständiger für Erdbebenkunde an der Universität Stanford, erklärte: Das Heilige Land kann sich auf Erdbeben gefaßt machen; die Gegend um Jerusalem ist ein Gefahrenherd für etwaige Erdbeben. Eine Verwerfung, entlang welcher Erdrutsche vorkommen könnten, zieht sich direkt unter dem Ölberg hin.“ Natürlich haben diese Tatsachen noch wenig zu sagen, verglichen mit dem, was noch angekündigt ist.


5. Die Pest. (Vgl. Luk. 21, 1)

Krieg, Hungersnot und Seuchen treten oft gemeinsam auf. Als im Jahre 1918 eine furchtbare Grippe ausbrach, schrieb im Dezember dieses Jahres die Times: „Sechs Millionen Menschen sind von Grippe und Lungenentzündung dahingerafft worden. Das ist das Sechsfache der eigentlichen Kriegsverluste.“ In der ganzen Welt forderte diese Seuche zwölf Millionen Menschen, vier Jahre Krieg dagegen zwei Millionen an eigentlichen Kriegsopfern. Da der letzte aller Kriege besonders mörderisch sein wird, erscheint es durchaus glaubhaft, daß ein gewaltiger Teil der Menschheit durch Seuchendahingerafft wird.


6. Religiöse Verfolgungen

„Da wird sich allererst die Not anheben. Alsdann werden sie euch überantworten in Trübsal und werden euch töten. Und ihr müßt gehaßt werden um Meines Namens willen von allen Völkern. Dann werden sich viele ärgern und werden sich untereinander verraten und werden sich untereinander hassen.“ Matth. 24,8. Es hat schon früher furchtbare religiöse Verfolgungen gegeben. Aber wer hätte geglaubt, daß sie nach der großen französischen Revolution und der Proklamation der Menschenrechte und der Gewissensfreiheit in unsrem aufgeklärten Zeitalter wieder aufkommen würden, wie im Mittelalter!
Doch da die Menschheit Gott immer offenkundiger verwirft, ist es garnicht erstaunlich, wenn sie die Gläubigen auszumerzen sucht, diese lästigen Zeugen, die sich nicht gleichschalten lassen. Jedermann weiß heute,
daß die religiösen Verfolgungen mit äußerster Heftigkeit wieder eingesetzt haben. In einem sehr großen Lande hetzte man gegen die Christen, entzog den Dienern Gottes allen gesetzlichen Schutz und zerstörte die Kirchen und Gotteshäuser, wenn man sie nicht zu Zwecken der Verächtlichmachung Gottes verwandte. Anderorts wurden Pfarrer, die sich weigerten, sich dem herrschenden Götzen zu beugen, in Konzentrationslager gebracht.

Nach dem Bürgerkrieg wurden in Spanien Jahre hindurch alle protestantischen Kirchen, bis auf vier oder fünf, zerstört oder geschlossen. Bei diesen hatte man die Fassaden umbauen lassen, „damit sie das katholische Gefühl des Landes nicht verletzten“. Lange Zeit hindurch wurden außer dem alle möglichen Unterdrückungsmaßnahmen gegen die evangelischen Christen aufrecht erhalten. Heute ist die Situation glücklicherweise besser. In Japan hat man ebenso die Christen verfolgt, die sich weigerten, den Kaiser und seine Ahnentafel anzubeten.

Die biblischen Prophezeiungen verkünden auch furchtbare Judenverfolgungen. So spricht Daniel von der Behandlung, die sie durch den Antichristen erleiden sollen: „Er wird die Heiligen des Höchsten verstören und wird sich unterstehen, Zeit und Gesetz zu ändern. Sie werden aber in seine Hand gegeben werden . . . Und wenn die Zerstreuung des heiligen Volkes ein Ende hat, soll solches alles geschehen.“ Dan. 7,25.

Zu allen Zeiten wurden die Juden leider in Europa verfolgt, bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein. Aber wer hätte gedacht, daß man sie erneut mit einer solchen Brutalität drangsalieren würde? . . . 
Offenbar ist das alles ein Vorspiel der kommenden Ereignisse unter der glücklicherweise kurzen Herrschaft des Antichristen. Unser Herz blutet, wenn wir an so viel Leiden denken, welche die menschliche Bosheit
verursacht, und mit den Märtyrern der Offenbarung rufen wir: „Wie lange noch, Herr, Du Heiliger und Wahrhaftiger? . . .“


7. Die weltweite Verbreitung des Evangeliums

„Und es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zu einem Zeugnis über alle Völker, und dann wird das Ende kommen.“ Matth. 24,14.
. . . Das Evangelium muß allen Menschen gepredigt werden, bevor die Gnadentür zugeschlossen wird. Jesus behauptet nicht, daß sich jedermann bekehren wird (Er hat ja gerade den Abfall am Ende angesagt). Aber das Evangelium soll in der ganzen Welt gepredigt werden „zum Zeugnis über alle Völker“.
So wird jeder Gelegenheit bekommen haben, das Heil zu ergreifen.

Als Jesus diese Worte sprach, konnten sie als ein großes Wagnis erscheinen. Und doch erfüllen sie sich immer mehr vor unsern Augen. Seit wenig mehr als einem Jahrhundert haben die Missionen ungeheuer an Ausdehnung zugenommen. Im Jahre 1500 erst in 14 Sprachen übersetzt, erscheint die Bibel heute in mehr denn 1500 Sprachen und ist 98%der Erdbevölkerung zugänglich gemacht; jedes Jahr bringt weitere Übertragungen. . . . Die Heilige Schrift ist heute noch der größte buchhändlerische Erfolg und wird in der ganzen Welt in Millionen von Exemplaren verkauft (1962 z.B. 50 Millionen Bibeln, Neue Testamente und Bibelteile). . . .
Vor wenigen Jahren schienen einige Länder für das Evangelium völlig verschlossen. Nun öffnet eines nach dem anderen seine Grenzen. In Indonesien wenden sich Hunderttausende dem Evangelium zu. Die Stämme im Innern Arabiens, wohin sich niemand gewagt hatte, werden seit kurzem auch erreicht. Ebenso ist es mit den Volksstämmen im riesigen Amazonas-Gebiet. Und wenn es in Afrika so weitergeht, wird es bald christlicher sein als Europa und selber Missionare zu uns aussenden. Nennen wir als Beispiel allein die Elfenbeinküste, wo riesige Stämme ihre Fetische verbrannt und Kapellen zur Verkündigung des Evangeliums gebaut haben, bevor sie einen einzigen weißen Missionar gesehen hatten. Diese Schwarzen flehen darum, daß man ihnen zu Hilfe komme und Jesum verkündige.

Selbstverständlich bleibt trotz alldem noch eine ungeheure Aufgabe übrig. Aber vergessen wir auch nicht, welche Mittel uns heute zur Verbreitung einer Botschaft zur Verfügung stehen: Presse, Radio, Fernsehen, Schallplatten usw. Allein die Gesellschaft „Gospel Recordings“ hat in wenigen Jahren Evangelisationsschallplatten in 3300 Sprachen herausgegeben. Mehr als 5 Millionen Exemplare davon wurden kostenlos verteilt. Ja, mehr als 50 evangelische Radiostationen, über die fünf Kontinente verteilt, senden Tag und Nacht die frohe Botschaft in vielen Sprachen (z.B. Quito, Manila, Bonaire, Monte Carlo, Monrovia, Okinawa, Addis-Abeba, usw. usw.). Die unerhörte Zunahme der Transistor-Apparate ermöglicht es, daß die Botschaft bis zu den fernsten Völkern vordringt. Sie gelangt in Länder hinter den Vorhängen und in die abgeschlossensten Heimstätten. Und erst das Fernsehen! Man weiß, daß 99 % der Einwohner Tokios täglich mindestens drei Stunden vor dem Apparat sitzen. Wenn uns nur eine Gnadenfrist gewährt würde, kann es also noch in unserer Generation möglich werden, buchstäblich jeden Menschen zu erreichen. Hat Jesus, als er von diesem erreichbaren Ziele sprach, nicht hinzugefügt: „Dann wird das Ende kommen?“

8. Israel und die Ereignisse in Palästina

„Wenn ihr nun sehen werdet den Greuel der Verwüstung (davon gesagt ist durch den Propheten Daniel), daß er stehet an der heiligen Stätte. . .“ Matth. 24, 15. In Judäa ist Christus das erste Mal erschienen, und dort, von den Juden verworfen, hat Er durch Seinen Tod am Kreuz über die Sünde gesiegt.
In Palästina wird Er auch das zweite Mal erscheinen, Sein Volk zu besuchen, das bis dahin durch den Ratschluß Gottes in sein Vaterland zurückgeführt sein wird. Und dort wird Er endlich über alle Seine Feinde triumphieren, die dort aus aller Welt Enden versammelt sind zur letzten Schlacht der Geschichte. Man sehe nach, was der Prophet Sacharja darüber verkündigt! Wie man auch über die Weissagungen denken mag, so lassen sich drei Tatsachen nicht leugnen:

a) Die Juden kehren schon nach Palästina zurück;

b) die Wüste Palästinas blüht wieder auf wie eine Rose;

c) Palästina liegt an einem Knotenpunkt von immer größerer strategischer Bedeutung.


9. Die Erscheinungen am Himmel
Bald aber nach der Trübsal derselbigen Zeit werden Sonne und Mond den Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Und als dann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohns im Himmel. Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ Matth. 24,29-30. „Auf Erden 
wird den Leuten bange sein, und sie werden zagen; und das Meer und die Wasserwogen werden brausen; und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und vor Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden; denn auch der Himmel Kräfte werden sich bewegen.“ Luk. 21,25-26. . . . 



10. Die überspannten Reichtümer
„Wohlan nun, ihr Reichen, weinet und heulet über euer Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum ist verfaulet, eure Kleider sind mottenfräßig geworden. Euer Gold und Silber ist verrostet, und sein Rost wird euch zum Zeugnis sein und wird euer Fleisch fressen wie Feuer. Ihr habt euch Schätze gesammelt in den letzten Tagen.“
 Jak. 5, 1-3.

Man darf annehmen, daß diese Stelle auf die Vermögen hinweist, welche die unerhörte Entwicklung von Handel und Industrie ermöglicht hat. . . . Die Geldmittel, über die gewisse Welttrusts und gewisse Petroleum-, Stahl-, Gummi- und Rüstungskönige verfügen, übersteigen jeden Begriff. Man versichert, daß in den Vereinigten Staaten 1% der Bevölkerung mehr besitzt als die übrigen 99% zusammen. 6000 vielfache Millionäre und Milliardäre teilen unter sich ein Viertel vom Kapital der Nation (So Manco.)
Der Tadel des Jakobus ist aus zweierlei Gründen gerechtfertigt: manches Vermögens ist „faul“, weil es durch Ungerechtigkeit und Ausbeutung der Schwachen gewonnen wurde: „Siehe, der Arbeiter Lohn, die euer Land eingeerntet haben . . . , der schreit, und das Rufen der Ernter ist gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth. Ihr habt wohlgelebt auf Erden und eure Wollust gehabt und eure Herzen geweidet am Schlachttag. Jak. 5,4. Zum zweiten bewirkt die Zusammenballung solch kolossaler Reichtümer in einer Hand ein unnormales Verhältnis im nationalen Gleichgewicht. Es ist unmoralisch, wenn manche ihr Geld nicht einmal mehr zählen können, während neben ihnen so viele andere Hungers sterben. . . .


11. Die schweren Zeiten

„Das sollst du aber wissen, daß in den letzten Tagen werden greuliche Zeiten kommen. Denn es werden Menschen sein, die viel von sich halten, geizig, ruhmredig, hoffärtig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, ungeistlich, lieblos, unversöhnlich, Verleumder, unkeusch, wild, ungütig, Verräter, Frevler, aufgeblasen, die mehr lieben Wollust denn Gott; die da haben den Schein eines gottseligen Wesens, aber seine Kraft verleugnen sie.“ 2. Tim. 3, 1-5. Gibt uns hier nicht Paulus die Fotografie unsrer heutigen Gesellschaft?

Eine Begleiterscheinung des von Jesus angekündigten Abfalls ist die größte Verwirrung auf moralischem, sozialem, ökonomischem und internationalem Gebiet. Wo keine Gottesfurcht mehr ist, wankt alles.

12. Das Auftreten von diktatorischen Regierungsformen
Wir werden später sehen, daß der Antichrist seine Weltherrschaft auf der Grundlage des alten, in Form eines Zehnstaatenbundes mehr oder weniger hergestellten Römischen Reiches aufrichten wird. Die Offenbarung zeichnet uns den Antichrist unter dem Bild eines Tieres mit zehn Hörnern und schreibt dazu: „Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, das sind zehn Könige, die das Reich noch nicht empfangen mit dem Tier. Die haben eine Meinung und werden ihre Kraft und Macht geben dem Tier . . . Denn Gott hat’s ihnen gegeben in ihr Herz, zu tun Seine Meinung und zu tun einerlei Meinung und zu geben ihr Reich dem Tier, bis daß vollendet werden die Worte Gottes.“ Offb. 17,12.17.
Wie nennen wir denn Personen, die noch kein Reich empfangen haben, aber für kurze Zeit wie Könige Macht erlangen, anders, wenn nicht Diktatoren?

Merkwürdig, gerade diesen Ausdruck nahmen die Ausleger vor fünfzig und vor hundert Jahren, um diese Stelle zu erklären. Heute haben wir Diktatoren plötzlich in fast all den Ländern auftauchen sehen, die dem Römischen Reich angegliedert waren: in Portugal, Spanien, Italien, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, der Türkei, Deutschland, sogar eine gewisse Zeitlang in Frankreich, und weiter entfernt in Rußland, Japan, China, Süd- und Mittelamerika. Und mehrere Länder, die gern eine Demokratie bleiben möchten, sehen sich durch den Krieg und die Macht der Umstände gezwungen, ein faktisch totalitäres Regime in der Hand einer Partei oder eines mächtigen Staatsoberhauptes aufzustellen.
Die Völker haben erklärt, auf ewig in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit leben zu wollen. Aber da sie dies ohne Gott erreichen wollen und sie von den Grundlagen der Moral abgewichen sind, haben sie dies schöne Ideal nicht verwirklichen können. Denn die Menschen müssen sich der Freiheit würdig erweisen und fähig, sie zu wahren. Wir scheinen aber im Gegenteil nah vor der Herrschaft des Antichristen zu stehen, die eine totalitäre Diktatur sein wird. Sogar die Umgruppierung der alten römischen Territorien erscheint nicht unmöglich: spricht man nicht oft von einem Mittelmeer-Block, der die Vereinigten Staaten von Europa bilden würde? Und ein Weltreich könnte sehr wohl als Folge eines Krieges wie der eben erlebte kommen.

13. Wenn die Menschen „Friede und Sicherheit“ sagen werden
„Von den Zeiten aber, liebe Brüder, ist nicht not, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisset gewiß, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Denn wenn sie werden sagen: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, so wird sie das Verderben schnell überfallen und werden nicht entfliehen.” 1. Thess. 5, 1-3.
Dieses Zeichen scheint den Stellen zu widersprechen, die von Kriegen bis ans Ende reden, aber der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Es kommt der Tag, da es nach schrecklichen Feindseligkeiten einem Menschen gelingen wird, die Weltherrschaft an sich zu bringen. Dann wird er in hochmütig – triumphierender Vermessenheit ausrufen: „Friede und Sicherheit! Nun gibt es keinen Krieg mehr zwischen den Völkern! Endlich hat die Menschheit nur noch einen Herrn und ein Ziel. Nun beginnt das goldene Zeitalter. Und ich bin es, der der Welt Sicherheit und Gedeihen verschafft!“ . . .
Toll vor Freude werden sie ihm zujubeln, sich vor ihm niederwerfen und ihn anbeten. . . . Die furchtbaren Gerichte Gottes werden über den Antichristen und seine Anbeter hereinbrechen, und der falsche Friede wird in einer letzten Katastrophe vergehen. „Aber die Gottlosen, spricht der Herr, haben keinen Frieden.“ Jes. 48,22.


14. Die Zunahme der Erkenntnis
Gott sprach zu Daniel: „Und du, Daniel, verbirg diese Worte und versiegle diese Schrift bis auf die letzte Zeit; so werden viele großen Verstand finden.“ Dan. 12,4.

Das eine steht fest: Jahrhunderte lang waren die Weissagungen wie ein versiegeltes Buch, von dem man nicht sprach. Sogar die Reformatoren, die die ganze Bibel wieder zu Ehren gebracht haben, haben im Grunde genommen der Botschaft von der Wiederkunft Christi wenig Bedeutung beigemessen. . . . 
Vor allem haben die Gläubigen seit Darby – vor hundert Jahren – angefangen, sich für die Weissagungen zu interessieren. Heute beschäftigt man sich mehr denn je damit. Die Voraussagen der Bibel werfen ein helles Licht auf die Ereignisse, und diese wiederum tragen immer mehr zum Verständnis der Texte bei. Schon ist es offenbar möglich, die großen Linien der nahenden Endentwicklung deutlich zu erahnen. Unleugbar hat die Erkenntnis zugenommen. Die noch dunklen Einzelheiten werden ohne Zweifel nach dem Maße unserer Bedürfnisse enthüllt werden. Aber nicht nur auf dem Gebiet der Weissagung hat unsere Erkenntnis zugenommen. Nie zu vor hat die Menschheit so viel gewußt wie heute. Sie hat alle Gebiete durchforscht und die Wissenschaft auf eine ungeahnte Höhe gebracht. Sie hätte aber erkennen müssen, daß „Wissen ohne Liebe aufbläst“. 1. Kor. 8,1, . . .


III. Wie müssen wir diese Zeichen einschätzen?


1. Beziehen sich nicht gewisse Zeichen auf die Generation Jesu und die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70?

Ja, zum Teil. Denken wir daran, bei welcher Gelegenheit Jesus die Zeichen für Seine Wiederkunft genannt hat: „Und Jesus ging hinweg von dem Tempel, und Seine Jünger traten zu Ihm, daß sie Ihm zeigten des Tempels Gebäude. Jesus aber sprach zu ihnen: Sehet ihr nicht das alles? Wahrlich, Ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde. Und als Er auf dem Ölberg saß, traten zu Ihm Seine Jünger und sprachen: Sage uns, wann wird das geschehen? . . . Matt. 24,1-3. In Seiner Antwort spricht der Herr nun von zwei Dingen:
erstens von der Zerstörung des herodianischen Tempels, und
zweitens vom Ende der Welt.
. . . 
Das hat sich buchstäblich im Jahre 70 erfüllt. Unter dem Befehl von Titus nahmen die Römer Jerusalem nach einer grauenhaften Belagerung ein . . . und vollführten unsagbare Greueltaten. Bei der Verwerfung Jesu hatten die Juden geschrien: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Matt. 27,25. . . .

Aber das griechische Wort “genos” bedeutet „Rasse“ so gut wie „Geschlecht“. Luk. 21. Es bedeutete also auch: „Diese Rasse (die jüdische) wird nicht vergehen, bis daß es alles geschehe.“ Daß das jüdische Volk sich gegen zwei Jahrtausende der Zerstreuung und der Verfolgung gehalten hat, ist ein wirkliches Wunder.
Alle Völker des Altertums sind verschwunden . . . und Israel allein existiert noch, weil Gott versprochen hat, es zu erhalten, bis es bekehrt und bei der Wiederkunft Christi als Volk wiederhergestellt sein wird.
Außerdem sind die Geschehnisse des Jahres 70 offensichtlich auch ein Schattenbild davon, was sich am Ende der Zeiten in Palästina begeben wird. Dann wird Jerusalem wieder von Heeren umzingelt werden. Die heilige Stätte wird auf viel schlimmere Weise durch den Greuel der Verwüstung entweiht werden, den der Antichrist dort aufrichten wird, und das jüdische Volk wird vor seiner endgültigen Befreiung in den Tiegel der Trübsal kommen. Immer wieder bedient sich die Schrift der nächsten Ereignisse, um damit die fernsten anzukündigen. So ist es nicht verwunderlich, daß in den Reden Jesu die beiden Ereignisreihen vom Jahre 70 und vom Weltende nebeneinanderstehen. Wir müssen sie nur auseinanderhalten und verstehen, daß diese Weissagung fast in der Gesamtheit die Zukunft betrifft.


2. Hat man nicht schon oft die Erfüllung dieser Zeichen zu sehen geglaubt?
Ja, es ist richtig, daß man in stürmischen Zeiten, wenn Kriege die Erde verwüsteten, Pest und Hungersnot wüteten, die Gläubigen verfolgt wurden und Erdbeben und Erscheinungen am Himmel auftraten, geglaubt hat, die Zeichen der Endzeit zu erkennen. Aber dieser Irrtum der Christen lag dann nicht in der Zielrichtung, sondern in der Perspektive. Ihr Blick ging wohl in die rechte Richtung, und sie taten ganz recht daran, die von Jesus selbst so klar angegebenen Zeichen zu erkennen. Denn mehrere dieser Zeichen gelten ihrem Wesen nach für alle Zeiten: Es hat immer Kriege, Hungersnot, Seuchen, Erdbeben gegeben. Aber was die Ankündigung vom direkten Ende ausmachen muß, ist einerseits eine gewaltige Häufung eines jeden einzelnen dieser Zeichen und andererseits ihr völlig gleichzeitiges Auftreten. Diese beiden Elemente haben bisher gefehlt. Die Christen hielten das Ende für näher, als es war, weil sie nur das eine oder das andere Hauptzeichen und nicht alle Angaben der Schrift insgesamt beachteten. . . .

3. Kann man sagen, daß jetzt die Zeichen für die Wiederkehr Christi erfüllt sind?

. . . dieses Forschen soll nur dazu dienen, den Gläubigen eine immer klarere Erkenntnis dr Endentscheidung zu geben, jedoch niemals, um ein Datum festzulegen. Damit dürfen wir aber nun auch feststellen, daß sich die Zeichen wie nie zuvor erfüllen und in ausdrücklicher Weise übereinstimmen. Um uns davon zu überzeugen, lassen wir nochmals die wichtigsten rasch an uns vorüberziehen:


1. Die Menschheit ist mitten im Abfall begriffen, und die Gesamtheit der Massen wenden sich nun von der Frömmigkeit ab.

2. Der Krieg hat ein solch weltumfassendes Stadium erreicht
3. Die Häufigkeit der Erdbeben . . .


4. Die Christenverfolgungen haben zugenommen. . .
5. Die Evangelisation der Welt hat Riesenfortschritte gemacht. . . .


6. Die Rückehr der Juden nach Palästina, die ein solches Ausmaß annimmt, ist ein völlig neues Faktum. Sie begann vor einigen Jahrzehnten. 1900 Jahre lang eine Wüste, fängt das Land nun an, aufzublühen wie eine Rose. Nie zuvor war diese Prophezeiung zur Tatsache geworden, und ihre Erfüllung ist eines der auffallendsten Zeichen.
7. Die Möglichkeit einer Weltdiktatur ist noch nie in der Geschichte so aufgetreten, wie es heute der Fall ist. . . .

Zu welchen Schlußfolgerungen zwingt uns das Zusammenwirken all dieser Tatsachen?
Jesus selbst sagt es uns: „An dem Feigenbaum lernet ein Gleichnis. Wenn sein Zweig jetzt saftig wird und Blätter gewinnt, so wisset ihr, daß der Sommer nahe ist. Also auch, wenn ihr das alles sehet, so wisset, daß es nahe vor der Tür ist.“ Matt. 24,32- 33.


Wohl scheint es, daß wir diesem Augenblick nahe kommen.


4. Gehen die Zeichen für die Wiederkunft des Herrn die Gemeinde oder die Welt an?
Sie gehen die eine wie die andere an, aber nach verschiedenen Gesichtspunkten. Ihre Erfüllung wird von der Gemeinde offenbar nicht in allen Teilen erlebt, da sie wohl vor der großen Trübsal entrückt wird (siehe weiter unten die Behandlung dieser Frage!). Tatsächlich wird in den dreieinhalb Jahren am Ende der Antichrist hervortreten, und auch der Abfall, Kriege, Hungersnot, Seuchentod, Verfolgungen, die Ereignisse in Palästina usw. werden ihren Höhepunkt erreichen. So kann man sagen, daß die Zeichen beim Beginn ihrer Erfüllung die Gemeinde angehen. Dieses soll genügen, um sie aufmerken zu lassen, da sie ja wacht und die Weissagungen kennt. Die Gesamterfüllung der Zeichen jedoch betrifft die Welt, denn sie wartet erst auf das Niederfahren des Blitzes, bevor sie erfaßt, daß der Sturm da ist.
Aus diesem Grunde sagt Jesus Seinen Jüngern: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebt eure Häupter, darum, daß sich eure Erlösung naht.“ Luk. 21,28.


5. Wie müssen wir persönlich uns heute verhalten, angesichts der Zeichen, die in der Erfüllung begriffen sind?


a) “Sehet zu und erschrecket nicht!” Die Gesamtheit der prophetischen Zeichen läßt uns eine grauenvolle Zukunft für die Welt ahnen. Und auch wir könnten am Schluß dieses Kapitels voller Angst sein. Aber Jesus sagt uns: „Ihr werdet hören Krieg und Geschrei von Kriegen; sehet zu und erschrecket nicht. Das muß zum ersten alles geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da.“ Matt. 24,6 ; Luk. 21,9.
Wir wissen nicht, welches Maß an Verfolgung über uns kommen wird, da das Gericht am Hause Gottes anfangen soll (1. Petr. 4,17). Aber mag kommen, was will, wir brauchen nicht zu zittern: Sein Geist wird durch unseren Mund reden, kein Haar von unserem Haupt wird umkommen, und durch Ausharren bis ans Ende werden wir unserer Seelen Heil erlangen. Genügen diese Verheißungen nicht, unsere Herzen festzumachen?


b) Erkennet die Zeichen der Zeit!
Beim ersten Kommen Jesu hätten die Juden im Bilde sein können, durch allerlei von den Propheten angekündigte Zeichen, die Seiner Erscheinung vorangingen oder sie begleiteten: alle Umstände bei der Geburt des Kindleins, die Botschaften der Engel, der Dienst Johannes, des Täufers, die Wunder Jesu usw. Die lauteren Seelen in Israel erkannten diese Zeichen und wußten genau, daß die Zeit erfüllt war. Aber Jesus sagt zu den gleichgültigen und ungläubigen Seelen: „Des Abends sprecht ihr: Es wird ein schöner Tag werden, denn der Himmel ist rot; und des Morgens sprecht ihr: Es wird heute Ungewitter sein, denn der Himmel ist rot und trübe. Ihr Heuchler, über des Himmels Gestalt könnt ihr urteilen; könnt ihr denn nicht auch über die Zeichen dieser Zeit urteilen?“

Welch ein Vorwurf: die Zeichen der Zeit nicht zu erkennen! Könnte man ihn nicht auch einer Menge unserer sogar religiösen Zeitgenossen machen, da sie weder auf die Weissagungen noch auf die Ereignisse zu achten meinen? . . .


c) „Wisset, daß es nahe vor der Tür ist.“ „An dem Feigenbaum lernet ein Gleichnis. Wenn sein Zweig jetzt saftig wird und Blätter gewinnt, so wisset ihr, daß der Sommer nahe ist. Also auch, wenn ihr das alles sehet, so wisset, daß es, daß „des Menschen Sohn“ nahe vor der Tür ist.“ Matt. 24,32-33. . . .
Ebenso sollen die Gläubigen wissen, daß die Wiederkunft Christi nahe bevorsteht.

d) Sehet euch vor, wachet! „Ihr aber sehet euch vor! Siehe, Ich habe es euch alles zu vorgesagt . . . Sehet zu, wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wann es Zeit ist . . . So wachet nun, denn ihr wisset nicht, wann der Herr des Hauses kommt . . . Was Ich aber euch sage, das sage Ich allen: Wachet!“
Mk. 13, 23.33.35.37.


e) Sehet auf und erhebt eure Häupter! Luk. 21,28.

Die Wiederkehr Christi ist die allergrößte Freude, die man sich denken kann. Wenn wir den Heiland lieben und bereit sind, Ihn zu empfangen, warum sollten wir an Sein Kommen als an etwas zu Fürchtendes denken? Wir werden niedergedrückt von der Sünde, von Krieg, Leid und Tränen. . . .

Lasset uns doch zu denen gehören, welche die Zeichen der Zeit zu erkennen wissen und sich beeilen, den vier Befehlsworten zu gehorchen:



Sehet zu und erschrecket nicht!

Erkennet die Zeichen der Zeit!
Wisset, daß es nahe vor der Tür ist!
Sehet auf und erhebt eure Häupter!

Allen, die Seine Erscheinung lieb haben, hält der Herr die Krone der Gerechtigkeit bereit. 2. Tim. 4,8

 

VIERTER TEIL

Die Gemeinde und die Wiederkunft Jesu Christi


Die Entrückung der Gemeinde


I. Die Erwartung der Gemeinde
Wir haben an früherer Stelle schon gesagt: Die Gemeinde erwartet weder das Ende der Welt noch die Wiederherstellung aller Dinge. Sie erwartet eine Person, ihren himmlischen Bräutigam. Die Zeichen der
Zeit sagen ihr, daß ihre Erlösung naht, ihre Leiden, die letzten Anläufe des Feindes, lassen sie immer heißer flehen: „Komm bald, Herr Jesus!“ Und der Herr wird ein zweites Mal die Gebete der Seinen erhören, die in ihrer Not schreien: ,,Ach, daß Du den Himmel zerrissest und führest herab!“ Jes. 64, 1. Er wird kommen und sie auf ewig zu Sich holen und so die Verheißung erfüllen, die Er Seinen Jüngern gab: „Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und wenn Ich hingehe . . . , so will Ich wiederkommen und euch zu Mir nehmen, auf daß ihr seid, wo Ich
 bin.“ Joh. 14, 2-3.
Die Entrückung der Gemeinde ist nicht die einzige derartige Erscheinung in der Schrift. Es lag Gott daran, uns durch frühere Beispiele zu lehren, wie Er die, die Ihn fürchten, der Verwesung und dem Gericht über die Welt zu entreißen vermag. Kurz vor der Sintflut wandelte Henoch mit Gott „und ward nicht mehr gesehn“, weil ihn Gott wegnahm. 1. Mose 5,24.
„Durch den Glauben ward Henoch weggenommen, daß er den Tod nicht sähe, und ward nicht erfunden, darum daß ihn Gott wegnahm; denn vor seinem Wegnehmen hat er Zeugnis gehabt, daß er Gott gefallen habe.“ Hebr. 11,5. So war es auch mit Elia 2. Kön. 2, 1-12. Zuletzt wurde auch Jesus Christus selbst am Tag der Himmelfahrt in die Herrlichkeit aufgenommen. „Und da Er solches gesagt, ward Er aufgehoben zusehends, und eine Wolke nahm Ihn auf vor ihren Augen weg.“ Apg. 1,9.
Die drei Entrückungen, die von Henoch, Elia und Christus, gewähren uns ein Bild von der Entrückung der Gemeinde und einen festen frohen Glauben der Erwartung. Als Erstlingsfrucht wurde Jesus in den Himmel aufgenommen; Gott wird zu ihrer Stunde die Gemeinde als Ernte in Seine Scheunen einsammeln; zuletzt werden die Heiligen aus der großen Trübsal wie einzelne ihren auf dem Felde in der Nachlese ein gesammelt werden.


II. Die Entrückung der Gläubigen. 

„Gott hat Seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß Er die Welt richte, sondern daß die Welt durch Ihn selig werde.“ Joh. 3, 17. Was beim ersten Kommen Christi Wahrheit wurde, wird es auch bei Seiner Wiederkunft werden. Er erscheint dann zunächst nicht, um die Sünder zu richten, sondern die Gläubigen zu retten und zu Sich zu holen. „Er wird senden Seine Engel . . . und sie werden sammeln Seine Auserwählten von den vier Winden. . . Matt. 24, 31. „Dann werden zwei auf dem Felde sein; einer wird angenommen, und der andere wird verlassen werden . . .“ Vs. 40. 41

1. In dem von Gott bestimmten Moment

2. wird in einem Augenblick

3. Christus vom Himmel herniederkommen,

4. die im Glauben Entschlafenen auferwecken,

5. den Leib der zu der Zeit auf Erden lebenden Gläubigen verwandeln,

6. und werden alle Gläubigen, verwandelte wie auferweckte, „hingerückt werden in den Wolken, dem Herrn entgegen in der Luft, um ewig bei Ihm zu sein.“

Die noch lebenden Ungläubigen werden zurückgelassen werden zum Gericht. Wir kommen noch im einzelnen auf diese Punkte zurück.


III. Wie geht die Entrückung vor sich?

1. Das Kommen Jesu für Seine Gemeinde unterscheidet sich von Seiner Erscheinung zum Völkergericht. 
Nach Paulus wird als erstes Jesus Christus vom Himmel hernieder kommen. Während Er noch in der Luft ist, werden die Gläubigen Ihm in den Wolken entgegengerückt werden. 1. Thess. 4, 16. Kommt Er jedoch, die Völker zu richten, wird Er mit der Gemeinde (allen Seinen Heiligen) erscheinen, und Seine Füße werden auf dem Ölberg stehen, von dem aus Er gen Himmel fuhr. Sach. 14, 4; Apg. 1,11. Normalerweise tritt ein Bräutigam anders auf als ein Richter. Wir werden noch sehen, welcher Zeitraum zwischen Seinem zweifachen Erscheinen liegen kann. Aber das ist sicher, daß der Herr nur mit allen Seinen Heiligen auf die Erde herabkommen kann, wenn Er sie schon vorher zu Sich geholt hat.

2. Es wird ein Signal gegeben werden. „Er selbst, der Herr, wird mit einem Feldgeschrei und der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel.“ 1. Thess. 4, 16. „Wir werden alle verwandelt werden, in einem Augenblick, und zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden.“ 1. Kor. 15, 51. Das heißt, daß die Entrückung der Gemeinde nicht zufällig und irgendwann geschieht. Dieses große Ereignis ist der Angelpunkt im Plane Gottes für die Zukunft, da es das Ende auslösen soll. Es wird sich genau zu der Stunde einstellen, die bis ins kleinste im Himmel vorbedacht ist, und wird über den ganzen Weltkreis ausgerufen werden.

3. Jesus Christus wird selbst kommen, die Seinen zuholen. 
„Er selbst, der Herr, wird herniederkommen . . .“ 1. Thess. 4, 16. Es ist wohl die Rede von Engeln, die zur Ernte kommen und die Auserwählten sammeln werden. Matt. 13, 39. Aber damit wird Sich der Herr nicht begnügen. Er selbst wird mit ihnen vom Himmel herniedersteigen, um Seine Braut zu holen. Denn auch Er sehnt Sich tief nach der Vereinigung mit ihr. Welche Wonne wird es sein, wenn wir uns zu Ihm emporschwingen können! Endlich werden unsere Augen den König sehen in Seiner Schöne, endlich wird die Bewährung unseres Glaubens das Ende davonbringen, nämlich „Lob, Preis und Ehre, wenn uns offenbart wird Jesus Christus!“ 1. Petr. 1, 7.9.


4. Die verstorbenen Gläubigen aller Zeiten werden in dem Augenblick auferweckt werden. 
Die Entrückung ist vor allem die frohe Hoffnung der Kirche Christi, die ihrem Bräutigam in der Luft entgegeneilen wird. Die Erlösten aller Zeiten werden daran teilhaben, da die selige Auferstehung zur selben Zeit stattfinden wird: „Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden Seine Stimme hören. . . Joh. 5, 28.
. . . Denn gleichwie sie in Adam alle sterben, also werden sie in Christo alle lebendig gemacht werden; ein jeglicher aber in seiner Ordnung: der Erstling Christus, darnach die Christo angehören, wenn Er kommen wird.“ 1. Kor. 15,22. Demnach werden alle Seelen, die in der Ruhe beim Herrn auf den Endsieg warten, in dem einen Augenblick den Auferstehungsleib erhalten.


5. Was geschieht mit den Gläubigen, die der Herr auf Erden noch am Leben findet?


Paulus gibt deutliche Unterweisung darüber: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden . . . Die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn dies Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muß anziehen die Unsterblichkeit.“ 1. Kor. 15, 51. „Denn das sagen wir euch als ein Wort des Herrn, daß wir, die wir leben, werden denen nicht zuvorkommen, die da schlafen . . . Die Toten in Christo werden auferstehen zuerst. Darnach wir, die wir leben und übrig bleiben, werden zugleich mit ihnen hingerückt werden in den Wolken, dem Herrn entgegen in der Luft.“ 1. Thess. 4, 15.
Also werden die auf Erden leben den Gläubigen, ohne den Tod zu erleiden, in jenem Augenblick verwandelt werden. Das bedeutet, daß auch sie den Auferstehungsleib bekommen. Paulus sagt: Wir, die wir leben, werden verwandelt werden. Da er das Datum der Wiederkunft des Herrn nicht kannte, hoffte er ohne Zweifel, zu seinen Lebzeiten daran teilzuhaben – können wir ihm das verargen? . . . 


6. Wo findet die Begegnung zwischen Christus und Seiner Gemeinde statt?

Paulus sagt: „Wir werden zuhleich mit denselben hingerückt werden in den Wolken, dem Herrn entgegen in der Luft, und werden also bei dem Herrn sein allezeit“. 1. Thess. 4, 17. . . . die Kirche ist nicht von dieser Welt, sie ist geistlich und von oben. Unsere Berufung ist eine himmlische. Hebr. 3, 1. . . . und sind „samt Ihm in das himmlische Wesen gesetzt in Christo Jesu“. Eph. 1, 3; 2,6. Und als letztes hält uns Gott im Himmel, nicht auf Erden, ein unvergängliches und unverwelkliches Erbe bereit. 1. Petr. 1, 4. …


7. Wieviel Zeit nimmt die Entrückung?
„Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick (en atomo), zur Zeit der letzten Posaune. . . “ 1. Kor. 15, 50. . . . Die Entrückung wird alle überraschen, sie kommt wie „ein Blitz, wie der Dieb in der Nacht“, Matth. 24, 27. . . .
Da Jesus alle über den Erdkreis zerstreuten Gläubigen entrücken wird, ist es klar, daß sie je nachdem. . . am Abend, um Mitternacht oder am Morgen überrascht werden. Darum gilt es, vorher bereit zu sein.

8. Wird die Entrückung von den Bewohnern der Erde gesehen werden?

Darüber schweigt die Schrift. Sie erlaubt uns höchstens, Vergleiche zu ziehen. Die Entrückung Henochs scheint nicht von den Menschen gesehen worden zu sein. Die Bibel sagt nur: „Gott nahm ihn hinweg, und er ward nicht mehr gesehn.“ 1. Mose 5,24. Der Hingang Elias wurde von niemand außer Elisa gesehen, und das nur als bsondere Gnade. Und nur Seine Apostel waren Zeugen von Jesu Himmelfahrt. Apg. 1, 6.9. Vom Gesamtvolk blieb sie unbemerkt. So fragt man sich, ob die Entrückung der Gläubigen nicht ebenso verborgen geschieht.
Denken wir auch daran, daß nur die Weisen den Stern von Bethlehem sahen und ihm folgten. Matt. 2, 2. Die Stimme Gottes, die vom Himmel an Seinen Sohn erging, hielt die Menge für Donner. Joh. 12, 28. Die Begleiter des Saulus auf dem Weg nach Damaskus nahmen das Licht, aber nicht die Worte Christi wahr. Apg. 22,9. So könnten vielleicht auch die Stimme des Erzengels und der Schall der Posaune, die das Zeichen zur Entrückung geben, unmittelbar nur von den Gläubigen gehört werden. Würde der Anblick der Entrückung die Ungläubigen nicht zur Bekehrung zwingen? Das wäre dann für sie ein Schauen, nicht ein Glauben.
Übrigens, findet die Entrückung in einer Sekunde, in einem Augenblick, statt, so gibt es überhaupt nicht viel zu sehen, besoners da es für die Hälfte der Erde Nacht sein wird. Eins ist aber sicher, überall wird man die leeren Plätze bemerken. Nach seiner Entrückung wurde Elia vergeblich gesucht. 2. Kön. 2,15. Bei Henoch geschah wohl dasselbe; denn Hebr. 11,5 heißt es: „er ward nicht gefunden.“ So wird man wohl auch überall nach den entrückten Gläubigen suchen. Welches Entsetzen wird dann die Herzen derer ergreifen, die sich trotz der treuen Zeugnisse der Gläubigen nicht hatten beizeiten warnen lassen.


lV. Wann findet die Entrückung statt?

1. Kann man den genauen Augenblick voraussehen, indem sie geschieht?

Nein, aus den bei den schon angeführten Gründen: Erstens, niemand weiß Tag noch Stunde. Matt. 24,36. Die Gemeinde hat auch nicht die restlose Erfüllung der Zeichen abzuwarten, die Jesus über die große Trübsal angegeben hat. Seine Jünger heißt Er nur bereit sein. Luk. 12,40. . . .


2. Findet die Entrückung statt, sobald die Kirche Christi vollzählig ist?
Ja, das sagt Paulus in der Tat: ” Ich will euch nicht verhalten, liebe Brüder, dieses Geheimnis, auf daß ihr nicht stolz seid. Blindheit ist zum Teil Israel widerfahren, so lange, bis die Fülle der Heiden eingegangen sei, und also das ganze Israel selig werde, wie geschrieben steht: Es wird kommen aus Zion, der da erlöse und abwende das gottlose Wesen von Jakob.“ Röm. 11,25. Gott kennt zum voraus die Zahl Seiner Auserwählten. Hat die Vollzahl der zum ewigen Leben Bestimmten den Heiland angenommen, so geht die Gnadenzeit zu Ende, und die Gemeinde wird entrückt. Dann bekehrt sich auch Israel und wird in seine frühere Stellung vor Gott wieder eingesetzt. . . .


3. Findet die Entrückung vor oder nach der großen Trübsal statt?


a) Sicher ist zunächst, daß die Gemeinde nicht jedem Gericht entrinnen wird. Petrus sagt sogar, daß das Gericht am Hause Gottes anfangen muß. 1. Petr. 4,17. Damit die Gemeinde nicht mit der Welt verdammt werde, wird sie der Herr im Feuer der Trübsal reinigen. Andererseits laufen die Endgerichte, sogar schon vor der großen Trübsal, stufenweise an, und die Gläubigen werden mit allen Menschen leiden, da sie zu Zeugen berufen sind. Schließlich wird die Welt, in stetig zunehmender Empörung gegen Gott, Seine Kinder immer mehr verfolgen. Aber diese Leiden sind nicht zu vergleichen mit denen, die auf die Entrückung folgen.
b) Offensichtlich werden auch einige Auserwählte die große Trübsal erleiden. „Es wird alsdann eine große Trübsal sein, wie nicht gewesen ist von Anfang der Welt bisher, und wie auch nicht werden wird. Und wo diese Tage nicht würden verkürzt, so würde kein Mensch selig; aber um der Auserwählten willen werden die Tage verkürzt . . . Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohns am Himmel. Und alsdann werden kommen sehen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und Er wird senden Seine Engel mit hellen Posaunen, und sie werden sammeln Seine Auserwählten von den vier Winden, von einem Ende des Himmels zu dem andern.“ Matt. 24, 21-22.29-31. Nach unserer Ansicht handelt es sich hier um solche, die sich nach der Entrückung der Gemeinde während der Herrschaft des Antichristen bekehren. In einem Kapitel über die große Trübsal werden wir tatsächlich sehen, daß diese Schreckenszeit trotz allem noch eine Offenbarung der Gnade Gottes erleben wird. Eine große Zahl von Israeliten und Menschen aus allen Völkern sollen noch gerettet werden. Offb. 7,3-4. 9-14. Um dieser Auserwählten willen werden die Gerichte abgekürzt.


c) Es scheint aber doch, daß die Gemeinde vor der großen Trübsal entrückt wird. Zahlreiche Stellen lassen diese Annahme zu.

1. „Dieweil du hast bewahrt das Wort Meiner Geduld, will Ich auch dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die da wohnen auf Erden.“ Offb. 3,10. Der griechische Text sagt sogar: Ich werde dich bewahren, heraus aus der Stunde der Versuchung, die nach der Sprache der Offenbarung nur die große Trübsal sein kann.

2. Die Gerichte der Trübsal werden „der Zorn des Lammes“ genannt. Offb. 6,16. Nun hat aber die Gemeinde diesen Zorn nicht zu befürchten. Sie erwartet Jesus nicht als ihren Richter, sondern als ihren Bräutigam, um mit Ihm die Hochzeit des Lammes zu feiern. Offb. 19,7-9.

3. Das Gericht muß am Hause Gottes anfangen. 1. Petr. 4,17. Aber Gott fängt mit uns an, gerade damit wir nicht mit der Welt verdammt werden.

4. „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebt eure Häupter, darum, daß sich eure Erlösung naht.“ Luk. 21, 28. Wie könnten wir in Erwartung der Trübsal anfangen, aufzuschauen und uns zu freuen? Gerade vor ihr sollen wir bewahrt werden.

5. „So seid nun wach allezeit und betet, daß ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem allem, das geschehen soll, und zu stehen vor des Menschen Sohn.“ Luk. 21,36. Durch Wachen und Beten ist es demnach möglich, all diesem, das kommen soll, zu entrinnen.

6. Nach Paulus geht das Auftreten des Antichrist der Wiederkunft des Herrn voraus: „Was es noch aufhält (den Antichristen), wißt ihr, daß er offenbart werde zu seiner Zeit (der Antichrist). Denn es regt sich bereits das Geheimnis der Bosheit, nur daß, der es jetzt aufhält, muß hinweg getan werden; und alsdann wird der Boshafte offenbart werden, welchen der Herr umbringen wird mit dem Geiste Seines Mundes und wird durch die Erscheinung Seiner Zukunft ihm ein Ende machen.“ 2. Thess. 2,6-8.


Man hat sich oft gefragt, wer mit „der es jetzt aufhält“ gemeint sei, dessen Verschwinden das Offenbarwerden des Antichrist erst ermöglichen soll. Folgende Auffassung erscheint uns als die zutreffendste:
Die Gemeinde ist der Tempel des Heiligen Geistes. 1. Kor. 3,16; Eph. 2, 21-22. Ist sie einmal entrückt, so hat der Heilige Geist keine Wohnung mehr auf Erden und wird auch nimmer der Flut der Versuchung entgegentreten. Dann ist die Bosheit entfesselt und „der Mensch der Sünde“ für kurze Zeit scheinbar Herr der Lage. Wenn wir es recht verstehen, wird Sich der Herr zu Beginn der großen Trübsal von der abgefallenen Menschheit zurückziehen. Andererseits sind die Christen das Salz der Erde. Matt. 5,13. Es ist daher nicht erstaunlich, wenn ihre Entrückung die Zersetzung der Welt beschleunigen würde. Vergessen wir dabei nicht, daß der Heilige Geist, auch nach der Entrückung der Gemeinde, in den Menschen, die guten Willens sind, noch wirken wird. Während der großen Trübsal wird Er über Israel ausgegossen werden, es zur Bekehrung zu führen. Sach. 12, 10; Hes. 39, 29; Jes. 59 ,20-21. Wir wissen auch, daß zur gleichen Zeit eine Menge aus allen Völkern gerettet wird. Offb. 7,9.14. Da nun der Glaube an Christus ohne den Beistand des Heiligen Geistes unmöglich ist, muß dieser wenigstens zum Teil Seine Arbeit auf Erden fortführen.


7. Wir haben schon gesehen, daß Jesus Christus am Ende der großen Trübsal mit all Seinen Heiligen auf dem Ölberg erscheinen wird, die Welt zu richten. Sach. 14,4-5. Das ist für jene nur möglich, wenn sie zuvor in den Himmel entrückt wurden.

8. Wir sehen, daß zu Beginn des Tausendjährigen Reich nur die Märtyrer auferweckt werden, die sich in der großen Trübsal geweigert haben, den Antichrist anzubeten. Offb. 20,4-6. Und doch haben die Gläubigen aller Zeiten Teil an der ersten Auferstehung, zum Leben und Herrschen mit Christus. Joh. 5,28-29. Wann sind diese Gläubigen auferstanden, wenn nicht bei der Entrückung der Gemeinde vor der großen Trübsal?

9. Außerdem sieht Johannes vor der Auferstehung der Märtyrer aus der großen Trübsal auf Thronen Menschen sitzen, welche die Macht empfangen haben zu richten. Offb. 20,4. Wer sind diese Richter? ( Mehrzahl!) Es gibt nur einen souveränen Richter, Jesus Christus, dem alles Gericht übergeben ist . Joh. 5, 22.27. Aber der Herr hat es für gut erachtet, Seine Gläubigen über die Welt mitrichten zu lassen: „Wisset ihr nicht , daß die Heiligen die Welt richten werden? . . . Wisset ihr nicht, daß wir über die Engel richten werden?“ 1. Kor. 6, 2-3. Die Richter, die sich noch vor der Auferstehung der Märtyrer aus der großen Trübsal auf jene Throne setzen, sind also Heilige. Hätten sie diese Schreckenszeit durchgemacht, wären auch sie Märtyrer geworden. Sind sie aber zu dem Zeitpunkt im ewigen Leben, so beweist das wiederum, daß sie vor der großen Trübsal entrückt wurden.

10. Jesus sagt: „Wie es geschah zu den Zeiten Lots: sie aßen, sie tranken . . . , an dem Tag aber, da Lot aus Sodom ging, da regnete es Feuer vom Himmel und brachte sie alle um. Auf diese Weise wird’s auch gehen an dem Tag. Er sprach zu ihm: „Eile und rette dich . . .“ 1. Mose 19,22.
„Aber gleichwie es zu der Zeit Noahs war, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes.“ Matt. 24, 37. Auch Noah wurde von Gott erst in Sicherheit gebracht, bevor die Katastrophe begann. Immerhin mußte er, trotz der göttlichen Bewahrung, durch die Wasser der Sintflut hindurch. Von da aus gesehen, ist es interessant, seine Erfahrung mit der des Henoch zu vergleichen: Henoch wurde, nach – einem Wandel mit Gott, vor den Gerichten von der Erde weggenommen (1. Mose 5, 24) und wäre so das Symbol der Gläubigen, die vor der großen Trübsal lebend entrückt werden. Noah dagegen, inmitten der Sintflut bewahrt, wäre der Hinweis auf die Heiligen (aus Israel und den Völkern), die wohl die große Trübsal erdulden müssen, aber das Siegel Gottes tragen. Und von diesen Heiligen schreibt Johannes: „Und ich sah einen anderen Engel, der sprach: Beschädigt die Erde nicht, noch das Meer, noch die Bäume, bis daß wir versiegeln die Knechte Gottes an ihren Stirnen.“ Offb. 7, 2-3.


11. Die Berufung und die Erwählung der Gemeinde ist ein Geheimnis (Eph. 3,3 -10) und ein Zwischenakt im Plane Gottes für die Welt. Sie geht mit dem Geheimnis der Entrückung zu Ende (1. Kor. 15, 55), bevor die Erfüllung der Weissagungen für Israel wieder ihren Lauf nimmt.

12. Es fällt direkt auf, daß keine der Episteln, die doch alle für die Gemeinde geschrieben sind, über Einzelheiten der großen Trübsal spricht. Bedeutet das nicht etwa, daß die Gemeinde diese Zeit nicht durchzumachen hat?

13. Nach Offb. Kap. 2 und 3, die (neben an deren Anwendungsmöglichkeiten) offenbar einen weiten Überblick über Entwicklungsstadien der Gemeinde geben, wird der letzte Zustand der sich Kirche nennen den Gemeinde auf Erden durch Laodizäa dargestellt, d. h. ihre Merkmale sind Lauheit, Rückgang und Abfall. Sie weist keine Züge einer verfolgten, aber treuen Kirche auf.

14. Vor den großen Gerichten der Offenbarung sehen wir die vierundzwanzig Ältesten im Himmel, welche, wie es scheint, die Erlösten aus dem Alten und Neuen Bund sind. Diese sitzen (d. h. sind eingesetzt) verklärt und gekrönt vor demThrone Gottes. Offb. 4.

15. In einer Vision sieht der Apostel Johannes, wie ein Weib ein Knäblein gebiert, das alle Heiden mit einem eisernen Stabe weiden sollte. Satan, der Drache, steht vor ihr, das Kind zu verschlingen; aber es wird zu Gott und Seinem Stuhl entrückt. Das Weib entflieht zur Wüste, vom Drachen verfolgt, aber von Gott beschützt, genau so lange wie die große Trübsal währt, nämlich tausend zweihundert und sechzig Tage. Offb. 12,4-6. 13- 17. Das Weib scheint das Volk Gottes aller Zeiten zu sein, das der Welt den Messias, dann die Gemeinde und zuletzt die Heiligen der großen Trübsal geschenkt hat. Christus, vom Satan wohl in die Feuersee gestoßen, hat ihm aber den Kopf zertreten und wurde zur Rechten Gottes in die Herrlichkeit erhöht. Von dort wird Er wiederkommen, die Völker mit eisernem Zepter zu weiden. Ps. 2,9. Auch die Gemeinde wird durch das Knäblein dargestellt: Vom Feinde belauert, wird sie gleich nach der Geburt ( d. h. wenn sie die Vollzahl erreicht hat) zu Gott und Seinem Thron entrückt, und der Herr gibt ihr die Vollmacht, gleich Ihm die Völker mit eisernem Stabe zu weiden. Offb. 2,26-27. Sofort nach ihrer Entrückung beginnen die dreieinhalb Jahre der Trübsal. Während dieser streitet der Drache in seiner Wut mit „den übrigen von des Weibes Samen, die da haben das Zeugnis Jesu Christi” (12,17), d. h. die aus Israel und den Völkern sich unter der Herrschaft des Antichristen zum Herrn bekehren.

16. Johannes verlegt die Hochzeit des Lammes, auf die sich “Sein Weib bereitet hat”, vor die Schlacht von Harmagedon. “Und es ward ihr gegeben, sich anzutun mit reiner und schöner Leinwand (die köstliche Leinwand aber ist die Gerechtigkeit der Heiligen Offb. 19,7-8 . Anscheinend sind die Vorbereitung zur Hochzeit und die der Gemeinde erteilte Ermächtigung, ihr Kleid der Gerechtigkeit anzulegen, die Folge des unmittelbar nach der Entrückung vor dem Richterstuhl Christi gefallenen Entscheids. 2. Kor. 5,10; 1. Kor. 3,10-15. Erst nach diesem Gericht wird die Gemeinde verklärt und mit ihrem himmlischen Bräutigam vereint, um hernach, Ihm zur Seite, als Mitrichter und Mitherrscher vom Himmel herabzukommen.

17. Fände die Entrückung erst nach der Trübsal statt, so fragt man sich, welche Gläubigen am Leben blieben, um im Tausendjährigen Reich die Untertanen zu sein. Es wird ausdrücklich gesagt, daß sich das ganze jüdische Volk im Feuer der Läuterung zu Jesus Christus bekehren wird. Sach. 2,10; 13,8 -9. Würden diese bekehrten Juden zusammen mit der Gemeinde entrückt, so bliebe keiner von ihnen auf Erden zurück, um die ihnen in den Weissagungen verheissene Rolle zu spielen.

18. Eine Bestätigung dafür, daß der Weggang der Gemeinde den Auftakt zur großen Trübsal gibt, finden wir schließlich im folgenden Gedanken: Paulus nennt die Gläubigen die Botschafter Gottes in dieser Welt, welche die Sünder ermahnen: Lasset euch versöhnen mit Gott! 2. Kor. 5 ,20. Werden nun Botschafter, die den Frieden anbieten, schamlos abgewiesen und beschimpft, so ruft sie ihre Regierung zurück, und die Folge ist der Krieg. So wird auch einmal die Abberufung der Botschafter Gottes das furchtbare Gericht auslösen, das Seine Sache zum Endsieg führen wird.

So scheint nach all den angeführten Bibelstellen die Entrückung der Gemeinde der großen Trübsal vorauszugehen. Doch wollen wir in diesem Punkt ganz nüchtern bleiben und es bei dem allgemeinen Eindruck belassen. Gott hat es nicht für gut befunden, uns über den Zeitpunkt der Entrückung Bestimmteres zu sagen, und das wahrscheinlich, weil Er nicht will, daß wir in der sicheren Beruhigung einschlafen, allen Endgerichten zu entrinnen. Gewiß will Er uns durch die Verheißung einer sicheren Erlösung ermutigen, der Zukunft froh entgegen zu sehen. Aber ebenso mahnt Er uns, daß das Gericht am Hause Gottes beginnt, und daß es ein furchtbares sein kann. Solche, die in den letzten Jahren durch Krieg, Hunger und Verfolgung unaussprechlich gelitten haben, mögen sich manchmal gefragt haben, ob die große Trübsal schlimmer sein könnte. Laßt uns darum wachen und beten, daß der Herr die Zeit unserer Läuterung abkürzen und die Stunde unserer seligen Vereinigung mit Ihm beschleunige!

d) Welche Argumente liegen der Auffassung zugrunde, daß die Gemeinde nach der großen Trübsal entrückt wird? Manche Gläubige, welche die Schrift sehr ernst nehmen, können in den Prophezeiungen keine Pause finden zwischen der Entrückung der Gläubigen und dem Kommen Christi mit ihnen zum Weltgericht. Sie berufen sich auf folgende Gründe:

1. Viele Stellen im NT lassen anscheinend bei der Wiederkunft Christi ohne zeitliche Unterscheidung die Belohnung der Gerechten und das Strafgericht über die Ungerechten zusammenfallen. So wird bei Matt. 13, 30.41-43 das Unkraut ins Feuer geworfen und gleichzeitig der Weizen in die Scheunen gesammelt; nach Matt. 24, 22.29-31 werden die Auserwählten sogar erst nach der Drangsal und Trübsal gesammelt.
Paulus sagt, daß Gott auf den Tag Seines gerechten Gerichts den einen das ewige Leben, den anderen den Zorn vorbehält. Röm. 2, 5-9. Christus wird vom Himmel kommen und den Gläubigen die Ruhe, den Ungläubigen das ewige Verderben geben. 2. Thess. 1, 6-10. Darauf können wir antworten, daß diese Darstellungsweise schon im AT geläufig war. Immer wieder werden in denselben Texten das erste und das zweite Kommen Jesu Christi nebeneinander gestellt (z.B. Jes. 9, 5-6; 61,1-2; Sach. 9,9-10; Mal. 3, 1-2 usw.). Und doch sollten mindestens neunzehn Jahrhunderte zwischen diesen beiden Ereignissen liegen. Das wurde erst durch die Erfüllung des ersten Teils dieser Weissagungen offenbar. Wieviel mehr könnten die Erlösung der Gemeinde und das Endgericht über die Völker in gewissen Stellen des NT nebeneinander stehen, wenn sie tatsächlich nur durch die dreieinhalb Jahre der Trübsal getrennt sein sollen.
Wir haben schon einmal das Bild gebraucht: in der Ferne scheinen sich zwei Gipfel einer Bergkette zu berühren, in der Nähe aber sehen wir das tiefe Tal dazwischen. Besonders die Argumente des letzten Sehers der Schrift ( d.h. des Johannes, dem die Endoffenbarungen gegeben wurden) haben uns persönlich zu der Anschauung geführt, daß die Entrückung der Trübsal vorausgeht.

2. Nach 2. Thess. 2,1-8 scheint Paulus zu sagen, daß das Kommen des Herrn und unsere Vereinigung mit Ihm nicht vor dem Auftreten und der Vernichtung des Antichristen stattfinden werden. In seinem Buch „Die Braut des Lammes“ erklärt Stockmayer die Stelle folgendermaßen: „Warum beunruhigten sich denn die Thessalonicher, indem sie glaubten, der Tag (des Herrn) sei schon gekommen? Eben weil sie dachten, wenn der Tag des Herrn gekommen wäre, hätte die Herauswahl und die Entrückung stattgefunden, und sie wären zurückgelassen worden. Wenn die Gemeinde die ganze Trübsal erleiden müßte, dann hätte des Apostels Trost für die Thessalonicher etwa so viel bedeutet: Beruhigt euch, Christus wird in absehbarer Zeit nicht kommen, solange der Antichrist nicht erschienen ist. – Nun dachte aber der Apostel nicht im mindesten daran, einen Trost dieser Art zu bieten und zu behaupten, die Erscheinung Christi sei nicht nahe. Er wollte durchaus nicht den Thessalonichern sagen, daß viele unter ihnen vor der Wiederkunft sterben würden. Aber er tröstete sie, indem er sagt: Der Antichrist ist noch nicht aufgetreten, und der Tag des Herrn ist noch nicht da, wie ihr meinet. Darum hat auch die Entrückung noch nicht stattgefunden, wie ihr befürchtet, und ihr seid nicht zurückgelassen worden. . .
Die beiden Briefe an die Thessalonicher wurden im gleichen Jahre geschrieben. Im ersten tröstet sie Paulus mit der Erwartung der Wiederkunft. Widerspricht er sich im zweiten, wenn er schreibt: Erwartet jetzt Jesus nicht, ihr müßt erst die antichristliche Zeit durchleben; wir erwarten nicht das Kommen des Herrn, sondern des Antichristen . . . ? Gewiß hat der Apostel das nie sagen wollen.“ (S. Vers 3 u.4)
Zu eben dieser Stelle von 2. Thess. 2, 1-8 fügen wir noch bei, daß wir noch bei keinem, der das Auftreten des Antichristen vor die Entrückung stellt, eine befriedigende Erklärung für den berühmten siebten Vers gefunden haben. Wenn das (im gr. Text der), was den Antichristen aufhält, nicht der Leib Christi ist, der Tempel des Heiligen Geistes, wer ist es dann?
Ganz ohne Zweifel spricht hier Paulus von dem letzten Antichristen, dessen Laufbahn durch die glorreiche Erscheinung Christi ein Ende gesetzt wird. Wer könnte dann der sein, dessen Verschwinden den Anfang dieser verhängnisvollen Laufbahn einleitet? Für unseren Teil finden wir in der vorausgehenden Entrückung der Gemeinde die einzige triftige Antwort auf diese Frage. Manche dachten, mit diesem merkwürdigen Hindernis für den Antichristen sei die römische Weltordnung oder das römische Reich gemeint, wie es in den ersten drei Jahrhunderten der Gemeinde bestand.
Aber es ist klar, daß der Untergang der römischen Weltordnung unter den Vorstößen der Barbaren durchaus nicht
 die dreieinhalb Jahre der Endzeit einleitete.

3. Da die Offenbarung vor allem das dramatische Ende der Geschichte behandelt (hauptsächlich von Kap. 4 oder 6 an), würde sie – so sagt man – die Gemeinde nicht mehr interessieren, wenn diese vor all dem Geschehen entrückt würde. Nun sei aber die Offenbarung für die Gemeinde geschrieben und könne nicht lediglich eine Zeit angehen, da jene nimmer auf Erden weile. Das wäre für die zur Zeit des Apostels Johannes verfolgte Gemeinde ein armseliger Trost gewesen, hätte man ihr ein Buch gegeben, das nur für die Heiligen in der letzten, noch Jahrhundene entfernten Trübsal gültig wäre.
Auf dieses Argument gibt es folgende Antwort: Auch wir glauben, daß das letzte Buch der Bibel für die Christen aller Zeit geschrieben wurde. Wie wir schon am Anfang dieses Buches sagten, erfüllt sich die Weissagung oft in einem gewissen Zyklus, d. h. mehrere Teilerfüllungen können sehr wohl zu verschiedenen Zeiten aufeinanderfolgen, und docn in immer stärkerem Rhythmus. In allen stürmischen Zeiten haben die Gläubigen wunderbaren Trost und heilsame Warnungen aus der Offenbarung gescnöpft. Das hindert aber die Gläubigen der Endzeit nicht, ob vor, ob nach der Entrückung, noch mehr Kraft und Licht darin zu finden als alle früheren Geschlechter.


4. Auf Grund einer Unterscheidung der drei griechischen Ausdrücke für das Kommen des Herrn darf man nicht den Zeitpunkt der Entrückung bestimmen wollen:
Parusie – Epiphanie – Apokalypse.
Welchen feinen, ihm eigenen Sinn hat jeder dieser Ausdrücke!

a) Parusie bedeutet Ankunft, persönliche Gegenwart (meist mit „Wiederkunft“ oder „Zukunft“ übersetzt).

1. Kor. 15,23: die Auferstehung, „wenn Er kommen wird“.

1. Thess. 5,23: unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi.

Jak. 5,7: geduldig auf die Zukunft des Herrn.

Phil. 2,12: Paulus sagt: . . . nicht allein in meiner Gegenwart (Parusie) . . schaffet, daß ihr selig werdet.

b) Epiphanie bedeutet Erscheinung, ausbrechender Glanz, Herrlichkeit.

1. Tim. 6, 14: untadelig bis auf die Erscheinung urueres Herrn Jesu Christi.
2. Tim. 4,8: die Seine Erscheinung liebhaben.

Tit. 2, 13: die Erscheinung der Herrlichkeit . . . unseres Heilandes Jesu Christi.

2. Thess. 2,8: der Boshafte . . . welchen der Herr umbringen wird . . . durch die Erscheinung (Epiphanie) Seiner Zukunft (Parusie).

c) Apokalypse bedeutet Offenbarung, Entschleierung unseres Herrn.

1. Kor. 1,7: ihr wartet auf die Offenbarung unseres Herrn.
2. Thess. 1,7: Ruhe, wenn der Herr Jesus wird offenbart werden (wörtlich: bei Seiner Apokalypse).

Aus diesem Verzeichnis geht hervor, daß diese drei Ausdrücke drei verschiedene Seiten derselben Begebenheit beleuchten: die persönliche und herrliche Wiederkunft Christi. Aber sie allein gestatten keine Unterscheidung der Zeit nach. Man hat zuweilen den Ausdruck “Parusie” nur auf das Kommen Jesu zur Entrückung der Seinen beschränken wollen, und „Epiphanie” auf Sein Herabkommen auf den Ölberg zur Vernichtung des Antichristen. Aber die oben angeführten Stellen und vor allem 2. Thess. 2,8 zeigen, daß diese Unterscheidung nicht im Text liegt. Wir stützen aber unsere Auffassung auch durchaus nicht auf ein solches Argument.


5. Paulus sagt den Thessalonichern: ,,Wir werden zugleich mit ihnen hingerückt . . . dem Herrn entgegen in der Luft.” 1. Thess. 4, 17. Das hier gebrauchte Wort scheint sagen zu wollen: jemandem entgegengehen, um mit ihm zurückzukehren.
Derselbe Ausdruck wird bei den Jungfrauen angewandt, die dem Bräutigam entgegengehen (Matt. 25, 6), und bei den Brüdern, die Paulus aus Rom entgegengehen, um mit ihm dahin zurückzukehren. Apg. 28, 15.
Dieser Ausdruck schließt in sich – so sagt man -, daß Abholer und Abgeholter gemeinsam zu einem Ort nahe beim Treffpunkt zurückkehren. Das mag sein! Aber ebenso gewiß ist, daß die Trübsal für den Gott der Ewigkeit von sehr kurzer Dauer ist, und daß die Gemeinde tatsächlich mit Jesus auf die Erde zurück kommt, wo Er erwartet wird.

6. Man findet es der wahren Streiter Christi unwürdig, immer zu berechnen, wie sie dem Leiden für ihren Meister entgehen könnten.

Die ersten Jünger dagegen freuten sich, „daß sie würdig gewesen waren, um Seines Namens willen Schmach zu leiden.“ Ap. 5,41. Paulus sagte zu den Philippern: „Euch ist gegeben, um Christi willen zu tun, daß ihr nicht allein an Ihn glaubet, sondern auch um Seinetwillen leidet.“ Warum, fragt man, sollte denn Gott die Gemeinde nicht die Trübsal erdulden lassen? Mußte sie doch im Lauf der Jahrhunderte schreckliche Verfolgungen von seiten der Juden erleiden, des heidnischen und des päpstlichen Rom und von allen modernen Verfolgern, – Gott hat es ihr nicht erspart.
Zieht man übrigens vor der Schlacht die besten Truppen aus dem Feld? Sollte der Gemeinde die Ehre genommen werden, in diesem allerwichtigsten Augenblick dem Herrn ihre Ergebenheit zu beweisen? Die Helden der Offenbarung haben ihr Leben nicht geliebt bis zum Tod“. Sollten die Christen heute weniger Mut haben und es nicht als ihr Vorrecht fordern, an der größten aller Schlachten teilzunehmen, wo die treuen Kämpfer am nötigsten und der Sieg am herrlichsten sein wird? Der Gemeinde Herrschaft und Herrlichkeit versprechen ohne Kreuz, hieße von einem offenbar fleischlichen Sinne zeugen. (Nach R. Cameron.)

Es ist etwas sehr Richtiges an dieser stürmischen Anklage! Man hat die Lehre von der Entrückung zu oft mißbraucht, um die Christen glauben zu machen, sie hätten keine Leiden zu befürchten, sie könnten ruhig auf beiden Ohren weiter schlafen, und trotz ihrer kläglichen geistlichen Verfassung würde sie der Herr mit Freuden zu Sich nehmen. – Die Feigheit und das Schmachvolle an einer solchen Haltung sind nicht zu verkennen. Aber lassen wir die Schrift reden, so sehen wir sofort, daß Gericht und Leiden am Hause Gottes anfangen sollen. 1. Pet. 4,17. So werden nach unserer Meinung die Gläubigen reichlich Gelegenheit haben, dem Herrn vor der Entrückung ihre unbedingte Treue zu beweisen.

Übrigens bleiben, trotz der oben genannten Beweisführung, die Schriftstellen bestehen, nach denen die Gemeinde die Herrschaft des Antichristen nicht sehen wird. Es ist auch verständlich, daß der Herr, wenn Seine Geduld ein Ende hat, die rebellische Menschheit auf kurze Zeit den Händen des Feindes überläßt und vor dieser furchtbaren Prüfung die Glieder Seines Leibes von der Erde wegnimmt. Die vom Antichrist verfolgten Heiligen wären dann (wie gesagt) die nach der Entrückung bekehrten Juden und Heiden. (Dan. 7,25; Offb. 6, 9; 7,3-4. 13-14; 13,7; 20,4 usw.)

7. Um objektiv zu sein, haben wir uns bemüht, die Argumentenreihen vorzuführen, die man in dieser strittigen Frage geltend machen kann. Zum Schluß möchten wir aber nochmals sagen:
Hüten wir uns, zu bestimmt über einen Punkt zu urteilen, den erst die Zukunft ganz aufklären wird. Wir wollen suchen, mit dem uns geschenkten Licht zu einer festen Überzeugung zu kommen, aber nicht gegen solche polemisieren, deren Ansicht ein wenig von der unseren abweicht. Wir wollen mit Paulus sagen: ,,Lasset uns also gesinnt sein, und solltet ihr sonst etwas halten, das laßt euch Gott offenbaren. Doch sofern, daß wir nach derselben Regel, darein wir gekommen sind, wandeln und gleich gesinnt seien!“ Phil. 3, 15-16.
Das Allerwichtigste ist, daß wir zur Entrückung bereit sind, mag sie etwas früher oder später stattfinden.


V. Wer wird genommen, und wer wird zurückgelassen werden?
Eines ist sicher: Nicht alle Toten und Lebenden werden an der Entrückung teilhaben. Unermüdlich wird dieser Gedanke in den uns nun vertrauten Stellen wiederholt: ,,In derselben Nacht werden zwei auf einem Bette liegen; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden“ usw. Luk. 17, 34 ff. Welche Bedingungen müssen wir erfüllen, um vom Herrn angenommen zu werden? Wir müssen:
1. „In Christo“ sein.
d. h. durch den Glauben das Heil und das Leben aus Christus empfangen haben.  (1. Thess. 4, 13. 16-17) Wie ein Magnet nur Eisenteilchen an sich zieht und alles andere läßt, so wird Christus alle, welche die göttliche Natur empfangen haben, zu sich ziehen. An ihnen alle in wird das Wort wahr:
„Ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, offenbar wird, werdet ihr auch offenbar werden mit Ihm in der Herrlichkeit.“ Kol. 3 , 3-4.

2. Den Heilgen Geist empfangen haben und Sein Licht leuchten lassen.
Im Gleichnis von den zehn Jungfrauen gehen nur die mit dem Bräutigam in den Hochzeitssaal ein, die bereit sind, während die anderen fünf die Pforte verschlossen finden. Durchgängig gilt in der Schrift das Öl als Symbol für den Heiligen Geist. Alle, die an Jesum glauben, empfangen Seinen Geist als Öl in ihre Lampen. Joh. 7, 39. „Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht Sein“. Röm. 8, 9.
Es ist aber möglich, eine Lampe ohne Öl zu haben, d.h. einen Schein von Frömmigkeit und Glauben zu haben, aber ohne das wirkliche Wesen: „Du hast den Namen, daß du lebst, und bist tot.“ Offb. 3, 1. So ist’s bei religiösen Menschen, die sich sogar religiös betätigen und nach außen fromm sind, aber ohne die Wiedergeburt erlebt zu haben. Gehören wir noch zu diesen?
Bedenken wir es wohl! Wenn Christus kommt, ist es zu spät, auf die Suche nach Öl zu gehen. Es genügt aber noch nicht, Öl bei sich zu haben. Auch die klugen Jungfrauen waren eingeschlafen und mußten erst aufwachen und ihre Lampen schmücken, um nicht ausgeschlossen zu werden. Viele sog. bekehrte Christen schlafen heute, man kann sogar sagen, daß die ganze Kirche schläft. Und doch rufen es uns die Weissagungen und Ereignisse laut zu: Es ist Zeit, vom Schlaf aufzustehen!
Allen, die wirklich den Heiligen Geist empfangen haben, wird es am Herzen liegen, ihre Trägheit abzuschütteln, sich zu heiligen und das göttliche Licht hell leuchten zu lassen. Hätte eine der klugen Jungfrauen in dem beruhigenden Gefühl, Öl im Vorrat zu haben, ein wenig weiterschlafen und später mit den törichten Jungfrauen eingehen wollen, so wäre sie mit ihnen verstoßen worden. Wenn sogenannte Christen in ihrer Lauheit verharren und dem Heiligen Geist wehren, sie auf die Entrückung vorzubereiten, beweisen sie damit ihren Mangel an Aufrichtigkeit und werden einfach zum Gericht auf Erden zurück gelassen werden.

3. Treu im Dienst sein.
Wir sind alle Knechte, denen der Herr je nach unserem Vermögen Gaben anvertraut hat. Bei Seiner Rückkehr wird Er zu denen, die sie verwertet haben, sagen: „Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, Ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude!“ Matt. 25, 21. Demnach werden nur solche an der Entrückung teilhaben, deren Werke den Herrn auf der Erde verherrlicht haben.


4. Zu den Überwindern gehören.
In den Briefen an die sieben Gemeinden in der Offenbarung behält der Herr das ewige Leben, das Paradies, die Herrschaft dem, „der überwindet“, vor. Gerettet werden nur die, welche bis zum Ende den guten Kampf des Glaubens gekämpft haben, die den „Widersacher überwunden haben durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses.“ (Offb. 12, 11) . . .

Und derselbe Apostel schreibt den Philippern: „Ich bin in guter Zuversicht, daß, der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi.“ . . .
Vertrauen wir dem Herrn: Seine Treue wird unsere Zubereitung auf Sein Kommen zu Ende führen.
Und da sich die Entrückung von einem Augenblick zum anderen ereignen kann, laßt uns in der ständigen Erwartung des Herrn leben und uns jeden Tag sagen: Wird es vielleicht heute sein? Dieser Gedanke wird uns keineswegs in ungesunde Schwärmerei treiben, sondern uns wachsam und nüchtern erhalten.

„Und nun, Kindlein, bleibet bei Ihm, auf daß, wenn Er offenbart wird, wir Freudigkeit haben und nicht zuschanden werden vor Ihm in Seiner Zukunft!“ 1. Joh. 2, 28.

 

Sechster Teil

ISRAEL UND DIE WIEDERKUNFT JESU

siehe separat auf der HP unter ISRAEL

 

Siebter Teil


DIE ANKUNFT JESU CHRISTI

1. Kapitel

Die glorreiche Erscheinung Jesu Christi

Das Hauptereignis, das die Propheten ankündigen, ist nicht das Weltgericht, nicht die Wiederherstellung Israels, nicht einmal der Sieg der Gemeinde: Es ist das Kommen des Sohnes Gottes in Herrlichkeit. Darum haben wir unserem Buch nicht ohne Grund den Titel DIE WIEDERKUNFT JESU CHRISTI gegeben. Ohne die Erscheinung des Einen, Des wir warten, wären die Weissagungen gegenstandslos, die Zukunft leer.
Als der Heiland Seine Jünger durch Seine Himmelfahrt verlassen hatte, vernahmen sie die Botschaft der Engel: „Dieser Jesus, welcher ist von euch aufgenommen gen Himmel, wird kommen, wie ihr Ihn gesehen habt gen Himmel fahren.“ Und es heißt: „Da wandten sie sich gen Jerusalem von dem Berge, der da heißt Ölberg.“ Apg. 1,12. Laßt uns sehen, wie der Herrn diesem Text zufolge wiederkommen soll.

1. Jesus Christus wird persönlich wiederkommen
Manche behaupten, wir könnten nicht mit der Rückkehr von Jesus Christus selbst rechnen. Damit nehmen sie diesem großen Ereignis seinen eigentlichen Inhalt, so daß es ganz nebelhaft und unpersönlich wird. Jesus sei an Pfingsten „im Geist“ wiedergekommen, oder Er käme überhaupt nicht wieder, zum einen, weil „man aus jener Welt nicht wiederkehrt“, zum andern, weil Seine Rückkehr gar nicht nötig sei. Das Reich Gottes auf Erden sei einfach der Triumph des guten Willens der Menschen. (Man wundert sich, daß derlei Ideen sich heute noch verbreiten lassen.)

Und doch ist die Schrift hierüber ganz unzweideutig: „Saget den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Sehet, euer Gott, der kommt zur Rache; Gott, der da vergilt. Er selbst kommt und wird euch retten . . . Siehe, der Herr Herr kommt gewaltig, und Sein Arm wird herrschen. Siehe, Sein Lohn ist bei Ihm, und Seine Vergeltung ist vor Ihm. Er wird Seine Herde weiden wie ein Hirte.“ Jes. 35, 4; 40,10-11. „Der Herr wird ausziehen . . . Und Seine Füße werden stehen zu der Zeit auf dem Ölberge.“ Sach. 14, 3-4. Offenbar ist Jesus Christus selbst dieser Herr.

Im NT spricht der Herr dieselbe Sprache. Er schickt nicht Engel oder Erzengel, die Seinen zu holen und die Welt zu richten. In eigener Person wird Er ausziehen und von allen erkannt werden. „Ich will wiederkommen und euch zu Mir nehmen . . . Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen.“ Joh. 14, 3; 16,22.

Ebensowenig läßt Er Sich zu Seiner Vermählung vertreten. Gleich dem Bräutigam im Gleichnis von den zehn Jungfrauen überträgt Er niemandem das Recht, die Braut abzuholen: „Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; gehet aus, ihm entgegen!“ Matt. 25, 6. „Siehe, Ich komme bald und Mein Lohn mit
 Mir . . . Ja, Ich komme bald.“ Offb. 22, 12. 20.

Zuletzt bekräftigen auch die Apostel diese Aussagen: „Bekehret euch . . . auf daß . . . der Herr sende Den, der euch jetzt zuvor gepredigt wird, Jesus Christus.“ Ap. 3, 19.20. „Ihr seid bekehrt zu Gott . . . zu warten auf Seinen Sohn vom Himmel . . . Denn Er selbst, der Herr, wird herniederkommen vom Himmel.“ 1. Thess. 1, 9-10; 4,16 usw.


II. Jesus Christus wird als des Menschen Sohn erscheinen


Seit Pfingsten ließ der Herr Seinen Geist in Seiner Gemeinde wohnen. Nun soll Er leiblich wiederkommen, denn Er hat die Menschengestalt, die Er annahm, uns zu retten, nicht abgelegt. Als Johannes am Tage des Herrn im Geiste verzückt ist, sieht er den verklärten Menschensohn kommen, die Gemeinde zu warnen und die Welt zu richten. Der Unterschied zwischen dieser erhabenen Erscheinung und dem schlichten Zimmermann von Nazareth, an Dessen Brust Johannes gelegen hatte, ist so gewaltig, daß der Apostel seinem Meister wie tot zu Füßen fällt. Dieser aber legt die rechte Hand auf ihn und spricht: „Fürchte dich nicht!“ Offb. 1, 12-17. Für die Gläubigen liegt etwas unendlich Tröstliches in dem Gedanken, daß der Herr Sich dazu herabläßt, bis in Ewigkeit die Menschengestalt zu behalten, die Er angenommen hatte, um ans Kreuz zu gehen. Der Weltenbeherrscher ist einer der Unsern, Er nimmt uns in Seinen Himmel auf, wo wir ohne Ihn verloren wären, und läßt uns auf Seinem Throne sitzen. Erschreckend und demütigend aber ist für die Sünder der Gedanke, daß der höchste Richter der leibhafte Menschensohn sein wird. Bald werden sie vor Dem die Kniee beugen und zittern müssen, den sie so verachtet und dessen Vergebung sie so hochmütig verschmäht haben. Manche Texte bestätigen es, daß Jesus wirklich als Menschensohn erscheinen wird: „Siehe, es kam Einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn . . . Der gab Ihm Gewalt, Ehre und Reich.“ Dan. 7, 13. Alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes am Himmel. Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit . . . Am Ende der Welt. . . wird des Menschen Sohn Seine Engel senden; und sie werden sammeln aus Seinem Reich alle Ärgernisse.“ Matt. 24, 30; 13,40.41.

III. Christus wird sichtbar wiederkommen


Der Herr könnte Sich damit begnügen, den Seinen zu erscheinen, aber alle Sünder vernichten, ohne Sich ihnen zu zeigen. Doch der Vater will, daß alle den Sohn Seiner Liebe erkennen und Ihn in Seiner Herrlichkeit sehen. An dem Tage werden alle, die auf Erden leben, die Blicke auf Ihn richten, doch mit sehr verschiedenen Gefühlen:


- Die Gläubigen werden Ihm zujauchzen,

- die Juden Ihn endlich anerkennen,

– die Ungläubigen bei Seinem Anblick erbeben.



„Sie (die Juden) werden Mich ansehen, welchen sie zerstochen haben.“ Sach. 12,10.
Jesus sagt zu den Juden, sie würden Ihn wieder sehen, wenn sie sagen: „Gelobt sei, Der da kommt im Namen des Herrn!“ Matt. 23,39. 

„Ihr werdet sehen des Menschen Sohn . . . kommen in den Wolken des Himmels.“ Matt. 26, 64. 
„Und es werden Ihn sehen alle Augen und die Ihn zerstochen haben; und werden heulen alle Geschlechter der Erde.“ Offb. 1,7.

Manche haben die etwas naive Frage gestellt, wieso Christus in einem Augenblick der ganzen Welt sichtbar werden könnte. Man braucht nur daran zu denken, daß das Licht 300.000 km in der Sekunde zurücklegt, und daß die Television erstaunliche Wunder vor unseren Augen vollbringt. Der Herr wird noch andere Mittel haben, um Sein Wort wahr zu machen.


IV. Er kommt vom Himmel auf den Wolken und mit den Wolken



1. Jesus kommt auf den Wolken, d.h. von obenher, wie Er das erste Mal kam. Es sind nicht die Menschen, die Ihn „zum König krönen“ und Sein Reich auf Erden aufrichten. Nein, Er erscheint aus dem Himmel in dem Augenblick, den Sein souveräner Wille bestimmt. Das große Bild, das Symbol der Reiche der Welt, wird von einem Steine zermalmt, der „ohne Hände vom Berg herabgerissen wird“. Dan. 2, 34.45. „Siehe, es kam Einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn.“ Dan. 7, 13. Und mehrere der schon angeführten Stellen betonen den Gedanken, da Jesus „auf den Wolken des Himmels“ kommt, nicht aus den Tiefen unserer dem Abfall verfallenen Erde.

2. „Siehe, Er kommt mit den Wolken.“ Offb. 1, 7.

Ohne diesen Text vergewaltigen zu wollen, scheint er uns zu sagen, daß Jesus auch mit den Wolken des Gerichts kommt, die die Welt bedrohen. Müßte man nicht blind sein, um zu übersehen, wie sich heute die düstersten Wolken am Horizont auftürmen? Ein Sturm ist im Anzug, dessen Umfang uns nur die Bibel ahnen läßt.

V. Jesus wird plötzlich wiederkommen.
Das Kommen des Herrn für Seine Braut wird unversehens sein. Aber wie ein Blitz wird es auch die Welt treffen, die nicht auf die prophetischen Berichte achtet: „Der Tag wird kommen wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, wird sie das Verderben schnell überfallen, gleich wie der Schmerz ein schwangeres Weib, und werden nicht entfliehen.“ 1. Thess. 5, 2-3. „So alsdann jemand zu euch wird sagen: Siehe, hier ist Christus, oder da, so sollt ihr’s nicht glauben . . . Wenn sie zu euch sagen werden: Siehe, er ist in der Wüste! so gehet nicht hinaus; . . . Denn gleich wie der Blitz ausgeht vom Aufgang und scheinet bis zum Niedergang, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes.“ Matt. 24, 23.26-27. Gerade diese Blitzesschnelle kann Jesus Christus allen von einem Ende der Erde bis zum andern sichtbar machen. Dann wehe denen, die sich nicht zur Zeit gerüstet haben!

VI. Christus kommt in Herrlichkeit

Käme Er auch heute als schlichter Zimmermann von Nazareth, würde man Ihn nicht einmal dreißig Jahre leben lassen. Aber Er kommt wieder, um aller Welt Seine göttliche Herrlichkeit zu offenbaren. Es wird geschehen, daß des Menschen Sohn komme in der Herrlichkeit Seines Vaters mit Seinen Engeln; und alsdann wird Er einem jeglichen vergelten nach seinen Werken . . . Alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ Matt. 16, 27; 24,30. Wir hörten, daß Jesus Christus bei Seiner Himmelfahrt in die höchste Herrlichkeit einging, und daß Er mit dieser Herrlichkeit bekleidet wiederkehren wird, um Gericht zu üben und Seine Herrschaft auf Erden aufzurichten. Dan. 7, 13-14. Und Johannes zeigt uns diesen König der Könige als den Sieger von Harmagedon. Offb. 19, 11-16. Schon sieht unser Glaubensauge „Jesum durchs Leiden des Todes gekrönt mit Preis und Ehre“. Hebr. 2, 9. Aber unsere Sehnsucht ruft den Tag herbei, da unser Herr endlich im vollen Glanz Seiner Majestät offenbart wird.

VII. Der Herr kommt mit all Seinen Engeln
„Der Herr Jesus wird offenbart vom Himmel samt den Engeln Seiner Kraft und mit Feuerflammen, Rache zu geben über die, so Gott nicht erkennen.“ 2. Thess. 1, 7-8. „Es hat geweissagt Henoch . . . Siehe, der Herr kommt mit vielen tausend Heiligen, Gericht zu halten über alle.“ Jud. 14-15. „Die Schnitter sind die Engel . . . Des Menschen Sohn wird Seine Engel senden, und sie werden sammeln aus Seinem Reich alle Ärgernisse und die da unrecht tun . . . Und Er wird senden Seine Engel mit hellen Posaunen, und sie werden sammeln Seine Auserwählten von den vier Winden . . . Des Menschen Sohn wird kommen in Seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit Ihm.“ Matt. 13, 39-41; 24,31; 25,31. Und Ihm folgte nach das Heer im Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer und reiner Leinwand.“ Offb. 19, 14. So sollen Ihm die zwölf Legionen Engel, die Er vom Vater nicht erbitten wollte, damit Ihm das Kreuz erspart bliebe, und noch weit mehr als Geleit bei Seinem Triumphzug beigegeben werden.


VIII. Christus kommt mit allen Seinen Heiligen

Die entrückte Gemeinde wird zur Hochzeit mit dem Lamm in den Himmel aufgenommen. Mit Seiner Herrlichkeit gekrönt, wird sie mit Ihm herabsteigen und an Seinem Gericht und Seiner Herrschaft teilnehmen. Nachdem Sacharja das Auftreten des siegreichen Christus bei der Schlacht von Harmagedon beschrieben hat, fährt er fort: „Da wird dann kommen der Herr, mein Gott, und alle Heiligen mit Dir.“ 
„Wenn aber Christus, euer Leben, Sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit Ihm in der Herrlichkeit.“ Kol. 3, 4. So wird der Herr Seine Braut dem ganzen Erdenrund vorstellen und sie für alle erlittene Qual, Schmach und Verfolgung trösten. „Ihr seid eine kleine Zeit traurig in mancherlei Anfechtungen, auf daß euer Glaube . . . erfunden werde . . . zu Lob, Preis und Ehre, wenn nun offenbart wird Jesus Christus.“ 1. Petr. 1, 6-7.


IX. Der Herr wird Seine Füße auf den Ölberg setzen

„Aber der Herr (Jesus selbst) wird ausziehen und streiten wider diese Heiden . . . Und Seine Füße werden stehen zu der Zeit auf dem Ölberg, der vor Jerusalem liegt gegen Morgen.“ Sach. 14, 3-4. Es ist ganz natürlich, daß der Herr gerade an den Ort zu Seiner glorreichen Vergeltung kommt, da Er im Garten Geth emane mit dem Tode rang, und von wo aus Er gen Himmel fuhr. Matt. 26, 30; Ap. 1, 12. Nahe bei liegt ja auch Golgatha, wo eine Welt von Empörern Ihn ans Kreuz schlug. Ebenfalls auf dem Ölberg hatte Hesekiel die Herrlichkeit des Herrn zuletzt gesehen, als sie vom Tempel gewichen war, der nun bald von Nebukadnezar zerstört werden sollte. Hes. 11, 22-32. Seitdem war der jüdische Tempel wohl wieder aufgebaut, aber nicht wieder sichtbar wie zuvor vom Herrn bewohnt worden. Die Niederfahrt des großen Siegers auf diesen vorbestimmten Ort wird die Herrlichkeit Gottes auf die Erde zurück bringen. Im Tausendjährigen Reich werden wir sie von Jerusalem aus die ganze Welt überstrahlen sehen. Nun wollen wir forschen, in welch zwiefacher Weise Sich Christus nach Seiner Niederfahrt offenbaren wird!

2. Kapitel



Der höchste Richter


I. Alles Gericht wird Jesus Christus übertragen



1. In Wirklichkeit hat Gott allein das Recht zu richten

Allein dem Herrn steht die Bestrafung der Sünder zu. Selbstverständlich kann kein Mensch den Bruder richten, da alle schuldig sind. „Gott, mache Dich auf und richte den Erdboden; denn Du bist Erbherr über alle Heiden . . . ! Herr, Gott, des die Rache ist, erscheine! Erhebe Dich, Du Richter der Welt . . . Er wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit Recht.“ Ps. 82, 8; 94, 1; 98, 8-9. . . .
In erster Linie, weil Er Gott ist, wird daher Jesus Christus oberster Richter des Weltalls sein. Aber es gibt einen weiteren Grund!


2. Der Menschensohn soll Vollstrecker des Gerichts sein.

„Der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat Er dem Sohn gegeben, auf daß sie alle den Sohn ehren . . . Und hat Ihm Macht gegeben, auch das Gericht zu halten, darum daß Er des Menschen Sohn ist.“ Joh. 5, 22.27. . . . „Auf den Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesum Christum richten wird.“ Röm. 2, 16. „Jesus Christus . . . zu richten die Lebendigen und die Toten mit Seiner Erscheinung.“ 2. Tim. 4, 1. „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richtstuhl Christi, auf daß ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse.“ 2. Kor. 5, 10.
Aber warum wird aus drücklich das Gericht gera de dem Me nsche n soh n übergebe n? Aus zwei Grü nde n:

a) In Seiner Menschwerdung hat Sich Jesus uns gleichgestellt. Er lernte unsere Versuchungen und Nöte kennen; Er konnte die ganze Wucht der Angriffe des Feindes ermessen. So wird Er die Menschen aus Seiner Kenntnis des Falls und in aller Gerechtigkeit richten. Keiner kann auch nur versucht sein, Ihm zu sagen: „Herr, Du, der Du in der Ruhe des Himmels thronst, Du k nnst Dir meine Lage nicht vorstellen!“ (Natürlich wäre eine solche Sprache albern, da Gott alles weiß; aber Er nimmt dem Sünder jeden Vorwand, so zu reden.) Kurz, Gott hat dafür gesorgt, daß die Menschen von einem der Ihren, dem allein Sündlosen, gerichtet werden.

b) Indem Er Menschensohn wurde, einen Leib annahm, um an unserer Stelle am Kreuz zu sterben, hat Jesus den höchsten Beweis der göttlichen Liebe erbracht. Darum lag das größte Verbrechen der Menschen darin, daß sie diese unaussprechliche Gnade verschmähten. Ein Sprichwort sagt, daß der Haß nahe bei der Liebe wohne. Wir würden nicht wagen, so von Gott zu reden, aber das müssen wir uns sagen, daß der Heiland Sich für alle, die Seine Liebe mißachten, in einen unerbittlichen Richter verwandeln wird. Die Offenbarung zeigt uns Jesus Christus immer wieder als das unschuldige, sanftmütige Lamm, das für unsere Sünden geschlachtet wurde. Aber sie gibt auch den angehenden, furchtbaren Endgerichten einen erschrecklichen Namen: den Zorn des Lammes! Offb. 6,16.

II. Wie wird nun der Richter beschrieben?
Mehrere Stellen behandeln den scharfen Gegensatz zwischen Jesus Christus als Heiland und als Richter:
„Du bist Mein Sohn . . . Heische von Mir, so will Ich Dir die Heiden zum Erbe geben . . . Du sollst sie mit einem eisernen Zepter zerschlagen . . . Küsset den Sohn, daß Er nicht zürne und ihr umkommet auf dem Wege . . . Aber wohl allen, die auf Ihn trauen!“ Ps. 2, 7-12. „Der Geist des Herrn Herrn ist über Mir, darum daß Mich der Herr gesalbt hat . . . den Elenden zu predigen . . . zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsers Gottes.“ Jes. 61,1-2.
Ebenso klar verkündigt das NT, daß Jesus alle Gerechtigkeit Gottes erfüllen wird. Johannes der Täufer sagt von Ihm: „Er wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen. Und Er hat Seine Wurfschaufel in der Hand: Er wird Seine Tenne fegen und den Weizen in Seine Scheune sammeln; aber die Spreu wird Er verbrennen mit ewigem Feuer.“ . . .
Aber gehen wir weiter und gehen wir näher auf die kommende Tätigkeit des großen Richters ein!

III. Welche Gerichte wird Jesus Christus üben?


1. Das Gericht über die Gläubigen

Die Gläubigen entrinnen der ewigen Verdammnis, aber ihre Werke müssen geprüft und der Lohn muß für sie bestimmt werden. Einerseits sagt die Schrift: „Wer Mein Wort hört und glaubt Dem, der Mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Joh. 5,24.

„So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind.“ Röm. 8, 1. Und doch sagt Paulus in. 2. Kor. 5, 10 „Eines jeglichen Werk wird . . . durchs Feuer offenbar werden. Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird selig werden, so doch wie durchs Feuer.“ 1. Kor. 3, 13-15.

2. Das Gericht von Harmagedon
Jesus ist’s, der an diesem denkwürdigen Tag der Vollstrecker des göttlichen Zorns sein wird. „Wer ist der, so von Edom kommt, mit rötlichen Kleidern von Bozra? . . . Warum ist dein Gewand so rotfarben und dein Kleid wie eines Keltertreters? . . . Daher ist ihr Blut auf Meine Kleider gesp itzt, und Ich habe all Mein Gewand besudelt. Denn Ich habe einen Tag der Rache Mir vorgenommen; das Jahr, die Meinen zu erlösen, ist gekommen . . . Mein Zorn stand Mir bei. Und Ich habe die Völker zertreten in Meinem Zorn . . .“ Jes. 63,1-6.

Als Nebukadnezar das große Bild der Weltreiche betrachtete, ward „ein Stein herabgerissen ohne Hände; der schlug das Bild an seine Füße, die Eisen und Ton waren, und zermalmte sie . . . Der Stein aber, der das Bild schlug, ward ein großer Berg, daß er die ganze Welt füllte.“ Der Stein bedeutet das plötzliche Erscheinen Jesu Christi vom Himmel, um die irdischen Reiche zu vernichten und Sein Königreich aufzurichten. „Zur Zeit solcher Königreiche wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird . . . Es wird alle diese Königreiche zermalmen und verstören; aber es selbst wird ewiglich bleiben; wie du denn gesehen hast einen Stein, ohne Hände vom Berge herabgerissen. „Dan. 2,34. 44-45 (s .auch Sach. 14, 3-4).

Zuletzt tritt der Eine auf einem weißen Pferd auf, der „Treu und Wahrhaftig heißt; und Er richtet und streitet mit Gerechtigkeit. Seine Augen sind wie eine Feuerflamme . . . Aus Seinem Munde ging ein scharfes Schwert, daß Er damit die Heiden schlüge (mit Seinem Wort wird Er Seine Gegner vernichten), und Er wird sie regieren mit eisernem Stabe; und Er tritt die Kelter des Weins des grimmigen Zornes Gottes, des Allmächtigen . . . Und die anderen wurden erwürgt mit dem Schwert Des, der auf dem Pferde saß, und das aus Seinem Munde ging“. Offb. 9, 11.15.21 .

3. Das Gericht über den Antichristen

Es ist gerecht, daß der Antichrist von Dem gerichtet wird, gegen Den er sich so töricht aufgeworfen hat. „Alsdann wird der Boshafte offenbart werden, welchen der Herr umbringen wird mit dem Geist Seines Mundes (Sein Wort) und wird durch die Erscheinung Seiner Zukunft ihm ein Ende machen.“ 2. Thess. 2, 8. Die zehn Diktatoren und das Tier „werden streiten mit dem Lamm, und das Lamm wird sie überwinden (denn es ist der Herr aller Herren und der König aller Könige).“ Offb. 17, 14.

4. Das Gericht über die Völker

Bei seinem Erscheinen wird Jesu s alle Lebenden vor Sich versammeln, zur Auslese derer, die Er für würdig hält, an Seinem Reich der Herrlichkeit teilzunehmen. Matt. 25, 31. (Wir sprechen noch über dieses Gericht im Teil über das Millennium.)


5. Das letzte Gericht

Nach den tausend Jahren findet die Auferstehung aller Gottlosen zur letzten Abrechnung statt. Auch hierbei ist Jesus Christus der hohe Richter. „Ich sah einen großen, weißen Stuhl und Den, der darauf saß; vor des Angesicht floh die Erde und der Himmel, und ihnen ward keine Stätte gefunden. Und ich sah die Toten, beide groß und klein, stehen vor Gott . . . Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl.“ Offb. 20, 11.15. Wie muß man ihn fürchten, diesen Zorn des Lammes! Nun verstehen wir die Mahnung des Psalmisten: „Küsset den Sohn, daß Er nicht zürne und ihr umkommet auf dem Wege, denn Sein Zorn wird bald entbrennen! Aber wohl allen, die auf Ihn trauen!“ Ps. 2, 12.
Haben wir uns wirklich entschieden, wem wir begegnen möchten: dem Heiland . . . oder dem Richter ?


3. Kapitel

Der König der Könige

I. Die Ansprüche Jesu Christi auf die Königsherrschaft
Wir haben gesehen, daß Jesus Christus als Gottes und des Menschen Sohn der Richter ist. Als Herr und zugleich als Sohn Davids ist Er auch der König aller Könige.

1. Christus, der Herr

Gott allein gebührt die Herrschaft. Wir haben das erkannt, als die Rede vom Paradies und der ursprünglichen Gottesherrschaft war. „Der Herr ist König immer und ewiglich . . . Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdboden und was darauf wohnet! Denn Er hat ihn gegründet . . . Es ist der Herr Zebaoth, Er ist der König der Ehren . . . Lobsinget, lobsinget unserm König! Denn Gott ist König auf dem ganzen Erdboden.“ Ps. 10, 16; 24,1.10 . . . 

Gott ist nicht nur König des Weltalls und der Völker. Er ist auch der König Israels: „Der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser König . . . Der Herr, der König Israels und sein Erlöser.“ Jes. 33, 22; 44,6.
Nun ist Jesus gerade als der im AT genannte, ewige König zum Herrscher über das ganze Weltall berufen. Bei Seiner Geburt verkündigten die Engel: 
„Er wird groß sein und ein Sohn des Höchsten genannt werden . . . Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Luk. 1, 32; 2, 11. Jesus entnimmt dem 110. Psalm den Beweis, daß Er der Herr Davids ist: „Der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: Setze Dich zu Meiner Rechten . . .“ Matt. 22, 41-45. An Pfingsten sagt Petrus: „So wisse nun das ganze Haus Israel gewiß, daß Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zu einem Herrn und Christus gemacht hat.“ Ap. 2, 36. So können sich in Seiner Person die Weissagungen erfüllen, denen zufolge Gott selbst während des Tausendjährigen Reichs regiert: „Er (Gott) wird richten unter den Heiden und strafen viele Völker . . . Der Herr Zebaoth wird König sein auf dem Berg Zion und zu Jerusalem und vor Seinen Ältesten in der Herrlichkeit.“ Jes. 2, 4; 24,23 u a m.

2. Der Sohn Davids
Als die Theokratie in Israel zerbrach, wollte Gott doch einen König nach Seinem Herzen erwählen, nämlich David. Er übertrug ihm sozusagen einen Teil Seiner Macht und verhieß ihm den Thron auf ewig. Der Prophet Nathan sagt zu David: „Der Herr verkündigt dir, daß der Herr dir ein Haus machen will . . . Ich will deinen Samen nach dir erwecken, der von deinem Leibe kommen soll; dem will Ich sein Reich bestätigen . . . Ich will den Stuhl seines Königreichs bestäigen ewiglich . . . Dein Haus und dein Königreich soll . . . ewiglich bestehen.“ 2. Sam. 7, 11.16. „Ich habe gefunden Meinen Knecht David . . . Ich will ihm ewiglich Samen geben und seinen Stuhl, solange der Himmel währt, erhalten . . . Sein Same soll ewigs ein und sein Stuhl vor Mir wie die Sonne . . .“ Ps. 89, 21.30.37.

Mit diesem Seinem prophetischen Bund mit David erfüllte der Herr Seine ältesten Verheißungen. Denn bei Gott geschieht nichts unversehens. Er hatte den Fehlschlag der Theokratie voraus gesehen und schon in den ersten Büchern der Bibel das Königtum angekündigt, das dereinst an ihre Stelle treten sollte. Der sterbende Jakob hatte vom Stamme Juda gesagt: „Juda ist ein junger Löwe . . . Es wird das Zepter von Juda nicht entwendet werden, noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis daß der Held (der Schilo, oder der, dem das Zepter gehört) komme; und demselben werden die Völker anhangen.“ 1. Mos. 49, 9-10.
Aus dem Stamme Juda kamen in der Tat die Königsfamilie Davids und auch Christus, den die Offenbarung „den Löwen vom Geschlecht Juda“ nennt. 5,5. Auch Bileam hatte das Kommen des Königs der Könige geschaut: „Ich sehe Ihn, aber nicht jetzt; ich schaue Ihn, aber nicht von nahe. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen . . . Aus Jakob wird der Herrscher kommen.“ 4. Mos. 24, 17.19.

Natürlich haben sich alle diese Verheißungen nicht bei David und seinen Nachfolgern erfüllt. Nach ihnen wird mit der Absetzung des letzten Königs von Juda durch Nebukadnezar im Jahre 585 v.Chr. der Thron Israels leer. Aber in seiner Ankündigung des Messias sagt Amos: „Zur selben Zeit will Ich die zerfallene Hütte Davids wieder aufrichten und ihre Lücken verzäunen, und was abgebrochen ist, wieder aufrichten und will sie bauen, wie sie vorzeiten gewesen ist.“ 9, 11.
Auch David hatte es verstanden, daß die seiner Dynastie gegebenen Verheißungen erst in Jesus Christus ihre Erfüllung finden würden. Das erklärt Petrus mit den Worten: „Da er (David) nun ein Prophet war und wußte, daß ihm Gott verheißen hatte mit einem Eide, daß die Frucht seiner Lenden sollte auf seinem Stuhl sitzen, hat er’s zuvor gesehen und geredet von der Aufe stehung Christi.“ Ap. 2, 30. Darum betont es das NT so stark, daß Jesus Christus dem Fleisch nach der Sohn Davids und der von Israel erwartete König ist: als diesen führt Ihn Matthäus im allerersten Vers ein. Joseph, sein Pflegevater, war aus dem Geschlecht Davids, Matt. 1, 16; Luk. 1, 27, ebenso Maria (vergleicht man die beiden verschiedenen Geschlechtsregister in Matt. 1,1-17 und Luk. 3, 23-38, so kommt man zu dem Schluß, daß das letztere wohl das der Maria ist). Der Engel Gabriel spric ht zu ihr: „Du wirst einen Sohn gebären . . . und Gott, der Herr, wird ihm den Stuhl seines Vaters David geben.“ Und Zacharias, der Vater Johannes des Täufers, ruft aus: „Gelobet sei der Herr . . . Er hat uns aufgerichtet ein Horn des Heils in dem Hause Seines Dieners David, wie Er vorzeiten geredet hat durch den Mund Seiner heiligen Propheten.“ Luk. 1, 31-32. 68-70. Die Pharisäer und Schriftgelehrten wußten sehr wohl, daß Christus der Sohn Davids sein sollte ( Matt. 22, 42; Mk. 12, 35), und ohne Zögern wiesen sie die Weisen, die den König von Juda suchten, nach der Davidstadt Bethlehem. Matt. 2, 2-6. Micha hatte ja geschrieben: „Und du, Bethlehem aus dir soll mir kommen, der in Israel Herr sei.“ 5, 1. Jesus erhielt öfter den Titel „Davids Sohn“, da Ihn die Menge und auch Bartimäus so nennen. Matt. 12, 23; Mk. 10, 47. Am Palmsonntag erfüllt Jesus die Verheißung des Sacharja: „Saget der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel.“ Sofort bricht die Menge in den Jubelruf aus: „Gelobt sei, der da kommt . . . Gelobt sei das Reich unsers Vaters David, das da kommt.“ Sach. 9, 9; Matt. 21, 5.9; Mk. 11,10. Und die Apostel Paulus und Johannes lehren, wie Jesus Christus „geboren ist von dem Samen Davids nach dem Fleisch“ und „die Wurzel Davids“ ist. Röm. 1, 3; Offb. 5, 5.
Mit einem solchen Recht auf das Königtum hätte Jesus natürlich schon bei Seinem ersten Kommen als der König Israels auftreten können. Wir haben schon gehört, in welcher Form Er den Juden das Königreich anbot, das sie aber so verstockt ablehnten. Wir wollen nun untersuchen, wie Jesus, der Sohn Davids, Sein wunderbares Reich aufrichtet.

II. Die Krönung des Königs der Könige

1. Jesus wird im Himmel zum König ausgerufen
Jesus ist „der Mann von vornehmer Abkunft, der in ein fernes Land reist, um für sich dort eine Königskrone zu gewinnen und dann wieder heimzukehren“. Luk. 19, 12. Bei Seiner Auffahrt setzte Er Sich zur Rechten Gottes, bis der Vater alle Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße mache. Mk. 16, 19; Ap. 2, 33-35. Gott hat in Christus Seine Macht gewirkt, „da Er Ihn von den Toten auferweckt hat und gesetzt zu Seiner Rechten im Himmel über alle Fürstentümer, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was genannt mag werden, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen; und hat alle Dinge unter Seine Füße getan.“ Eph. 1, 20-22. Jesus „erniedrigte Sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode . . . am Kreuz. Darum hat Ihn auch Gott erhöht und hat Ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters.“ Phil. 2, 8-11. Aber diese Königskrönung Jesu im Himmel ist auf Erden bisher nicht sichtbar geworden. „Jetzt aber sehen wir noch nicht, daß Ihm alles untertan sei.“ Hebr. 2, 8. Aber es naht der Tag, da sich das ändern wird.

2. Jesus Christus nimmt wirklich Besitz von Seinem Reich
„Und der siebente Engel posaunte. Und es wurden große Stimmen im Himmel, die sprachen: Es sind die Reiche der Welt unsers Herrn und Seines Christus geworden, und Er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit . . . Und die Ältesten fielen auf ihr Angesicht . . . und sprachen: Wir danken Dir, Herr, allmächtiger Gott . . . Offb. 11, 15-18.
. . . „Die Könige der Erden lehnen sich auf . . . wider den Herrn und Seinen Gesalbten: „Lasset uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Seile!“ Aber Der im Himmel wohnt, lacht ihrer, und der Herr spottet ihrer. Er wird einst mit ihnen reden in Seinem Zorn. . .“ Aber Ich habe Meinen König eingesetzt auf Meinem heiligen Berg Zion.“ . . . .
Gottes Geduld ist zu Ende, die Zeit der Völker ist verstrichen. Der Herr hat zur Genüge gewartet, lange genug war Er auf Erden der Verachtete. Nun kommt Er als Herrscher . . .

III. Die Beschreibung des großen Königs
Um die Majestät und Herrlichkeit des Herrn aller Herren zu beschreiben, wollen wir nun einige, bisher zumeist unerwähnt gebliebene Stell n aus den Weissagungen anführen:


„Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf Seiner Schulter; und Er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst; auf daß Seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Stuhl Davids und in Seinem Königreich, daß Er’s zurichte und stärke mit Gericht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit; solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.“ Jes. 9, 5-6.
„Es wird eine Rute aufgehen von dem Stamm Isais (Vater Davids und Vorfahre Jesu Christi) und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen; auf welchem wird ruhen der Geist des Herrn . . . Zu der Zeit . . . steht . . . die Wurzel Isai zum Panier den Völkern, nach der werden die Heiden fragen; und seine Ruhe wird Ehre sein.“ Jes. 11, 1-2. 10. . .
„Und du Bethlehem . . . aus dir soll Mir Der kommen, der in Israel Herr sei, welches Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist . . . Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des Herrn und im Sieg des Namens des Herrn, Seines Gottes . . . Denn Er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und Er wird unser Friede sein.“ Micha 5, 1-4. . . .
Unter Christi Herrschaft wird kein Übergriff einer ehrgeizigen Königsmacht mehr zu befürchten sein; der Herr wird zugleich Priester und König auf Seinem Throne sein.
„Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel . . . (Die Erfüllung des ersten Teils dieser Weissagung geschah am Palmsonntag, die des zweiten Teils steht noch aus.)

„Der Streitbogen soll zerbrochen werden. Denn Er wird Frieden lehren unter den Heiden; und Seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis ans andere und vom Strom bis an der Welt Ende . . . Das Haus David wird sein wie Gott, wie des Herrn Engel vor ihnen.“ Sach. 9, 9-10; 12,8.
„Euch aber, die ihr Meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit . . .“ Mal. 4, 2.

Welche Wonne, einen solchen König auf Erden zu haben! Und welch ein Gegensatz zu dem grausigen König, den sich die Menschen zuletzt nehmen und so die lange, traurige Liste der meist in Hochmut und Sünde verstrickten Führer voll machen werden!
So wird schon allein die Ankunft Jesu Christi genügen, um auf Erden eine Ära tiefster Segnungen einzuleiten.
Darum drängt es uns zu erfahren, welcher Art die Herrschaft des Friedensfürsten sein wird.

 

8. Teil

DAS MILLENNIUM

( das Tausendjährige Reich )

 1. Kapitel

Einführung 

I. Was ist das Millennium?
Millennium ist ein lateinischer Ausdruck und bedeutet „tausend Jahre“. Man bezeichnet damit die so lange dauende Ära, da Christus nach Seiner Wiederkunft Gerechtigkeit und Frieden zur Herrschaft bringt.

II. Auf welchen biblischen Grundlagen beruht die Lehre vom Millennium?

1. Auf zahlreichen Stellen im AT.
Im AT gibt es, wie wir wissen, viele, noch unerfüllte Weissagungen. Denken wir an jene über die Endempörung der Völker, den Antichristen, die große Trübsal, Harmagedon; dann an die über Israel, das Ende ihrer weltweiten Zerstreuung, ihre Rückkehr nach Palästina und ihre Bekehrung, die Wiederherstellung des auserwählten Volkes, und schließlich über Jesus Christus selbst, nämlich über alles was Seine Rolle als Richter und König der ganzen Welt angeht!
Wir haben erkannt, wie wörtlich alle diese Prophezeiungen wohl in Erfüllung gehen sollen, ja, bereits im Zuge sind, sich zu erfüllen. Genau so sicher werden, unserer Überzeugung nach, alle Weissagungen auf die glorreiche Herrschaft des Messias auf Erden zur Vollendung kommen. Es wäre wirklich sonderbar, an die wörtliche Erfüllung der unserer armen Welt angedrohten Gerichte zu glauben, die alle gegenwärtigen Ereignisse bestätigen, alle verheißenen Segnungen hingegen zu „vergeistigen“, indem wir sie in den Himmel verlegen! In den folgenden Kapiteln werden wir ständig Gelegenheit haben, eine große Zahl solch wunderbarer Verheißungen anzuführen und aufzuzeigen, wie sie unmöglich alle erst im Jenseits zur Erfüllung kommen können.

Heben wir noch eines hervor: Im AT ist die Lehre vom Millennium so vollständig vorhanden, daß die Juden sie selbst im Talmud ganz zu entwickeln vermochten, obwohl ihnen die späteren Angaben aus dem NT abgingen. Sie hatten z.B. lange vor der Offenbarung behauptet, daß die messianische Herrschaft tausend Jahre dauern würde. So läßt es sich nicht behaupten (wie es manche getan haben), daß ohne die berühmte Stelle in Offb. 20, 1-10 die Lehre vom Millennium gar nicht bestünde.

2. Das NT bestätigt die Aussagen des AT.
Eines dürfen wir nicht vergessen: Das AT bedenkt vor allem die irdische Zukunft Israels und der Völker, auf die das Heil übergeht. Wir finden darin kaum etwas von dem erwähnt, was das Evangelium das „ewige Leben“ und das Jenseits nennt, es sei denn in kurzen Streiflichtern (doch genügend, um es den Juden in großen Linien verständlich zu machen, was ihrer in der anderen Welt wartet).

Das NT hingegen hat zum Hauptthema die Gemeinde, das geistliche Volk Gottes, und das ewige Heil oder die ewige Verdammnis der Menschheit. Nur gelegentlich spielen Christus und die Apostel auf das Millennium an. In ihrer Lehre scheinen sie sogar häufig die glorreiche Wiederkunft des Herrn und die Ewigkeit zusammen zufassen (wie es im AT oft mit dem zweifachen Kommen des Herrn der Fall ist). Aber was das NT über das messianische Zeitalter aussagt, genügt vollkommen, um die Lehre der alten Propheten zu bestätigen. Wir werden dies auch auf den folgenden Seiten sehen. Übrigens brauchte das NT die ausführlichen Beschreibungen vom Millennium, die im AT so zahlreich vorhanden sind, nicht zu wiederholen. Und gerade die noch fehlenden Offenbarungen zeigt Johannes auf:

Die Dauer des messianischen Reichs,
das Gebundenwerden Satans,
die erste Auferstehung zu Beginn der Tausend Jahre,
die zweite Auferstehung am Ende der Tausend Jahre,
die letzte Empörung,
den Zeitpunkt des Weltuntergangs und des letzten Gerichts. Offb. 20, 1-15.

III. Ist ein Millennium notwendig?
Zweifellos, da die Schrift soviel davon redet! Doch wir müssen auch den Grund dafür verstehen. Die Gegner dieser Lehre nennen den Glauben an ein sichtbares, herrliches Reich Christi auf Erden zu fleischlich, eines „Himmelsbürgers“, der von der Erde nichts erwartet, unwürdig. Diese biblische Wahrheit mag wohl zuweilen in fleischlichem Sinn entstellt worden sein. Überdenken wir aber die einfachen Angaben der Bibel, so scheinen sie die einzig mögliche Lösung zu erbringen für die letzten tausend Jahre der Erde vor ihrem Untergang.

Ginge die Entwicklung der Menschheit nur auf die Herrschaft des Antichristen und die Schlacht von Harmagedon hinaus, und sollte die Erde gleich danach vernichtet werden, so wäre im Grunde Satan der Sieger. Trotz der göttlichen Bemühungen, aus der Erde ein Paradies zu schaffen, hätte das Böse triumphiert. Haß , Krieg , Leiden, Abfall hätten sich bis zum Ende nur immer mehr gesteigert. Und Gott wäre als letzter Ausweg nur noch die Auslöschung einer unrettbaren Welt geblieben. In diesem Fall wäre die Wiederkunft Christi nur „ein Gang auf den Ruinen“ ( Mme. Brunel).
Ja, man kann sagen, daß es dann keine Aussicht auf irgendein weiteres Geschehen gäbe, da im Himmel Christus bereits den Thron Seiner göttlichen Majestät innehat. Nein, das ist unmöglich!
Schon um der Ehre des Herrn willen ist es klar, daß die Schrift uns einen ganz anderen Ausgang vor Augen stellen mußte. Gott wird das letzte Wort haben und gewaltige Rache nehmen. Aber nicht die furchtbaren Gerichte der großen Trübsal sind Seine Rache – denn der Herr richtet nur ungern -, sondern es sind vielmehr die tausend Jahre einer unvergleichlichen Wonne und Wohlfahrt, die Er der ihrem Haupte nun endlich unterworfenen Menschheit gewähren wird. Gott rächt Sich im Segnen und im Beweis der unbegrenzten Macht Seiner wunderbaren Liebe. Seine Gnadenabsichten mit dem Menschen, als Er ihn ins Paradies setzte, sind nur eine Zeit lag zurückgestellt worden. Endlich kommen sie zur Ausführung. Danach – wenn der Sieg des Herrn sich vollauf erwiesen hat – werden auch die anderen Weissagungen erfüllt werden. Die Erde wird vernichtet werden, und die Ewigkeit bricht an.

IV. Wird das Millennium tatsächlich auf Erden errichtet werden?
Indem sie alle Verheißungen des AT vergeistigen,
verweisen manche das herrliche Reich Christi in den Himmel (während sie die den Juden, dem Antichristen und den Völkern angedrohten Strafen wörtlich nehmen und der Erdenzeit vorbehalten). Aber aus den Propheten scheint uns klar hervorzugehen, daß Jesus Christus erst hienieden Sein Reich sichtbar aufrichten wird.

Der Stein, der die Füße des Bildes von Daniel zerschlägt, wird zum großen Berg, der „die ganze Welt füllte“, d.h. daß das Reich Gottes den Raum einnehmen wird, den bis dahin die Königreiche der Menschen innehatten. Dan. 2,35. 38-39. „Das Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel wird dem heiligen Volk des Höchsten gegeben werden.“ Dan. 7,27. „Und hast uns unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und wir werden Könige sein auf Erd.“ Offb. 5, 10. Der Engel Gabriel sagt von Jesus: „Gott, der Herr, wird Ihm den Stuhl Seines Vaters David geben.“ Luk. 1 ,32. Nun ist Gottes Thron im Himmel, aber Davids immer nur auf Erden gewesen.
Wie zahlreich und bestimmt fanden wir die Texte über Israels Rückkehr nach Palästina und seine Wiederherstellung! Eine ähnliche Fülle von Einzelheiten werden wir nun bei den Propheten über die glorreiche Periode feststellen, welche die Geschichte unseres Planeten beschließen wird.

V. Vor welchen Irrtümern müssen wir uns in Bezug auf das Millennium hüten?
Mehrere unheilvolle Irrtümer haben viele ernste Christen von der hier vorliegenden Lehre abgebracht. Darüber müssen einige Worte gesagt werden.

1. Der Glaube an das Millennium war unter den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte sehr verbreitet. Aber einige von ihnen verstiegen sich darin (wie in vielen andern Dingen) zu solchen Übertreibungen, daß sie ihre Lehre in Mißkredit brachten. Besonders ließ Papias seiner Phantasie die Zügel schießen; er suchte z.B. auszurechnen, wie viele Reben jeder Weinstock und wie viele Trauben jede Rebe im messianischen Zeitalter hervorbringen werde, um so in astronomischen Ziffern den Weinertrag zu bestimmen. „Im Millennium“, sagte er, „wird eine Weintraube einem Menschen, der gerade eine andere pflücken will, sagen: „Nimm mich, du Auserwählter des Herrn, ich bin reifer als meine Nachbarn!“ Zu derlei Beschreibungen kamen noch viele kindische Einzelheiten hinzu.
Solche fleischlichen und lächerlichen Auffassungen lösten bei Origenes, Augustinus und anderen eine heftige Reaktion aus, die zur völligen Aufgabe des ursprünglichen Begriffs vom Millennium und damit wieder zu ebenso schweren Irrtümern führte

2. Augustinus glaubte zuerst selbst an das kommende Reich des Messias, dann aber fing er an zu lehren, die tausend Jahre seien in geistlichem Sinne zu verstehen und hätten begonnen, als Jesus Christus am Kreuz den Satan besiegte und band. Als daher das Jahr 1000 kam, erwarteten große Massen voller Angst das Ende der Welt. Die Kirche ließ sich irdische Güter gegen die Sündenvergebung vermachen und besaß bald fast die Hälfte der Ländereien.

3. Danach erklärte man, daß der Ausdruck „Tausend Jahre“ nur eine lange Zeit bedeute, und daß die tatsächliche Fesselung Satans bei der Bekehrung des Kaisers Konstantin stattgefunden habe. Da habe das Evangelium über das heidnische und christenfeindliche Rom gesiegt und sei das messianische Zeitalter angebrochen. Seither regiere Christus in der Gestalt der Kirche und ihres sichtbaren Oberhauptes, des Papstes.

Solche Ideen sind aus der Begeisterung des Sieges über das Heidentum im vierten Jahrhundert begreiflich, da die langen und schrecklichen Verfolgungen aufhörten. Aber daß sich solche Ansichten trotz der Nacht des Mittelalters, der Kriege und der Verfolgungen der Reformationszeit und aller Greuel der neuesten Zeit halten konnten, ist kaum zu verstehen. Und doch ist dies die vorherrschende Auffassung in den katholischen Kreisen und sogar bei vielen Protestanten. In seiner Anmerkung zu der Stelle in der Offenbarung über die Fesselung Satans auf tausend Jahre (20, 1-3) schreibt Abbe Crampon: „Tausend Jahre: langer Zeitraum, wahrscheinlich von unbestimmter Dauer; umfaßt den Zeitabschnitt zwischen der Einschränkung der Macht Satans durch das erste Kommen des Erlösers und dem Zeitpunkt, da er, kurz vor dem Ende der Welt, wieder losgelassen wird (V. 3), positiv gesagt also, fast die ganze Zeit der Kirche im Kampf.“
Wenn dem so wäre, so müßte man die messianische Herrschaft eine wirklich jämmerliche nennen, denn es hat durchaus nicht den Anschein, als sei Satan gebunden und außerstande, die Völker zu verführen. Oder er müßte – wie es einmal einer gesagt hat – an einer schrecklich langen Kette liegen!

4. Seit der Reformation haben allerlei Sekten merkwürdige Theorien über das Millennium vertreten. Ein Schulbeispiel liefern die Schwärmer von Münster in Westfalen, die 1539 vorgeblich das “Neue Jerusalem” unter der direkten Herrschaft Christi gründeten. Ihre schauerlichen Ausschreitungen wirkten sehr ungünstig auf die Reformation in der Frage der Taufe und der Weissagung.

Von den heutigen Bewegungen nennen wir nur die „Zeugen Jehovas“, deren Anhänger die 144 000 Versiegelten aus der Offenbarung sein wollen. Ihnen zufolge ist Christus 1914 wiedergekommen und hat damals Seine wunderbare Herrschaft angetreten, wenigstens in den Enklaven der „Neuen Erde“, d.h. ihrer eigenen Gemeinschaftssiedlungen. In diesen Kolonien ist die Erde nicht mehr verflucht, ihre Eingeweihten sterben nicht mehr und leben zusammen wie die Engel im Himmel!

5. Zwei in gewissen Kreisen stark verbreitete Lehren sind die vom Post-Millennium“ und vom „A- (bzw. Anti) Millennium“.

Die Vertreter des „Prä- (bzw. Vor) –Millenniums“ glauben wie wir an die Wiederkunft Jesu Christi vor dem Millennium.

Der Glaube an das „Post-Millennium“ lehrt, daß die Menschheit, dank den religiösen, sittlichen, sozialen und technischen Fortschritten, sich immerzu aufwärts entwickelt und einem wunderbaren, goldenen Zeitalter des Friedens und der allgemeinen Brüderlichkeit entgegen geht. Der Herr käme dann nur, um diese Vergötterung der Menschenrasse mit ihrem Einlaß in die Ewigkeit zu krönen. Vor 1914 hatte diese Lehre viel Erfolg. Aber nach den beiden Weltkriegen, den Gaskammern, der Atombombe hat sie – und mit Recht – viele Anhänger eingebüßt. Entmutigt wurden diese zu A-Millennaristen, wie die Katholiken.
Der A-Millennarismus erklärt, daß wir überhaupt keine glorreiche Herrschaft Christi auf Erden zu erwarten haben. Hier einige der als Begründung für diese Ansicht vorgebrachten Argumente:
a) Die jetzige Periode der Gemeinde wird in der Schrift die „letzte Zeit“ genannt: „Gott hat am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn . . . Nun aber, am Ende der Welt, ist Er einmal erschienen, durch Sein eigen Opfer die Sünde aufzuheben.“ 1, 2; 9,26.
Petrus erklärt an Pfingsten: „Das ist’s, was durch den Propheten Joel zuvor gesagt ist: In den letzten Tagen will Ich ausgießen von Meinem Geist auf alles Fleisch.“ Ap. 2, 16-17.
Christus ist zuvor ersehen, ehe der Welt Grund gelegt ward, aber offenbart zu den letzten Zeiten.“ 1. Petr. 1, 20.
„Kinder, es ist die letzte Stunde! . . . es sind nun viele Widerchristen geworden; daher erkennen wir, daß die letzte Stunde ist.“ 1. Joh. 2, 18. Da wir – so sagen sie – schon am Zeitenende sind, bleibt kein Raum mehr für ein Millennium, und es steht uns nur noch die Ewigkeit bevor.

Darauf antworten wir: es geht hier nur darum, den Ausdruck „Zeitenende“ oder „letzte Stunde“ zu definieren. Wir glauben, daß das erste Kommen Christi wirklich den Anfang von Gottes Triumph bedeutet: es eröffnet die letzte Periode der Weltgeschichte. Aber das schließt zwei Tatsachen nicht aus:
Erstens, wenn die „letzte Stunde“ schon zweitausend Jahre gedauert hat, warum sollte sie nicht wenigstens tausend Jahre mehr andauern?
Zweitens, die so verlängerte „Endzeit“ kann sehr gut die an verschiedenen andern Stellen angekündigten Phasen umfassen, nämlich: die Zeit der Gemeinde, die große Trübsal, das Millennium und das letzte Gericht.

b) Mehrfach, sagt man, scheint die Schrift nur zwei „Zeitalter“ zu kennen:

das jetzige und
das zukünftige Zeitalter;
aber sie erwähnt keine Zwischenperiode (S. Matt. 12, 32 ; 20,34-35; Eph. 1,21 u.a.). Im Grunde wird immer derselbe Fehler gemacht: um eine Bibelstelle zu verstehen, darf man sie nicht für sich allein nehmen, sondern nur in Verbindung mit allen Texten, die dasselbe Thema behandeln. Weder diese „letzte Zeit“, noch „die letzte Stunde“ schließt den Triumph Gottes aus, mit dem sie beide zu Ende gehen.

Jesus bedient Sich eines ähnlichen Ausdrucks: „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, daß die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben.“ Joh. 5, 25. Diese „Toten“ sind die Menschen, denen das geistliche Leben infolge ihrer Sünden abgeht (Eph. 2, 1), und die Stunde, von der Jesus spricht, hat nun fast zweitausend Jahre gedauert. Auf sie folgt eine andere „Stunde“, da alle, die in den Gräbern sind, leiblich auferstehen werden (Joh. 5, 28), die Gerechten vor den tausend Jahren, die Gottlosen gleich darnach. Ebenso nennen die Propheten sowohl die furchtbaren Endgerichte wie auch das darauf folgende messianische Reich den „Tag des Herrn“ (oder „diesen Tag“). Zeph. 1, 14-18; Sach. 14, 1.9.13.20 usw. Es ist also klar, daß in der Schrift Ausdrücke wie Zeit und Tag, Zeitalter, Jahrhundert, Endzeit verschiedene und oft sehr ausgedehnte Perioden decken können. Nur das gründliche Studium der Gesamttexte ergibt den Sinn einer jeden einzelnen Stelle.

c) Weiter sagt man, daß das NT ohne Unterbrechung (d.h. ohne Zwischenstadium des Millenniums
– die glorreiche Erscheinung Christi und den Eingang in die Ewigkeit (Matt.    25,31),
– die Auferstehung der Gerechten und der Gottlosen (Joh. 5,28; Ap. 24,15),
– die Bestrafung der Empörer und die Belohnung der Auserwählten (Matt.      13,30.41-43; 2. Thess. 1, 6-10 ),
– den Tag des Herrn und die Vernichtung der Erde (2. Petr. 3,10)
  beschreibt.

Ein solches Vorgehen darf uns nicht befremden. Wir haben ja gesehen, daß manche Propheten offenbar auch nicht die Zwischenzeit der dreieinhalb Jahre unterscheiden, welche die Entrückung der Gemeinde von ihrer glorreichen Herabkunft trennt. Ganz genau so sagten wir, wird im AT das zweifache Kommen Jesu zusammengefaßt:
Jes. 61, 1-2 spricht im gleichen Satz vom Kommen Jesu als Heiland und als Richter;
Jes. 53, 13-15 beschreibt gleichzeitig das Leiden, die Herrschaft und die               Herrlichkeit des Herrn;
Ps. 2 zeigt den vom Vater gezeugten Sohn, Seine Verwerfung, Seine Gerichte und Seine Herrschaft (Apg. 4, 25.)
Mal. 3, 1-2 scheint den Dienst Johannes des Täufers und das glorreiche Kommen des souveränen Richters nebeneinander zu stellen; usw., usw.

Solche Zusammenstellungen heben also keineswegs die vielen anderen Stellen auf, die von der Zeit der Gemeinde zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen des Herrn und vom Millennium zwischen Seiner Wiederkunft und dem Weltuntergang reden.

d) Endlich erklärt man, die Gemeinde sei himmlisch und dürfe nur geistliche Segnungen erwarten. Wir sind schon mit Christus in die himmlischen Örter versetzt. Eph. 1,3; 2,6. „Unser Bürgertum ist im Himmel“. So haben wir kein irdisches, materielles Reich in Ausicht.

Auf die Rolle der Gemeinde während des Millenniums werden wir später eingehen. Hier genüge es zu sagen, daß die auferstandenen Gläubigen, die mit Christus auf Seinem Throne sitzen, von der Herrlichkeit her mit Ihm regieren werden (wohl aus den „himmlischen Örtern“, in die wir schon hier im Glauben versetzt sind). Eine solche Perspektive schließt keineswegs aus, daß die Erde noch vor ihrer endgültigen Vernichtung am sichtbaren Triumph des Herrn teilhat.

Die Argumente der Millenniumsgegner scheinen uns also von der biblischen Sicht her nicht begründet; ganz abgesehen davon, daß ihre Lehre den Juden keine Zukunft mehr läßt und damit vielen, völlig klaren Texten widerspricht. Diesen Punkt haben wir ja bereits im Teil über Israel berührt.

6. Merkwürdigerweise begegnet man bis in die politische Welt hinein dem brennenden Wunsch, mit rein menschlichen Mitteln ein goldenes Zeitalter auf Erden herbeizuführen. „Die politischen, sozialistischen wie kommunistischen Bestrebungen unserer Tage, diese Vorläufer des Tausendjährigen Reichs, sind nichts anderes als ein grober Chiliasmus (Millenniumslehre). Nicht alles ist falsch an dem Ideal, das die Sozialisten und Kommunisten verfolgen. Was die Kirche übersah, haben sie erahnt, gesucht, heiß erstrebt. Auch darin sind die Kinder dieser Welt klüger gewesen als die Kinder des Lichts. Aber sie wollen dieses Ziel aus eigener Kraft erreichen, ohne Gott, ohne Christus. Da sie aber den Eckstein verworfen haben, wird das Werk den Bauleuten völlig mißlingen.

7. Wie köstlich ist es, den oben beleuchteten Irrtümern und sonderbaren Irrlehren die einfache Botschaft der Bibel gegenüber zu stellen! Läßt man sie allein zu Worte kommen, so staunt man über das Ausgeglichene und Geistliche ihrer Unterweisung. Durch all die Fälschungen aber sucht Satan die Gläubigen von der wunderbaren Hoffnung abzubringen, die unserer armen Erde geschenkt ist. Denn der Gedanke, bald gebunden und von dieser Ära der Heiligkeit und der Wonne ausgeschlossen zu werden, ist ihm entschieden unerträglich.

VI. Wie lange wird das Messianische Zeitalter dauern?

Sechsmal erklären die ersten sieben Verse von Offb. 20, daß es tausend Jahre dauern wird (daher der Name Millennium).

Manche behaupten, diese Zahl, wie viele andere in der Bibel, habe rein symbolische Bedeutung. Auf der menschlichen Ebene drückt sie die Totalität, hier die vollkommene Dauer aus. Es mag schon sein, daß Gott diese Zahl nicht zufällig bestimmt hat. Aber das läßt es uns, nach unserer Ansicht, durchaus zu, sie auch wörtlich zu nehmen. Daß Johannes diese Zeitangabe sechsmal wiederholt, berechtigt uns wohl zu dieser Annahme. Wir fanden oben, daß Daniel und Johannes, um unsere Aufmerksamkeit auf die dreieinhalbjährige Dauer der großen Trübsal zu lenken, sie achtmal in vier verschiedenen Ausdrücken wiederholen. Daher glauben wir, daß Christi Herrschaft auf Erden wirklich tausend Jahre währen wird.

Schon vor dem Kommen des Herrn haben die jüdischen Rabbiner, wie bereits einmal erwähnt, gestützt auf das AT, die Dauer des messianischen Reichs auf tausend Jahre festgelegt. Sie gründeten ihre Ansicht auf den Sabbat Gottes als Symbol für das Millennium.

Beachten wir noch, daß die Propheten des AT zuweilen das messianische Reich auf Erden und im Himmel in einer und derselben Vision vereinigen. Von ihrer Entfernung aus können sie nicht immer das Millennium von der Ewigkeit unterscheiden. Mit der Beschreibung des irdischen Königreiches verkündigen sie, daß der Messias ewig regieren werde. (S. z.B. Ps. 72,5-7; Dan. 7, 14-27 usw.!) Aber es ist klar, daß diese Herrschaft in den Himmel einmünden wird, und daß die tausend Jahre nur wie der Vorhof des königlichen Palastes sind.

VII. Einige Symbole für das Millennium.

1. Der Sabbat.
Ständig findet man in der Schrift den Zyklus von sechs Arbeitsperioden, auf die eine siebente der Ruhe folgt, während die achte einen neuen Anfang einleitet:

a) In sechs Tagen schuf Gott die Welt und ruhte am siebten Tage, Mose 2,2-3;
b) Jede Woche sollte Israel sechs Tage arbeiten und am siebenten 2. Mos. 20,8-1;
c) Es gab den Zyklus der sieben Wochen von Pfingsten. Mos. 23,15-16;
d) Ein anderer Zyklus von sechs Monaten führte zu den großen Festen der Posaunen, der Versöhnung und der Laubhütten, denen der siebente Monat geweiht war. Mos. 23, 24-25. 27. 34.
e) Die Israeliten sollten das Land sechs Jahre bebauen und es im siebenten ruhen lassen. 3. Mo 25,2-4. (Man findet noch solche Siebener-Zyklen im Jubeljahr, in der siebzigjährigen babylonischen Gefangenschaft und in den siebzig Jahrwochen von Daniel 9.)

Gestützt auf diese Analogien waren die Rabbiner zu der Ansicht gelangt, die Welt solle einen Zyklus erleben von:
sechs Jahrtausenden der Arbeit: 6 Tage;
tausend Jahren der Ruhe: 7. Tag;
darnach den Eingang in die Ewigkeit im Morgenrot des 8. Jahrtausends: 8. Tag.

Später drückten alte Kirchenväter denselben Gedanken in neuer Form aus. Sie glaubten, die Erde würde in großen Linien

zweitausend Jahre ohne das Gesetz sein – von Adam bis Abraham;
zweitausend Jahre unter dem Gesetz – von Abraham bis Christus;
zweitausend Jahre unter der Gnade – das jetzige Zeitalter;
eintausend Jahre unter der Herrschaft des großen Königs – das Millennium.

Selbstverständlich geben wir diese Einzelheiten nur dokumentarisch und mit allem Vorbehalt weiter. Wir möchten uns hüten, auch nur dem Anschein nach ein Datum für die Wiederkunft Christi festzulegen. Möglicherweise findet sie bald statt; aber sollte sie auch noch lange verziehen, so würde das unsern Glauben in keiner Weise erschüttern, denn Er allein kennt Tag und Stunde. Immerhin glauben wir – allein auf die Analogie des Glaubens gestützt und unter Vermeidung jeder Übertreibung – mit den Rabbinern aus dem Sabbatzyklus schließen zu dürfen, daß die aufgewühlte Weltgeschichte im Sabbat-Jahrtausend der großen Ruhe ihr Ende findet.

2. Das Jubeljahr.
Nach sieben Sabbatjahren, d.h. nach 49 Jahren, sollte Israel das Jubeljahr feiern. „Ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt ein Freijahr ausrufen im Lande allen, die darin wohnen; denn es ist euer Halljahr. Da soll ein jeglicher bei euch wieder zu seiner Habe und zu seinem Geschlecht kommen . . . Ihr sollt nicht säen auch was von selber wächst, nicht ernten; denn das Halljahr soll unter euch heilig sein.“ 3. Mos. 25,10-12. Und alle Kaufverträge mußten den Zeitabstand bis zum nächsten Jubeljahr berücksichtigen.
Welch schönes Bild vom kommenden großen Jubeljahr haben wir hier! Bald werden völlige Freiheit, Gleichheit, Eigentumsrecht, Ruhe, allgemeiner Wohlstand nicht mehr bloße Worte sein, sondern zur herrlichen Wirklichkeit werden. Könnten wir doch auch alle unsere Geschäfte von heute ab im Blick auf das kommende Reich erledigen!

3. Die Stiftshütte.
Gott hatte die Stiftshütte mit ihren Opfern und Riten als Mittel ersonnen, um Sein Wohnen unter dem Volke Israel zu ermöglichen: „Sie sollen Mir ein Heiligtum machen, daß Ich unter ihnen wohne. . . Da Ich Mich euch bezeugen und mit dir reden will . . . Daselbst will Ich . . . geheiligt werden in Meiner Herrlichkeit. So will Ich die Hütte des Stifts mit dem Altar heiligen . . . Und will unter den Kindern Israel wohnen und ihr Gott sein, daß sie wissen sollen, Ich sei der Herr, ihr Gott, der sie aus Ägyptenland führte, daß Ich unter ihnen wohne . . . Da bedeckte die Wolke die Hütte des Stifts, und die Herrlichkeit des Herrn füllte die Wohnung“ 2. Mos. 25, 8; 29. . . .

4. Das Gelobte Land.

Nach Jahrhunderten der Versklavung und Verbannung in Ägypten und mühevollen Wüstenwanderungen genossen die Israeliten unter Josuas Führung endlich die Freiheit, Ruhe und Fülle im Gelobten Land. Die Segnungen, die ihnen zuteil werden sollten, falls sie treu blieben, gleichen sehr den Verheißungen fürs Millennium: Gott selbst wird vor ihnen hergehen und mit ihnen sein; Er wird es z um heiligen Volk machen und zum Herrn über alle Völker. Großer materieller Wohlstand wird sein Erbteil in einem Lande sein, da „Milch und Honig fließt“. So wird das Volk in Freude und Frieden die Erfüllung der Verheißungen Gottes erleben. 5. Mos. 31, 8. Dann wird das Laubhüttenfest eine ständige Erinnerung an die vergangene Zeit seines Nomadenlebens in Zelten sein. 3. Mos. 23, 42-43. Der Hebräerbrief sieht im Einzug Israels in Palästina ein Bild der Ruhe, in die der Gläubige, indem er das vollkommene Werk Christi annimmt, im Glauben eingeht. 4, 8-10. Aber man darf auch darin ein Bild der Wonne im Millennium sehen. . . .

5. Die Herrschaft Salomos.

Nach der bewegten Zeit der Richter und all den Kriegen Davids (1. Chr. 28,3) erschien Salomo seinem Volke wahrlich als ein Friedenskönig. Er begann damit, seines Vaters Diener zu belohnen und Feinde zu bestrafen. Er gab seinem Volk Ruhe und Sicherheit, daß jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen konnte. Mit großer Weisheit begabt, baute er dem Herrn ein festes, prächtiges Haus. Gott schenkte ihm Reichtum, Güter und Ehren, wie ie vor ihm kein König besessen hatte. Mit außergewöhnlichem Scharfsinn übte er Gericht. . . .
Alle diese Symbole lassen uns die wunderbare Wirklichkeit ahnen, die uns die lichtvollen Blätter der Propheten vorführen sollen.

2. Kapitel

Aufrichtung des Reiches

Mehrere wichtige Ereignisse sollen zu Beginn des Millenniums stattfinden, auf die wir im einzelnen eingehen müssen.

I. Satan wir gebunden
Und ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in den Hand. Und er griff den Drachen, die alte Schlange, welche ist der Teufel und Satan, und band ihn tausend Jahre und warf ihn in den Abgrund und verschloß ihn und versiegelte obendrauf, daß er nicht mehr verführen sollte die Heiden, bis daß vollendet würden tausend Jahre; und danach muß er los werden eine kleine Zeit“. Offb. 20, 1-3.

Welche Veränderung, wenn der Versucher nicht mehr imstande ist, die Völker zu verführen! Wunderbarer wird es sein als im Paradies, da Satan dort unsere ersten Eltern zu Fall bringen konnte. Ganz abgesehen davon, daß Christus im Millennium in Herrlichkeit offenbart und bei den Menschen wohnen wird.

II. Die erste Auferstehung
„Und ich sah, . . . die Seelen derer, die enthauptet sind um des Zeugnisses Jesus und um des Wortes Gottes willen, und die nicht angebetet hatten das Tier noch sein Bild und nicht angenommen hatten sein Malzeichen an ihre Stirn und auf ihre Hand, diese lebten und regierten mit Christo tausend Jahre. Die anderen Toten aber wurden nicht wieder lebendig, bis daß tausend Jahre vollendet wurden. Dies ist die erste Auferstehung! Über solche hat der andere Tod keine Macht; sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein und mit Ihm regieren tausend Jahre“. Offb. 20, 4-6. Über die Entrückung der Gemeinde hörten wir, daß alle Gläubigen, ob lebend oder tot, den Auferstehungsleib bekamen und mit Christus in die Herrlichkeit eingingen. Mit Ihm kommen sie nun wieder und setzen sich auch auf den Richterstuhl. Andererseits hat sich, so wir es recht verstehen, seit der Entrückung die große Trübsal abgespielt, in der alle getötet wurden, die Christus und nicht den Antichristen zum Herrn wählten. Offb. 12, 6.17; 13,15. Johannes hat schon am Anfang der Offenbarung die Seelen dieser Märtyrer gesehen, die Gott um Gerechtigkeit anflehten. 6, 9-11. Diese erwachen nun zum Leben und haben teil an der ersten Auferstehung. Daraus folgt:

a) Die „erste Auferstehung“ umfaßt die Gläubigen im Blick auf das Millennium. Die daran teilhaben, werden selig gepriesen; sie entrinnen der Hölle und werden mit dem Herrn tausend Jahre lang Könige und Priester sein. Diese Vorrechte sind allen vorbehalten, denen Christus der Heiland geworden ist. Offb. 1, 5-6; 2,11; 3,21. Folglich glauben wir, daß die ganze entrückte Gemeinde an derselben „ersten Auferstehung“ teilhat, wie die hier erwähnten Märtyrer. Johannes führt nur die letzteren an, weil die Gemeinde ja schon auferstanden ist und auf dem Richterstuhl sitzt.

b) Die erste Auferstehung unterscheidet sich klar von der zweiten. Mehrere Stellen der Schrift erwähnen beide: „Viele, so unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen; etliche zum ewigen Leben, etliche zu ewiger Schmach.“ Dan. 12,2. „Sie warten . . . der Auferstehung . . . der Gerechten und Ungerechten.“ Ap. 24, 15.
„Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden Seine (Christi) Stimme hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“. Joh. 5, 28. Aber es ist die Offenbarung, die uns lehrt, daß die ganze Dauer des Millenniums die zwei Auferstehungen voneinander trennt. Ohne diese Zahl anzugeben, sagte Jesaja faktisch dasselbe, als er schrieb: „Zu der Zeit wird der Herr heimsuchen . . . die Könige der Erde, die auf Erden sind (bei Harmagedon), daß sie versammelt werden als Gefangene . . . im Kerker und nach langer Zeit wieder heimgesucht werden.“ 24, 21. Wie wichtig ist es, daß ein jeder von uns weiß, welche Auferstehung seiner wartet, und ob er teilhaben wird an der ersten Auferstehung!

III. Das Völkergericht.

1.Wenn Christus durch die Endgerichte und den Sieg bei Harmagedon alle Feinde, die sich offen gegen Ihn empörten, vernichtet hat, wird es noch viele Menschen auf Erden geben. Nach der Schrift scheinen zwei Drittel der Juden und ein Viertel der Menschheit in der großen Trübsal umzukommen. . . .

2. Die Gemeinde scheint zusammen mit Christus die Völker zu richten. . . .

3. Die so vom Herrn ausgewählten Menschen werden in Fleisch und Blut auf der Erde weiterleben . . . Wir werden auf den folgenden Seiten sehen, wie viele Texte deren geistliches und materielles Leben während der Tausend Jahre beschreiben. . . .

3. Kapitel

Die Merkmale des Messianischen Reiches

Im Millennium wird der Herr den wunderbaren Plan ausführen, den Er von jeher für die Menschheit vor hatte, und der im Garten Eden nur vorübergehend mißlang. Er wird die Fülle Seiner Güte offenbaren und alles tiefe Sehnen stillen, das Er selbst in des Menschen Herz gelegt. Alles, was die Menschen an höchsten Gütern ohne Gott vergebens erstrebt haben, wird nun im Reich Seines Sohnes in Hülle und Fülle über sie ausgeschüttet werden. Laßt uns die Merkmale dieses Reiches näher betrachten!

I. Die Gerechtigkeit
Daß Sünde und Ungerechtigkeit heute überall triumphieren, das macht unser Erdendasein in so schwierig. Jesus Christus wird das alles ändern.
„Das Zepter Deines Reichs ist ein gerades Zepter. Du liebest Gerechtigkeit und hassest gottloses Wesen.“ Ps. 45,7-8. . . .
Dann werden alle sozialen Probleme gelöst sein. Was die Moral in ihrer Ohnmacht nicht vermochte, was die politischen Parteien nicht erzwingen konnten, was die Kirchen vergeblich zu erreichen suchten, wird eines Tages durch den einzig Gerechten auf Erden verwirklicht werden, Jesus Christus.
„Euch aber, die ihr Meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln.“ Mal. 4, 2. . . .

II. Friede
Ungerechtigkeit führt immer zum Krieg. Ist jene endlich ausgemerzt, wird dieser auch verschwinden: „Laß die Berge den Frieden bringen unter das Volk und die Hügel die Gerechtigkeit . . . Großer Friede . . . wird blühen, bis daß der Mond nimmer sei. ” Ps. 72, 3.7.
„Er wird richten unter den Heiden und strafen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen . . .
Er heißt . . . Friedefürst, auf daß . . . des Friedens kein Ende werde auf dem Stuhl Davids und in Seinem Königreich, daß Er’s zurichte und stärke mit Gericht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. . . . Jes. 2, 4; 9, 5-6.

Seit Kain seinen Bruder getötet hat, ist die Menschheit in Kriege verstrickt. . . . Auf geistlicher Ebene besteht dieser Friede schon zwischen dem Herrn und allen Seinen wahren Kindern. Aber eines Tages wird er sich hier auf Erden herrlich offenbaren. Dann geht endlich die Engelsbotschaft der Weihnacht in Erfüllung: „Friede auf Erden!“

III. Glückseligkeit
„Und es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind . . . Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht . . . . . .

IV.  Langes Leben und Gesundheit
Der Tod lag ursprünglich nicht im Plan Gottes, er ist durch die Sünde in die Welt gekommen. 1. Mos. 3,19. Nach dem Sündenfall haben die Patriarchen sogar noch sehr lange gelebt. Adam wurde z.B. 930, Methusalah 969 Jahre alt. Erst die Verderbtheit der Generation der Sintflut ließ Gott die Lebenszeit des Menschen auf höchstens 120 Jahre kürzen, während späterhin nur die Kräftigsten im Durchschnitt 70 bis 80 Jahre erreichten. 1. Mos. 5, 5. 27.

Nach den Weissagungen soll das Leben der Menschen in der messianischen Ära wieder bedeutend länger werden. Keiner stirbt mehr eines frühzeitigen Todes, und ein Hundertjähriger wird noch jung sein . . .

Wir werden gleich sehen, daß der Tod nur ausnahmsweise über solche verhängt wird, die auf dem Weg der Sünde beharren. Dagegen sollen anscheinend Unzählige die Möglichkeit haben, fast das ganze Millennium hin durch zu leben. Solche Behauptungen konnten vor einigen Jahren ein Lächeln hervorrufen. Aber gelehrte Biologen haben entdeckt, daß unsere Organe so beschaffen sind, daß sie viel länger leben könnten. Man versteht nicht, weshalb der Tod so bald eintritt. . . . Und wir glauben, daß es für den allmächtigen Gott ein Kinderspiel sein wird, das Menschenleben zu verlängern, wenn Er den Augenblick für gekommen hält, die Weissagungen zu erfüllen. Bis dahin aber wollen wir Gott danken, daß Er unser Leben, wie es jetzt ist, nicht verlängert. In unserer Welt voll Sünde, Leiden und Gebrechen wäre Langlebigkeit keine Wohltat, eine sehr große dagegen im kommenden goldenen Zeitalter. Aus anderen Texten scheint hervorzugehen, daß der Herr auch in reichem Maße die Gabe der Gesundheit schenken wird:

„Alsdann werden der Blinden Augen aufgetan werden, und der Tauben Ohren werden geöffnet werden; alsdann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch…“ Jes. 35,5-6.
Das erscheint ganz natürlich, da auch zur Zeit der irdischen Wirksamkeit Jesu Christi „die Stummen redeten, die Krüppel gesund waren, die Lahmen gingen, die Blinden sahen.“ Matt. 15, 30. So wird der Herr auch auf diesem Gebiet die „Wiederherstellung aller Dinge“, von der Petrus spricht, bewirken (Ap. 3, 21) . . .

V. Materieller Wohlstand
Gott hat uns einen Leib so gut wie einen Geist und eine Seele gegeben, und Er weiß wunderbar für die Bedürfnisse dieses Leibes zu sorgen. Er hatte Adam in einen Lustgarten gesetzt, wo eine üppige Fülle herrschte. Seitdem hat Er unaufhörlich den Menschen Gutes getan, indem Er „vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, unsre Herzen erfüllt mit Speise und Freude“. Ap. 14, 17. Denn der Herr gibt uns „reichlich, allerlei zu genießen“. 1. Tim. 6, 17.

So entspricht es wohl ganz dem göttlichen Willen, der Erde im messianischen Reich einen paradiesähnlichen Glückszustand zu gewähren. Auch die Erde soll an der „Wiederherstellung aller Dinge“ teilhaben; genau wie die durch Wiedergeburt und Auferstehung völlig wiederhergestellte Menschheit. Damit richtet Gott alles wieder auf, was im Sündenfall zerschlagen wurde. Manche halten diese Perspektive für viel zu wenig „geistlich“, als daß man sie in Betracht ziehen dürfe. Wenig „geistlich“ waren allerdings die Übertreibungen gewisser überspannter Lehrer wie Papias. Doch die Segnungen, die Gott unserm Leib und der Erde aufbewahrt hat, können nur heilig und vollkommen sein. Um ein Bild von ihnen zu haben, brauchen wir nur die Texte unverändert reden zu lassen:
„Auf Erden . . . wird das Getreide dick stehen; seine Frucht wird rauschen wie der Libanon, und sie werden grünen in den Städten wie das Gras auf Erden.“ Ps. 72,16.
„Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß man zugleich ackern und ernten und zugleich keltern und säen wird; und die Berge werden von süßem Wein triefen, und alle Hügel werden fruchtbar sein. Denn Ich will das Gefängnis Meines Volkes Israel wenden, daß sie sollen . . . Weinberge pflanzen und Wein davon trinken, Gärten machen und Früchte daraus essen.“ Amos 9,13-14.
„Zu derselben Zeit, spricht der Herr Zebaoth, wird einer den anderen laden unter den Weinstock und unter den Feigenbaum . . . Der Weinstock soll seine Frucht geben und das Land sein Gewächs geben, und der Himmel soll seinen Tau geben“. Sach. 3,10 ; 8,12.
So erfüllen sich an der ganzen Erde die alten Verheißungen, die Gott Seinem Volk gegeben hatte, falls es treu bliebe: „Werdet ihr Meine Gebote halten und tun, so will Ich euch Regen geben zu seiner Zeit, und das Land soll sein Gewächs geben und die Bäume auf dem Feld ihre Früchte bringen. … 3. Mos. 26, 3-5. 10.

So wird die Erde zum größten Wohl der Menschheit wieder ein Paradies werden, ein Paradies jedoch, das das erste gewissermaßen übertrifft, nicht seiner Fruchtbarkeit wegen, sondern weil Christus in ihm ist und der Teufel keinen Zugang hat. Der Wohlstand rührt also nicht von der materialisierten, mechanisierten Zivilisation her. Es ist gut, wenn wir das ein für allemal wissen.

VI. Der Fluch wird von der Natur genommen werden.
Nach dem Sündenfall spricht Gott zu dem Menschen: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen . . . Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“ 1. Mos. 3, 17-19.
Darum sagt Paulus: Das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, . . . denn auch die Kreatur wird freiwerden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar.“ Röm. 8, 19-22.
Soll die Erde zu der oben beschriebenen Fruchtbarkeit kommen, so muß erst der Fluch, der auf ihr liegt, aufgehoben werden. „Es sollen Tannen für Hecken wachsen und Myrten für Dornen . . . Ich will die Wüste zu Wasserseen machen und das dürre Land zu Wasser quellen; Ich will in der Wüste geben Zedern, Akazien, Myrten und Kiefern.“ Jes. 55, 13; 41,18.

Zudem werden auch die Raubtiere ihre Wildheit verlieren: „Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden auf der Weide gehen . . . . Man wird nirgends Schaden tun noch verderben auf Meinem ganzen heiligen Berge.“ Jes. 11, 6-9 (s. auch Hes. 34, 25. 28; Hos. 2, 20).
Zuletzt dürfen wir wohl auch annehmen, daß die Erde nicht mehr von solchen Naturkatastrophen verwüstet werden wird, an denen Satan nach Hiob 1,12. 16. 19 nicht immer unbeteiligt ist. Wie herrlich werden diese „Zeiten der Erqui ckung“ sein, wenn alle Dinge in ihren paradiesischen Zustand zurückversetzt sind!

VII. Hat das „Atomzeitalter“, wie man es schon nennt, etwas mit diesen großen angekündigten Umwälzungen zu tun?
Tatsache ist, daß das Leben der Menschen, das Jahrtausende lang statisch geblieben war, sich seit etwa hundert Jahren gänzlich verändert hat: Kohle, Dampfkraft, Elektrizität, Treibstoffe, Eisenbahn, Motore, Industrie, Chemie, Chirurgie, das Luftwesen, alle diese Dinge haben die frühere Lebensweise ganz über den Haufen geworfen. Heute stehen wir an der Schwelle einer Zeit viel gewaltigerer Neuerungen: Radio, Fernsehen, wahnsinnige Geschwindigkeiten und vor allem die Atomenergie scheinen Möglichkeiten zu eröffnen, die über unsere Denkkraft gehen. Es sind dies übrigens Möglichkeiten zum Guten und zum Bösen hin.
Verkehrt angewandt, kann die Atomenergie die schlimmsten Katastrophen verursachen, dagegen kann sie, wie es scheint, unser Leben auf vielen Gebieten günstig beeinflussen und verbessern, wenn sie in der rechten Weise gebraucht wird: Gesundheit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Heizung, Transport und Verkehr, Arbeit usw. Ist es nicht merkwürdig, daß diese unbegrenzte Kraftquelle gerade jetzt entdeckt wurde, da unsere Welt vor den zwei großen Umwälzungen steht, die ihre Geschichte beschließen sollen: dem Weltenbrand der Endgerichte und dem Anbruch des goldenen Zeitalters, das unseren Planeten umwandeln soll?

In Seinem Tun hat Gott natürlich tausend Mittel und Wege, und wir wollen nicht behaupten, daß Er Sich nur der von den Menschen entdeckten Kraftquellen bedienen werde, um das Gericht und die Erneuerung der Erde durchzuführen. Und doch wissen wir, daß Er oft zu ganz einfachen, natürlichen Mitteln greift (dem Wasser der Sintflut z.B.); und die uns jetzt schon bekannten genügen vollauf, die Gedanken der Propheten über die neue Lebensgestaltung in der Zukunft zu bestätigen.

4. Kapitel

Deine Augen werden den König sehen in Seiner Schöne

Im siebenten Teil über die Wiederkunft Jesu Christi beschäftigten wir uns mit der Frage, wie uns die Schrift den König der Könige darstellt. Nun wollen wir sehen, wie der Herr Seine Herrschaft ausübt.

I. Jesus Christus wird Seine Gegenwart inmitten Seines irdischen Königreichs offenbaren.
Im Paradies sprach Gott mit dem Menschen und hatte direkte Verbindung mit ihm. Der Sündenfall unterbrach diese Gemeinschaft, da Adam und Eva aus Eden vertrieben wurden.

In der Theokratie Israels ging der Herr selbst in der Wolken- und Feuersäule vor dem Volke her und nahm dann Wohnung im Tempel zu Jerusalem. 2. Mos. 14, 19. 24; 2. Chr. 5, 13-14; 7, 1-2.
Während Seines ganzen Erdendienstes war Jesus Christus wirklich der „Immanuel“, d.h. Gott mit uns. Nach Seiner Auferstehung blieb Er noch vierzig Tage auf Erden, redete mit Seinen Jüngern, erschien und verschwand, kam und hob Sich hinweg, nach Seinem Belieben.

So ist es nicht verwunderlich, wenn die Propheten die göttliche Gegenwart für das Millennium verheißen: „Er wird richten unter den Heiden und strafen viele Völker . . . Zu der Zeit wird des Herrn Zweig lieb und wert sein und die Frucht der Erde herrlich und schön bei denen, die erhalten werden in Israel . . . Der Herr Zebaoth wird König sein auf dem Berg Zion und zu Jerusalem und vor Seinen Ältesten in der Herrlichkeit . . . Deine Augen werden den König sehen in Seiner Schöne . . . Denn der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser Meister, der Herr ist unser König, Der hilft uns.“ Jes. 2, 4; 4, 2; 24, 33; 33, 17.22

„Mein Knecht David soll ihr König und ihrer aller einiger Hirte sein . . . Mein Heiligtum soll unter ihnen sein ewiglich. Und Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein, und sie sollen Mein Volk sein.“ Hes. 37, 24. 26-27. „Der Herr wird König sein über alle Lande . . . Und alle übrigen unter allen Heiden . . . werden jährlich herauf kommen, anzubeten den König, den Herrn Zebaoth.“ Sach. 14, 9.16.

II. Wie wird sich Seine Gegenwart offenbaren?

1. Jesus Christus wird sichtbar erscheinen.
Wenn des Menschen Sohn zum Weltgericht kommt, „werden Ihn sehen alle Augen.“ Offb. 1, 7; Matt. 24, 30. Und ebenso gut wie als Richter kann Sich Jesus als König offenbaren.
Darum schreibt Jesaja: „Deine Augen werden den König sehen in Seiner Schöne.“ 33, 17. Zu derselben Gedankenreihe gehört folgendes: Zwischen Ostern und Himmelfahrt aß Jesus im Angesicht Seiner Jünger, um ihnen zu beweisen, daß Sein Leib wirklich auferstanden war. Luk. 24, 36-43. Auch als Er ihnen beim Abendmahl den Kelch reichte, erklärte Er: „Wahrlich, Ich sage euch, daß Ich hinfort nicht trinken werde vom Gewächs des Weinstocks, bis auf den Tag, da Ich’s neu trinke in dem Reich Gottes.“ Mk. 14, 25. Man fragt sich daher, ob der Herr nicht auch im Millennium Seine Menschensohnschaft ebenso greifbar machen wird.
Wir wollen noch das eigene Wort des Herrn anführen: „Wahrlich, wahrlich, . . . von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf – und herabfahren auf des Menschen Sohn. Joh. 1, 51. Der Himmel offen! Der Gedanke an alles, was dieses erahnen läßt, bewegt uns tief.

In ihrer Verkündigung von der sichtbaren Offenbarung des Herrn sagt die Schrift aber nichts Genaues darüber aus, ob diese eine ununterbrochene sein soll. Er könnte auftauchen und verschwinden, wie Er will, und wie Er es zwischen Ostern und Himmelfahrt tat.

2. Die Herrlichkeit des Herrn wird in dem wiedererbauten Tempel zu Jerusalem wohnen.
Menschenaugen können Jesus in Seiner Leiblichkeit sehen und das Maß Seiner Herrlichkeit, das Er ihnen enthüllen will, schauen. Aber es gibt einen Glanz Gottes, den kein Sterblicher zu ertragen vermag. „Denn kein Mensch wird leben, der Mich siehet“, sagt Gott zu Mose. 2. Mos. 33, 20. Im Geheimnis des Allerheiligsten des salomonischen Tempels hatte Gottes Herrlichkeit gewohnt. Aber in dem Augenblick, da sie sich dort niederließ, „konnten die Priester nicht hineingehen, denn die Herrlichkeit des Herrn füllte das Haus des Herrn.“ 2. Chr . 7, 2. Später zog sie dann Gott, wie gesagt, vor der Zerstörung des Tempels daraus zurück und vom Ölberg aus wieder in den Himmel. Hes. 9, 3-6; 11, 22-24.

Ist der Tempel im wiederhergestellten Jerusalem nach den Plänen Hesekiels neu erbaut, so wird der Herr wieder dort wohnen (davon noch später). Jesus Christus wird Seine Füße auf den Ölberg setzen und das Wort des Propheten an Zion erfüllen: „Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir . . . Die Herrlichkeit soll an dich kommen, Tannen, Buchen und Buchsbaum miteinander, zu schmücken den Ort Meines Heiligtums; denn Ich will die Stätte Meiner Füße herrlich machen.“ Sach. 14, 4; Jes. 60, 1.13.
Hesekiel beschreibt dieses große Ereignis genauer: „Und siehe, die Herrlichkeit des Gottes Israel kam von Morgen (von der Seite des Ölbergs) und brauste, wie ein großes Wasser braust; und es ward sehr licht auf der Erde von Seiner Herrlichkeit . . . Und die Herrlichkeit des Herrn kam hinein zum Hause durchs Tor gegen Morgen . . . und siehe, die Herrlichkeit des Herrn erfüllte das Haus . . . Und Er sprach zu mir: Du Menschenkind, das ist der Ort Meines Throns und die Stätte Meiner Fußsohlen, darin Ich ewiglich will wohnen unter den Kindern Israel . . . Und Er führe mich wiederum zu dem äußeren Tor des Heiligtums gegen Morgen; es war aber zugeschlossen. Und der Herr sprach zu mir: Dies Tor soll zugeschlossen bleiben und nicht aufgetan werden, und soll niemand dadurch gehen; denn der Herr der Gott Israels, ist dadurch eingegangen.“ 43, 2. 4-5. 7; 44, 1-2. Die Herrlichkeit des Herrn wird sich offenbar wie einst in einer Wolken- und Feuersäule nach außen hin kundtun (2. Mos. 13, 21).

Nach den Worten über die Pracht und Herrlichkeit des „Zweigs des Herrn“ sagt Jesaja: „Der Herr wird schaffen über alle Wohnungen des Berges Zion, und wo man versammelt ist, Wolke und Rauch des Tages, und Feuerglanz, der da brenne, des Nachts.“ 4, 2-5.
Mehr sagt uns die Schrift wohl nicht über die sichtbare Gegenwart des Herrn hienieden. Auf Grund der angeführten Stellen aber glauben wir, daß sie sich wirklich und wunderbar kundtun wird. Damit wollen wir aber nicht behaupten, daß der allgegenwärtige Herr tausend Jahre lang Sein Wesen und Wirken allein auf unsere kleine Erde beschränken wird. Hier handelt es sich nur um das, was Jesus Christus für die Menschheit im Millennium tun wird. Was danach kommt, wird uns später offenbart werden.

NEUNTER TEIL

Die Vorbereitung auf die Wiederkunft Jesu Christi

Wir kommen nun zum Schluß unseres Buches und hoffen, daß die Leser mit uns erkennen, wie fesselnd das Studium der Weissagungen ist. Und doch könnte es zu einer Falle für unsere Seelen werden, sollte es nur ein Spiel unserer geistigen Wißbegierde sein, ohne Einfluß auf unser Leben und unser ewiges Geschick. In Wahrheit haben wenige Lehren eine größere praktische Tragweite wie diese hier. Die Erwartung der Wiederkunft Jesu Christi muß unser ganzes Leben verwandeln. Bei Prüfung der Weissagungen kann man sich unmöglich des Eindrucks erwehren, daß die Zeit nahe ist, und daß sich das Endstück der Geschichte rasch abspielen könnte. Andererseits sagt die Bibel wiederholt, daß wir weder Tag noch Stunde wissen und wachen müssen, um nicht überrascht zu werden. So bleibt noch die letzte, allerwichtigste Frage zu behandeln übrig:

Wie können wir uns auf die Wiederkunft Jesu Christi vorbereiten?
Natürlich fällt die Antwort darauf sehr verschieden aus, je nachdem es sich um einen Unbekehrten oder um ein Gotteskind handelt.

I. Was muß ein Ungläubiger tun, wenn er von der Wiederkunft Christi hört? 

Die ganze Schrift und selbst der Verstand rufen ihm zu: Bekehre dich, eile, Jesus als Heiland anzunehmen, damit du nicht vor Ihm als Richter erzittern mußt! „Du hast den Namen, daß du lebest, und bist tot . . . Tue Buße! So du nicht wirst wachen, werde Ich über dich kommen wie ein Dieb, und wirst nicht wissen, welche Stunde ich über dich kommen werde.“ Offb. 3, 1.3.

. . . Nur die werden bestehen können, die sich rechtzeitig zu Gott bekehrt haben, „zu warten auf Seinen Sohn vom Himmel . . . Der uns von dem zukünftigen Zorn erlöst.“ 1. Thess. 1 ,9- 10. Selig sind, die „ihre Kleider gewaschen haben im Blut des Lammes“ (Offb. 7, 14), d.h., die sich im Glauben durch das Blut Jesu von aller Sünde reinigen ließen. S ollte ein Leser dieser Zeilen noch nicht mit Gott im reinen sein, so flehen wir ihn an, sich doch zu besinnen un d zu h an deln, bevor es zu spät ist. Lebe nicht dahin in der Sorglosigkeit der Zeitgenossen Noahs:
„Sie aßen, sie tranken, bis an den Tag, da Noah zu der Arche einging; und sie achteten’s nicht, bis die Sintflut kam und nahm sie alle dahin -, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes.“ Matt. 24, 38-39. Ihr, die ihr nun gewarnt seid, gehet ein in die Arche des Heils, solange es Zeit ist!

II. Welche Haltung wird der Gläubige in seiner Erwartung der Wiederkunft des Herrn einnehmen?

Wie gesagt, wenige Lehren haben eine größere praktische Tragweite als die Lehre von der Wiederkunft des Herrn. Eine solche Aussicht muß wahrlich das ganze tägliche Leben des Christen beeinflussen. Viele Schriftstellen zeigen die direkte Beziehung zwischen unserer seligen Hoffnung und unseren verschiedensten Lebensgebieten. Wir wollen nur einige der Hauptleitworte hervorheben, die diese Aufrufe für uns zusammenfassen.

1. Erwachen und Wachsamkeit.
Der Herr kommt wieder. Er darf uns nicht schlafend finden. „Und weil wir solches wissen, nämlich die Zeit, daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf (sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wir gläubig wurden; die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen): so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichtes!“ Röm. 13,11-12.

2. Heiligung und Sieg.
„So nun das alles soll zergehen, wie sollt ihr denn geschickt sein mit heiligem Wandel und gottseligem Wesen, daß ihr wartet und eilet zu der Zukunft des Tages des Herrn . . . Darum, meine Lieben, dieweil ihr darauf warten sollt, so tut Fleiß, daß ihr vor Ihm unbefleckt und unsträflich im Frieden erfunden werdet!“ 2. Petr. 3,11-12.14.
Wandelt „würdig vor Gott, der euch berufen hat zu Seinem Reich und zu Seiner Herrlichkeit . . . Euch aber vermehre der Herr und lasse die Liebe völlig werden untereinander und gegen jedermann . . . . Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahrt werden unsträflich auf die Zukunft unsers Herrn Jesu Christi.“ 1 . Thess. 2, 12; 3,12-13; 5,23-24
Diese Stellen zeigen uns, wie sehr die Heiligung das stete Anliegen dessen sein muß, der auf das Kommen Jesu wartet. Ohne sie „wird niemand den Herrn sehen.“ Hebr. 12, 14.
Laßt uns darum unser Möglichstes tun, sie zu erlangen, nach den Worten: „Tut Fleiß, daß ihr von Ihm unbefleckt erfunden werdet“ . . .

3. Vorsicht und Unterscheidungsvermögen.
„Sehet zu, daß euch nicht jemand verführe . . . Sie werden viele verführen . . . so alsdann jemand zu euch wird sagen: Siehe, hier ist Christus! oder: da! so sollt ihr’s nicht glauben. Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, daß verführt werden in den Irrtum (wo es möglich wäre) auch die Auserwählten.“ Matt. 24, 4-5.23-24. ” Aber der Zukunft halben unsers Herrn Jesu Christi und unserer Versammlung zu Ihm bitten wir euch, liebe Brüder, daß ihr euch nicht bald bewegen lasset von eurem Sinn noch erschrecken . . .“ 2. Thess. 2,1-3.

4. Mut und Glauben.
„Sehet zu und erschrecket nicht. Das muß zum ersten alles geschehen . . . Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig.“ Matt. 24, 6.13. „Entsetzet euch nicht. Denn solches muß zuvor geschehen . . . So nehmet nun zu Herzen, daß ihr nicht sorget, wie ihr euch verantworten sollt (wenn man euch verfolgen wird); denn Ich will euch Mund und Weisheit geben, welcher nicht sollen widersprechen können noch widerstehen alle eure Widersacher . . . Luk. 21, 9.14-19.

6. Trost und Freudigkeit.
„Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter, darum daß sich eure Erlösung naht.“ Luk. 21, 28.
„Auf daß euer Glaube . . . erfunden werde . . . zu Lob, Preis und Ehre, wenn nun offenbart wird Jesus Christus, welchen ihr nicht gesehen und doch liebhabt . . . Freuet euch, daß ihr mit Christo leidet, auf daß ihr auch zur Zeit der Offenbarung Seiner Herrlichkeit Freude und Wonne haben möget.“ 1. Petr. 1, 7-9; 4,13.

8. Warten in Geduld.
„Ihr seid bekehrt zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu warten auf Seinen Sohn vom Himmel.“ 1. Thess. 1, 9-10. „So seid nun geduldig, liebe Brüder, bis auf die Zukunft des Herrn. Seid ihr auch geduldig und stärket eure Herzen; denn die Zukunft des Herrn ist nahe.“ Jak. 5,7-8.
„Christus . . . wird zum andernmal ohne Sünde erscheinen denen, die auf Ihn warten, zur Seligkeit . . . Geduld aber ist euch not, auf daß ihr den Willen Gottes tut und die Verheißung empfanget. Denn noch über eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und nicht verziehen.“ Hebr. 9, 28; 10,36-37.

9. Liebe und Hilfsbereitschaft.
„Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in Seiner Herrlichkeit . . . wird Er sagen zu denen zu Seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten Meines Vaters, ererbet das Reich! . . . Denn Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt Mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr ha bt Mich getränkt . . . Was ihr getan habt einem unter diesen Meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan.“ Matt. 25,3 1-40.


10. Einkehr und Gebet.
„Und du, Daniel, verbirg diese Worte und versiegle diese Schrift bis auf die letzte Zeit; so werden viele darüberkommen und großen Verstand finden . . . Die Gottlosen werden’s alle nicht achten; aber die Verständigen werden’s achten.“ Dan. 12, 4.10.

„Wir haben desto fester das prophetische Wort, und ihr tut wohl, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint in einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche.“ 2. Petr. 1, 19.
„Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge.“ 1. Petr. 4,7.

„So seid nun wach allezeit und betet, daß ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem allem, und zu stehen vor des Menschen Sohn.” Luk . 21 ,36.


Und das Hauptgebet, das wir immer mehr zu Gott empor senden, wird das eine sein: Dein Reich komme! Amen, ja, komm, Herr Jesu! Matt. 6,10; Offb. 22,20.

III. Schlußfolgerung.

Stehen wir in der geduldigen Erwartung des Herrn?
Vermögen wir um Deswillen, der da kommt, alle Menschen zu lieben und alles zu ertragen? 
Und sind wir bereit, uns in das prophetische Wort zu vertiefen und noch inständiger zu flehen, bis die Sonne der Gerechtigkeit aufgeht?
Wenn all dies uns beseelt, so wird es uns nicht träge oder unfruchtbar in der Erkenntnis unseres Herrn Jesu Christi sein lassen. Das Lesen und Studieren so vieler prophetischer Bibelstellen wird für unsere Seelen nicht vergeblich gewesen sein.
Gott gebe, daß wir uns alle einmal das Wort des Apostels Paulus aneignen dürfen:
„Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte Richter, geben wird, nicht mir aber allein, sondern auch allen, die Seine Erscheinung liebhaben.“ 2. Tim. 4, 7-8.

„Dem aber, der euch kann behüten ohne Fehl und stellen vor das Angesicht Seiner Herrlichkeit unsträflich mit Freuden, dem Gott, der allein weise ist, unserm Heiland, sei Ehre und Majestät und Gewalt und Macht nun und zu aller Ewigkeit!“ Amen. Jud. 24-25.

 

Nachwort von Horst Koch:
Wegen der Fülle der Darlegungen teile ich das Material ein wenig.    

Auf der HP separat folgende Kapitel:

SATAN, FÜRST DIESER WELT,
https://horst-koch.de/wp-admin/post.php?post=7194&action=edit

DIE VÖLKER (Das römische Reich),
https://horst-koch.de/die-voelker-und-die-wiederkunft-christi-pache/

DAS MILLENNIUM (Das Tausendjährige Reich)
https://horst-koch.de/das-millennium-rene-pache/
 
DER ANTICHRIST
https://horst-koch.de/der-antichrist/

DER FALSCHE PROPHET
https://horst-koch.de/der-falsche-prophet-r-pache/

Die HURE BABYLON
https://horst-koch.de/die-grosse-babylon/

ISRAEL
https://horst-koch.de/israel-rene-pache/

DAS JENSEITS
https://horst-koch.de/das-jenseits/

DIE INSPIRATION DER BIBEL
https://horst-koch.de/wp-admin/post.php?post=399&action=edit

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Schweigt Gott zum Bösen? (Jaffin)

David Jaffin

Schweigt Gott zum Bösen?

Bucheinbandtext: – Ein altes, aber immer wieder aufwühlendes Thema – diesmal von einem Autor bearbeitet, der aus einem Volk stammt, das aufgrund seiner Geschichte besonders von dieser Frage betroffen ist. Um so spannender, welche Auflösung der Autor anbietet. David Jaffin ist evangelischer Pfarrer. Er wurde (als Jude) 1937 in New York geboren. Jaffin studierte Kunstgeschichte und Psychologie und Theologie. Er hat mehrere Gedichtbände und zahlreiche Predigtbände sowie Kunstbildbände veröffentlicht. –

Inhalt
Warum läßt Gott das Böse zu?

Paulus und Jakobus (Die Rechtfertigungslehre)

Menschliches und göttliches Leiden
Die zeichenhafte Bedeutung von Jesu Wunderheilungen

Kinder des Lichts

Wer bin ich?

Gottes Geist – unsere bestimmende Kraft

Göttliche Führung durch den Umgang mit der Bibel

Christliche Kultur – eine Einführung

– Eingestellt von Horst Koch. Einige Textbetonungen sind von mir. Herborn, im November 2023 –

Warum läßt Gott das Böse zu?

Ich werde versuchen, eine siebenfache Antwort zu geben auf die Frage »Warum läßt Gott das Böse zu?« Und Sie werden bei dieser siebenfachen Antwort merken, daß diese sieben Punkte nicht ganz voneinander getrennt sind, sie fließen ineinander, sie führen zu einander.

Erstens:

Die Fragestellung »Warum läßt Gott das Böse zu?«
ist für mich keine christliche Fragestellung, auch wenn ich selbst diese Frage so gestellt habe. Die Frage sollte umgekehrt gestellt werden: »Warum hat Gott uns nicht längst aufgegeben und uns alle umgebracht?«
Das ist die richtige, christliche Fragestellung. Das ist, was wir alle verdient haben, Juden wie Christen. Warum? Er hat uns für das Paradies geschaffen, zu seinem Bild geschaffen, daß es sehr gut war, so wie er das haben wollte. Er hat uns gezeigt, was wir tun sollen und was wir nicht tun sollen; nur zwei Grenzen hat er uns gegeben, die Grenze des Lebens und die Grenze gött licher Weisheit, denn diese beiden gehören uns nicht. Und was ist mit diesem großen Angebot passiert, wo wir alles bekamen, was unser Leib, Geist und unsere Seele brauchten? Wir haben diese Grenze überschritten.
Wir sind gefallen. Und was geschah dann? Brudermord (Kain und Abel), Massenmord (Lamech), Noah und die Sintflut, eine ganze Welt gegen Gott – und da hat er dann das Böse nicht zugelassen, er hat es zerstört, hat gereinigt. 
Noah ging da hindurch mit seiner Frau, mit seinen Söhnen und ihren Frauen und mit den Tieren.
Dann der Turmbau zu Babel, eine ganze Zivilisation kämpft, um Gott vom Himmel herunterzuholen, da mit wir hinaufkommen: Wir sind die Herren der Welt! Diese Geschichte vom Turm in Babel wiederholt sich ständig, durch die ganze Geschichte, ob das die Französische Revolution ist – »Jahr eins«, das Jahr eins der menschlichen Vernunft, der Freiheit und Brüderlichkeit! Nicht mit Jesu Geburt, sondern mit dem Jahr der Menschlichkeit, da sollte es anfangen. Und das geht durch unsere ganze Geschichte. Das ganze Geschwätz über Menschlichkeit anstelle von Göttlichkeit: »Alles, was menschlich ist, ist gut.« Ja, wenn man Auschwitz, den Holocaust gesehen hat, dann zweifelt man sehr daran, ob das, was menschlich ist, gut ist. Was Gott geschaffen hat, war gut, aber wir sind im Sündenfall. Und seither ist das Geschehen der Menschheit von uns aus nicht gut geworden.
»Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« Und das hat sich bis heute nicht geändert. Wir sehen das Versagen Israels. Der Herr, der Gott Israels, hat ein Volk erwählt, zuerst durch einzelne Menschen, damit es sein Gesetz halte. Und Israel hat ganz und gar versagt, denn die Israeliten wollten das Gesetz sehen, wie sie es sehen wollten, nicht wie Gott es sieht. Gott hat Propheten geschickt, um zu zeigen, daß das Gesetz zum Lippenbekenntnis für sie geworden ist, daß sie es nur äußerlich hielten, nicht »von ganzem Herzen«. Und die Propheten wurden von ihnen verworfen. Und dann schickte er seinen eigenen Sohn, der wurde von ihnen umgebracht. Israel versagt.

Und die Jünger? Was passiert bei der Kreuzigung Jesu Christi? Waren die Jünger besser? Sie gingen alle in die Irre wie Schafe.
Warum »wie Schafe«? Weil sie selbst geopfert werden sollten für ihre Schuld, nicht Jesus. Aber gerade weil sie total versagt haben, vertreten sie uns und die Kirche. Die Jünger gingen in die Irre, gerade als Jesus erhöht wurde, und er hat dreimal vorausgesagt, daß er gekreuzigt werden würde. Die Jünger versagen ganz und gar, kein einziges Glaubensbekenntnis eines Jüngers findet sich bei der Kreuzigung Jesu. Grünewald hat auf seinem berühmten Bild der Kreuzigung Johannes den Täufer dargestellt, der mit seinem überlangen Finger auf Jesus weist. Der Täufer war zum Zeitpunkt der Kreuzigung Jesu aber längst tot. Stand dem Künstler das Versagen der Jünger vor Augen?
Wir versagen, und es steht deutlich im Neuen Testament, daß das Licht in die Welt gekommen ist, das Wort, welches Fleisch geworden ist, die Menschen aber haben es nicht angenommen. Das bedeutet: Es geht nicht nur um das Versagen im Paradies, es geht nicht nur um das Ver sagen Israels, es geht um das Versagen von uns Christen. Wie ist es bei uns heute? Können wir wirklich behaupten, daß wir Gott etwas vorzubringen haben mit unserer Frömmigkeit? Wie viele Kirchen sind leergepredigt! Da gab es in IDEA eine lustige Zeichnung: Zum Gottesdienst in einer riesigen Kirche sind etwa 20 Leute gekommen, und da macht der Pfarrer innerhalb der großen Kirche eine Minikirche und sagt: Die Kirche ist voll.

Das Versagen der Menschheit ist dreifach, absolut:
– das Versagen der ersten Menschen im Paradies

– das Versagen Israels und

– das Versagen der Christenheit.


Ein dreifaches Versagen. »Warum?« – ich kann das nicht begreifen, und ich muß sagen, das ist für mich immer die Grundfrage zu Karfreitag – »Herr, warum hast du das getan? Warum hast du uns nicht aufgegeben?«
Längst aufgegeben, schon beim Tanz um das Goldene Kalb, als Gottes Zorn entbrennt. Warum hat er das nicht längst getan mit Israel und dann mit der ganzen Welt, schließlich auch mit uns Christen? Ich verstehe Gottes Liebe nicht. Gott sei Dank, daß ich das nicht verstehen kann. Und keiner von uns kann das verstehen, weil das alles übersteigt, was menschlich ist. Als Jesus totalem Versagen gegenübersteht, als er geschlagen und verhöhnt wird und von seinen eigenen Jüngern verlassen wird, geht er freiwillig hin in Liebe und bittet den Vater: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Er stirbt für Versager. Gerade deswegen ist er gestorben, weil wir versagt haben.

Die Grundfrage für einen Christen ist also nicht »Warum läßt Gott das Böse zu?«, sondern »Warum hat Gott uns nicht längst ausgerottet?« Warum hat er nicht gesagt: »Ich höre auf! Wie oft muß ich menschliches Versagen erleben! Ich habe meinen einzi gen Sohn geschickt, und die Welt hat auch ihn nicht angenom men.« Das ist die Grundfrage, wie tief Gottes Liebe geht. Eine Liebe, über die wir nur staunen können und die wir nicht begrei fen. Wir müssen das verstehen lernen, nicht nur in Bezug zu anderen, den Adams und Evas um uns und zu Israel und zu den Jüngern, sondern in Bezug zu uns selbst. Warum nimmt Jesus uns immer wieder an, obwohl wir versagen und unsere eigenen Wege gehen? Wie oft tun wir das! Wir können keine große Frömmigkeit vorweisen. Wir wissen doch, was in unseren Herzen ist – und das ist nicht immer in Ordnung. Wenn wir wahrhaftig sind, wird uns das bewußt. Warum nimmt er uns immer wieder an? Warum vergibt er uns immer wieder? Warum sagt er: »Ja, ich werde deine Schwachheit und deine Verfehlung, das Böse in dir, ich werde das für dich tragen«? Warum tut er das, unendlich oft? Er hört nie auf, uns zu vergeben. »Wie oft soll man vergeben?« wird Jesus ge fragt. Eine typisch jüdische Frage. »Siebzigmal siebenmal«, ist seine Antwort – das ist eine unendliche Zahl, nicht wahr, eine unendliche Zahl für die Vergebung. Wer vergibt siebzigmal sie benmal? Jesus Christus! Es ist die Zahl der Schöpfung, eine endlose, unendliche Zahl. Das ist die Grundfrage. Wenn die Frage gestellt wird: »Warum läßt Gott das Böse zu?«, dann soll die Antwort sein: »Hast du wirklich verdient, daß Jesus am Kreuz für dich gestorben ist? Hast du das verdient? Kennst du jemand, der das verdient hat?« Das ist die zentrale Antwort auf diese Frage. Jesus Christus hat getan, was wir gar nicht verdient haben, gegen das Böse, das in uns selbst ist. Und das ist nicht nur in Israel und nicht nur in den ersten Menschen, das ist in der Christenheit und das ist in jedem Menschen. Wir sind gefallene Menschen, gerecht gemacht durch Jesu Kreuzesblut, wie Luther das in der letzten Tiefe ausdrückt.

Zweitens: Ich habe in Geschichte promoviert und habe mir immer wieder diese Frage gestellt: »Warum hat Gott uns nicht vollkommen gemacht im Paradies, so daß wir nicht von ihm abfallen können?« Denn er hat sehr genau gewußt, daß wir abfallen würden. Er gibt uns die Entscheidungsfreiheit. Weil Gott alles kennt und alles sieht, hat er im voraus gewußt, daß wir der Versuchung unterlie gen werden. Warum hat er das getan? Warum hat er uns nicht als Engel geschaffen, rein? Zwar gibt es auch Engel, die gefallen sind – aber auch Engel, die nicht fallen können. Er hat Allmacht. Die Frage ist: Warum hat Gott die Geschichte geschaffen? Wenn er uns als Engel geschaffen hätte, in seinem Reich, in einem Para dies, immer bei ihm, dann gäbe es keinen Tod, denn der Tod kommt wegen der Sünde, und es gäbe keine Geschichte, denn Geschichte bedeutet Leben in der Zeit, vom Anfang bis zum Ende. Es gäbe dann kein Ende. Wir wären bei Gott, und was bei Gott ist, kann nicht sterben. Was in Gott ist, das ist ewig.
Warum hat er nicht von vornherein Gottes Himmelreich geschaffen?
Warum hat er Menschen geschaffen, die sehr gut waren, die aber von Gott abfallen werden?
Die Antwort ist: Die Menschen im Paradies haben nicht gewußt, was böse ist. Sie haben nichts erfahren von Versuchung und Sünde. Durch den Fall, durch Schuld und Sünde, lernen sie, warum sie Jesus Christus, den Gott Israels, brauchen.
Im Paradies haben sie das nicht wirklich gewußt. Denn wenn ihnen das völlig bewußt gewesen wäre, wären sie nicht gefallen. Sie mußten das lernen. Das bedeutet: Der Mensch im Paradies und der Errettete in Gottes Himmelreich sind nicht dasselbe. Der Mensch im Paradies gehorcht, ohne zu verstehen, was die Alter native ist, ohne zu verstehen, was böse ist, ohne zu verstehen, warum er Gott gehorchen soll. Er tut das einfach blind. »Du sollst gehorchen«, und er tut das. Er kennt nicht die Gefahren des Nichtgehorchens. Und Jesus ließ uns in den Ungehorsam fallen – er ließ uns. Er hätte eingreifen können, daß wir nicht vom Baum genommen hätten. Er tut das nicht. Warum? Weil wir diesen geschichtlichen Prozeß des Fallens erleben müssen, um zu erken nen, daß wir Jesus Christus brauchen, unseren Heiland. Wir hätten keinen Heiland, wenn wir nicht gefallen wären; denn dann brauchten wir nicht errettet zu werden. Wir lebten dann als eine Art von primitivem guten Menschen, der gar nicht weiß, was übel ist; und solch ein Mensch kann Gott nicht in der letzten Tiefe loben, als seinen Retter loben. Deshalb sagt Paulus: Wir sind mehr als die Engel, mehr. Warum? Weil wir in der letzten Tiefe wissen, warum wir Jesus Christus loben sollen, weil wir um die letzte Tiefe des Bösen in uns, in unserer Geschichte wissen. Es ist sehr bemerkenswert zu sehen, wie das biblisch gedeutet wird. Nennen wir ein paar zentrale Gestalten in der Bibel, die durch die Erfah rung des Bösen zu einer neuen Schicht und Tiefe des Gehorsams kommen, kein Gehorsam aus Zwang, sondern ein Gehorsam als Notwendigkeit: Ich brauche Gott, weil ich weiß, daß das Böse zu stark ist für mich.

Wie ist es mit Mose? Für einen Juden ist er die zentrale Gestalt in der jüdischen Geschichte. Mose ist das Zentrum. Mose lernt in den ersten Jahren seines Lebens über die Verheißung an Israel. Nur so ist zu erklären, was passiert, als er zu den Sklaven ging und merkte, daß er ein Hebräer ist. Und was tut er? Mit eigener Gewalt – wie die Zeloten zu Jesu Zeit – will er Israel befreien; er tötet. In der Kraft seines eigenen Temperaments ging er los: Ich will den Feind umbringen. Und wenn Haß über uns kommt, dann bringen wir uns selbst um, nicht den Feind, dann gewinnt der Satan Macht über uns. Der Weg der Befreiung geht nicht über Mord und Totschlag. Und was tut der Gott Israels mit Mose? Er schickt ihn als Schafhirte in die Wüste, 40 Jahre lang, bis er alt und unwillig zum Dienst geworden ist. Und dann ruft er ihn zurück, dann ist er für die große Aufgabe der Richtige, nachdem Gott ihn gezüchtigt hatte. Und Mose sagt: »Nein, ich komme nicht.« Sein Wille hat dazu keine Kraft mehr. Sein Wille, das selbst zu tun, ist gebrochen. Gerade jetzt aber kann Gott durch ihn wirken. »Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig«, sagt Gott später zu Paulus; und so gilt das auch für Mose. Er ist jetzt ein anderer Mose.
Er ist nicht mehr der Mose des Eigenwillens, der eigenen Kraft, der gefallene Mose, in dem der Satan herrscht, Mose, der tötet, um zu befreien. Das bringt ihn nur selbst in die Knechtschaft des Bösen. Der andere Mose, der unwillige Diener, der Stotterer, der Gott einfach gehorcht, weiß, ich bin hundertpro zentig abhängig von Gott. Das ist der Unterschied zwischen dem Menschen, der sich selbst durchsetzen will, dem Menschen im Sündenfall, und dem, der in der letzten Tiefe versteht, was Gehorsam bedeutet: Ich kann nicht, aber der Herr wird – auch gegen meinen Willen – wirken. Das ist etwas, was wir als Christen alle lernen müssen. Das ist unser Weg als Christen, das ist Heiligung. Heiligung ist der Prozeß, zu lernen und zu erfahren, daß wir total abhängig sind von Christus. Heiligung kommt nicht aus unseren Werken, sondern heißt, daß wir ganz und gar, jeden Tag, abhängig sind von Christus, daß unsere Kraft von ihm kommt und nicht aus unserem Willen, nicht von unserer Gerechtigkeit, sondern von seiner Gerechtigkeit und Führung.

Wie sieht das bei David aus? Ich gebe nur ein paar Beispiele. David scheint ein sehr gerechter und guter König zu sein. Er war nicht geprüft. Er war zunächst so eine Art paradiesischer König. Alles war gerecht und gut, weil er noch nicht geprüft war – wie Adam und Eva vor dem Fall. Und was passiert, als David geprüft wird? Da ist so ein warmer Sommerabend, und er geht auf sein flaches Dach und sieht drüben diese schöne Batseba, und er begehrt sie. Er denkt: Ich bin der König, ich kann tun, was ich will, ich stehe über dem Gesetz. Vergißt aber, daß kein Jude über dem Gesetz steht. Er nimmt sie zu sich und veranlaßt, daß ihr Mann am gefährlichsten Frontabschnitt eingesetzt wird, wo er im Kampf umkommen muß. Dann heiratet David Batseba. David lebte im Ehebruch. Ehebruch und Mord – gerade die zwei Sünden, die Jesus, der »Sohn Davids«, in der Bergpredigt in den Mittel punkt stellt. Die Pharisäer bezichtigt er: Ehebruch und Mord ist in euren Herzen.
Und was passiert mit David? Er spricht das Todesurteil über sich selbst, als Nathan ihm die Geschichte von dem Mann erzählt, dem sein einziges Schäfchen von dem anderen genommen wird, der so viele hat. Und gerade als David weiß, daß er dem Tod geweiht ist, als er den Psalm 51, den großen Bußpsalm, ausspricht vor Gott, gerade dann ist er etwas ganz anderes und viel Tieferes als der ungeprüfte David. Das ist der gefallene David, der David, der weiß: Ich bin ein gefallener Mensch, ich brauche Gott ganz und gar – »gegen dich allein habe ich gesündigt«! Da redet er nicht von seiner Gerechtigkeit, von seiner Art, alles richtig zu machen, sondern er weiß: Gegen Gott hat er gesündigt und deswegen gegen seine Mitmenschen und gegen sich selbst. Hier ist ein neuer David, ein zerknirschter David. Einen zerknirschten Geist will Gott haben, einen David, der ganz und gar abhängig ist von Gott und merkt: Ich habe kein Recht mehr zu leben, weil ich ein schuldiger Mensch bin, ein Mörder und ein Ehebrecher. Aber das ist ein viel tieferer David. Ein David, der weiß, was das bedeutet, abhängig zu sein vor dem Herrn. Ein David, der weiß, was Erbsünde bedeutet, dem Tod geweiht zu sein. Das ist seine Lage.

Wie ist das mit Saulus? Da passiert genau das gleiche. Der gerechte Saulus eifert für das Gesetz, saß zu Füßen des großen Gamaliel. Er lernt und weiß: Das ist unmöglich, was diese Christen da treiben; sie spalten die Juden; sie beten einen Menschen an. Und er eifert für die Gerechtigkeit, für das Gesetz. Er hat Gefallen am Tod von Stephanus; er eifert wütend; schnaubend will er nach Damaskus, um die Christen dort umzubringen. Und was passiert? Das gleiche wie bei Mose. Er sieht Gott im Licht, wie Mose, und er fragt ihn nach seinem Namen (was ein Jude nicht wissen darf); und er bekommt Antwort, denn er wird kein gesetzestreuer Jude mehr sein, sondern ein gläubiger Christ: »Ich bin Jesus, den du verfolgst.« Und in diesem Moment weiß Paulus über sich: Ich bin ein Mörder. Genau das gleiche, was auch David weiß. Über diesem Erleben wird Paulus blind, er kann weder essen noch trinken, lebt total in Buße, drei Tage lang, hineinge nommen ins Kreuz, in die Dunkelheit des Kreuzesgeschehens. Und dann wird aus dem Saulus der größte Diener Jesu Christi, als einer, der sagte: »Von allen sündigen Menschen habe ich am meisten gesündigt, ich bin der unwerteste, ich kann Gott gar nichts vorbringen.« Und das ist sinnbildlich für uns alle: Wir können gar nichts vorbringen. Wir rühmen nicht unsere Frömmigkeit, son dern wir rühmen unseren Herrn und Heiland und seine Frömmig keit. Wir können gar nichts vorbringen. Paulus ist zerknirscht und zerbrochen, und deswegen kann er ein großer Diener Gottes sein, weil er weiß, ich bringe nichts. Ich bin dem Tod geweiht, aber allein aus Gottes Gnade darf ich ihm dienen.
Es ist schrecklich, was David tat, was Saulus getan hat. Aber aus diesen bösen Menschen sind große Diener Gottes geworden. Warum? Sie fallen heraus aus einer oberflächlichen Frömmigkeit, einer selbstgeformten Frömmigkeit, und fallen in die letzte Tiefe des menschlichen Daseins, das ist Erbsünde. Und dann sind sie total abhängig von Gottes Gnade. Dann erst können sie wunder bare Werkzeuge unseres Herrn Jesus Christus sein. Indem sie lernen, daß wir keine Macht über das Böse haben, sondern das Böse Macht über uns hat, werden sie zu großen Dienern Gottes. Sie lernen, daß es dem Bösen gegenüber einen Schutz gibt: Gott selbst, in Jesus Christus. Schrecklich Böses ist da geschehen, aber vor diesem Hintergrund des Bösen sehen diese Menschen, daß sie total gefallen sind – dann konnten sie große Gottesdiener werden und viele Menschen zum Heil und zur Rettung bringen.

Hier wird der Sinn der Geschichte deutlich: Er ist nicht das Urparadies. Der Sinn der Geschichte ist Gottes endgültiges Reich, in dem die Menschen, die ihm gehören und errettet werden, merken: Ich bin total abhängig von Jesus Christus, ich kann von mir selbst aus gar nichts vorbringen.

Bis jetzt haben wir zwei Antworten: Die Frage ist falsch: »Warum läßt Gott das Böse zu?« Die Frage soll lauten: »Warum sollte er für uns sterben? Wir sind unwürdig.« Die zweite Antwort ist, daß Gott durch das Böse wirkt, indem er uns dem Bösen ausliefert (denn er weiß, daß wir fallen werden), damit wir merken, daß wir total abhängig sind von ihm. Und der paradiesische Zustand, das Urparadies, ist nicht das gleiche wie der Zustand in seinem Reich, denn dazwischen gibt es die Geschichte des Abfalls und der Verlorenheit. Durch diese Geschichte lernen seine Diener, daß sie total abhängig sind von Jesus Christus, und erst dann können sie wirken. Ohne diese Erfahrung ist alles, was wir tun, sinnlos, es bringt kein Heil und keine Früchte. Totale Abhängigkeit von ihm – das ist der Weg zu Gottes Reich, wo wir mehr sein werden als die Engel. Denn wir werden unseren Heiland anbeten. Die Engel können keinen Heiland anbeten, sie können nur den Schöpfergott anbeten, denn sie sind nicht errettet von einem Fall, weil sie nicht gefallen sind. Deswegen sagt Paulus: Wir sind mehr als die Engel. Jesus als unser Heiland wird uns vollkommen wiederherstellen.

Drittens:

Persönliches Leiden ist nicht Strafe, sondern ein großes Angebot Gottes. Schauen wir die Hiobsgeschichte an. Hiob geht durch alle möglichen Leiden. Er verliert alles, auch seine Gesundheit. In diesen Leiden geht er wie David und Saulus in die letzte Tiefe der Fragestellung über Gottes Gerechtigkeit. Hiob wird geprüft, er fällt durch. Er kündigt sein Leben (Hiob 9). Er sagt, Gott ist kein gerechter Gott, ich bin gerecht. Er fällt durch, genau wie die Pharisäer und Schriftgelehrten zu Jesu Zeit. Aber er hält fest an seinem Glauben. Hiob ist die personifizierte Geschichte Israels, die Geschichte der Erwählung, die Geschichte des Leidens und Versagens, die Geschichte vom Trotzdem des Festhaltens am Glauben. Wir sehen das heute an Elie Wiesel, dem bekannten jüdischen Dichter. Er ging durch Auschwitz, er hat das alles erlebt, und er sieht mehr und mehr, was Leiden in der letzten Tiefe bedeutet: totales Zerknirschtsein. Es kann nur mit Gott zu tun haben. Es kann nur mit Probe, mit Prüfung zu tun haben. »Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.« Jesus verspricht uns nicht einen Wunder glauben in der Nachfolge – wenn ihr krank seid, dann heile ich euch. Er sagt kein Wort davon, sondern er verspricht uns Kreuz, er verspricht uns Leiden. Und er sagt, Leiden bedeutet leiden in seiner Nachfolge. Denn was ist das Wesen Jesu?
Wo ist Jesus erhöht und verherrlicht? Am Kreuz, in der letzten Tiefe des Leidens, der letzten Tiefe der Schwachheit. Es ist ein persönliches Angebot, in der letzten Tiefe mit Jesus Christus zu leben. So hat er zu Petrus gesagt (Johannes 21): »Früher hast du dich selbst gegürtet, aber jetzt wird ein anderer dich gürten und dir Wege zeigen, die du nicht gehen willst. Das sagte er, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde.« Und Petrus hat gesagt: »Ich bin nicht würdig, gekreuzigt zu werden wie mein Herr und Heiland.« Die Tradition bezeugt, man habe ihn mit dem Kopf nach unten gekreuzigt. Das ist die letzte Tiefe des Glaubens: zu leiden mit Jesus Christus. Das ist ein Angebot der Nachfolge, ob das verborgene Nachfolge ist von Hiob und Israel oder offenbarte Nachfolge im Kreuz von uns im Neuen Bund. Und seien wir uns darüber im klaren: Wie geht Jesu Weg zur Auferstehung, zur neuen Welt, zu neuem Leib und neuem Leben? Es geht nur übers Kreuz. Die Menschen nämlich, die den auferstandenen Jesus suchen, finden ihn nur, wenn sie zuvor den Gekreuzigten suchen und finden. Das klarste Beispiel ist Thomas: »Ich glaube nicht, daß er auferstanden ist.« Und Jesus kommt trotz geschlossener Türe herein und sagt: »Thomas, lege deinen Finger in meine Wunde« – das bedeutet: ins Kreuz. Und als er den gekreuzigten Jesus wahrnimmt, sagt er: »Mein Herr und mein Gott!« Das bedeutet: Er hat den Auferstandenen gefunden – aber nur durch den gekreuzigten Jesus. So erlebt es Maria Magdalena, so erleben es die Emmaus-Jünger. Sie müssen zuerst verstehen, was das Kreuz ist. Jesus bezeugt den beiden auf dem Weg nach Emmaus, warum er gekreuzigt werden mußte. Und dann erkennen sie ihn als den Auferstandenen an dem, wie er das Brot brach. Das bedeutet, der einzige Weg zur Auferstehung, zu der neuen Welt, geht über das Leiden.
Warum? Weil das Jesu Weg war. Sind wir mehr als unser Meister? Sollen wir es besser haben? Er ruft uns in eine Kreuzesnachfolge: »Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.« Mir ist bei diesem Thema das Leiden sehr wichtig, nicht so sehr die körperlichen Leiden, sondern die geistigen Leiden; und nicht so sehr die Leiden unter anderen, sondern die Leiden an uns selbst. Es scheint mir, daß die letzte Tiefe des Leidens, das wir als Christen erleben – und das auch die Juden erleben, die sich dessen wohl bewußt sind – , daß es das Leiden an uns selbst ist, an unserer Unvollkommenheit. Einer von vielen jungen Christen hat zu mir gesagt: »Ja, Herr Pfarrer, ich habe immer gedacht, wenn ich Christ werde, dann gibt es Freude und Glück und alles wird schön sein, und ich werde eine andere Person. Und ich merke, ich bin neu geboren, aber ich leide, weil ich kein Engel bin.« Das ist ein sehr tiefer Christ, er wird Jesus dienen, er wird Theologie studieren. Es hat lange gedauert, er hat meine Predigt lange abgelehnt und gesagt: »Ach, was predigt er immer das Kreuz. Ich will Freude hören.« Ja, das wollen die jungen Leute. Und sie merken nicht: Kreuz ist Freude, Freude, daß Jesus uns annimmt, wie wir sind, als verlorene Menschen, wenn wir uns zu ihm bekennen und erkennen, daß wir verlorene Menschen sind, die der Buße bedür fen. Und das schlimmste Leiden, das schwierigste Leiden für uns alle – wenn wir ehrlich sind und nicht pharisäisch – ist das Leiden an uns selbst. Ich leide täglich an mir selbst. Und ich nehme an, daß das bei vielen der Fall ist – oder sein sollte. Ja, wir sind neugeboren in Jesus, wir haben Frieden, wir haben Führung, wir haben Sinn und Ziel, aber wir sind immer noch der alte Adam – nur: gerechtgemacht durch Jesus. Das können wir nicht verneinen. Ein Judenchrist aus Amerika kam in mein Zimmer und sagte: »Halleluja, amen, ich bin gerettet, nichts kann mir mehr passie ren.« Ich antwortete ihm sehr deutlich: »Sie sind zutiefst gefähr det mit solch einem Standpunkt.« Das war kein Verdammen, kein Verurteilen, sondern ein mahnendes Warnen. Es soll Leute geben, die sagen: »Ich brauche nicht mehr das Vaterunser zu beten – Vergib uns unsere Schuld! – , denn ich habe keine Schuld mehr.« Solch ein Standpunkt ist absolut falsch. Wir sind jetzt nicht in Gottes Reich, wir müssen ausharren bis ans Ende. Das steht deutlich geschrieben. Die dritte Antwort ist: Persönliches Leiden ist ein Angebot Gottes. Ich denke an eine der schwersten Beerdigungen, die ich halten mußte. Ein Mädchen war zwei Tage nach ihrem sechsten Geburtstag überfahren worden. An ihrem sechsten Geburtstag war sie noch in der Kinderkirche, um beim Fest der Kinderkirche ihren Geburtstag mit Jesus zu teilen. Sie war ein frommes und gläubiges Mädchen. Zwei Tage später das Entsetzliche. Die Mutter war bei der Beerdigung in fassungslosem Schmerz. Ich sprach über den Text von der Tochter des Jairus – Weine nicht!
Alle haben versucht, die Mutter mit menschlichen Worten zu beruhigen, aber sie hat ununterbrochen laut geweint. Und ich schaute sie an und sagte: »Weine nicht, Weib!« Und dann habe ich diesen Text gelesen. Und ich habe deutlich erklärt: Wer mit Jesus Christus lebt, auch wenn man sechs Jahre alt ist, und seinen Geburtstag mit Jesus aus Dankbarkeit feiert, von dem können wir wissen, daß dieses Kind Jesus gehört und zu seinem Reich gehört, und wir können dankbar sein, daß dieses Kind nicht die Gelegenheit hatte, abzufallen. Jesus nimmt aus Gnade das Kind weg. Wenn wir daran denken, was für Versuchungen, was für Irrwege es hier gibt! Solches soll man auch bedenken, wenn gläubige Menschen plötzlich sterben, jung sterben. Es kommt nicht darauf an, wie lange wir leben, wir sind nicht in der Patriarchenzeit; es kommt darauf an, ob man mit Christus lebt, auch wenn man erst sechs Jahre alt ist.

Viertens:

Es ist nicht zu bezweifeln, daß das, was wir Menschen »böse« nennen, das Richtende, die Katastrophen, mit Gottes Zorn zu tun hat. Ich mag nicht dieses ständige Geschwätz nur über den barmherzigen und lieben Gott. Selbstverständlich ist er barmherzig und liebevoll – aber er kann auch zornig sein. Das wissen Juden allzugut. Wie oft kommt das Wort Zorn im Alten Testament vor! Und was hat Jesus getan in Beziehung zu seiner Stadt, Kapernaum, der Stadt, in der er gewirkt hat? Hat er gesagt: Ach, alle die lieben Menschen in dieser Stadt, sie werden alle bei mir im Himmelreich sein? Er hat sie verflucht! Er hat geweint über Kapernaum, daß diese Stadt ihn nicht angenommen hat.

Das wollen »moderne« Christen nicht hören, daß wir es mit einem ernsten Gott zu tun haben, einem Gott, der Auschwitz anschauen konnte, Tag um Tag, wie Kinder ins Feuer oder an die Wand geworfen wurden – und er tat nichts. Wir haben es zu tun mit einem Gott, der zornig sein kann und der Richter sein kann und endgültig richten wird. Er gibt uns viele Zeichen dafür, zum Beispiel Aids. Ich nenne Aids eine deutliche Zeichenhandlung Gottes gegen die primitive Sexualität unserer Zeit, ob das Homosexualität ist oder Heroinsüchtigkeit, oder Prostitution.
Das ist ein Zeichen des zornigen Gottes: Höre auf, halte die Treue! Sogar Ärzte treten in Amerika im Fernsehen auf und predigen: Seid eurer Frau treu, das ist die beste Medizin gegen Aids! Das ist äußerst wichtig, auch so zu predigen. Gott gibt hier ein Zorneszeichen: »Ich werde Baal ausrotten, wenn ich wiederkomme« und Baal ist der Götze der Lust.
Aids kommt nicht vom Satan, sondern kommt von Gott. Er weiß genau, was für ein Gericht er vorhat, wegen einer der Lust dienenden Welt, ohne Grenzen zu beachten, was sexuell richtig und nicht richtig ist. Obwohl das Alte wie das Neue Testament sehr deutliche Worte dazu hat.
Ich denke an ein bestimmtes Geschehen, das im Neuen Testament erwähnt wird (Lukas 13): Der Einsturz des Turms zu Siloah, durch den 18 Leute umkamen. Waren sie besonders böse? Sind die Eltern böse? Was ist passiert? Jesus sagt: »Jeder muß Buße tun, jeder ist schuldig.« Das bedeutet, Gottes Gericht wird jeden von uns treffen. Wir werden alle sterben. Ist das nicht Gottes Gericht? Daß wir sterben müssen, das ist die Antwort auf den Sündenfall.

Tut Buße! Das bedeutet: Wer Buße tut, der wird leben. David tut Buße und darf leben; Saulus auch. Wer Buße tut, wird leben. Der eine, der Schächer am Kreuz, tut im Sterben Buße, und er wird leben in Gottes Himmelreich. Tut Buße! Wir haben alle den Tod verdient.
Das ist ganz entgegengesetzt zu diesem mitmenschlichen Geschwätz unserer Zeit: »Der Mensch ist gut, der Mensch ist in Ordnung.« Wenn ich lese, was in Auschwitz passiert ist durch Menschen aus einem zivilisierten Volk – drei Leiter der Vernichtungslager waren promovierte Akademiker; Mengele hatte zwei Doktortitel erworben, einen der Medizin und einen der Philosophie. Und was hat er getan? Er hat gehandelt, als ob er selbst Gott sei (als ob er Satan sei). Er machte eine Art von göttlichem Gericht, zum Leben oder zum Tod, er hat entschieden. Er hat sich an Gottes Stelle gesetzt, unter der Regie Satans.
Gottes Zorn wird kommen, wie er kam mit der Sintflut, zu Sodom und Gomorra, dem Turm in Babel, zu Jerusalem, und er kommt heute.
Wehe dem Pfarrer, der nicht das Gericht Gottes predigt, zusammen mit seiner Gnade.
Und wehe dem Pfarrer, der nur Gericht predigt und nicht auch Gottes Gnade. Gericht und Gnade sind eine unzertrennliche Einheit in der Bibel.
Gottes Gericht kommt über uns, und es kommt alles auf einmal. Israel ist ständig gerichtet worden, und es steht in Sacharja 12,10, daß am Schluß ganz Israel getauft wird.
Was passiert mit dem verflachten, christlichen Abendland hier? Wo die Leute nicht mehr zum Gottesdienst gehen, weil wir einen so lieben Gott haben. Was bedeutet ihnen der »liebe Gott«? Die Genügsamkeit in der »Liebe Gottes« hat nichts mit Gottes Liebe zu tun. Da macht man sich einen Gott, wie man ihn haben will, der mir dient – und das ist kein Gott mehr. Gottes Zorn wird über uns kommen. Er hat uns im voraus bezeugt, was kommt, damit wir vorbereitet sind. »Wer Augen hat zu sehen, der sehe; und wer Ohren hat zu hören, der höre.« Das aber ist unser Evangelium, daß Gott der richtende und rettende Gott ist. Gottes Zorn und Gottes Gericht sind ein Grund für Katastrophen in dieser Welt, sind Zeichen und Warnungen zugleich.

Fünftens:

Alte und neue Schöpfung. Die alte Schöpfung ist dahin, die Endzeit fängt an mit Jesu Kreuz. Die alte Schöpfung ist nicht zu retten – zwar wird sie wiederhergestellt für tausend Jahre, bevor sie total dahin ist. Aber es gibt nur einen Weg, und das ist ein Weg vorwärts und nicht zurück.
Lot muß mit seiner Frau weg von Sodom und Gomorra, sie dürfen nicht zurückschauen, sie dürfen nicht festhalten an dem Alten. Warum? Sie sind reich, angesehen, Lot hatte das beste Land gewählt. Lots Frau aber schaut zurück und erstarrt zur Salzsäule, wird versteinert im Tod.
Ich kenne die Geschichte von einer reichen jüdischen Familie in Prag, wo im Dritten Reich genau das gleiche passiert ist. Sie haben gesehen, was kommt, haben ihre Kinder weggeschickt, haben sich aber nicht von ihrem vielen Geld trennen können. Die Nazis haben natürlich alles genommen, und dann haben sie ihnen auch ihr Leben genommen. Sie schauten nicht vorwärts, nach Israel, nach Gottes Verheißung. Zur Sicherheit hatten sie zwar die Kinder weggeschickt, aber sie selbst sind vergast worden. Wie Lots Frau kamen sie nicht weg vom Alten.
Ich habe in meiner Seelsorgearbeit einen Fall gehabt, der für mich ungeheuerlich war. Es war ein gläubiger Mann, der überzeugt war, daß er noch in der letzten Phase seiner Krebserkrankung geheilt würde. Warum war er davon überzeugt? Er sagte mir: »Ich glaube, Gott weiß, daß ich glaube, daß ich sein Kind bin. Gott ist allmächtig, deswegen heilt er mich.« Das ist fast eine Logik, nicht wahr?
Und dazu knüpfte er noch an einen Vorgang an: Gott hatte tatsächlich jemanden in unserer Gemeinde durch ein Wunder geheilt, einen ungläubigen Mann, der als todkrank fast aufgegeben war. Viele hatten für ihn gebetet: »Wenn es dein Wille ist, heile ihn.« Und der Mann wurde geheilt und ist zum Glauben gekommen und geht jetzt jeden Sonntag zum Gottesdienst. Der Krebskranke folgerte: »Wenn Gott den heilt, warum soll er mich nicht auch heilen, ich bin doch schon fromm.« Ich werde das Gespräch mit diesem Mann nie vergessen. Jedesmal kam ich hin und las übers Kreuz, über Leidensnachfolge. Und er hat zu seiner Frau immer gesagt: »Wir lassen den Pfarrer reden; Jesus wird mich heilen. Er mag über sein Kreuz sprechen, das hat er alles richtig gelernt, das ist nicht falsch – aber Jesus wird mich heilen.« Drei Wochen vor seinem Tod habe ich deutlich gesehen, was los war mit ihm. Und ich habe hart mit ihm geredet. Als Seelsorger der Liebe Gottes muß man manchmal hart reden. Und ich habe ihm gesagt: »Wenn du weitermachst, machst du, was Frau Lot tat. Du schaust zurück auf diese Welt, wegen deiner Kinder, wegen deiner Frau« (er hatte eine gute Ehe und Kinder, die lieb waren, und ein schönes Haus und einen schönen Garten), und ich fuhr fort: »Wenn du zurückschaust, wirst du im ewigen Tod erstarren, das verspreche ich dir, weil du festhältst an der alten Welt, die dir aber nichts mehr zu bieten hat. Ich sage dir im Namen Jesu, daß du jetzt mit mir vorwärts schauen mußt auf Gottes Reich und auf die Zukunft.« Und das hat er dann getan.
So hart ist Seelsorge nicht immer, aber manchmal muß man ein sehr deutliches Wort sagen, ein sehr hartes Wort. Er wollte das Alte, er hing so sehr an dem Alten, daß er in das Gericht über die alte Welt hineingezogen worden wäre, wenn er nicht gewarnt worden wäre. Es ist sehr unmenschlich, so zu reden, nicht wahr, aber heilsam.

Als Jesus gekreuzigt war, kam drei Stunden Dunkelheit über das Land. Das bedeutet, daß die alte Schöpfung im Sterben liegt mit ihrem Gott. Die Endzeit fängt an. Das ist auch die Dunkelheit der Gottesferne, der Sünde Sold, den Jesus für uns trägt, ohne daß er selbst ein Sünder ist, indem Gott sich von ihm entfernt.
Aber das ist auch die alte Schöpfung, die im Sterben liegt mit Gott. Jetzt sehen wir die toten Bäume. Die fingen damals an zu sterben, aber das war nicht sichtbar für uns. Die alte Schöpfung liegt im Sterben. Wenn Dunkelheit herrscht, gibt es kein Leben mehr. Die alte Schöpfung ist dahin. Warum?
Weil wir Gottesmörder sind. Wir haben Jesus Christus im Namen der zwei größten Gesetzgebungen, die die Welt je gesehen hat, im Namen menschlicher Gerechtigkeit umgebracht – das jüdische Gesetz, ausgelegt von den Schriftgelehrten und Pharisäern, und das römische Gesetz, welches die Grundlage unserer eigenen Gesetzgebung hier in Deutschland ist, wie in vielen anderen Staaten.

Drei Stunden Dunkelheit, die alte Schöpfung ist zeichenhaft im Sterben mit Gott. Und Jesus ging nicht zurück, es war nicht wie bei Lazarus, bei der Tochter des Jairus, bei dem Jüngling zu Nain, daß er zurückging zum alten Körper, zur alten Welt, sondern er geht vorwärts zur neuen Welt. Die alte Welt ist gerichtet am Kreuz. Es gibt nur das Vorwärtsgehen zur neuen Welt in seinem auferstandenen Leib. Das ist der einzige Weg für uns. Deswegen auch dieses Leiden, diese Not, die Katastrophen, daß wir merken, daß diese Welt nicht der Standort für uns ist. Wir sind das Wandervolk Gottes, wir haben keine bleibende Stadt hier. Und das ist für uns sehr hart. Deswegen kommen diese Gerichte und Kata strophen, daß wir merken, daß wir keine bleibende Stadt hier haben. Gott erleichtert es uns, das zu merken.

Sechstens:

Dieses Übel, diese Gerichte, all das, was wir »das Böse« nennen, hat fast immer in zentraler biblischer Handlung mit Gottes Heilsplan zu tun.
Nehmen wir die Josefsgeschichte als ein typisches Beispiel. Josef ist der von seinem Vater bevorzugte Sohn. Die Brüder wollen ihn umbringen. Im letzten Moment verkaufen sie ihn jedoch lieber als Sklaven. Und Josef geht durch alle möglichen Gerichte und Nöte – und dann bringt er den Weg des Heils, des fleischlichen und geistlichen Überlebens des jüdischen Volkes.
Wenn das nicht mit Josef geschehen wäre, wenn Josef im Elternhaus und bei den Brüdern geblieben wäre, was wäre mit Israel passiert? Sie hätten nichts gehabt in diesen sieben dürren Jahren, sie wären verloren gewesen. »Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.« Katastrophen dieser Art haben oft mit Gottes Heilsplan zu tun. Ich nenne eine typische Katastrophe in der jüngeren Geschichte Israels, die mit Gottes Heilsplan zu tun hat. Warum ist es so, daß gerade in dem Gebiet, in dem die Nazis fast jeden Juden umgebracht haben, in der Ukraine und Südrußland und auch in Polen, daß gerade in diesem Gebiet 50 Jahre zuvor Pogrome gegen das jüdische Volk ausgebrochen waren, Pogrome, gemeinsam inszeniert von der Kirche, vom Staat und von der Geheimpolizei, in denen Hunderte von Juden umgebracht wurden unter dem Kreuz, als Sündenbock für soziale Unruhen in Rußland und die Ermordung von Zar Alexander II.?
Warum dieses schreckliche, haarsträubende Übel? Weil wir Juden es nicht mehr ertragen konnten zu bleiben und auswanderten. Da fing die erste Auswanderung nach Israel an, die erste Aliyah, und die große Auswanderung nach Amerika.
Was wäre passiert, wenn Israel dieses schreckliche Leiden nicht gehabt hätte? Die Leute wären alle dageblieben – und kaum einer hätte Hitler überlebt. Durch diese schrecklichen Gerichte und die Not wurde es den Juden unmöglich gemacht, dort zu bleiben, und sie fingen an, massenweise über die Grenze zu gehen (auch ungesetzlich, geschmuggelt – wie soll man ein Gesetz ernst nehmen, wenn man so behandelt wird?).
In dieser Zeit sind auch meine Großeltern nach Amerika gekommen, wegen dieser schrecklichen Leidensgeschichten. Das bedeutet, Leidensgeschichte hat sehr viel mit Gottes Heilsplan zu tun. Das haben wir auch besprochen in bezug auf Mose, in bezug auf Saulus, vor allem in bezug auf Jesu Kreuz. Wie ist es in bezug auf uns Christen?
Keiner von uns betet: »Herr, laß mich leiden.« Es gab ein paar Leute in der Geschichte, die das getan haben, aber sehr wenige. Aber ist es nicht ein wunderbares Geheimnis, daß der Glaube wächst, wenn wir als Christen leiden?

Ein Missionar hat über den Iran gesagt: »Unter dem Schah haben wir totale Freiheit gehabt zu missionieren, aber niemand hatte Interesse an einer Bibel. Jetzt wird man mit der Todesstrafe bedroht, wenn man mit einer Bibel angetroffen wird – und viele wollen eine haben.«
Wie war das in Äthiopien, unter der extrem kommunistischen Regierung? Der Glaube ist von innen, unter Not und Leiden gewachsen. Das bedeutet, dieses Leiden hat mit dem Kreuzesgeheimnis zu tun. Gerade in der tiefsten Verfolgung werden die tiefste göttliche Führung und sein Angebot erkennbar. Das gilt für beide Bünde. Der Bund des Volkes Israel ist ein Leidensbund. Und ich kann es nicht hören, wenn Christen zu mir kommen und sagen: »Nicht wahr, Herr Pfarrer, wir werden entrückt werden vor der großen Leidenszeit.« Ja, das bedeutet, wir haben hier unsere Grillfeste, und dann sind wir weg, im Himmelreich, und wir haben keine Leiden. Meine Antwort ist: »Am Ende der Leidenszeit werden wir entrückt werden, dann wird er alle Tränen abwischen.«
Wehe uns, wenn wir sagen:
Ich bin zu gut, um zu leiden; das passiert nur den Juden, wir Christen sind viel zu gut für das Leiden. Das ist die Art zu denken, wenn es nur mir gut geht. Ich war sehr beeindruckt von einem Zitat von Bonhoeffer: »Ich glaube, daß uns Gott in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müßten alle Ängste vor der Zukunft überwunden sein.«
Um das geht es. Wir müssen diesen Verlust erleben. Wir leben in Erbsünde. Wir müssen uns selbst verlieren, was uns nahe ist und diese alte Welt, damit wir eine neue Welt ererben. Und in dieser schrecklichen Leidenszeit gibt Jesus uns die Kraft, wenn wir wirklich an ihn glauben und wirklich an ihm festhalten. Aber er zeigt uns das nicht vorher. Jeder von uns hat Angst: Oh weh, wenn eine Verfolgung über uns kommt! Jesus will nicht, daß wir glauben, daß wir über ihn verfügen. Er verfügt über uns mit seinem Heiligen Geist, und er gibt uns die Kraft, wenn wir das nötig haben. So habe ich es erfahren von einer Frau, die schreckliche Leiden erlebt hat. Sie hat gesagt: »Auch als ich geschrieen habe vor Schmerzen, als ich überhaupt nicht an Jesus denken konnte, habe ich gewußt: Er ist trotzdem da.«

Siebtens:

Diese Gerichte, diese Leiden, all das, was wir gerne »das Böse« nennen, haben mit einem Angebot der Gnade zu tun. Gott will uns zeigen, daß wir ihn ganz und gar brauchen. Und er gibt uns drei Angebote der Gnade: Das erste ist Paradies ohne Leiden – und wir fallen ab; das zweite ist nach schrecklichem Leiden in der Urgeschichte, als er uns das Gesetz gibt – und wir fallen ab; dann geht er selbst in dieses Leiden am Kreuz – und trotzdem fallen wir ab. Und dann kommt diese ungeheure Aussage im Missionsbefehl: »Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.«
Das bedeutet: Bei allen Christen, unser ganzes Leben lang, bis an unserer Welt Ende, bis an das Ende aller Tage. Das steht im Zusammenhang mit dem Missionsbefehl. Wenn wir uns in Dialogen verlieren und nicht Mission treiben, dann ist Jesus nicht mehr »bei uns alle Tage bis an der Welt Ende«. Sobald wir den Missionsbefehl nicht wahrnehmen, ist Jesus nicht mehr »bei uns alle Tage bis an der Welt Ende«. Das steht direkt in diesem Missionsbefehl: »Gehet zu allen Völkern . . . « und dann: »Ich bin bei euch alle Tage.«
Das ist ein ungeheures Angebot der Gnade für uns versagende Christen, für uns schwache Christen, daß Jesus zu uns steht. Er ist da, jeden Tag neu. Das bedeutet nicht, daß wir das immer spüren. Man kann nicht erwarten, daß man jedesmal beim heiligen Abendmahl zutiefst ergriffen ist – aber das Abendmahl hat die gleiche Auswirkung, ob wir das tief erleben oder ob wir gar nichts erleben; denn nicht, was wir fühlen, steht im Mittelpunkt, sondern Jesu Wort, seine Verheißung, seine Vergebung. Das steht da, ob wir das in der letzten Tiefe spüren oder nicht spüren. Unser Glaube ist nicht gegründet auf Erlebnisse; unser Glaube ist gegründet auf das, was ER für uns erlebt hat. Und das ist gültig, ob wir das spüren oder nicht.
Das ist die erste, sehr große Verheißung für uns verlorene Menschen. Jesus wird alle Tage bei uns sein, was nicht bedeutet, daß wir das unbedingt spüren werden, aber er ist da, und wir werden ihn immer wieder finden, weil er uns immer wieder sucht. Wir haben ihn nicht im Griff, er hat uns im Griff, und er wartet immer auf uns. Das bedeutet: auch durch jedes Leiden. Und gerade das Leiden ist es, das uns zurückbringt zu Jesus. Wenn es uns in allem gut geht, dann sind wir sehr weit weg.
Und dann noch die zweite große Verheißung: Der Tod wird keine Macht mehr über uns haben. Wir gehen vom Leben zum Leben. Der Tod ist kein Scheidepunkt mehr für uns. Wir als Christen werden, wenn wir im Leben sind (das ist »in Christus«), immer im Leben bleiben. Das ist eine außerordentliche Aussage.

Und die dritte Verheißung: Einmal wurde ich gebeten, einen Text auszulegen, den ich sicher mehrmals gelesen, aber nie richtig wahrgenommen hatte: 1. Johannes 3,2, in dem wir lesen, daß wir »gleich wie Jesus sein« werden in seinem Reich. Ich war richtig erschrocken über diesen Text. Obwohl ich ihn schon mehrfach gelesen hatte, habe ich nie wirklich wahrgenommen, was dahintersteckt: Wir sind zu Gottes Bild geschaffen. Diese Ebenbildlichkeit mit Gott ist verlorengegangen durch den Sündenfall. Jesus aber hat das in jedem Sinn wiederhergestellt. Er allein ist jetzt in Gottes Bild – aber als Vertreter für uns. Und wenn wir durch das Gericht gehen – und er übernimmt das für uns, wenn wir ihm gehören im Glauben – , dann werden wir in Christus diese Gottesebenbildlichkeit übernehmen, denn er hat sie zurückgewonnen für uns durch sein Kreuz. Mir ist wichtiger als diese Auslegung das Erschrecken über diesen Text. Gottes Wort soll uns manchmal erschrecken, im Sinne von Betroffenmachen. Die Antwort ist: Herr, wir sind nicht würdig. Ich soll wie Christus sein? Solch eine Aussage sprengt jegliches Vorstellungsvermögen. Ein sündiger, gefallener Mensch wie ich wird gleich wie Christus sein -? So wird es aber sein. Das ist die letzte dieser drei großen Verheißun gen der Gnade:

1. »Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.«
2. Wer in Christus lebt, wird immer in ihm leben.

3. Wir werden gleich sein wie Christus.

Was bedeutet das nun aber? Was wir »Böses« nennen, gilt es zunächst einmal anzunehmen. Denn wir haben es mit einem Gott zu tun, der uns züchtigt. Das ist die ganze Geschichte, die der Prophet Hosea bezeugen muß. Hoseas Thema ist der liebende Gott als der züchtigende Gott. Gott züchtigt uns, damit wir reif werden durch seine Gerichte, damit wir reif werden für seine Gnade. Ich glaube, das ist die letzte Tiefe dieses Themas. Er züchtigt uns durch seine Gerichte, daß wir reif werden für seine überschwengliche Gnade, eine Gnade, die überhaupt keine Grenze kennt. Und diese Gnade reicht bis zur Gottähnlichkeit, die wir in seinem Reich ererben werden, wenn wir mit Christus leben, mit ihm leiden, mit ihm gezüchtigt werden durch Gerichte und trotzdem im Gehorsam auf seinem liebenden Kreuzesweg bleiben.

Paulus und Jakobus (Die Rechtfertigungslehre)

Wir hören öfter, daß ein Widerspruch sei zwischen der Verkündigung des Jakobus und der des Paulus. Selbst Luther hat das behauptet. Es wird gesagt, daß Paulus die Rechtfertigung der Sünden allein aus dem Glauben verkündigt, während Jakobus es im Kapitel 2 seines Briefes so bezeugt, daß die Sünder erst gerechtfertigt werden durch ihr Tun. In Römer 10,9-17 wird aber deutlich, daß Paulus (nicht anders als Jakobus) dieses zentrale Anliegen vielschichtig sieht.
Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.« Paulus meint damit, daß ein wahrer, lebendiger Glaube, welcher uns sündige Menschen rechtfertigt, ein zweifacher Schritt ist – ein Schritt, den Christus allein bewirkt hat durch sein Tun, und ein Schritt, der in uns vollzogen wird nur durch das Wort: »So kommt der Glaube aus der Predigt.«

Der erste Schritt ist: »Wenn man von Herzen glaubt . . . « »Herz« bedeutet in der Bibel – anders als in der Romantik – der Ort der Wahrnehmung, sowohl der Gefühle als auch des Verstan des. Zuerst muß das Wort, das Wort von Jesu erlösendem Kreuz, Platz in unserem Wesen, in unseren Gedanken und Gefühlen finden, zutiefst und bestimmend.

Und dann kommt der zweite Schritt: » . . . und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.« Paulus meint damit: Wenn wir wirklich die heilbringende Botschaft von Jesu Kreuz in unserem ganzen Wesen aufgenommen haben, dann bleibt diese Botschaft, diese rettende Wahrheit, nicht passiv in uns, sondern sie keimt mit neuen Früchten. Wenn wir wirklich gläubig geworden sind, dann müssen wir, was uns wichtig geworden ist, weitergeben. Wir können nicht selbstzufrieden sein mit unserem eigenen Glauben, sondern wir müssen mit anderen darüber sprechen. Und nur dann, wenn unser Glaube aktiv, nicht passiv ist, wenn unser Glaube missionarisch, nicht selbstsüchtig ist, nur dann werden wir errettet.

Jakobus meint im Grunde genommen das gleiche. Er legt den Akzent auf das Tun, auf den lebendigen Glauben als wesentlichen Teil der Rechtfertigung von uns sündigen Menschen durch Christi Kreuz. Beide, Paulus und Jakobus, predigen das gleiche: die Rechtfertigung von uns sündigen Menschen durch den lebendigen Glauben an unseren Heiland und Erretter Jesus Christus; und dieser lebendige Glaube erweist sich in unserem Tun, vor allem, wie hier bei Paulus, durch das Tun im Weitergeben des Wortes.

Jesus selbst hat dieses Thema in der letzten Tiefe entwickelt in seinem Gleichnis von den Talenten. Was Jesus uns durch Gaben und seine Vergebung gibt, sollen wir weitergeben, so tief wir nur können.
Auch wenn Paulus vorher von Israel geschrieben hatte – jetzt, in Jesus Christus, gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden (der Begriff »Griechen« steht im Neuen Testament stell vertretend für alle Heiden). Eigentlich können wir diese Aussage, welche auch im Epheserbrief nochmals angesprochen wird, zweifach vertiefen, denn Paulus sagt am Anfang des Römerbriefs: »Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst (auch mit »vornehmlich« zu übersetzen) und ebenso die Griechen.« Aber in Römer 11 zeigt uns Paulus, daß die Juden eine Binde vor den Augen haben, daß sie in ihrer Mehrzahl, als Volk, Jesus nicht annehmen werden bis zu seiner Wiederkunft. Aber trotz dieser beiden eigentlich sich gegenseitig ausschließenden Aussagen sind Christen jüdischer Herkunft, wie ich, und Christen aus den Völkern gleich und gleichberechtigt in Jesus Christus, wie es hier und im Epheserbrief steht.
»Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?«
In diesem Vers führt Paulus uns Israels tragische Lage vor Augen in einer fast niederschmetternden Reihe von Aussagen. Aber wenn wir diese drei Aussagen in Beziehung zu den damaligen Juden betrachten, müssen wir uns selbst fragen, ob diese Aussagen nicht auch auf Teile der sogenannten Christenheit am Ende der Tage zutreffen.
Zuerst: »Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben?« »Wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.« Israel aber will nicht an Christus, an sein Sühneopfer für uns glauben und ihn in ihren Herzen aufnehmen; und deswegen können sie ihn auch nicht anrufen und sich damit auch nicht mit ihrem Munde zu ihm bekennen.

Wir wollen uns fragen, wie viele sogenannte Namenschristen hier im »Christlichen Abendland« in der gleichen Lage sind. Wir können nicht wahres Gebet (ein »den Herrn anrufen«) von Menschen erwarten, die an diesen Herrn und Heiland nicht wirklich glauben, ihn nicht als ihren Retter und Erlöser ansehen. Wenn sie beten, dann ist ihr Gebet nur ein Lippenbekenntnis oder nur ein selbstsüchtiges Vorbringen eigener Anliegen. Sie wollen etwas bekommen, was ihnen nach ihrem Sinne wichtig erscheint, nicht aber unter der Prämisse »Herr, dein Wille geschehe«. Beides, nur Lippenbekenntnisse oder selbstsüchtige Versuche, unseren Willen dem Herrn aufzuzwingen, verneint seine Herrschaft über uns in seinem Sinne, im Sinne seines Kreuzes. Aber wie viele Menschen haben heute überhaupt aufgehört zu beten!

Paulus fährt fort: »Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben?« und »Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?« Ich kann nicht an etwas, an jemanden glauben, von dem ich nicht richtig gehört habe oder gar nichts gehört habe. Israels Geistliche haben zu Jesu Zeit schon Christus abgelehnt. Die wenigen Judenchristen haben es deswegen immer schwer gehabt, die befreiende Botschaft von Jesus, dem Messias, ihrem Volk zu bringen. Aber wir wollen uns heute selbst fragen, ob diese Lage nicht oft auch auf unser »Christliches Abendland« jetzt am Ende der Tage zutrifft. Denn Paulus sagt weiter: »Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden?« Von wem gesandt?
Von Christus, durch sein Wort, welches sie ins Herz auf genommen haben und dann weitergeben müssen. Viele von uns haben sicherlich Fragen, inwiefern die befreiende Botschaft von Jesu Kreuz wirklich immer klar und deutlich unter uns im biblischen Sinne verkündigt wird. Hier ist sicherlich nicht eine politische, soziologische und psychologisierende Botschaft gemeint, welche den Zeitgeist und auch unseren eigenen Standort spiegelt. Sondern hier ist, wie immer bei Paulus, die befreiende Botschaft von Jesu Kreuz gemeint, befreiend von unserer Schuld und Sünde, denn ohne Glauben im Sinne des Paulus und Jakobus bleiben wir verstrickt in Schuld und Sünde, trotz unseres politischen Standorts, unseres psychologischen Empfindens oder unserer soziologischen Lage. Jeder andere Ruf zur Befreiung stellt uns immer in ein neues Abhängigkeitsverhältnis, ob politisch, sozio logisch oder psychologisch. Wahre Befreiung ist Befreiung von uns selbst. Denn die Sünde, die Selbstbestimmung unseres Lebens und nicht Christi Herrschaft, ist der Weg des Verderbens. Diese Selbstbestimmung ohne wahren Glauben bis ins Herz hinein und bis hin zum Zeugnis bleibt in Politik, Soziologie und Psychologie stecken, denn diese alle sind Menschenwerk. Aber Gottes befreiendes Werk für uns ist und bleibt Christi Kreuz, die Befreiung von Sünde, Teufel und Tod.

»So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.« Wir können im biblischen Sinne nur predigen, wenn Gottes Wort uns bis ins Herz getroffen hat, so daß wir nicht mehr schweigen können. Wir können nicht mehr schweigen, weil wahrer Glaube diese Dynamik in sich trägt: vom Herzen bis zum Mund. Wir sind gerechtgemacht, gerettet durch Christi Blut, nicht nur für uns selbst, sondern als Christi Botschafter, durch das Wort von der Erlösung durch sein Kreuz an unseren Nächsten. So redet Jesus in seinem grundlegenden Gleichnis vom Säemann. Wenn das Wort, sein befreiendes Wort, auf guten Boden fällt, dann bringt es große Frucht, dreißig-, sechzig-, hundertfältig.

Und dieser Prozeß ist eine sich immer wiederholende Entwicklung. Wir kommen zum Glauben durch das Wort von Christi befreiendem Kreuz; und wenn dieser Glaube tief ist und echt, bis ins Herz geht, dann müssen wir dasselbe Wort weitergeben, daß auch andere errettet werden. Heute redet man von Multiplikatoren. Eine Strategie der Mission und des Gemeindeaufbaus, welche sich als Menschenwerk, als menschliche Überlegung erweist, wird uns letzten Endes nicht weiterbringen, denn das ist Menschenwerk. Und wir verfügen nicht über den Heiligen Geist, sondern es geht um »Christus allein«, und er bedient sich des gepredigten Wortes.
Machtdemonstrationen, Gefühlsbetonung, Geistesgaben als gruppendynamische Prozesse werden, wie Jesus im Gleichnis vom Säemann zeigt, nicht zu tiefem, im Wort ver wurzelten Glauben führen, sondern, was da aufbricht, wird schnell, hoch und rasch aufgehen und dann so schnell in sich zerstritten zusammenfallen, wie in den schwärmerischen Bewegungen am Anfang dieses Jahrhunderts.
»Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet… So kommt der Glaube aus der Predigt (nur aus der Predigt), das Predigen aber durch das Wort Christi.«

Menschliches und göttliches Leiden

Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muß viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohen priestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s ver lieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.

(Markus 8,31-38)

Kaum ein Text in unserer Bibel ist für mich so erschütternd, bewegt mich bis in Mark und Bein, wie dieser. Jesus fragt seine Jünger, was die Leute von ihm halten. Er bekommt verschiedene Antworten. Aber dann schaut Jesus Petrus direkt an und fragt: »Ihr aber, wer sagt ihr, daß ich sei?« Da antwortete Petrus und sprach zu ihm: »Du bist der Christus, der Sohn Gottes!«
Warum ist diese Aussage so umwälzend? Weil Petrus und auch andere Jünger (das bedeutet hier das »ihr«) als Vertreter Israels jetzt wissen: Jesus Christus ist der, auf den Israel immer gewartet hat, auf den die ganze jüdische Bibel, das Alte Testament, hinzielt. Wir möchten denken, daß Jesus seinen Jünger Petrus jetzt umarmt und sagt: Jawohl, du und ein paar andere wissen jetzt, so ist es! Aber nein, gerade jetzt, in dieser Situation, zeigt Jesus, was es wirklich bedeutet, König der Juden zu sein: Er ist der wahre, endgültige Leidensknecht Gottes.
Und Jesus erzählt Petrus und den anderen, was seine Zielsetzung ist: »Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muß viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.«
Diese Aussage ist für Petrus und die anderen bestürzend. Zwar kann man von ihnen als Galiläern keine große Schriftkenntnis erwarten, denn die Galiläer waren sprichwörtlich etwas weniger geschult in Gottes Wort als die Judäer zum Beispiel, aber als Jünger Jesu können wir von ihnen doch gewisse tiefe Erkenntnisse erwarten. Jeder Jude, der etwas von der Bibel versteht – und besonders damals, als die messianische Erwartung so aktuell war wie heute – , weiß, daß der Messias kommen wird, Frieden in der Welt aufzurichten, die Erlösung Israels unter den Volkern. »Dann werden alle Völker hinpilgern nach Jerusalem (vgl. Jesaja 2 und andere sehr wichtige Schriftstellen), um den Gott Israels anzubeten. Und dieser Messias wird ein großer Held sein, mit Macht und Herrlichkeit wird er herrschen.« Zwar gibt es die verschiedenen Stellen in Jesaja über den Gottesknecht, besonders Jesaja 53, welche den Messias als Leidensgestalt darstellen, auch verschiedene Psalmen, wie Psalm 22, der Kreuzespsalm, aber Israel hat viel mehr einen Machtherrscher erwartet, der sein Volk mit Gewalt von den Römern befreit und sein Friedensreich in dieser Welt aufrichtet. Kreuz und Leiden bedeutete damals, wie heute, unter den Juden etwas Alltägliches, das, wovon sie befreit sein wollen. Jesu Art und Weise messianische Schriften zu erfüllen, wurde gerade damals in Israel nicht erwartet. Auch nicht seine Art von Befreiung und seine Art, den Frieden zu bringen.
Deswegen wehrt sich Petrus gegen Jesu eigene Zielsetzung: »Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren« in dem Sinne: »Herr Jesus, das soll nicht mit dir geschehen! Was? Du mußt leiden und verworfen werden? Nein! Das soll nicht sein!«
Darauf gab Jesus ihm eine Antwort, die auch für alle modernistischen Theologen gilt, die Jesus heute so menschlich sehen wollen: »Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.«
Gerade in dem Moment, als Petrus sich zur wahren Erkenntnis durchgerungen hatte, daß Jesus der Heiland ist, verleugnet er das Wesen dieses Heilands, nämlich sein Leiden und Kreuz. Petrus denkt hier menschlich, allzumenschlich. Seine Denkart kennen wir nur allzugut: Menschliche Not ist das Schlimmste; wir müssen uns mit Händen und Füßen dagegen wehren. Leiden – ja, das ist schlimm! Aber Jesu Weg, und wie er sagte, der Weg aller seiner Nachfolger, verspricht gerade Leiden. So ist es.

Warum bezeichnet Jesus Petrus hier als Satan? Das geht doch etwas zu weit, denken wir. Oder auch an anderer Stelle: Warum sagt er zu seinem eigenen Volk, welches ihn nicht annahm, daß sie Kinder Satans seien und nicht Kinder Abrahams? Bei beiden Texten geht es um das gleiche. Er meint, daß in diesem Moment durch seinen Widersacher, den Satan, hier Petrus und da sein Volk sich von Gott, von Jesus entfernt haben. Und diese Gottesferne ist nichts anderes als Sünde, Satans Bereich. Armer Petrus! Gerade in der tiefsten aller Erkenntnisse, daß Jesus der langersehnte Messias ist, verkennt er den wahren Sinn und die Zielsetzung seines Messias. Tun wir das nicht auch, Tag um Tag?
Wie viele von uns beten und meinen es wirklich so: »Herr, dein Wille geschehe«? Und wie viele von uns glauben wie Petrus: Weil ich dich als meinen Herrn anerkenne, wirst du letzten Endes meinen Willen geschehen lassen, denn ich meine es doch (wie Petrus) nur gut. »Dein Wille geschehe« bedeutet auch die Erkenntnis bis in Mark und Bein, daß der Herr allein über Tag und Stunde verfügt, nicht nur über seine Wiederkunft.

»Dein Wille geschehe« bedeutet, daß Jesus ans Ziel kommen wird, wann und wie er will; und nicht wann und wie wir das haben wollen. Satan forderte Jesus mit biblischen Worten und anscheinend in biblischem Sinne heraus. Die Zeichen, die er von ihm verlangt, sind göttliche Zeichen. Das sollten wir nicht übersehen! Satan ist klug. So sind auch die Zeichenforderungen der Pharisäer! Sie verlangen Zeichen von Jesus, wann und wie sie das haben wollen; nicht wann und wie er solche zur Ehre des Vaters einsetzen will.
Wir verfügen niemals über den Heiligen Geist, sondern dieser Geist kommt wann und wie er will und erreicht dann seine Ziele, nicht unsere Ziele. Richtiger Mitarbeiter Jesu sein, bedeutet die Erkenntnis, daß nur einer unser Meister ist: der wirkende, der bestimmende, der wahre Gott Israels, Jesus Christus. Und was verlangt Jesus von uns? Er verlangt unser Mitgehen, »in seinen Fußtapfen« dem Kreuztragenden nach. Das bedeutet: Er verspricht uns in der Nachfolge nichts anderes als Leiden. Allein durch Leiden ist der Weg zu seinem Reich bestimmt. »Mitgekreuzigt werden« bedeutet, daß wir auch mit ihm auferstehen werden, sein Reich ererben.

»Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?«

Gar nichts! Jesus zeigt uns klipp und klar, daß alle unsere Werke, unser gutes und menschliches Denken und unser Einsatz, daß uns das alles nicht helfen kann. Heute hören wir immer wieder – und das bestimmt unsere nachchristliche Gesellschaft – , daß Menschlichsein, Mitmenschlichkeit, von höchstem Wert sei. Wer kann nach Auschwitz, nach den Straflagern in Sibirien, nach den Diktaturen und der Dekadenz unserer Zeit wirklich glauben, daß der Mensch, das Menschliche, gut ist?
Wer kann das glauben? Jesus sagt ein sehr deutliches Nein dazu. Noch tiefer, er nennt solches Denken satanisch. Warum? Weil Satan Adam und Eva gerade durch solches Argument verführt hat, wie er auch versuchte, Jesus zu verführen. Satan behauptet, den Menschen gleich wie Gott stellen zu wollen und zu können. Er will in den Bereich des Gott eigenen, des ewigen Lebens und der Wahrheit hineindringen. Und gerade das ist der Sündenfall. Eine Gesellschaft, in der Menschlichsein, Mitmenschlichkeit, der höchste Wert ist, verherrlicht Satan und nicht Jesus Christus. Das müssen wir deutlich sagen:

»Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr Herr, der Gott Israels.«
Jesus ist bereit, sich selbst ganz und gar für uns zu geben, sogar verlassen am Kreuz in der Erniedrigung dieser »Erhöhung« zu sterben – verlassen sogar vom Vater. Und wenn wir seiner wert sein wollen, verlangt er zuerst die Nachfolge. »Komm, und folge mir nach!« Klipp und klar sagt er das. Er verlangt in diesem und durch dieses Nachfolgen, daß seine Liebe, sein Wort und sein Weg uns bestimmen und nicht unser allzumenschliches Gedankengut. »Oh«, werden nun viele abwehren, »dieser Jesus ist unmenschlich, er verlangt zuviel von uns. Wir beten doch ab und zu, auch gehen wir ein paarmal im Jahr in den Gottesdienst, wir sind getauft und konfirmiert, sogar christlich getraut. Das ist doch wohl genug – ? « Jesus sagt aber: »Komm, und folge mir nach.« Das bedeutet Tag um Tag, Stunde um Stunde, Jahr um Jahr.

»Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.«
Sind wir uns im klaren darüber, daß wir alle unser Leben verlieren müssen? Wir leben meist doch so, als ob wir gar nicht wüßten, daß wir alle sterben müssen. Diese Welt ist nicht das Letzte und Entscheidende. Wer aber weiß und Jesus bekennt, daß er schuldig ist an Jesu Kreuz, weil er Tag um Tag allzumenschlich denkt (wie Petrus), und darüber immer wieder Buße tut und jedesmal durch unseren Heiland wieder neu aufgehoben und weitergeführt wird, der allein wird Zukunft haben, nur der. So sagte es uns unser Herr, Jesus Christus, in seiner Vollmacht. Wer aber auf seiner Menschlichkeit beharrt und damit auf seiner eigenen Herrschaft über sein Leben, dem gilt das Wort Jesu: »Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?«
Gar nichts!

Herr Jesu, du allein kannst uns die Kraft geben, in deiner wahren Nachfolge zu gehen und zu bleiben. Wenn wir schwach werden und wieder einmal mit der Herrschaftsmacht unseres eigenen Willens konfrontiert werden, sind wir gewiß, daß du zu uns kommen wirst, uns aufzuheben und weiterzuführen wie und wann du willst, auf deinem guten und geraden Weg. Herr Jesus, du bist unsere Stärke, und auf dich allein vertrauen wir.

Die zeichenhafte Bedeutung von Jesu Wunderheilungen

Der alttestamentliche Hintergrund

Wie bei allem in der Bibel, gibt es auch hier eine Entwicklung der offenbarten Wahrheit, wie Gott seinen Weg Schritt um Schritt zeigt, bis er ans Ziel kommt.

Die ersten Heilungen in der Geschichte Israels werden uns wie in einem Block berichtet. Sie sind ganz anders als man das erwarten würde: Es sind die zehn Plagen, die Israel »heilen« sollten von ihrer Knechtschaft in Ägypten. In diesen zehn Plagen, die das Heil für Israel, den Auszug aus der Sklaverei in Ägypten, bedeuten, zeigt der Herr, der Gott Israels, seine Herrschaft über die ganze Schöpfung. Sie erweist sich im Entgegengesetzten, in negativer Art:
Gott zerstört, um Israel das Heil zu bringen, seine Heilung von dieser Knechtschaft. Richtig verstanden umfassen die zehn Plagen die gesamte Schöpfung Gottes:
In der ersten Plage wird Wasser in Blut verwandelt – das erinnert an Jesu Vollmacht auf der Hochzeit zu Kana, und es hat auch mit Jesu Abendmahl zu tun.

Es folgen verschiedene Tierplagen; Plagen über die Gesundheit allen Lebens; Plagen durch die Witterung; die Pflanzen werden durch eine Heuschreckenplage vernichtet; die Finsternisplage bezieht sogar die Elemente des Kosmos mit ein – wie später bei Jesu Kreuzigung; und schließlich die letzte Plage, die den Menschen unmittelbar betraf, durch die der jeweils älteste Sohn in allen ägyptischen Familien stellvertretend für das ganze Volk umgebracht wird. Hier wird deutlich: Der Herr zeigt seine Kraft des Heils zuerst negativ, indem er zerstört, und kollektiv, indem es jeweils das ganze Volk angeht und nicht einzelne Menschen.

Ein zweiter großer Bereich von Gottes Heilungshandeln findet sich auf der Wüstenwanderung. Da geschieht Heil und Heilung für das ganze Volk Israel, am deutlichsten in der Errichtung der ehernen Schlange: Das Volk hatte gegen Gott rebelliert, sogar das Manna als ekelerregend bezeichnet; da schickte Gott Giftschlangen unter sie; erst das Anschauen der ehernen Schlange, die Mose im Auftrag Gottes aufrichtete, brachte Heilung von dem tiefen Schaden des Murrens. (Der Evangelist Johannes bringt das Geschehen in unmittelbaren Bezug zum Kreuz Jesu.) Die kollektive Heilung für das Volk, das die eherne Schlange anschaut, ist eine Vordeutung auf Jesu Erlösungstat.

Das erste große Heilsgeschehen geht vom Negativen aus, in dem Gott zerstört, um Israel zu retten. In der Wüste geht es nun um eine Heilung von dem Gift, das die Giftschlangen bringen, mögliches Heil für ein ganzes Volk, nicht nur für einzelne.
Der nächste große Komplex von Heilungsgeschichten im Alten Testament hat mit zwei Propheten zu tun, mit Elia und Elisa. Damit gehen wir einen deutlichen Schritt vorwärts in Richtung auf das Neue Testament.
Elia
geht im Auftrag Gottes direkt zu einer einzelnen Person. Die Witwe hatte ihm gesagt, daß sie und ihr Sohn nun sterben müßten, weil sie nichts mehr zu essen hätten. Elia verspricht, daß sie genügend Mehl bekommen und daß das Öl nicht ausgehen würde. Ein persönliches Heil wird hier versprochen, Heil gegen die Not des Hungerns. Und dann erfolgt noch eine persönliche, bemerkenswerte Heilung, eine Heilung aus dem Tod – durch ein Verfahren, das auch heute noch in Notfällen eingesetzt wird, die Mund-zu-Mund-Beatmung: Elia legt sich auf den Knaben und atmet wieder Leben in ihn. Hier wird eines der zentralen Wunder Jesu vorgedeutet: die Auferstehung. Auch wenn hier noch eine natürliche Vorgehensweise zum Hilfsmittel wird und die neutestamentliche Todesüberwindung noch nicht zum vollen Tragen kommt, geschieht Wirkung persönlichen Heils.
Warum ist das persönliche Heil ein Schritt vorwärts? Weil der Alte Bund ein kollektiver Bund ist und der Neue Bund ein persönlicher Bund. Der Alte Bund ist ein Bund mit einem ganzen Volk, dem Volk Israel. Im Glaubensbekenntnis der Juden geht es nicht um eine, um meine Person. »Höre, o Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist eins«, so heißt es. Das ist eine kollektive, das ganze Volk betreffende Aussage. Der Glaubensbund auf dem Berg Sinai wurde nicht mit einzelnen Menschen, sondern mit Mose und den 70 Ältesten als Stellvertretern für alle geschlossen. Am Ende der Tage, wenn Israel Jesus annimmt (Sacharja 12, 10), wird das ganze Volk ihn annehmen. Dann wird es wieder ein kollektives Heil sein: »Und sie werden ihn annehmen, den sie durchbohrt (gekreuzigt) haben, und werden um ihn weinen, wie man weint um einen einzigen Sohn.«
Israel wird das erste Volk sein, das Jesus als ganzes Volk annimmt. Israels Selbstverständnis ist nicht ein persönliches Selbstverständnis, sondern ein kollektives – wir, als Volk Gottes. Deswegen sind die ersten Heilungen kollektiv, an dem Volk als Ganzem. Merkwürdig ist, daß die Heilungen bei diesen prophetischen Geschichten jetzt auf einzelne Menschen übergehen. Warum? Das hat einen tiefen Grund, der bei den Beobachtungen zu Elisas Taten deutlicher wird.
Der Neue Bund ist ein persönlicher Bund: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn . . . « Unser Glaubensbekenntnis lautet nicht, »Wir Christen glauben . . . « , sondern der Neue Bund ist ein persönlicher Bund. Jesus hat nicht einzelne Völker zu sich berufen, er ruft einzelne Menschen: »Komm, und folge mir nach.« Deshalb beobachten wir schon innerhalb des Alten Testaments – und das ist nicht nur bei den Heilungen der Fall, das ist allgemein so – eine Entwicklung vom Kollektiven, dem Völkischen als Ganzem, hin zum Persönlichen, in Richtung des Neuen Bundes. In diesem werden immer einzelne Menschen berufen.

Interessant ist, daß die Wunder Elisas in der modernen Theologie wenig beachtet und noch weniger verstanden werden. Aber im Blick auf Heilungen sind im Alten Testament die Kapitel, die uns von Elisa berichten, von zentraler Bedeutung. Sie weisen direkt auf den Neuen Bund hin.
Was geschah bei Elisa, dem Nachfolger Elias? Immer wieder tut er Wunder. Aber es geht nicht um einen Wunderglauben, sondern es geht um die zeichenhafte Bedeutung, die hinter diesen Heilungen steht. Ich muß von vorn herein klarstellen: Jede Heilung hat stattgefunden. Ich bin kein moderner Theologe, der alles umdeutet. Alles, was da steht, ist physisch passiert. Diese Menschen wurden geheilt. Aber wie bei allen Heilungen durch Jesus, wurden sie nicht nur von Krankheiten geheilt, sondern es gab immer konkrete Gründe, warum sie geheilt wurden, warum sie in dieser Art geheilt wurden, warum sie zuvor solch bestimmte Krankheit gehabt haben.

Betrachten wir die Berichte über Elisa genau. Elisa geht inzweifacher Hinsicht weiter als Elia. Zum einen steht im Mittelpunkt der Heilungen Elisas das Thema, das auch im Mittelpunkt der Heilungen Jesu steht: die Reinheit. Elisa vollzieht zwei Wunderheilungen, die etwas mit Reinheit zu tun haben: Die eine betrifft einen Fluß und die andere die Heilung von Aussatz. Elisa verwandelt einen unsauberen Fluß in einen reinen Fluß. Warum?
Das Mittel in Israel, Reinheit herzustellen, ist fließendes, sich bewegendes Wasser – beispielsweise das Sich-Bewegen des Wassers im Teich Bethesda. Geheilte Aussätzige waschen sich in fließendem Wasser, um zeichenhaft das abzuwaschen, was unrein war. Elisa verwandelt einen unreinen Fluß – das bedeutet: Die Reinheit war hier nicht mehr möglich, weil der Fluß, die Reinigungsquelle selbst, unrein geworden war. Er verwandelt sie in einen reinen Fluß, um das Mittel für die Reinheit wiederherzustellen.

Elisas Heilung eines Aussätzigen weist auf etwas Wichtiges hin: Die Heilung der Aussätzigen ist eins der zentralen Heilungswunder Jesu. Er hat immer wieder Aussätzige geheilt. Einmal waren es insgesamt zehn – nur einer kommt zurück, ihm zu danken, die anderen neun nicht. Bei Besuchen im Krankenhaus werde ich häufig an dies Geschehen erinnert. Sollten nicht Krankenschwestern, die sich von wiederhergestellten Patienten verabschieden, mit ihnen ein Dankgebet sprechen und ihnen diese Geschichte von den zehn Aussätzigen erzählen und fragen: Brauchen sie Jesus nur, wenn sie krank sind, oder wollen sie ihn wirklich als ihren Herrn annehmen, auch wenn sie gesund sind?

Das andere Thema von Elisas Heilungen ist die Grenzüberschreitung. Elisa heilt zwei Fremde, den Sohn der Schunemiterin und einen Aramäer, diesen vom Aussatz. Warum kommen gerade in der Elisa-Geschichte Heilungen von Gojim vor, von Menschen, die zu einem anderen Volk gehören, nicht zu Israel? Weil der Herr, der Gott Israels, keine Grenze kennt in seinem Heil. Das ist eine Vordeutung auf das, was ein Thema im Neuen Bund sein wird: Das Heil in Jesus Christus wird zu allen Völkern gebracht.

Die Entwicklung des Heils wird immer deutlicher: Bei den zehn Plagen zeigt Gott seine Herrschaft kollektiv im negativen Sinn, indem er zerstört; während der Wüstenwanderung kollektiv im positiven Sinn, indem er kollektiv heilt, das ganze Volk. Bei Elia geht es um das Persönliche, um die Frage nach Tod und Leben, nach Auferstehung (was wiederum zentral auf Jesus hinweist). Und bei Elisa wird zunächst auf das Thema Reinheit im zweifachen Sinne erweitert. Elisa stellt das Mittel, das zeichenhafte Mittel der Reinheit, wieder her; er reinigt den Fluß und heilt den Aussatz, die schlimmste Art von Unreinheit. (Auch bei Jesus ist das zentrale Thema seiner Heilungen die Wiederherstellung der Reinheit.) Und dann geht Elisa sogar zu zwei Ausländern, Fremden – die Doppelung bedeutet Unterstreichung – , als eine Vordeutung der Heilung: Das Heil des Gottes Israels ist nicht nur für die Juden gemeint, sondern für alle Völker.
Zentrale alttestamentliche Aussagen über Heilung sind folgende Texte:
Jesaja 53
»Er trug unsere Krankheit und unsere Leiden.« Diese zentrale Aussage über Jesus in Jesaja 53 ist zusammen mit Psalm 22 der einzige Text in der gesamten Bibel, in dem Jesu Kreuz und seine Deutung unmittelbar nebeneinanderstehen. So etwas findet sich noch nicht einmal im Neuen Testament. Dort gibt es in der Passionsgeschichte zwar eine Beschreibung des Kreuzestodes Jesu und in den Apostelbriefen seine Deutung. Es gibt aber keinen einzigen Text im Neuen Testament, in dem beides in der Tiefe nebeneinandersteht, wie bei Jesaja, 700 Jahre vor Jesus Christus.
»Er trug unsere Krankheit und unser Leiden.«
Was bedeutet »unsere Krankheit und unser Leiden«? Jesus Christus ist unser endgültiger Arzt. Wir dürfen wissen, wenn wir krank sind, daß Jesus Christus auch schreckliche Krankheit und Not erlebt hat und daß er uns deshalb besonders nahe ist. »Er trug unsere Krankheit« – im geistigen und seelischen Sinn – so ist er uns geistig und seelisch nahe.

Er hat diese Krankheit überwunden. Denn das Ziel einer schweren Krankheit ist der Tod. Und »fürwahr, er trug auch unseren Tod«. Das bedeutet: Er gibt uns geistige und seelische Nähe und Kraft, wenn wir krank sind. Und dem »Ziel« der Krankheit, dem Tod, hat er die Macht genommen. »Fürwahr, er trug unsere Krankheit und unser Leiden« – dies ist eine deutliche Voraussage in Bezug auf Jesus Christus.

Im Alten Testament steht auch geschrieben: »Der Herr ist dein Arzt.« Was soll das bedeuten? Im Wartezimmer eines angesehe nen alten Mediziners fand ich folgendes Goethezitat: »Wir leben, solange es Gott bestimmt hat; aber wie wir dieses Leben zubringen, ob jämmerlich, wie die Hunde, oder frisch und gesund, dazu vermag ein kluger Arzt viel.«

Ein Arzt vermag manches im Kampf gegen den Tod. Aber der Herr ist unser endgültiger Arzt. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit unserer pensionierten Kinderärztin; es war das letzte Gespräch mit ihr, bevor sie selbst starb. Sie sagte: »Niemand ist während meiner Therapien gestorben.« Sie lebte, wie wohl jeder Arzt, mit der großen Angst: Vielleicht stirbt jemand, und ich bin mitschuldig, weil ich nicht das Richtige getan habe. Bei der Arbeit eines Arztes geht es letztlich immer um Leben und Tod. Sicher, die medizinische Fähigkeit eines Arztes ist eine Gabe Gottes, die Fähigkeit, richtig zu diagnostizieren und die helfende Therapie zu verordnen. Aber »der Herr ist dein Arzt« in dem Sinne, daß jeder Arzt gegen den Tod kämpfen will – aber gewonnen hat Jesus diesen Kampf. Das hängt mit Jesaja 53 zusammen: »Er trug unsere Krankheit und unser Leiden.« Jesus hat die Auswirkung, die letzte Tiefe der Krankheit, das Sterben, den Tod selbstgetragen und überwunden. Deswegen ist er unser wahrer Arzt. Der Tod hat keine Macht mehr über ihn, und deswegen hat die Krankheit im letzten keine Macht mehr über uns.

Was sind die Voraussetzungen für Heilungen durch Jesus?
Jesus heilt nur, wenn Glaube vorhanden ist. Er heilt niemals, um eine Show zu inszenieren. Es gibt Sekten, die machen aus Heilungen eine Show: »Das ist der Satan in dir! Wenn du wirklich glaubst, dann wird der Satan weggehen, und dann bist du heil.«
Diese Aussage ist der Bibel entgegen, denn Krankheit kommt nicht von Satan, sondern von Gott. Wesentlich ist, daß man glaubt, daß Jesus heilen kann. Jesus erwartet das totale Vertrauen auf ihn. Psychologen können über Jesus sagen, daß er im Grunde genommen ein guter Psychologe war; er habe über Ängste und andere notvolle Grundbefindlichkeiten Bescheid gewußt; er wußte um psychosomatische Krankheiten und hat sie deshalb heilen können. Ich habe jedoch nie gehört, daß Aussatz oder Gicht eine psychosomatische Krankheit ist; auch nicht, daß der Tod ein psychosomatischer Zustand ist. Prof. Sauerbruch hat einmal gesagt, daß Psychologie das Ende der Medizin bedeutet. Die Gefahr besteht dann, daß man immer sagen kann, das ist irgend etwas Psychologisches.
Und Karl Barth soll einmal gesagt haben: »Wenn die Psychologen eine Rolle in der Theologie spielen, dann wird Gott austreten aus der Theologie.« Tatsache ist, daß man psychologische Erklärungen der Heilungen durch Jesus mehrfach widerlegen kann, weil Jesus Krankheiten geheilt hat, die überhaupt keine psychologische Ursache haben können.

Jesus hat aber auch Menschen geheilt, die nicht gläubig waren. Vielmehr kamen Angehörige oder Freunde, die gläubig waren, zu ihm und baten: »Heile meinen Knecht!« – wie der Hauptmann von Kapernaum; oder Petrus: »Heile meine Schwiegermutter.« Da kann man nicht von einer psychologischen Auswirkung auf diesen Knecht sprechen. Jesus war zunächst gar nicht bei diesem Knecht, und es steht an keiner Stelle, daß dieser Knecht an ihn glaubte; auch nicht, daß die Schwiegermutter von Petrus an ihn glaubte. Jesus hat das getan, wegen des Glaubens anderer. Jesus heilte nicht nur Menschen, die selbst an ihn glaubten, sondern für Menschen, die ihm nahe waren, hat er auch andere geheilt, die nicht gläubig waren.

»Der Herr ist dein Arzt.« Jesus erfüllt diesen Spruch sehr bewußt. Er ist die Erfüllung, wie Luther sagt. Er kommt bewußt als unser Arzt, um Menschen, die in Not sind, zu heilen. Nicht aus Mitmenschlichkeit, das ist moderne, theologische Redeweise. Er hilft nur, wenn Glaube vorhanden ist, wenn ein Mensch in Not sich ihm anvertraut. Nicht eine indifferente, Undefinierte allgemeine Brüderlichkeit, wovon in der modernen Theologie gesprochen wird, ist Voraussetzung für Jesu Heilungshandeln – das wäre Schiller und Beethovens 9. Sinfonie, aber nicht Jesus. Das Wort »Bruder« bedeutet in der Bibel: entweder mein leiblicher Bruder oder mein Bruder in Jesus Christus oder mein geringster Bruder oder der ältere Bruder, Israel. Nicht alle Menschen sind einfach »Brüder in Christus«. »Brüder« sind Leute, die eine persönliche Heilandsbeziehung zu Jesus Christus haben, oder Juden, die diese Beziehung noch in einer verborgenen Art haben. Die Voraussetzung der Heilung durch Jesus ist der Glaube an ihn.
Was für eine Erklärung hat die Bibel für Krankheit? Sie verallgemeinen nicht in sektiererischer Vereinfachung: »Der Satan ist in dir; wenn aber Jesus in dich kommt, bist du gesund.«

Nein, Jesus heilt einen Gichtbrüchigen, indem er sagt: »Geh hin, deine Sünden sind dir vergeben.« Die Krankheit des Betreffenden hatte also mit Schuld zu tun. Das Interessante an diesem Text ist, daß Jesus sich an Gottes Stelle setzt. Er sagt nicht: Gott, der Vater, der Gott Israels, vergibt dir deine Sünde; sondern er sagt: Ich vergebe dir. Deswegen kommt es dann zu dem großen Streit mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Krankheit kann also offensichtlich eine Auswirkung von Schuld sein. Sünde und Krankheit, Satan und Krankheit – da bestehen also offensichtlich schon Wechselbeziehungen. Nicht nur hier scheint das sektiererische Verständnis richtig zu sein, sondern zum Beispiel auch in dem paulinischen Satz »Tod ist der Sünde Sold«. Krankheiten sind ja Schritte in Richtung auf den Tod. Die Lebenskräfte werden geschwächt.

Nun heißt es: Jesus trug unsere Krankheit am Kreuz und damit auch unsere Schuld. So stehen Krankheit und Schuld in einem engen Zusammenhang. Aber – und das ist wichtig – indem er diese Aussage, daß Krankheit und Tod mit Schuld zu tun haben, so absolut hinstellt, überwindet er diese Aussage, wir selbst aber können und dürfen das persönlich nicht so sagen. Jesus nimmt in einem Gespräch mit Juden auf den Einsturz des Turms von Siloah Bezug, bei dem 18 Leute umgekommen sind, und fragt: »Sind sie gestorben, weil sie besonders schuldig waren?« Solch eine Analogie ist eine typisch jüdische Logik: Krankheit und Tod kommt von Schuld. Jesus aber sagt: »Alle Menschen sind absolut schuldig, deshalb tut Buße, sonst werdet ihr den gleichen Tod sterben.«
Indem Jesus sagt, daß der Tod (und damit auch die Krankheit, weil sie uns dem Tod einen Schritt näher bringt) eine Folge der Schuld ist, trifft das jeden von uns in Bezug auf die Erbsünde. Und so können wir nicht mehr sagen: Krankheit hängt mit einer besonderen Schuld zusammen. Denn jeder Mensch ist grundsätzlich schuldig. Unser Grundzustand ist Sünde. Es kommt nicht darauf an, was wir im besonderen getan haben oder tun, sondern wir werden alle leiden und sterben, weil wir in Gottes Augen alle absolut schuldig sind.
Deswegen können wir nicht angesichts einer bestimmten Krankheit sagen: Der Kranke ist krank wegen seiner Schuld. Denn wegen der Schuld aus Gottes Sicht hätten wir es eigentlich verdient, daß wir alle gleich sterben. Das wäre logisch gedacht. Indem Jesus verabsolutiert, daß alle Menschen total schuldig sind, nimmt er dem Argument besonderer Schuld bei persönlicher, individueller Erkrankung die Spitze. Daß ich irgendwann sterbe, ja, sterben muß, ist »der Sünde Sold«, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Grundzustand aller Menschen, mit der Erbsünde. Die zwei Schächer, die mit Jesus gekreuzigt wurden, sind beide Mörder – einer aber von ihnen tut Buße. Auch wir sind nach der Bergpredigt in Gottes Augen alle Mörder, sofern wir jemals Zorn oder Haß auslebten – auch dies hängt mit dem Grundzustand unseres gefallenen Wesens zusammen. In Gottes Augen sind wir alle Mörder, auch Ehebrecher.

Was bedeutet aber eine bestimmte, persönliche Krankheit, die wir erleiden? Hiob sagt uns das – wie auch Jesus – deutlich: Hiobs ganzes Leiden ist eine Probe Gottes. Er wird auf den Prüfstein gestellt mit seinem Glauben. Jesus Christus sagt: »Wer mir nach folgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich« (sein Leiden, seine Krankheit, alles, was mit »Kreuz« zu tun hat) »und folge mir nach.«
Das Thema »Leiden« deutet in der Bibel immer auf die besondere Nähe zu Jesus Christus hin. Das ist unter anderem auch daran zu erkennen, wie der Auferstandene seinen wieder angenommenen Jünger Petrus auf dessen künftiges Sterben hinweist. Es ist Probe Gottes, daß wir im tiefsten Sinn in der Nachfolge Jesu mit ihm zu leben und zu leiden lernen. Wer nach dem Bedenken von Hiobs Leiden, nach Jesu Ruf in die Nachfolge und nach Jesu Feststellung zum Unglück mit dem Turm von Siloah behauptet, der Satan sei in mir, wenn ich krank bin, und ich müsse nur glauben, und dann gehe der Satan hinaus, der hat Jesus überhaupt nicht verstanden. Denn jede Krankheit kommt von Gott, der mich auf die Probe stellen will: Bist du bereit, mit mir zu leiden? Und wenn ich behaupte, daß Leiden gegen Gott ist, dann kämpfe ich gegen das Kreuz und nicht für das Kreuz. Der Gott, den ich dann haben will, ist ein selbstgemachter Gott, der sagt: Gesundheit ist ein Zeichen deines Glaubens; sei frisch, jung, gesund und sportlich! Das aber ist nicht der Weg Jesu.

Jesu Weg ist der Weg, der unsere Krankheit mitträgt, unsere Leiden und unsere Not. Und wahre Christen sind bereit, mit Jesus zu gehen. Ich habe in meiner Familie zwei Leute, die mir nahestehen, aber sehr krank sind. Ich bete nie: »Heile sie!« Ich bete: »Herr Jesus, gib mir und ihnen die Kraft, diese Leiden mit dir zu tragen. Und wenn es dein Wille ist – du weißt, daß ich es gern hätte – , dann laß sie gesund werden. Aber dein Wille geschehe.«
Alles andere wäre gegen Gottes Willen gebetet. Wie war es mit Paulus am Ende seines Lebens? Paulus will geheilt werden und sagt: »Herr, wenn es dein Wille ist, heile mich.« Jesus aber antwortet: »Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.« Das sind zentrale biblische Aussagen zum Leid und zur Prüfung. Krankheit ist eine Probe Gottes und ein Ruf Jesu in seine Nähe. Deswegen haben die Juden so gelitten, weil sie Gottes auserwähltes Volk sind, weil Jesus sein Ja zu diesem Volk sagt. Er kann seine Erwählung nicht bereuen (Römer 11). Er bringt sie in sein Kreuzesleiden, ohne daß sie das wissen oder gar wollten. Jeder Jude weiß, daß Leiden mit Erwählung zu tun hat. Auch wir sollten wissen, daß Leiden mit Erwählung zu tun hat. Christsein bedeutet nicht: Jetzt werde ich frisch, gesund und äußerlich, weltlich glücklich sein! sondern: »Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.«

Die Mittel der Heilung

Auch die »Mittel«, die Jesus zur Heilung benutzt, sind zeichenhaft. Jesus heilt zum Beispiel, indem er jemanden mit seiner Hand berührt. Oft ist es ein Auflegen seiner Hand bei einem, der in demütigem Glauben vor ihm kniet. Mit eigenen leeren Händen kniet er vor dem Herrn, in dessen Händen Schöpfungsreichtum liegt. Und Jesus heilt ihn wegen seiner Demut, seiner Erkenntnis: Nur du kannst mir helfen; ich komme mit leeren Händen zu dir. Wahrscheinlich beten wir deshalb mit gefalteten oder nach oben geöffneten Händen, die Augen geschlossen und mit gesenktem Kopf, als ein Zeichen unserer tief inneren Beziehung und Demut vor ihm.

Vor allem aber hat Jesus durch das Wort geheilt. Er sagt: »Steh auf, deine Schuld ist dir vergeben.« Das Wort ist das Schöpfermittel Gottes. Und das Leben des Schöpfergottes ist in Jesus Christus. Wenn Jesus spricht, ist Leben, auch Leben aus dem Tod. Das Wort Jesu ist das Schöpfermittel Gottes. Und wenn Jesus spricht: »Geh hin, du bist gesund«, dann spricht er ein Schöpferwort als der Herr der Schöpfung, als der Mittler der Schöpfung. Sein Wort erschuf Leben.
Deswegen geschehen die meisten Heilungen Jesu durch das Wort.
Da gibt es eine wichtige Parallele: Unsere Heilungen kommen auch durch das Wort – ich meine nicht Heilung von Krankheit, sondern von Sünde und Schuld. Das geschieht unter dem Wort, zu dem der Heilige Geist bevollmächtigt; es geschieht durch das Fleisch gewordene Wort, das Jesus Christus ist. Und das ist gegenwärtig, wo Wort Gottes und Geist Gottes sind, der Geist, der »Odem« Gottes, in dessen Kraft einmal Tote auferstehen, zu neuem Leben erweckt werden, wie es in Hesekiel 37 steht.

Jesus hat aber ausnahmsweise auch einmal mit Speichel geheilt. Da war ein Blinder. Jesus strich ihm seinen Speichel auf die Augen und fragte ihn: »Kannst du sehen?« Fragend wie ein Augenarzt, der eine Brille anpaßt. »Menschen wie Bäume«, antwortete der – alles ist noch verschwommen. Und Jesus legte nochmals seine mit Speichel benetzten Finger auf seine Augen. Das zweifache Tun mag von doppelter Bedeutung sein: Jesus tut nicht nur Wunder über das Naturgesetz hinaus, sondern benutzt dieses auch – im Speichel Jesu eine Heilkraft seiner Schöpfermacht? Das ist nicht einfach auch in unserem Speichel so. Jesus wirkte hier mit schöpfungsbedingten Gegebenheiten, die er geschaffen hatte, doch er muß nicht alles mit ihrer Hilfe tun. Doch wie das schöpferische Wort kam auch der Speichel aus seinem Mund, dem Urquell des Lebens.

Es gibt noch ein merkwürdiges Heilungsmittel: das Gewand. Jesus ist zum Krankenlager der Tochter des Jairus gerufen worden. Unterwegs drängt sich eine Frau an ihn heran. Sie berührt sein Gewand und wird geheilt von jahrelanger Krankheit. Nicht als Reliquien verehrte Gewänder haben Heilkraft – sondern was die Heilung ausgelöst hat, war der Glaube der Frau und nicht irgendeine magische Auswirkung. Aber diese Handlung hat auch eine zeichenhafte Bedeutung. Das ist das Kleid der Erwählung, das Josef trug. Auch das Gewand ist zu erwähnen, das die Propheten im Scheol tragen, wie Samuel zum Beispiel. Da ist auch das Kleid, das die Erlösten in Gottes Reich tragen werden, wenn wir nur »ausharren bis ans Ende«. Kleider der Erwählung. Auch das Gewand Jesu, um das schließlich vier Soldaten unter dem Kreuz losten, war ein solches. Die Frau wurde gerettet durch ihren Glauben, aber sie berührt das Zeichen der Erwählung.
Das Gewand Jesu ist Zeichen seiner Erwählung, und sie kommt und berührt diese Erwählung und wird geheilt. Aber sie wird durch ihren Glauben geheilt, nicht durch das Gewand, das hier eine zeichenhafte Bedeutung hat, wie in der Josefsgeschichte, wie in der Offenbarung. Sie ist zu dem Erwählten gekommen. Der Erwählte heilt, und sie wird aus Glauben geheilt.

Die Heilung selbst

Jesus hat bei seinen Heilungen bestimmte Krankheiten besonders beachtet. Das ist kein Zufall.

Aussätzige
Aussatz ist im Judentum der Inbegriff von Unreinheit, weil er den Zerfall unseres Körpers zeigt, des Leibes, der doch vom Schöpfergott kommt, dem lebendigen Gott Israels. Wenn einen ein Aussatz befällt, bekommt man zuerst weiße Flecken, so steht es in der Bibel. Dann geht man zum Priester, um feststellen zu lassen, ob es wirklich Aussatz ist oder nicht. Dann treten stinkende Geschwüre auf. Ganze Körperteile faulen ab. Man muß von der Gemeinde abgesondert werden, nicht nur wegen der Ansteckungsgefahr – das auch, das ist die humane Seite – , sondern weil man von Gott getrennt ist, von dem lebendigen Gott Israels. Hier kommen wir zurück zu dem Thema Schuld. Der Verfall der Person zeigt, daß bei ihr die Schöpferkräfte Gottes gelähmt, erstarrt sind. Der Betroffene trägt nach israelitischem Verständnis Zeichen des Abfalls vom lebendigen Gott Israels.
Warum hat Jesus immer wieder Aussätzige geheilt?
Warum? Er will bezeugen: Ich bin die Reinheit. Was unrein ist, werde ich wiederherstellen. Israel muß die Reinheitsgesetze halten wegen der messianischen Verheißung. Das Volk muß rein sein, damit der Messias empfangen werden kann, der alle Völker segnen wird. Jesus hat die Reinheitsgesetze erfüllt und vollendet und damit zu ihrem Ziel gebracht. Er sagt: »Ihr seid nicht unrein durch das, was ihr eßt« (er meint auch berührt), »sondern durch das Böse in euren Herzen.« Sein Heilen von Aussatz ist eine Zeichenhandlung, die besagt, ich bin die Reinheit selbst. Ich stelle wieder her, was unrein ist. So wird sein Heilen vom Aussatz zu einer Vordeutung auf das Kreuz.

Lahme
Lahme mit Gicht und anderen Lähmungserscheinungen sind auch vom Tempelgottesdienst ausgeschlossen. Sie wurden bis vor den Tempel getragen, aber nicht in den Tempel hineingelassen. Sie dürfen keine Gemeinschaft mehr haben mit dem lebendigen Gott Israels, weil ihre Lebenskräfte erstarrt sind. Die Leben schaffende Wirkung des Gottes Israels ist bei ihnen nicht mehr vorhanden. Deshalb warten sie am Teich Bethesda darauf, daß sich das Wasser bewegt, dem dann Reinigungs- und Heilungskraft zugesprochen wurde. Bewegtes Wasser ist Zeichen der Reinheit. Jesus heilt diese lahmen Menschen, um zu zeigen: Die Kraft des Lebens selbst, das bin ich. Ich bin der lebendige Gott Israels. Ständig handelt Jesus, um zu zeigen: Ich bin die Thora, das Wort, das Gesetz Gottes. Ich bin der lebendige Gott Israels, ich bin Gottes Sohn, ich bin der Allmächtige.
Auch wenn moderne Theologen, ob sie Juden oder Christen sind, meinen, das alles wegstreichen und umdeuten zu müssen. Das ist das deutlichste Zeichen, daß Jesus der lebendige Gott Israels ist, der Gott der Schöpfung: Er heilt Lahme, weil das Leben in ihnen erstarrt ist. So zeigt er, daß das Leben in ihm ist.

Blinde
Sehen bedeutet in der Bibel Erkenntnis. Der Seher, das ist ein Urwort für den Propheten. Er sieht Wahrheiten, die andere Menschen nicht sehen, Gottes Wahrheit. Jesus sagt über sein eigenes Volk: »Sie haben Augen und sie sehen nicht, und sie haben Ohren und sie hören nicht« – weshalb sie Gottes Wahrheit nicht erkennen. Jesus heilt blinde Menschen, um zu zeigen: Ich bin der endgültige Prophet, ich erfülle die ganze prophetische Tradition. Wahres Sehen, wahre Erkenntnis kommt durch mich. Und was sehen die Blinden als allererstes? Sie sehen Gott, sie sehen Jesus, ihren Heiland. Dann sind sie ganz sehend, denn sie sehen Gott selbst. Ich kenne einen Blinden, der wanderte immer 6 km zu mir in den Gottesdienst. Einmal sagte er im Bibelkreis: »Herr Pfarrer, als ich jung war, konnte ich sehen; ich hatte Augen zu sehen, aber meinen Heiland habe ich nicht gesehen. Und als ich blind gewor den bin, bin ich sehend geworden, denn ich habe meinen Heiland gefunden.« Jesu Blindenheilungen machen deutlich, daß er zeigen will: Ich bin die wahre Kraft des Sehens. Und das Volk Gottes? Sie haben alle Augen, aber sie haben eine Binde vor den Augen und können ihn nicht sehen (Römer 11).

Taube und Stumme
Es ist nicht wahr, daß Jesus jeden Menschen in Not heilt. Er hat nur geheilt, wenn Glaube vorhanden war, und er hat nur geheilt, wo ein tieferer Sinn dahinter erkennbar wird, Taube und Stumme hat er nicht in erster Linie deshalb geheilt, weil er ein Gefühl für die Mitmenschen hatte. Selbstverständlich liebt Jesus uns, aber er will, daß wir ihn lieben. Der natürliche Mensch hat keinen Zugang zu Gott. Sehr selten habe ich Menschen erlebt, die durch menschliche Liebe oder durch das Erleben von Schöpfung oder durch Freude zu Jesus Christus fanden. Die meisten bekehrten Menschen, die ich kenne, sind durch den Tod bekehrt, indem sie mit Jesus Christus sterben, ihre alte Person, der »alte Adam«, das alte Ich. Wenn Jesus uns richtet, uns dann aber auch aufrichtet durch sein Wort – das bedeutet neugeboren werden. Das ist der einzige Weg, um zum Glauben an Jesus Christus zu kommen. Jesus starb, um zu zeigen, daß er der lebendige Gott Israels ist. Dazu nahm er die ganze Unreinheit des Todes auf sich, die ganze Gottesferne. Aber gerade im Tod zeigt er seine lebendige Macht und Kraft. Er ist auferstanden aus der Kraft des Herrn.

Warum heilt er Taube und Stumme? Weil es um das Wort Gottes geht, welches Fleisch geworden ist in ihm. Es geht um den Weg zum Leben, allein durch das Wort. Ein Stummer kann das Wort Gottes nicht weitergeben, kann Gott nicht preisen und loben. Wer taub ist, kann das Wort nicht empfangen. Es geht nicht in erster Linie um eine menschliche Krankheit und Grenze, nicht um Mitmenschlichkeit. Sicher, Jesus liebt alle Menschen, aber sein Handeln geht viel tiefer. Taubstumme sind Menschen, die abgetrennt sind von der Gemeinde Jesu, weil sie das Wort nicht hören, das sie frei macht, und sie können das lebendige Wort nicht weitergeben. Deswegen heilt Jesus sie.

Besessene
Es ist schon eine bemerkenswerte Tatsache, wenn man im Neuen Testament liest, daß besessene Menschen wußten, daß Jesus Gott ist, sogar bevor seine eigenen Jünger dies wußten. Ein Besessener ruft: »Du Menschensohn, du Gottessohn, weg von mir!«, bevor Petrus das bezeugte. Junge Leute, die jetzt auf dunklen Wegen gehen und Rauschgift nehmen (das gibt es unter ehemaligen Konfirmanden!), verstehen oft viel schneller etwas über die Bibel als andere, weil sie viel mehr wissen über die Macht des Bösen und über das Leben ohne Gott. Sie wissen sehr genau, daß sie es letztlich mit Gott zu tun haben. Aber sie sagen: »Weg! Das ist gerade das, was gegen mich steht, was ich nicht hören und nicht haben will.« Aber die Erkenntnis über Jesus ist da.
So ist es bei den Besessenen auch. Sie wollen Abstand halten von Jesus, weil sie einem anderen Reich angehören, dem dämonischen Reich. Die Dämonen und Satan kennen sehr genau Gottes Macht. Er ist ein gefallener Engel. Menschen, die in seinem Zugriff stehen, sind keine Atheisten. Sie wissen um Gottes Kraft, aber sie stehen unter anderen Mächten und Kräften. Das ist heute ein sehr wichtiges Thema. Denn satanische Einflüsse sind sehr stark geworden – auffallend in der Rockmusik. Es gibt Gruppen, die Satan anbeten. Der Satan ist auch eine lebendige Kraft, eine Kraft, die jedoch töten und zerstören will.
Besessene Menschen heilt Jesus, um zu zeigen: Ich habe Macht über das Böse. Das Böse kann mir nicht widerstehen. Der Satan wird sich einmal auch beugen müssen und wird vernichtet. Auch sein Helfershelfer, der Antichrist. Der Satan wird tausend Jahre von Jesus gefangengenommen sein und dann in einem letzten Kampf endgültig vernichtet werden. Jesus hat Macht über das Böse, er allein. Aber sein Hauptziel ist nicht, den Bösen zu richten, sondern Menschen zu retten. Neues und Altes Testament sprechen deutlich davon, daß Gott zwar der Richter ist, aber er will retten, er will Gnade ausüben. Deshalb heilt Jesus auch Besessene, um zu zeigen: Es gibt keine Macht oder Kraft, die stärker ist als der lebendige Gott Israels. Er kann Menschen aus Satans Herrschaft reißen. David Wilkerson berichtet in sei nem berühmten Buch »Das Kreuz und die Messerhelden«, wie Rauschgiftsüchtige, die unheilbar sind, medizinisch und auch psychologisch, durch den Glauben an Jesus Christus befreit werden von dieser Besessenheit. Denn diese Not ist eine moderne Besessenheit.

Der Tod
Das zentrale Wunder Jesu in seiner Bedeutung ist seine Auferweckung aus dem Tod.
Elia hat einen Menschen auferweckt, auch Elisa. Jesus hat mehrere Menschen aus dem Tod erweckt, den Jüngling zu Nain, die Tochter des Jairus – aber das Erstaunlichste geschieht bei Lazarus. Er ist schon vier Tage tot. In Israel herrscht warmes Klima. Normalerweise beerdigt man dort innerhalb 24, höchstens 48 Stunden. Des Lazarus Verwesung hat in seiner Gruft schon eingesetzt. Er ist bereits länger tot, als Jesus es später war. Jesus heilt Lazarus vom Tod, indem er ihn mit dem lebendigen, dem Leben schaffenden Wort Gottes ruft: »Lazarus, komm heraus!«
Komm aus dem Tod, denn ich herrsche über den Tod, nicht nur über Satan und Besessenheit, sondern auch über den Tod, die Auswirkung der Erbsünde. Auch hier deutet er sein Kreuz voraus, an dem er den Tod endgültig entmächtigt in seiner Auferstehung. Die letzte Steigerung in der Todesüberwindung durch die Auferstehung ist, daß er sich als der lebendige Herr, der Gott Israels, in einem neuen, unzerstörbaren Lichtleib zeigt. Lazarus mußte nochmals sterben, Jesus Christus aber nicht. Er herrscht über Zeit und Raum als der Auferstandene.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Das hat mit der Schöpfung zu tun. Da handelt der lebendige Schöpfergott. Anfang bedeutet Zeit – Himmel und Erde ist Raum. Zuerst hat er die Zeit geschaffen und dann Himmel und Erde, den Raum. Jesus Christus steht über beidem, Zeit und Raum. Deshalb kann der auferstandene Jesus plötzlich hier und plötzlich da sein; er ist weder an den Zeit- noch an den Raumbegriff gebunden. Das können wir nicht ohne weiteres begreifen, denn wir leben in Zeit und Raum.
Wir werden das erst begreifen können in Gottes ewigem Reich. Dann werden wir nicht mehr in Zeit und Raum leben. Einstein hat gezeigt, daß die Zeit ein relativer Begriff ist. In seiner Relativitätstheorie hat er aufgezeigt, daß bei sehr hohen Geschwindigkeiten die Zeit langsamer abläuft. Die Bibel spricht davon, daß »Tausend Jahre vor Gott sind wie ein Tag, der gestern vergangen ist«. Für den lebendigen Gott Israels gibt es keine Zeit und keinen Raum, denn sein Reich kennt keinen Tod mehr – keine Endlichkeit und damit keine Zeit mehr. Wo es Zeit gibt, muß es Tod geben. Wir leben, um zu sterben. Es gibt bei Gott keine Zeit und auch keinen Raum in unserem Sinn des Wortes. Das ist für uns eigentlich nicht möglich zu denken. Und so kommt die kritische Rückfrage: »Wie können wir alle auferstehen zum Gericht?« Menschliche Torheit fragt so.

Aber leben wir, um Gott zu prüfen, indem wir sagen: »Nicht möglich, das glaube ich nicht.«? Die Antwort Gottes an Hiob lautet: »Dann schaffe mir die Welt, Hiob.« Der Mensch bleibt stumm und sprachlos vor Jesus Christus als dem lebendigen Gott, weil wir auf das Zentrum des Lebens durch unsere Vernunft nicht antworten können. Das Leben selbst, die Liebe, die Quelle, die Nahrung des Lebens, die Liebe, kann man nicht mit Wissen und Willen schaffen und mit der Vernunft auch nicht erklären. Und ohne Jesus Christus gibt es keine Antwort auf das Leiden und keine Antwort auf den Tod. Kann ich mich selbst erklären?

Was da versucht wird, sind nur psychologische Theorien. Niemand kann mir sagen, wer ich bin. Jeder sieht mich anders. Jeder malt das Porträt eines anderen anders. Auch wenn er ihn beschreibt. Jeder sieht den anderen durch seine eigenen Augen. Nur Jesus Christus weiß, wie und wer wir wirklich sind.
In der Auferstehung Jesu liegt der Beweis begründet, daß Jesus Christus der lebendige Gott ist, der Leben aus dem Tod, aus dem Nichts geschaffen hat.

Wir haben über Jesu Heilungshandeln nachgedacht und begreifen nun zusammenfassend, daß das Wesentliche für uns das Heil ist und nicht eine Heilung. Wenn Menschen in Krankheitsnot sind – auch ich selbst – , stelle ich nicht die Bitte in den Mittelpunkt: »Herr, heile du!«, sondern: »Herr, gib mir und den Menschen, die mir nahe sind, die Kraft, diese Not zu tragen und deinen Willen zu bejahen.« Heil ist viel wichtiger als Heilung. Unser Heil ist der Arzt Jesus Christus. Viel wichtiger ist, daß wir mit ihm sterben, als daß wir gesund werden. Die Berichte über die Heilungen sollen uns nicht dazu verleiten zu sagen: »Ich erwarte geheilt zu werden, weil ich glaube.« Nicht Gesundheit ist das höchste Gut. Das höchste Gut ist Jesus Christus, und Jesu Weg ist ein Leidensweg. »Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich, verleugne sich selbst und folge mir nach.« Das ist, was unser wahrer Arzt, unser Heil, Jesus Christus, zu uns gesagt hat.

Kinder des Lichts

»Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie viel mehr auf. Denn was von ihnen heimlich getan wird, davon auch nur zu reden ist schändlich. Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht aufgedeckt wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.«
(Epheser 5, 8 -14)

So strahlend klar, in Wellen des Klangs, intonierte Joseph Haydn diese zentrale Bibelstelle in seiner berühmten »Schöpfung«. Licht ist die Grundlage für das Leben. Licht bringt Leben. Der Herr selbst ist die Quelle des Lichtes, des Lebens. Und derselbe Herr erscheint Mose und Saulus als brennendes Licht; Mose als Licht in einem Dornstrauch, welcher aber nicht verbrennt, und Saulus als ein Licht vom Himmel, viel stärker als die Sonne, als Urlicht. Hier zeigt der Herr seinen brennenden Eifer, denn Mose soll zurück nach Ägypten gehen, um sein Volk zu befreien von seiner Sklaverei; und Saulus soll jetzt seinen Eifer verwenden aus dem Licht der Erleuchtung, aus Gottes Eifer, nicht gegen die Christen, sondern für das Volk des Neuen Bundes, in der Mission. Hier sehen wir den Herrn als brennendes, eiferndes Licht. Und brennende Kohlen werden auf die Lippen des großen Propheten Jesaja gelegt, um ihn zeichenhaft rein zu machen für seine Verkündigung der Botschaft des Herrn. Hier das Licht als Gottes Reinheit, welches uns reinigt. Und im längsten Psalm der Bibel, Psalm 119, steht geschrieben: »Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.«
Hier wird Gottes Licht, durch sein Wort, uns seinen Weg erleuchten, seinen Weg in seiner Nachfolge, wie es so deutlich in unserem Text steht: »Nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt wie die Kinder des Lichtes.« Und schließlich: Der Herr wird alles »ans Licht bringen« durch sein Gericht, das bedeutet, nach den Maßstäben seiner Gerechtigkeit. Und so steht es in unserem Text: »Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht bestraft wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht.«

Es läßt sich zusammengefaßt sagen: Wenn Jesus sagt »Ich bin das Licht der Welt«, meint er das in fünffachem, gesamtbiblischem Sinne:

1. Ich bin die Grundlage des Lebens, des Lichts.

2. Mein Licht bedeutet mein brennendes, eiferndes Wesen.

3. Mein Licht schafft nicht nur Klarheit, sondern auch Reinheit.

4. Sein Wort ist das Licht auf unserem Wege in der Nachfolge zu ihm.

5. Er wird alles ans Licht seines Gerichtes bringen.

Und wir sind »Kinder des Lichts«: »Denn ihr wäret vormals Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt wie die Kinder des Lichtes – die Frucht des Lichtes ist lauter Gütigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit.« In uns selbst sind wir nicht Licht, sondern wir sind nur Licht, wenn wir aus Gottes Wesen, aus seiner Leben spendenden, eifernden, reinigenden, wegweisenden, richtenden Kraft leben. Wir können diese Aussage durch ein Bild vielleicht besser verdeutlichen. Der Herr ist wie die Sonne, und wir sind wie der Mond. In uns selbst sind wir nur Finsternis (verloren in uns selbst), aber wir bekommen Licht, Leben, eifernde Kraft in der Nachfolge, Reinheit und Wegweisung aus seinem Licht. Wir verfügen dann nicht über dieses Licht, sondern das Licht verfügt über uns.
Das bedeutet auch, daß die Gaben des Geistes nicht uns gehören, sondern ihm; er gibt sie uns, wann und wie er will. Und diese »Frucht des Lichtes« kann dann genauso als »Gaben des Geistes« betrachtet werden. Sie heißen »Gütigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit«.
Als Christen sind wir in einer besonderen Lage im Hinblick auf die Wahrheit. Jesus Christus sagte von sich selbst: »Ich bin die Wahrheit«, und wir reden die Wahrheit, wenn wir im Sinne Jesu reden. Als Christen haben wir keine Angst vor der Wahrheit – jedenfalls haben wir das nicht nötig – , weil wir wissen, daß unser Herr ein gekreuzigter Herr ist, der für unsere Sünde gestorben ist und nicht für gerechte Menschen. Damit sind wir aber auch verpflichtet, unsere Sünde, unsere Entfernung von Gott, aufdecken zu lassen und auch für unsere noch unbekannten Sünden um Vergebung zu bitten. Denn »Ihr wäret vormals Finsternis, nun aber seid ihr Licht in dem Herrn«. In der Wahrheit reden, bedeutet dann in erster Linie, Jesus gemäß, wahrheitsgemäß zu reden und zu leben, auch unserem Nächsten das zu sagen, was er im Sinne Jesu nötig hat zu hören, soweit wir das erkennen. Christen sollen nie untereinander die Wahrheit verschweigen. Je offener wir sind, desto besser kann die Atmosphäre zwischen uns sein.

Das heißt nicht, daß die Wahrheit um jeden Preis gesagt werden muß. Das gilt vor allem, wenn erkennbar wird, daß eine verletzende Wahrheit dem Gebot der Liebe entgegensteht. So heißt es im vorangehenden Kapitel des Epheserbrief es: »Lasset uns wahrhaftig sein in der Liebe.« Und so steht in unserem Text, daß wir als Kinder des Lichts nicht nur aus der Wahrheit leben und die Wahrheit (Christus) bezeugen, sondern auch aus seiner Güte. Nur wenn wir beides tun, leben wir aus der Gerechtigkeit Gottes, welche zugleich seine Liebe und seine Wahrheit umfaßt. Ich kenne eine Frau, die ständig sagt, was sie denkt, und damit ihre Nächsten regelmäßig verletzt. Diese Frau behauptet aber, daß es ihr um Wahrheit gehe. Aber sie kann einfach nicht schweigen. Bei einem solchen angeblichen Wahrheitsbedürfnis hält man eine Sache für wichtiger als die Menschen, die es betrifft. Da glaubt man, alles sagen zu dürfen, solange es nur wahr ist, einerlei, ob Menschen dabei verletzt werden oder nicht. Unser Ephesertext zeigt aber, daß die Güte (Liebe) ein Maßstab für die Wahrheit ist. Und Gottes Gerechtigkeit, sein Kreuz, offenbart zugleich seine totale Hingabe, seine Liebe zu uns, und die Wahrheit unseres Verlorenseins als Gottesmörder, denn wir haben ihn gekreuzigt und tun das täglich, indem wir an ihm vorbeileben. Wer dann um der Wahrheit willen bedenkenlos verletzt, zeigt wenig Güte für andere und damit wenig Liebe. Darum sollen wir zwar mit unserem Nächsten offen umgehen, aber wir sollen uns dabei von der Liebe leiten lassen, damit wir die Wahrheit zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Weise sagen können, so daß sie zum Ausdruck unserer Güte und Liebe wird. Damit ist nicht gemeint, daß wir diplomatisch vorgehen sollen. Diplomatie ist oft versteckter Egoismus. Hier geht es darum, daß selbst unser Wahrheitsempfinden von der Liebe Christi, seiner Gütigkeit geleitet werden muß: »Ich sage etwas für dich Wichtiges, nicht weil ich dich verletzen will oder weil ich ehrlich sein will, sondern weil ich weiß, daß es für dich von Bedeutung ist, die Wahrheit zu wissen.«
Wer die Wahrheit sucht aus der Güte des Herrn, wird auch einen Weg finden,
daß diese Wahrheit klar zum Ausdruck gebracht werden kann, ohne daß sie verletzt. In der Wahrheit bleiben, bedeutet, nahe bei Jesus sein, aus seiner Gerechtigkeit (Kreuz) leben; auch Güte auszuüben, bedeutet, nahe bei Jesus sein, aus der Kraft seiner Gerechtigkeit und Liebe (das Kreuz) zu leben. Wahrheit und Gütigkeit gehören eng zusammen, beide als Ausdruck des wahren Lichtes der Welt: Christus, der Gekreuzigte, der selbst die Gerechtigkeit ist.

Aber unser Text enthält auch eine Warnung: » . . . denn ihr waret vormals Finsternis.« Das bedeutet doch, wir können nochmals Finsternis werden: » . . . und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, sondern strafet sie vielmehr. Denn was heimlich von ihnen geschieht, das ist schändlich nur zu sagen. Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht gestraft wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.«
Dies ist ein Bündel von Wahrheiten, die letzten Endes alle das gleiche betreffen: Auch wenn wir jetzt Kinder des Lichts in Christus sind und dies bezeugen aus seiner Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit, gibt es trotzdem immer noch Gefahren für uns.
Wir können dem Schlafgeist verfallen wie Petrus, Johannes und Jakobus im Garten Gethsemane. Auch Menschen, welche zu Christus gerufen worden waren, haben diesen Schlafgeist erlebt und sind wieder im Geist des Todes, sind wieder in Gottes-, in Christusferne geraten. Das gilt als Warnung für alle, die glauben, daß ihnen nichts geschehen könne und die deshalb nicht mehr eifernd in ihrem Glauben leben. Und diese Gefahr besteht nicht nur für uns, sondern selbstverständlich auch für unseren Nächsten. Hier redet Paulus sehr deutlich vom Gericht, von Gottes »Ans-Licht-bringen«, aber auch von unserer Haltung der Gottlosigkeit gegenüber: »Und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, strafet sie vielmehr . . . Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht gestraft wird.«
Wir sollen, wir müssen deutlich persönlichen Abstand vom Bösen nehmen (und heutzutage, in der Endzeit, ist das nicht so einfach), aber wir müssen auch diese bösen Werke und Wege strafen, und zwar aus Güte, in der Gerechtigkeit (im vergebenden Kreuz Christi), um der Wahrheit willen. Der Herr will viel lieber Barmherzigkeit erzeigen als Gericht, und er ruft uns, klare Worte zu sprechen, wo Sünde entsteht, damit die Sünder jetzt durch das Wort Christi gerichtet werden und damit nicht in das Endgericht kommen.
»Wandelt wie die Kinder des Lichtes – die Frucht des Lichtes ist lauter Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit – , und prüfet, was da sei wohlgefällig dem Herrn.«

Wer bin ich?

Ich habe in meinem Leben eine erschreckende Erfahrung gemacht, die wohl jeder Mensch irgendwann einmal macht. David Jaffin war in dem Ort, wo er als Schüler heranwuchs, bekannt als Dummkopf. Meine Lehrer haben lange von mir gesagt, daß ich weder im Lesen noch im Schreiben etwas tauge, nur ein sehr guter Sportler sei; vielleicht wird er da einmal Profi sein. Im Alter von acht Jahren habe ich Baseball gespielt, wie immer. Ich habe nie meine Hausaufgaben gemacht, nur den ganzen Nachmittag Baseball gespielt oder Fußball. Einmal kam ich in mein Zimmer und trat vor den Spiegel. Plötzlich stellte ich zum ersten Mal in meinem Leben die zentralste aller Fragen: Was siehst du in diesem Spiegel?
Am Abend vorher hatte ich in einem Gespräch mitbekommen, daß jemand aus meiner Familie gestorben war. Er stand mir nicht besonders nahe, aber es hatte mich doch ein wenig bewegt. Während ich nun meine Hände wusch, war mein Kopf noch ganz und gar beim Sport. Da überraschte mich mein Spiegelbild, und ich fragte mich: »David, wie schaust du aus, wenn du tot bist?« Innerlich wehrte ich ab: Dann gibt es weder ein Spiegelbild noch meine eigene Person. Dann aber bohrte der »Dummkopf« mit acht Jahren tiefer und fragte weiter: »Zeigt dein Spiegelbild DICH?« Und meine Antwort war richtig: Nein, das bist du nicht; das ist die Art, wie du zurückschaust auf dich, verstellt, physisch verstellt; das ist ein Kuckucksspiel, was du da machst; das bist du nicht.

Die Frage »Wer bin ich?« ist für mich eine zentrale Frage gewesen auf meinem Weg zu Gott. Auch in meinen lyrischen Büchern, wie in meinen Predigten spielt die Frage eine zentrale Rolle: »Wer bist du eigentlich?«

Ich fange jedes Jahr den Konfirmandenunterricht mit dieser Frage an: »Wenn ich euch nach Hause schicke mit einer Hausaufgabe, herauszufinden, wer ihr seid, wie werdet ihr mit diesem Problem umgehen?« Lachend kommen gleich Antworten: »Ich heiße Sabine« oder »Ich heiße Heinrich« . . . Aber das lasse ich nicht gelten, sondern ich fordere sie auf: »Denkt einmal an Briefe, die ihr vor drei Jahren geschrieben habt. Bist du die gleiche Person wie damals? Würdest du heute sagen: So bin ich – oder: So war ich?« Im Alter von 14 Jahren wagt keiner zu behaupten: So bin ich. »So war ich«, sagen sie alle. Und dann werden sie plötzlich ernst. Das ist die zentralste aller Fragen, zentraler als die Frage, ob es Gott gibt. Denn, wenn ich nicht weiß, wer ich bin, hat keine Aussage über Gott einen Sinn. Jede Aussage, die wir machen – Ich glaube…, Ich denke… – setzt eine Kenntnis meiner eigenen Person voraus. Und gerade das ist das Problem heute. Das ist die Frage hinter jeder Glaubensaussage und ebenso hinter jeder Aussage, die Gott verneint – Wer bin ich? Ganz bewußt frage ich meine Konfirmanden: Wie geht ihr mit diesem Problem um?

Wir wollen jetzt verschiedene Möglichkeiten überdenken. Ich bin überzeugt, daß jeder Mensch, der sagt, daß es keinen Gott gibt, sich von vorneherein selbst täuscht, weil niemand das sagen kann, ohne zu wissen, wer er ist. Ohne an Gott zu glauben, kann er nicht wissen, wer er ist. Darum täuscht sich jeder, der behauptet: »Es gibt keinen Gott«, weil niemand weiß, wer er selbst ist, ohne Gott. Darum ist der Atheismus logischerweise total unmöglich. Ohne Gott können wir nicht wissen, wer wir sind. Wer bin ich? Bin ich die gleiche Person, die ich vor fünf oder zehn Jahren war? Ändere ich mich durch die Jahre? Wie kann ich feststellen, wer ich wirklich bin? Ich frage das meine Konfirmanden, und die sagen: »Ja, probieren wir es bei unseren Eltern.« Wie viele Aussagen können sie über ihre Kinder machen, und wo ist die Grenze ihrer Kenntnis? Eltern kennen ihre Kinder ein paar Jahre ihres Lebens besser als jede andere Person. Sie kennen den Anfang der Kindheit, bis wir uns bewußtwerden über uns selbst, bis wir das Wort »Ich« aussprechen, meistens mit etwa drei Jahren. Über die ersten drei, vier Jahre unseres Lebens können unsere Eltern viele tiefe Aussagen machen über uns. Je älter wir werden, desto weniger gültig sind die Aussagen der Eltern über uns
. Ich würde nie behaupten, daß meine Eltern jetzt noch eine gültige Aussage über mich machen können. Ich sehe meine Eltern höchstens zweimal im Jahr. Sie kennen meine Entwicklung viel zu wenig, und je älter ich werde, desto weniger kennen sie mich. Das ist die erste Grenze meiner Eltern.

Wo liegt noch eine Grenze für Aussagen meiner Eltern über mich, ob ich ein kleines Kind bin oder ein Erwachsener? Sehen meine Eltern mich mit besonderen oder mit objektiven Augen? Ja, mit besonderen: Das ist mein Sohn. Unser vierjähriger Sohn war damals sehr beeindruckt von einem jungen Mann, der mit 20 Jahren jeden Monat ein anderes Auto hatte. Ihm war noch nicht bewußt, daß dieser junge Mann eine sehr schwache Mutter hatte, die ihm ständig Geld auslieh, und so hat er sehr mit seinen Autos angegeben. Schließlich ist seine Mutter in totaler Armut gestorben, und er landete im Gefängnis. Diese Mutter hatte immer gesagt: »Aber mein Peter, der hat ein so goldenes Herz.« Wir haben diesen Peter ganz anders gesehen – vielleicht hatte unser Sohn ihn auch positiv gesehen, wohl nicht gerade mit »goldenem Herz«, aber er mag gedacht haben: Der hat aber ein goldenes Bankkonto!

Eltern haben einen »besonderen« Blick für ihre Kinder, und das bedeutet: Sie sehen sie nicht wie »Außenstehende«. Emotionen spielen da stark mit hinein und verwischen die Wirklichkeit. Da liegen von vornherein Grenzen der Kenntnis unserer Eltern. Spätestens in der Pubertät fangen die Kinder an, ihren Eltern nicht mehr alles zu sagen. Und wenn sie nicht alles sagen, kann man nicht alles wissen. Da entstehen gewisse Geheimnisse zwischen Kindern und Eltern. Je älter das Kind wird, desto weniger werden die Eltern ihr Kind kennen und verstehen. Darum hat eine elter liche Aussage über ihr Kind letzten Endes keine Gültigkeit. Und wenn sie etwas aussagen, ist das mehr privater, persönlicher Natur, sicher von Liebe geformt, aber mit rosiger Brille gesehen: »Wenn ihr nur wüßtet, was für ein goldenes Herz mein Peter hat!«

Wir probieren es weiter bei den Freunden. Was können Freunde, jüngere oder ältere, über uns aussagen? Freunde verbinden gleiche Interessen, Vertrauen, vielleicht ähnliches Temperament oder ähnliches Verständnis. Einen zum Freund zu nehmen, da wird eine besondere Wahl getroffen. Ich fühle mich von seiner Wesensart angezogen; ich mache so vorab schon eine positive Aussage – ein anderer könnte dieselbe Person negativ sehen. Gewiß, ein Freund kann manchmal auch kritische Äußerungen machen. Aber normalerweise vergibt er recht schnell, er toleriert meine paar Schwächen hier oder da, während schon gemeinsame Interessen unserer Persönlichkeit zur Freundschaft führen.
Freundschaft lebt von vornherein von und mit positiven Vorurteilen. In ihr fehlt der objektive Blick füreinander. Kann ein Freund uns so gut kennen wie unsere Eltern? In mancher Hinsicht ja und in mancher Hinsicht nein. Es kommt auch darauf an, in welcher Lebensphase wir uns befinden. Dauerhafte Freundschaften sind selten. In der Regel fängt man erst später an, echte Freunde zu gewinnen. Deshalb kann ein noch so guter Freund uns nicht in unserer ganzen Entwicklung kennen. Ein Freund hat immer nur einen begrenzten Überblick über unsere ganze Geschichte. Ich habe erst seit anderthalb Jahren einen neuen Freund gefunden, einen sehr guten Freund. Ich kann ihm über meine Kindheit erzählen, von meinen Interessen usw., aber er hat das von mir und nicht von sich. Seine Kenntnisse sind begrenzt. Wenn ich einmal nach Amerika in Ferien gehe zu meinen alten Freunden, kennen die mich zwar aus meiner Kindheit, aber sie wissen nicht, wie es jetzt um mich steht. Freunde haben immer geschichtliche Lücken, einen begrenzten Einblick, weil sie Freunde sind. Darum können sie keine gültigen Aussagen darüber machen, wer ich bin.

Vielleicht wäre es klug, unsere Feinde zu fragen. Da würden wir interessante Sachen hören. Wir gehen zu jemand, der uns nicht mag und fragen: »Warum magst du mich nicht?« Trotz all des Negativen, was er über uns sagt – vielleicht sogar berechtigt – , wird er uns auf die Dauer tief kennen? Wenn ich eine Abneigung gegen jemand habe, ist es dann gerade diese Person, zu der ich immer wieder hingehe, mit der ich viel Zeit verbringe? Nein, man meidet dann doch einander. Ein Feind kann sicher eine sehr kluge Aussage über uns machen, viel leicht ist es auch ein verzerrtes Bild unserer Schwäche oder ein überbetontes Bild von dem, was er an uns nicht ertragen kann. Aber es ist immer eine sehr begrenzte Aussage, letzten Endes noch begrenzter als die unserer Freunde.

Wer aber kennt uns denn am besten?
Wir möchten sagen: Gott. Sicher – aber ich möchte mich in der allerzentralsten Frage »Mensch, wer bist du?« wiederholen: Wer sagt, daß es keinen Gott gibt, täuscht sich selbst, denn er kann nicht wissen, wer er ist, wenn es keinen Gott gibt. Wer sagt: »Ich glaube nicht an Gott«, täuscht sich, denn er setzt voraus, daß er weiß, wer er selbst ist. Wenn es aber keinen Gott gibt, kann er nicht wissen, wer er selbst ist. Darum hat diese Aussage überhaupt keine Gültigkeit. Ich muß wissen, wer ich bin, wenn überhaupt eine Aussage über mich einen Sinn haben soll, auch die Aussage von mir, wenn ich sage: »Es gibt Gott, ich glaube an Gott« oder »Ich glaube nicht an Gott.«

Kommen wir zurück zu meinem Spiegelbild. Ich behaupte, das ist das erschreckendste Bild, das einen Menschen treffen kann. Ich habe mindestens 40 Gedichte über das Thema »Spiegelbild« geschrieben und was es bedeutet. Es ist ein zentrales Bild in der Literatur und geht auch zurück zur Bibel. Wenn wir versuchen, uns ein Bild von uns selbst zu machen, wenn wir sehen wollen, wie wir körperlich ausschauen – können wir das mit eigenen Augen direkt sehen? Ich kann machen, was ich will – ich sehe mein eigenes Gesicht mit meinen Augen nie direkt. Merkwürdig, wie Gott uns erschaffen hat! Wir blicken alle hinaus, weg von uns, aber nicht in uns. Ich komme zu einem Spiegel und versuche, mich zu sehen. Nur in einem Spiegelbild kann man versuchen, sich zu finden. Es gibt eine lustige Geschichte in Aesops Fabeln über einen Hund, der mit einem großen Knochen in seiner Schnauze über eine Brücke läuft. Da sieht er im Spiegelbild im Wasser einen Hund mit einem Knochen, von dem er wähnt, dieser sei noch größer als sein Knochen. Gierig schaut er diesen Knochen an und will ihn haben; er macht seine Schnauze auf, sein Knochen fällt ins Wasser, und er hat nun keinen Knochen mehr. So geht es mit verzerrten Spiegelbildern – auch bei uns Menschen.

In unserem Spiegelbild wollen wir herausfinden, wer und wie wir physisch sind. Was für ein Bild sehen wir im Spiegel? Zeigt er, wie wir sind? Nein, wir sehen, wie wir sein wollen. Es ist ein Trugbild von uns selbst. Beobachten wir einmal, wie Mädchen, auch Jungs, in den Spiegel schauen, mit welcher Erwartung. Es gibt ein berühmtes Bild von Titian von einer sehr schönen Frau, die sich im Spiegel anschaut und sich als Königin der ganzen Welt fühlt; Eitelkeit beherrscht sie. Niemand tritt vor den Spiegel ohne eine vorgefaßte Vorstellung von dem, was er sehen will. Ein Kranker möchte gerne wieder frischrote Wangen sehen. Vielleicht reibt und klopft er sie vorher ein bißchen, um feststellen zu können: Die Gesundheit kommt. Niemand würde sich an einem mißmutigen Spiegelbild erfreuen. Jeder kommt zum Spiegel, um etwas Erfreuliches zu finden. Darum: Können wir im Spiegelbild die Wirklichkeit erwarten? Hinzu kommt, daß wir unser eigenes Gesicht spiegelverkehrt, seitenverkehrt sehen. Ich kann mich nicht mit meinen Augen richtig sehen. Es gibt Momente im Leben, in denen kann man sich selbst sehen durch die Augen von anderen. Wenn ich beispielsweise etwas wissen will über eine andere Per son, die ich selbst jedoch nicht kenne, und zu jemand komme, der sie sehr gut kennt, und dieser versucht mir zu erklären, wie diese Person ist, dann fängt er beim Beschreiben an, unbewußt, die Gesichtszüge dieser Person anzunehmen. Ich habe das seit langem beobachtet. Wir Menschen sind geborene Schauspieler. Wenn ich etwas wissen will über jemand, den ich nicht kenne, und ich rede mit einem guten Freund von ihm, dann erzählt dieser nicht nur mit seinem Mund, sondern mit seinem ganzen Gesicht. Ich kann mich selbst auch sehen in den Augen anderer: Ich sehe einen Blick, aber das ist ein Spiegelbild von mir. Manchmal erfahren wir durch den Blick von anderen etwas über uns.

Einmal ging ich zum Beispiel zum Friseur, ich war 17 Jahre alt; wie immer hatte ich ein Buch in der Hand. Der Friseur hat an mir gearbeitet, und ich habe in meinem Buch gelesen. Der Friseur hat mir so einen kurzen amerikanischen Schnitt gemacht, sehr kurz. Er guckte mich an, er war nicht glücklich, daß ich immer in mein Buch schaute, er sah nicht gerne Leute, die immer lesen. Und er hat gefragt, mit seinem Spiegel: »Wie schaut das jetzt aus?« Ich habe gesagt: »Noch ein bißchen kürzer« – ich war mitten in einem Kapitel und wollte das zu Ende lesen. So habe ich gar nicht bemerkt, daß er einen Rasierapparat nahm – ein ganz böser Mann war das, ich werde ihn nie vergessen – , er nahm einen Rasierapparat und fing an, meinen ganzen Kopf zu rasieren. Als er den ersten Teil gemacht hatte, mußte dann alles gemacht werden. Ich ging zu meinem besten Freund, ich läutete bei ihm, die Mutter machte auf und schaute – und in ihrem Gesicht habe ich mich selbst sehr deutlich gesehen. Sie hatte einen entsetzten Blick, dann fing sie an zu lachen. Ich habe in ihrem Gesicht gesehen, was mit mir los war, daß ich lächerlich ausschaute.

Kommen wir aber zurück zu unserem eigenen Spiegelbild: Von vornherein ist es verzerrt, physisch umgedreht, seitenverkehrt – aber es ist auch geistig verdreht. Denn wir treten vor den Spiegel, um ein vorgefaßtes Bild von uns zu sehen: Ich schaue stark aus, ich schaue hübsch aus, ich schaue klug aus, ich schaue interessiert aus . . . Das ist alles vorbereitet. Es gibt nur wenige Menschen, die zum Spiegel treten, um Wahrheit zu finden. Der große englische Dichter, T.S. Eliot, der sich vom Atheismus zu Christus bekehrte, ein sehr tiefsinniger Christ, sagte: »Der Mensch kann wenig Wahrheit ertragen.« Sicherlich ein wahres Wort. Eliot beschäftigte sich auch mit dem Problem, wie wir wirklich sind. Ein Vorbild ist auch der Mann, der sein Leben lang mit dieser Frage beschäftigt war; er war der größte aller christlichen Maler, der noch im Alter in ein Judenviertel umsiedelte, um Charakterköpfe für seine Evangeliumsbilder zu finden – Rembrandt. Er war ein tiefsinniger, ehrlicher Mann und wollte wirklich herausfinden: »Wer bin ich?«
Rembrandt hat sein Leben lang auch immer wieder sich selbst gemalt – zuerst als ein Genie, der sich mit einem Turban kleidet; auch seinen Vater hat er so angezogen, um exotisch auszusehen. Aber je älter er wurde, desto tiefer dringen seine Bilder in die Wahrheit ein. In seinen dreißiger Jahren stellte er sich als berühmter Mann dar. Man sieht es an seinem Gesichtsausdruck, an der Art, wie er angezogen ist: Dieser Mann ist reich, angesehen, brillant und anerkannt. In seinen vierziger Jahren verstand niemand mehr sein Genie, und er lebte in Armut und malt sich als einen Mann, der versucht, die inneren Gesichtszüge herauszuarbeiten, und das dauerte bis zu seinem Tod im Jahr 1669. In seinen späten Werken entdeckt man manchmal die tiefste Traurigkeit in seinem Gesicht geschrieben, die tiefste Fragestellung: »Mensch, wer bist du eigentlich?«
Warum malt Rembrandt immer wieder sich selbst, obwohl er doch der gleiche Rembrandt blieb? Warum malt ein Mann, wahrscheinlich der größte aller Maler, sich ständig selbst? Weil er weiß: Ich bin anders geworden.
Dieses Beispiel Rembrandts zeigt, wie tief diese Frage geht: Wer bin ich eigentlich?

Es gibt Menschen, die im Krieg Verbrechen begangen haben, die nicht fähig gewesen wären, das an ihrem Heimatort zu tun. Plötzlich befinden sie sich in einer anderen Lage und erschießen Frauen und Kinder. Und dann sagen sie nachher: »Das war ich nicht; so bin ich nicht; ich bin ein anständiger Bäcker- oder Metzgermeister in meinem Ort; ich habe nie in meinem Leben so etwas getan; das war jemand anderes; ich tue so etwas nicht.«
Sie erschrecken, daß sie plötzlich zu einem Mörder geworden sind. Wohl jeder von uns kann, wenn er ehrlich ist, von sich Dinge erleben, wozu er dann sagt: Bin ich wirklich so? Warum habe ich so reagiert? Plötzlich gibt es riesige Bemühungen, sich selbst zu bedecken, sich vor sich selbst zu verstecken. Die Novelle »Kleider machen Leute« erzählt das humorvoll auf ihre Art. Oder die Bemühung am Samstag, möglichst vor den Nachbarn alles sauber zu machen – auch ein Versuch, sich vor Menschen zu bedecken. Aber vor wem haben wir die größte Angst, erkannt zu werden? Nicht vor unseren Nachbarn, aber vor unserem eigenen Blick. Das ist das interessante an unserem Menschsein, daß unsere größte Angst die Angst vor uns selbst ist. Und die tiefste Angst vor uns selbst ist die Todesangst: Mensch, merke, daß du sterblich bist. Das wollen wir gar nicht sehen. Das war mein Spiegelbild, in das ich mit acht Jahren schaute: »Wie ist das, wenn du tot bist?« Wir haben Angst, vor unserem eigenen Blick entblößt zu werden. Der Psychoanalytiker Freud behauptete, alle Angstträume seien mit sexuellem Hintergrund. Das ist aber eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise. Im letzten ist jeder Angsttraum ein Todestraum. Das hat Tolstoi gewußt; und diese Erkenntnis geht viel tiefer. Jeder Traum, in dem wir entblößt werden und nicht weitermachen können, ist eine Angst vor der wahren Impotenz, der Impotenz gegenüber dem Tod, dem wir rettungslos ausgeliefert sind.

Was ist der Angsttraum eines Pfarrers? In meinem größten Angsttraum ziehe ich mich an, gehe zur Kirche und sehe die vielen erwartungsvollen Leute, die schon draußen warten, Hunderte, Tausende; ich verstehe nicht, warum so viele Leute gekommen sind und mich grüßen. Ich gehe hinein und komme auf die Kanzel, und was habe ich nicht dabei – meine Predigt! Ich bin wie entblößt. Die Leute kommen doch nicht, um mich zu sehen, sondern um Gottes Wort zu hören. Und da komme ich auf die Kanzel, ich schlage die Bibel auf – und meine Predigt ist nicht da! Ähnlich hat das auch einmal ein berühmter Opernsänger beschrieben: Er geht im Traum auf die Bühne in New York oder in der »Scala« in Mailand, Tausende von Leuten sind da; er fängt an zu singen und merkt, daß die anderen Darsteller etwas ganz anderes singen; er hat sich auf die falsche Oper eingestellt. Da ist man wie total entblößt.

Solche uns lustig anmutenden Träume sind letzten Endes Überlagerungen für Todesangst. Denn wo sind wir total entblößt? Wo haben wir kein Wort mehr parat? Genau im Tod sind wir sprachlos und hilflos.

Der wahre und tiefste Sinn des Spiegelbildes bei der Suche danach, wer wir sind, ist, daß der Spiegel letzten Endes nur ein kaltes, totes Bild von uns widerspiegelt. Das Erschreckende an dem Spiegelbild ist für uns, daß wir uns da als ein toter Mensch sehen, wir sind vor uns wie entblößt, ohne Ausweg. Das Spiegelbild täuscht.
Aber kommen wir zu unseren geistigen Aussagen über uns.
Was kann ich wissen über mich, was kein anderer Mensch weiß, was weder meine Eltern wissen noch meine besten Freunde noch meine schlimmsten Feinde? Kann ich wissen, was in meinem Herzen ist? Nur Gott weiß das besser als ich. Aber ich kann auch wissen, was in meinem Kopf ist. Wie viele Leute gehen auf die Straße und treffen einen Feind, grüßen ihn mit einem freundlichen Blick, denken im Herzen aber Böses über ihn. Man überdeckt diese Ungereimtheit gerne vor sich selbst. Es ist nicht leicht, mit sich selbst ehrlich umzugehen. Wenige Menschen tun das. Die meisten sind damit beschäftigt, den anderen zu täuschen, und damit täuschen sie sich selbst und verlieren das Bewußtsein dafür, wer sie selbst tatsächlich sind. Das ist auch typisch für die großen Diktatoren, daß sie ihre eigene Propaganda glauben, mit der sie eigentlich nur andere Leute überzeugen wollen. So haben Napoleon, Hitler, Stalin und alle anderen sich so viel Mühe gemacht, die Menschen zu täuschen, daß sie sich auch selbst durch ihre Propaganda getäuscht haben. Die meisten Menschen können nur wenig Wahrheit ertragen. Aber ihr Täuschungsbild anderen gegenüber führt letzten Endes zu einer grundsätzlichen Selbsttäuschung.

Aber ein Mann wie Rembrandt, der wirklich scharfsinnig erleben will, wie er ist, weiß, was in seinem Herzen ist, er weiß, was in seinem Verstand ist. Er hat eine historische Kenntnis von sich wie kein anderer. Es gibt diese berühmte Geschichte von Chamisso von einem Mann, der seinen Schatten verkaufen will. Können wir unseren Schatten verkaufen? Wir können nicht weg von uns selbst. Unser Schatten ist ein Bestandteil von uns selbst. Wir können keine Ferien von uns machen. Wir können zwar Ferien von unserer Arbeit machen oder gar einmal ohne Familie in Erholung fahren – aber wir können keine Ferien von uns selbst machen. Wir leben mit uns selbst, so gut und so schlecht es geht. Irgendwie müssen wir mit uns selbst auskommen. Aber was sind die Grenzen unserer Selbstkenntnis?

Suchen wir mit Rembrandt wirklich ernst und ehrlich die Grenzen unserer eigenen Aussagen über uns selbst? Mit welchen Augen sehen wir uns selbst? Mit unseren eigenen Augen. Und wer ist der allererste, der uns vergeben wird? Wir selbst – noch viel schneller als unsere Eltern. Mein Sohn vergibt sich, wenn er eine schlechte Note aus der Schule nach Hause bringt, noch bevor ich ihm vergebe. Das ist der erste Schritt: sich selbst vergeben. Und das tun wir auch am allerschnellsten. So sind wir Menschen. Wir sagen uns: »Ich habe doch ein gutes Herz; natürlich, ich mache auch manchmal Fehler, aber die anderen machen noch schlimmere Fehler.« Und damit hat man sich rasch vergeben. Wir sehen uns mit unseren Augen. Unsere Augen wollen sagen: Mensch, du bist die wichtigste Person der Welt. Aber so zu denken, ist Erbsünde, und wir leben alle in Erbsünde. U m diese Realität sich bewußt zu machen, sollte man einmal ehrlich Antwort auf die Frage geben: »Wenn du jemand anderes sein könntest – nicht nur nach Eigenschaften, Aussehen, sportlichen Fähigkeiten oder Intelligenz, sondern die ganze Person eines anderen übernehmen – , würdest du das tun?« Beim Überlegen gilt nur absolute Ehrlichkeit! Denn unser Glaube ist ein Aufruf zur Ehrlichkeit. Wir kommen nämlich zur schwierigsten Frage überhaupt: Sind wir bereit, den Balken aus unserem eigenen Auge entfernen zu lassen? Wer wollen wir am allerliebsten sein? Diese Frage ist sehr gefährlich! Denn wer wirklich lieber ein anderer Mensch sein würde, ist in seinem Selbst gefährdet.

Warum wollen sehr wenige Leute ganz und gar ein anderer Mensch sein? Jeder liebt sich selbst. Ich gebe zu: Es gibt Leute, die klüger sind oder feiner oder hübscher oder sportlicher – aber ich bin ich. Wir leben in uns, und wir leben für uns. Und darum vergeben wir uns auch am allerschnellsten, und wir lieben uns mehr als jeden anderen. Nur manchmal, in der Liebe, welche Christus ist, überwinden wir unsere Eigenliebe und lieben wirklich unseren Ehegatten oder jemand anderes mehr als uns selbst. Das sind seltene Momente, seltene Durchbrüche tiefsten Glaubens. Aber im allgemeinen lieben wir uns am allermeisten. Können wir aber darum ein Urteil geben über uns, ein objektives Urteil? Das ist total unmöglich.

Stellen wir die Frage:
Kann ein Psychologe eine gültige Aussage machen über einen von uns? Schwierig ist das schon deshalb, weil es viele verschie dene Schulen der Psychologie gibt, die sich oft widersprechen, weil jeder den anderen aus anderem Blickwinkel sieht. Jede Psychologie ist zeitgebunden, personengebunden, erziehungsgebunden. Aber gehen wir noch tiefer: Warum kann kein Psychologe, auch der klügste, letzten Endes keine Ahnung haben, wer wir sind? Was braucht man, um im tiefsten einen Menschen zu verstehen? Objektivität oder Liebe? Was braucht man am allermeisten, um einen anderen Menschen zu verstehen? Nehmen wir uns selbst als diesen anderen Menschen. Hätten wir gerne, daß jemand kalt und mit Abstand uns gegenübersteht und über uns urteilen will, wie wir sind? Oder würden wir lieber beurteilt werden von jemand, der uns total liebt? Jemand, der uns wirklich liebt, versteht uns doch viel besser. Hier kommen wir zum Grundrätsel des Problems Selbstverständnis.
Um richtig verstanden zu werden, wer ich bin, muß ich eine Objektivität haben, damit ich mein Bild nicht verzerre durch rasches Vergeben. Ich muß totale Objektivität haben, indem ich aus Abstand heraus urteilen kann, ohne von jemand anders beeinflußt zu werden. Gleichzeitig muß ich totale Liebe haben, totale Liebe zu dem anderen, daß ich von Herzen und (bis) ins Herz diese Person ganz und gar bejahen kann. Wenn man als Historiker eine Biographie schreibt, und man versucht, allein mit Abstand zu schreiben, wird man ein drittrangiger Historiker. Die großen Historiker schreiben aus Liebe, ob sie das wissen oder nicht. Sie identifizieren sich mit Bismarck oder Friedrich dem Großen so völlig, daß sie versuchen, in seiner Haut zu stecken. Nur dann können sie ihn richtig verstehen. Aber in dem Moment, wenn sie das tun, verlieren sie die Objektivität. Darum, um richtig verstanden zu werden, muß jemand da sein von unserer Geburt an, mindestens mit der Kenntnis, die unsere Eltern von uns haben, der Kenntnis unserer ersten vier Lebensjahre, die wir selbst nicht haben. Wir müßten jemanden finden, der uns sogar von unserer Zeugung an kennt und versteht. Diese Person muß einen totalen historischen Überblick haben bis zu unserem Sterben. Sie muß eine Objektivität uns gegenüber haben, die sich nicht blenden läßt durch unsere Täuschungsmanöver, durch unsere schöne saubere Weste, sondern die direkt in unser Herz sehen kann und sagt: »Ich weiß, was in deinem Herzen ist, und ich sehe die Dunkelheit deines Herzens.«
Gleichzeitig muß diese Person totale Liebe zu uns haben, totales Mitgefühl, so daß wir sagen können: Diese Person liebt mich noch mehr, als ich mich je selbst lieben könnte. Der einzige Weg, sich ein Bild von sich selbst machen zu können, zu wissen, wer ich bin, ist durch Gott.
Ohne Gott kann man kein Bild von sich selbst haben, und ohne Gott kann niemand existieren. (Ich meine nicht: physisch existieren; ich meine: als Person existieren.) Wenn es keinen Gott gibt, dann existiert kein Mensch in diesem Sinne. Das ist die radikalste, aber direkteste Aussage. Keiner von uns existiert als Person, wenn es Gott nicht gibt. Und ich meine das nicht in der Art, daß wir Gottes Geschöpf sind. Ich meine das viel tiefer. Kein Mensch kann wissen, wer er ist, ohne Gott, ohne Jesus Christus, der Gottes totale Liebe ist; ohne Gott, ohne Jesus Christus, der total Richter ist, zu dem wir am Ende der Tage kommen werden. Wer zu mir sagt: »Ich glaube nicht, daß es einen Gott gibt«, dem antworte ich dann: »Du existierst nicht; denn wenn es keinen Gott gibt, dann kannst du nicht existieren, weil du keine Aussage über dich selbst machen kannst. Jede Aussage, die du machst, ist nur ein verblendetes Bild deines Egoismus und deiner eigenen Wunschträume, so verblendet wie das Bild des Teenager-Mädchens, das in den Spiegel schaut und sieht, was es sehen will.« Die zentrale Frage für uns ist nicht die Frage nach Gott. Das ist sicher die wichtigste Frage, aber die zentrale Frage ist: Wer bin ich? Denn das muß ich wissen, bevor ich eine Aussage über Gott machen kann.

Jesus sagt in Jesaja 43 durch den Propheten:
 »Fürchte dich nicht, ich kenne dich, ich habe dich erschaffen, du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich kenne deine Persönlichkeit, wie du bist, und du gehörst mir.« Das ist eine total allumfassende Aussage über mich. Nur er sieht in unsere Herzen. Nur er weiß, wie es wirklich um uns steht. Nur er sieht uns mit totaler Objektivität und mit totaler Liebe.

Und 1. Korinther 13 ist ein sehr, sehr tiefer biblischer Text, in dem gerade dieses Spiegelbild eine so zentrale Aussage hat. Dieser Text ist zentral für alle möglichen Bereiche – was Liebe ist, was Erkenntnis ist, was ich bin:
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht (Jesus Christus nicht), so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig, freundlich …

Und dann:
Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene (das ist das Reich Gottes und das Gericht vor Gott), so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild (das ist das Schöpferwort Gottes, das Fleisch hier, unser verzerrtes Bild von uns und von Gott), dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Das ist der Moment, in dem wir wissen, wer wir sind, wenn wir vor unserem Herrn stehen, der alle unsere Gedanken und Wege erkennt und erforscht, der uns persönlich erschaffen hat, der unser Richter ist und der unser tiefster Liebhaber ist. Genau dann werden wir wissen, wer wir sind. Wenn es aber keinen Gott gibt, dann werden wir nie wissen, wer wir sind, und existieren dann nicht. Wir wissen aber als Christen, in der Liebe Christi, daß er uns kennt und daß unsere Person ihm allein gehört. Und darum können wir über unser Ich eine Aussage machen, auch wenn dieses Ich noch nicht ganz und gar erkannt ist in der vollen Tiefe, weil wir wissen, daß es erst in dem Herrn ganz und gar erkannt ist. Das ist das Zentrale. Das ist der Grund, warum ein glaubender Mensch die Wahrheit leben und erkennen kann, weil die Wahrheit allein Jesus Christus ist, der Richter und der Liebende, unser Schöpfer und auch unser Erlöser, der uns so gemacht hat, wie wir sind. Er, und er allein.

Gottes Geist – unsere bestimmende Kraft

So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, daß wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! (Römer 8,12-15)

Wie sollen wir »durch den Geist des Fleisches Geschäfte töten, damit wir leben können«? Das scheint für mich das Zentrum unseres Textes. Jeder einzelne von uns dient nicht nur dem Geist, sondern auch dem Fleisch. Wenn unser Körper müde ist, wollen wir schlafen. Wenn wir Hunger haben, wollen wir essen. Auch unsere sexuellen Begierden wollen befriedigt werden; dies sollte jedoch innerhalb des Rahmens geschehen, welchen der Herr uns gegeben hat, nämlich nur innerhalb des Rahmens der Ehe. Sind wir nicht alle abhängig von unserem Fleisch, was unser fleischliches Wohlbefinden betrifft? Können wir den Ruf des Fleisches töten? Selbstverständlich nicht. Das wäre auch unbiblisch und ganz und gar nicht im Sinne von Paulus. Die Bibel betont immer wieder neu, daß der Herr uns Leib, Geist und Seele gegeben hat, und daß diese voneinander nicht zu trennen sind. Alles, was er schuf, war gut, und er schuf uns mit unserem Leib, auch mit dem Verlangen des Leibes. Das zu verneinen, würde bedeuten, uns selbst zu verneinen und damit letzten Endes unseren Schöpfer.

Paulus aber sagt: »Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet.«
»Knecht« kann hier eine zweifache Bedeutung haben: daß wir »Knechte des Fleisches« sind oder/und daß wir in unserem Versuch, das Fleischliche in uns zu überwinden, in den knechtischen Geschäften der Werkgerechtigkeit, unseres Tuns gegen den Geist, steckenbleiben.
Wie gehen wir vor gegen diese doppelte Gefahr des Geknechtetseins vom Fleisch und des Geknechtetseins von unserer Werkgerechtigkeit, gegen unseren Versuch, die Fleischestriebe selbst zu töten? Die Antwort auf dieses doppelte Problem ist die gleiche: »Ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind.«

Das bedeutet erstens: Das Geknechtetsein im Fleisch kann nur überwunden werden, indem wir einen anderen Herrn und Meister bekommen, nämlich den Geist;
und zweitens:
Wenn dieser Geist unser Meister ist, dann bleiben wir nicht mehr geknechtet in Gesetzeswerken, im eigenen Versuch, unseren Fleischestrieb durch unseren Willen und unsere Anstrengung zu überwinden.

Aber zuerst wollen wir auf unsere erste Frage Antwort geben. Wir alle leben im Fleisch, und das Fleisch und was es braucht bestimmt einen Teil unseres Tuns und unseres Lebens. Das ist selbstverständlich. Aber dieses fleischliche Streben soll nicht unser Leben als solches bestimmen. Hier geht es letzten Endes um die Grundfrage der Herrschaft, der bestimmenden Kraft über uns – entweder wird das Fleisch uns leiten oder der Geist. Herrscht das Fleisch über uns, dann wird unser Leben von Lust, Begierde, Mammonsgeist und fleischlichem Trieb bestimmt; herrscht aber der Geist Gottes, dann wird uns gegeben, was unser Fleisch braucht, aber innerhalb des geistlichen Rahmens und nicht mehr als selbständige, bestimmende Kraft.

Und so ist es mit dem Geknechtetsein im Fleisch im Sinne der Werkgerechtigkeit, indem wir durch unseren Willen gegen das Fleisch kämpfen.
Wenn der Kampf unser Kampf ist, dann wird eher das Fleischliche immer stärker werden, oder in unserer Absage an das Fleischliche werden wir selbst herrschen über unser Leben, in pharisäischer Eigenmacht und Selbstsicherheit.

Der einzige Weg, frei von diesen beiden Gefahren zu werden, bleibt das Bauen auf Christus, auf sein Wort, wo sein Heiliger Geist weht unter Brüdern und Schwestern in Liebe und Selbsthingabe. Praktisch kann das bedeuten: Jede Sucht zeigt, daß das Fleisch, die Begierde, Macht über uns besitzt, ob das die Sucht nach Alkohol, Drogen, Sex, Rauchen, Essen oder etwas ander Fleischlichen ist. Manches Obengenannte braucht nicht zur Sucht führen, wie gutes und ehegebundenes sexuelles Miteinander aus der Liebe, welche unsere ganze Person bestimmen soll, Leib wie Geist und Seele. So kann man gerne essen und ein Viertele trinken, ohne daß das zur Sucht, zum beherrschenden Trieb über uns zu werden braucht. Aber wenn wir in Gefahr stehen, daß z.B. Sex, Essen oder Alkohol über unser Leben bestimmend wird, zum Zentrum unseres Lebens wird, was sollen wir dann tun? Aus eigenem Willen und eigener Kraft zu kämpfen, führt in sich zu einem neuen Geknechtetsein unter unseren Willen, unter unsere Regie zur Werk- und Selbstgerechtigkeit – das wird so sein, wenn wir auch meinen, diesen Kampf zu gewinnen. Oder wir können sagen: Ich kann sowieso nichts dagegen tun, deswegen lasse ich diese Kräfte über mich bestimmen und sage innerlich zu mir selbst: Ich bin immer noch der Herr; wenn ich will, kann ich davon freikommen. – Ein Leben aus Selbsttäuschung, das von vielen gelebt wird!

Aber es gibt eine dritte Möglichkeit, und gerade diese ist der christliche Weg: »Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.« Statt aus eigener Kraft dagegen anzukämpfen, oder statt in Selbsttäuschung diese fleischliche Herrschaft anzunehmen, können und sollten wir auf Christus bauen. Das bedeutet: ER soll für uns kämpfen, nicht wir selbst. Je mehr und je tiefer wir mit Christus leben, jemehr ER über uns bestimmt, auch über unser Fleisch – denn er ist schließlich auch der Schöpfer unseres Fleisches und der Erlöser unserer fleischlichen Verfallenheit – , desto mehr und desto tiefer bestimmt seine Herrschaft unser Leben.
Und dann wird die Zeit des entscheidenden Machtwechsels kommen. Dann wird er wirklich unser Herr sein und nicht wir selbst. »Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind.«

Laßt uns aber im klaren darüber sein: Christsein bedeutet Kampf, nicht einen frontalen Kampf von uns gegen Satan, sondern unsere tägliche Übergabe unserer eigenen Person, unserer fleischlichen Wege, unseres Triebes zu Selbstbestimmung und eigenem Ruhm und Tun an Jesus Christus, der das alles für uns ans Kreuz getragen hat und der allein über den Satan in uns, um uns und über uns herrschen kann.
Wer aber diesen Bezug zu Christus lockert, im Namen von Freiheit und Mündigkeit, bei dem hat der Satan einen Zug gegen ihn gewonnen. Unsere Freiheit, unsere Mündigkeit als Selbstzweck, als Ziel des Lebens, weist letzten Endes hin auf die Erbsünde in uns. Denn was wollten Adam und Eva eigentlich? Sie wollten selbst der Herr ihres Lebens werden, sogar selbst über Leben und über (göttliche) Wahrheit und Weisheit verfügen.

Gerade dieser krampfhafte Versuch des modernen Menschen, sich von allem zu befreien, von allen Ordnungen und Wegen des Herrn, ob von der Ehe, von der Familie, vom Staat, von der Erziehung – gerade diese Befreiungsversuche führen zu einer totalen Abhängigkeit von sich selbst, führen zum Alleinsein; wir werden im Stich gelassen, weil niemand und nichts mehr für uns gilt und zu uns steht. Und das Endziel dieser Emanzipation ist, »befreit« zu sein von Gott, von Jesus Christus. Wer so lebt, erbt nicht Freiheit, sondern, wie die Geschichte von Adam und Eva und die weitere Urgeschichte der Menschheit uns zeigt, Haß, Lügengeist, Mord und unbegrenzte Begierde, und zwar nicht nur persönlich, sondern auch in der Gesellschaft, der sogenannten »befreiten« Gesellschaft.
Aber gerade Gott mit dem ihm kindlich vertrauenden »Abba« anzurufen, zeugt von unserer christlichen Abhängigkeit von ihm, einer Abhängigkeit, die wir (wie Hermann Bezzel es ausdrückte) als Glück bezeichnen. Warum? Weil der Vater durch Jesus Christus allein die Macht hat gegen den Satan, die satanische Knecht schaft in uns, um uns und über uns. Und gerade unsere bewußte Abhängigkeit von dem Herrn gibt allein uns die Kraft, uns selbst anzunehmen, wie wir sind, auch unser Fleisch und unsere kleinen Schwächen. Denn wir wissen: »Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn anders wir mit leiden, auf daß wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.«

Wir haben nur Zukunft, wenn wir mit Jesu Kreuzesblut überdeckt sind, nicht durch das Feigenblatt, das wir uns selbst anfertigen, um Unschuld vorzutäuschen. Mündig sein als Christ bedeutet, einen kindlichen Geist zu empfangen. Und gerade dieser »kindliche Geist« wird uns die Kraft geben, Leiden als Mitleiden mit Christus zu empfangen, sogar zu bejahen. Denn sein Geist zerbricht den natürlichen Menschen, für den Leiden und Sterben ein Greuel ist. Aber nur wenn wir mit leiden mit unserem Christus, werden wir Miterben seines Reiches werden. Jeder knechtische Weg aber, ob von fleischlicher Begierde oder von unserem Willen und unserer Werkgerechtigkeit geprägt, bezeugt die Herrschaft des Todes, des Fleisches und des Eigenwillens – beide sind dem ewigen Tod geweiht.
Herr, du sollst unser Herr und Vater sein und bleiben. Gib uns die tägliche, kindlich vertrauende Kraft durch Jesus Christus, deinen Sohn, im Vertrauen und Gehorsam zu dir zu bleiben bis ans Ende.

Göttliche Führung durch den Umgang mit der Bibel

Vor einigen Jahren bemerkte ich an einer empfindlichen Stelle meines Körpers eine Geschwulst. Ich ging zum Arzt, der mich alsbald zu beruhigen suchte: »Das wird nicht ernst sein.« Er verschrieb mir Medikamente und ermutigte mich: »In einer Woche ist bestimmt alles wieder in Ordnung; wenn nicht, kommen Sie nochmals.« Es war dann nicht in Ordnung. Er schickte mich weiter zu einem Facharzt. Auch er bestätigte zunächst, daß es wohl nichts Ernsthaftes sei. Doch nahm er dann noch eine weitere Spezialuntersuchung vor, die ergab, daß die Konsistenz der Geschwulst eine sofortige Operation angezeigt sein ließ. Meine Rückfrage nach Krebs beantwortete er: »Von Krebs habe ich nicht gesprochen; es sollte nur operiert werden, um sicher zu sein.« Ich wollte und konnte dem so schnell nicht zustimmen. Da bot er mir als Alternative zunächst eine Cortison-Behandlung an, die innerhalb einer Woche Erfolg zeigen müsse, wenn nicht operiert zu werden brauchte. Mich überfiel Angst trotz tiefen Glaubens. Ich war damals 43 Jahre alt und kam mir zum Sterben ein bißchen jung vor. Trotzdem ich weiß, daß alles in Gottes Händen liegt, habe ich als Mensch reagiert, habe ich in Angst gelebt.
Die Cortison-Dosis, die mir verschrieben wurde, wirkte sich in mancher Hinsicht beeinträchtigend auf mein psychisches Gleichgewicht aus. Tag um Tag schaute ich mehrmals die Stelle an: Ist es zurückgegangen? Aber die Geschwulst wurde nicht kleiner. Ich erschrak, als mir schließlich bewußt wurde, daß ich sofort operiert werden müsse, wenn sich in zwei Tagen nichts ändern würde. Die Wahrscheinlichkeit, daß es Krebs war, drängte sich mir auf. Ich werde bald sterben. In meiner Verzweiflung – ich kam nicht zur Ruhe, auch nicht mit Gebet – habe ich mir gesagt: Es gibt nur eine Antwort, die Bibel.
Ich nahm sie zur Hand, als ob sie ein Schwert wäre. Sie wird mir Antwort geben! Ich schloß meine Augen, schlug die Bibel einfach an irgendeiner Stelle auf, von der ich im Glauben erwartete, daß Gott will, daß ich sie lese. Als ich meine Augen öffnete, lasen sie als erstes: »Du wirst meine Herrlichkeit schauen.«

Augenblicklich war meine ganze Angst wie verflogen. Ich war mit Freude erfüllt. Die Gewißheit war da, daß Gott mir in diesem Moment sagen wollte: »Du gehörst zu meinem Reich.« Das ist wichtiger als alles andere. Plötzlich war ich uneingeschränkt bereit, operiert zu werden und – wenn Gott es will – zu sterben. Wenn’s seine Zeit für mich ist, würde ich ja zum Herrn gehen. Hatte er das nicht auch zu Paulus gesagt, als dieser krank war: »Meine Gnade ist genug.« Am nächsten Tag erinnerte ich mich zudem an etwas, was mir einmal mein Vater gesagt hatte: »David, laß dich nie operieren, wenn nicht drei Ärzte unabhängig voneinander das gleiche feststellen.«
Er hatte in seinem Leben einschlägige Erfahrungen gemacht. So ließ ich mich zu einem anderen Facharzt überweisen, damit dieser ein weiteres Gutachten erstellt. Nach eingehenden und gründlichen Untersuchungen kam dieser zu dem Schluß: »Sie haben keinen Krebs. Sie brauchen keine Angst zu haben. Das kann ich hundertprozentig sicher sagen.« Diese Aussage hat mich erstaunlicherweise wenig bewegt. Gottes Wort hatte es mir doch gesagt, daß ich zu seinem Reich gehöre. Und so wurde mir auch die Aussage, daß ich keinen Krebs hätte, völlig unwichtig, weil ich im tiefsten lernen mußte und gewußt habe, daß ich diese Schwelle der Todesangst erleben und überschreiten mußte, bis ich zu Jesus ja sagen konnte.

Gewiß, dies ist ein ungewöhnliches Beispiel für den Umgang mit der Bibel, ungewöhnlich in dem Sinne, daß es ein Mittel ist, das wir wenig benutzen sollen, nur in sehr großer Not, wenn es darum geht, ganz und gar von einem ganz bestimmten Gotteswort abhängig zu werden. Ungewöhnlich ist solche Erfahrung jedoch nicht, wenn wir in die Geschichte der christlichen Kirche hinein schauen. Immer wieder einmal hat eine bestimmte Bibelstelle – und die war öfters im Römerbrief – ein ganzes Menschenleben oder die ganze Kirche total verändert. Da leuchtete ein Wort oder Satz in einer Krise oder Not hell auf. Denken wir an Luther!

Das Erleben eines anderen Mannes wurde für die Kirche nicht weniger wichtig. Er war ein berühmter Gelehrter seiner Zeit und in seiner Rhetorik allen überlegen. Er hieß Augustin und lebte weit entfernt von Gott, obwohl er eine einfache und fromme Mutter hatte. Seine Mutter war verzweifelt: Wie könnte mein Sohn mit seinen Gaben unserer Kirche in Not so viel helfen – aber er steht gegen uns. Sie ging zu dem berühmten Kirchenvater Ambrosius, dem Erzbischof von Mailand, und fragte ihn um Rat. Er ermutigte sie: »Beten, jeden Tag inbrünstig beten. Nur der Herr kann ihn ändern.« In seiner Wahrheitssuche ging Augustin noch manche Irrwege, bis er zu den Manichäern kam, einer ganz bösen Sekte, die das Böse als Urkraft betrachtete und es Gottes Urkraft gleichstellte. Eines Tages – so schreibt Augustin später in seinen »Bekenntnissen«, wurde ihm erzählt, daß Leute den römischen Kulturraum verlassen hätten, um als Einsiedler zu leben. Dieser Gedanke interessierte ihn sehr. Er hörte immer mehr Berichte von Menschen, die plötzlich den Weg zu Jesus Christus gefunden haben und sich bekehrten. Augustin aber wurde innerlich immer verzweifelter und unsicherer und voll größter Unruhe, wie er das in einem späteren Gebet einmal ausdrückte. In diesem Zustand hörte er bei einem Gang durch seinen Garten eine Kinderstimme ein schlichtes Lied singen: »Lies im Buch, lies im Buch, lies im Buch . . . « Immer wieder diese helle Stimme. Plötzlich merkte er – wie später auch Luther – , daß er Dinge neu zu sehen begann. Es wurde ihm bewußt: Diese Bibel war gemeint. Er eilte in sein Arbeitszimmer, schlug die Bibel an einer Stelle auf. In der Rückschau merkte er später, daß diese Stelle für sein ganzes Leben entscheidend wurde:
»So laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Laßt uns ehrbar leben wie am Tage . . . (Röm. 13,12 b-14). Von dieser Stunde an erfuhr die christliche Kirche eine Vertiefung ihrer Schrifterkenntnis – Gott hatte Augustin überwunden. Seine Mutter starb, kurz nachdem er getauft wurde.
Solch ein Weg ist jedoch gar nicht so ungewöhnlich. Das kann zu einem zentralen Erleben werden für jeden Menschen, der sich in einer Krise befindet, wenn er dem inneren Verlangen nachgibt, die Bibel aufzuschlagen und darin den Weg wirklich suchend zu lesen. Gott redet und verändert durch sein Wort. Solch ein Erleben läßt sich nicht »machen«, sondern es ist wichtig, auf Zeit und Stunde zu achten, wenn es uns innerlich klar wird, daß Gott durch sein Wort zu uns reden will.

Man könnte einwenden, daß das doch etwas ungewöhnliche Beispiele im Umgang mit der Bibel seien. Wie ist das aber im Alltäglichen? Viele Künstler – besonders im Mittelalter – versuchten, Maria, die Mutter Jesu, zu malen, als der Verkündigungsengel zu ihr trat. Meist steht oder sitzt sie da in Stille in einem Raum, und sie liest in einem Buch, in der Bibel. Das ist so bestimmt nicht historisch. Was aber wollten die Maler damit zum Ausdruck bringen? Der Engel hatte zu ihr doch vom Empfangen des Heilands gesprochen. So können wir erkennen, daß die Maler in dem Bewußtsein malten, daß Bibel lesen Empfang ist, Vorbereitung. Und so soll auch jeder von uns vorbereitet sein, zum Beispiel auch einen neuen Tag zu empfangen. Viele tun das bewußt mit ihrer »Stillen Zeit« mit Wort und Gebet am Morgen – vor allem. Ich kenne zwei Möglichkeiten, einen Tag anzufangen – und Anfang bedeutet, diesen Tag zu bestimmen: Die eine ist, zu beten, bevor man auf steht: »Herr Jesus, du sollst diesen Tag bestimmen.«
Und wenn man schon mit Angst und Sorgen auf das schaut, was an diesem Tag auf einen zukommt, dann denkt man an Jesu Kreuz und vertraut sich seiner Führung an und betet: »Ich gebe dir diesen Tag ganz, du leitest mich, und du führst mich.« Eine andere Möglichkeit, den Tag anzufangen, ist beispielsweise die mit Hilfe des Losungsworts oder einer Bibellese. Bevor man sich Gedanken macht, was im Tagesablauf dazu gehört oder vor einem steht, schlägt man die Losung auf und die Bibel, liest und denkt über das Gelesene nach und betet dann vielleicht so: »Herr Jesus, du bist mein Herr, und du sollst mich heute so führen, daß dieses Wort, welches Fleisch geworden ist in dir, diesen Tag für mich bestimmt.«
Das ist eine Vorbereitung auf das Kommende durch das Schöpferwort Gottes. Andererseits soll das biblische Wort nicht nur am Anfang des Tages stehen. Gottes Wort stellt mich in Frage und richtet meinen ganzen Weg durch den Tag. Es steht nicht nur am Anfang, ist nicht nur eine Vorbereitung auf den Anfang des Tages, sondern, wenn wir das Wort richtig im Sinne Luthers verstehen, richtet mich jedes Wort – und damit rettet es mich. Und wenn ich das Bibelwort im tiefsten Sinn verstehe, dann verstehe ich es als richtendes und rettendes Wort, ein Wort, welches mich in Frage stellt und mir zugleich den Weg zur Erlösung in Christus zeigt.

Ich gebe hierzu ein Beispiel:
Es kam einmal ein Namenschrist katholischer Tradition zu mir und wollte mit mir über sein Suchen nach Gott sprechen. Im Gespräch machte ich ihm Vorschläge, wie er den Weg zum wahren Jesus Christus finden könnte. Ich machte ihn auf bestimmte Bibelstellen aufmerksam, empfahl ihm, bestimmte Psalmen zu beten, auch bestimmte Bücher in der Bibel zu lesen, in denen er seinen Problemen begegnen würde . . . Er las dann eifrig in der Bibel und suchte wirklich nach Gott. Beim nächsten Treffen erzählte er, daß er auf eine Stelle gestoßen sei, die ihn aufgefordert habe: »Ich soll in Gottes Gerechtigkeit wandeln.« Wie einst Luther fragte auch er eifrig und fromm: »Wie soll ich das tun?« Ich schaute ihn an und sagte: »Du sollst überhaupt nichts tun.« In seinen Augen stand das Erstaunen: Was für ein Pfarrer ist das? Ich suche den Weg zu Gott; ich frage ihn, wie ich in Gottes Gerechtigkeit wandeln soll, und er sagt zu mir: Du sollst überhaupt nichts tun. Ich erklärte ihm weiter: »Alles ist für dich getan. Du mußt nur noch das annehmen, was für dich getan ist.« Er fragte zurück: »Ja, was?« Und ich antwortete ihm: »Das Kreuz Jesu. Er ist unsere Gerechtigkeit, mit der David schon, in Psalm 31, gerechnet hatte, der dann auch so zentral für den jungen Luther wurde. Er, Jesus an seinem Kreuz, ist unsere Gerechtigkeit. Wir können nicht gerecht werden durch unsere Werke, durch unser tägliches Leben. Wir können nur gerecht sein durch ihn, denn wir sind ohne Jesus verlorene Sünder.« Das war ein hartes Wort für ihn. Denn er war eifrig, er wollte selbst gut und gerecht sein. Und dann mußte er hören, daß jemand das alles für ihn schon getan hat und er das nur noch anzunehmen braucht.

Wie aber nimmt man diese Gerechtigkeit an? Wer innerlich zerknirscht ist über die Vergeblichkeit seiner eigenen Leistung, wer nicht mehr versucht, seine eigene Gerechtigkeit durchzusetzen, wer gerichtet ist über dieser großen Mühe, wie Luther zutiefst gerichtet war, der wird zu Gottes Gerechtigkeit gelangen. Wie viel lieber würden wir der Aufforderung Folge leisten: »Du mußt das und das tun.« Es ist viel schwieriger, anzunehmen, daß ich das nicht tun kann, sondern daß er, Jesus, das alles für mich getan hat. Es geht ganz und gar nur um Jesus, was er zu uns sagt, was er für uns getan hat. Es geht nicht um unsere Wege und unsere Gerechtigkeit. Es geht um seinen Weg und seine Gerechtigkeit. Das zu lernen ist heutzutage sehr, sehr schwer.

Wir haben zuerst über eine ungewöhnliche Lage gesprochen, wie in einer zentralen Krise unseres Lebens Gottes Wort uns Richtung geben kann. Wir haben davon gesprochen, daß Gottes Wort eine Art Vorbereitung gibt auf den Empfang des Tages, auch von Entscheidungen, und wie es uns leitet. Wir haben davon gesprochen, daß Gottes Wort uns in Frage stellen, uns richten soll, damit wir durch dieses Wort leben können. Aber, wenn wir versuchen, die Vielfalt von Gottes Wort in seiner Tiefe zu verstehen, dann gewinnt jeder Text neue Bedeutung und neuen Sinn für uns. Zuerst habe ich mich innerlich dagegen gesträubt, daß wir als Pfarrer alle sieben/acht Jahre über den gleichen Text predigen sollen, innerhalb der Perikopenreihen. Gibt es doch viele wichtige Texte, vor allem im Alten Testament, die wir so nie hören und bedenken können, um sie für die Zuhörer zu öffnen. Doch das andere stimmt auch: Zentrale Texte schauen ganz anders aus in verschiedenen Phasen unseres Lebens. In sieben/acht Jahren erkenne ich manche Texte ganz anders als jetzt. Als Beispiel möge eine zentrale Geschichte in unserer Bibel dienen, was ihre verschiedenen Schichten und Aussagen in unserem Leben bedeuten können: die Josefsgeschichte. Mir ist diese Geschichte seit langem tief vertraut. Wenn wir diese geheimnisvolle Josefsgeschichte bedenken, entdecken wir manche zentrale Aussage über das Leben, über unser Leben und über das Leben Jesu. Wir erkennen, daß Gottes Gerechtigkeit nicht immer sichtbar ist und sich nicht immer nach unseren Wünschen vollzieht, sondern uns wird hier ein Weg der Irrungen und Verwirrungen deutlich. Josef muß alles Mögliche leiden, ungerechterweise, nach unserer Vorstellung, bis die wahre Gerechtigkeit, Gottes Weg, offenbar wird. Wie viele Rückschläge muß Josef erleben. Er wird fast umgebracht, in den Brunnen geworfen von den eigenen Brüdern, als Sklave verkauft, ungerechterweise ins Gefängnis geworfen… – wie schnell haben solche Erlebnisse auch mit jedem von uns zu tun!

Jede Woche besuchte ich im Krankenhaus einen noch nicht sehr alten Mann, der an Lungeninsuffizienz litt. Wegen seiner Atemnot konnte er nicht mit mir sprechen. Er mußte schon künstlich beatmet werden. Er hat noch nie in seinem Leben mit Gott, mit Kirche, überhaupt mit dem Glauben zu tun haben wollen. Da befand ich mich in der schwierigen Lage zu versuchen, diesem Mann Gottes Wort lebendig zu machen, ohne daß er reden konnte. Ein seelsorgerliches Gespräch findet doch mit einem Ich und einem Du statt. Hier hatte ich eigentlich kein Gegenüber. Vor mir lag ein Mensch in ständiger Atemnot.
Was konnte ich tun? Ich las ihm aus der Bibel den Leidensweg Jesu vor und sprach dann ein Gebet mit ihm. Vom dritten oder vierten Mal an kam seine Frau mit. Sie beobachtete, daß das, was ihr Mann hörte, wichtig wurde für ihn. Auch ich stellte fest, wenn ich zu ihm hineinkam, daß das Atmen schneller wurde und seine Augen auf mich fixiert waren, wie man es in Gottesdiensten beobachten kann, wenn Menschen da sind, die wirklich hineinhören wollen in Gottes Wort. Bevor ich zu Kranken gehe, bete ich immer, daß Jesus sprechen soll und nicht ich, denn meine Weisheit ist Torheit und hilft nicht. Eines Tages kam ich in das Zimmer hinein, schaute den Mann an, und plötzlich kommen über meine Lippen die Worte: »Wissen Sie, Sie sind ein von Gott begnadeter Mensch.« Sehr ernst sieht er mich an, als wolle er sagen: Das ist aber eine merkwürdige Aussage für jemanden, der schon lange Zeit um Atemluft ringen muß. »Durch ihre Leiden haben sie den Weg zu Jesus Christus gefunden«, sagte ich ihm weiter, sie sind von Gott begnadet, diesen Weg zu gehen.« Ein paar Wochen später starb er. Ich habe keinen Zweifel, daß er mit seinem Heiland starb – nur durch das biblische Wort. Das war der Weg für ihn, ein Weg, zu dem jeder menschlich gesehen sagen würde: Nein, das soll mir nicht passieren. – Auch der Weg Josefs erscheint menschlich gesehen alles andere als richtig und gerecht. Aber das war Gottes Weg für ihn zu seiner Erlösung, zur wahren Erlösung.

Noch ein Beispiel aus der Josefsgeschichte: Sie zeigt, daß man nicht Böses mit Bösem vergelten soll. Josef hatte die Möglichkeit, das zu tun, als seine Brüder zu ihm nach Ägypten kamen. Gerecht wäre das gewesen in den Augen der damaligen Zeit, nach dem, was er alles von seinen Brüdern erlebt hatte. Aber er sagte: »Ihr habt es böse mit mir gemeint, aber der Herr hat das Gute vollbracht.« Ist das nicht ein zentrales Problem auch für uns?

Ich habe viele Konfirmanden gehabt, auch Lausbuben, denen man gerne sagen würde: Raus mit euch, ich will euch hier nicht mehr sehen! Ich will hier mit jungen Leuten zusammen sein, mit denen man etwas erarbeiten kann, aber dazu gehört ihr offensichtlich nicht! Ich weiß aber, wenn ich den Lausbub, der mir gegenüber nur böse ist und alles lächerlich findet, der mit seinem grinsenden Blick, den ich nicht ertragen kann, scharf angreife und die Grenze zu mir zu stark mache, dann gibt es für ihn vielleicht nie mehr ein Zurück. Denn ich bin »Kirche« für ihn, einer, der immer von diesem Jesus reden muß.
Ich denke auch an Luther und Staupitz, seinen Beichtvater. Staupitz hatte Luther als Irrlehrer aufgegeben und ganz böse auf ihn reagiert. Luther aber hat trotzdem einen großartigen Brief an Staupitz geschrieben und ihm mitgeteilt, daß Staupitz ihm durch seine Art in der Beichte den Weg zu Jesus Christus geöffnet hat, indem er immer wieder betonte, daß Luther sich auf den Frieden Gottes, auf Gottes Gnade und nicht auf seine verzweifelten Wege der Buße konzentrieren solle. Es wäre für Luther leicht gewesen, die Fehler und die Grenzen von Staupitz’ Lehre anzugreifen und zurückzukämpfen. Er hat es nicht getan. Er hat im tiefsten Sinne dankbar geantwortet.

Es gab einen berühmten Rabbiner, Leo Baeck. Der wurde vor mehr als 50 Jahren nach Theresienstadt verschleppt. Seine ganze Familie wurde vor seinen Augen von der SS brutalst umgebracht. Das traf diesen feinfühligen Mann äußerst hart. Als das Lager befreit wurde, war Baeck noch am Leben. Da wollten die Befreiten gegen diese fürchterlichen Mörder losgehen. Baeck aber hat gesagt: »Lieber bringt mich um!« Wir denken an Mose, als Israel um das Goldene Kalb tanzte, und vor allem denken wir in noch viel tieferem Sinn an Jesus Christus.

Durch solche Beispiele – wie durch die Josefsgeschichte – , daß man nicht Böses mit Bösem vergelten soll, haben wir ein zentrales Leitmotiv für unser eigenes Leben, eine Grenze für uns selbst. Denn Böses mit Bösem zu vergelten – das ist der natürliche Mensch, der Mensch, der durch das Gesetz gerichtet ist.

Wir haben bis jetzt über einzelne Beispiele nachgedacht. Jetzt will ich in bezug auf die Josefsgeschichte den Bogen weiter spannen. Ich kann die Josefsgeschichte nicht lesen, ohne ständig an Jesus Christus zu denken. Josef ist ein Leidender. Was er erlebt hat wegen der besonderen Liebe seines Vaters zu ihm, wegen seines Gerechtigkeitssinns und seiner prophetischen Gabe – da ist nichts anderes als Leiden zu erkennen, in den Brunnen geworfen, fast umgebracht, mutterseelenallein als Sklave, dann im Gefängnis . . . Immer wieder erinnert diese Geschichte an Jesus.

Denn was ist sein Weg? Nur ein Leidensweg, ein Weg vielen Erleidens bis zur Vollendung, zum Heil. So war auch der Weg zum Heil für Josef, für seine Brüder, für den Vater und für Israel vom Leiden gezeichnet.
Josef ist der Gerechte im Alten Bund. Auch andere, die gerecht handelten, wären da noch zu nennen: Noah, Henoch, auch im Leben Davids findet sich Gerechtigkeit. Aber Josef wird ausführlich als gerecht beschrieben, als jemand, der innerlich aufbegehrt, wenn seine Brüder etwas Böses machen. Fast gesetzlich kann er sein, aber gerecht. Er hält an dem fest, was er für richtig hält. Aber er vergilt nicht Böses mit Bösem und verschont seine Brüder. Er weiß, was Versöhnung ist. Da verläuft die Linie zu Jesus Christus, dem Gerechten, dem wahrhaft endgültigen Gerechten, dessen Kreuz unsere Gerechtigkeit ist. Denn der Unschuldige starb für uns Schuldige. Josef war zwar nicht in dem allumfassenden Sinn wie Jesus ohne Schuld, aber er ist der Gehorsame, der Gott gehorcht, der auf Gott wartet. Jesus war absolut gehorsam, sein ganzes Leben lang. Josef ist der Helfende, der anderen im Gefängnis hilft, der angesichts der zu erwartenden Dürrejahre hilft, sowohl den Ägyptern als auch seinen Brüdern. Und Jesus ist der endgültige Helfer in der menschlichen Not der Gottlosigkeit, der Heiland. An diesen Beispielen merken wir, daß unsere Bibel eine Einheit ist – und diese Einheit heißt Jesus Christus. Luthers Theologie griff tiefer als die heutige Theologie. Als Luther die Psalmen auslegte, sein allererstes Werk, sprach er ständig über Jesus, weil die Psalmen Jesus zum Inhalt haben.

Letzten Endes hat die ganze Bibel in der Tiefe ihrer Aussagen immer wieder mit Jesus zu tun. Alle zentralen Gestalten der Bibel sind Vorschattungen Christi, ob Josef oder Mose, Elia oder David . . . So sollen diese Gestalten gesehen werden.
Wenn ich – welche Texte auch immer – in der Bibel lese, entdecke ich: Hier wird Jesus vorausgesagt, tausend Jahre bevor er kam; hier und da ist eindeutig Jesus gemeint.

Wenn Spötter fragen: »Wo ist denn dein Gott?«, dann gründet meine Antwort in der Entdeckung, daß das ganze Alte Testament von dem kommenden Christus zeugt. Unser Glaube braucht die tiefgreifende Bestätigung aus einer umfassenden biblischen Kenntnis. Luther verdeutlichte es: Die Bibel Alten und Neuen Testaments legt sich selbst aus, und der Mittelpunkt der Bibel ist Jesus Christus, von dem der Schreiber des Hebräerbriefs bezeugt: »Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.«

Das Zeugnis von ihm zieht sich durch die ganze Bibel als ihr Mittelpunkt hindurch. Diese Entdeckung bestätigt meinen Glauben und gibt mir die feste Zuversicht in Gesprächen mit Atheisten, mit Leuten, die Gottes Wort nicht hören wollen – denn ich weiß: Dies ist die Wahrheit.
Solche Gewißheit ist wichtig in unserem Umgang mit der Bibel. Sie ist nicht nur in seelsorgerlichem Sinn wichtig für unser Leben, sondern es geht um die Wahrheit. Und hier ist die Wahrheit. Nachdem ich 18 Semester lang in allen möglichen Fächern studiert und nach Wahrheit gesucht und keine gefunden hatte, habe ich angefangen, die Bibel zu lesen. Ich fand zuvor keine Antwort auf die zentralen Fragen. Nun aber fand ich Antwort um Antwort, wo auch in der Philosophie keine Antwort zu finden war. Beim Bibellesen entdeckte ich: Hier ist Christus bezeugt, als mein Heiland, mein Leben, mein Erretter, meine Zukunft und die Zukunft der ganzen Welt.

Die Josefsgeschichte zeigt uns, wie der Herr ans Ziel kommt. Sein Ziel ist die Errettung Israels. Wenn Josef nicht Sklave geworden wäre, wenn Josef das alles nicht erlebt hätte, wären die Israeliten damals alle verhungert. All die Ungerechtigkeiten, die Josef erleben mußte, waren das Heil Israels. Denn Gott war mit Israel. Darin erkenne ich auch die endzeitliche Bedeutung der Bibel.
Es geht in ihr nicht nur um das erste Kommen Jesu, sondern auch um sein Wiederkommen. Die Josefsgeschichte ist eine Darstellung der Juden und der schrecklichen Ungerechtigkeiten, die sie erlebt haben. Immer wieder haben sie die andere Wange hingehalten – nicht weil sie es wollten, sondern weil sie es mußten. Aber durch die Leiden dieses Volkes kommt unser Heil. »Das Heil kommt von den Juden« (Johannes 4), durch Jesus Christus, so sagt er es selbst.
Die schrecklichen Ungerechtigkeiten, die Israel durch uns Christen während Jahrhunderten erlebte – im letzten von Brüdern! – sind Gottes Weg zum Ziel. Und das Ziel ist die Wiederkunft Jesu, welche die Versöhnung beider Bünde in seinem Reich bringt.

So geht Gott auch mit jedem von uns persönliche Wege, mitunter Wege, die uns gar nicht gefallen. Oder es sind Wege, die wir so nie erwartet hätten – und bringt uns zum Ziel, zu seinem Ziel mit uns. Meine »Josefsgeschichte« war von vielen Veränderungen meines Wesens und Willens geprägt. Niemand hätte vor 50 Jahren damit rechnen können, daß ich einmal in Deutschland als evangelischer Pfarrer Jesus Christus als meinen Heiland bezeugen würde. Ich lebte mit meinen Eltern in den USA und war als Jude mit dem Geist von Dichtung, Kunst und Wissenschaft erfüllt.

Gott stellte mich in ein neues Land, schenkte mir einen neuen Glauben und ein neues Leben, und er vertraute mir eine Frau an, die überhaupt nicht zu mir als Juden »passen« würde. Alles hat er geändert. Das letzte Wort meiner Mutter, bevor ich 1961 nach Europa ging, lautete: »Geh nicht nach Deutschland!«
16 Jahre nach Auschwitz nur zu verständlich. »Und wenn du schon nach Deutschland gehst, bring mir keine deutsche Frau.«
Das vierte Gebot, »Ehre Vater und Mutter«, gilt (nach dem ersten) als das für Juden am schwersten zu erfüllende Gebot. Ich habe es gebrochen. Es war Jesu Weg mit mir, nicht mein Weg. Er trat in mein Leben. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß uns beim Lesen der Bibel Gottes Heilsplan mit Israel und mit der Welt bis zur Wiederkunft Jesu vor Augen gestellt wird. Der Glaube erkennt, daß Gott einen Weg und ein Ziel mit der Welt hat. Und sooft wir die Bibel zur Hand nehmen, erschließen sich uns neue Zusammen hänge in einer erstaunlichen geistlichen Vielfalt. Durch die Schrift sehen wir den wahren Geist Jesu Christi, sehen wir Gottes Heilsplan mit der Welt und sehen wir, was Gott auch mit uns persönlich vorhat.

Darum ist die Bibel zentral für uns, weil ihr Wort und Jesus Christus eins sind.

Die klagende Witwe (Lukas 18, 1-8)

Um uns die Tiefe von Gottes Gerechtigkeit und die wahre Kraft des Gebetes vor Augen zu führen, zeigt uns Jesus ein Beispiel von weltlicher Klage und weltlicher Gerechtigkeit, um zu der Schlußfolgerung zu gelangen: »Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen?« Dazu betont er, daß »der Herr in Kürze Recht schaffen« werde.

Eine solche Aussage führt uns leicht zu dem Schluß: Wenn ich wirklich Tag und Nacht um etwas bete, dann werden also meine Gebete erhört und erfüllt, und zwar in kurzer Zeit. Aber, was bedeutet hier »Recht schaffen«?
Wer sagt zum Beispiel, daß die Anliegen der Witwe in unserer Geschichte »recht« sind, richtig sind? Ihre weltlichen Anliegen werden durch weltliche Mittel vorgebracht, indem sie das Leben des Richters so belasten, daß er konfrontiert wird mit seinem eigenen Mittel, denn er fürchtet Gott nicht und scheut sich vor keinem Menschen. Unter solchem Druck gibt dieser Richter nach. Darüber müssen wir uns im klaren sein: Dieser ungerechte Richter gibt nur nach, sobald seine eigenen Mittel gegen ihn eingesetzt werden. Und wenn dann die Witwe bekommt, was sie will, bedeutet das nicht von vornherein, daß ihre Methoden richtig waren, so wenig wie ihre Ziele. Darüber wird im biblischen Text nichts gesagt.

Darum müssen wir ganz andere Mittel und ganz andere Ziele im Auge haben, wenn es darum geht, im göttlichen Sinne Recht zu schaffen, als wenn es in unserem Sinne darum geht, recht zu bekommen.

Jesus nennt uns die wahre Methode des Gläubigen, daß er im Alltäglichen recht bekommen wird, sogar in Kürze: Gebet! Aber er sagt uns nicht, was es bedeutet, im göttlichen Sinne recht zu bekommen; denn im Mittelpunkt jeden Bittgebets soll stehen »Dein Wille geschehe«. Wir müssen inbrünstig beten im Blick auf das, was wirklich für uns wichtig ist, aber dabei ganz und gar unsere Person und unser Anliegen dem Herrn übergeben, dann wird er in kurzem für uns »Recht« schaffen. Mit dieser Überlegung sind wir ans Ziel gekommen, zu einer Antwort auf das, was »unser Recht bekommen« im göttlichen Sinne bedeutet. Jesus Christus ist unsere Gerechtigkeit. Er steht für uns an der Stelle des jüdischen Gesetzes, des Gesetzes Mose. Er schafft Recht für uns, indem er Gottes ganze Anforderungen an uns Menschen erfüllt hat in seinem Lebenswandel und vor allem am Kreuz, wo alles »erfüllt« wurde. Recht zu bekommen für unsere Sache, bedeutet dann für uns Gläubige, daß wir unser Anliegen und unsere ganze Person dem Herrn völlig übergeben, daß wir seinen Willen bejahen und annehmen, denn er schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden. Wir wissen, der Herr steht zu mir, er sieht und kennt meine Anliegen, meine Not. Weil er mein Herr ist und ich nicht über ihn herrsche mit meinen Anliegen, weiß ich, daß ich in Freude und in Leiden annehmen soll, was er mir schenken wird. Und öfters – anders als bei der weltlichen Klage der Witwe in unserer Geschichte – wird der Wille des Herrn geheimnisvoll für mich sein, öfters ganz anders, als ich es gedacht und gewünscht habe. Christen, anders als weltliche Menschen, glauben nicht, daß ihre Wege und Ziele die wahren Wege und Ziele sind, sondern wir leben bescheiden in der Nachfolge Christi, um anzunehmen, was er uns bereitet, sei es ein Gutes oder ein Leid . . .


Eigentlich zeigt uns der letzte Satz unseres Textes, wenn wir ihn richtig verstehen, den wahren Sinn unserer Worte: »Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, er werde den Glauben finden auf Erden?« Wie die klagende Witwe drängen wir auf die Erfüllung unserer Wünsche, sehen auf unsere Gerechtigkeit, auf die Ziele, die wir uns gesteckt haben. Darüber haben wir das wahre Ziel, nämlich den Glauben an Gottes Gerechtigkeit, an seine Weisheit, an seine Führung nicht mehr vor Augen. Wenn unsere Ziele für uns so wichtig geworden sind, daß alle Methoden, auch die der weltlichen, gottlosen Richter, annehmbar sind, dann richten wir uns selbst durch solches Vorgehen, und zwar im ewigen Gericht.

Wie viele von uns stehen näher bei der klagenden Witwe, und wie viele von uns leben in Demut im Gebet und nehmen das an, was der Herr uns gibt, nach seiner Weisheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, auch wenn es entgegengesetzt ist zu dem, was wir gerade wollen?
Ist es nicht so, daß wir öfters so überzeugt sind von der Richtigkeit unserer Ziele, daß wir sogar Methoden anwenden, welche nicht ganz und gar rein sind – wir haben das Recht »gepachtet«, wir sehen die Gefahren, wir wissen um die Ziele – , und darum ist fast jede Methode erlaubt. Vielleicht erreichen wir sogar unsere Ziele, aber der ganze Vorgang setzt voraus: Ich schaffe es, wie und wann ich will. Darum warnt Jesus uns in diesem Gleichnis, die Gerechtigkeit nicht in unsere Hände zu nehmen durch die Methode der klagenden Witwe oder die des ungerechten, gottlosen Richters.

Aber, wie steht es dann mit dem Gebet? Ich kam einmal spät und sehr müde nach Hause. Ich hatte viele Sorgen und schlief nicht gut. Mitten in der Nacht wachte ich auf mit einem hilflosen Gefühl: Wie soll das alles gutgehen? Wer weiß, was die Zukunft bringen wird? In dieser Zeit habe ich an dem, was ich für richtig hielt, ganz und gar festgehalten, und ich konnte nicht verstehen, wie vielleicht etwas ganz anderes passieren könnte. Aber – und dieses Aber umfaßte wirklich nur eine sehr kurze Zeit – plötzlich dachte ich an Jesus, nicht mehr an mein Ziel, an das, was ich für gerecht und richtig hielt, sondern allein an ihn. Ich spürte – wie ich es noch selten erlebte – , wie nahe er wirklich bei mir war, und ich sagte innerlich: »Herr Jesus, du bist bei mir, du bist der Gerechte, dein Wille geschehe, auch gegen meinen Willen. Deine Ziele sollen erreicht werden und nicht meine.« Und dann kam diese wahre, tiefe Stille über mich, seine schützende Hand, und ich war ganz und gar getrost, daß er alles gut und gerecht machen wird, daß sein Wille geschieht, – und dann hat er mir in kurzer Zeit Recht geschaffen, indem ich ihn als die Gerechtigkeit selbst annahm, nicht mehr meinen Willen und meine Wege durchsetzen wollte.

Vielleicht teilen manche mit mir meine Sorgen um die Zukunft. Manchmal sehe ich solche Bilder vor meinen Augen: Ich werde älter und schwächer; niemand wohnt im Hause außer meiner Frau und mir; vielleicht wird sie krank und sterben, und dann bin ich allein; oder vielleicht werde ich meine Kraft verlieren und keinen wahren Auftrag mehr im Leben haben; oder vielleicht dieses oder jenes. Und das Wissen ist ein Stück Lebenserfahrung, daß alles, was ich fürchte, irgendwann in irgendeiner Art und Weise eintreffen wird, und dann fühle ich mich innerlich total verunsichert. Gerade wenn solche Gedanken und Gefühle mich überwältigen – und das ist nicht selten – , dann fühle ich, wie schwach ich wirklich bin, und ich spüre meine Vergänglichkeit und die Eitelkeit meines Lebens und meiner Wünsche. Dann, gerade dann hilft nur eines – Gebet. Gebet im wahrsten und tiefsten Sinne, die Übergabe des eigenen Anliegens, des eigenen Lebens, der eigenen Person an den Herrn. Dann wird mir bewußt, daß das wirklich so ist, daß alles, was ich habe, und alles, was ich bin, vom Herrn kommt, aber auch von ihm genommen wird.
Und wenn ich mir im tiefsten darüber bewußt werde und mich meinem Retter als meinem Heiland ganz und gar überlasse, dann schafft er mir Recht im wahrsten und tiefsten Sinne, indem er, der gekreuzigte Jesus, für mich einsteht, für meine Person mit allen meinen Schwächen, meiner Vergänglichkeit, meiner Eitelkeit, und ich höre seinen Ruf: »Kommet her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken.«

Dann spüre ich nicht nur, daß er mich annimmt mit allen meinen Unzulänglichkeiten, sondern ich weiß auch: Er wird alles recht machen, er ist der Herr meines Lebens und nicht ich. Dann schafft er mir Zukunft aus meiner Vergänglichkeit, denn die Zukunft gehört ihm allein, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, und er eröffnet diese wahre, rechte Zukunft für mich in meiner Schwachheit und Verlorenheit.

So meint es Jesus: »Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er es bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen – in Kürze.« Jesus mahnt jeden von uns: »Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, er werde den Glauben finden auf Erden?«

Christliche Kultur – eine Einführung

Graf von Zinzendorf war in seinen jungen Jahren ein Liebling der aristokratischen Gesellschaft, passionierter Tänzer und Idol der Frauen seiner Zeit – Zinzendorf wurde später einer der großen pietistischen Väter. Sein Weg dazu begann während einer Reise, auf der er in Düsseldorf Halt machte. Dort fiel sein Auge auf ein Bild der Kreuzigung Jesu. Bei diesem Bild stand: »Das tat ich für dich. Was tust du für mich?«
Das Anschauen dieses Bildes hat die Türe zum Herzen des Grafen von Zinzendorf geöffnet – er wurde ein frommer Christ. Sein Leben wurde total verändert. Das Bild war von Feti gemalt worden, einem Künstler, der in der Tradition der katholischen Gegenreformation stand. Gottes Wege können merkwürdig sein – ein junger Adliger, der ein verdorbenes Leben geführt hatte, kommt zum Glauben an Jesus Christus durch das Bild eines bewußt katholischen Malers und wird zu einer zentralen Gestalt des Pietismus. Katholische und evangelische Theologie sind nicht dasselbe. Aber hier geht es um die Frage der Glaubensdarstellung in der Kunst. Viele der größten Künstler lebten in katholischer Tradition, malten oder komponierten aber oft evangelisch, im Sinne biblischer Theologie. Am Beispiel des Erlebens Zinzendorfs in Düsseldorf läßt sich zeigen, wie zentral ein Kunstwerk sein konnte für Entwicklungen im christlichen Abendland.

Ich werde immer wieder einmal danach gefragt, wie ich zum Glauben kam. Grundsätzlich will ich zwar nur über Jesus reden, aber ich möchte im Zusammenhang dieses Themas doch einmal etwas von mir erzählen. Ich bin nicht jemand, der vom Glauben den Weg zur Kultur ging, sondern der von der Kultur zum Glauben kam. Ich wurde als aufgeklärter, liberaler, moderner Jude erzogen und komme aus einer wohlhabenden Familie, die in dritter Generation in den USA lebte. Die Großeltern waren teils sehr fromm, meine Eltern hingegen nicht. Meine frühen Jahre, als Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts, waren vorwiegend dem Sport gewidmet. Ich war bester Sportler, überall aktiv mit dabei, flink wie eine Maus. Ich wußte alles über Baseball und den amerikanischen Football bis ich 13 Jahre alt wurde und meine Bar-Mizwa feierte, eine Art Konfirmation in der jüdischen Tradition. Ich wurde als Mann in die Synagogen-Gemeinde aufgenom men. Das brachte innerhalb von zwei Wochen eine riesige Verän derung mit sich. Während dieser Zeit sagte meine Schwester zu mir, die eine ausgesprochene dichterische Begabung hatte: »David, hast du Dostojewski gelesen?« Ich gestand ihr: »Du weißt, ich habe gar nichts außer Sportbüchern gelesen.« Niederschmetternd war ihre Reaktion: »Wenn man Dostojewski nicht gelesen hat, hat man nicht gelebt.« Das traf mich hart. Entschlossen nahm ich mir vor, etwas von Dostojewski zu lesen. In der Bibliothek lieh ich mir sein Buch mit dem Titel »Arme Leute« aus. Meine Eltern waren nicht gerade arm. So sah meine Mutter mich an und fragte: »Was willst du mit >Armen Leuten< zu tun haben, David? Du wirst nur traurig sein, wenn du etwas über sie liest.«
Aber ich las Dostojewski – nicht nur dies Buch. Mit der Zeit lernte ich, selbst zu schreiben – im Alter von 13 Jahren war das ein ziemlich später Anfang. Aber innerhalb eines Jahres gab es einen Durchbruch, ich fing an zu dichten. Mit 14 Jahren beschäftigte ich mich mit Beethovens späten Quartetten und mit Bachs h-Moll-Messe. Innerhalb eines Jahres drang ich vor vom Analphabeten in Tiefen der Kunst. Mit 16 Jahren entdeckte ich meine beiden Lieblingskomponisten, Heinrich Schütz und Joseph Haydn. Heute denke ich: Schütz ist der Inbegriff eines evangelischen Komponisten, nicht Bach. Schütz’ musikalisches Schaffen ist eigentlich Worttheologie, seine Musik ist auf das Wort der Bibel ausgerichtet – das fesselte mich, besonders als ich mit 16 Aufnahmen hörte, die Grischkat in Stuttgart dirigiert hatte, der große Schütz-Interpret. Dann begann ich russische Romane zu lesen, Werke, die für uns Ostjuden immer zentral gewesen sind (meine Vorväter stammen aus dem russisch verwalteten Teil Polens). Neben Dostojewski beschäftigte mich Tolstoi. Wenn ich beide theologisch auch nicht empfehlen kann, haben mir diese Werke doch den Weg gezeigt.
Als ich immer mehr religiöse, christliche Musik hörte, stutzten meine Eltern: »David hört die h-Moll-Messe – tut ein Jude so etwas?«
Ja, ich hörte die Passionen von Schütz – , und wer sie kennt, weiß, daß sie klare Wortverkündigung sind. Damals wußte ich noch nicht, daß die Werke des achtzigjährigen Komponisten die innere Vorbereitung für meinen Weg zu Jesus waren. Und als ich zum Glauben kam, konnte ich zurückblicken und sehen, wie der Herr mich durch diese Erlebnisse mit Bach und Schütz und Mendelssohn-Bartholdy zu sich geführt hat.
Als ich dann später in New York bei manchen der besten Kunsthistoriker unserer Zeit (das waren meistens deutsche Juden, die ausgewandert waren) Kunstgeschichte studierte, u.a. bei Horst Janson, da habe ich gelernt zu sehen. Das hilft mir heute außer ordentlich, Gottes Wort zu verstehen, denn Bild und Worttheolo gie sind kein Widerspruch. Es wäre unsinnig, das zu behaupten, denn die Bibel redet durch Bilder in Worten. In der ganzen Bibel finden wir eine Fülle von Bildern. So gehen auch alle meine Veröffentlichungen letzten Endes zurück auf die Bildsprache der Bibel. Gerade die Beschäftigung mit der Malerei, in der ich lernte, die Einheit zwischen Wort und Bild in der Kunst mit eigenen Augen zu sehen, hat mir besonders geholfen, die Bibel in der Tiefe ihrer Sprache zu verstehen.
Ich schreibe immer noch Gedichte, ich kenne mich in der Musikgeschichte aus und bin in der Geschichte der Malerei be wandert. Ich habe viel Freude an der Beschäftigung mit unseren Kulturgütern. Aber Kultur kann auch zu einer Gefahr für die Christen werden. Ich nehme das nicht auf die leichte Schulter. Die Gefahren im Mittelpunkt zu sehen und nicht die Möglichkeiten, ist jedoch zu leicht unsere Tendenz. Ich weiß um die Gefahr, sich in der Beschäftigung mit der Kultur zu verlieren.

Es gibt Chöre, die sich weigern, im Rahmen von Gottesdiensten zu singen. Andererseits gibt es Menschen, die in der Passionszeit in eine Aufführung der Matthäus-Passion gehen, aber sie würden nie in einen Gottesdienst gehen; die Musik selbst ist für sie zu einem Glaubensersatz geworden – obwohl solch eine Haltung ganz gegen die von J.S. Bach steht, der diese Werke in tiefer Gläubigkeit geschrieben hat, nicht anders als Händel seinen »Messias«, Schütz seine Passionen und Haydn seine großen Messen. Die Aussagen dieser Werke sind alle aufs Kreuz Jesu bezogen. Eine Germanistikstudentin aus meiner Gemeinde brachte mir einmal ein Gedicht von Gerald Manley Hopkins, einem bekannten englischen Dichter, der bekennender Christ war. Dieses Gedicht ist eine Umschreibung des 90. Psalms, des Todespsalms. Ihr Professor war über diese Interpretation sehr überrascht – er hatte keine Ahnung vom biblischen Hintergrund. Warum lassen wir Kulturgut mißbraucht werden von säkularen Menschen, als ob diese große Kunst nicht christliche Kunst wäre?

Unser Sohn hatte einen Lehrer, der redete über die Bibel als vom größten aller Bücher. Die Bibel ist für ihn ein Buch wie die Werke Shakespeares oder Tolstois, – aber nicht Gottes Wort. Das sind Kultur-Christen, und das ist kein Weg. Da liegt eine große Gefahr. Das verschweige ich nicht. Im Umgang mit Kulturgeschichte soll man von vornherein die Grenze zu dieser Problematik sehen. Der Glaube an Kultur kann uns von Christus wegbringen, wie es bei vielen Menschen geschehen ist. So war auch Bultmann ein Kultur-Christ, und das hat vielleicht zu seiner diesseitigen Theologie geführt.

Solche Gefahren sind aber kein Grund, sich nicht mit großer Kunst zu beschäftigen, die wahre Verkündigung sein kann. Wir müssen lernen, die Geister zu unterscheiden. Das war immer ein Problem in gläubigen Kreisen.
Die Möglichkeiten, die christliche Kultur uns für die Verkündigung bietet, sind groß und vielfältig. Zinzendorf ist nicht der einzige, dem durch die Kunst der Weg zum Wort Gottes gewiesen wurde. Unter gläubigen Christen herrscht jedoch eine weitverbreitete Kultur-Ignoranz. Man kann über einen Schriftsteller wie Dostojewski sagen hören, daß man seine Bücher nicht lesen darf. Oder Mozart darf man nicht hören, weil er Freimaurer war. Solche Aussagen sind unqualifiziert. Mozart war zwar Freimaurer – und ich muß Freimaurerei ablehnen – , aber seine großartige Musik hat nicht im geringsten etwas mit seinem Freimaurertum zu tun. Das größte geistliche Werk Mozarts ist seine c-Moll-Messe, für deren Komposition er sich die h-Moll-Messe von J.S. Bach zum Vorbild genommen hat. Mozart hat Bachs Werke gekannt. Alfred Einstein, der Bruder des Physikers, ein großer Musikwissenschaftler, hat das dokumentiert. Gerade in der Entstehungszeit der Werke, die im Köchelverzeichnis unter den Nummern 390 – 430 erfaßt sind, war Mozart ganz und gar von Bach geprägt. Besonders in dieser Phase hat die Freimaurerei in Bezug zu seiner geistlichen Entwicklung in der Musik nicht die geringste Bedeutung. Pauschalablehnung wäre hier nicht angebracht.

Oder denken wir an Dostojewski. Er war als Epileptiker sehr krank, aber auch der Spielleidenschaft verfallen; das ist unzweifelhaft so, denn er hat es selbst beschrieben. Sein großer Roman »Die Brüder Karamasoff« ist eine Studie über drei Menschentypen – den Sinnlichen, den Intellektuellen und den Christen. Der Sinnliche, Fjodor, endet in Selbstzerstörung durch seine Sinnlichkeit. Der Intellektuelle, Iwan, ist ständig im Streit mit dem echten Christen, und er bricht geistig zusammen. Und der wahre Christ, Aljoscha, wächst und wächst in seiner Persönlichkeit durch Christus.

Dieses Thema hat Hemingway aufgegriffen in seinem Buch »A Farewell to Arms« (»In einem andern Land«). Er beschreibt zwei zentrale Typen: einen einfachen Priester, der aus dem Gebirge kommt, und einen gerissenen, intellektuellen Arzt, der mit diesem Priester zynisch umgeht. Beide kommen im Ersten Weltkrieg an die Front. Der Arzt bricht zusammen, und der Priester wächst in seiner Persönlichkeit durch seinen Glauben. Man könnte eine Doktorarbeit über das Thema schreiben: Der Intellektuelle im Gegenüber zum wahren, geistlichen, gläubigen Christen in der abendländischen Literatur.

Dostojewskis Gottesverständnis ist bemerkenswert, denn es enthält eine gewisse biblische Wahrheit: Auch große, heilige Menschen sind große Sünder. Denken wir an Mose, den Totschläger, an David, den Ehebrecher und Mörder, an Maria Magdalena, aus der Jesus sieben böse Geister vertrieb, darunter vielleicht auch den Hurengeist, oder an Saulus, den Mörder, der auf dem Weg zum Massenmörder war . . .

Auch Luther steht in dieser Reihe großer Gläubiger, die auch große Sünde auf sich luden; es ist erschütternd, was er in seiner Schrift »Die Juden und ihre Lügen« über die Juden gesagt hat. Aber wir brauchen das nicht zur Theologie zu machen. Denn schon beim aufmerksamen Lesen der Bergpredigt merken wir, was für schuldige und sündige Menschen wir alle sind in Gottes Augen. Denn nach der Bergpredigt Jesu ist jeder, der je gehaßt hat, in Gottes Augen ein Mörder im Geist; und wer je begehrt hat außer der Ehe, ist in Gottes Augen ein Ehebrecher. Dostojewski listet in seinem Werk solches auf und steht damit nicht weit außerhalb biblischer Aussagen über uns Menschen.

Tolstoi hat eine absolut falsche Theologie entwickelt. Er ist der Vater der Friedensbewegung. Denn in seinen späten Werken kam er zu dem Standpunkt, daß die Bergpredigt menschlich erfüllt werden müsse. Das ist aber unhaltbar, denn die Bergpredigt verlangt Vollkommenheit, wenn Jesus in ihr zentral fordert: »Ihr müßt vollkommen sein wie Gott.«
Tolstoi entwickelt in seinen späten Werken eine merkwürdige Theologie: »Das Reich Gottes ist in uns«, und in noch späteren Kleinschriften argumentiert er: »Wir müssen selbst Frieden auf Erden schaffen, wir sind die Friedensstifter, wir müssen die Bergpredigt selbst erfüllen.« Er versteigt sich zu der Behauptung, sexuelles Verlangen nach seiner eigenen Frau sei Sünde. Auch in seinen frühen Schriften läßt sich eine erstaunliche Tiefe christlich geprägten Denkens aufzeigen. In »Krieg und Frieden« zum Beispiel gibt es eine Stelle, die mich gefesselt hat, bevor ich gläubig wurde. Sie ist eine Selbstdarstellung Tolstois: Pierre kommt aus der Gefangenschaft unter Napoleon nach Hause zurück und findet zum Glauben an Jesus Christus. Tolstoi läßt Pierre sagen: »Es gibt drei Dinge im Leben, die zentral sind: Ich will wissen, was das ist, zu beten, wenn man wirklich glaubt. Ich will wissen, was das ist, zu lieben und geliebt zu werden. Und ich will wissen, was große Kunst eigentlich beinhaltet im Sinn unseres Schöpfers.« Diese zentrale Aussage hat mich außerordentlich betroffen gemacht, als ich noch nicht gläubig war.

In Tolstois »Tod des Iwan Iljitsch« erleben wir einen Mann, einen Erfolgsmenschen, im Sterben; er ist ein bedeutender Jurist, und alle denken nur daran, seine Stelle zu bekommen. Aber er hat eine problematische Ehe – seine Frau ist ein Püppchen und redet entsprechend mit ihm; darüber ist er verärgert. Familiär hat er nur eine Beziehung, die ihm etwas bedeutet, und das ist die zu seinem Sohn, der zu der Zeit ein Gymnasiast ist. In dieser Situation erlebt er plötzlich Umkehr, Buße, als ihm bewußt wird, daß sein ganzes Leben sinnlos ist. Er erlebt den Weg einer »Auferstehung« zu einem Neuanfang. Diese Aussage hat mich tiefbewegt, als ich auf dem Weg war, Christ zu werden. Als dritten seiner großen Romane hat Tolstoi noch ein Buch geschrieben mit dem Titel »Auferstehung«. Darin wird ein reicher, angesehener Richter mit einer Dirne konfrontiert, die alles Mögliche hinter sich hat. Und er merkt plötzlich: Dieses Mädchen habe ich verführt, als sie 17 Jahre alt war. Ich habe sie auf diese Wege gebracht. Das Leben dieses Mannes wird zutiefst erschüttert. Er soll sie richten, hat sie aber selbst auf diesen Weg gebracht. Er geht dann mit ihr in die Verbannung, zu der er sie dem bestehenden Recht nach verurteilen muß, obwohl er weiß und merkt, daß sie nichts für ihn übrig hat; trotzdem geht er mit ihr. In dieser Handlung steckt tief verborgen eine christliche Aussage.

Solche Literatur birgt wichtige Dokumente; sie öffnen Wege, auf denen Menschen wie David Jaffin zum Glauben geführt werden können. Und wenn diesen, warum dann nicht auch viele andere, die sich mit Kultur beschäftigen? Wenn wir aber kulturfeindlich, desinteressiert sind, verbauen wir uns den Zugang zu diesen Menschen.

Es gibt Menschen, die sich mit Kultur beschäftigen und denen dadurch der Weg zu Jesus geöffnet wurde. Ich denke da an einen jungen, einflußreichen französischen Schriftsteller, der einige meiner Gedichte hörte, die in Paris über Radio France vorgelesen wurden. Daraufhin schrieb er mir einen Brief, in dem ich las: »Sie sind Geistlicher. Ich bin kein gläubiger Mensch. Aber ich muß ehrlich gestehen: Wenn ich meine Lyrik erkläre, kann ich nur den Wortschatz der Metaphysik und vor allem den des Glaubens benutzen.« Solch eine Erkenntnis kann zu einem guten Anfang eines persönlichen Glaubens werden. Viele Möglichkeiten werden verschlossen bleiben, wenn wir mit Menschen ins Gespräch kommen und sie sofort merken, daß wir von ihrem Denkhintergrund keine Ahnung haben. Da fallen Türen ins Schloß. Mit solchen Menschen will man dann nichts zu tun haben. Aber so sollte es nicht sein, denn Jesus ist für jeden da, auch für Gebildete und Kulturkenner – nicht nur für Fischer.

Wie ist unser Verhältnis zum Theater?
Augustin
war sicherlich einer der größten Kirchenväter und mit Luther und Calvin einer der größten Theologen. Augustin sagte: »Theater ist übel.« Damit hat er eine durchgreifende pietistische Tradition begründet. Die Theater wurden durch die Puritaner 1642 in England geschlossen, als Reaktion auf ein damals frivoles Theater. Augustins Verständnis von Theater basierte nicht auf dem großen griechischen Theater, von dem wir viel lernen können, sondern auf dem frivolen und gewalttätigen römischen Theater seiner Zeit, das durch und durch heidnisch war und von Übel für jeden Christen. So war es auch, als die Theater in England geschlossen wurden. Nicht Shakespeare war die Ursache – von dem wir viel lernen können – , sondern die frivolen Dramen jener Zeit. Damit brauchen wir allerdings nichts zu tun haben als Christen. Aber das bedeutet doch nicht, daß Theater geschlossen werden sollten, in denen Shakespeare aufgeführt wird oder auch Strindberg, ein wenn auch merkwürdiger Christ, aber seine Verkündigung über Paulus in dem Werk »Auf dem Weg nach Damaskus« ist sehr interessant. Auch er hat mich beeinflußt, als ich siebzehn, achtzehn Jahre alt war. Gewiß, er hatte ein sehr schwieriges Leben geführt, ging merkwürdige Wege, aber er bekennt sich zu Jesus als seinen Heiland und seinen Erlöser. Es gibt bewußte Christen unter den Dramatikern, z.B. Paul Claudel und Thornton Wilder und andere.

Der Grundgedanke wahren Theaters ist es, den Menschen zu entblößen. Im griechischen Theater trägt jeder eine Maske, denn der Mensch ist ein Heuchler. Das griechische Wort für Schauspieler ist verwandt mit dem Wort für »Heuchler«. So ist die Zielsetzung der großen Dramatiker, die Menschen zu entblößen und zu zeigen, wie sie wirklich sind. Die größten Dramatiker, Sophokles und Shakespeare, entblößen wie kein anderer. Aber, ist das nicht auch ein zentraler Teil der Predigt? Ist der Prediger nicht da, um die Menschen zu entblößen in ihrer Heuchelei, in ihrer Selbsttäuschung in Bezug zu Schuld und Sünde und zum Tod? Gewiß, das ist nur der erste Schritt. Nachdem der Mensch entblößt ist, muß er überdeckt werden mit Jesu Kreuzesblut. Aber die Reihenfolge ist sehr wichtig. Shakespeare und Sophokles fordern heraus, ehrlich mit uns selbst zu sein. Jesus sagt, wir müssen den Balken aus unserem eigenen Auge entfernen.

Goethe verkehrte als junger Mann in pietistischen Kreisen und schrieb unter diesem Einfluß seinen »Urfaust«, in dem man Verkündigung entdecken kann. Manche sagen, Goethes Auffassung von Glauben ist anders als unsere. Das ist richtig. Aber der Glaube hat den jungen Goethe bewegt.

Es gibt ein noch radikaleres Beispiel: Friedrich Nietzsche, der Gottesspötter sondergleichen des 19. Jahrhunderts. Mit 18 Jahren schrieb Nietzsche mit »Der unbekannte Gott« eines der großartigsten religiösen Gedichte in der deutschen Literatur. Aber Nietzsche nicht zu zitieren, weil er ein Gottesspötter ohnegleichen war, ist sicher zu weit gegriffen, besonders wenn er nach dem Schreiben dieses Gedichtes vom Glauben weggekommen ist. Wir wollen von dem Werk ausgehen und nicht von dem Menschen. Das ist eine sehr zentrale Aussage. Es gibt großartige Werke von Mozart, die überhaupt nichts mit Freimaurertum zu tun haben.
Es gibt großartige Verkündigung von Tolstoi und Dostojewski, die überhaupt nichts mit ihrer Theologie zu tun haben. Und es gibt sogar Glaubensaussagen von Goethe und Nietzsche, so daß wir sie nicht mit ihrem ganzen Denken verwerfen müssen.

Es gibt katholisch und evangelisch geprägte Kultur. Das beobachte ich, auch ohne kirchlicher Ökumeniker zu sein. Ich bin in meiner theologischen Auffassung durch und durch evangelisch: allein Jesus Christus, allein die Heilige Schrift, allein durch Gottes Gnade aus Glauben. Das gilt in meiner Theologie, aber nicht immer in meinem Kulturverständnis.
Viele der größten christlichen Maler waren katholisch, aber sie waren zum guten Teil biblisch in ihren Bildern. Denken wir an Leonardo da Vincis »Das letzte Abendmahl«. Auf diesem Bild ist alles biblisch, genauso wie in der Darstellung des Abendmahls von Tilman Riemenschneider. Im Louvre in Paris wird das berühmte Bild von da Vinci gezeigt, auf dem der Künstler Jesus als Säugling darstellt; was um das Kind vor sich geht, interessiert es nicht, nur das Lämmchen neben sich. Das ist ganz und gar evangeliumsgemäß: Von Anfang an denkt Jesus an das »Lamm, das der Welt Sünde hinweg trägt«, an sein Kreuz. Das ist keine untypische katholische Darstellung. Es ist eine wunderbare Verkündigung.

Ein ganz anderes Gebiet biblisch orientierter Kunst bringt die russische Ikonen-Malerei, vor allem die Nowgorod-Schule und die Moskau-Schule des 15. Jahrhunderts. Die Voraussetzung für diese Maler war: Sie mußten sich in die Schrift vertiefen, bevor sie malten.
In der Reihe der größten religiösen Maler würde ich Giovanni Bellini im gleichen Atemzug mit Rembrandt nennen. Dürer gilt als evangelisch – aber Giovanni Bellini hat ihm geholfen, zu einem großen Maler zu werden. In Wien begegnete Dürer neben Mantegna besonders Bellini, der einen starken Einfluß auf ihn ausübte. Ich stieß auf diesen Zusammenhang während einer Reise nach Venedig, die unter dem Leitwort stand »Kunst als Verkündigung«. Wir waren dort die ganze Zeit mit Bellini beschäftigt, und es wurde uns deutlich, wie häufig Bellini Jesus als Kleinkind mit seiner Mutter darstellt, wie auch Cranach. Das ist ein Thema für beide großen christlichen Konfessionen. Auf fast allen Bildern sieht man Jesus mit dem Gesicht eines Erwachsenen. Das bedeutet: Jesus ist geboren, um zu sterben. Öfters erkennt man auch das Zeichen seines Kreuzes.
Grünewald hatte dafür wohl das tiefste Verständnis und malte bei der Darstellung der Geburt Jesu am Isenheimer Altar die Windeln genauso zerrissen wie das zerrissene Leintuch am Kreuz – er ist geboren, um zu sterben.

Dies ist Verkündigung in tiefer Erkenntnis. Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Das Bild Bellinis, in dem die Verkündigung am tiefsten zum Ausdruck kommt und in dem auch die Innigkeit des klaren, klassischen Ausdrucks spürbar wird, ist ein Bild, bei dem unten auf dem Holzrahmen der Name Giovanni Bellini geschrieben steht, und der dargestellte Jesus ist gerade im Begriff, mit seinem Fuß auf diesen Namen auf dem Holzrahmen zu treten. Was bedeutet das? »Einer wird kommen, dem Satan den Kopf zu zertreten« (1. Mose 3,15b). Bellini will zum Ausdruck bringen: Er zertritt meinen Namen, denn der Satan lebt in mir. Das ist außerordentlich tiefe Erkenntnis in dieser Art Verkündigung! Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Und Bellini war Katholik, sein Anliegen aber ist durchaus biblisch. Freilich gibt es von ihm auch Bilder, die man nur in ihrem künstlerischen Wert betrachten kann, deren Theologie das Biblische vermissen läßt, z.B. »Die Himmelfahrt Maria«. Hier sind trotz eines großartigen Kunstwerks Grenzen der Verkündigung überschritten.

Auch in der Musik gibt es Themen, die wir als schöne Musik bezeichnen können, deren theologische Aussage wir aber verneinen müssen, z.B. das »Ave Maria«. Da sind Grenzüberschreitungen. Doch weil jemand Katholik ist, bedeutet das nicht, daß seine Verkündigung unbiblisch ist. Denken wir nur an die Messen Haydns, eines der größten aller religiösen Komponisten – welch ein Tiefgang! Zum Beispiel die Mariazeller Messe: Das ist absolut biblisch, denn im Zentrum liegt die Betonung auf dem Kreuz.

Ich gehe noch einen Schritt weiter. Es gibt große Kunstwerke, die ohne christliche Thematik trotzdem christliche Kunstwerke sind. Ich denke da aus der bildenden Kunst an Jakob van Ruisdael, einen der größten Landschaftsmaler aller Zeiten. Vielleicht kann man im gleichen Atemzug mit ihm nur die Donauschule, Altdorfer und Cranach, nennen oder Caspar David Friedrich. Jakob van Ruisdael ist Zeitgenosse Rembrandts, und er arbeitete in einer großen Glaubensepoche. Fast alle seine Bilder unterschreibt er nicht mit seinem Namen, sondern mit einem abgesägten Baum. Er will damit zum Ausdruck bringen: Ich bin ein verlorener Mensch, dem Tod geweiht.

Ich habe einen Freund, ein wirklicher Bruder im Glauben, der meine Lyrik gut kennt. Er meinte einmal: »David, deine besten religiösen Gedichte sind die, die kein religiöses Thema haben. Wenn du die innere Stille in der Schöpfung beschreibst, gehst du in eine metaphysische Welt, die direkt mit deiner Religiosität zu tun hat.« Das ist etwas ganz anderes als die katholische Mystik, die den Versuch unternimmt, sich mit Gott zu vereinigen. Solches Bemühen ist evangelischer Verkündigung entgegengesetzt. Der junge Luther – das zu wissen, ist sehr wichtig – stellt sich immer wieder bewußt unter das Kreuz zu Jesu Füßen und bezeugt damit: Ich bin ein verlorener Mensch, der Sünde und dem Tod verfallen, aber du, Herr, bist mein Heiland und Erlöser. Die Kreuzesmystik Luthers ist, sich total zu erniedrigen in der Erkenntnis, daß ich ein gefallener, verlorener Mensch bin – ich bin nicht würdig, die Riemen deiner Schuhe zu lösen, im Staub vor dir zu stehen.

Wenn ich mich ausruhen möchte, um neue Kraft zu schöpfen, tue ich das häufig, indem ich mich hinlege, an gar nichts denke, aber einem langsamen Satz aus einem Streichquartett von Haydn zuhöre. Eine innere Stille geht von solch einem Stück aus – »sei nur stille zu Gott, meine Seele«. Haydn hat immer gebetet, bevor er seine Werke schrieb. Jedes seiner großen Werke unterzeichnete er mit »in nomine domini«, im Namen des Herrn. Darunter sind auch Werke ohne christlichen Inhalt.

Es gibt eine ganze Entwicklung in der Musik, die man in den gebetsartig langsamen Sätzen beobachten kann – auch bei Bruckner und in den Beethoven-Quartetten, innige Sätze, bei denen sich der Künstler offensichtlich bewußt ist, daß er in musikalischer Sprache ohne Worte betet. Es gibt auch sonst wortlose Gebete, Gebete unter dem Zeichen von Gottes Heil, in der Erniedrigung des Bewußtseins: Ich bin im Staub vor Christus, er soll mich füllen mit seiner Kraft – das ist Beten ohne Worte. So bekomme ich große geistliche Kraft auch im Hören von Haydns langsamen Sätzen.
Der Höhepunkt in der Kammermusik-Literatur ist für mich der langsame Satz von Opus 76, Nr. 5, von Haydn. Das läßt sich einfach nicht überbieten in seiner tiefen Innerlichkeit. Es ist Verkündigung ohne christliches Thema – aber von einem bewußt als Christ lebenden Künstler. Luther sagt: »Unser ganzes Leben soll ein Gottesdienst sein.«

Ein Beispiel aus der bildenden Kunst veranschaulicht das, was ich hier meine: Vergleichen wir Rembrandt und Rubens. Rubens kann religiöse Themen malen, aber er malt sie fast immer im weltlichen Geist. Es gibt ein berühmtes Kreuzigungsbild von Rubens. Die Körperlichkeit der Gliedmaßen steht im Vordergrund, Muskeln, Knochen – er malt Körper. Wenn er ein Kreuzigungsbild malt, interessiert ihn überhaupt nicht die religiöse Thematik, nur der geschundene Körper. Er ist ein »fleischlicher« Maler. Aber Rembrandt kann ein Rind malen, und es wird ein geistliches Bild. Im Louvre ist sein Bild ausgestellt »Der geschlachtete Ochse«. Das ist Darstellung einer Opferung.

Luther war es wichtig: Bei einem wahren Christen – das war Rembrandt – ist sein ganzes Werk Gottesdienst. Rembrandt ist sich dessen bewußt, während man bei anderer innerer Haltung christliche Themen malen kann – wie Rubens – , wo die Kunst im »Fleischlichen« steckenbleibt.
Auch Rembrandts Selbstbildnisse sind christliche Zeugnisse. Wie kann man sich selbst – nicht Jesus – malen als christliches Zeugnis? Rembrandt hat sein ganzes Leben lang, vom jungen Mann bis ins hohe Alter, Selbstbildnisse gemalt. Auf den ersten Bildern malt er sich mit besonderem orientalischem Schmuck, etwas apart, das junge Genie, das zeigen kann, daß er etwas Besonderes ist. Auf den späteren Bildern malt er sich entblößt von alldem Beiwerk, keine Schönheit, aber erkennbar in körperlichem Verfall. Warum malt er sich? Weil Rembrandt weiß, daß er nicht wissen kann, wer er ist, denn der Mensch ändert sich von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Jede Sicht von mir selbst ist verzerrt (das ist auch ein zentrales Thema meiner Lyrik). Rembrandt versucht, sich so ehrlich wie möglich festzuhalten, und er malte sich zwei Wochen später wieder, weil er anders geworden war. Paulus hat dieses Thema in 1. Korinther 13 zentral behandelt: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort, aber dann von Angesicht zu Angesicht.«
Ich werde mich nur erkennen, indem ich von Christus erkannt bin. Nur Gott kann mir zeigen, wer ich bin. Das Wissen durchdringt und bestimmt auch Rembrandts Malerei, die Unfähigkeit des Menschen, sich selbst zu bestimmen. Und wo führt das hin? In dieser Entblößung gibt es immer einen Lichtschimmer. Das Licht/Dunkel in Rembrandts Gemälden ist keine Methode, es ist Inhalt. Dieser Lichtschimmer ist sein Glaube, er weiß: Jesus ist das Licht der Welt. In seinen religiösen Bildern hat er immer wieder dieses Licht gemalt, deshalb kann man aus dem gesamten Schaffen Rembrandts deutlich erkennen, worum es sich bei diesem Licht handelt. Wenn man erkennt, daß dieselbe Art von Licht von ihm in bezug zu Jesus benutzt wird wie auch in seinen Selbstbildnissen, dieses durch schimmernde Licht, dann meint er damit: Jesus ist der, der mich bestimmen kann; er ist der, der mich durchleuchten kann; er ist der, der mich aus der Dunkelheit der Sünde herausholen kann. Überall finden wir bei Rembrandt diese Symbolik, auch wo das Bild kein christliches Thema hat. Das Wesen geistlicher Malerei wird also nicht von ihrer Thematik bestimmt. Die Thematik ist nicht der einzige Maßstab dafür, was christlich ist. Es ist ein Maßstab, aber es ist nicht ein unbeirrbarer Maßstab. Das zu erkennen ist wichtig.

Ich möchte noch etwas über den großen englischen Dramatiker William Shakespeare sagen und zeigen, wie er biblische Themen benutzt, die einen Menschen zum Nachdenken bringen können. Shakespeare kannte die Bibel und ließ ihre Aussagen in seinen Werken immer wieder aufleuchten. Da berichtet die Bibel die Begegnung des Auferstandenen mit Maria Magdalena. Maria hält Jesus für den Gärtner, denn sie sucht ihn in seinem gekreuzigten Leib. In ihrer Trauer steht ihr der Leichnam Jesu vor Augen. Deshalb spricht sie den Unbekannten, der da plötzlich hinter ihr steht, als Gärtner an. Aber sie findet den Auferstandenen. Das ist die Aussage aller Erscheinungen des Auferstandenen: Wer den Gekreuzigten sucht, auch wie ein Thomas, der ihn als Beweis betasten will, der wird dem Auferstandenen begegnen. Wir leben in Kreuzesnachfolge, nicht in Auferstandenen-Nachfolge. Aber als Maria Magdalena ihm begegnet, verkennt sie ihn und wähnt, er sei ein Gärtner. Sie meint freilich einen normalen Gärtner, der da kommt, um zu arbeiten. Aber Jesus ist der Gärtner, und gerade das ist die Thematik. Er herrscht über zwei Gärten, den Garten der Tränen, den Garten Gethsemane. Sie selbst befindet sich noch in diesem Garten, sie ist wie aufgelöst in Tränen. Grünewald und Cranach malen Maria Magdalena so, daß ihr ganzes Haar mittränt, mitweint, ihre Kleider, ihr ganzer Körper weinen mit ihr, sie ist in Tränen verwandelt – sie ist im Garten Gethsemane.
Aber Jesus ist auch der Gärtner des Paradieses.
Es gibt eine ganze Tradition in der Malerei, Claude Lorrain zum Beispiel, im 17. Jahrhundert, der auch Caspar David Friedrich beeinflußt hat, in der Jesus als Gärtner gemalt wird.

Shakespeare nun hat dieses Thema in sein tiefstes poetisches Werk übernommen, »Richard II.« Dieses Drama ist als Theaterstück schwer aufzuführen. Aber wenn man es liest, empfindet man es als sein größtes Werk – großartige Lyrik! Shakespeares Thema ist darin der von Gott eingesetzte, gerechte König, der Gärtner ist seines Reiches. Das ist kein Zufall, sondern Shakespeare hat die Begegnung der Maria Magdalena mit Jesus vor Augen – auch wenn das von der weltlichen Literaturwissenschaft völlig verkannt wird.

Auch in Shakespeares »Macbeth« leuchtet sein Glaubenswissen durch. Neben Kleists »Michael Kohlhaas« und Melvilles »Moby Dick« ist »Macbeth« wohl das tiefste Werk über das Metaphyisch-Böse. Lady Macbeth und ihr Mann haben den gerechten, eingesetzten König umgebracht. Und jeden Abend wandelt sie im Schlaf und ruft: »Ich will meine Hände waschen vom Blut – ich will meine Hände waschen vom Blut.« Das erinnert sofort an Pontius Pilatus: »Ich wasche meine Hände in Unschuld« – vom Blut dieses Gerechten. Er will es, aber er kann es nicht; er hätte Jesus ja freilassen können, wenn er gewollt hätte. So knüpft Shakespeare mit seiner Lady Macbeth an diesem biblischen Gechehen an – das ist kein Zufall.

Noch ein Beispiel aus Shakespeares »Henry IV.«. Wohin geht der wahre, gute König als Vorbereitung, um König zu werden? Ins Armenviertel, und er lebt dort unter Verbrechern, zwischen Leuten, die zuviel trinken, und bei Huren. Aber er lebt nicht wie sie, sondern er lebt unter ihnen. Das ist ein gesamtbiblisches Thema von David bis zu Jesus hin. Als David von Saul verfolgt wird, kommen alle möglichen Menschen, zu ihm, nicht alle sind redliche Leute. Und Jesus hält später Tischgemeinschaft mit den Ausgestoßenen, mit Zöllnern und Verbrechern, und mit seinen Jüngern – der wahre König ist mit seinem Angebot für alle da.

Shakespeare übernimmt dieses Thema. Ein Christ, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der erkennt das. Shakespeares »King Lear« wurde fast immer christologisch verstanden; ein Franzose erklärt »Hamlet«, daß dieser unfähig ist zu töten, weil er Christ ist und weiß, daß er sich nicht rächen darf an seinen Feinden. Das führt zu seinem Untergang als Mensch. Der grundlegende Konflikt in ihm ist der Begriff der Ehre – als Heide – gegenüber dem »Du sollst deine Feinde lieben« – als Christ. Das ist eine tiefe Auslegung von Shakespeares Hamlet.

Kultur hat aber auch ihre gefährlichen Seiten. Viel modernes Theater ist blasphemisch. Ich empfehle nie, ins Theater zu gehen, ohne sich vorher ausreichend darüber informiert zu haben, was gespielt wird und wie es gespielt wird. Man kann üble Erfahrungen machen, wie ein an sich gutes Stück von modernen Theatergruppen und ihrer Regie zur Hurerei gemacht werden kann. Auch in der Musik gibt es Entgleisungen. So ist die 9. Symphonie von Beethoven, auch nach der Kritik vieler Musikwissenschaftler, in ihrem letzten Satz viel zu lang und absolut überschwenglich. Den vorausgehenden großartigen Instrumentalsätzen folgt eine Verkündigung im Schlußchor, die rein humanistisches Gedankengut ist: Alle Menschen sind Brüder; wir werden alle einander umarmen. Auch der Geist dieser Musik ist humanistisch.

Auch gibt es verblendete Komponisten wie Wagner. Er war ein massiver Antisemit. Deshalb muß seine Musik nicht antisemitisch sein. Aber in seinem Musikstil war er ein teutonischer Komponist. Deshalb wurde Wagner im Dritten Reich von Hitler benutzt. »Die Meistersinger«, das vielleicht auch noch neben »Tristan« und »Parsival« beste Stück Wagners, habe ich in Nürnberg erlebt, in der Stadt von Hitlers großen Parteitagen. Zunächst war ich eingenommen von der Musik, bis mich im Schlußsatz das Gefühl überfiel, ich sei im Dritten Reich. Plötzlich überkam mich Angst, ich war in Schweiß gebadet, denn ich spürte den Geist dieser Musik. Wagner zeigt in seinen Werken immer wieder den Typus des Juden und den des Deutschen. Darin ist er sehr gefährlich. Eine Aufführung von Wagners Werken wird in Israel nicht erlaubt. Das ist mir verständlich, aber daß in Israel auch Richard Strauß verboten ist, verstehe ich nicht, wenn ich persönlich auch seinen Musikstil nicht mag. Seine Musik hat keinen nazistischen Geist. Hier muß man einen Unterschied machen. Übel war jedoch, daß er sich propagandistisch von Hitler benutzen ließ.

Musik kann arg mißbraucht werden: Bruckners Sinfonien haben einen außerordentlich tiefen Geist, besonders seine Siebte. Der langsame Satz seiner Siebten Sinfonie ist einer der hohen Gipfel der sinfonischen Musik überhaupt. Er steht damit in einer Tradition, die zurückgeht zu Haydns langsamen Sätzen und zu den langsamen Sätzen in Beethovens Streichquartetten. Doch diese Musik wurde über alle deutschen Radiosender gespielt, als Hitlers Tod bekannt wurde: Heldenmusik für unseren Führer… Ich habe einen Juden getroffen, der nach Deutschland kam und sagte, er könne Bruckner deshalb nicht hören. Aber das ist kein Argument. Bruckner hat Hitler noch nicht kennen können. Er war ein frommer katholischer Christ. Es ist bedauerlich, daß seine Musik mißbraucht wurde. So etwas dürfen wir nicht zulassen, denn seine Musik ist im Grunde tief religiös.

Auch muß dringend gewarnt werden vor der Pornographie in der Kunst. Und Vorsicht vor Heavy metal und Satanischem! In meiner Kirche erlaubte ich alles, was christlich ist. Das bedeutet nicht unbedingt, daß ich alles Dargebotene als große Musik betrachtete. Aber wenn die Jugend modern-rhythmische Musik mag und echte christliche Verkündigung damit verbunden ist – gut. Aber noch besser ist, wenn die Musik tiefe christliche Verkündi gung bietet und wir die Jugend dafür gewinnen können, denn ihr Glaube kann dadurch vertieft werden, so wie es mir zum Beispiel bei den wunderbaren Vertonungen der Psalmen durch Mendelssohn-Bartholdy geht.

Doch ich möchte nicht mit Apologetik schließen, mit Warnungen und Grenzziehungen, sondern von einer Entdeckung berichten. Ich kaufe gerne Musik auf Platten oder CDs, um zu lernen. So entdeckte ich einen interessanten Komponisten mit Namen Homilius. Er war ein Schüler Johann Sebastian Bachs. Er stammt aus einem frommen Pfarrhaus und war auch selbst fromm. Homilius ist 1714 im gleichen Jahr geboren wie Gluck und Carl Philipp Emanuel Bach und ging den Weg der großen Komponisten seiner Zeit. Er hat mehr Kantaten geschrieben als Bach und wunderbare geistliche Motetten – aber er ist weitgehend unbekannt. Es gibt nur eine einzige Platte mit einer Auswahl seiner Werke – Motetten von Homilius. Das ist großartige Verkündigung, zum Beispiel seine Vertonung des 23. Psalms: »Mir wird nichts mangeln« – dreimal wiederholt! Dieser Psalm gewann existenzielle Bedeutung für ihn. Er hat ein Passionsoratorium zu einem faszinierenden Thema geschrieben: »Sie gingen alle in die Irre.« Niemand kam auf solch einen Gedanken, auch Bach nicht. Ich kenne nur 12 Motetten von ihm, aber sie zeigen, daß er ein zentraler religiöser Komponist seiner Zeit war. Er steht in der besten A-capella-Tradition, die zurückgeht auf Schütz und auf Scheins »Israels Brünnlein«, eines der großen alten Meisterwerke.

Aber noch viel wichtiger als die Wiederentdeckung von Homilius ist Bachs früher Zeitgenosse und großartiger böhmischer Barock-Komponist, Jan Dismas Zelenka. Heinz Holliger, der weltberühmte Oboist stellt fest: »Seine Musik steht wie die Bachs über der Zeit.« Es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser eigenwillige Zelenka mit Bach, Händel und Corelli zu den wirklich großen Meistern des Hochbarock gehört, und bis vor zwanzig Jahren war gerade dieser Zelenka völlig unbekannt. Dazu sind unter anderem seine Triosonaten, seine »Missa Votiva« und »Missa dei patris« und sein Te Deum in D-Dur große musikalische und religiöse Erlebnisse.

Allein schon die Andeutungen in dieser Einführung in christliche Kultur lassen den Schluß zu: Wenn wir uns nicht mit der großen Kultur und ihren christlichen Wurzeln beschäftigen, schneiden wir uns von vornherein von einem Teil größter Verkündigungsmöglichkeiten ab. Wir schneiden uns ab von Künstlern wie Rembrandt, Grünewald, Bellini, Haydn, Tolstoi, Shakespeare und anderen, die in ihren Werken einen außerordentlich geistlichen Tiefgang haben. Diese Künstler haben manchmal Zusammenhänge erkannt, die Theologen nicht gesehen haben.
Zum anderen gibt es ganz gewiß auch eine Gefahr in der großen Kunst: Man kann von ihr so fasziniert sein, daß man sich immer weniger mit der Bibel beschäftigt. Und das ist nicht gut.
Das Zentrum meiner Verkündigung ist und bleibt Gottes Wort, die Bibel.
Wir wollen nicht zu einer beflissenen Kulturchristenheit werden. Aber für mich ist die große christliche Kultur nicht nur eine Bereicherung, sondern auch eine Vertiefung meines Glaubens. Und wenn wir die Beschäftigung mit diesen Kunstwerken ausklammern, schließen wir damit die Möglichkeit aus, eine ganze Reihe von Menschen für ein Leben mit Jesus zu gewinnen, die in unsere Gemeinden vielleicht manche Bereicherung einbringen könnten. Jesus ist nicht nur für die Fischer gekommen, sondern auch für Paulus, der ein ungewöhnlich intelligenter und gebildeter Mensch war. Und Christus ist auch gekommen für Menschen mit einem starken Empfinden für Kunst und Kultur.

Eingestellt von Horst Koch, Herborn, im November 2023

info@horst-koch.de

 




Abraham und die Erwählung Israels (Jaffin)

David Jaffin

Abraham und die Erwählung Israels

– Eingestellt von Horst Koch, Herborn. Im Herbst 2023

Inhalt

Der vierfache Segen Abrams
Abram und Sarai in Ägypten.

Abram und Lot trennen sich

Abram und Melchisedek

Gott verheißt Abram einen Sohn und macht einen Bund mit ihm

Hagar und Ismael

Ewiger Bund und neue Namen – Verheißung Isaaks und Beschneidung

Der Herr bei Abraham in Mamre

Abrahams Fürbitte für Sodom

Gottes Gebot: Austreibung Ismaels und seiner Mutter

Abrahams Versuchung – Bestätigung der Verheißung

Sara stirbt. Abraham erwirbt ein Erbbegräbnis

Eine richtige Frau für Isaak wird gesucht

Abrahams zweite Ehe, sein Tod und Begräbnis


Der vierfache Segen Abrams

Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.

1. Mose 12, 1-3
»Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus.«

Der Herr fordert einen totalen Neuanfang von Abram. Warum? In den Kapiteln 3-11 des Genesis-Buches wird von der Urgeschichte der Menschheit berichtet Sündenfall, Brudermord (Kain/Abel), Massenmord (Lamech), sogar Engelehe kommen darin vor, auch der zweifache Aufstand dieser Urvölker gegen Gott, der zur alles Leben vernichtenden Sintflut führt und schließlich zur Verwirrung der Sprachen im Zusammenhang mit dem Turmbau zu Babel. Der Mensch übertrat Gottes Gebote, indem er versuchte, Leben und Erkenntnis an sich zu reißen, wo doch die beiden unberührbaren Bäume im Paradies dem Herrn allein gehören. Die Urgeschichte der Menschheit ist nichts anderes als die Zeitgeschichte des modernen Menschen. Wir wollen über das Leben verfügen, wir wollen entscheiden, wer Recht auf Leben hat und wer nicht. Wir sind »die Herren der Welt«. Unsere Wissenschaft und Technologie soll der Maßstab aller Dinge sein, nicht Gottes Gebote und Verbote, nicht Gottes Verheißungen. Unser Jahrhundert ist voll von Brudermord und von Massenaufstand gegen Gott und seine Ordnungen. Deshalb will Gott einen neuen Anfang, und er geschieht, wie bei Noah, durch einen Menschen Abram. Dazu muß dieser Abram sich jedoch trennen von Land und Familie, von Tradition und Geborgenheit, aber auch von allem, was verdorben ist, heidnisch, von allem, was ihn früher gebunden hat ähnlich wie später Lot, der sich von Sodom und Gomorra trennen muß.

Am Anfang des Weges Abrams steht der berühmte vierfache Segen, er ist vierfach, auch wenn in den Bibeldrucken unserer Zeit nur die letzte der Verheißungen, die messianische Verheißung, durch Fettdruck hervorgehoben ist. Doch auch die bleibende Erwählung Israels ist genauso wichtig, auf die Paulus im Römerbrief, Kap. 2, hinweist: »Der Herr kann seine [Israels] Erwählung nicht bereuen.«

»Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.«
Wichtig ist hier
1. Die Trennung vom Vergangenen, vom Heidnischen, Verdorbenen;
2. daß das Land, das Abram vom Herrn gegeben wird, dem Herrn gehört;
3. daß dieses Land, Israel, den Nachkommen Abrams, dem Volk der Juden, als Leihgabe des Herrn, gehören wird für alle Ewigkeit.

Wehe einer Regierung Israels, welche bereit ist, Gottes Verheißungen zu verspielen um des weltlichen Friedens willen oder um des Völkerrechts willen. Es geht um Abrams, um Israels Gehorsam. So spielt das Land Israel eine äußerst wichtige Rolle in der Geschichte der Juden.

Mose wird später von dieser Verheißung schon als kleiner Knabe von seiner Mutter gehört haben; dann wird er vom Herrn erwählt, als alter, versagender, stotternder Knecht, das Volk Israel durch Gottes Kraft und unter Gottes Führung aus der Knechtschaft in Ägypten zu befreien und ihm den Weg durch die Wüste zu bahnen in Richtung des verheißenen Landes.

Ist nicht dieses Geschehen sinnbildlich für unseren christlichen Weg der Befreiung von Sünde, Teufel, Tod, von der Welt in uns selbst, von Satan, damit wir geführt werden durch die Wüste dieser Welt, durch alle möglichen Versuchungen, geführt durch unseren guten Hirten Jesus Christus, bis zum »Land« seines Reichs? Für die Juden hat das Land Israel immer große Bedeutung gehabt. Im Talmud steht: Wer sein Leben in Israel verbringt, ist gleichgestellt mit jemandem, der das Gesetz erfüllt hat. Und in der Diaspora, dem Haß verschiedenster Völker ausgeliefert, wurde durch die Jahrhunderte und Jahrtausende die Sehnsucht nach dem Land Israel immer wachgehalten. So haben im Mittelalter reiche deutsche Juden teuer dafür bezahlt, um hier in Deutschland in Erde aus »Erez Israel« beerdigt zu werden. Warum ist die Sehnsucht nach dem Land Israel so groß?


1. Weil zwischen Land und Volk eine »Ehe« besteht: Beide tragen den gleichen Namen. Wenn das Volk aus dem Land vertrieben ist, dann ist das Land dürr und fruchtlos.

2. Weil die Juden nur in Israel letztendlich ihr eigenes Land haben können und den Schutz, den der Herr der Verheißungen diesem Land und seinem Volk bietet.

3. Nur wenn das Volk im Land ist, nur dann kann der lang ersehnte Messias kommen, um sein Volk endgültig zu retten und sein Tausendjähriges Friedensreich aufzurichten. Dann wird Israel in dieser Welt ein missionarisches Volk werden, wie auch die erste christliche Mission von Israeliten ausging.


»Und ich will dich zum großen Volk machen . . .«

Diese zweite Verheißung hängt eng mit dem ersten aller 613 Gebote und Verbote zusammen »Mehret euch!« Hier geht es um die Schöpferkraft Gottes. Diese Schöpferkraft soll nicht nur in der Natur erkannt werden, sondern auch am Beispiel seines Volkes. Eigentlich war das Volk der Juden immer relativ klein, gerade groß genug für ein kleines Land wie Israel. Aber diese Verheißung muß auch zeitlich gesehen werden. Denn das Volk der Juden ist ein uraltes Volk und hat alle möglichen Versuche überlebt, dieses Volk endgültig auszurotten – das biblische Buch Esther berichtet unter anderem davon.
Dieses Volk ist dann »groß«, wenn man es zeitlich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende betrachtet.
Aber dieses Volk ist auch »groß«, weil es Gottes Volk ist und zentrale Gestalten für Gottes Verheißungen aus ihm hervorgegangen sind, wie Mose und die Propheten und wie Jesus Christus, der König der Juden und der Heiden Heiland. Und »groß« war der Auftrag dieses Volkes in der ersten, der christlichen Mission und wird es sein in kommender Zeit, im Tausendjährigen Friedensreich, wenn eine zweite Missionszeit wiederum von Israel und dem dann getauften Volk ausgehen wird.


». . . und ich will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen.«


Die Welt wird vom Herrn danach beurteilt werden, wie sie sich dem Volk Israel gegenüber verhält. Wer Israel, die Juden, segnet, wird gesegnet, und wer Israel verflucht, der wird verflucht vom Herrn. Jesus übernimmt diese Aussage, wenn er sagt: Was wir an seinem geringsten Bruder tun, das tun wir ihm, Jesus. Wir haben leibliche und auch geistliche Brüder und Schwestern, Jünger Jesu. Aber die Juden, unsere »älteren Brüder« und zugleich in Jesus »Brüder-im-Werden«, sind unsere »geringsten Brüder«, denn sie sind Brüder in dem Herrn, dem Gott Israels, wenn auch immer noch »Feinde um des Evangeliums willen« (Römer 11).
Es ist tatsächlich so geworden, daß der verflucht wird, der Israel verflucht.
Die Großmächte in biblischen und nachbiblischen Zeiten, welche sich gegen dieses Volk gestellt haben, wurden verflucht: die Assyrer, die Babylonier, die Römer . . . Ihre großen Reiche zerfielen wie Kartenhäuser, aber Israel blieb als Volk bestehen. Hatte nicht das große vereinigte Spanische Reich 1492 entschieden, daß ungetaufte Juden nicht mehr auf seinem sogenannten »Heiligen Boden« verweilen durften? Und dieses Reich ist dann in einen mehrere Jahrhunderte dauernden Schlaf verfallen, angefangen mit seiner Niederlage durch England Ende des 16. Jahrhunderts.
Ist nicht das biblische Zeichen der Verfluchung die Teilung eines Landes, so zum Beispiel nach Salomos Tod?
Und was ist hier in Deutschland nach dem Dritten Reich passiert? Und wie ist es jetzt, mit unserem verflachten, sterbenden christlichen Glauben? Der größte Segen hat mit Glauben zu tun, mit Frieden im Herrn, mit Führung durch den Herrn zu seinem Land, seinem Reich. Und wie steht es um uns hier in Deutschland und in einem Europa, in dem Gottes Volk so viele Verfolgungen erlebt hat?

»Und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.«

Das bedeutet, daß der Messias, der Befreier und Erlöser, aus dem Volk Abrahams stammen wird. Er wird ein Jude sein. Diese Verheißung ist erfüllt worden zu Gottes Zeit, als er seinen Sohn, Jesus Christus, zu uns auf die Erde sandte. Die Gestalt des Segens ist zugleich die Gestalt seines Kreuzes, sind die ausgestreckten Hände. So wurden diese zwei Balken des Kreuzes ständig gedeutet, als von oben nach unten oder von unten nach oben die Verbindung zwischen Himmel und Erde in ihm. Der zweite Balken hinter den ausgebreiteten Armen des Gekreuzigten bedeutet ein Angebot des Segens für alle Völker: Wer unter seinen segnenden Händen bleibt, der wird Frieden mit dem Vater erfahren. Der so bedeutende Abschnitt der Bibel mit seinem krönenden Schluß »in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden« hat aber nicht nur mit Jesu erster Ankunft zu tun und mit der von Paulus ausgehenden Weltmission, sondern auch mit seiner zweiten Ankunft. Jesus wird wiederkommen und zwar bald. Niemand weiß Tag und Stunde, und dann wird er das heimgekehrte, leidgeprüfte Israel zu sich nehmen und taufen.

»Und der Geist der Gnade und des Gebets wird ausgegossen über ganz Israel; und sie werden ihn annehmen, den sie durchbohrt (gekreuzigt) haben, und sie werden um ihn weinen, wie man weint um einen einzigen Sohn (den einzigen Sohn Gottes)« (Sach. 12,10). Dieser Uranfang von Gottes Heilsplan mit Abram, mit Israel, erfüllt in Jesus, weitergeführt durch uns missionarische Christen, wird dann sein Telos, sein Ziel, erreichen in Jesu Wiederkunft. Mit den Worten der Urgemeinde bitten wir:
Maranatha, unser Herr und Heiland, Jesus Christus, komme, komme bald!

Abram und Sarai in Ägypten.

Abram und Lot trennen sich

Es kam aber eine Hungersnot in das Land. Da zog Abram hinab nach Ägypten, daß er sich dort als ein Fremdling aufhielte; denn der Hunger war groß im Lande. Und als er nahe an Ägypten war, sprach er zu Sarai, seiner Frau: Siehe, ich weiß, daß du ein schönes Weib bist. Wenn dich nun die Ägypter sehen, so werden sie sagen: Das ist seine Frau, und werden mich umbringen und dich leben lassen. So sage doch, du seist meine Schwester, auf daß mir’s wohlgehe um deinetwillen und ich am Leben bleibe um deinetwillen. Als nun Abram nach Ägypten kam, sahen die Ägypter, daß seine Frau sehr schön war. Und die Großen des Pharao sahen und priesen sie vor ihm. Da wurde sie in das Haus des Pharao gebracht. Und er tat Abram Gutes um ihretwillen; und er bekam Schafe, Rinder, Esel, Knechte und Mägde, Eselinnen und Kamele. Aber der HERR plagte den Pharao und sein Haus mit großen Plagen um Sarais, Abrams Frau, willen. Da rief der Pharao Abram zu sich und sprach zu ihm: Warum hast du mir das angetan? Warum sagtest du mir nicht, daß sie deine Frau ist? Warum sprachst du denn: Sie ist meine Schwester so daß ich sie mir zur Frau nahm? Und nun siehe, da hast du deine Frau; nimm sie und zieh hin. Und der Pharao bestellte Leute um seinetwillen, daß sie ihn geleiteten und seine Frau und alles, was er hatte. So zog Abram herauf aus Ägypten mit seiner Frau und mit allem, was er hatte, und Lot auch mit ihm, ins Südland. Abram aber war sehr reich an Vieh, Silber und Gold. Und er zog immer weiter vom Südland bis nach Bethel, an die Stätte, wo zuerst sein Zelt war, zwischen Bethel und Ai, eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief er den Namen des HERRN an. Lot aber, der mit Abram zog, hatte auch Schafe und Rinder und Zelte. Und das Land konnte es nicht ertragen, daß sie beieinander wohnten; denn ihre Habe war groß, und sie konnten nicht beieinander wohnen. Und es war immer Zank zwischen den Hirten von Abrams Vieh und den Hirten von Lots Vieh. Es wohnten auch zu der Zeit die Kanaaniter und Perisiter im Lande. Da sprach Abram zu Lot: Laß doch nicht Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir nicht alles Land offen? Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Da hob Lot seine Augen auf und besah die ganze Gegend am Jordan. Denn ehe der HERR Sodom und Gomorra vernichtete, war sie wasserreich, bis man nach Zoar kommt, wie der Garten des HERRN, gleichwie Ägyptenland. Da erwählte sich Lot die ganze Gegend am Jordan und zog nach Osten. Also trennte sich ein Bruder vom andern, so daß Abram wohnte im Lande Kanaan und Lot in den Städten am unteren Jordan. Und Lot zog mit seinen Zelten bis nach Sodom. Aber die Leute zu Sodom waren böse und sündigten sehr wider den HERRN. Als nun Lot sich von Abram getrennt hatte, sprach der HERR zu Abram: Hebe deine Augen auf und sieh von der Stätte aus, wo du wohnst, nach Norden, nach Süden, nach Osten, nach Westen. Denn all das Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen geben für alle Zeit und will deine Nachkommen machen wie den Staub auf Erden. Kann ein Mensch den Staub auf Erden zählen, der wird auch deine Nachkommen zählen. Darum mach dich auf und durchzieh das Land in die Länge und Breite, denn dir will ich’s geben. Und Abram zog weiter mit seinem Zelt und kam und wohnte im Hain Mamre, der bei Hebron ist, und baute dort dem HERRN einen Altar. 1. Mose 12,10 1. Mose 13

»Es kam aber eine Hungersnot in das Land. Da zog Abram hinab nach Ägypten.«
Dieses Thema wiederholt sich in der Bibel mehrmals. Durch das Wasser des Nils ist Ägypten ein reiches Land (man könnte den Garten Eden auch dort vermuten). Immer wieder zog es Menschen in Notzeiten nach Ägypten. Die wichtigsten von ihnen sind Josef und vor allem Jesus. Ägypten war zu einem Ort des Asyls geworden, ein Ort, wo man auftanken, sich aufhalten, zur Ruhe kommen konnte, bis man wieder herausgerufen wurde. Aber Ägypten war zugleich ein Land schrecklicher Unterdrückung.
Es sollte nicht vergessen werden, wie das war, bis endlich die Befreiung unter Mose kam. 400 Jahre hat diese Unterdrückung gedauert. Beide Aspekte leuchten auf: Durch die ganze Bibel geht das Zeugnis, daß es ein Land ist, das Zuflucht bietet, in dem man Reichtum findet, gute Ernährung . . .
Zugleich ist es ein Land der schweren Unterdrückung. Der Prophet Jesaja beschreibt im Kap. 19 seines Buches die Friedensstraße, die sich von Ägypten über Israel nach Syrien oder Assyrien erstreckt – es ist die Friedensstraße Jesu und seines ersten Kommens. Unser Friede ist Jesus. Jesus ging auch nach Ägypten. Das ist eine Zeichenhandlung dafür, daß sein Heil auch zu den Heiden gehen wird.

Assyrien
ist der Ort, wo die erste heidenchristliche Gemeinde in Antiochien gegründet wurde und von wo Paulus, der große Heidenmissionar, zu seinen ersten Missionsreisen ausgesandt wurde. Der Frieden wird zu den Heiden gebracht, erst durch Jesus und dann vor allem durch Paulus. Das wird sich am Ende der Tage nicht wiederholen, denn das Ende der Tage wird als Krieg gegen Israel vorausgesagt, und Ägypten wird dabei eine negative Rolle spielen.

»Es kam aber eine Hungersnot in das Land. Da zog Abram hinab nach Ägypten, daß er sich dort als ein Fremdling aufhielte, denn der Hunger war groß im Lande.«

»Ihr seid Fremdlinge gewesen in Ägypten« (2. Mose 22,20). Von der Fremdlingschaft Israels wird immer wieder gesprochen. Israel ist ständig Fremdling gewesen in allen möglichen Ländern der Welt, auch in Deutschland. Juden aus über 100 Ländern sind inzwischen nach Israel zurückgekommen. Die Thora sagt: Wir sind Fremdlinge gewesen, und deshalb sollen wir die Fremden im Lande so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Das ist ein aktueller Text heute, wo der Fremdenhaß auch in Deutschland nochmals aufsteigt. Aber wir sind alle Fremde auf Erden, jeder Christ, denn wir sind ein Wandervolk Gottes. Darin sind wir mit dem Volk Israel jetzt schon eins. Es ist eine politische Frage, ob das Asylrecht richtig ist oder nicht. Ihr zentrales Anliegen ist: Wenn Fremdlinge hier im Land sind, dann sollten sie von uns gut behandelt werden. Ob sie das Recht haben, hier zu bleiben, ist eine politische Frage. Aber aus der Sicht des christlichen Glaubens ist damit die Herausforderung verbunden: Es ist eine große Gelegenheit für die Mission. Viele Moslems sind gekommen, manche nicht mehr stark im Islam verwurzelt. In ihren Heimatländern kann hingegen kaum christliche Mission getrieben werden, ist sogar mitunter lebensgefährlich. Hier aber besteht Möglichkeit, nicht nur zum Dialog, sondern ihnen auch das Wort Gottes zu bringen. Gott schickt sie uns hierher, damit wir ihnen den Weg des Heils bezeugen. Das sollte aber in dem Wissen geschehen, daß auch wir letzten Endes alle Fremdlinge hier auf Erden sind, »denn wir haben hier keine bleibende Stadt« (Hebr 13,14).

». . . daß er sich dort als ein Fremdling aufhielte; denn der Hunger war groß im Lande. Und als er nahe an Ägypten war, sprach er zu Sarai, seiner Frau: Siehe, ich weiß, daß du ein schönes Weib bist.«

Es gibt Menschen, die haben äußerlich besondere Gaben. Es gibt schöne Frauen, es gibt starke Männer, es gibt Gaben wie Intelligenz, Humor, Gaben zum sozialen Engagement . . . Die Frage ist: Wie und wozu werden diese Gaben genutzt? Und wir sehen in der Bibel, wie zum Beispiel Stärke sowohl positiv als auch negativ genutzt werden kann. Simson nutzte sie meist positiv. Aber Goliath setzte seine Kraft negativ ein. So ist es mit der Schönheit. Es gab unter Juden und Christen immer schöne Frauen, die zugleich auch fromm waren. Und es gab Frauen, die ihre Schönheit zu ganz anderem nutzten. Die Frage ist der Umgang mit der Gabe, die wie viele andere Gaben, vom Herrn ist. Es könnte sein, daß eine junge, hübsche Dame in einen lebendigen Jugendkreis kommt, und zunächst ihretwegen kommen mehrere junge Männer dazu. Wir sollten daraus nicht nur ein Problem konstruieren, sondern auch die Chance für das Evangelium erkennen. Auch Esther, die Königin am persischen Hof wurde, war schön; sie konnte Israel retten. Wir sollen uns über jede unserer Gaben bewußt sein, auch daß sie vom Herrn kommen und daß wir sie anvertraut erhielten, um sie im Sinne des Herrn einzusetzen. Denn jede Gabe kann auch von Satan benutzt und ins Negative verkehrt werden. So müssen wir bei Schönheit darauf achten, daß wir nicht eitel werden. Es ist nicht unser Verdienst, wenn wir schön sind. Aber alles, was wir haben, kann uns zum Segen oder zum Fluch werden.

»Wenn dich nun die Ägypter sehen, so werden sie sagen: Das ist seine Frau, und werden mich umbringen und dich leben lassen.«

Abram ist klug. Er schaut in die Zukunft, bevor das Problem auftaucht. Das ist nicht dumm. Es ist immer gut, sich rechtzeitig Gedanken zu machen über Zusammenhänge unseres Vorhabens. Er sieht realistisch: Ich habe eine schöne Frau und komme in ein fremdes Land, in dem man je nach Wohlhabenheit mehrere oder gar viele Frauen hat. Abram bekommt’s mit der Angst zu tun.
»Wenn dich die Ägypter sehen, so werden sie sagen: Das ist seine Frau, und werden mich umbringen und dich leben lassen. So sage doch, du seist meine Schwester, auf daß mir’s wohlgehe um deinetwillen und ich am Leben bleibe um deinetwillen.«
Da wirkt Gutes mit Schlechtem zusammen. Bei dem Thema »Notlüge« kommt unter uns viel Heuchelei vor. Jeder Mensch hat ein Recht zu lügen, wenn es ums Leben geht. Das bestreitet auch die Bibel nicht. Es wäre scheinheilig, das zu verneinen. Konstruieren wir ein konkretes Beispiel zur Zeit des Dritten Reiches: David Jaffin ist Pfarrer in Ihrer Gemeinde, er ist Jude, bleibt aber in seiner Gemeinde. Eines Tages kommt die SS. Im Keller eines Gemeindegliedes wird er verborgen gehalten. Bei der Razzia wäre es das Dümmste und Schlimmste, wenn dem Gemeindeglied die Wahrheit über alles ginge: »Da unten habe ich einen Juden versteckt.« Leben hat in der Bibel Vorrang, denn Leben gilt in Israel als das höchste Gut. In unserem Beispiel steht dem Übel der Lüge das Übel des Todes gegenüber. Wenn es um zwei Übel geht, muß man abwägen, welches Übel geringer ist, um nicht eine viel größere Schuld auf sich zu laden.

In dieser Hinsicht handelt Abram richtig. Aber in anderer Hinsicht handelt er absolut falsch: Er konnte und mußte wissen, daß seine Frau von den Ägyptern sexuell benutzt werden würde. Er gab seine Frau her, daß sie als Konkubine des Pharao von diesem benutzt werden konnte, wenn nur er selbst am Leben blieb. Das ist biblisch nicht richtig. Abrams Gedanken sind falsch, auch wenn er klug ist und sein Problem sieht. Beschämend für Abram ist dann allerdings, wie die Sache ausgeht: Pharao tötet Abram nicht, auch nicht, als er seinen Betrug erkennt, sondern er läßt ihn weggehen.

Abram dachte falsch: Sie werden mich töten, wenn sie wissen, daß Sarai meine Frau ist. Er denkt absolut egoistisch. Pharaos Ethik ist in dieser Angelegenheit deutlich höher als Abrams. Ähnliches finden wir bei Jona: Auch Ninives Ethik ist höher als die Israels, denn Israel will zur Zeit Jonas keine Bußpredigt hören, aber Ninive hört hin. Immer wieder begegnet uns solch eine Aussage im Alten Testament: Die Heiden sind in mancher Hinsicht besser als Israel und reagieren besser. Abram war nur davon überzeugt, daß Pharao ihn töten wird, wenn der erfährt, daß Sarai seine Frau ist. Als der Pharao es dann tatsächlich erfährt – wenn auch unter den Plagen Gottes -, läßt er ihn weggehen und sogar noch begleiten.

Aus dem Ersten Weltkrieg sind Vorkommnisse bekanntgeworden, daß arme Juden im Osten ihre hübsche Tochter deutschen Soldaten hingaben, damit es ihrer Familie gutginge. So geht man nicht mit anvertrauten Menschen um. Das ist keine Frage irgendeiner ideologischen Moral, sondern eine Frage biblischen Denkens. Die Bibel bezeugt die Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Und zuallererst in der Ehe gilt, daß beide aneinander so handeln, wie man es vom jeweils anderen erwartet. Das Argument Abrams du kannst benutzt werden von diesen Leuten, damit ich nur am Leben bleibe ist absolut egoistisch. Zudem geht es um Gottes Verheißungen. Es wird deutlich: Gott nimmt seine Verheißungen ernst, er plagt den Pharao so, daß Sarai und Abram freigelassen werden. Es gilt im Sinne Gottes, des Gottes Israels, ethisch und moralisch zu handeln, er wird dann tun, was notwendig ist für seinen heilsgeschichtlichen Plan; er wird an sein Ziel kommen. So kommt er auch hier ans Ziel, aber Abram hat eine tiefe Schuld auf sich geladen. Interessant ist, daß der Talmud Jakob, den Betrüger, höher stellt als Abraham, während im christlichen Abendland Abraham doch ein besonders hohes Ansehen genießt wegen seiner Glaubensprüfung; der Talmud aber sieht viel Unreines in Abraham. Wie ist es da wohl bei uns? Wenn wir ehrlich sind: Sind wir in Ordnung? Wenn unser Leben biblischen Maßstäben entspräche, würden wir Christus und sein Kreuzesheil nicht brauchen. Es gibt noch viel Unreines in uns. Ein Beispiel macht doch nachdenklich: Kaum ein Märtyrer im Dritten Reich war Pietist. Wenn es hart auf hart ging, haben wir nichts getan trotz aller unserer Heiligung, unserer Frömmigkeit. Wir wollen sehr vorsichtig sein mit unserer Einstellung zu uns selbst und unserer Frömmigkeit. Ich bin damit nicht sehr weit gekommen. Ich bin ein sündiger, verlorener Mensch. Ich bin absolut abhängig von Gott und seiner Gnade, und das wird immer so bleiben, bis ich in sein Reich genommen werde, wenn er mich für würdig hält. Das Pietistsein, unsere Frömmigkeit und Heiligung, bringt uns nicht Schritt für Schritt näher zu Gott. Daß das geschieht, ist nicht unser Verdienst, sondern ist ausschließlich ein Akt göttlicher Barmherzigkeit. Gerade indem er uns das Dunkel in uns zeigt und Abram ist hier absolut bloßgestellt -, bringt Gott uns näher zu sich. Er bringt das Dunkel ans Licht, und als Christen können und dürfen wir es ihm übergeben, denn er trug die Last des ganzen Dunkels in uns.

»Und die Großen des Pharao sahen sie und priesen sie vor ihm. Da wurde sie in das Haus des Pharao gebracht. Und er tat Abram Gutes um ihretwillen . . .«

Das ist sehr ähnlich, wie viele schwarze Sklaven in Amerika behandelt wurden. Die Frau kommt als Konkubine ins Haus, und manchmal wurde der Mann deswegen besser behandelt, öfters aber nicht. Aber ist das richtig? Ist das eine Ehe, wo einer leidet für den anderen? Wir sollen beide bereit sein, Mann und Frau, Lasten zu tragen für den anderen, aber nicht einseitig. Die Überlegung Abrams war erniedrigend für seine Frau Sarai, daß es ihm gutgeht und sie benutzt werden kann in Auslieferung an einen fremden Mann.

». . . und er bekam Schafe, Rinder, Esel, Knecht und Mägde, Eselinnen und Kamele.«

Was ist wohl wichtiger, eine Frau zu haben oder Esel und Kamele? Diese Auflistung ist ein Fingerzeig gegen Abram: Du opferst deine Frau, dafür bekommst du Esel und Kamele. Erschreckend, wozu ein Egoist fähig ist!

»Aber der Herr plagte den Pharao . . .«

Das ist eine Vordeutung der zehn Plagen vor dem Auszug Israels aus Ägypten. Gottes Geschichte rollt sich wie Wellen auf immer wieder Vordeutung und Erfüllung. Das begann schon, bevor die Welt erschaffen wurde. Denn das Wesen Gottes ist, der Schaffende zu sein, der seiende, der wirkende Gott Jahwe. Wenn ein Jude gefragt wird, was das Wesen Gottes ist, wird er sagen: seine Heiligkeit und seine Gerechtigkeit. Ein Christ würde antworten: seine Liebe. Doch es ist weder das eine noch das andere. Vom gesamtbiblischen Standpunkt aus gesehen, ist das Wesen Gottes: Jahwe, der seiende, wirkende Gott. Das Wesen Gottes ist das Tun. Alles, was er sagt oder sieht, tut er. Das sind Wellen der Wirklichkeit, geschichtliches Wirken, heilsgeschichtliche Wege mit Israel, mit der Gemeinde und mit jedem von uns. Und eingebettet in dieses Wirken sind seine Liebe und seine Gerechtigkeit, und die sind nicht voneinander zu trennen. Jedes Gericht Gottes birgt Gnade in sich, leider kann aber jede Gnade Gottes von uns mißbraucht werden, wie dies Abram tut. Er hat den großen Segen Gottes, und er mißbraucht ihn.

»Aber der Herr plagte den Pharao . . .«

Gott handelt. Hatte Abram das vor lauter vordergründiger Angst vergessen und riskiert den Mißbrauch seiner Frau? Der Herr handelt, denn in allem was Abram erlebt, geht es um seinen Heilsplan. Aber Abram handelt aus seiner Sicht der Dinge und nicht nach dem, was Gott haben will.

»Aber der Herr plagte den Pharao und sein Haus mit großen Plagen um Sarais, Abrams Frau willen.«

Der Herr steht zu Sarai, wo Abram nicht mehr zu ihr steht. Das soll jede Frau wissen, die jemals in dieser Art mißbraucht oder mißhandelt wurde: Der Herr Jesus Christus steht zu ihr, auch wenn ihr Mann nicht zu ihr steht. Es gibt viele Frauen in dieser Welt, die viel Schlimmes erleben, auch von ihrem eigenen Mann. Ich sage immer wieder in unserem Frauenkreis: »Heiraten Sie einen frommen Mann.« Denn die Chance, daß es gutgeht, ist viel größer.

»Da rief der Pharao Abram zu sich und sprach zu ihm: Warum hast du mir das angetan?«

Er, der Heide, ruft den Erwählten Gottes, den Gesegneten, und sagt: »Du bist im Unrecht.« Pharao hat das Recht zu dieser Feststellung. Wir Christen dürfen nicht meinen, besser zu sein, weil wir Christen sind; es ist gefährlich, sich so zu überheben. Denn leider handeln Nicht-Christen öfters richtiger als wir. Die Zeitschrift IDEA zitierte einmal den Satz: »Es wäre so schön, wenn die Heiden frömmer wären aber es wäre auch schön, wenn die Frommen sich besser benehmen würden.« Darin steckt nicht nur ein Körnchen Wahrheit. Für Juden gilt es wie für Christen als die Erwählten Gottes, daß wir nicht denken, aufgrund unserer Erwählung könnten wir hinabschauen auf andere.
Der Pharao, der heidnische Pharao, sagt zu dem großen, gesegneten Abram: »Warum hast du mir das angetan? Warum sagtest du mir nicht, daß sie deine Frau ist? Warum sprachst du denn: Sie ist meine Schwester, so daß ich sie mir zur Frau nahm? Und nun siehe, da hast du deine Frau; nimm sie und zieh hin.«

Weg damit! Als der Betrogene hat Pharao recht, Abram samt seiner Familie auszuweisen. Weg damit! So war das auch, als Israel aus Ägypten auszog. Die Ägypter gaben Gold und Silber, damit sie die Israeliten nur loswurden. Nach den zehn Plagen hatten sie natürlich unrecht mit ihrem Tun, denn sie waren böse und hatten Israel mißhandelt.

»Und der Pharao bestellte Leute um seinetwillen, daß sie ihn geleiteten und seine Frau und alles, was er hatte.«

Der Ägypter wollte sie los haben, und daß er sie mit aller Habe ziehen läßt, ist ein Zeichen, daß er froh ist über diese Trennung. Dies ganze Geschehen stellt uns die Frage, was wichtiger für uns ist, unser Eigentum, unser Besitz oder unsere Frau. Wie viele Männer handeln heute so, daß ihnen ihr Geld offensichtlich wichtiger ist als ihre Frau. Das ist ein absolut heidnisches Denken. Wie war das nach dem Krieg? Wie viele Männer und Väter sagten: »Wir brauchen Geld, damit wir mit unseren Frauen und Familien gut leben können.« Sie machten viele Überstunden, verdienten viel Geld, sie konnten ein Haus bauen, aber Ehe und Familie zerbrachen – denn ein Haus ist kein Heim. Eine wahre Liebesbeziehung muß ständig gepflegt werden, sonst geht sie zugrunde.

»So zog Abram herauf aus Ägypten mit seiner Frau und mit allem, was er hatte, und Lot auch mit ihm, ins Südland. Abram aber war sehr reich an Vieh, Silber und Gold.«

Im allgemeinen, vor allem in den Urgeschichten des Alten Testaments, in den Vätergeschichten, bedeutet Reichtum Segen. In späteren Geschichten des Alten Testaments wird deutlich, daß Reichtum Fluch bedeuten kann, so in Psalm 73: »Warum geht es den Gottlosen so gut in der Welt, und ich muß leiden?« Das ist noch nicht neutestamentlich. Vieles, was innerhalb des Alten Testaments passiert, wird weitergeführt im Neuen Testament. Reichtum ist ein Segen, kann aber auch zu einem Fluch werden, wenn man sein Herz an diesen Reichtum verliert. Das Neue Testament sagt: entweder der Mammon oder Gott! Ein Schwerkranker fragte vor einer lebensentscheidenden Operation nur noch nach dem Börsenbericht, nicht nach einer Bibel. Er wollte wissen, wieviel Geld er hat und was für Investitionen er noch machen könnte und wieviel Geld er hinterlassen würde, falls er stirbt. Die Frage nach Gott und seinem Willen war ganz weit draußen. So kann man am Geld hängen. Aber Geld kann auch etwas Positives sein, wenn es richtig benutzt wird, nämlich für andere im Sinne Jesu.

»Und er zog immer weiter vom Südland bis nach Bethel. . .«

Dieses Bethel liegt heute mitten in den »Westbanks«; man spricht von »besetzten Gebieten«, aber es ist Kernland Israels. Die Bibel zeigt häufiger in zwei Richtungen: Bethel – da denken wir gleich an Jakob, seinen Traum, seine Beziehung zu Gott -, aber wir sollen auch an Amos denken; er ging an diesen Ort und sagte, daß die Frau des Priesters zur Hure und der Priester und die Kinder umgebracht werden würden, denn Bethel war zum Götzenhaus geworden. Der Name zeigt in beide Richtungen, das Bethel Jakobs und das Bethel Amos’. So können auch Kirchen, Gemeinden oder ihre Werke gegenläufige Entwicklungen nehmen, aber Gottes Wort bleibt, auch wenn es andere Wege geht, für andere Orte zum Segen wird.

»… nach Bethel, an die Stätte, wo zuerst sein Zelt war, zwischen Bethel und Ai. . .«

Abram kehrt zurück. Auch Jesus kehrt zurück: »Geht zum See Genezareth, da werde ich euch begegnen.« Wo er ganz am Anfang seiner Tätigkeit seine Jünger berufen hatte, da will er sie als Auferstandener wieder treffen. So war es schon bei Abram, von dem diese Linie bis zu Jesus führt: zurück zu einem Ort mitten in Israel.

»… eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief er den Namen des Herrn an.«

Er rief den unaussprechlichen Namen an, Jahwe, den ich als Christ so aussprechen kann; das ist eigentlich kein Name, sondern eine Deutung Gottes als »der Seiende, der Wirkende«. – »Du hast gewirkt, du hast gehandelt und hast mich aus dieser großen Not herausgeholt. Deswegen will ich dich anbeten als den Herrn des Lebens, Herr über mein Leben und alles, was ich habe.« Er aber hatte seine Frau ausgeliefert, um selbst am Leben bleiben zu können. Welch ein Zwiespalt in diesem großen Glaubensmann! Auch Martin Luther lebte in einem solchen, als er am Ende seines Lebens erschreckend Negatives über die Juden schrieb. Da ist Zwiespalt im Denken großer Menschen, auch großer Gläubiger. Nur in Christus war kein Zwiespalt. Er ist die große Ausnahme, er ist anders. Daß Abram zu Opfer und Altar zurückkehrte, bedeutet, daß er Gemeinschaft neu suchen und annehmen will, die der Herr, der Gott Israels, ihm gegeben hatte, der vierfache Segen: Volk, Land, Segen oder Fluch und die messianische Verheißung. Hier geht es vor allem um das Land, aber auch schon um das Volk, das dann bei Isaak im Zentrum stehen wird.

»Lot aber, der mit Abram zog, hatte auch Schafe und Rinder und Zelte.«

Auch Lot ging es äußerlich nicht schlecht. Doch es ist nicht ein Privileg von Juden, reich zu sein. Auch in den Städten Israels gibt es Armutsviertel, in denen arme Juden leben.

»Und das Land konnte es nicht ertragen, daß sie beieinander wohnten . . .«

Es gab zunächst nicht genügend Land für beide und ihre großen Herden. Zudem stand noch die Verheißung über dem Land, nach der sie sich ausbreiten mußten, um es einmal als ganzes Erbteil übernehmen zu können. Es fällt auf, daß das Wort »Land« hier wie etwas Persönliches gebraucht wird, als ob es ein Wesen wäre. So ist es ständig mit dem Land Israel. »Das Land ist wie eine geschmückte Braut«, schöngemacht für das Volk Israel; denn das Volk ist der Bräutigam und das Land ist die Braut. Und sie haben beide denselben Namen: Israel. Sie gehören zueinander. Dieses Land wird blühen, wenn das Volk in ihm lebt. So blüht es bei Abram, so blüht es bei Lot – schon allein deswegen müssen sie sich trennen. Aber wenn Israel nicht mehr im Land ist, dann liegt alles brach, wie es selbst unter dem englischen Mandat zu beobachten war. Als aber die armseligen Juden aus Polen, Rußland und Rumänien zurückkamen, die erste Aliyah, fing plötzlich aus Malariasümpfen heraus das Land an zu blühen. Das Land wurde mit Leben erfüllt. Warum? Es ist das Zeichen von Gottes Treue. Jerusalem und das himmlische Jerusalem, das blühende Land und das blühende Tausendjährige Friedensreich entsprechen sich. Das Land blüht als Zeichen dafür, wie die Welt neu blühen wird im Tausendjährigen Friedensreich hier auf Erden. Und das endgültige Blühen wird in Gottes Reich sein. Wir merken: Der Begriff »Land« ist hier physisch zu verstehen, nicht nur geistlich.

»… denn ihre Habe war groß, und sie konnten nicht beieinander wohnen. Und es war immer Zank zwischen den Hirten von Abrams Vieh und den Hirten von Lots Vieh. Es wohnten auch zu der Zeit die Kanaaniter und Perisiter im Lande.«

Die Hirten sollen weiden, was Abram und Lot als Zeichen des Segens besitzen; aber statt zu weiden, zanken sie miteinander. Das ist ein zentrales biblisches Thema: die guten und die schlechten Hirten. Im ganzen Alten Testament gibt es eine starke Polemik gegen die schlechten Hirten. Haarsträubender könnte es nicht beschrieben sein als in Hesekiel 34 oder in Jeremia 23; es gibt weitere Texte dazu beim Propheten Sacharja und anderen Propheten. Diese Texte sind an uns Pfarrer gerichtet, denn wir sollen die Hirten der Gemeinde sein. Aber wie oft versagen wir. Wie oft? Auch gute Hirten versagen und machen viele Fehler. Aber wie viele »Hirten« haben aufgehört, Gottes Wort zu predigen: Sie predigen den Zeitgeist. Sie sind nicht mehr Hirten der Gemeinde, sondern »Hirten« ihrer Politik, ihrer Psychologie oder der Soziologie. Aber ob Gott Hirten vergibt, die sein Volk, seine Gemeinde nicht weiden? Der Maler Breughel hat ein Bild gemalt, wie der Hirte seine Schafe im Stich läßt und der Wolf kommt und sie reißt. Es gibt so viele »Wölfe«, denen die Gemeinde zum Raub wird. Deswegen betet David: »Der Herr ist mein Hirte.« Deswegen sagt Jesus von sich, daß er der gute Hirte ist. Vom Versagen der Hirten wird im Alten wie im Neuen Bund gesprochen – deswegen muß Jesus wiederkommen als der endgültige Hirte. Biblisches Denken ist immer breit angelegt. Heilsgeschichtliches Denken sieht die Texte nie isoliert. Gott denkt in vielen großen Bögen und Linien das ist der Weg zu biblischem Denken.

Lot, der Neffe Abrams, war mit ihm aus Haran aufgebrochen, und nun ertrug das Land nicht ihre großen Herden. Die Weidegründe und Wasserstellen reichten nicht mehr aus. Es kommt zum Streit unter den Hirten, Streit ums Weiderecht. Das ist ein Bild für die Situation mancher unserer Gemeinden, wo es soviel Selbstgerechtigkeit auch unter frommen Christen gibt. Abram gibt hier ein zentrales Beispiel: Laßt uns aufhören zu zanken! Das ist zunächst einmal eine Voraussetzung für das Finden eines Weges aus einem Dilemma. In Glaubensfragen muß um der Eindeutigkeit des Evangeliums willen aber auch mancher Streit durchgestanden werden. Wir denken an Luthers Streiten – das war recht. Aber wenn es in einem Kreis Streit gibt, in dem alle fromm sind, dann stimmt etwas nicht. In der Regel sind die Menschen dann selbstgerecht und pharisäisch; nur sie wissen, was gültig ist, andere wissen es nicht. Wenn jeder die Ursache zum Streit bei sich selbst zuerst sucht, bewegen wir uns in den Leitlinien Jesu: »Zieh zuerst den Balken aus dem eigenen Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.« Von Selbstgerechtigkeit und Scheinheiligkeit müssen wir befreit werden. Das ist der Weg zum Friedenstiften. Gottes Wort ist nicht nur für die anderen da, sondern gerade auch für uns. Gott will keinen Streit unter Brüdern und Schwestern. Deswegen sollen wir Frieden stiften. Wie stiftet man aber Frieden? Indem man sich selbst mit seiner Schuld unter den friedenstiftenden Jesus stellt und um Vergebung bittet. Jeder wahre Christ soll bereit sein, das anzunehmen und von daher kommend zu vergeben. Wenn wir unter Brüdern und Schwestern nicht in Eintracht leben können, was für ein Beispiel geben wir damit der Welt?! Wie oft geht es dabei um absolute Randthemen, die in der Bibel nicht im Zentrum stehen! Aber durch ihre intensive Behandlung können sie zu Spaltungen führen. Aber wenn wir uns spalten, sind wir eine leichte Beute für die Mächte und Kräfte, die gegen uns sind. Seien wir uns darüber im klaren! Der Zank muß beendet werden!

»Steht dir nicht alles Land offen? Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.«

Kann Abram so reden? Er hat aus seinem beschämenden Umgang mit seiner Frau gelernt. Jetzt kann er für sich alles aufs Spiel setzen, das Risiko eingehen, daß er das magere Land bekommt, mit dem es ihm möglicherweise äußerlich schlechtgehen wird. Aber er weiß: Der Herr sorgt für mich. Abram hat gelernt obschon Lot nicht so wichtig ist wie seine Frau. Jetzt gibt er in absoluter Redlichkeit Lot, was dieser begehrt. Das sollten auch wir bedenken, wenn wir einmal in Streit geraten sind, ob mit dem Ehegatten, mit Verwandten oder mit anderen Christen: Der Herr wird für uns sorgen, er wird Frieden bringen. Wenn wir dem andern Raum geben. Wenn wir auf den Herrn vertrauen, auf sein Wort, werden wir redlicher, und wir werden Frieden im Sinne Jesu suchen und finden. Und Abram sieht: Der Herr sorgt für mich. Deshalb kann er im Vertrauen auf ihn handeln. Deshalb sieht er nicht fleischlich, sondern geistlich. Das hat Abram gelernt. Und auch wir sollen das lernen, wobei Jesus uns Lehrmeister sein will.

»Da hob Lot seine Augen auf und besah die ganze Gegend am Jordan. Denn ehe der Herr Sodom und Gomorra vernichtete, war sie wasserreich, bis man nach Zoar kommt, wie der Garten des Herrn, gleichwie Ägyptenland.«

»Der Garten des Herrn« und »Ägyptenland«  – interessant, dieser Vergleich! Und Sodom und Gomorra äußerlich waren es blühende Städte, innerlich aber böse. Dieser Gegensatz muß uns nachdenken lassen äußerlich schön und gut, innerlich aber verdorben. Es geht um den Geist, das Innere, das Motivierende, nicht um das Fleischliche, das Äußere. Lot sieht nur das Äußere, den Schein. Wie viele Männer heiraten eine Frau nur wegen ihrer Schönheit und merken später, daß diese Frau doch nicht zu ihnen paßt. Oder Frauen heiraten ihren großen, starken Helden und stolpern erst später über seine Schwächen. Solche Beobachtungen schließen nicht aus, daß es auch starke oder schöne Menschen gibt, die ein gutes Inneres haben. Es ist nicht alles Blendwerk.

»Da erwählte sich Lot die ganze Gegend am Jordan und zog nach Osten. Also trennte sich ein Bruder von dem andern, so daß Abram wohnte im Lande Kanaan und Lot in den Städten am unteren Jordan. Und Lot zog mit seinen Zelten bis nach Sodom. Aber die Leute zu Sodom waren böse und sündigten sehr wider den Herrn.«

Wie die Leute in Sodom sündigten, wird in Kap. 19 erschütternd deutlich. Bei uns sind heute Begriffe wie Gruppensex, Kindersex, Homosexualität u.a. Begriffe der Umgangssprache. Dieser frühe biblische Text ist ein endzeitlicher Text. Das ist unsere Zeit. Wie lange wird Gott in seiner Langmut noch warten, bis das Gericht über uns hereinbricht? Schamlos wird in unseren Medien aller Schmutz breitgetreten.

»Als nun Lot sich von Abram getrennt hatte, sprach der Herr zu Abram: Hebe deine Augen auf und sieh von der Stätte aus, wo du wohnst, nach Norden, nach Süden, nach Osten und nach Westen.«

Abram steht hier im Zentrum des Landes und sieht, was Gott ihm zeigt. Und dieses Zentrum wollte Rabin in unseren Tagen wieder weggeben? Nur das läßt uns nicht aufbegehren, daß auch ein Rabin (oder einer seiner Nachfolger) Gott dienen muß. Die Zeit wird durch seine Entscheidung verkürzt werden. Wenn die Zeit nicht verkürzt würde am Ende der Tage, würden wir alle vom Glauben abfallen. Die Zeit wird durch solche fleischlichen Entscheidungen deutlich verkürzt werden. Wir werden sehen, wie der Herr handelt.

»Denn all das Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen geben für alle Zeit und will deine Nachkommen machen wie den Staub auf Erden. Kann ein Mensch den Staub auf Erden zählen, der wird auch deine Nachkommen zählen. Darum mach dich auf und durchzieh das Land in die Länge und Breite, denn dir will ich’s geben.«

Hier begegnet uns noch einmal die Land- und Volkverheißung Jahwes. Und einer aus den Nachkommen zog später durch das ganze Land in die Länge und Breite und nahm es zeichenhaft in Besitz – Jesus Christus. Er wählte zwölf Jünger – ein Bild für die Wiederherstellung der zwölf Stämme Israels im Geist – und zeigte sich dann am Schluß in der Inschrift über sich am Kreuz: Jesus von Nazareth, König der Juden.

»Und Abram zog weiter mit seinem Zelt und kam und wohnte im Hain Mamre, der bei Hebron ist, und baute dort dem Herrn einen Altar.«

Hebron die zweitheiligste Stadt in Israel. Die Stadt, in der die Patriarchen begraben sind. Die Kalebsstadt und die Stadt, in der David sieben Jahre als König über Israel regierte. In Israel gibt es für Juden vier heilige Städte, zwei aus biblischem Grund: Jerusalem, die hochheilige Stadt, und Hebron. Die beiden anderen heiligen Städte, Tiberias und Zefat, sind heilig, weil in Tiberias Maimonides wirkte und weil Zefat die Stadt der Mystiker ist. In ihrer unmittelbaren Nähe, im Hain Mamre, läßt Abram sich nieder. Über allen Irrwegen der Menschen dürfen wir wissen, daß der Herr handelt wie und wann er will. Er hat gegenüber Pharao und auch Abram gehandelt, daß Sarai freikommt. Und er wird auch in unserer Zeit handeln, in einer Art und Weise, die niemand voraussehen kann. Gott allein verfügt über seinen Heilsplan. Zwar zeigt er uns schon viel von dem, was er vorhat, aber wie sich das alles entfaltet und wann sich das alles ereignen wird und welche großen Überraschungen damit noch verbunden sein werden darauf müssen wir noch geduldig warten. Die Geschichte Abrams lehrt uns: Er hat gelernt, dem Herrn zu vertrauen. Und das wollen wir jetzt auch in unserem praktischen Leben. Von unserem umtriebigen und hektischen Äußeren unseres Lebens müssen wir wieder zu dem Wesentlichen zurückkommen und das ist zu Christus selbst, zu ihm.

Abram und Melchisedek

Das Tal Siddim aber hatte viele Erdharz gruben. Und die Könige von Sodom und Gomorra wurden in die Flucht geschlagen und fielen da hinein , und was übrigblieb, floh auf das Gebirge. Da nahmen sie alle Habe von Sodom und Gomorra und alle Vorräte und zogen davon. Sie nahmen auch mit sich Lot, Abrams Brudersohn, und seine Habe, denn er wohnte in Sodom, und zogen davon. Da kam einer, der entronnen war, und sagte es Abram an, dem Hebräer, der da wohnte im Hain Mamres, des Amoriters, des Bruders von Eschkol und Aner. Diese waren mit Abram im Bund. Als nun Abram hörte, daß seines Bruders Sohn gefangen war, wappnete er seine Knechte, dreihundertundachtzehn, in seinem Hause geboren, und jagte ihnen nach bis Dan und teilte seine Schar, fiel des Nachts über sie her mit seinen Knechten und schlug sie und jagte sie bis nach Hoba, das nördlich der Stadt Damaskus liegt. Und er brachte alle Habe wieder zurück, dazu auch Lot, seines Bruders Sohn, mit seiner Habe, auch die Frauen und das Volk. Als er nun zurückkam von dem Sieg über Kedor-Laomer und die Könige mit ihm, ging ihm entgegen der König von Sodom in das Tal Schawe, das ist das Königstal. Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein heraus. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten und segnete ihn und sprach: Gesegnet seist du, Abram, vom höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat; und gelobt sei Gott der Höchste, der deine Feinde in deine Hand gegeben hat. Und Abram gab ihm den Zehnten von allem. Da sprach der König von Sodom zu Abram: Gib mir die Leute, die Güter behalte für dich! Aber Abram sprach zu dem König von Sodom: Ich hebe meine Hand auf zu dem HERRN, dem höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, daß ich von allem, was dein ist, nicht einen Faden noch einen Schuhriemen nehmen will, damit du nicht sagest, du habest Abram reich gemacht, ausgenommen, was die Knechte verzehrt haben; doch laß die Männer Aner, Eschkol und Mamre, die mit mir gezogen sind, ihr Teilnehmen. 1. Mose 14, 10-24

Abram, der Vater aller Hebräer, zeigt sich hier redlich in allem, was er tat:

1. Er hielt zu seinem Neffen Lot, auch wenn Lot in der verdorbenen Stadt Sodom wohnte eine Wahl, welche Lot selbst getroffen hatte.

2. Er weigerte sich, selbst etwas vom König von Sodom zu nehmen ». . . damit du nicht sagest, du habest Abram reich gemacht.«

3. Das bedeutet nicht nur, daß er sich selbst nicht bereichern wollte mit dem, was ihm nicht gehört und was vor Gott nicht taugt, sondern zugleich gibt er dem Herrn den Zehnten von seinem Besitz. Damit erkennt er den Herrn, den »höchsten Gott«, als Geber aller Gaben an.

Dazu wird in unserem Text etwas über die Grenzen Israels vorgedeutet: ». . . und jagte ihnen nach bis Dan.« Ja, der Segen an Abram, hier der Segen des Landes, wird sich mit der Zeit erstrecken bis zur nördlichsten Grenze, »bis Dan«. Abram wird einmal, auch wenn er damals nur ein kleiner Heerführer war, das ganze Land übernehmen und die Landverheißung von Beerscheba im Süden, wo Abram auch zu finden war, bis Dan im Norden verwirklichen. Gottes Heilsplan ist von Anbeginn seiner Verheißungen in Gang gesetzt. Er heißt nicht nur »der höchste Gott«, sondern Jahwe, »der seiende, der wirkende Gott«. Und sein Wirken, sein heilsgeschichtliches Wirken kennt keine Grenzen, weder Grenzen der Zeit noch des Raums. Sein Weg des Heils, angefangen mit Abram, wird als Angebot später in Jesus Christus die ganze Welt umfassen.

Diese unwiderstehliche Wahrheit ist noch tiefer verankert in unserem Text, nämlich in Abrams Begegnung mit Melchisedek, dem König von Salem und »Priester Gottes des Höchsten«.
Dieser Melchisedek ging Abram entgegen, als der vom Sieg über die Könige zurückkam, und segnete ihn; Abram gab ihm auch den Zehnten von allem. Melchisedek heißt übersetzt sowohl »König der Gerechtigkeit« als auch »König des Friedens«, denn er ist auch König von Salem. Er ist ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum, hat weder Anfang der Tage noch Ende des Lebens. So gleicht er dem Sohn Gottes und bleibt »Priester in Ewigkeit« so wird er im Neuen Testament im Hebräerbrief genannt.
Wir wollen diese Begegnung zwischen Abram und Melchisedek in sechsfacher Art und Weise betrachten:

1. Melchisedek ohne Stammbaum, ohne Vater und Mutter, König des Friedens und der Gerechtigkeit
2. Melchisedek als Hoherpriester und dazu auch Aaron, der erste Hohepriester Israels
3. Melchisedek als Priesterkönig
4. Melchisedek überreicht Abram Brot und Wein
5. Melchisedek segnet Abram
6. Abram antwortet auf diesen Segen, indem er Melchisedek den Zehnten überreicht.
Alle diese Punkte haben letzten Endes, wie der Hebräerbrief uns deutlich zeigt, mit Jesus Christus zu tun.

1. Melchisedek ohne Stammbaum, ohne Vater und Mutter, König des Friedens und der Gerechtigkeit

Dieser Melchisedek stammt aus Salem, welches später Jerusalem heißen wird. Salem bedeutet Frieden. Jerusalem wird für Israel, nach Abrams Begegnung mit Melchisedek, die Stadt Davids, Israels gerechtem König, dem die Verheißung einer ewigen Dynastie gegeben wird, gegründet in dem Sohn Davids, in Jesus Christus. Melchisedek, ohne Stammbaum, anscheinend ohne Vater und Mutter, hat aber einen Ort, welcher sein Wesen bezeichnet, die Stadt Jerusalem (Salem), die Stadt des Friedens und ewigen Friedens, die Stadt Davids und die Stadt von Jesu Kreuz und Auferstehung, und damit die Stadt des Friedens mit dem Vater und der Gerechtigkeit, der Erfüllung des Gesetzes »Es ist vollbracht«, rief Jesus am Kreuz.

2. Melchisedek als Hoherpriester

In der Malmsheimer Kirche ist durch die neuentdeckten Gemälde auf der rechten Seite ein Bild von Aaron zu sehen, völlig ausgestattet als Hoherpriester ist er dargestellt, mit seiner Kleidung, aber noch wichtiger mit seinem Räuchergefäß und mit einem Buch, der Thora, in den Händen. Das bedeutet, Aaron als der erste Hohepriester Israels, der durch das Rauchopfer Verbindung mit dem unsichtbaren Gott sucht und durch das Buch Hüter des Gesetzes wird. Daneben ist ein Text aus dem Hebräerbrief geschrieben, der in Beziehung zu diesem geheimnisvollen Melchisedek steht, dem Hohenpriester aus den Heiden und zugleich Priester »Gottes des Höchsten«. Beide Aussagen, in Beziehung zu Aaron und Melchisedek gesetzt, münden in Jesus Christus, dem Hohenpriester in alle Ewigkeit, aus dem Geschlechte der Israeliten, damit in der Nachfolge von Aaron. Aber seine Gerechtigkeit ist unbegrenzt, auch für die Heiden und damit geistlicher Nachfolger von Melchisedek. Ja, Jesus ist nicht nur der Hohenpriester in alle Ewigkeit, sondern zugleich das geschlachtete Opferlamm für unser Heil.

3. Melchisedek als Priesterkönig

Dieser Melchisedek ist nicht nur ein »Priester Gottes des Höchsten«, dazu aus den Heiden, in der Stadt des ewigen Friedens, Salem bzw. Jerusalem, sondern er ist zugleich ein König. Diese Linie geht über David, den gerechten König Israels, der aber auch die Stelle des Priesters einnimmt, als er, wie der Priester, die Schaubrote Israels aß oder als er mit einem Priesterschurz um die Bundeslade tanzte. Und Jesus Christus, so sagt der Hebräerbrief, ist der Priesterkönig nach der Linie Melchisedeks und Davids aber in alle Ewigkeit.

4. Melchisedek überreicht Abram Brot und Wein

Diese Aussage spricht von Tischgemeinschaft, einem gesamtbiblischen Thema, das seinen Höhepunkt vor allem hat in der endgültigen Tischgemeinschaft mit Brot und Wein durch Jesu heiliges Abendmahl. Brot bedeutet in der Bibel Leben. Daß dieses Leben vom Himmel kommt, wird durch das Manna in der Wüste bezeugt. Jesus aber nahm das Brot in Beziehung zu seinem Leib, welcher für uns gekreuzigt wurde: »Nehmet und esset, das ist mein Leib, für euch gegeben.« Hier ist Jesu Angebot des Lebens und ewigen Lebens in ihm. »Wein erfreut des Menschen Herz« (Ps. 104,15) er soll ihn aber nicht zu sehr, im Übermaß, erfreuen. Denn »Jesus nahm den Kelch . . . Nehmet, trinket, das ist mein Blut des neuen Bundes.«
Dieses Thema hat mehrere Zwischenstadien, zum Beispiel die erste Plage in Ägypten, als der Nil in Blut verwandelt wurde; es war der erste Schritt auf dem Weg der Befreiung der Israeliten, deren Zielsetzung in Jesu endgültiger Befreiungstat am Kreuz für uns erwirkt wird. Auch Jesu erstes Wunder auf der Hochzeit zu Kana leuchtet auf, als Reinigungswasser in Wein verwandelt. »Meine Zeit ist noch nicht gekommen«, sagt Jesus noch kurz vor seiner Vollmachtstat aber er tut das Wunder als Zeichen seines erlösenden Blutes, unserer wahren Reinigung, damit wir in Freude mit ihm Hochzeit feiern dürfen in seinem Reich. Hier aber wird durch Melchisedeks Begegnung mit Abram der Weg vorbereitet zum Heiligen Abendmahl, dem Neuen Bund und zur ewigen Befreiung in Jesu Kreuzesblut.

5. Melchisedek, dieser Priesterkönig von Salem, segnet Abram

»… und segnete ihn und sprach: Gesegnet seist du, Abram, vom höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat; und gelobt sei Gott der Höchste, der deine Feinde in deine Hand gegeben hat.« Dieser Segenszuspruch durch den gerechten, friedenstiftenden Priesterkönig aus den Heiden ist eine neue Bestätigung des Segens an Abram von dem höchsten Gott: »In dir sollen gesegnet werden alle Völker auf Erden.« Melchisedek verkörpert das Heil, welches Jesus Christus als wahrer, friedenstiftender Priesterkönig für die Heiden bringen wird durch sein Kreuzesblut: den endgültigen Segen des höchsten Gottes. So sehen wir Jesus bei seiner Erhöhung am Kreuz mit segnenden, ausgestreckten Händen, Segen spendend für die ganze Welt, für alle Völker.

6. Und wie antwortet Abram,

das erste Glied auf diesem Weg der Verheißung Gottes, auf diese Hingabe, auf Brot und Wein und auf diesen Segen des gerechten, friedenstiftenden Priesterkönigs Melchisedek?
Er antwortet, indem er handelt: »Abram gab ihm den Zehnten von allem.« Was bedeutet das? Die Anerkennung der Herrschaft Gottes, der Herrschaft des höchsten Gottes über alles, was lebt und sich regt, auch über die Werke unserer Hände. Und später ist es durch Abrams Bereitschaft, Isaak dem Herrn zu opfern, die Anerkennung des höchsten Gottes als Herrscher über uns selbst und als Vorantreiber seiner heilbringenden Gerechtigkeit und seines Friedens, deren Vollendung in der Opferung Jesu Christi stattfinden wird.
Dies alles geschieht direkt am Anfang von Gottes Heilshandeln durch Abram und Gottes Verheißungen für ihn. So umfassend ist diese Begegnung zwischen Melchisedek und Abram, denn die ganze Heilsgeschichte Jesus als gerechter, friedenstiftender Hohenpriesterkönig in alle Ewigkeit, sein Opfer für uns wird hier so deutlich wie möglich vorgedeutet. Der Herr, Jahwe, ist der wirkende Gott. Niemand, keine Mächte und Kräfte können sein heilsgeschichtliches Wirken aufhalten: Eine Geschichte für und mit Israel, für die Gemeinde Jesu und für jeden einzelnen von uns. Gelobt sei Gott der Höchste, Jesus Christus, unser gerechter, friedenstiftender Priesterkönig in alle Ewigkeit!

Gott verheißt Abram einen Sohn und macht einen Bund mit ihm

Nach diesen Geschichten begab sich’s, daß zu Abram das Wort des HERRN kam in einer Offenbarung: Fürchte dich nicht, Abram! Ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn. Abram sprach aber: HERR, mein Gott, was willst du mir geben? Ich gehe dahin ohne Kinder, und mein Knecht Elieser von Damaskus wird mein Haus besitzen. Und Abram sprach weiter: Mir hast du keine Nachkommen gegeben; und siehe, einer von meinen Knechten wird mein Erbe sein. Und siehe, der HERR sprach zu ihm: Er soll nicht dein Erbe sein, sondern der von deinem Leibe kommen wird, der soll dein Erbe sein. Und er hieß ihn hinausgehen und sprach: Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? Und sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein! Abram glaubte dem HERRN, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit. Und er sprach zu ihm: Ich bin der HERR, der dich aus Ur in Chaldäa geführt hat, auf daß ich dir dies Land zu besitzen gebe. Abram aber sprach: HERR, mein Gott, woran soll ich merken, daß ich’s besitzen werde? Und er sprach zu ihm: Bringe mir eine dreijährige Kuh, eine dreijährige Ziege, einen dreijährigen Widder, eine Turteltaube und eine andere Taube. Und er brachte ihm dies alles und zerteilte es in der Mitte und legte je einen Teil dem andern gegenüber; aber die Vögel zerteilte er nicht. Und die Raubvögel stießen hernieder auf die Stücke, aber Abram scheuchte sie davon. Als nun die Sonne am Untergehen war, fiel ein tiefer Schlaf auf Abram, und siehe, Schrecken und große Finsternis überfiel ihn. Da sprach der HERR zu Abram: Das sollst du wissen, daß deine Nachkommen werden Fremdlinge sein in einem Lande, das nicht das ihre ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahre. Aber ich will das Volk richten, dem sie dienen müssen. Danach sollen sie ausziehen mit großem Gut. Und du sollst fahren zu deinen Vätern mit Frieden und in gutem Alter begraben werden. Sie aber sollen erst nach vier Menschenaltern wieder hierherkommen; denn die Missetat der Amoriter ist noch nicht voll. Als nun die Sonne untergegangen und es finster geworden war, siehe, da war ein rauchender Ofen, und eine Feuerflamme fuhr zwischen den Stücken hin. An dem Tage schloß der HERR einen Bund mit Abram und sprach: Deinen Nachkommen will ich dies Land geben, von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom Euphrat: die Keniter, die Kenasiter, die Kadmoniter, die Hetiter, die Perisiter, die Refaiter, die Amoriter, die Kanaaniter, die Girgaschiter, die Jebusiter. 1. Mose 15

Gottes Wirken an Abram, dem ersten Patriarchen und Vater der Gläubigen, hatte angefangen mit der vierfachen Verheißung:
Sein Volk wird ein großes Volk werden sein Volk wird das Land besitzen, welches der Herr ihm zeigen wird wer Abram und seine Nachkommen verflucht, wird verflucht werden, und wer Abram segnet, wird gesegnet werden. »Durch dich werden gesegnet alle Volker auf Erden.« Diese grundlegenden Zusagen an Abram mit dem Befehl, das heidnische Vaterland zu verlassen und sich ein neues Land zeigen zu lassen, kann man als ein Leitmotiv, als einen zentralen Befund in Beziehung zu Abrams ganzem Leben, ja, auch in Beziehung zu Israels und unserer ganzen Geschichte sehen. Israel soll Gottes erstgeliebtes Volk, Gottes Eigentum werden, und durch dieses Volk soll der kommen, der das Heil für alle Völker sein wird. Israels Erwählung und Segen gelten nicht nur für sich, sondern für die ganze Welt. Anders gesagt: Das Alte Testament ist nicht ein »Judenbuch«, sondern ein Buch für alle Volker. Denn was der Herr durch Abram und seine Nachkommen tut, wird den Weg bereiten zum Heil für alle Volker. Deshalb sprechen die Propheten auch zu den Volkern rings um Israel und sogar zu Völkern, welche sehr weit weg leben. Deshalb schließen sich die Menschen aus den Volkern Israel an, schon bei ihrem Auszug aus Ägypten, bis hin zu den Gottesfürchtigen, von denen das Neue Testament schreibt, die als Heiden den Gott Israels anerkennen, aber nicht das ganze Gesetz halten müssen. Viele dieser Gottesfürchtigen werden dann später Christen. Es wird deutlich: Der Herr wirkt durch einzelne Menschen, wenn er Weltgeschichte gestaltet als »Jahwe«, als der seiende, wirkende, geschichtsgestaltende Herr.
In diesem Bibelabschnitt geht es direkt um zwei Aussagen des vierfachen Segens an Abram um das große Volk und das Land Israel. Aber auch Segen und Fluch werden indirekt mit angesprochen, ebenso Gottes geschichtlicher Weg mit Israel und damit auch mit uns.

»Fürchte dich nicht, Abram! Ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn. Abram sprach aber: Herr, mein Gott, was willst du mir geben? Ich gehe dahin ohne Kinder, und mein Knecht Elieser von Damaskus wird mein Haus besitzen. Und Abram sprach weiter: Mir hast du keine Nachkommen gegeben.«

Wir lernen aus diesem Abschnitt, daß unser Glaube nicht ein passiver Glaube ist, wie bei den Götzen des Buddhismus und Hinduismus. Abram redet sehr direkt mit dem Herrn, klagt ihn indirekt sogar an. So sollen unsere Gebete sein, wie Martin Buber das ausdrückte: Gespräche in einer Ich-Du-Beziehung mit dem Herrn, oder wie die Propheten ständig fragen: »Herr, warum? Herr, wie lange?« Wir kämpfen innerlich um Richtungsweisung, um Antworten; und wenn wir keine Antworten bekommen, sagen wir, meinen wir und beten wir: »Aber Herr, dein Wille geschehe.« Und wenn wir Antworten bekommen, die uns nicht passen, die gegen unseren eigenen Willen sind, dann sagen wir, meinen wir und beten wir: »Aber Herr, du weißt viel besser, was wirklich für mich gut ist, dein Wille geschehe.« So erwidert Abram in unserem Text dem Herrn auch nichts, als der Herr voraussagte: »Das sollst du wissen, daß deine Nachkommen werden Fremdlinge sein in einem Lande, das nicht das ihre ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahre.« Vierhundert Jahre sind keine kurze Zeit. Aber der Herr verspricht Abram in dem Zusammenhang Nachkommen, obwohl seine Ehe bislang unfruchtbar war: »Sieh gen Himmel, und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? Und er sprach zu ihm: »So zahlreich sollen deine Nachkommen sein.« Das versprach der Herr gleich nachdem Abram ihn angeklagt hatte, daß er ihm keine Nachkommen gegeben habe. Es ist zwar nicht unser Weg, den Herrn anzuklagen, seine Gerechtigkeit in Frage zu stellen. Aber manchmal fühlt sich der Herr trotz unseres Übermuts herausgefordert zu handeln, wie hier bei Abram, denn er ist der Herr des Lebens.

Ein Kollege erzählte mir aus seinem Leben: Als er acht Jahre alt war, platzte sein Blinddarm. Die Ärzte kamen damals an ihre Grenze und konfrontierten die Eltern mit dem Schlimmsten, sie hatten die Hoffnung für das Kind aufgegeben. Die frommen Eltern aber beteten um die Gesundheit ihres Sohnes, obwohl der Achtjährige seine Eltern angriff und den Herrn herausforderte: »Warum betet ihr denn? Euer Gott tut ja doch nichts.« Dann sei er in einen tiefen, einen ganzen Tag dauernden Schlaf gefallen. Als er aufwachte, sei er aufgestanden und gesund nach Hause gegangen – solch eine Erfahrung kann man nicht »machen«, denn der Gott der Bibel ist und bleibt der Herr, und er kann tun, wann und was er will, auch ohne unser Verdienst, manchmal sogar trotz unseres Versagens auch ihm gegenüber.

»Abram glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit.«

»Allein aus Glauben« gilt als der zentrale Satz der Reformation, der in diesem Text einen seiner zentralen biblischen Pfeiler hat. Ich kann mich noch gut an die Gesichter mancher meiner Konfirmanden erinnern, als ich ihnen von der Entrückung im Zusammenhang von 1. Thessalonicher 4 erzählte. Mancher schmunzelte, wie die alt gewordene Sarai, Abrams Frau, schmunzelte, als sie hörte, daß sie in ihrem hohen Alter ein Kind gebären solle. Aber dann sagte ich zu meinen Konfirmanden: »Können wir uns überhaupt die Größe des Schöpfers vorstellen? Es gibt Sterne, die Milliarden von Lichtjahren von uns weg sein sollen. Und uns fällt es schon schwer, uns die Entfernung vorzustellen, die das Licht an einem Tag zurücklegt.

»Und der Herr sprach: Sieh gen Himmel, und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? Und er sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!«

Israel war zwar immer ein kleines Volk, aber im gesamten Zeitablauf gesehen ist diese Aussage wahr geworden, denn Israel hat Verfolgung nach Verfolgung überlebt, bis die letzte solcher Verfolgungen im Dritten Reich das Volk zurück in sein Land brachte ein endzeitliches Ereignis, welches der Prophet Hesekiel um 600 vor Christus im Kapitel 37 seines Buches genau voraussagte.

»Und er sprach zu ihm: Ich bin der Herr, der dich aus Ur in Chaldäa geführt hat, auf daß ich dir dies Land zu besitzen gebe. Abram aber sprach: Herr, mein Gott, woran soll ich merken, daß ich’s besitzen werde?«

Abram fordert ein Zeichen vom Herrn. Das Land war groß und Abrams Geschlecht klein. Es steht uns nicht zu, in allen möglichen Situationen Zeichen vom Herrn zu fordern, denn der Herr hat sein endgültiges Zeichen, seine Liebe, seine Zusage, sein Heil für uns gegeben sein Kreuz. Wer mehr als das Kreuz braucht, hat nicht begriffen, was das Kreuz Jesu bedeutet. Wer mehr als das Evangelium haben will, hat nicht das wahre Evangelium im Sinn. So antwortete auch Jesus seinen zeichenfordernden Gegnern, den Schriftgelehrten und Pharisäern, daß er ihnen nur ein Zeichen geben wird, nämlich das des Jona, der drei Tage im Bauch des großen Fisches war eine Vordeutung seines Kreuzes. Aber damals ging der Herr in zweifacher Weise auf seinen Knecht Abram ein:

1. Durch Erschrecken und große Finsternis, welches Abram überfiel, und wie der Herr dies deutete; und
2. durch Gottes Bund mit Abram, nachdem dieser ihm geopfert hatte

Bemerkenswert ist, daß wahrer Glaube fast immer bedeutet, in die Tiefe geführt zu werden, durch Leiden, sogar durch Irrungen und Wirrungen gehen zu müssen: »Als nun die Sonne am Untergehen war, fiel ein tiefer Schlaf auf Abram, und siehe, Schrecken und große Finsternis überfielen ihn. Da sprach der Herr zu Abram: Das sollst du wissen, daß deine Nachkommen werden Fremdlinge sein in einem Lande, das nicht das ihre ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahre.« Alle großen Helden Gottes gingen Wege, die menschlich gesehen als Irrungen und Wirrungen erschienen, bis der Herr mit ihnen an sein Ziel kam. Aber die Erkenntnis scheint mir biblisch richtig zu sein, daß unsere uns geradlinig vorkommenden Wege in Wirklichkeit voller Irrungen und Verwirrungen sind, daß aber Gottes Wege, ganz anders als wir sie sehen, immer gerade verlaufen. Wir sind gar nicht in der Lage, immer zu wissen, was und wann wir etwas brauchen; oft müssen wir leiden, um zum wahren Heil zu kommen; oft müssen wir, wie das Volk Israel, alle möglichen scheinbaren Irrwege gehen, bis der Herr mit uns am Ziel ist. Er ist der gute Hirte. Und als solcher führt er uns auf seinen Wegen, und diese Wege sind trotz unserer Zweifel gerade, gut und zielgerichtet.

»Aber ich will das Volk richten, dem sie dienen müssen. Danach sollen sie ausziehen mit großem Gut. Und du sollst fahren zu deinen Vätern mit Frieden und in gutem Alter begraben werden.«

Der Herr spricht hier seinen Segen, seinen Schutz, seine Führung über Abram und seine Zukunft und die Zukunft seines Volkes. Das gilt auch für jeden gläubigen Christen.
»Sie aber sollen erst nach vier Menschenaltern wieder hierher kommen; denn die Missetat der Amoriter ist noch nicht voll.«

Segen und Fluch. Und wie steht es hiermit in Deutschland, heute? Jahwe, der seiende, wirkende Gott, hat seinen Heilsplan beschlossen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Er wirkt, er erfüllt aber wann und wie er will an Israel, an der Gemeinde Jesu und an einem jeden von uns. Wir sollen endlich lernen, ihm ganz und gar zu vertrauen, denn er hält, was er verspricht. Und wenn wir daran glauben, dann wird er uns auf seinen Wegen führen, wenn wir diese auch nicht immer gleich als solche erkennen. Aber diese Wege sind seine guten und in seinem Sinne geraden Wege, und sie führen zu seinem Ziel für uns Gläubige, zu seinem ewigen Reich.

Hagar und Ismael

Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der HERR hat mich verschlossen, daß ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der Stimme Sarais. Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Magd Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem sie zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatten. Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, daß sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering.
Da sprach Sarai zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, daß sie schwanger geworden ist, bin ich geringgeachtet in ihren Augen. Der HERR sei Richter zwischen mir und dir. Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt. Als nun Sarai sie demütigen wollte, floh sie von ihr. Aber der Engel des HERRN fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her, und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen. Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand. Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, daß sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört. Er wird ein wilder Mensch sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird wohnen all seinen Brüdern zum Trotz. Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiß habe ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. Darum nannte man den Brunnen »Brunnen des Lebendigen, der mich sieht«. Er liegt zwischen Kadesch und Bered. Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael. Und Abram war sechsundachtzig Jahre alt, als ihm Hagar den Ismael gebar. 1. Mose 16

»Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind.«

Das ist das erste Gebot in der Thora: »Mehret euch!« Weil das grundlegende Ereignis Gottes die Schöpfung ist, sollen wir aus dieser Schöpfung die physische Kraft bekommen, uns zu mehren. Das ist ein zentrales Thema in vielen Familien, in Dynastien, die ausgestorben sind; es ist auch ein zentrales Thema in der Bibel. Sie weiß von einer ganzen Anzahl Frauen zu berichten, die nicht in der Lage waren, Kinder zu bekommen. Sarai war eine von ihnen; Rahel, die sehr bevorzugt war wegen ihrer Schönheit, konnte zunächst auch kein Kind bekommen; ein weiteres Beispiel ist Hanna, die Frau Elkanas, der sie sehr liebhatte, sie aber litt sehr unter ihrer Kinderlosigkeit; auch der unfruchtbaren Ehe von Elisabeth und Zacharias wurde erst nach langem Beten im hohen Alter ein Kind gewährt.

Solche »Unschöpfung«, daß man kein Kind gebären kann, bedeutet letzten Endes, daß man an Gottes Schöpferkraft nicht richtig teilhat. Das ist die theologische Bedeutung. Gott aber zeigt an diesen Menschen, daß er Kinder gibt und daß er auch dann Kinder geben kann, wenn aus biologischen Gründen kein Kind zu erwarten ist. Auch das Entstehen des irdischen Lebens Jesu im Schoß der jungfräulichen Maria ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß der Schöpfergott, wie ihn uns die Bibel bezeugt, als der Herr über den biologischen Gesetzen steht. Genauso ist er ja auch der Herr über den Gesetzen Moses, von denen Jesus bezeugt:
»Mose sagte euch . . ., ich sage euch . . .« Wir kennen dies aus der »Bergpredigt« Jesu, die seine endgültige Auslegung des Willens Gottes im Geist des Gesetzes Mose ist. So ist es ein biblisches Thema: »Gottes Herrschaft über die biologischen Gesetze«. Die biologischen Gesetze hat der Herr mit seiner Schöpfung eingesetzt, Ordnungen, die sich nicht selbst schaffen, sondern dem Meisterplan Gottes entsprechen. An einer Anzahl Frauen, die entweder zu alt waren, ein Kind zu bekommen, wie Sarai, oder unfruchtbar waren, wird deutlich, daß der Herr immer noch Leben geben kann. Es war eine seelsorgerliche Erfahrung für mich, miterleben zu dürfen, daß eine Frau, die ihr einziges Kind verloren hatte, noch zwei Kinder bekommen hat, obwohl die Ärzte das für unmöglich hielten. Der Herr ist Herr auch über biologische Gesetze. Als die Menschen der Urgeschichte in Folge ihrer Sünde merkten, daß sie sterblich waren, wich die Geborgenheit im Garten einer überschattenden Kühle. Als Maria vom Heiligen Geist »überschattet« wurde, wird das, was durch das Verhalten von Adam und Eva verlorenging, wiederhergestellt in Jesus Christus, unserem Herrn. So handelt Gott und stellt über die Gesetzmäßigkeit der Sünde das Handeln seines Heils. Der Maler Cranach hat einmal Jesus dargestellt mit einer Obstfrucht in der Hand, seine Augen sind auf den Betrachter gerichtet, als wollte er sagen: Durch dieses seid ihr alle gefallen, aber ich werde eure Beziehung zum Herrn wiederherstellen. Durch Adams und Evas Ungehorsam sind wir alle mit gefallen, durch Christus aber ist das Angebot des Heils für alle da.

Wir wissen alle, daß es Ehen gibt, die aus biologischen Gründen kinderlos bleiben. Aber diese sind deshalb sicherlich nicht vom Herrn benachteiligt. Vielmehr können sie zu einer außerordentlichen Bereicherung für unsere Gemeinden werden. Viele unserer besten Mitarbeiter sind Frauen oder Männer, die keine leiblichen Kinder haben, aber sie haben ihre »Kinder« in der Gemeinde. Sie haben »Kinder im Geist« wie der Apostel Paulus. Die Wertigkeit einer Ehe liegt nicht nur in der Gabe von Kindern wenn dies zu Zeiten des Alten Bundes auch vorherrschend so war. Im Neuen Bund geht es aber nicht mehr vornehmlich um die Schöpferkraft Gottes, sondern um die Neuschöpfung in Christus. Es geht nicht insbesondere darum, ob man Kinder hat oder nicht, sondern ob man ein Kind Jesu wird, indem man ihn annimmt. Die Frage nach dem Kind in der Ehe gewinnt über die nach wie vor wirkende Schöpferkraft im Neuen Bund einen neuen Inhalt.

Vor dem Hintergrund der Verheißung Gottes an Abram gewinnt die Frage nach dem Kind noch eine ganz andere Dimension: »Durch dich sollen gesegnet werden alle Völker auf Erden.« Nachkommen aus einer unfruchtbaren Ehe? Mit zunehmendem Alter wird die Frage brennend, und Ungeduld stellt sich ein. Doch der Herr kennt das Fragen unseres Herzens und hört unser Beten, wann und wie er will, öfters ganz anders, als wir es gerne sehen und haben wollen, und öfters zu einem Zeitpunkt, an dem wir es überhaupt nicht erwarten. Vergessen wir nicht: Er ist Herr über sein Wort und über seine Heilsgeschichte und über seinen Geist.
»Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar.«

Hagar – Ägypten, da laufen durch die Bibel geschichtliche Linien. Da lassen sich gleichsam dialektisch zwei Linien über Ägypten in der Bibel verfolgen: Ägypten ist ein Land der Zuflucht und das Land des Leids. Das erste erinnert uns an Josef oder an Jeremia und vor allem auch an Jesus Christus, der als Kind in Ägypten vor dem Kindermord in Bethlehem Zuflucht suchte. Ägypten Ort der Zuflucht!
Zugleich ist das auch eine Zeichenhandlung: Es ist ein Ort, an dem das Heil weitergegeben wird an die Heiden. In Jesaja 19 wird die Straße des Heils, die Friedensstraße, gezeigt, die von Israel über Ägypten nach Assyrien ins Land der Heiden führt. Jesus, unser Friede, geboren in Israel, geht nach Ägypten, kehrt zurück nach Jerusalem zum Heil der ganzen Welt und sendet schließlich seine Boten von Antiochien in Syrien, der ersten heidenchristlichen Gemeinde, mit der Botschaft des Evangeliums hinaus in alle Welt.
Die andere Linie, die Linie des Leids, ist das Umgekehrte. Wenn ein Jude an Ägypten denkt, denkt er vor allem an die schreckliche Verfolgung, die seine Vorfahren vierhundert Jahre lang erlebt, erlitten haben. Schon damals war das Ziel der Verfolgung, das Volk auszurotten. Aber der Herr hat es errettet. So hat der Name Ägypten im biblischen Zusammenhang eine doppelte Bedeutung. Gott sieht: Hagar, die Ägypterin, wird Ismael (d. h. der Wanderer) gebären, der hier stellvertretend für die arabischen Völker erwähnt wird, für die wandernden Völker des Vorderen Orients. Während Ägypten eigentlich immer ein Kulturland war, dessen Einwohner von der Fruchtbarkeit der weiten Nilaue lebten. Es liegt bis heute eine tiefe Spannung darin: Ägypten, das fruchtbare Kulturland, und die unruhigen Beduinenstämme der arabischen Völker, die von dem Sohn stammen, der von Hagar geboren wird. Hagar kommt aus Ägypten, ist aber eine Magd.
»Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der Herr hat mich verschlossen, daß ich nicht gebären kann.«

Sarai weiß, sie ist nicht in der Lage Kinder zu bekommen, und das kommt vom Herrn. Demgegenüber steht die große Verheißung desselben Herrn: »Durch dich, Abram, werden gesegnet alle Volker auf Erden«, und »das Volk wird so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel oder der Sand am Meer«. Da muß doch geradezu eine große Ungeduld aufbrechen. Und diese Ungeduld wird verhängnisvoll. Sie will ans Ziel kommen. Der Herr hat doch dies Ziel versprochen! Viel später hatten sich zwei Menschen damit abgefunden, daß sie kein Kind bekommen würden – Elisabeth und Zacharias. In ihrem Alter hegten sie diese Hoffnung nicht mehr. In Sarai, in ähnlicher Situation, keimte ein anderer Gedanke auf: Wir bereiten das selbst vor.
Beide rechneten nicht mehr mit dem Vorhaben und dem Handeln des Herrn. Es drängte sich der Sarai auf, die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen. Das ist gefährlich! »Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme.«
Für uns ist diese Art zu denken befremdend, aber in jener Zeit war das logisch: Ich bin die Herrin, sie ist die Magd, und sie übernimmt stellvertretend, was ich nicht kann. Ob ihr bewußt war, daß das ein Spielen mit dem Feuer war? Wenn nämlich eine Frau ein Kind bekommt, ist sie die Mutter; da gibt es keine Stellvertretung wenn heute auch das Problem der »Leihmutter« wieder wohlwollend diskutiert wird. Nein, hier geht es um den intimsten Bereich.
Sarai spielt mit dem Feuer, weil sie der Möglichkeit Raum gibt, daß ihr Mann an der andern Frau festhalten kann. Denn Geschlechtsverkehr ist ja nicht nur ein physischer Akt – mindestens sollte es nicht so sein -, sondern er umschließt die ganze Person beider Beteiligten. War Sarai in ihrer Ungeduld bereit, diesen vom Schöpfer gewollten Schutz aufs Spiel zu setzen? Der Gedanke der Logik jener Zeit ist da keine befriedigende Antwort, die zeitlos gültig wäre. Ihr Vorgreifen vor Gottes Handeln bringt für Israel einen seiner zentralen Feinde seiner ganzen Geschichte hervor, dem Machtanspruch und Wildheit von Anfang an bis in unsere Zeit wesenseigen ist.

»Und Abram gehorchte der Stimme Sarais.«

Er stand damit in der verhängnisvollen Linie von Adam und Eva, wo Adam bedenkenlos der Stimme seiner Frau gehorchte.
Mann und Frau sind von Gott aber als sich gegenseitig ergänzende Einheit geschaffen, in der einer auf den anderen achtet.
Deshalb gibt es in einer guten Ehe keine Herrschaft,
sondern Achtung und Beachtung, Verantwortung und Zuordnung, in der Liebe gegründet.
Und da liegt auch die Verständnishilfe, wenn Paulus Ehe und Gemeinde in bildhaften Vergleich zieht (Eph. 5). Erstaunlich ist, daß der Herr dennoch an sein Ziel kommt, aber nicht wegen der Risikobereitschaft von uns Menschen, wegen unseres Heldenmuts oder unserer Weitsicht, sondern im Gegenteil! er kommt ans Ziel, weil er ans Ziel kommt. Und für seinen Weg kann er ganz schwache Menschen benutzen und tut das immer wieder. Was sind das denn für Menschen, die er erwählte?
Mose, ein Totschläger
David, ein Ehebrecher und Mörder
Paulus, der die Verantwortung für Stephanus’ Tod trägt . . .

Aber Gott kommt ans Ziel auch durch solche Menschen. Das gibt uns die Hoffnung, daß er auch mit uns ans Ziel kommen wird. Das will uns die Bibel lehren: Gott will mit uns ans Ziel kommen, wenn er nur unser Herr ist.

»Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Magd Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem sie zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatten.«

Zehn ist in der Bibel die Zahl der Gerechtigkeit. Das wird unter anderem an der Zahl der Gebote deutlich. Durch die ganze Bibel hindurch läßt sich aber auch beobachten, wie diese Zahl durch zwei in die Zahl der Vollkommenheit verändert wird: 10+2=12. Zehn Stämme des Volks gehen verloren, zwei bleiben: Juda, der größte (aus ihm stammt Jesus), und Benjamin, der kleinste (Paulus gehört zu ihm).
Zehn Männer braucht man in Israel für einen Gottesdienst Jesus aber sagt: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Er bricht damit das jüdische Gesetz zehn jüdische Männer stehen diesen zwei gegenüber. Das Zeugnis von zweien wird zur Gerechtigkeit Gottes gebraucht unter dem Kreuz Jesu, bei der Auferstehung, und bei den beiden »Emmaus-Jüngern«, denen der noch unerkannte Auferstandene die Schrift auslegt und damit die wahre Gerechtigkeit Gottes zeigt; aber auch schon im Alten Bund mit Josua und Kaleb.
Die Zehn als Zahl der Gerechtigkeit kippt öfters um zur Ungerechtigkeit;
hier bei Sarai das erste Mal: »Nach zehn Jahren . . .« Aber Sarai will ihren Weg gehen: Sie nimmt die Sache in ihre eigenen Hände, geht eigene Wege, die nicht Gottes Wege sind. Das führt zu verhängnisvollen Auswirkungen für Israel – bis heute! Sarai verstößt gegen die Gerechtigkeit Gottes.
Sie will zu ihrer Zeit ans Ziel kommen, durch ein stellvertretendes Kind, nicht durch das verheißene Kind. Das bedeutet, sie handelt gegen das, was Gott will, gegen seine Gerechtigkeit.

»Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, daß sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering.«

Hagar, die Magd, kann ein Kind von Abram erwarten, stellvertretend, aber was bedeutet das?
Sie ist doch die Mutter. Verwundert es, daß sie anfängt, sich zu überheben? Sie ist doch die Fruchtbare, sie wird doch das Kind gebären – was bedeutet da »stellvertretend«, auf ihrer Herrin Sarais Schoß, wie man das umschrieb.
Nein, es ist ihr Kind, sie ist die Mutter und Abram der Vater. Und was könnte in Sarai vor sich gegangen sein? Der Textzusammenhang läßt schließen, daß sie sensibel reagierte, ja, wohl eifersüchtig wurde, nicht nur weil ihre Magd nun ein Kind von Abram erwarten konnte und sie nicht, sondern auch schon, weil ihr Mann eine intime Beziehung zu dieser Frau aufgenommen hatte. Eine durchaus verständliche Eifersucht. Sarai ist innerlich verunsichert, nicht wegen ihrer Unfähigkeit, ein Kind zu bekommen, sondern auch wegen ihrer Beziehung zu ihrem Abram. Sie hatte sich auf den Weg gegen Gottes Heilsaussage begeben. Es ist hilfreich, rechtzeitig zu bedenken, was daraus wird, wenn wir eigenmächtig handeln als unruhige, ungeduldige Menschen.

»Da sprach Sarai zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich!«

Hier begegnet uns eine typische Haltung, die den Sündenbock festmachen will. Sie regt an, Abram solle sich der Hagar zuwenden; er tut das mit der Folge, daß ein Kind erwartet wird – genau das, was Sarai ja so haben wollte -, und jetzt klagt sie an: »Das Unrecht, das mir geschieht!« Bei wem liegt aber die Ursache für dieses Unrecht? Doch vor allem bei Sarai. Sie aber sucht die Schuld bei ihrem Mann. Sicher, er ist mitschuldig. Aber hier läuft das gleiche Verschiebespiel ab wie beim Sündenfall Adams und Evas:
»Es war das Weib«, und das Weib sagt: »Es war die Schlange.« Wer aber sucht und sieht die Schuld bei sich selbst? Darum geht es in unserem Glauben! Glaube bedeutet, nicht die Schuld bei anderen zu suchen, sondern bei uns selbst. Und das ist das Furchtbare in der Geschichte der Christenheit, daß die Christen das Volk Israel zum Sündenbock abgestempelt haben. Die Juden sind immer an allem Schuld.
Das reicht bis in die aktuelle Gegenwart, z. B. in Rußland. Gottesfürchtige Juden lernen noch heute: Suche immer die Schuld zuerst bei dir, nicht bei den anderen! Das war auch Inhalt der Lehre Jesu. Und wer stand ihm durch die Jahrhunderte und die Jahrtausende eigentlich näher, die Juden oder die Christen? Immer wieder waren die Juden die Überfallenen, die Bedrängten, die Entmachteten. Während im »christlichen« Abendland ständig Kriege gegeneinander geführt wurden. Wehren sich aber einmal die Juden, wirft man ihnen vor, sie handelten nach der alttestamentlichen Devise »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ist das nicht eher christliches statt »typisch« jüdisches Handeln?
Ein gottesfürchtig erzogener Jude fragt sich, wo er schuldig geworden ist, er fragt auch nach unerkannter Schuld. Aber bestimmt das auch das Denken vieler Christen? Suchen sie nicht wie Sarai ihre eigene Gerechtigkeit und reden lieber hinter dem Rücken anderer, um ihre eigene Gerechtigkeit, ihren eigenen Willen durchzusetzen? Auch in christlichen Gemeinden! Das ist genau das, was Sarai tut. Die Schuld liegt zuerst bei ihr. Aber Abram ist mitschuldig, denn er handelt bedenkenlos auf ihr Geheiß hin. Und nun weiß sie nur zu sagen: »Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich!« Das ist ein Fluch. Gerade der, der den Segen anscheinend für sie erfüllt hat, Abram, der ihr ein Kind gibt, soll hier von ihr verflucht werden ». . . das komme über dich.« Und es sollte noch über ihn kommen. Denn was in Ägypten mit den Nachkommen Abrams passieren würde, hatte Gott in einem furchterregenden Traum zu Abram gesprochen (Kap. 15,12-14). Hagar, die Magd, die ihm Sarai gab, kam aus Ägypten. Sarai hätte die Auswirkung ihres Tuns voraussehen können. Auch Abram, der große Glaubensheld, tut es nicht. Das ist kurzsichtig. Der Herr hatte Nachkommen versprochen, unzählbar viele sogar. Aber er läßt sich in die Eigenmächtigkeit seiner Frau einbeziehen und muß sich nun des Unrechts bezichtigen lassen.

»Der Herr sei Richter zwischen mir und dir.«

Diese Aussage begegnet uns immer wieder in der Bibel: Er, der Herr, sei Richter! Sarai richtet sich selbst mit solcher Aussage, denn die Überlegung mit der Magd kam doch von ihr! Und das sollte noch verhängnisvoll werden für Israel! Wir sehen selten die Konsequenzen unseres Tuns voraus, denn das liegt nicht in unseren Händen. Bismarck hatte eine Liste geführt über die möglichen Auswirkungen seines Tuns – positive und negative. Oft war er dann völlig überrascht, was für Auswirkungen sein Tun hatte. Es gibt Konsequenzen, die wir nicht voraussehen können. Das sind oftmals nur Kleinigkeiten, die wir tun oder entscheiden – aber die Folgen sind groß. Wir sehen, was sich ereignet, nur aus unserem Blickwinkel. Nur wenige Menschen sind fähig, sich in die Lage eines anderen ganz hineinzuversetzen, zu fragen: Wie reagiert der andere? Die meisten denken nur: Ich will. . ich habe . . ., ich tue . . . Auch Sarai denkt so, eigensinnig, eigenmächtig und Israel muß einmal hart dafür bezahlen.

»Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt.«

Abram merkt: Dahinter steckt Eifersucht. Das ist eine durchaus menschliche Reaktion, meist mit üblen Folgen. Abram will Sarai deutlich machen: Ja, ich akzeptiere dich als die Mutter, denn sie ist deine Magd und steht damit unter deiner Herrschaft. Er ist sensibel gegenüber seiner eifersüchtigen Frau. Denn er sieht, daß es ihr letzten Endes darum geht, Abrams Liebe nicht zu verlieren, weil nun die andere ein Kind von ihm hat. Es ist wohl klug, daß er so reagiert: »Deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt.« Und doch geht er dann zu weit. Ist das ein gerechter Herr, der angesichts der Eifersucht seiner Frau sagt: »Tu mit ihr, wie dir’s gefällt«? Er hätte wissen können, daß sie in ihrem Zorn nun ungerecht handeln würde. Das führt dann zu Ungerechtigkeit Sarais gegenüber Hagar. Das ist gegen den Willen des Herrn, denn der Gott der Bibel aber ist ein gerechter Gott.
So sieht es doch oft auch bei uns selbst aus es ist so uneinheitlich wie ein Dach, das mit unterschiedlichen Ziegeln gedeckt ist; es ist zugedeckt – aber da paßt etwas nicht zueinander. So ist das auch hier. Aber das Wunderbare ist, Gott kommt dennoch an sein Ziel! Die Menschen können alles Mögliche tun – Gott kommt ans Ziel. Das darf jedoch nicht zu der Schlußfolgerung führen: Also tun wir alles, was wir wollen, denn der Herr kommt ja ohnehin an sein Ziel. Nein, wir müssen in Bußbereitschaft nach seinem Willen fragen, nach seinen Geboten, nach seinem Wort handeln und uns an seiner Liebe und seinem Weg orientieren. Der Herr ist der Hirte, er geht voran, er weiß den Weg, um ans Ziel zu kommen mit seinem heilsgeschichtlichen Plan, für Israel, für die Gemeinde und für jeden von uns.

»Als nun Sarai sie demütigen wollte, floh sie von ihr.«

Das war nur logisch. Sie hat das Recht zu fliehen, denn jetzt wird sie ungerecht behandelt. Abram und Sarai stehen damit nach allem, was geschehen ist, nochmals am Anfang des ihnen verheißenen Weges – ohne Kind. Trotz aller vermeintlichen Klugheit stehen sie wieder am Nullpunkt. So ist das öfters in unserem Leben mit unseren ausgeklügelten Gedanken und Wegen. Und wenn wir nicht in Christus sind, wird das auch mit unserem Tod so sein: »Nackt kam ich von meiner Mutter Leibe und nackt kehre ich zurück.«

»Aber der Engel des Herrn fand sie bei einer Wasserquelle . . .«

Er muß nicht nach ihr suchen, denn der Engel des Herrn ist im Alten Testament Gott selbst – und Gott sieht. »Der Engel des Herrn«, das bedeutet, Gott selbst fand sie. Wo Gott sieht, wo Gott findet, wo Gott spricht, geschieht etwas. Gott ist nicht da, um zu denken – Gott ist da, um zu handeln. Das ist Gottes Wesen. Gott braucht nicht erst zu denken, denn er weiß alles. Jahwe, der Seiende, der Wirkende, das ist sein Wesen.

Hagar ist in die Wüste geflohen. Die »Wüste«, der Ort der Versuchung das ist ein stehendes Thema in der Bibel. Israel in der Wüste, Jesus in der Wüste. Die »Wüste« das ist der Ort des Heils, das ist die Brautzeit im Alten Testament, die Wüstenwanderung. Oder denken wir an Saul und David: David kommt in Versuchung, Saul in der Wüste umzubringen; doch er tut es nicht, sondern schneidet nur einen Zipfel von seinem Rock ab, und das wird ihm zum Heil. Doch die Wüste ist auch ein Ort der Dämonen. Unser Leben ist, als gingen wir durch eine Wüstenlandschaft zum Himmelreich, zu Gottes Reich. Israel ging durch die Wüste zum fruchtbaren Land. Aber da ist eine Spannung im Alten Testament: Wo besteht die tiefste Beziehung zu Gott, im Land oder in der Wüste? Für mehrere Propheten ist es die Wüstenzeit. Dort ist man total abhängig von Gott in bezug aufs Essen, aufs Trinken, auf die Orientierung, auf die Gerechtigkeit, in allem. Letzten Endes sind wir immer total abhängig von Gott, ob wir das einsehen wollen oder nicht. Der Herr gibt Leben, er gibt Liebe, er gibt einen Sinn für Leiden und Tod, und er allein kann wahre Führung geben.
Am Wasser »fand« Gott Hagar. Wasser, fließendes Wasser das ist ein immer wiederkehrendes Bild in der Bibel, Fließendes, ein Bild für Leben, Tod und für Reinheit. Der Weg der kultischen Reinheit geht in der Bibel durch fließendes Wasser. Die Taufe oder Jesu Gespräch mit der Samariterin am Brunnen, auch Noahs Rettung aus der Sintflut und Israels Rettung auf dem Weg durchs Schilfmeer immer wieder ist es ein Bild dafür, daß es durch den Tod zu neuem, vom Herrn gereinigtem Leben geht.

Wenn hier von einer Quelle gesprochen wird, bedeutet es: »Quelle des Lebens«, es geht um das Leben! »Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd …« Die Namensnennung ist außerordentlich wichtig nicht nur »Hagar«, sondern »Hagar, Sarais Magd«. Sie ist und bleibt die Untergeordnete, auch im Blick auf die Verheißungen. Auch sie wird noch Verheißungen zugesprochen bekommen, aber untergeordnete! Israel, das Volk der übergeordneten Verheißung, ist ein kleines Volk; die Araber rings um sie her sind zahlenmäßig weit größer, aber sie können Israel nicht zerbrechen, denn Israel ist Gottes ersterwähltes Volk.

». . . Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her, und wo willst du hin?«

Hagar wird Ismael gebären, und aus ihm wird ein Wandervolk. Sie irrt in der Wüste umher. Das Unstete, das Unruhige wird das Wesen des aus ihr kommenden Volkes sein. Doch Gott, der sie »findet«, spricht sie an: »Wo kommst du her, und wo willst du hin?«

»Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen.«

Hagar verleugnet die Abhängigkeit, der sie entfloh, nicht. Sie war einem Herrschaftsanspruch entflohen, damit auch einer Unterordnung unter die Verheißungen. Es gab immer Menschen und Volker, die sich den Israeliten auf ihrem Weg anschlossen – Ägypter beim Auszug, Rahab in Jericho, die Gibeoniter, die sogar als Wasserträger bei den gottesdienstlichen Reinigungshandlungen eingesetzt waren. Hagar ist an Israel gebunden, ihr Heil ist an Israel gebunden. Das bedeutet für alle Araber: Ihr Heil kann nicht von einem Götzen kommen, vom Islam; das ist nicht der Gott Israels, sondern ihr Heil kann nur über den Gott Abrahams kommen, über den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – nicht den Gott Abrahams und Ismaels. Damit ist der einzige Weg für diese Menschen, zum Heil zu kommen, nicht der Kampf gegen Israel, sondern Unterordnung unter Gottes Verheißung. Das hat mit Verknechtung, Unterjochung nichts zu tun!

»Und der Engel des Herrn sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand.«

Das ist etwas anderes als Theologie der Befreiung. Die Parallele finden wir in des Paulus Philemon-Brief; Paulus unterstreicht: Die wichtigste Befreiung ist nicht die Befreiung aus der Knechtschaft der Sklaverei, sondern die Befreiung hin zu Jesus Christus. Es geht um die Befreiung von Schuld und Sünde. Der Weg der Verheißung geht über Abraham und Sarah, und Hagars Weg mit Ismael ist nicht die Flucht zu dem endzeitlichen Götzen in der Wüste, dem Islam, sondern zurück in die Verheißungsordnungen Gottes.

Die Aufforderung Gottes kommt uns unmenschlich vor. Doch wir sind hier, um Gottes Willen zu tun, nicht das, was wir für menschlich halten. Was hilft mir Menschlichkeit? Kann Menschlichkeit mir Antwort geben in Bezug auf den Tod? Kann sie Leben schaffen? Kann sie der Weltgeschichte einen Sinn geben? Der Mensch ist verdorben, deshalb kann Menschlichkeit keine Antwort geben. Das sagt die Bibel deutlich. Alle diese Menschen, die hier handeln, sind verdorben – aber dennoch kann Gott durch sie wirken. Denn Gott liebt diese Welt. Ich verstehe zwar nicht, warum; das muß ich ehrlich sagen. So ist es für mich auch nie eine Frage: Warum läßt Gott das Böse zu? Denn das tut er mit vollem Recht, da wir Menschen selbst fast immer das Böse gewählt haben. Die Frage ist vielmehr: Warum ist er uns gnädig? Warum hat er uns nicht längst aufgegeben? Das ist die Frage, die mich am meisten beschäftigt. Das klingt zwar unmenschlich aber das ist biblisch. Es geht um biblisches, nicht um menschliches Denken. Die moderne Theologie geht vor allem vom menschlichen Denken aus, von der zweiten Tafel Moses. Aber der Weg der Bibel ist immer der Weg von der ersten zur zweiten Tafel, von der Beziehung zu Gott zu der Beziehung zu den Mitmenschen. Als ob Mitmenschlichkeit der Maßstab aller Dinge wäre!

»Und der Engel des Herrn sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, daß sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können.«

Es ist ein Teil des vierfachen Segens, der Abram und Sarai zugesprochen wurde eine große Menge. Und Israel ist gegenüber den arabischen Völkern winzig klein aber unter Verheißung und Segen Gottes. Aber auch der Hagar spricht Gott einen Segen zu. Er ist auch gnädig zu ihr in dieser Lage. Hier ist sie ganz allein mit ihrem noch ungeborenen Kind, mitten in der Wüste. Und Gott gibt ihr den Segen: ». . . daß sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können.«
»Weiter sprach der Engel des Herrn zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen.«
Ismael – der Wanderer -, so soll sie einmal ihren Sohn nennen, der unstete Wanderer in der Wüste.

». . . denn der Herr hat dein Elend erhört.«

Gott steht auch nahe zu ihr. Er tut es bis heute nicht zuletzt in Gestalt von Missionaren unter islamischen Volkern. Man kann von großem Durst nach Gottes Wort hören, trotz oft fanatischer Herrschaft des Islam. Tapfere Leute riskieren mit ihrem christlichen Zeugnis unter islamischen Völkern oftmals ihr Leben.
»Er wird ein wilder Mensch sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird wohnen all seinen Brüdern zum Trotz.«

Der letzte Satz dieser Ankündigung findet schon in Kap. 25,18 seine Erfüllung. Aber der erste Teil ist kennzeichnend geblieben: Er wird ein wilder Mensch sein, jeder gegen jeden. Wie ist es bei den Arabern heute? Waren sie je einmütig? Da sind wohl die Bruderküsse, aber sie streiten immer miteinander. Gott wacht auch darüber. Wenn sie wirklich vereinigt wären, würde das sehr schwierig für Israel. Wild sind sie, wild und uneinig.

»Und sie nannte den Namen des Herrn, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht.«

Das ist eine faszinierende Aussage. Denn es bedeutet: Du kennst meine Not, und du gibst mir eine Verheißung. Du siehst meine schreckliche Not in der Wüste. Gottes Angebot von Trost, Gnade und Heil gilt allen Menschen. Wer gibt diese Verheißung? Nicht Allah, sondern Jahwe, der Gott Israels. Er gibt diese Verheißung hier Israels Feinden. Gottes Liebesangebot ist absolut unbegrenzt. Das ändert auch nichts an der endzeitlichen Bedeutung, daß diese Völker nur Heil haben werden, wenn sie den Weg zu dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – und das ist Jesus Christus – annehmen. Gott sieht jeden in seiner persönlichen Not. Das bedeutet nicht, daß er uns hilft, genau wann und wie wir das haben wollen. Manchmal tut er das; manchmal handelt er aber auch entgegen unserem Erwarten. Aber wir dürfen immer wissen: Der Herr hat einen Weg mit uns. Wenn wir beten, daß wir unter seiner Herrschaft stehen wollen, in dem Wissen, daß er wirklich unser guter Hirte ist, dann wird er uns aus mancher Wüste heraus zu fruchtbarem Land führen, zu seinem Reich. Dann ist das Wie und das Wann auch nicht entscheidend, denn wir wissen nicht, was gut für uns verlorene Menschen ist. Hauptsache: Er kommt ans Ziel. Er liebt jeden Menschen, und er will dieses Angebot der Liebe, das in Jesus Christus zur Vollendung kommt, allen Menschen geben.

»Denn sie sprach: Gewiß hab’ ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.«

Der Gott, der mich sieht er durchschaut alles; er fand mich bei der Wasserquelle. So »fand« auch Jesus die Samariterin am Brunnen bei Sichem.

»Darum nannte man den Brunnen »Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered.«

Brunnen des Lebendigen – Brunnen des Heils. Wir kennen viele Lieder aus der Zeit, als man noch verstanden hat, daß fließendes Wasser das Zeichen für Reinheit ist, für Leben. Hier geht es um die Begegnung mit dem lebendigen Gott, der sie gefunden und aufgerichtet hat – wie später bei Naemann.

»Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael.«

Ismael, der Wanderer, ist ein geistlicher Bastard. Er hat einen Segen, wie später Esau, aber nicht den richtigen. Es ist ein Segen von großem Volk, in Verbindung mit Macht, Wildheit und Uneinigkeit. Diese Beschreibung paßt genau auf die Menschen in der arabischen Welt, bis heute. Das ist kein Vorurteil. Sondern so sieht und beschreibt Gott den Weg und das Wesen der Nachkommen Ismaels. Es sind Völker, die von einem ungeheuer aktiven Götzen getrieben werden, dem Islam.
In einer geschichtlich noch nicht dagewesenen Energie richtet sich ihre ganze Wildheit jetzt aber gegen Gottes Erwählte. Sie wollen die von Gott verordnete Herrschaft nicht anerkennen wie schon Hagar diese Herrschaft letzten Endes nicht haben will, sich ihr aber wieder unterordnen soll -, die Herrschaft des wahren Gottes Israels.

Ewiger Bund und neue Namen –

Verheißung Isaaks und Beschneidung

Als nun Abram neunundneunzig Jahre alt war, erschien ihm der HERR und sprach zu ihm: Ich bin der allmächtige Gott; wandle vor mir und sei fromm. Und ich will meinen Bund zwischen mir und dir schließen und will dich über alle Maßen mehren. Da fiel Abram aufsein Angesicht. Und Gott redete weiter mit ihm und sprach: Siehe, ich habe meinen Bund mit dir, und du sollst ein Vater vieler Völker werden. Darum sollst du nicht mehr Abram heißen, sondern Abraham soll dein Name sein; denn ich habe dich gemacht zum Vater vieler Völker. Und ich will dich sehr fruchtbar machen und will aus dir Völker machen, und auch Könige sollen von dir kommen. Und ich will aufrichten meinen Bund zwischen mir und dir und deinen Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht, daß es ein ewiger Bund sei, so daß ich dein und deiner Nachkommen Gott bin. Und ich will dir und deinem Geschlecht nach dir das Land geben, darin du ein Fremdling bist, das ganze Land Kanaan, zu ewigem Besitz, und will ihr Gott sein. Und Gott sprach zu Abraham: So haltet nun meinen Bund, du und deine Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht. Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden: Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Jedes Knäblein, wenn’s acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. Desgleichen auch alles, was an Gesinde im Hause geboren oder was gekauft ist von irgendwelchen Fremden, die nicht aus eurem Geschlecht sind. Beschnitten soll werden alles Gesinde, was dir im Hause geboren oder was gekauft ist. Und so soll mein Bund an eurem Fleisch zu einem ewigen Bund werden. Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird er ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat. Und Gott sprach abermals zu Abraham: Du sollst Sarai, deine Frau, nicht mehr Sarai nennen, sondern Sara soll ihr Name sein. Denn ich will sie segnen, und auch von ihr will ich dir einen Sohn geben; ich will sie segnen, und Völker sollen aus ihr werden und Könige über viele Völker. Da fiel Abraham auf sein Angesicht und lachte und sprach in seinem Herzen: Soll mir mit hundert Jahren ein Kind geboren werden, und soll Sara, neunzig Jahre alt, gebären? Und Abraham sprach zu Gott: Ach daß Ismael möchte leben bleiben vor dir! Da sprach Gott: Nein, Sara, deine Frau, wird dir einen Sohn gebären, den sollst du Isaak nennen, und mit ihm will ich meinen ewigen Bund aufrichten und mit seinem Geschlecht nach ihm. Und für Ismael habe ich dich auch erhört. Siehe, ich habe ihn gesegnet und will ihn fruchtbar machen und über alle Maßen mehren. Zwölf Fürsten wird er zeugen, und ich will ihn zum großen Volk machen. Aber meinen Bund will ich aufrichten mit Isaak, den dir Sara gebären soll um diese Zeit im nächsten Jahr. Und er hörte auf, mit ihm zu reden. Und Gott fuhr auf von Abraham. Da nahm Abraham seinen Sohn Ismael und alle Knechte, die im Hause geboren, und alle, die gekauft waren, und alles, was männlich war in seinem Hause, und beschnitt ihre Vorhaut an eben diesem Tage, wie ihm Gott gesagt hatte. Und Abraham war neunundneunzig Jahre alt, als seine Vorhaut beschnitten wurde. Eben auf diesen Tag wurden sie alle beschnitten, Abraham, sein Sohn Ismael, und was männlich in seinem Hause war, im Hause geboren und gekauft von Fremden; es wurde alles mit ihm beschnitten. 1. Mose 17

»Ich bin der allmächtige Gott; wandle vor mir und sei fromm.«

Hier wird nicht über eine niedliche und harmlose Puppe in der Krippe gesprochen. Hier wird nicht über einen Gott gesprochen, der nur Liebe ist und alles vergibt, was wir tun auch – wenn wir unsere Wege nicht ändern. Nein, hier wird von einem allmächtigen Gott gesprochen; hier wird von einem fordernden Gott gesprochen, der fordert, daß wir fromm werden, daß wir vor seinem Angesicht in seinem Sinne wandeln. Das ist die Bedingung für diesen Bund. Der Bund ist zwar ewig, aber wenn diese Bedingung nicht gehalten wird, dann wird der allmächtige Gott seine Allmacht zeigen, nämlich im Gericht gegen sein Volk. So war es durch das ganze Alte Testament, und so ist es auch im Neuen Bund.

Abram bekommt dazu einen neuen Namen, Abraham, weil er zum »Vater vieler Völker« wird. Auch Sarai bekommt einen neuen Namen als Zeichen des Segens, der durch sie entstehen wird. Damals war Abraham 99 Jahre alt und Sara etwa 90. Beide waren viel zu alt, um Kinder zu bekommen. Was bedeutet diese Aussage für uns?
1. Daß der allmächtige Gott, der Gott Israels, über den Naturgesetzen steht und auch, wie später gezeigt wird, über den Gesetzen Moses.
2. Daß es nie ein Zu spät geben wird für die Erfüllung von Gottes Verheißungen.

Zum ersten: Der Herr steht über den Naturgesetzen. Können Gesetze von selbst entstehen? Nein, alles, was gesetzmäßig ist, bezeugt eine Meisterhand. »Von nichts kann nichts kommen« ein grundlegendes naturwissenschaftliches Gesetz (Sir Isaac Newton). Sara war zu alt, um ein Kind zu bekommen; Abraham auch. Aber sie bekamen einen Sohn: Isaak.
Solchem Handeln Gottes begegnen wir in der ganzen Bibel:
Rahel war zuerst unfruchtbar; auch
Hanna war unfruchtbar und weinte im Heiligtum deshalb so sehr, daß der Priester sie für betrunken hielt, aber sie bekam einen Sohn, den Samuel, der zum Priester, Richter und Prophet zugleich wurde, zum großen Knecht Gottes, der Saul zum ersten König Israels salbte, und später David, Israels zentrale Königsgestalt. Und im Neuen Testament denken wir an Elisabeth und Zacharias. Lange und inbrünstig haben sie um ein Kind gebetet und haben aufgehört, darum zu beten, als sie zu alt geworden waren; aber zu Gottes Zeit bekamen sie den Johannes, den späteren Täufer, der letzte und vollmächtigste Prophet des Alten Bundes, der dann auch Jesus taufte. Und diese Linie führt zu ihrem Ziel in der Jungfrauengeburt Jesu.

Abraham wie Mose wurden erst in ihrem Alter zu großen Knechten Gottes. In Deutschland wird die Bevölkerung immer älter. Die fürsorgliche Begleitung alt gewordener Menschen ist zu einer Aufgabe geworden; wo es im persönlichen Bereich nicht möglich ist, müssen unsere Hochbetagten in Altenheimen umsorgt werden. Beides ist um der Menschenwürde geboten. Aber ich kann mich gut erinnern: Als ich jung im Dienst war, führte ein Pfarrer unseren Altenclub zum Altenheim, um alles anzuschauen und einen Blick in die Zukunft zu bekommen. Da wurde mir damals deutlich: »Wir brauchen euch Alte als Beter und Bezeuger eures Glaubens für eure Enkelkinder in unserer Gemeinde. Wir brauchen euch mindestens so sehr, wie ihr uns braucht.« Ist nicht das christliche Rußland gerettet worden durch Omas und Opas, die ihren Enkelkindern trotz allen Verboten von Jesus erzählten? Christus überlebte Marx und Lenin und Stalin. Ja, hier geht es um die Bedeutung des alten Menschen in einer Glaubensgemeinschaft wie der unseren.

»Und ich will aufrichten meinen Bund zwischen mir und dir und deinen Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht, daß es ein ewiger Bund sei.«

Wieso hat wohl die katholische Kirche, die orthodoxe Kirche und nach ihnen sogar auch Luther behauptet, daß der Alte Bund erloschen sei und daß wir, die Kirche, an der Stelle dieses Bundes stehen? Luther hat sich sogar darüber mokiert, indem er sagte: »Wenn jemals die Juden zurückkehren in ihr Land und einen Staat aufrichten, dann werde ich mich beschneiden lassen.«
Ja, aber genau das ist geschehen! Denn der Herr hält sein Wort, und sein Wort verspricht, daß dieser Bund ewig ist und daß am Ende der Tage das Volk Israel zurückgeführt wird ins Land. Diese Behauptung, daß der Alte Bund ein ewiger Bund sei, ist im Alten Testament immer wieder zu finden. Wieso wird die Schrift jedoch verzerrt, indem diese Aussagen nur in Beziehung zum Neuen und verstanden werden? Alle Bünde Gottes sind von ewigem Bestand, denn der Herr bürgt für diese Bünde, und der Herr ist und bleibt, und sein Wort hat ewigen Bestand. So ein Bund ist nicht ein demokratischer Kompromiß. Der Herr allein bürgt für diesen Bund, weil der Bund von ihm kommt. Dieser Bund kann bestimmt nicht durch Untreue gekündigt werden, weder von Israel und schon gar nicht von der Christenheit – und wie untreu waren beide schon öfters! Untreue führt zum Gericht, aber nicht zum Bruch des ewigen Bundes. Sogar der Bund mit Noah hat ewigen Bestand; sein Zeichen, der Regenbogen, ist immer noch zu sehen.

»Und ich will dir und deinem Geschlecht nach dir das Land geben, darin du ein Fremdling bist, das ganze Land Kanaan, zu ewigem Besitz, und will ihr Gott sein.«

Hier steht es eindeutig geschrieben, daß die Israeliten dieses Land zum ewigen Besitz von Gott bekommen haben, das ganze Land. Und das biblische Zentrum dieses Landes ist Judäa mit Jerusalem und Samaria, welches die Welt die »besetzten Gebiete« nennt. Hier sind die heiligsten Stätten der Israeliten, die Altstadt Jerusalems und Hebron. Hier ist Bethel, Sichem . . . Sollten die Israeli darum verhandeln, wie die Politik es verlangt? Sind alle Friedensbemühungen vor dem Hintergrund von Gewalt, Willkür und Terrorismus und ihren Opfern nicht zu fadenscheinig? Oder sollen die Israeli nach Gottes Wort und Verheißungen leben? Was hat die Welt je positiv für sie getan? Sogar Roosevelt und Churchill haben sehr früh von Auschwitz gewußt, aber sie taten nichts, um die Juden vor dem Massenmord zu retten. Gottes Recht ist Israels Recht, und dem ist das sogenannte Völkerrecht untergeordnet. Israels Heil ist allein in dem Herrn – auch und gerade heute.

Die Beschneidung am achten Tage ist das Zeichen des Bundes. »Am achten Tage« bedeutet für die Juden 7 + 1, die Schöpferzahl plus eins. Diese Eins ist die Zahl unseres Lebens in dieser Welt, und ihr Zeichen bedeutet Blut, Leiden bis in das Ausmaß unseres Zeitalters hinein. Die Zahl 8 hat wichtige gesamtbiblische Bedeutung. Acht Menschen wurden bei der Sintflut gerettet. David, der König in Israel, war der achte Sohn Isais; und Jesus, der »Sohn Davids«, wurde zweimal beschnitten: am achten Tage nach seiner Geburt fleischlich und dann geistlich, bis in seine geistliche Kraft hinein »beschnitten«, am Kreuz als Zeichen dieser zweiten »Beschneidung« zerriß im Tempel der Vorhang vor dem Allerheiligsten in Jesu Todesaugenblick von oben nach unten; man könnte davon sprechen, daß die geistliche Potenz Gottes, die sich an diesem Ort manifestiert hatte, im Augenblick des Todes Jesu freigesetzt und zu einer Kraft wurde, die der Weltmission ihren entscheidenden und dauerhaften Schub verlieh. Vergessen wir dabei niemals, auch wenn der Neue Bund in Jesu Blut geschlossen wurde, daß der Alte Bund viel mehr gelitten hat als wir heute. Ja, Beschneidung als Zeichen des Leidens aber auch als Zeichen der Zugehörigkeit zum Herrn. Diese doppelte Bedeutung ist letzten Endes eins, denn Leiden ist das Zeichen der Zugehörigkeit zu unserem Leidensherrn.

»Auch soll beschnitten werden das Gesinde, welches in eurem Hause geboren oder was gekauft ist von irgendwelchen Fremden, die nicht aus eurem Geschlecht sind.«

Immer wieder wird im Alten Testament gezeigt, daß dieser Bund, diese Erwählung, nicht nur für Israel geschah. So steht am Beginn von Gottes Wirken mit Abraham: »Durch dich werden gesegnet alle Völker auf Erden.« Und im Segen an Juda heißt es: »Er wird ein Held für die Heiden sein. «
Das Alte Testament ist kein »Judenbuch«, sondern ein Buch, das umfassend von Gottes Verheißungen für alle Volker spricht. Deswegen enthält es die prophetischen Aussagen in Beziehung zu anderen Völkern und auch diese Bestimmung über die Beschneidung an Nicht-Israeliten. Sein Heil, das Heil des allmächtigen Gottes Israels, wird an alle Völker gehen. Deswegen haben sich immer wieder Völker und Menschen diesem Volk angeschlossen – die Ägypter beim Auszug, die Rahab in Jericho, die Gibeoniter, die Wasserträger im Kultbereich des Tempelgottesdienstes wurden, und die »Gottesfürchtigen« im Neuen Testament.

Der vierfache Segen für Abraham – das große Volk, die Landverheißung, der Segen und Fluch und die messianische Verheißung – alles das geht an Isaak und durch ihn zu Jakob/Israel.


Ismael, Vater der Araber, bekommt dazu einen anderen Segen, einen Segen von großem Volk und Macht. So ist es auch am Ende der Tage, und der endzeitliche Kampf geht zwischen Israel und Islam, zwischen Jesus Christus, dem Gott Israels wie der Heiden Heiland, und dem Götzen Islam.

Gottes Heilsplan ist eine durchgehende Linie. Er wird ausgeführt wie in Wellen der heilsgeschichtlichen Aussagen und ihrer Erfüllung. Gottes Wort, die Bibel, bleibt ewiglich aktuell, weil es die Wahrheit ist und bezeugt.

Der Herr bei Abraham in Mamre

Und der HERR erschien im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war. Und als er seine Augen aufhob und sah, siehe, da standen drei Männer vor ihm. Und als er sie sah, lief er ihnen entgegen von der Tür seines Zeltes und neigte sich zur Erde und sprach: Herr, habe ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so geh nicht an deinem Knecht vorüber. Man soll euch ein wenig Wasser bringen, eure Füße zu waschen, und laßt euch nieder unter dem Baum. Und ich will euch einen Bissen Brot bringen, daß ihr euer Herz labet; danach mögt ihr weiterziehen. Denn darum seid ihr bei eurem Knecht vorübergekommen. Sie sprachen: Tu, wie du gesagt hast. Abraham eilte in das Zelt zu Sara und sprach: Eile und menge drei Maß feinstes Mehl, knete und backe Kuchen. Er aber lief zu den Rindern und holte ein zartes gutes Kalb und gab’s dem Knechte; der eilte und bereitete es zu. Und er trug Butter und Milch auf und von dem Kalbe, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor und blieb stehen vor ihnen unter dem Baum, und sie aßen. Da sprachen sie zu ihm: Wo ist Sara, deine Frau? Er antwortete: Drinnen im Zelt. Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben. Das hörte Sara hinter ihm, hinter der Tür des Zeltes. Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt, so daß es Sara nicht mehr ging nach der Frauen Weise. Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun ich alt bin, soll ich noch der Liebe pflegen, und mein Herr ist auch alt! Da sprach der HERR zu Abraham: Warum lacht Sara und spricht: Meinst du, daß es wahr sei, daß ich noch gebären werde, die ich doch alt bin? Sollte dem HERRN etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen übers Jahr; dann soll Sara einen Sohn haben. Da leugnete Sara und sprach: Ich habe nicht gelacht denn sie fürchtete sich. Aber er sprach: Es ist nicht so, du hast gelacht. 1. Mose 18, 1-15

Der Text ist voll von zeichenhafter Bedeutung, die ihren tatsächlichen, wirklichen Inhalt unterstreicht, daß nämlich Abraham und Sara ein Kind bekommen werden, um Gottes Verheißungen fortzusetzen an ihnen und an dem Volk, das von ihnen kommen wird. Ein Wunder wird hier angekündigt, das gegen alle biologischen Gesetze spricht, oder tiefer gesagt: Es ist ein Zeichen, daß der Herr auch über diesen Gesetzen steht

»Und der Herr erschien ihm im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war.«

Hier wird von Anfang an gedeutet, wer zu Abraham und Sara kommt: Es ist der lebendige Herr, der das Leben und die Gesetze des Lebens geschaffen hat. Normalerweise erscheint der Herr seinem Knecht unter einem Baum; oder er erscheint an einem Berg, als Treffpunkt zwischen Himmel und Erde; oder später in seinem heiligen Tempel, dem Ort, wo sein Name, sein Wesen zu finden ist. Aber hier kommt er, als Abraham in der Tür seines Zeltes sitzt, und zwar im Hain Mamre, als der Tag am heißesten war. Die Ortsbezeichnung »Hain Mamre« zeigt, daß etwas blüht und fruchtbar wird. Die Türe zum Leib Saras wird geöffnet, denn sie wird einen Sohn gebären. Diese Nachricht wird überbracht, »als der Tag am heißesten« ist, das bedeutet, wenn dieser Tag zu seiner vollen Kraft gekommen ist. So ist es auch bei Sara im Sinne der Fruchtbarkeit trotz ihres Alters, denn bei dem Herrn ist nichts unmöglich. Max Frisch zeigt in seinem meisterhaften »Homo Faber« sehr deutlich, daß das Leben fruchtbar ist, am fruchtbarsten, gerade wenn es am heißesten ist.

Die Tür hat einen gesamtbiblischen Sinn als Symbol, aber zugleich auch als Wirklichkeit. Eine Tür ist der Weg des Eintritts hier: zum Heil. Diese Verheißung an Sara ist der Urweg des Eintritts zum Heil für Israel und die Welt, denn es hieß an Abram: ». . . durch dich werden gesegnet alle Völker auf Erden.«

Denken wir hier zum Beispiel auch an die Tür zu Noahs Arche: Wer hineingehen darf, wird gerettet, und was draußen bleibt, wird gerichtet. Denken wir auch an die Tür zum späteren Tempel, die der Weg zu Gottes Gegenwart ist; wer durch diese Tür geht, befindet sich im Hause des Herrn und läßt seine Welt hinter sich. Deswegen reinigt Jesus den Tempel, denn weltliche Geschäfte gehören da nicht hinein. Denken wir an das Gleichnis von den zehn Jungfrauen: Wer nicht vorbereitet ist für die Wiederkunft des Herrn, wird die Tür zu seinem Reich geschlossen vorfinden, wenn Jesus wiederkommt.

Warum heißt es hier »Und der Herr erschien ihm . . .«, und warum spricht der Text von »drei Männern«? Es kann hier nicht daran gezweifelt werden, daß sogar im Uranfang von Israels Erwählung der Weg zur Trinität, die Tür zur Trinität, einen Spaltbreit geöffnet, vorgedeutet wird. Und wenn wir bedenken, daß der Messias »Ewig-Vater« heißen wird (Jesaja 9) oder »Du, Bethlehem …, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und Ewigkeit her gewesen ist« (Micha 5,1), dann sehen wir deutlich den Weg zur neutestamentlichen Trinitätslehre angebahnt.

Und noch so ein harmlos klingender Satz fällt auf, aber doch mit tiefer, zeichenhafter und auch realer Bedeutung: »Man soll euch ein wenig Wasser bringen, eure Füße zu waschen, und laßt euch nieder unter dem Baum.«

Durch Fußwaschung wird, wie später bei Jesus, eine Reinigungshandlung durchgeführt. Und dieses Thema »fließendes Wasser« wird in der ganzen Bibel als Zeichen von Leben/Tod und Reinheit angesprochen. Abram, »durch dich werden gesegnet alle Volker auf Erden« das bedeutet, daß aus dem Hause und Geschlechte Abrams die Reinheit kommen wird, die Vollkommenheit, der Christus, der durch seinen Tod und seine Auferstehung neues Leben für uns ermöglichen wird, gerade so, wie hier die drei Männer neues Leben und Zukunft ankündigen für Abraham und Sara und damit für das Volk Israel.

»Unter dem Baum« können biblisch bezeugte Gottesbegegnungen geschehen. Warum? Die Urbedeutung eines Baumes ist in der Bibel durch die Bäume des Lebens und der Erkenntnis im Paradies umrissen. Hier geschieht die Ankündigung von Leben für Abraham und Sara, eines Lebens, das einmal große Bedeutung gewinnen wird für die Völker aller Zeiten, denn »durch dich, Abram, sollen gesegnet werden alle Völker auf Erden«. Von hier aus wird von dem Herrn neues und damit zukünftiges und wahres Leben ermöglicht. Jesus spricht: »Ich bin das Leben.« Auch um Erkenntnis geht es unter diesem Baum, um Erkenntnis, die Sara zuerst belächelt, um die Erkenntnis, daß der Herr seine Verheißungen erfüllen wird, auch wenn wir daran zweifeln.

Wer würde je gedacht haben, als die Juden unter allen Völkern zerstreut waren, als Israel damals in total fremde Hände fiel, daß dieses Volk jemals zurückkehren würde ins Heilige Land und nochmals zum Mittelpunkt von Gottes heilsgeschichtlichem Wirken würde? Fromme Juden rechneten damit; ihr Ausruf »Nächstes Jahr in Jerusalem« war keine Floskel!

Weiter wird uns das rührende Bild der Gastfreundschaft Abrahams und Saras gezeigt, wie sie so emsig alles für ihre Gäste vorbereiten. Gastfreundschaft war und ist typisch im Nahen Osten. Aber was steckt dahinter? Sie treffen die Vorbereitungen, aber der Herr wird handeln. Fast immer in biblisch berichteten Begegnungen mit dem Herrn wird in das Geschehen das Leibliche mit einbezogen, weil Leib, Geist und Seele biblisch eine untrennbare Einheit sind. So war es auch, als Mose und die 70 Ältesten auf dem Berge Sinai Gott wie einen strahlenden Saphirteppich sahen, und dann heißt es am Schluß: »Sie aßen.« Die Tatsache und Wahrheit der Gottesbegegnung wird bis in unsere Person hinein verwirklicht. Dasselbe sehen wir in der Tischgemeinschaft, die Jesus mit den Sündern und Zöllnern hält; es ist ein Zeichen, daß sein Heilsangebot auch für sie gilt, bis in den Leib hinein, ein reales Zeichen für ihre ganze Person natürlich nur, wenn sie umkehren, ihre Wege ändern und ihm nachfolgen. Und dieses gesamtbiblische Thema erreicht sein Ziel in der Einsetzung des heiligen Abendmahls. Wir bekommen Anteil an Jesu Kreuzesheil für uns bis in unseren Leib hinein als reales Zeichen der Wirklichkeit dieses Heilsgeschehens.

Sehr wichtig ist auch Saras Reaktion, denn die Tür zu ihrem Leib wird der Fruchtbarkeit geöffnet. Sie aber glaubte es nicht, wie auch Elisabeth und Zacharias die Botschaft nicht zu glauben vermochten, daß sie in ihrem Alter noch ein Kind gebären sollte. Der Herr wirkt nicht wegen unserer Vorleistung – hier wegen Abrahams und Saras emsiger Rolle als Gastgeber -, sondern gerade trotz unseres Versagens. Und das sagt eine Menge aus über Gottes Wirken und unsere Frömmigkeit. Der Ruf, den man heute so oft hört: »Hier tue mir ein Wunder! Heile mich! Zeige mir in meinem Sinn deine Gegenwart!« führt letzten Endes zu einer total verkehrten Vorstellung von Gottes Wegen und Gottes Heil, auch vom Gebet. Zwar spielt das Glauben eine zentrale Rolle in unserer Frömmigkeit, aber der Herr kann wirken, auch wenn wir das nicht glauben, denn er allein verfügt über sein Heil und seine heilsgeschichtlichen Wege. Und wissen wir wirklich, was gut für uns ist? Gebet, Bittgebet, auch Fürbittgebet, soll immer einmünden in die Bitte: »Aber Herr, dein Wille geschehe.« Denn wer weiß besser, was gut für uns ist, wir oder der Herr? So kann zum Beispiel Krankheit öfters einmal gut für uns sein, damit wir lernen, daß seine Kraft auch in den Schwachen mächtig ist, damit wir neu lernen, daß Glaubensnachfolge Leidens- und Kreuzesnachfolge bedeutet, damit wir lernen, immer mehr abhängig zu werden von dem Herrn.

Und genau darum geht es hier: Daß wir immer mehr lernen, abhängig von dem Herrn zu werden, denn er liebt uns mehr als wir uns selbst, und er weiß viel besser, was wirklich gut für uns ist, als wir es selbst wissen. In meinem Amtszimmer hängen drei Bilder und ein Spruch. Die Bilder stellen Jesus als Weltenrichter auf Marias Schoß dar (Stefan Lochner), das graphische Werk, wo Jesus von Pilatus dem Volk der Juden vorgeführt wird (Dürer), und dann das Kreuz, welches Franz von Assisi so beeinflußt hat (Mittelalter). Der große Spruch von Hermann Bezzel, dem großen bayerischen Glaubensmann und späteren Bischof seiner Kirche, soll die drei Bilder miteinander verbinden: »Frömmigkeit ist der Entschluß, die Abhängigkeit von Gott als Glück zu bezeichnen.«

»Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein?«
Nein, ganz und gar nicht. Er handelt aber in seinem Sinne, im Sinne seines Heilsplans für Israel, für die Gemeinde und für jeden von uns, wann und wie er will. Unsere erwartungsvolle Frömmigkeit mündet dazu ein in die Bitte: »Aber Herr, dein Wille geschehe.«

Abrahams Fürbitte für Sodom

Da brachen die Männer auf und wandten sich nach Sodom, und Abraham ging mit ihnen, um sie zu geleiten. Da sprach der HERR: Wie könnte ich Abraham verbergen, was ich tun will, da er doch ein großes und mächtiges Volk werden soll und alle Völker auf Erden in ihm gesegnet werden sollen? Denn dazu habe ich ihn auserkoren, daß er seinen Kindern befehle und seinem Hause nach ihm, daß sie des HERRN Wege halten und tun, was recht und gut ist, auf daß der HERR auf Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat. Und der HERR sprach: Es ist ein großes Geschrei über Sodom und Gomorra, daß ihre Sünden sehr schwer sind. Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob’s nicht so sei, damit ich’s wisse. Und die Männer wandten ihr Angesicht und gingen nach Sodom. Aber Abraham blieb stehen vor dem HERRN und trat zu ihm und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären? Das sei ferne von dir, daß du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so daß der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten? Der HERR sprach: Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben. Abraham antwortete und sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin. Es könnten vielleicht fünf weniger als fünfzig Gerechte darin sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen? Er sprach: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht verderben. Und erfuhr fort mit ihm zu reden und sprach: Man könnte vielleicht vierzig darin finden. Er aber sprach: Ich will ihnen nichts tun um der vierzig willen. Abraham sprach: Zürne nicht, Herr, daß ich noch mehr rede. Man könnte vielleicht dreißig darin finden. Er aber sprach: Finde ich dreißig darin, so will ich ihnen nichts tun. Und er sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, mit dem Herrn zu reden. Man könnte vielleicht zwanzig darin finden. Er antwortete: Ich will sie nicht verderben um der zwanzig willen. Und er sprach: Ach zürne nicht, Herr, daß ich nur noch einmal rede. Man könnte vielleicht zehn darin finden. Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen. Und der HERR ging weg, nachdem er aufgehört hatte, mit Abraham zu reden; und Abraham kehrte wieder um an seinen Ort. Abraham aber machte sich früh am Morgen auf an den Ort, wo er vor dem HERRN gestanden hatte, und wandte sein Angesicht gegen Sodom und Gomorra und alles Land dieser Gegend und schaute, und siehe, da ging ein Rauch auf vom Lande wie der Rauch von einem Ofen. Und es geschah, als Gott die Städte in der Gegend vernichtete, gedachte er an Abraham und geleitete Lot aus den Städten, die er zerstörte, in denen Lot gewohnt hatte.
1. Mose 18, 16-33 und 1. Mose 19, 27-29

»Da brachen die Männer auf und wandten sich nach Sodom. ..«

Erst erfolgt die Verheißung der Gnade, dann kommt aber auch das Gericht. Gericht und Gnade sind nie zu trennen. Doch meistens berichtet uns die Bibel die umgekehrte Reihenfolge, daß innerhalb des Gerichts die Gnade vorhanden ist. Gott schlägt auf die eine oder andere Art, aber sein Schlagen enthält zugleich sein Angebot: »Kehre zurück zu mir, denn ich bin zu finden in deiner Schwachheit!« Das lesen wir zum Beispiel von Simson, nachdem er durch das Löschen seines Augenlichtes gerichtet wurde, daß »das Haar seines Hauptes wieder anfing zu wachsen« (Ri. 16,22). Im Gericht wird der Weg der Gnade Gottes sichtbar. Im vorliegenden Abschnitt der Abrahamsgeschichte ist es umgekehrt: Zuerst wird Gnade gezeigt und dann Gericht. Welche Reihenfolge auch immer wesentlich ist, daß beides nicht zu trennen ist. Es gibt wohl keine zentrale Stelle in der Bibel, die nur von Gnade spricht, oder wo ausschließlich von Gericht gesprochen wird. Gott ist zornig und barmherzig, ein richtender und zugleich ein gnädiger Gott. Das ist biblische, paulinische und lutherische Theologie. Gericht ist der biblische Weg zur Gnade außer dem letzten Gericht, das über die endgültige Trennung entscheidet.

»Da brachen die Männer auf und wandten sich nach Sodom, und Abraham ging mit ihnen, um sie zu geleiten.«

Abraham soll Anteil haben an Gottes Gerechtigkeit. Er hat Anteil an den Verheißungen, und er soll auch Anteil haben an dem, was Gott vorhat. Abraham soll erleben, daß Gott handelt. Das galt für das Versprechen eines Sohnes wie für das Erfahren der Gerechtigkeit als ein Wesensmerkmal Gottes. Das Wesen Gottes ist Handeln im Sinne von Liebe und Gerechtigkeit. Abraham soll erleben: Was Gott verspricht, das tut er es wird Gnade geben für ihn, aber Gericht für Sodom und Gomorra.

»Da sprach der Herr: Wie könnte ich Abraham verbergen, was ich tun will. . .«

Das bedeutet: Gott will uns in der Bibel die heilsgeschichtlichen Wege zeigen. Das Wesentliche ist nicht verborgen, wenn wir auch nicht über das heilsgeschichtliche Geschehen selber verfügen können und es noch viele Überraschungen geben wird. Gott verbirgt vor Israel nicht, was er vorhat, und er warnt Israel vor dem Gericht. Wie hören wir diesen Ruf? Oder wollen wir nur von Liebe und Barmherzigkeit hören, den gnädigen Gott gepredigt haben? Nein, das Gericht Gottes ist im Kommen. Nach einem Vortrag kam eine gläubige Frau zu mir und sagte: »Sie machen uns angst.« Ich hatte gesagt, daß mit dem Ersten Weltkrieg die Weltmission in ihrer endzeitlichen Bedeutung erfüllt sei, weil durch die Tätigkeit der Missionsgesellschaften das Evangelium mindestens theoretisch allen Völkern bekannt ist. Mit dem Zweiten Weltkrieg sei Israel in sein Land zurückgekehrt, und mit dem Dritten Weltkrieg komme Jesus zurück. Nur das ist der Heilsplan Gottes, und wir sollten dankbar sein, daß Jesus konkret begonnen hat, ihn zu erfüllen. Die damit noch für unsere Generation zu erwartende Not hatte die Frau in tiefe Angst geführt. Ich versuchte, ihr deutlich zu machen, was die Juden während ihrer ganzen Geschichte erlebt haben, und daß es nicht um die Not geht, sondern um Erlösung. Es geht darum, daß Gott sein Wort hält und damit auch seinen Heilsplan zur Erfüllung bringt. Und dabei ist er auch ein gütiger Gott, nicht nur ein richtender Gott, und wer auch in allen Gerichten ihm gehört, wird ihm ewig gehören. Auch fromme Menschen können sehr an dem hängen, was wir sehen und haben. Jeden Tag sind wir damit beschäftigt. Der Herr will uns aber davon wegbringen. So hilft er dem Abraham: Schau auf die Sterne schau weg von dir! Meine Verheißung steht da. Das gilt auch, wenn wir krank sind. Statt dessen nehmen wir alles, was wir haben, als selbstverständlich und wollen immer mehr. Und wenn das Wirtschaftswachstum ein Prozent zurückgeht, ist das ganze Land entsetzt. Was für ein Unsinn! Nein, es geht um inneres, um geistliches Wachstum. Das Äußere ist vergänglich, das Innere, das Geistliche, muß wachsen. Und wenn wir ständig am Äußerlichen, an unseren Plänen hängen, an dem, was uns gut scheint, dann kann das Innerliche nicht mehr wachsen. Schon das wäre eine Hilfe für unser geängstetes Herz, wenn wir uns nochmals ganz bewußt und dankbar über die vielen Wunder der Schöpfung freuen würden und damit neu Anteil an seiner Gegenwart gewinnen, Anteil an dem, was Gott geschaffen hat. Aber wir sind meistens so beschäftigt mit unserem Alltag, mit den Gedanken, was uns passieren könnte, wirtschaftlich, gesundheitlich, im persönlichen Leben, daß wir oft an diesem geistlichen Wachstum vorbei leben. Es ist nichts verborgen, auch für uns nicht.

Es ist uns nicht verborgen, daß wir sterben werden. Aber wir leben, als ob das nicht der Fall wäre. Es ist nicht verborgen, daß wir vergänglich sind, denn wir haben Zeichen dafür, das grau werdende Haar oder das Nachlassen der Kräfte . . ., aber wir verbergen uns vor Gottes Offenbarungen, sowohl seiner Gnade als auch seines Gerichts.

Gott will, daß wir Anteil haben an ihm. Er will Gemeinschaft mit uns. Deswegen kommt es zu diesem Reden zwischen Abraham und Gott. Gott läßt sich ein auf eine Verhandlung mit Abraham, auch wenn Gott der Allmächtige ist. Gott will diesen Kontakt mit uns und das nennen wir Gebet; auch beim engagierten Bibellesen kommt es dazu. Nehmen wir uns wirklich Zeit zum Beten und zum intensiven Lesen in der Bibel? Gott gibt uns alles, was wir wissen müssen, durch sein Wort.

»Denn dazu habe ich ihn auserkoren, daß er seinen Kindern befehle und seinem Hause nach ihm, daß sie des Herrn Wege halten und tun, was recht und gut ist, auf daß der Herr auf Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat.«

Israel hat tatsächlich nicht getan, was recht und gut ist. Das ist der erste schwere Stolperstein in diesem Text. Wir müssen genau lesen, was da steht: »… daß sie des Herrn Wege halten und tun, was recht und gut ist, auf daß der Herr auf Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat.« Hat Israel diese Verheißung erhalten? Haben sie seine Wege eingehalten? Nirgends! Immer wieder versagten sie, und trotzdem Gott gibt seinen Sohn für uns. Nicht wegen Israels Verdienst, sondern trotz Israels falscher Wege. Gott bietet Israel und uns zwei Wege an in seinem Wort, nicht einen »Markt der Möglichkeiten«, nur zwei Wege: den sehr breiten Weg und den schmalen Weg. Der breite Weg beinhaltet Lust, bedeutet Wissenschaftsgläubigkeit. Diese ist unter uns viel mehr verbreitet als unter anderen Völkern. Aber die Wissenschaft kann die zentralen Fragen des Lebens weder stellen noch beantworten, die Frage nach der Liebe, nach dem Sinn von Leiden und Tod zum Beispiel.

Es gibt nur zwei Wege: Die Wege des Herrn, mit dem Herrn, und unsere eigenen Wege. Geht Jesus auf unserem Lebensweg voran, oder gehen wir voran und drehen uns nur nach ihm um, wenn wir ihn brauchen?

Der Landtag in Sichem (Josua 24) zeigt, worum es geht; Josua fragt das Volk am Ende seines Lebens: »Wollt ihr die Wege der Götzen gehen, oder wollt ihr den Weg mit dem Herrn gehen, dem Gott Israels?« Jesus lädt uns ein auf den schmalen Weg, der so schmal ist wie seine kreuztragenden Schultern. Es gibt nur diese beiden Wege.
Israel geht den Weg mit Gott nicht ständig. Und trotzdem hält Gott an seinen Verheißungen fest. Solch ein gnädiger Gott ist der Gott Israels! Gewiß, er ist ein richtender Gott, aber wir wollen auch betonen, wie tief seine Gnade geht. Israel hält nicht an Gottes Verheißungen fest. Sie machten das Gesetz zum Geplapper. Gott schickte Propheten, aber die haben sie nicht angenommen, keine Buße getan. Und dann hat er seinen eigenen, einzig einen Sohn geschickt, mit ihm sich selbst, und Israel hat auch ihn nicht angenommen. Aber Gott hält sein Wort, er hält seinen Bund.

Die Grundfrage ist: Und wir, sind wir besser als Israel? Seien wir ehrlich mit uns selbst! Wir sind nicht besser als Israel. Wir haben zwar keine Binde über den Augen, Israel aber hat eine Binde über den Augen. Was ist aus dem »christlichen Abendland« geworden im Laufe seiner Geschichte? Was wurde da alles im Namen Jesu getan? Als Jude ist mir bald aufgefallen, daß ich viel von dem, was Jesus gesagt hat, in meinem jüdischen Elternhaus gelernt habe. Aber nur wenige Christen leben danach. So sollten wir doch Probleme in unserem täglichen Miteinander zuerst bei uns selbst suchen und dann bei unserem Nächsten. Wie viele schimpfen über die Leute, die mit im Haus wohnen, über die Schwiegermutter usw.

Ich habe als junger Jude gelernt, wenn es Probleme gibt, die Schuld zuerst bei mir zu suchen, und wenn ich in einem Gespräch erkenne, daß ich unrecht habe, gebe ich das zu und beharre nicht auf meinem Recht. So habe ich das von meinen Eltern gelernt. Das ist sogar Wertmaßstab christlicher Erziehung, aber meine Eltern sind keine Christen. Welches Volk hat immer die andere Wange hingehalten, wenn es geschlagen wurde? Das waren sicherlich nicht die Christen, die lieber Kriege gegeneinander geführt haben. Aber die Juden mußten die andere Wange hinhalten. Nicht, weil sie besser sind. Es ist mir immer wieder aufgefallen, daß Israel in vieler Hinsicht näher zu Christus gelebt hat als das »christliche Abendland«. Das erscheint als ein außerordentlicher Widerspruch, aber es ist kein Widerspruch, denn die Juden sind immer noch Gottes erstgeliebtes Volk, und sie sind immer noch erwählt. Gott geht äußerst ungewöhnliche Wege mit diesem Volk, Kreuzeswege, Leidenswege. Gott handelt, auch wenn wir versagen. Aber das bedeutet nicht, daß wir den Segen aufs Spiel setzen könnten und sagen: Gott tut ja alles; deshalb kann ich leben, wie ich will, und wenn’s falsch war, vergibt Gott ja alles! So zu denken und zu leben ist nicht das, was Gott von uns erwartet. Gott will, daß wir seine Gebote so gut wie möglich halten. Und wenn wir einmal wieder abweichen vom Wege, sucht er uns, und sein Alarmzeichen ist unser schlechtes Gewissen. Der Herr erweckt ein uns anklagendes Gewissen in uns, wenn wir vom Wege abkommen. Und das führt uns immer wieder zurück zu ihm. Er geht uns nach. Aber manchmal hören wir diesen Ruf nicht. Es ist so viel übertönendes Lärmen in uns und um uns allein schon die Fülle der Medien! Und wer steuert diese? Es gibt Untersuchungen, wie viele Mitarbeiter bei Fernsehen und Radio und bei den großen Tageszeitungen gläubig sind das ist eine sehr, sehr geringe Zahl. Und diese Medien manipulieren die Bevölkerung in ihrem Denken gegen den Glauben, und sie erscheinen in großen Auflagen, behandeln Themen, die gegen Gott sind. Aber der Herr steht zu uns, und wir wollen an ihm und seinem Wort festhalten und nicht einfach unsere eigenen Wege gehen.

»Und der Herr sprach: Es ist ein großes Geschrei über Sodom und Gomorra, daß ihre Sünden sehr schwer sind.«

Es wird hier nicht gesagt, wer schreit. Sind es die Gerechten? Gott sieht Ungerechtigkeit, und Ungerechtigkeit ist für ihn ein Schrei, der zu ihm kommt. Deswegen wird nicht gesagt, wer schreit. In Sodom und Gomorra herrscht Gesetzlosigkeit. Gott sieht das es ist ein »Geschrei« für ihn, wenn Ungerechtigkeit passiert. Was »sieht« Gott wohl jetzt in Deutschland, wo seine Zehn Gebote und sein Wort mit Füßen getreten werden? Statt dessen wuchern alle möglichen Angebote von Okkultem und Irrlehren, bis hinein in unsere Kirche. Nur noch selten wird in ihr gepredigt, daß der Herr ein heiliger Gott ist. Man könnte die Situation so beschreiben: Luther rang um einen gnädigen Gott; wir müssen nochmals den heiligen Gott finden, sonst erfahren wir seine Gnade nicht. So weit sind wir doch mit der Verfälschung Gottes gekommen! Ungerechtigkeit! Geschrei! Wenn das Maß der Sünden voll ist, handelt Gott. Es ist ein Wunder, daß er immer noch so gnädig bleibt, denn die Sünden sind übergroß und überschwer in unserer Zeit.

»Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob’s nicht so sei, damit ich’s wisse.«

Wenn er der allmächtige Gott ist, dann braucht er doch nicht »hinabfahren«. Wie ist das zu verstehen? Wenn Gott kommt, kommt er nicht, um zu sehen, sondern um zu handeln. Es gibt keine Stelle in der Bibel, die beschreibt, daß »Gott sieht«, ohne daß er etwas tut. Gott kommt, um zu richten. Und sein Kommen ist die Bestätigung, daß das Gericht notwendig ist. Nur vor diesem Hintergrund ist dieser Text richtig zu verstehen. Gott weiß, und er hört das »Geschrei«. Es ist ein Schrei gegen seine Ordnung. Nicht ein Schrei gerechter Menschen, die zu ihm rufen: »Hilf uns!« Sondern es schreit in Gott, wenn er sieht, wie heidnisch man in Sodom und Gomorra lebt, vor allem im sexuellen Bereich. Wieviel wiederholt sich davon heute Gruppensex, Kindersex, Homosexualität, Perversion . . ., modernes Sodom und Gomorra! Biblische Tatsache ist: Wenn Gott sieht und kommt, handelt er. Der allmächtige Gott bestätigt das, was er weiß.

»Und die Männer wandten ihr Angesicht und gingen nach Sodom. Aber Abraham blieb stehen vor dem Herrn . . .«

Wir haben bereits festgestellt, daß mit den drei Männern Gott selbst in seiner Trinität zu Abraham kam. Hier steht nun aber: »Und die Männer wandten ihr Angesicht und gingen nach Sodom. Aber Abraham blieb stehen vor dem Herrn.« Wie ist das zusammenzubringen? Die Männer gehen weg, und zugleich aber steht Abraham vor dem Herrn. Gott ist nicht an einem Ort zu fixieren. Gott Vater war immer, auch als Jesus gekreuzigt war. Gott Vater ist niemals gekreuzigt, er kann nicht sterben. Aber ein Teil von ihm ist am Kreuz gestorben, in Christus.
Es wird immer wieder darüber nachgedacht, wie das denkbar gemacht werden könnte, daß Gott in Jesus Christus gekreuzigt, gestorben, in den Totenbereich gegangen und dann wieder auferstanden sei. Das läßt sich uns so beantworten: Wenn Gott mit der Person Jesu tot ist, ist er doch gleichzeitig lebendig, denn Gott steht über Zeit und Raum. Wir können Gottes Existenz nicht in unsere Raumvorstellungen einordnen. Die Toten kennen keine Zeit mehr, Gott aber steht über der Zeit.
Die Zeit vom Karfreitag bis zum Ostermorgen läßt sich mit unseren menschlichen Zeitbegriffen denken. Gott aber steht über der Zeit. In dem Moment, in dem jemand gestorben ist, hört für ihn die Zeit auf. Ist Gott aber tot und lebendig zugleich, können wir das nicht in unser menschliches Zeitverständnis fassen. Dasselbe gilt auch für unser Verständnis vom Raum. So bleibt Gott bei Abraham, und zugleich ist Gott unterwegs nach Sodom. Gott Vater bleibt im Himmel, und Jesus, sein Sohn, ein Teil von ihm, wird gekreuzigt.
Das ist göttliches Handeln in menschliche Lebensstrukturen hinein. Zeit und Raum sind menschliche Begriffe, nicht göttliche Begriffe. Er schuf sie zwar, aber er steht über ihnen, ist zu seinem Handeln und Wirken nicht abhängig, von ihnen. Die Bibel beschreibt: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …« »Anfang« ist Zeit; der Zeitablauf fing an. »Himmel und Erde« ist Raum, den Gott schuf. Über beiden steht Gott als der Schöpfer. Wir stehen unter diesen Begriffen. Deswegen fällt es uns so schwer, Gottes Wesen und Handeln in menschlichen Kategorien verständlich zu machen. Genau das sagt die Bibel in Jesaja 55: »So viel der Himmel höher ist als die Erde, so viel sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken, spricht der Herr.«

»Aber Abraham blieb stehen vor dem Herrn und trat zu ihm und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?«

Gott ist ein gerechter Gott. Das weiß Abraham und folgert: Die Gerechten dürfen nicht umgebracht werden mit den Gottlosen. Auch das ist ein zentrales biblisches Thema. Des Propheten Jeremia Schreiber rät seinem Herrn angesichts der drohenden Gerichte Gottes zur Flucht: Warum fliehen wir nicht? Wir wissen doch, was Gott für ein Gericht bringt; bringen wir uns doch in Sicherheit. So wird immer wieder in Zeiten gefragt, in denen Krieg und Gewalt herrschen: Warum kommen unschuldige mit den schuldigen Menschen um? Zum einen spricht das Neue Testament davon, daß es nur einen Gerechten gibt, er heißt Jesus Christus. Keiner von uns ist gerecht. Wir sind alle schuldig gewordene, verlorene Menschen und müssen deshalb alle sterben. Doch wenn wir im Glauben »in Christus« sind, wenn unsere Persönlichkeit in Christus vor Gott besteht, unsere Person nach Leib, Geist und Seele, kann sie nicht getötet werden – wir werden leiblich mit ihm auferstehen. Das bedeutet für uns, daß er der Gerechte ist. Zum andern: Man kann uns quälen und umbringen, wir sind ungerecht, aber niemand kann uns von Christus und seiner Liebe trennen (Römer 8). Was allein kann uns von Christus und seiner Liebe trennen? Was kann uns von Gott trennen? Wir selbst. Vorsicht vor der frommen Überheblichkeit: »Mir kann nichts geschehen, ich bin ja gläubig!« Nein, neugeboren ist man nicht ein für allemal, es ist ein lebenslanger Prozeß des »Bleibens in Ihm«; wir müssen ständig aus der Vergebung, vom Kreuz her leben. Es gibt sich fromm Dünkende, die sagen: Ich bete nicht das Vaterunser, ».. . und vergib uns unsere Schuld«, denn er hat das doch schon getan; deshalb brauche ich das nicht mehr zu beten. Das ist ein großes Mißverständnis. Gewiß, Gott hat unsere Grundschuld vergeben, aber wir laufen doch immer wieder weg von ihm, weil wir in uns selbst verloren sind – aber gerettet sind wir in ihm. Wir brauchen immer wieder seine Gnade und das Erleben seiner Vergebung.

»Willst du den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?«

Gottes Antwort ist eindeutig: Nein. Aber dann offenbart er uns in der Bibel, daß wir gar keine Gerechten sind. Auch alle biblischen »Helden« haben versagt, auch Mose, der für die frommen Juden bis heute die zentrale Gestalt ihrer Frömmigkeit ist: Er gibt Gott nicht die Ehre, als er im Auftrag Gottes ein großes Wunder tun soll, durch das Wasser aus dem Stein heraussprudelt. Nebenbei bemerkt: Das ist eine Vordeutung der Auferstehung aus den Toten.

Jetzt beginnt Abrahams Handel mit Gott. Das will Gott. Wenn Gott das nicht gewollt hätte, würde er sagen: Genug! Du bist ein Mensch, du kannst nicht mit mir reden, ich bin der Allmächtige. Gott will aber, daß wir mit ihm reden. Was ist Gebet? Gebet fängt nicht mit dem Satz an »Dein Wille geschehe!« Der zu Gott Betende beginnt: »Herr, gib mir Klarheit, ich will wissen, was du willst. Ich will deine Wege wissen. Lehre mich deine Wege.« Dann erst führt das Gebet zu dem »Dein Wille geschehe« hin. Wir können Gott nicht mit unserem Beten unseren Willen aufzwingen. Wer wären wir Menschen vor dem heiligen Gott! Dahinter steckt die Auffassung: Weil ich ein Glaubensmensch bin, wird Gott mir geben, was ich brauche. Der große Irrtum daran ist, daß ich nicht weiß, was ich brauche. So habe ich nicht gewußt, daß ich eine Hirnblutung »brauchte«, aber jetzt weiß ich das. Wir beten: »Dein Wille, Herr, geschehe.«
Wir sollen lernen, das auch ernst zu meinen. Deswegen habe ich, als ich die Hirnblutung bekam, nur gebetet: »Herr, gib mir die Kraft, deinen Willen zu bejahen.« Das ist hart, aber der Herr will, daß wir das lernen. Er will, daß wir ins Gespräch mit ihm kommen. Darin wird das Gebet zu einer aktiven Anteilnahme an seinem Weg mit uns. Martin Buber bezeichnet das Leben als einen Dialog mit Gott. Gott will, daß wir ins Gespräch mit ihm kommen, zwar ein ungleiches Gespräch, denn er weiß alles, er ist allmächtig. Trotzdem läßt er uns mit sich reden. Denn er will uns Klarheit verschaffen. Wenn wir manchmal auch etwas erleben, wozu wir sagen müssen: »Ich verstehe nicht, warum.« Dann lernen wir zu sagen: »Herr, dein Wille geschehe. Ich verstehe es nicht, aber du weißt es besser als ich.«

So tun es auch die Rabbiner, wenn sie Satzungen in der Thora nicht verstehen dann befolgen sie diese, ohne sie zu verstehen, weil Gott es befohlen hat. Wie oft ist doch unsere Sicht der Dinge begrenzt. Dann schaden wir uns selbst, wenn wir unseren Willen Gott aufnötigen wollen oder wenn wir meinen, so mit Gott verhandeln zu können, daß wir an ihn glauben, wenn er uns nur etwas Gutes tut. Wir haben keinen »Tischlein-deck-dich-Gott«, sondern einen heiligen und gerechten Gott. Ich würde verderben, wenn er mir alles gewährte, worum ich ihn angehe. Wir müssen es lernen, echt zu sagen: »Herr, dein Wille geschehe.«

»Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären? Das sei ferne von dir, daß du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so daß der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose!«

Steht es Abraham zu, zu sagen: »Das sei ferne von dir«? Er kann Gottes Gerechtigkeit nicht begreifen. Aber Gott läßt sich darauf ein; manchmal tut er das. Es ist zu kurz gegriffen, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter alle Fürbitte beiseite schiebt: »Warum betet ihr für mich? Euer Gott tut doch nichts.« Aber Gott ließ sich auf die Fürbitte ein und hat ihn durch ein großes Wunder geheilt, obwohl alle Ärzte ihn aufgegeben hatten. Gott läßt sich manchmal auf unser Bitten ein. So war es auch im Neuen Testament mit Thomas, der das Zeugnis der Mitjünger von der Begegnung mit dem Auferstandenen relativierte: »Ich glaube nur, wenn ich das sehe und mit meinen Händen betasten kann.« Eine Woche später entgegnet Jesus dem Materialisten: »Sei nicht ungläubig, sondern gläubig. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.« Gott läßt sich darauf ein, obschon Thomas es überhaupt nicht verdient hätte – er begegnet ihm mit unverdienter Gnade. Gott läßt sich mit uns ein. Haben wir das verdient? Menschlich gesehen ist es ungerecht, daß er uns erretten will. Wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, wissen wir doch, daß wir es nicht verdient haben. Aber Gottes Gerechtigkeit ist ein viel höherer Begriff als menschliche Gerechtigkeit. Seine Gnade ist viel größer und tiefer, als wir dies je begreifen könnten.

»Das sei ferne von dir, daß du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so daß der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose!«

Wenn in einem Krieg während eines Bombenangriffs der eine zu Gott betet, der andere aber nur fluchen kann und dennoch beide umkommen, dann sterben beide nicht den gleichen Tod. Der eine stirbt zu Gott hin, der andere von Gott weg. Zum Bibelwort müssen wir uns aber erinnern, daß in Israel in jener Zeit das irdische Leben das höchste Gut war, nicht das ewige Leben.

»Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?«

Hier geht es um Gottes Gerechtigkeit. Ist es gerecht, daß Gott dem Volk Israel eine Binde über die Augen legt und es dann richtet, weil es ihn nicht anerkennt? Die Antwort ist: Es wäre nicht gerecht. In 1. Petrus 3, 18-22 steht: Jesus ging in den Totenbereich zu den Heiden, die vorzeiten gestorben sind, ihnen das Evangelium zu predigen, ihnen ein Angebot zu machen. Wenn er das mit den Heiden tut, dann vertraue ich fest darauf, daß er es auch mit seinem erstgeliebten Volk tun wird. Das ist meine Hoffnung. Fromme Juden bekehren sich selten zu Christus, eher die unfrommen. Meine Großmutter hatte ein großes Vertrauen zu dem Gott Israels; im Blick auf sie ist es meine Hoffnung, wenn sie im Gericht Jesus Christus begegnet, daß er ihr dann sein Angebot der Gnade bringt. Niemand kommt ins Himmelreich wegen des Gesetzes, sondern nur über Christus. Selbstverständlich wird auch jeder Namensjude gerichtet werden wie jeder Namenschrist. Aber warum ist es so, daß fromme Juden sich so selten bekehren, außer am Anfang in der Urgemeinde?

Jesus war gesandt zu den »verlorenen Schafen des Hauses Israel«. Wir sind alle verloren das ist die eine Bedeutung. Die andere liegt wohl bei den Juden, die keine Beziehung zu dem Gott Israels hatten und haben; und da liegt wohl ein Grundgeheimnis. Mindestens hoffe ich, daß der Herr mit seinem erstgeliebten Volk auch so handeln wird, wie er den Heiden eine Gelegenheit gab, im Totenreich das Evangelium anzunehmen. Ob Gott die verdammt, die in Auschwitz oder im Warschauer Ghetto in tiefem Gottvertrauen verharrten und doch umkamen: »Ich glaube, ich glaube, ich glaube, daß mein Messias kommen wird, Israel zu erretten.« Gott ist ein gerechter Gott, und auf diesem Wissen gründet meine Hoffnung, wenn ich auch meine Auffassung nicht beweisen kann. Diese Hoffnung für die Juden entbindet uns nicht von dem Auftrag der – wenn auch behutsamen – christlichen Mission unter Juden. Diese behält ihre Gültigkeit.

Denn die erste Mission ist Judenmission, und der Missionsbefehl Jesu weist zuerst zu den Juden. Die Frage ist, wie man Judenmission treibt. Hoffentlich mehr durch Werke als durch Worte, denn die Juden glauben den Worten nicht mehr. Für sie sind Christen unglaubwürdig geworden. »Sie haben uns immer Böses zugefügt, predigen aber von einem gütigen Gott.« Zeigt uns, daß ihr uns wirklich liebt und daß diese Liebe nicht in Judenhaß enden wird. Dann wird der Weg für diese Juden zu Christus vielleicht geöffnet. Ein bedeutsamer Weg der Mission ist der Lebenswandel, den wir aus Glauben führen, das Beispiel, durch das die Leute gereizt werden, Christ zu werden. So bin auch ich christusgläubig geworden, nicht durch Wortmission. Meine Frau hat mich nie »missioniert«. »Missionieren« würde eine Ehe nur äußerst gefährden, vielleicht sogar zerstören. In der Ehe bezeugt man nur durch gelebtes Beispiel. Meine Frau hat mich »gereizt« im Sinne von Römer 11,14 durch ihren Lebenswandel. Ich merkte, sie hat etwas, was ich nicht habe den – Frieden mit Gott und damit mit sich selbst.

»Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten? Der Herr sprach: Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben. Abraham antwortete und sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin.«

Eine merkwürdige, zwiespältige Aussage Abrahams; wenn ihm wirklich bewußt ist, daß er Erde und Asche ist, würde er schweigen vor Gott. Er schweigt aber nicht. Warum? Weil Gott nicht will, daß er schweigt. Gott will mit ihm reden und läßt sich in dieses Gespräch immer wieder ein. Gott will mit uns reden. Er will, daß wir unsere Sorgen, unsere Zweifel und Not vor ihn bringen, damit er uns Wegweisung geben kann. Deshalb läßt Gott sich auf diese Sache ein. Obgleich Abraham eigentlich weiß, daß er nicht vor Gott treten kann, tut er es.

»Es könnten vielleicht fünf weniger als fünfzig Gerechte darin sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen? Er sprach: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht verderben . . .«

So geht das weiter bis auf zehn. Warum geht Gott weg nach den zehn? Es geht um die Zehn Gerechten und um die Gerechtigkeit Gottes in den Zehn Geboten, die später gegeben werden. Noch weniger als zehn – das geht nicht! Wenn zehn Gerechte gefunden werden, dann wird die Stadt verschont. Gerechte – Gerechtigkeit – die Zehn Gebote sind das Zentrum der Gerechtigkeit Gottes. Es geht um diese zehn Menschen, aber die sind nicht da. Deswegen weigert sich Gott, weiter zu verhandeln. Deswegen ist es unter frommen Juden so, daß man zehn Männer braucht (denn die Männer tragen den Glauben), um einen Gottesdienst zu halten.

»Ich will sie nicht verderben um der zehn willen. Und der Herr ging weg, nachdem er aufgehört hatte, mit Abraham zu reden.«

Es gibt einen Punkt, an dem Gott nicht mehr weiterredet, sondern handelt. Das gilt auch in bezug auf unser Leben. Es gibt einen Punkt, an dem Gott nicht mehr in dieses Gespräch eintritt. Dieses Gespräch fängt immer Gott an. Ich habe zu meinen Konfirmanden gesagt: »Jedes Gebet fängt Gott an.« Das hat sie schockiert, denn sie hatten geglaubt, sie könnten anfangen zu beten. Nein, Gott erweckt das Bedürfnis in uns, zu beten, in Freude und Leid. Und dann fragte ein Konfirmand klug zurück: »Und was ist, wenn Gott kein Bedürfnis in mir weckt?« Ich antwortete ihm: »Deshalb lernst du, dich auf die Begegnung mit Gott vorzubereiten, indem du dich mit den Psalmen beschäftigst, indem du lernst, von dir aus Gott Dinge vorzubringen, daß Gott dann zu deinem geöffneten Herzen sprechen kann.«

Aber es gibt Punkte, an denen Gott nicht mehr mit uns redet. Das ist wichtig für uns zu wissen. Die Gnadenzeit wird zu Ende gehen. Gott redet zu Menschen durch alles mögliche, durch Freude und Leid, aber es gibt einen Punkt, an dem Gott nicht mehr mit uns redet. In seinem Reden mit dem barmherzigen Gott, der ihm gnädig ist, sieht Abraham schon das Gericht, das über die Gottlosen, die Gottesfeinde kommen wird.

». . . und Abraham wandte sein Angesicht gegen Sodom und Gomorra und alles Land dieser Gegend und schaute, und siehe, da ging ein Rauch auf vom Lande wie der Rauch von einem Ofen.«

Wir denken an die drei Männer im Feuerofen. Wir denken auch an das Ende des Dritten Reiches, an Auschwitz. Das war nichts anderes als ein vorweggenommenes satanisches »letztes Gericht«. Als ich Teenager war, habe ich zum ersten Mal gehört, was im Dritten Reich geschah. Meine Eltern hatten mir kein Wort darüber gesagt, denn man sagt einem Judenkind nicht, daß man umgebracht werden könnte, nur weil man Jude ist.

Wenn wir die Bilder von Auschwitz anschauen, wie die Menschen in langen Schlangen vor der »Selektion« stehen einer zum Leben, einer zum Tod: Wie »das letzte Gericht«, sich angemaßt von Mengele, der zwei Doktortitel besaß, Philosophie und Medizin. Die Todgeweihten wurden zum Ort der Reinheit geschickt, der kultischen Reinheit; fließendes Wasser wurde ihnen versprochen, aber das Gas des Todes wurde ihnen gegeben, und dann wurden sie verbrannt. Dieses verbrannte Fleisch schreit zu Gott.

»Und es geschah, als Gott die Städte in der Gegend vernichtete, gedachte er an Abraham . . .«

Gericht und Gnade – hier ist die richtige Reihenfolge, die wir gewohnt sind. Gericht über die Städte – da gedachte er an Abraham, wie er an Noah dachte, an ihn jedoch vor der Sintflut.

»… und geleitete Lot aus den Städten, die er zerstörte, in denen Lot gewohnt hatte.«

Wir hoffen, daß wir alle wie Lot durch diese endzeitliche Zeit geführt werden. Die Zeit, in der wir leben, ist absolut heidnisch. Meine Mutter, ein ethisch und moralisch betonter Mensch, sagte zu mir einmal vor etlichen Jahren am Strand in Italien: »David, ist es nicht schlimmer als in der Zeit von Sodom und Gomorra?« Die Zeit, in der wir leben, ist schlimmer. Und wenn die Zeit nicht verkürzt würde, würde kein Mensch mehr gläubig sein, sagt das Neue Testament. Was für einen Druck üben die Medien aus, damit alle Welt mitmacht bei dem heidnischen Tun. Aber der Herr führt die Seinen durch diese Welt. Gott führt einzelne Menschen hindurch. Wir wollen beten: »Herr, du bist mein guter Hirte. Gib mir die Kraft, dir immer zu folgen auf deinem Kreuzesweg, diesem schmalen Weg. Du bist mein Hirte.« Ich hörte einmal einen reifen Christen beten: »Herr, ich werde irgendwann in große Not kommen, durch Leiden, wenn ich krank bin, im Sterben. Ich bitte jetzt, gib mir dann die Kraft, an dir festzuhalten.« Es ist gut, wenn wir im voraus so beten.

Elisabeth und Zacharias werden lange um ein Kind gebetet haben. Das war auch ein Voraus-Beten, denn sie bekamen das Kind nicht, als sie es gerne haben wollten, sondern viel später. Es ist gut zu beten, indem wir die schwersten Momente, die wir erleben können, vor Augen haben, letztlich unser Sterben: »Herr, gib mir die Kraft, in dieser Leidensnot an dir festzuhalten. Ich vertraue auf dich.« Denn der Herr ist zeitlich unbegrenzt diese Tatsache ist gerade hier entscheidend. Solche Gebete haben für uns mit der Zukunft zu tun, aber alle Zeit ist für Gott gegenwärtig.

Abraham und Sara bei Abimelech

Abraham aber zog von dannen ins Südland und wohnte zwischen Kadesch und Schur und lebte nun als ein Fremdling zu Gera?: Er sagte aber von Sara, seiner Frau: Sie ist meine Schwester. Da sandte Abimelech, der König von Gerar, hin und ließ sie holen. Aber Gott kam zu Abimelech des Nachts im Traum und sprach zu ihm: Siehe, du bist des Todes um des Weibes willen, das du genommen hast; denn sie ist eines Mannes Ehefrau. Abimelech aber hatte sie nicht berührt und sprach: Herr, willst du denn auch ein gerechtes Volk umbringen? Hat er nicht zu mir gesagt: Sie ist meine Schwester? Und sie hat auch gesagt: Er ist mein Bruder. Hab’ ich das doch getan mit einfältigem Herzen und unschuldigen Händen. Und Gott sprach zu ihm im Traum: Ich weiß auch, daß du das mit einfältigem Herzen getan hast. Darum habe ich dich auch behütet, daß du nicht wider mich sündigtest, und habe es nicht zugelassen, daß du sie berührtest. So gib nun dem Mann seine Frau wieder, denn er ist ein Prophet, und laß ihn für dich bitten, so wirst du am Leben bleiben. Wenn du sie aber nicht wiedergibst, so wisse, daß du des Todes sterben mußt und alles, was dein ist. Da stand Abimelech früh am Morgen auf und rief alle seine Großen und sagte dieses alles vor ihren Ohren. Und die Männer fürchteten sich sehr. Und Abimelech rief Abraham auch herzu und sprach zu ihm: Warum hast du uns das angetan? Und was habe ich an dir gesündigt, daß du eine so große Sünde wolltest auf mich und mein Reich bringen? Du hast an mir gehandelt, wie man nicht handeln soll. Und Abimelech sprach weiter zu Abraham: Wie bist du dazu gekommen, daß du solches getan hast? Abraham sprach: Ich dachte, gewiß ist keine Gottesfurcht an diesem Orte, und sie weiden mich um meiner Frau willen umbringen. Auch ist sie wahrhaftig meine Schwester, denn sie ist meines Vaters Tochter, aber nicht meiner Mutter Tochter; so ist sie meine Frau geworden. Als mich aber Gott aus meines Vaters Hause wandern 84 hieß, sprach ich zu ihr: Die Liebe tu mir an, daß, wo wir hinkommen, du von mir sagst, ich sei dein Bruder. Da nahm Abimelech Schafe und Rinder, Knechte und Mägde und gab sie Abraham und gab ihm Sara, seine Frau, wieder und sprach: Siehe da, mein Land steht dir offen; wohne, wo dir’s wohlgefällt. Und zu Sara sprach er: Siehe da, ich habe deinem Bruder tausend Silberstücke gegeben; siehe, das soll eine Decke sein über den Augen aller, die bei dir sind, dir zugute. Damit ist dir bei allen Recht verschafft. Abraham aber betete zu Gott. Da heilte Gott Abimelech und seine Frau und seine Mägde, daß sie wieder Kinder gebaren. Denn der HERR hatte zuvor hart verschlossen jeden Mutterschoß im Hause Abimelechs um Saras, Abrahams Frau willen.
1. Mose 20

»Abraham aber zog von dannen ins Südland . . .«

Zunächst wanderte Abraham umher in dem Land, das der Herr ihm für das große Volk verheißen hatte. Später wanderte ein anderer auch durch dieses Land, Jesus, der »größer als Abraham« war. Abraham wandert durch dieses Land, weil Gott durch ihn zeigen will: Dieses Land gehört dir und deinen Nachkommen in alle Ewigkeit. Davon sollten Perez und sein israelisches Kabinett in unsern Tagen lernen. Dieses Land gehört Israel, das ganze Land, in alle Ewigkeit. Das wird in der Bibel immer wieder betont. Deshalb geht Abraham durch das Land von Norden zum Süden, wie später auch Jesus, um zu zeigen: Dieses Land gehört mir, ich bin der König der Juden. Als solcher wurde er schon zu Beginn seines Erdenweges von Heiden angebetet, von Weisen aus dem Osten. Das waren keine Könige, auch wenn die Tradition sie dazu gemacht hat; auch Rembrandt hat sie als Könige gemalt. Diese Weisen beten ihn als König der Juden an, nicht als der Heiden Heiland. Und Jesus starb als König der Juden, wie die Kreuzesinschrift besagt: INRI. Am Anfang und Ende steht der König der Juden, und dazwischen liegt sein Weg durch das Land, um zu zeigen: Dieses Land gehört mir.

»Meine Väter waren umherirrende Aramäer« – das ist eine Urerkenntnis des Israeliten. Daß sie das »Wandervolk Gottes« sind, diese Kenntnis geht in die Urgeschichten des Alten Testa8ments zurück. Ein Wandervolk Gottes, bis sie seßhaft geworden sind. Dieses Bild vom wandernden Volk Gottes wird im Neuen Testament bewußt aufgenommen: »… denn wir haben hier keine bleibende Stadt.« Das bedeutet sowohl, daß wir alle sterben müssen, aber dies »Umherziehen« weist auch darauf hin, daß wir hier auf Erden keine endgültige Heimat haben.

»Abraham aber zog von dannen ins Südland und wohnte zwischen Kadesch und Schur und lebte nun als ein Fremdling zu Gerar.«

Noch ein Wort der Last: ein »Fremdling im eigenen Land«. Die Juden waren für Jahrtausende Fremdlinge in verschiedenen Ländern. Auch Christen sind Fremdlinge in diesem wie in jedem anderen Land. Ihre Art zu denken und zu leben ist Menschen in heidnischen Ländern fremd, sogar in Deutschland, unserer Heimat als Deutsche, ist das so geworden. Wir sind für viele Menschen neben uns »fremd«.
Das sollte uns bewußt sein. Nationaldenken entspricht nicht biblischem Denken. Christen denken in erster Linie nicht national. Ein aufmerksamer Historiker wird sagen: Die Deutschen haben kein Nationalbewußtsein mehr. So extreme Leute wie Hitler können hochkommen, gerade weil die Deutschen keine Deutschen sind – sie sind vorrangig Schwaben und Bayern und Hessen, Sachsen und andere »Landsleute«. Das führt leicht zu einem aufgesetzten, extremen Nationalverständnis, denn es besteht kaum ein natürliches Nationalgefühl. Das ist historisch begründet. Denn Deutschland war noch sehr spät vom Feudalismus bestimmt, als andere Länder schon längst Nationalstaaten waren. »Deutschland« wurde erst durch Bismarck durch den Mythos »Blut und Eisen« geschaffen, viel später im Vergleich zu England und Frankreich oder gar zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Zuerst sind wir hoffentlich Christen, dann Schwaben . . . und als solche dann auch Deutsche.

»Er sagte aber von Sara, seiner Frau: Sie ist meine Schwester.«

Abraham wußte, daß seine Frau schön war, daß sie begehrt werden würde, auch von dem König in Gerar, und daß der König sie zu sich nehmen würde. So überlegt er im voraus, wie er sich und Sara schützen kann. Aber er sucht Schutz auf Kosten von Saras Keuschheit, auf Kosten seiner Ehe mit Sara. Er benutzt sie, weil er fürchtet, daß andere sie in ihrem Sinn benutzen werden. Wie kommen wir als Menschen zu solch einer Überlegung? Ist es nicht so: Die Gedanken, die wir über das Böse des anderen haben, spiegeln immer Gedanken, die in uns selbst Raum haben. Abraham ist in seinen Gedanken unrein. Gewiß, man könnte sagen: Er ist klug und vorsichtig; aber spiegeln sich in seinen Überlegungen nicht auch deutlich unreine Gedanken?

Man könnte einwenden: »Sie war aber doch auch die Schwester.« Aber das wäre nicht eindeutig, denn sie war nur seine Halbschwester, vorrangig ist sie aber seine Frau. Seine Frau zu sein ist wichtiger, als seine Schwester zu sein. So gehen auch wir öfters mit der Wahrheit um und geben etwas Zweideutiges als Wahrheit aus. Aber damit wird solche »Wahrheit« zur Lüge. Die Bibel ist ein Ruf zur Ehrlichkeit. Abraham, der Vater der Gläubigen, wird hier zum Problem – und wir sind nicht besser als er.

»Da sandte Abimelech, der König von Gerar, hin und ließ sie holen.«

Abraham hat also anscheinend doch recht: Der Mann begehrt die Frau. Abimelech aber hatte schon eine »Frau und Mägde«, wie der Schluß des Kapitels berichtet. So ist er mit seinem Begehren auf dem Weg, Ehebruch zu begehen. Was bedeutet Ehebruch? Man bricht in eine andere Ehe ein oder man bricht die eigene Ehe. Doch es kommt mit Sara nicht soweit, er sah sich früh genug getäuscht. Er wird bewahrt, daß er nicht in eine Ehe einbricht.

»Aber Gott kam zu Abimelech des Nachts im Traum . . .«

Hier kommt Gott zu einem Heiden. Wer sagt, daß die Bibel ein »Judenbuch« sei, soll einmal wirklich anfangen, die Bibel tiefer zu lesen. Abimelech benimmt sich in dieser Geschichte letzten Endes viel besser als Abraham. Gott erscheint zuerst dem Abimelech. Gott hätte auch Abraham erscheinen können und mit ihm reden, aber er geht zu dem Heiden. Gott hat im Alten Testament immer wieder einen Weg auch mit Heiden. Heiden schließen sich dem Volk Israel an, Heiden sollen gerufen, hergelockt werden zu dem Gott Israels durch das gehorsame Leben der Juden. Nicht anders ist das auch mit der Art und dem Weg der christlichen Mission, die das Evangelium den Heiden durch Wort und Tat bezeugt.

»Aber Gott kam zu Abimelech des Nachts im Traum und sprach zu ihm: Siehe, du bist des Todes um des Weibes willen, das du genommen hast; denn sie ist eines Mannes Ehefrau.«

Wie können wir diesen Traum in Verbindung bringen mit dem Text bei Jeremia, wo dieser sagt: Die falschen Propheten reden über Träume und Visionen, aber die richtigen bekommen das Wort von Gott (Jer. 23,25). Jeremia warnt vor den Wunschträumen der falschen Propheten: Gott bringt Frieden, Gott schützt die Juden – obwohl er es doch gar nicht immer tut! So kann man es auch heute hören: »Wir sind getaufte Christen, deswegen haben wir Heil!« Taufe allein bringt aber nicht Heil, sondern Glaube und Nachfolge. Wunschträume führen vom Entscheidenden weg. Gott kann auch durch Träume sprechen, aber wir müssen sehr vorsichtig sein, denn nicht nur Gott kann durch Träume sprechen. Aber von Abimelech wird berichtet, daß Gott im Traum zu ihm spricht. Wir stehen in der Gefahr, Wünsche zu träumen und vor diesem Hintergrund auch zu beten. Viele Leute beten, um zu bekommen, was sie haben wollen. Die Zielsetzung ihres Gebets ist das eigene Haben-Wollen. Sie beten und schauen dabei in die Bibel, bis sie etwas Passendes finden und sagen dann: »Gott hat mir das gesagt.« Das ist eine große Selbsttäuschung im Gebet, und viele Christen leben darin. Sie wissen bei ihrem Beten im voraus in ihrem Herzen, was sie wollen, und achten nur auf einen Text, der dem entspricht, und dann sagen sie: »Der Herr hat mir das gesagt.« Vorsicht! Der Weg des Gebets ist der der Auslieferung an den Herrn, sein Wort und damit an seinen Willen. Das kann zu total anderen Wegen führen, als was wir vorhaben und was wir wollen. Das ist herausfordernd – aber so ist die Bibel.

»Abimelech aber hatte sie nicht berührt und sprach: Herr, willst du denn auch ein gerechtes Volk umbringen?«

Das ist eine Fortsetzung der Thematik von Sodom und Gomorra: Wird der Herr ein gerechtes Volk umbringen? Abimelech, als Beispiel für dieses Volk, handelt nicht ungerecht. Da ist nur in dieser Angelegenheit der Bezug zu seiner eigenen Frau, der in diesem Text wirklich nicht geklärt ist, denn er wollte Sara ja zu sich nehmen.
Doch Abimelech ist ein Beispiel – wie die Seeleute und die Niniviten bei Jona -, daß Heiden oft besser wissen, wie man auf Gottes Wort reagiert und davon betroffen ist, als Gottes Leute.
Auch die Jünger Jesu tun in der Passionszeit fast nie das Richtige. Nur das bitterliche Weinen des Petrus, und daß Johannes aus Liebe und Pflicht beim Kreuz ist, ist richtig. Ansonsten enttäuschen sie uns. Unser Glaube gründet also offensichtlich nicht auf unserer Frömmigkeit oder auf dem, wie gut wir sind. Unser Glaube ist gegründet auf das, was er, was Jesus für uns tut. Immer war das große Problem am Glauben für mich nicht Jesus, sondern die Verbindung zwischen Jesus und mir, zwischen Jesus und Kirche, zwischen Jesus und Gemeinde. Denn Jesus ist viel zu gut für uns; er ist viel besser als wir. Da leuchtet das Problem der Heiligung auf. Wenn man bedenkt, wie Christen mit wenigen Ausnahmen im Dritten Reich total versagt haben. Wenn die Christen in jener Zeit wirklich bewußt gegen Hitler und seinen Antisemitismus aufgestanden wären, hätte das Grauen des Holocaust nie passieren können. Aber sie verschlossen lieber die Augen und waren feige.

Um das geht es, was mir zum großen Problem am Glauben wurde, nicht Jesus und seine Göttlichkeit das sehe und erlebe ich ständig -, sondern wir selbst sind das Problem, unsere Schwäche, unsere Schuld. Und darauf zielt die Bibel ständig: Gott ist gerecht, Gott ist gut, und er will uns mehr und mehr in seinem Sinne verändern. Aber da sind wir für ihn schwere Brocken, wie es Paulus von sich selbst sagt und ich auch von mir und gewiß mancher ehrliche Christ von sich. Gott will keine Scheinheiligkeit; er will, daß wir ehrlich mit uns selbst sind. Wir sind alle »schwere Brocken«, aber er arbeitet an uns. Gott geht einen historischen Weg mit uns auch wenn wir das nicht immer so klar erkennen. Gott wirkt immer wieder, indem er das Dunkle in uns ans Licht bringt, auch wenn wir nicht merken, wie er uns dabei führt. Aber er hat uns geführt. Es gibt dadurch einen Wandel in uns, Veränderungen, nicht immer große. Aber Gott wirkt an uns, solange wir das zulassen. Wir können uns gegen sein Wirken an uns auch abschirmen mit unserer Frömmigkeit, mit unserer Art zu Denken, mit unserer Selbstgerechtigkeit. Dann kann er nicht an uns arbeiten. Glaube bedeutet, Ausgeliefertsein an den Herrn und sein Wort, seinen Geist, der durch sein Wort wirkt.

Es leuchtet das Problem die »Gerechten unter den Heiden« auf. Im Neuen Testament sind es die Gottesfürchtigen unter den Heiden. Sie glaubten an den Gott Israels, mußten aber nicht das ganze Gesetz halten, und viele von ihnen wurden Christen. Ihre Frömmigkeit übertraf die von Israel im besten Sinn – »So einen Glauben habe ich in ganz Israel nicht gefunden«, sagt Jesus in bezug auf den Hauptmann von Kapernaum. Ich frage mich, ob das heute nicht umgekehrt ist: Die Glaubensintensität und die Messiaserwartung in Israel übertrifft weit jene, die wir im sogenannten christlichen Abendland finden. »Die Zeit der Heiden geht zu Ende«, sagt Jesus (Lukas 21). Wir werden vorher entrückt, und das Heil geht mit der Wiederkunft Jesu wieder an Israel und durch Israel nochmals zu den Völkern.

»Hat er nicht zu mir gesagt: Sie ist meine Schwester? Und sie hat auch gesagt: Er ist mein Bruder.«

Beide, Abraham und Sara, haben sich in diese Lüge verstrickt. Wie sie auch beide nicht glaubten, daß sie noch ein Kind bekommen würden. Ist das nicht immer so in einer guten Ehe: beide?

»Und Gott sprach zu ihm im Traum: Ich weiß auch, daß du das mit einfältigem Herzen getan hast.«

Gott bestätigt, daß Abimelech einfältig gehandelt hat, einfältig in bezug auf Sara, aber nicht in bezug auf seine eigene Frau was hier unausgesprochen bleibt. Und wenn die Bibel hier, wie an anderen Stellen, vom »Herzen« spricht, meint sie nicht nur das Gefühl, sondern die Gedanken und das Gefühl.

»Darum habe ich dich auch behütet, daß du nicht wider mich sündigtest, und habe es nicht zugelassen, daß du sie berührtest.«

Gott sah, daß dieser Mann unschuldig ist. Was passiert, wenn wir etwas tun, was nicht richtig ist, aber wir sind nicht in der Lage zu wissen, daß es nicht richtig ist? Ein Gebet ist da wichtig: Schütze mich gegen meine unerkannte Schuld – hebräisch »Chatah«. Aber die unerkannte Schuld kann eine viel größere Tiefe haben, daß ich nämlich so schuldig bin, daß ich gar nicht weiß, daß ich schuldig bin. Das ist der andere Aspekt von »Chatah«. Der erste ist nicht so schlimm: Man tut etwas Böses, ohne zu wissen, daß es böse ist. Es ist nicht böse gemeint, und aus unserer Sicht ist es auch wirklich nicht böse – so erlebte und empfand es Abimelech. Aber »Chatah« hat eben auch diese andere Dimension, daß wir zutiefst schuldig sind, ohne es zu merken, weil wir so schuldig sind, daß wir es gar nicht mehr merken. Nicht jede Schuld ruft ein schlechtes Gewissen hervor. Wir können froh sein, wenn sich ein schlechtes Gewissen bei uns meldet. Das ist dann Gottes Weg mit uns. Deswegen sollte man immer auch beten: »Herr, vergib mir meine unerkannte Schuld.« »Chatah« – das ist unsere Grundentfernung von Gott.

»So gib nun dem Mann seine Frau wieder, denn er ist ein Prophet, und laß ihn für dich bitten, so wirst du am Leben bleiben.«

Ist es merkwürdig, wenn hier der Begriff »Prophet« für Abraham gebraucht wird? Sprechen wir von »Propheten« nur im Zusammenhang der biblischen Prophetenbücher? In der Bibel sind alle zentralen Gestalten von Abraham an Propheten. Man spricht von den »vorderen« und »hinteren Propheten«. Aber auch Abraham wird hier Prophet genannt. Die Bezeichnung »Prophet« hat nicht nur etwas mit Zukunftsvoraussage zu tun. Das ist nicht das Zentrum der Prophetie. Vielmehr ist das Zentrum biblischer Prophetie immer auch die Gegenwart. Der Prophet ist ein Mittler zwischen Gott und dem Volk und zwischen dem Volk und Gott. Und Abraham vertritt als Urpatriarch das Volk; er vermittelt zwischen Gott und dem Volk und dem Volk und Gott. Außerordentlich bedeutsam ist die Vermittlung der Prophetie in der Gegenwart. Deshalb wurde Martin Luther von Melanchthon der »große Prophet seiner Zeit« genannt. Luther hatte nie Visionen über die Zukunft oder hat Zukunftsvoraussagen gemacht, aber er hat die Lage der Kirche und die Lage des Volkes im biblischen Sinn am tiefsten und schärfsten verstanden. Solches Erkennen ist das Zentrum der Prophetie. Das ist das wahre evangelische Erbe. Prophetie ist nicht als Schwärmerei zu verstehen, verbunden mit besonderen Visionen; das ist hier nicht gemeint. Die biblischen Propheten haben durch Gottes Vermittlung auch die Zukunft gesehen, denn Gott ist ein Gott der Geschichte. Deshalb waren sie alle große Historiker mit dem Blick Gottes über die gesamte Geschichte Israels, mit dem Aktuellen der jeweiligen Gegenwart im Mittelpunkt und dann zugleich auch mit einer Schau der Zukunft. Denn Gott ist A und O, Anfang und Ende, er heißt Jahwe, der Seiende, der Wirkende, der in der Geschichte wirkte. Deshalb hat der Prophet diesen gesamtgeschichtlichen Überblick. Aber das Zentrum seines Schauens ist immer die Gegenwart. So ist es auch hier mit Abraham. Er hat als Vermittler im Gebet Vollmacht von Gott.

»Wenn du sie aber nicht wiedergibst, so wisse, daß du des Todes sterben mußt und alles, was dein ist.«

Seien wir uns darüber im klaren: Ehebruch ist eine Todsünde. Das bedeutet nicht, daß Todsünden nicht vergeben werden könnten. Jesus hat zu einer Ehebrecherin gesagt: »Sündige nicht mehr.« Das bedeutet doch: Man muß damit aufhören, man muß konsequent einen neuen Weg gehen. Maria Magdalena war eine Hure. Sie hatte sieben böse Geister. Die Zahl Sieben ist die Schöpfungszahl, bedeutet in ihrer Perversion aber auch das Böse, und das ist Hurerei, die schlimmste Sünde für eine Frau in der Bibel. Ehebruch ist ein Bruch mit Gott, denn wir leben in einer »Ehe« mit Gott. Wir haben nur einen Gott. Er ist der Bräutigam und wir sind die Braut, persönlich und als Gemeinde, Israel und der Neue Bund. Und auch dazu sind wir aufgefordert: »Du sollst nicht ehebrechen.« Das steht in direkter Beziehung zum ersten Gebot, daß wir keinen anderen Gott neben Jahwe haben sollen. So sollen wir auch nur eine Frau bzw. einen Mann haben. Ehebruch ist genauso schlimm wie Mord. So brechen wir auch die »Ehe« mit Gott, wenn wir die Ehe mit unserer Frau oder unserem Mann brechen. Das muß deutlich gesagt werden. Aber Vergebung kann es geben, wenn man seine Wege ändert. Wann vergibt uns Gott unsere Schuld? Erst wenn wir um Vergebung bitten. Wenn wir nicht um Vergebung bitten, wird uns nicht vergeben. Das ist eine klare Sache. So sollen auch wir mit Menschen umgehen, die an uns schuldig geworden sind, daß wir ihnen nur vergeben, wenn sie uns um Vergebung bitten. Das fordert uns aber heraus, daß wir stets bereit sein sollen zur Vergebung und daß wir immer für sie beten. Aber es ist nicht richtig, aus falsch verstandener Liebe jemand zu vergeben, der in Sünden beharrt. Jesus tut das nie. Er sagt: »Sündige nicht mehr.« Das ist wichtig.

»Da stand Abimelech früh am Morgen auf und rief alle seine Großen und sagte dieses alles vor ihren Ohren. Und die Männer fürchteten sich sehr.«

Wenn etwas wichtig ist für uns, dann stehen wir früh auf, dann wollen wir nichts anderes mehr dazwischenkommen lassen. Da wird das Jetzt entscheidend. In diesem Heiden hat Gottesfurcht Raum. Das ist ein Fingerzeig gegen Abraham. Denn Abrahams Gedanken, bei jeder undurchsichtigen Gelegenheit Sarah als seine Schwester auszugeben, das sind unsaubere Gedanken. Denn er unterstellt: Alle anderen sind böse, nur wir sind fromm und gut. Seine Gedanken aber erweisen sich als unrein. Gottesfurcht bei Heiden – Fingerzeige gegen fromme Menschen in der Bibel, immer wieder aber auch gegen uns, denn leider ist es öfters zu erleben, daß Nicht-Christen besser sind als wir. Das beschämt uns, und wir sollen daraus lernen. Wenn wir Menschen zu Christus führen wollen, müssen sie spüren, daß unser Glaube eine verändernde Auswirkung auf uns hat. Und wenn wir keine Liebe und keine echte Demut ausstrahlen, wenn sie merken, daß sich nichts bei uns verändert, sind wir unglaubwürdig. Ich hörte dazu eine hervorragende Geschichte von Klaus Vollmer. Ein junger Mann schreibt ihm und fragt: »Ich bin zum Glauben gekommen, wie kann ich meine Eltern zum Glauben bringen?« Klaus Vollmer antwortete: »Schau, daß dein Zimmer aufgeräumt ist, junger Mann, das ist der beste Anfang.« Da wird Glauben konkret und praktisch.

Gezielte Veränderung beim einzelnen vermag konkretes Nachdenken bei anderen auszulösen. Abimelechs Konsequenz löste bei seinen »Großen« Furcht aus – Gottesfurcht? Das war auch bei den Leuten so, die bei Jona im Schiff waren – Jona läuft weg von Gott, aber die Heiden fürchten sich vor Gott.

»Und Abimelech rief Abraham auch herzu und sprach zu ihm: Warum hast du uns das angetan? Und was habe ich an dir gesündigt, daß du eine so große Sünde wolltest auf mich und mein Reich bringen? Du hast an mir gehandelt, wie man nicht handeln soll.«

Und das ist ein Fingerzeig für uns, für unsere Wege. Wir sollen unsere Wege immer wieder unter dem Wort prüfen, daß wir nicht in eine Lage kommen, in der Heiden zu uns sagen: »Die Christen benehmen sich schlechter als wir. Was muß das für ein Gott sein, dem sie gehören wollen!« Gewiß, auch die andere Seite gibt’s, daß Heiden nur das Schlechteste über uns sagen wollen und Tatsachen zu allen möglichen Gerüchten verdrehen; das soll ihnen dann zu einem Alibi dafür werden, in ihren heidnischen Wegen zu verharren. Begriffe wie Superfromme, Pietisten, Fundamentalisten … lassen sich dazu leicht breitwalzen. Das ist ein großes Übel. Aber in manchem Vorwurf steckt trotzdem eine gewisse Wahrheit. Es ist gut, davor nicht die Augen zu verschließen, denn die Bibel zeigt uns das. Probleme sollen wir immer bei uns selbst zuerst suchen, den Balken aus dem eigenen Auge zuerst entfernen, sagt Jesus. Das ist auch für Abraham der schlimmste Vorwurf aus dem Munde des heidnischen Königs: Du, als ein Erwählter Gottes, handelst übel und willst mich damit verderben.

»Und Abimelech sprach weiter zu Abraham: Wie bist du dazu gekommen, daß du solches getan hast? Abraham sprach: Ich dachte, gewiß ist keine Gottesfurcht an diesem Orte . . .«

Direkt vorher steht: »Alle diese Männer fürchteten sich sehr.« Das bedeutet, daß Abraham ohne echte Gottesfurcht handelt, weil er keine Gottesfurcht bei anderen vermutet. Die Gedanken, die wir auf andere übertragen, spiegeln eine Schuld in uns selbst. Das ist immer der Fall. Wir sollten dabei sehr vorsichtig sein, wie wir mit unseren Feinden umgehen. Die Sprache und die Gedanken, die wir haben, zeigen vieles über uns selbst. Das macht dieser Text sehr deutlich: Abraham ist überzeugt, daß die Leute in Gerar alle nicht gottesfürchtig sind, weil sie nicht zu dem Gott Israels gehören. Aber sie zeigen eine viel größere Gottesfurcht als er in seinem Alter.

». . . und sie werden mich um meiner Frau willen umbringen. Auch ist sie wahrhaftig meine Schwester, denn sie ist meines Vaters Tochter, aber nicht meiner Mutter Tochter . ..«

Nein, Abraham, das ist keine Antwort, damit kannst du dich nicht freisprechen! Daß sie »wahrhaftig meine Schwester« ist, ist nur eine schöne Wendung. Nein, sie ist Abrahams Frau, und sie ist seine Halbschwester. Aber eine Halbschwester zu sein hat keinen Vorrang gegenüber dem Frau-Sein.
Eine Teilwahrheit ist doch auch Wahrheit warum sollte man sie nicht sagen? Da gilt zu bedenken, daß Satans Wege nie glatte Lüge sind, sondern Satans Wege sind immer Viertel- oder Halbwahrheiten, manchmal auch Dreiviertelwahrheit. Eine eindeutige Lüge hätte Jesus nicht ans Kreuz gebracht. Lügengeister bringen ihn nicht ans Kreuz. Wahrhaftiges aber bringt ihn ans Kreuz: Er hat gesagt, er würde den Tempel in drei Tagen wieder aufbauen. Das ist wahrhaftig! Bist du der Sohn Gottes? Ja, wahrhaftig! Wahrheit ist Jesu Todesursache. Im Gebot heißt es: »Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten.« Wir können die Wahrheit sagen und doch dieses Gebot brechen – z. B. wenn wir die Wahrheit sagen und dabei einen Menschen in seinem Wesen zerstören. Da ist einer aus dem Gefängnis entlassen und will einen neuen Anfang machen und kommt in unsere Gemeinde. Wenn ich dann überall im Ort »erkläre«, daß dieser Mann im Gefängnis war, sage ich zwar die Wahrheit, aber ich breche dieses Gebot. Was immer das Wesen meines Redens über ihn war, Absicht oder Neugierbefriedigung oder . . . , ich zerstöre damit einen Mann, der einen neuen Anfang machen will. Das ist eigentlich die schlimmste Art, wie man dieses Gebot brechen kann mit der Wahrheit! Jesus wurde gekreuzigt wegen der Wahrheit, nicht wegen der Lügengeister. Die Gegner Jesu kommen mit allen möglichen Lügengeistern, und sie können nichts gegen ihn ausrichten. Dann aber fangen sie mit der Wahrheit an und kommen an ihr Ziel: Kreuzige ihn!

» . . so ist sie meine Frau geworden. Als mich aber Gott aus meines Vaters Hause wandern hieß, sprach ich zu ihr: Die Liebe tu mir an, daß, wo wir hinkommen, du von mir sagst, ich sei dein Bruder.«

Gott hatte Abraham aufgefordert zu wandern. Aber er geht nicht gerade Wege. Das wird auch an diesem Text wieder deutlich. Das Problem der krummen Wege ist ein Thema an vielen Stellen der Bibel. Große biblische Helden gehen immer wieder einmal ihre eigenen, schiefen Wege bis sie, wie Paulus, dann zur »Geraden Straße« kommen. Da ist Mose: Totschlag – David: Ehebruch und Mord – Elia: »Ich bin nicht besser als meine Väter« und flieht vor einer Frau, nachdem er alleine, doch mit Gottes Kraft, gegen 850 Männer gekämpft hat – Petrus: Er geht zurück zu seinem alten Lebensstil am See Genezareth, nachdem er den Gekreuzigten und Auferstandenen erlebt hat, und erkennt den Herrn zunächst nicht – Paulus: Er wirft keinen Stein, sondern wie ein SS-Offizier unterschrieb er »nur«, daß Stephanus umgebracht würde. Das sind die biblischen »Helden«!
Was sagt uns das? Der Herr will mit uns ans Ziel kommen. Das ist sein gerader Weg, aber wir sind auf diesem die »schweren Brocken«. Die Wege unserer Irrungen und Wirrungen sind letzten Endes öfters lange Wege, denn der Herr braucht auf ihnen lange, um mit uns ans Ziel zu kommen. Die schnellen Bekehrungen von Leuten, die besondere Wunder, die plötzlich den Heiligen Geist erleben wollen, das ist öfters Schwarmgeist. Die Erfahrung des Paulus vor Damaskus ist ganz und gar ungewöhnlich. Ich habe auch Bekehrungen erlebt, aber das hat mitunter jahrelang gedauert. Bei mir selbst war das auch so, und der Prozeß hält immer noch an. Bekehrung zu Jesus geschieht selten in einem Moment. Bekehrung ist Gottes Handeln immer wieder an uns. Freilich gibt es einen konkreten Augenblick, in dem wir sagen können: »Ich weiß, daß ich an Jesus Christus glaube und daß er mein Herr ist.« Aber das muß von mir immer wieder bestätigt werden. Oder gibt es Menschen, die wirklich immer mit Gott leben? Wir gehen doch immer wieder einmal unsere Wege.

»Als mich aber Gott aus meines Vaters Hause wandern hieß, sprach ich zu ihr: Die Liebe tu mir an, daß, wo wir hinkommen, du von mir sagst, ich sei dein Bruder.«

Diese Aufforderung Abrahams an Sara bedeutet im Grunde genommen doch, daß er sie dem Geschlechtsverkehr mit allen möglichen Männern ausliefert. Eine beschämende Forderung! Verpackt in die Floskel: »Die Liebe tu mir an . . .« – das hat nichts mit Liebe zu tun, eine Frau so zu benutzen. Abraham kommt in dieser Geschichte nicht sehr gut weg. Bemerkenswert ist, daß Abraham unter Juden nicht als der große Gläubige gilt. Der Talmud sagt, Jakob sei viel besser als Abraham. Das wissen Christen nicht. Jakob ist zwar auch nicht die beste Persönlichkeit. Der einzige, der im Alten Testament wirklich Vordeutungen in diesem Sinne auf Jesus zeigt, dem wirklich kaum Sünde zugerechnet wird, ist Josef. Über Josef und seinen Bezug zu Jesus wurde schon manches Gute geschrieben. Die beste Persönlichkeit der Bibel, ja, der ganzen Menschheit von Anbeginn ist Jesus, der Christus.

»Da nahm Abimelech Schafe und Rinder, Knechte und Mägde und gab sie Abraham und gab ihm Sara, seine Frau, wieder und sprach: Siehe da, mein Land steht dir offen; wohne, wo dir’s wohlgefällt.«

Ein Zeichen des Segens in den Urschichten der Bibel ist viel Hab und Gut, Reichtum und langes Leben. Dies ändert sich sehr schnell im Alten Testament. »Warum geht es den Gottlosen so gut? Sie brüsten sich wie ein fetter Wanst und tun, was ihnen einfällt… Und ich bin täglich geplagt«, heißt es später. Not und Armut derer, die zu Gott gehören, fängt nicht erst im Neuen Testament an, das ist schon deutlich alttestamentliche Erfahrung. In den Zeiten der Patriarchen sind die Zeichen göttlichen Segens noch anders. So auch hier, als Abimelech Abraham entläßt. Aber er verweist ihn noch nicht einmal seines Landes, sondern gewährt ihm sogar Aufenthaltsrecht – wie wir heute sagen könnten: »Mein Land steht dir offen.« Da entdecken wir schon eine Vordeutung auf Israels Wanderung aus Ägypten zum Heiligen Land. Das war damals und ist heute die zentrale Frage an alle Völker: Laßt ihr uns durch, oder laßt ihr uns nicht durch? Abimelech hat die gerechte Haltung: Das Land steht Abraham offen. Es kann ja auch gar nicht anders sein, denn nach Gottes Plan gehört es ihm schon. Gott hat dieses Land Abraham gegeben. Nur scheinbar gehört es noch dem Abimelech.

Das richtige Handeln Abimelechs hat auch mit unserer Einstellung als Christen zu den Juden zu tun. Ein gerechter Heide erlaubt hier einem Juden, dazubleiben. Was geschah in vergangenen Jahrhunderten in Deutschland, in Spanien, in . . .? Was haben die Volker immer wieder getan? Doch wie man an den Juden handelt, so wird Gott an uns handeln. Das ist ein Satz, der sich durch die ganze Bibel und durch die Menschheitsgeschichte zieht. Der »geringste Bruder« wen meint Jesus, wenn er sagt: »Was ihr meinem geringsten Bruder tut, das tut ihr mir«? Wir haben leibliche Brüder und Schwestern, auch geistliche Brüder und Schwestern in der Gemeinde, aber wer ist der geringste Bruder? Die »geringsten Brüder« sind die Juden. Sie sind »Feinde um des Evangeliums willen«, aber »Geliebte um der Väter willen«. Und was wir den Juden tun, das tun wir Jesus. Die Juden sind »Gottes Augapfel«. Der Heide Abimelech weist dem Versager Abraham sein Land zu – »sein Land« in doppelter Bedeutung.

»Und zu Sara sprach er: Siehe da, ich habe deinem Bruder tausend Silberstücke gegeben; siehe, das soll eine Decke sein über den Augen aller, die bei dir sind, dir zugute. Damit ist dir bei allen Recht verschafft.«

Die »Decke über den Augen« begegnet uns mehrfach in der Bibel: Jesaja sagt, die Heiden haben eine Decke über den Augen; Paulus sagt, die Juden haben eine Decke über den Augen (Römer 11); und hier bedeutet diese Decke nicht, daß sie Gott nicht sehen können, sondern sie ist ein Schutz, ein Zeichen für die Völker, daß sie dieses Volk gut behandeln sollen. Das ist ein merkwürdiger Zweck dieser Decke. Es ist nicht eine Decke, die unsere Beziehung zu Gott verdeckt, so daß wir ihn nicht sehen können, wie die Heiden bei Jesaja oder die Juden bei Paulus, sondern es ist eine Decke als Zeichen des Schutzes, wie Moses Decke, nachdem er die Gebote bekam, eine Decke vor den Augen zur Erinnerung an Gott. Hier gibt ein gerechter Heide die Antwort auf das falsche Verhalten Abrahams, er gibt ihm den Schutz des Gerechten. Das ist nochmals ein Fingerzeig für Abraham und die Juden: Der gerechte Heide gibt Abraham alles, sogar einen Schutz. Und was tun wir? Deutsche wollten Abrahams Nachkommen ins Verderben bringen. Die Bibel aber sagt: Wie wir an den Juden handeln, dem geringsten Bruder, so wird Gott uns selbst beurteilen, weil dieser geringste Bruder Gottes Augapfel ist.

In diesem Text geht es jedoch zunächst einmal scharf gegen Israel und Israels ungerechtes Handeln, wo doch später Israel die Gerechtigkeit Gottes anvertraut wird, seine Thora; aber Heiden wissen hier, was Gerechtigkeit ist. Sie antworten auf schlechte Behandlung mit guter Behandlung. Gott sei Dank gibt es viele Christen, die das gelernt haben. Aus den Straflagern Stalins in Rußland sind viele Geschichten von Christen bekannt, die mit Liebe die Menschen behandelten, von denen sie verfolgt wurden. Das kommt dem Wesen der Mission zugute, daß die Feinde »gereizt« werden und sagen: Die haben etwas, was wir nicht haben; wir hassen sie, und sie antworten mit Liebe. Das durchzuhalten, ist außerordentlich schwer. Aber genau das will Jesus von uns haben; und genau das will er uns hier in diesen Urgeschichten des Alten Testaments zeigen.

Gottes Gebot: Austreibung Ismaels und seiner Mutter

Und der Herr suchte Sara heim, wie er gesagt hatte, und tat an ihr, wie er geredet hatte. Und Sara ward schwanger und gebar dem Abraham in seinem Alter einen Sohn um die Zeit, von der Gott zu ihm geredet hatte. Und Abraham nannte seinen Sohn, der ihm geboren war, Isaak, den ihm Sara gebar, und beschnitt ihn am achten Tage, wie ihm Gott geboten hatte. Hundert Jahre war Abraham alt, als ihm sein Sohn Isaak geboren wurde. Und Sara sprach: Gott hat mir ein Lachen zugerichtet; denn wer es hören wird, der wird über mich lachen. Und sie sprach: Wer hätte wohl von Abraham gesagt, daß Sara Kinder stille! Und doch habe ich ihm einen Sohn geboren in seinem Alter. Und das Kind wuchs heran und wurde entwöhnt. Und Abraham machte ein großes Mahl am Tage, da Isaak entwöhnt wurde. Und Sara sah den Sohn Hagars, der Ägypterin, den sie Abraham geboren hatte, wie er Mutwillen trieb. Da sprach sie zu Abraham: Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn; denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohn Isaak. Das Wort mißfiel Abraham sehr um seines Sohnes willen. Aber Gott sprach zu ihm: Laß es dir nicht mißfallen, wegen des Knaben und der Magd. Alles, was Sara dir gesagt hat, dem gehorche; denn nur nach Isaak soll dein Geschlecht benannt werden. Aber auch den Sohn der Magd will ich zu einem Volk machen, weil er dein Sohn ist. Da stand Abraham früh am Morgen auf und nahm Brot und einen Schlauch mit Wasser und legte es Hagar auf ihre Schulter, dazu den Knaben, und schickte sie fort. Da zog sie hin und irrte in der Wüste umher bei Beerscheba. Als nun das Wasser in dem Schlauch ausgegangen war, warf sie den Knaben unter einen Strauch und ging hin und setzte sich gegenüber von ferne, einen Bogenschuß weit; denn sie sprach: Ich kann nicht ansehen des Knaben Sterben. Und sie setzte sich 100 gegenüber und erhob ihre Stimme und weinte. Da erhörte Gott die Stimme des Knaben. Und der Engel Gottes rief Hagar vom Himmel her und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar? Fürchte dich nicht; denn Gott hat gehört die Stimme des Knaben, der dort liegt. Steh auf, nimm den Knaben und führe ihn an deiner Hand; denn ich will ihn zum großen Volk machen. Und Gott tat ihr die Augen auf, daß sie einen Wasserbrunnen sah. Da ging sie hin und füllte den Schlauch mit Wasser und tränkte den Knaben. Und Gott war mit dem Knaben. Der wuchs heran und wohnte in der Wüste und wurde ein guter Schütze. Und er wohnte in der Wüste Paran, und seine Mutter nahm ihm eine Frau aus Ägyptenland.
1. Mose 21, 1-21

»Und der Herr suchte Sara heim, wie er gesagt hatte, und tat an ihr, wie er geredet hatte.«

Was der Herr verspricht, das tut er, jedoch wann und wie er will, nicht wann und wie wir wollen. Denn Gottes Heilsplan und Heilsweg steht über unserer Zeit und richtet sich nicht nach unserem Willen und Gutdünken. Denn er ist der Herr und weiß viel besser was, aber auch wann etwas gut für uns ist.
Mit Sara beginnt eine Liste von Frauen, welche zu alt oder unfruchtbar waren, um Kinder zu bekommen Rahel, Hanna, Elisabeth. Dieser Weg führt auch zu Maria, die keinen Mann kannte. Der Heilige Geist selbst ist der Vater Jesu Christi, denn der Herr steht über allen Naturgesetzen wie über den Gesetzen Mose, denn er hat auch alle diese Gesetze selbst geschaffen.

»Und Sara sprach: Gott hat mir ein Lachen zugerichtet; denn wer es hören wird, der wird über mich lachen.«

Hatte nicht Sara zuerst gelacht, als die Männer bezeugten, daß sie ein Kind bekommen werde? Sie glaubte es nicht, sie hielt die Männer in diesem Zusammenhang für unkundig. Jetzt lacht Sara wegen des Bildes, das eine so alte Frau abgibt, wenn sie ein Kind stillen wird: »Wer es hören wird, der wird über mich lachen.« Spießbürgerlich ist Sara. Als sie an sich selbst das Wunder erlebt als Erfüllung von Gottes Verheißung, denkt sie viel mehr daran, was die anderen sagen werden, als an Gottes Wege mit ihr und mit Abraham. Einmal fragte mich eine Frau nach einem Vortrag über Hanna, die Mutter Samuels: »Aber diese gläubige Frau redet in einer Art und Weise, wie es ihr doch nicht geziemt.« Der Satz aus dem Lobgesang der Hanna hat eine Parallele zu unserem Text: »Die Unfruchtbare hat sieben geboren, und die viele Kinder hatte, welkt dahin.« Die Bibel ist jedoch nicht ein Buch zur Verherrlichung von Gottesmännern und -frauen. Gerade umgekehrt! Die Bibel stellt ihre Glaubenshelden in ihrer Schwachheit bloß: Mose, David, Elia, Jona, Petrus, Paulus .. . Das Versagen der Gotteshelden ist ein immer wiederkehrendes Thema in der Bibel. Damit wird offenbart,
1. die sichere Wahrheit der Bibel; denn wenn die Bibel nicht Gottes Wort wäre, dann würden alle solche Geschehen getilgt oder verschönert.
2. wie realistisch die Bibel ist kein Märchenbuch, sondern uns menschlich nahe auch in unserem Versagen.
3. daß unser Glaube nicht auf unsere Person und unser Tun gegründet ist, sondern allein auf die Gnade Gottes beides, Israels Erwählung und Erhaltung, wie auch die Erwählung und Erhaltung der Gläubigen im Neuen Bund.

Ja, nur einer versagt nicht, nur einer geht immer einen klaren Weg in Worten und Taten – Jesus Christus. Er ist gerade für uns Versager da, ob sie Mose, Elia, David oder Petrus oder wie jeder von uns heißen. Unser Glaube ist nicht gegründet auf unsere Gaben und unser Tun, sondern auf seine Gaben und sein Tun. Lernen wir aber von den Fehlern anderer und aus unseren eigenen Fehlern! Wichtig ist nicht, was die anderen sagen und tun »Denn wer es hören wird, der wird über mich lachen« -, sondern Gottes großes Tun und seine Verheißung. Laßt uns auf Christus schauen, nicht auf die Urteile unserer erzählfreudigen, kritikgierigen Nachbarn.

Das große Mahl am Tage, da Isaak entwöhnt wird, gehört auch zu einer langen biblischen Tradition: Tischgemeinschaft mit dem Herrn. Leib, Geist und Seele sind biblisch gesehen eine unzertrennliche Einheit. Als Mose und die 70 Ältesten Gott schauten, steht am Schluß jenes Bibelabschnitts: »Und sie aßen.« So geht es fort durch die ganze Bibel, bis hin zu Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern und Zöllnern, bis hin zu seiner Abendmahlsgemeinschaft.
Und dann bricht Zwietracht aus unter den Frauen eine alte wie neue Geschichte, zumal die beiden hier denselben Mann gehabt haben:

»Und Sara sah den Sohn Hagars, der Ägypterin, den sie Abraham geboren hatte, wie er Mutwillen trieb. Da sprach sie zu Abraham: Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn; denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohn Isaak.«

War es nicht Sara selbst, die diesen Weg eingeleitet hatte, daß Abraham ein Kind durch ihre Magd bekommen sollte? Ist Saras Aussage hier nicht auch ein Spiegel ihrer eigenen Eifersucht? »Denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohn Isaak.« Sara stellt sich schlecht dar in dieser Situation. Sie ist getrieben von kleinbürgerlicher Selbstsucht, von Hader um das Erbe, ja, sicherlich auch von Neid. Deswegen hat Abraham recht, wenn er scharf dagegen reagiert: »Das Wort mißfiel Abraham sehr um seines Sohnes willen.« Abraham steht als guter Vater auch zu seinem Sohn Ismael. Er durchschaut diese Frauenrede. Aber dann kommt die menschlich gesehen große Überraschung:

»Aber Gott sprach zu ihm: Laß es dir nicht mißfallen wegen des Knaben und der Magd. Alles, was Sara dir gesagt hat, dem gehorche; denn nur nach Isaak soll dein Geschlecht benannt werden.«

Der Herr steht für seine Verheißungen ein, denn die sind wichtiger als Abrahams väterliche Gefühle, auch wichtiger als das mögliche Unrecht, welches an Hagar und Ismael nun geschehen wird vergessen wir aber hier niemals, daß der Herr, als Herr über der Zeit und über der Geschichte, alles im voraus weiß, auch daß und wie er persönlich für Ismael und Hagar sorgen wird. Aber noch wichtiger: Hier geht es um Gottes Wort und seine Verheißungen, und diese Worte und Verheißungen haben als Ziel das Angebot der Errettung der ganzen Welt, ob jüdisch oder heidnisch, durch Jesus Christus, der als Hebräer von Abraham und Isaak und Jakob abstammt. Menschliches Denken, hier Mitleid für Ismael und Hagar, wird befriedigt durch Gottes Beschluß und Verheißungen, welche allen Völkern in Jesus Christus zugute kommen sollen und werden.

Und dann lesen wir die Geschichte Ismaels und Hagars und von ihrer Errettung und Führung durch den Herrn. Ja, plötzlich wird die Grundlinie von Gottes Verheißung nicht mehr erzählerisch in den Mittelpunkt gestellt. Sara hat ihren Willen bekommen, und vielleicht hatte sie nicht ganz unrecht wegen Ismaels »Mutwillen«. Der Weg der Verheißung war mit Isaak Wirklichkeit geworden. Aber in Ismael erhebt sich eine Nebenlinie. »Denn nur nach Isaak soll dein Geschlecht benannt werden.« Weil diese wahre Verheißungslinie von Gott weitergeführt wird durch Jakob und schließlich bestätigt wird von Paulus in Römer 9, können wir niemals den Islam, Ismaels zukünftigen Weg, als eine der drei großen monotheistischen Religionen gleichberechtigt ansehen. Nein, der Islam ist ein Bastardglaube, ein Götze, welcher Jesus Christus als zweitrangigen Propheten ansieht und ständig »heilige Kriege« gegen Israel führt. Ismael hat freilich auch einen Segen, auch im Sinne des Schutzes und der Macht, aber er bekam nicht den heilsgeschichtlichen Segen zugesprochen: »Aber auch den Sohn der Magd will ich zu einem Volk machen, weil er dein Sohn ist.. . denn ich will ihn zum großen Volk machen.«
Interessant ist die seelsorgerliche Art Gottes in dem weiteren Geschehen mit Hagar und Ismael:

1. »Da zog sie (Hagar) mit Ismael hin und irrte in der Wüste umher bei Beerscheba.« Das erinnert an Israels zukünftige Wüstenwanderung, nachdem sie gegen den Herrn gesündigt hatten. Aber hier wird im voraus der Weg der vielen Araber geschildert, auch wenn Hagar aus der Kultur Ägyptens kam.

2. Gott hörte die Stimme des Knaben, obwohl erzählt wird, daß Hagar laut geweint hat. So ähnlich ist es mit dem Geschrei bezüglich Sodoms und Gomorras Sünde. Wer schrie denn? Was Gott »hört«, was er wahrnimmt, sind die Tatschen selbst: Sodoms und Gomorras Schuld, und hier: Ismaels große Not. Das bedeutet für uns alle, daß der Herr alle unsere Not sieht und kennt, aber, wie bei Sodom und Gomorra, auch unsere Sünde. Er »hört« auch, was unausgesprochen ist, denn er sieht in unser Herz, in unser Wesen hinein. Unsere Sünde »schreit zum Himmel«.

3. »Steh auf, nimm den Knaben und führe ihn an deiner Hand; denn ich will ihn zum großen Volk machen.« Diese entscheidende Aussage kommt, bevor der Herr ihn zum lebensrettenden Wasser führt. So ging es schon Abraham vorher, als er keinen wahren Nachfolger hatte: Gott forderte ihn auf, die Sterne anzuschauen, um seine großen Verheißungen zu verdeutlichen. Gottes Schau, Gottes Verheißung ist entscheidend und dann erst das Stillen der menschlichen Not. Beides gehört aber zueinander wie die zwei Tafeln Mose zueinander gehören: zuerst was Gott will, seine Verheißungen, und dann sein praktisches Tun. Nächstenliebe kommt aus erfahrener Gottesliebe. Gottes Verheißungen weisen auf seine Liebe in seinem Tun hin.

4. Dann werden Hagars Augen »aufgetan«. Wir haben Augen und sehen doch nicht. Wir sind so mit uns beschäftigt, auch im täglichen, kleinlichen Sinne, daß wir für Gottes Wege mit und für uns öfters blind sind, auch in unserem Leiden und mancher Not.

Vergessen wir niemals Gottes Verheißungen für Israel, für die Gemeinde und für jeden von uns. Vergessen wir in unserer saraischen oder hagarischen alltäglichen und manchmal existentiellen Not niemals, daß der Herr uns führen will, nicht nur täglich, sondern aus dem Hintergrund der Ewigkeit zu seinem Ziel, zu seinem Reich. Gelobt sei Jahwe, der Gott Israels, der Vater Jesu Christi, der seiende, wirkende Gott!

Abrahams Versuchung – Bestätigung der Verheißung

Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne und sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander. Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete. Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen 106 Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt. Und Abraham nannte die Stätte »Der HERR sieht«. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sieht. Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel her und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR: Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, will ich dein Geschlecht segnen und mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen; und durch dein Geschlecht sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast. So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba, und Abraham blieb daselbst.
1. Mose 22, 1-19

Das Alte Testament ist voller Vordeutungen auf Jesu Kreuz. Das Geschehen dieses Textes ist neben 1. Mose 3,15 ein frühes Vorzeichen göttlichen Heilshandelns in Jesus. Abraham wird geprüft von dem Herrn, ob er ihm gehorchen wird. Nicht nur, daß er seinen einzigen Sohn opfern soll, sondern seinen lieben Sohn, wie es hier steht, seinen Erben und seine Zukunft.
So blieb auch Jesus Christus dem Vater gehorsam durch sein ganzes Leben, ja, gehorsam bis zu seiner Kreuzigung, bis in den Tod.
So ist Jesus Christus auch der einzige Sohn Gottes, und durch ihn ist die zentrale Verheißung an Abraham erfüllt: »Durch dich werden gesegnet alle Völker auf Erden.« Er ist damit der Erbe von Gottes Segen, als Angebot für alle Völker auf Erden. Und wie Abraham in Versuchung kommt, geprüft wird von dem Herrn, ob ihm die Liebe zu ihm und die Treue zu ihm mehr als alles bedeutet, so wird auch Jesus Christus grundsätzlich von dem Satan geprüft, dem Ankläger, indem er ihm die ganze Welt mit ihrem Reichtum anbietet, wenn Jesus nur dem Satan gehorchen und ihn anbeten würde. Aber Jesus bleibt dem Vater, seinem Vater, treu.

Abraham bestätigt dreimal im Bericht dieses Abschnitts: »Hier bin ich.« Dieses Wort war sicherlich bei Luther tief in der Seele verankert als er auf dem Reichstag zu Worms dem Kaiser sagte: »Hier stehe (bin) ich, ich kann nicht anders.«
Das bedeutet auch: »Ich stehe hier – dies ist mein Entschluß.« Und so ging Jesus Christus ganz bewußt in den Tod für uns, trotz jeder Versuchung, auch der letzten im Garten Gethsemane, wo er den Vater bittet: »Herr, laß diesen Kelch an mir vorübergehen, aber nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.« Dreimal spricht Jesus die Bitte, wie Abraham dreimal auf Gottes Ansprechen antwortet: »Hier bin ich.« Und Jesus beugt sich unter den Willen des Vaters, wie auch Abraham willens war, seinen Sohn und Erben nicht zu verschonen. Abraham brachte Isaak zum Brandopfer. Beim Brandopfer wurde das Opfertier ganz für den Herrn gegeben als Zeichen, daß alles, was wir haben und sind, dem Herrn gehört. Zuerst wird das Blut dem Herrn übergeben, dazu dient das Messer, denn »das Leben ist im Blut, und das Leben gehört Gott.« Und dann wird das ganze Tier dem Herrn geopfert. Jesu Blut ist unsere Errettung von Sünde, Teufel und Tod, und durch das Opfer, durch die Hingabe seines Blutes, haben wir Frieden mit dem Vater. Damit wird der Weg geöffnet zum endgültigen Leben in Gottes Reich. Die Betonung des Blutes wird unterstrichen in der zweiten und dritten Vordeutung des Kreuzestodes Jesu in der Thora, nämlich im Passahgeschehen im zweiten Buch Mose und zu Yom Kippur, dem Fest der Versöhnung mit dem Herrn, im dritten Buch Mose. In beiden Fällen – Passah und Yom Kippur sind die beiden höchsten Feste in Israel – wird durch Blut von einem Tier, zum Passah von einem fehlerlosen Lamm, und zu Yom Kippur von verschiedenen Opfertieren, der Weg der Versöhnung mit dem Vater geöffnet.

Beim Passahfest schützt dieses Blut gegen den Tod, wie Jesu Blut uns schützt gegen den ewigen Tod. Und hier, bei der vorgesehenen Opferung, dem Brandopfer von Isaak, finden wir die erste zentrale Vordeutung von Jesu Kreuz, seinem versöhnenden Kreuzesblut durch sein Opfer.

Manche Humanisten und gutmeinende Christen fragen: »Warum verlangt Gott dieses Blut, wenn Gott doch liebevoll, barmherzig ist? Und warum schickt er seinen eigenen Sohn in den Tod für uns? So etwas ist unmenschlich.«
Ja, unmenschlich – übermenschlich, göttlich. Denn der Herr kennt die Tiefe und Weite unserer Entfernung von ihm (unsere Schuld), und er erlebte gerade die Tiefe dieser Entfernung selbst am Kreuz, als die alles bedrohenden Mächte und Kräfte der Finsternis über das Land kamen, und dazu die Aussage der Thora, »Verflucht ist der, der am Holze hängt« (5. Mose 21,23). So tief sind wir in die Schuld verstrickt, und so tief geht beides: Gottes Eifer und Gottes Liebe für uns in dieser endgültigen Opferung seines eigenen Sohnes. Die Bibel ist nicht mit Hilfe unserer Vorstellungen von Menschlichkeit zu hinterfragen, sondern die Bibel entblößt ständig, gerade wie verloren wir alle sind und wie nötig wir Gottes Einbruch in seine Schöpfung für sein Geschöpf brauchen. Die Bibel hinterfragt unsere Vorstellungen von Menschlichkeit mit Gottes totalem Eifer, seiner Heiligkeit und seiner Liebe für sein abtrünniges Geschöpf, für uns selbst. So gab es zum Beispiel eine gute Tradition im Jahrhundert Rembrandts in Holland, als die großen Maler, wie auch Rembrandt selbst, sich als den verlorenen Sohn malten. Diese Maler haben besser, tiefer und realistischer gewußt, wie verloren wir alle sind und wie nötig, wie bitter nötig wir den Herrn brauchen, ja, sein versöhnendes Opfer am Kreuz.

Warum ging Abraham zum Berg? Weil die Berge zeichenhaft und in biblischer Wirklichkeit der Ort sind zwischen Himmel und Erde, den wir auch mit unseren Augen als solchen wahrnehmen können. Berge sind der Ort von Gottes Erscheinungen für uns der Sinai, der Berg Karmel, der Ölberg, der Hügel Golgatha. Deshalb stehen vielleicht auch Kreuze auf dem Gipfel so vieler Berge.
Caspar David Friedrich, d
er große christliche Maler, hat mehrere solche Berge gemalt, und in mindestens einem Bild ist das Kreuz zur Hälfte auf dem Berg verankert und zur Hälfte hinausragend in den Himmel. Jesus Christus als wahrer Gott (hinausragend in den Himmel) und als wahrer Mensch irdisch gebunden. Er will Jesus Christus zeigen als den, der, gesandt von Gott, durch sein Kreuzesblut zwischen Gottheit und Menschheit vermittelt. Das ist für uns geschehen.

Abraham ging am frühen Morgen, um seinen Eifer für den Herrn zu zeigen, und nahm als Lasttier einen Esel mit. Der Esel spielt eine besondere Rolle in der Bibel: Von der Verheißung an Juda, 1. Mose 49,11, über den Esel, der vor der Salbung Sauls, des ersten Königs Israels, verlorengeht, bis hin zu dem Esel (eigentlich zwei), auf dem der wahre und endgültige König der Juden am Palmsonntag geritten ist, vorausgesagt vom Propheten Sacharja.
»Am dritten Tage« – das sollte keine Überraschung sein für uns Christen. Denn hier wird der Weg gezeigt durch den Opfertod zum neuen Leben in dem Herrn und damit die Bestätigung des vierfachen Segens an Abraham mit dem Gipfelsatz: »Durch dich werden gesegnet alle Völker auf Erden.« Schon hier, in diesem Segenswort, leuchtet der Missionsbefehl Jesu nach seiner Auferstehung auf.

Abraham sagt zu seinen Knechten, daß er und Isaak den Herrn anbeten wollen. Ja, Opfer ist die ursprüngliche Form des Gebets, der Anbetung, und in der Bibel gab es Opferungen, bevor es Gebete gegeben hat. Der Grund dafür ist wie es das Brandopfer zeigt -, daß wir die Herrschaft des Herrn über alles, was lebt und sich regt, auch über uns selbst, bejahen wollen. Das ist eine entscheidende Voraussetzung und der wichtigste Hintergrund für unser Gebet. In solchem Opfer, in dieser Hingabe, dürfen und können wir die wiederhergestellte Gemeinschaft mit Gott, welche er Israel und jetzt uns Christen angeboten hat, bejahen, in Anspruch nehmen. Wie wunderbar, daß das als Voraussetzung unseres Betens gelten darf!

»Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak.«

So weit geht diese Vordeutung von Jesu Kreuz bis ins Fleischliche, Bildhafte hinein, denn Leib, Geist und Seele sind biblisch eine unzertrennliche Einheit. Jesus trug sein Kreuz, und so trug auch Isaak sein Opferholz.

Aber schließlich opfert der Herr selbst einen Widder anstelle von Isaak, wie er selbst das erste Opfer im Paradies vollzogen hat, damit Adam und Eva überkleidet werden konnten, und er dann durch das Kreuzesopfer seines eigenen Sohnes uns das wahre Kleid der Gerechtigkeit in seinem Kreuzesblut gab.

Der Text endet mit einer Bestätigung des Uranfangs von Gottes Wegen mit Abraham und damit mit Israel in einer Wiederholung des vierfachen Segens mit dem Gipfelsatz: »Durch dich werden gesegnet alle Völker auf Erden.«

Manche sagen von sich: »Ich bin ein neutestamentlicher Christ.« Ich möchte das erweitern: Ich bin ein biblischer Christ. Denn die ganze Bibel, wie unser Text es zeigt, bezeugt dasselbe: Jesus Christus gestern, heute und in alle Ewigkeit, König der Juden, der Heiden Heiland und Herrscher über Zeit und Ewigkeit. Und Gottes heilsgeschichtliche Wege mit Israel, mit seiner Gemeinde und mit jedem von uns sind bezeugt durch sein ganzes Wort.

»Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege« (Ps 119,105).

Sara stirbt. Abraham erwirbt ein Erbbegräbnis

Sara wurde hundertsiebenundzwanzig Jahre alt und starb in Kirjat-Arba das ist Hebron im Lande Kanaan. Da kam Abraham, daß er sie beklagte und beweinte. Danach stand er auf von seiner Toten und redete mit den Hetitern und sprach: Ich bin ein Fremdling und Beisasse bei euch; gebt mir ein Erbbegräbnis bei euch, daß ich meine Tote hinaustrage und begrabe. Da antworteten die Hetiter Abraham und sprachen zu ihm: Höre uns, lieber Herr! Du bist ein Fürst Gottes unter uns. Begrabe deine Tote in einem unserer vornehmsten Gräber; kein Mensch unter uns wird dir wehren, daß du in seinem Grabe deine Tote begrabest. Da stand Abraham auf und verneigte sich vor dem Volk des Landes, vor den Hetitern. Und er redete mit ihnen und sprach: Gefällt es euch, daß ich meine Tote hinaustrage und begrabe, so höret mich und bittet für mich Efron, den Sohn Zohars, daß er mir gebe seine Höhle in Machpela, die am Ende seines Ackers liegt; er gebe sie mir um Geld, soviel sie wert ist, zum Erbbegräbnis unter euch. Efron aber saß unter den Hetitern. Da antwortete Efron, der Hetiter, dem Abraham vor den Ohren der Hetiter, vor allen, die beim Tor seiner Stadt versammelt waren, und sprach: Nein, mein Herr, sondern höre mir zu! Ich schenke dir den Acker und die Höhle darin und übergebe dir’s vor den Augen der Söhne meines Volks, um deine Tote dort zu begraben. Da verneigte sich Abraham vor dem Volk des Landes und redete mit Efron, so daß das Volk des Landes es hörte, und sprach: Willst du ihn mir lassen, so bitte ich, nimm von mir das Geld für den Acker, das ich dir gebe, so will ich meine Tote dort begraben. Efron antwortete Abraham und sprach zu ihm: Mein Herr, höre mich doch! Das Feld ist vierhundert Lot Silber wert; was ist das aber zwischen mir und dir? Begrabe nur deine Tote! Abraham gehorchte Efron und wog ihm die Summe dar, die er genannt hatte vor den Ohren der Hetiter, vierhundert Lot Silber nach dem Gewicht, das im Kauf gang und gäbe war. So wurde Efrons Acker in Machpela östlich von Mamre Abraham zum Eigentum bestätigt, mit der Höhle darin und mit allen Bäumen auf dem Acker umher, vor den Augen der Hetiter und aller, die beim Tor seiner Stadt versammelt waren. Danach begrub Abraham Sara, seine Frau, in der Höhle des Ackers in Machpela östlich von Mamre, das ist Hebron, im Lande Kanaan. So wurden Abraham der Acker und die Höhle darin zum Erbbegräbnis bestätigt von den Hetitern.
1. Mose 23

»Sara wurde hundertsiebenundzwanzig Jahre alt und starb in Kirjat-Arba – das ist Hebron – im Lande Kanaan.«

Hebron was bedeutet diese Stadt in der Bibel? Was bedeutet sie geschichtlich? Was bedeutet sie heute? Hebron ist zuerst die Stadt des ersten Israeliten, des Patriarchen Abraham. Er und seine Frau und andere Patriarchen wurden dort beerdigt.
Hebron ist auch die Stadt Kalebs. Kaleb und Josua waren die einzigen der zwölf Kundschafter, die bereit waren, das Land einzunehmen, wie Gott es aufgetragen hatte, während die zehn dagegen votierten: »Wir können das nicht.« Da wird die Zwölfzahl aufgeteilt in zehn und zwei: Zehn Stämme, die später verlorengehen – zwei Stämme, Juda (aus dem Jesus kommt) und Benjamin, der kleinste (aus dem Paulus kommt). Diese Aufteilung begegnet uns an einigen Stellen der Bibel. Die Juden brauchen bis heute zehn Männer, um einen Gottesdienst oder eine Versammlung zu halten und Jesus sagt: »Wenn zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, dann bin ich mitten unter ihnen.« Auch da wird die Zwölfzahl aufgeteilt in zehn und zwei. Die Stadt Kalebs, Hebron, ist wichtig in Israels Geschichte bis heute.

Dann findet später noch Davids zweite Salbung zum König Israels in Hebron statt! Von Hebron aus hat er regiert, bevor er die Stadt Jerusalem eroberte und sie zu seiner Stadt erklärte, zum Königssitz.

Das sind drei wichtige biblische Tatsachen über Hebron. Hebron steht unter den vier heiligen Städten in Israel an zweiter Stelle nach Jerusalem. Die anderen zwei Städte, Tiberias und Safed, sind nicht aus biblischem Grund heilig, sondern Tiberias wegen der Tradition des Maimonides, und Safed als Stadt der großen Mystiker. Fast während der ganzen Geschichte ist Hebron von Juden geprägt worden – bis die Christen kamen. Christen vertrieben zur Zeit der Kreuzzüge gegen Ende des 11. und Anfang des 12. Jahrhunderts alle Juden aus Hebron, so daß die jüdische Gegenwart in Hebron unterbrochen wurde.
Die Muslime, die den Juden freundlicher gesonnen waren, bevor die Christen kamen, haben, als sie 1266 zurückkamen, den Juden nicht mehr erlaubt, in der Höhle zu beten, wo Abraham begraben wurde. Sie machten ein winziges Fenster, wo ein Jude hineinschauen konnte, um die Grabstätte zu sehen. Siebenhundert Jahre lang war ihnen nicht erlaubt, dahin zu gehen, wo der erste Israelit und Patriarch beerdigt wurde. Nach dem Talmud ist Abraham zwar nicht der wichtigste Patriarch, sondern Jakob; für Christen war das immer Abraham.
Es ist auch weithin unbekannt, daß die Juden ein zweites Mal aus Hebron vertrieben wurden: In einem Aufruhr von den Arabern, die 1929 von der geistlichen Führerschaft angestachelt wurden; 67 Juden wurden auf offener Straße ermordet, die Verletzten und der Rest wurden der Stadt verwiesen. Seit der Rückeroberung von Hebron, 1967, gibt es wieder eine Synagoge und einen Zugang zu Machpela in Hebron. Was der Arzt Goldberg 1994 in dem Massaker angerichtet hat, ist beschämend und durch nichts zu rechtfertigen. Nur gehen fast täglich Araber mit Messern und Äxten auf Juden los. Dies ist keine Rechtfertigung des grauenhaften Massakers, aber es erklärt die Lage, in der wir als Juden stehen.

Wenn Israel Hebron aufgibt, kann es nach biblischem Standpunkt ganz Israel aufgeben. Man darf die Wichtigkeit Hebrons niemals vergessen das gilt für die Juden vergangener Zeiten genauso wie für die Juden heute. Wenn Hebron aufgegeben wird, das wäre ungefähr so, als wenn ein Christ aufgibt, daß Jesus leiblich auferstanden ist (wie manche Theologen ohne Kenntnis des ganzen alttestamentlichen Hintergrunds und der Tatsachen behaupten). So wichtig ist die Stadt Hebron für Israel, wenn auch das heutige Hebron nicht genau an derselben Stelle liegt wie das biblische Hebron.

Eine andere wichtige Stadt ist Jericho. Jericho wurde als erste Stadt bei der Landnahme durch das Volk Israel mit Gottes Hilfe erobert. Die Entwicklung jetzt ist der Anfang vom Ende, das zur Wiederkunft unseres Herrn führen wird.

Der Bibelabschnitt ist auch in bezug auf das Alter Saras wichtig. Es war eine Gottesgabe für die Menschen der biblischen Frühgeschichte, daß sie viel länger gelebt haben als wir heute. Luther sagte, daß sie der alten Schöpfung nahestanden und deshalb länger lebten, weil Leben das höchste Gut in der alten Schöpfung ist. Das kann man auch in bezug auf die geistlichen Gaben zu Zeiten des Petrus und Paulus feststellen, denn viele von diesen Gaben haben wir so nicht mehr oder nicht mehr in dem Maße, weil die Apostel damals der neuen Schöpfung in Jesus Christus nahestanden. Bei den Patriarchen und in den Urgeschichten des Alten Testaments in bezug auf Israel galt hohes Lebensalter und großer Reichtum als ein großer Segen. Diese Vorstellung wird aber bald innerhalb der alttestamentlichen Aussagen verändert, so daß wir z. B. im Psalm 73 lesen können: »Warum geht es den Gottlosen so gut?« Und dann wird da erzählt, wie reich sie sind und wie gut sie es haben wir Gottesfürchtigen aber müssen leiden. Das ist fast eine Umkehrung, und diese Linie zieht sich fort bis ins Neue Testament: »Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig«, muß Paulus bezeugen. Langes Leben und Reichtum gelten nicht mehr als eine besondere Gnade und besonderer Segen. Leben ist nicht mehr das höchste Gut, sondern das wahre Leben in Jesus Christus gefunden zu haben, der uns in die Kreuzes- und Leidensnachfolge führt.
Wir sehen hier auch, daß Gott über den biologischen Gesetzen steht. Sara war viel zu alt, um noch ein Kind zu bekommen, auch Abraham. Aber Gott, als der Herr auch über seine Lebensordnungen, hat Wege, seinen Plan und seine Verheißungen zur Erfüllung zu bringen – wie uns das öfter in der Bibel gezeigt wird.

» . . . und starb in Kirjat-Arba – das ist Hebron – im Lande Kanaan.«

Die Aussage verbindet eindeutig den Ort mit dem Land. Dies Land gehört Israel in alle Ewigkeit, nicht nur die Stadt Hebron. Aber Abraham ist ein Fremdling im eigenen Land. Das ist eine merkwürdige Aussage.

Nach dem Neuen Testament sind wir Christen alle Fremdlinge hier auf Erden – »wir haben hier keine bleibende Stadt«. Diese Tatsache hat eine besondere Tragweite.
 Wir sind »Fremdlinge« auch in bezug auf die Art, wie am Ende der Tage gelebt wird, wenn die Gesetze, die Ordnungen Gottes, die Zehn Gebote mit Füßen getreten werden – Ehebruch, toleriert sogar in kirchlichen Kreisen, Mord, Abtreibung, Diebstahl massenweise. . .
Wir sind als Christen Fremdlinge in unserem eigenen, von bewährter christlicher Kultur geprägten Land. Unsere Identität ist, daß wir Christen sind. Als solche sind wir aber auch zu Fremdlingen geworden. Unsere Identität gründet in unserem Glauben an Jesus Christus.
Auch Abraham ein Fremdling im Land der Verheißung, ein Fremdling im eigenen Land. Aber Gott setzt mit ihm ein Zeichen, daß dieses Land Israel und seinen Nachkommen gehört.

»Da kam Abraham, daß er sie beklagte und beweinte.«

Heute, wie wohl auch damals, ist es jüdische Art, den Tod eines Menschen zu beklagen und zu beweinen, daß man sieben Tage zu Hause bleibt, Freunde und Verwandte kommen, und es wird über den Toten gesprochen und dem Schmerz über den Verlust Ausdruck verliehen. Das ist psychologisch sicher wichtig, daß verarbeitet wird, was geschehen ist, und es dauert oft lange, sich bewußt zu werden, daß jemand durch den Tod unwiederbringlich von uns gerissen ist. Wir Menschen brauchen Zeit, bis wir in allem Schmerz der Trauer bereit sind zu hören. Manchmal dauert es sogar Jahre, bis man den Tod eines nahen Angehörigen verarbeitet hat. Maria Magdalena weinte an jenem frühen Ostermorgen als ob sie in ein einziges Weinen verwandelt sei, so malten sie Grünewald und Cranach, ihr Haar, ihre Kleidung, ihre ganze Person wird zu diesem Weinen verwandelt. Nur langsam wird sie sich über die Lage klar und kann wahrnehmen, daß Jesus auferstanden ist. Den Weiterweg zu erkennen, braucht Zeit – und das Weinen.

»Danach stand er auf von seiner Toten und redete mit den Hetitern …«

Es scheint zunächst, als ob Abraham nach der Trauer mit dem Kauf einer Grabstätte nur etwas ganz Normales im Sinn hätte die Beerdigung seiner verstorbenen Frau. Und das bedurfte damals wie heute einiger Formalitäten. Aber bei dem Erwerb der Grabstätte geht es zugleich um ein tiefes, theologisches Ereignis: Israel sollte im Lande bleiben. Denn das ist die Verheißung Gottes: Dieses Land wird diesem Volk gehören. Und Abraham war der Patriarch, der erste dieses Volkes. Das ist typisch für die Bibel – im alltäglichen Geschehen zeigt sich plötzlich das Handeln Gottes nach seinem großen Heilsplan. Das dürfen wir nicht übersehen. Gottes Heilsplan kümmert sich nicht um unsere Forderungen nach Zeichen, Wundern und besonderen Erlebnissen – das ist eine unserer Erbsünden -, sondern Gottes seelsorgerliches Heilshandeln mit uns geschieht öfters mitten in unserm Alltag, in Zusammenhängen, über die wir nachher nur staunen können und sagen müssen: »Gott kam ans Ziel, Gott hat gewirkt.« Wenn wir aufmerksam leben, mit Gott leben, werden wir das immer wieder beobachten können. Gott wirkt meistens nicht durch publikumswirksam gestaltete Ereignisse, die von Schwarmgeist bestimmt werden. Er wirkt meist in einer ganz verborgenen und inniglichen Art, so daß wir oft erst nachher sehen können: Da hat mich Gott geführt, da ist er mit mir weitergekommen.

»Ich bin ein Fremdling und Beisasse bei euch; gebt mir ein Erbbegräbnis bei euch, daß ich meine Tote hinaustrage und begrabe.«

Abraham will, daß die Tote zur Ruhe kommt, wo sie gestorben ist. Aber es geht um mehr, es geht um Gottes Heilsplan mit Israel, und daß Land für Israel erworben wird. Schindler ist in Israel beerdigt. Er hatte gebeten, daß sein Körper nicht in Deutschland bleibt, wo er als »Judenküsser« verhöhnt wurde, sogar 1963 noch. Er ging nach Israel, wo nicht vergessen worden war, daß er mehr als tausend Menschenleben gerettet hat, und in Israel hat man ihn beerdigt. Viele namhafte Juden lassen sich in Israel beerdigen. Im Mittelalter haben reiche Juden öfters Unsummen bezahlt, daß Erde von »Eretz Israel« nach Deutschland transportiert wurde, damit sie in Erde aus Israel beerdigt werden konnten. So wichtig ist die Beziehung zwischen Volk und Land. Juden lebten immer schon in der Erwartung: Wenn das Volk im Land ist, kann der Messias kommen. Deshalb drängen Juden so stark nach Israel.

Ein etwa vierzig- oder fünfundvierzigjähriger jüdischer Geschäftsmann hatte seine zerbrochene Ehe scheiden lassen. Er selbst war total ungläubig, hatte nicht gewußt, wie man betet und daß es einen Tempel gab; über das Judentum war ihm nichts bekannt –  ein Namensjude. Er machte eine Weltreise, und weil er die Welt sehen wollte, mußte er auch nach Israel gehen, weil das so zentral zwischen drei Kontinenten liegt, aber nicht weil es ihm etwas bedeutet hätte. Dort sprach ihn eine so richtige jüdische Mama aus Polen an: »Sie sind Jude – wissen Sie Bescheid über den Tempel, über die Klagemauer usw.?« Er hatte keine Ahnung. Sie erzählte ihm, und er hörte zu. Als er daraufhin spazierenging, sah er die Klagemauer aus der Ferne und ging hin. Sein Herz wurde unruhig, aber er wußte nicht warum. Er fing an, schneller zu gehen, schließlich lief er und kam außer Atem zur Klagemauer, den Überresten der Außenmauern des herodianischen Tempels. Da übermannten ihn die Tränen und er sagte zu dem Rabbiner: »Ich bin zu Hause. Bete für mich, ich weiß nicht, wie man betet.«
Es besteht eine starke Beziehung zwischen dem Volk Israel und dem Land Israel. Das ist eine gottgewollte Beziehung, es ist eine messianische Beziehung.

»Da antworteten die Hetiter Abraham und sprachen zu ihm: Höre uns, lieber Herr! Du bist ein Fürst Gottes unter uns. Begrabe deine Tote in einem unserer vornehmsten Gräber; kein Mensch unter uns wird dir wehren, daß du in seinem Grabe deine Tote begrabest.«

Welches Ansehen genoß Abraham!

»Da stand Abraham auf und verneigte sich vor dem Volk des Landes, vor den Hetitern.«

Eine Geste der Höflichkeit und eines Untertans – obwohl er es nicht ist.

»Und er redete mit ihnen und sprach: Gefällt es euch, daß ich meine Tote hinaustrage und begrabe, so höret mich und bittet für mich Efron, den Sohn Zohars,. . .«

Abraham hat genau gewußt, wo er das Grab haben wollte, aber er ließ es noch nicht erkennen.

». . . daß er mir gebe seine Höhle in Machpela, die am Ende seines Ackers liegt; er gebe sie mir um Geld, soviel sie wert ist, zum Erbbegräbnis unter euch. Efron aber saß unter den Hetitern. Da antwortete Efron, der Hetiter, dem Abraham vor den Ohren der Hetiter, vor allen, die beim Tor seiner Stadt versammelt waren, und sprach . . .«

»Beim Tor«, fand diese Begegnung statt, dort, wo Recht gesprochen wird und wo solche Probleme besprochen werden. Im Tor das war auch bei den Israeliten so üblich. Die Öffnung, der Eingang zur Stadt das hat mit Gerechtigkeit zu tun, mit dem richtigen Weg dieser Stadt, damit es in allem gerecht zugeht.

»Nein, mein Herr, sondern höre mir zu! Ich schenke dir den Acker und die Höhle darin und übergebe dir’s vor den Augen der Söhne meines Volks, um deine Tote dort zu begraben.«

Abraham ist bereit, alles zu bezahlen, Efron aber will ihm alles schenken.

»Da verneigte sich Abraham vor dem Volk des Landes und redete mit Efron, so daß das Volk des Landes es hörte, und sprach: Willst du ihn mir lassen, so bitte ich, nimm von mir das Geld für den Acker, das ich dir gebe, so will ich meine Tote dort begraben.«

Abraham sagt nicht, wie hoch er den Acker in seinem Wert einschätzt. Erst der Besitzer erwähnt – wie nebenbei – die Summe.

»Efron antwortete Abraham und sprach zu ihm: Mein Herr, höre mich doch! Das Feld ist vierhundert Lot Silber wert; was ist das aber zwischen mir und dir? Begrabe nur deine Tote!«

Nach dem wie im Orient verhandelt wird, hätte Abraham den Acker niemals als Geschenk annehmen dürfen und können. Er strebte einen sauberen Kauf an:

»Abraham gehorchte Efron und wog ihm die Summe dar, die er genannt hatte vor den Ohren der Hetiter, vierhundert Lot Silber nach dem Gewicht, das im Kauf gang und gäbe war.«

Jetzt gehört Abraham dieser Ort. Diese Tatsache ist für Israel außerordentlich wichtig bis heute. Doch nachdem sie die Stadt 1967 eroberten, haben sie den Muslimen dennoch einen ihnen wichtigen Teil davon überlassen. Was das bedeutet, kann man nur ermessen, wenn man bedenkt, daß 700 Jahre lang kein Jude das zweitwichtigste Heiligtum Israels in Hebron betreten durfte.

»So wurde Efrons Acker in Machpela östlich von Mamre Abraham zum Eigentum bestätigt, mit der Höhle darin und mit allen Bäumen auf dem Acker umher, vor den Augen der Hetiter und aller, die beim Tor seiner Stadt versammelt waren.«

Hier, in Machpela, fängt Gottes Verheißung an, in Erfüllung zu gehen – bezeugt auch durch die Heiden und getätigt durch einen einwandfreien Rechtshandel.
So ist seitdem viel Land von Israel gekauft worden, von den Türken und auch von Palästinensern. Und jetzt wirft man Israel vor, daß sie dies Land geraubt hätten. Es wurde gekauft, und öfters war es sogar bis dahin unfruchtbares Land.

»Danach begrub Abraham Sara, seine Frau, in der Höhle des Ackers in Machpela östlich von Mamre, das ist Hebron, im Lande Kanaan.«

Warum wird das immer wiederholt? Die Bibel ist nicht rethorisch, sondern sie wiederholt, was einfach für alle Zeit entscheidend ist. Was in Hebron damals geschah, ist maßgebend für das Heilsgeschehen in Israel bis heute.

»So wurde Abraham der Acker und die Höhle darin zum Erbbegräbnis bestätigt von den Hetitern.«

Der Kaufvertrag umfaßte beides, oben und unten, was lebt und was tot ist, die Bäume auf dem Acker umher und was tot ist und beerdigt wird, unter die Erde gelegt wird. Beides gehört diesem Volk durch Abraham.

Eine richtige Frau wird für Isaak gesucht

Abraham war alt und hochbetagt, und der HERR hatte ihn gesegnet allenthalben. Und er sprach zu dem ältesten Knecht seines Hauses, der allen seinen Gütern vorstand: Lege deine Hand unter meine Hüfte und schwöre mir bei dem HERRN, dem Gott des Himmels und der Erde, daß du meinem Sohn keine Frau nehmest von den Töchtern der Kanaaniter, unter denen ich wohne, sondern daß du ziehest in mein Vaterland und zu meiner Verwandtschaft und nehmest meinem Sohn Isaak dort eine Frau. Der Knecht sprach: Wie, wenn das Mädchen mir nicht folgen wollte in dies Land, soll ich dann deinen Sohn zurückbringen in jenes Land, von dem du ausgezogen bist? Abraham sprach zu ihm: Davor hüte dich, daß du meinen Sohn wieder dahin bringest! Der HERR, der Gott des Himmels, der mich von meines Vaters Hause genommen hat und von meiner Heimat, der mir zugesagt und mir auch geschworen hat: Dies Land will ich deinen Nachkommen geben -, der wird seinen Engel vor dir hersenden, daß du meinem Sohn dort eine Frau nehmest. Wenn aber das Mädchen dir nicht folgen will, so bist du dieses Eides ledig. Nur bringe meinen Sohn nicht wieder dorthin! Da legte der Knecht seine Hand unter die Hüfte Abrahams, seines Herrn, und schwor es ihm.
1. Mose 24, 1-9

»Abraham war alt und hochbetagt, und der Herr hatte ihn gesegnet allenthalben. Und er sprach zu dem ältesten Knecht seines Hauses, der allen seinen Gütern vorstand: Lege deine Hand unter meine Hüfte . . .«

Leib, Geist und Seele sind eine unzertrennliche biblische Einheit. Bei dem Schwur, den Abraham von seinem Knecht verlangt, soll für beide das leibliche Erleben beteiligt sein. Ein Jude trennt da nichts; so kann man bei betenden Juden beobachten, daß sie mit ihrem ganzen Körper beteiligt sind. Deshalb legt Jesus auch auf die Abendmahlsgemeinschaft solchen Wert, daß es ein Essen und Trinken ist. Was Jesus für uns am Kreuz erlebt hat: »Das ist mein Leib« und »Das ist mein Blut«, das sollen wir im Abendmahl nacherleben – mit Geist, Seele und Leib, die immer eine unzertrennliche Einheit sind. Wir dürfen unsere Bibel nicht vergeistigen, wie die Griechen das getan haben und viele deutsche Theologen auch. Da ist auch physisch nichts zu trennen, Leib, Geist und Seele, auch nicht im Bekenntnis zur Auferstehung des Leibes.

»… und schwöre mir bei dem Herrn, dem Gott des Himmels und der Erde . . .«

Diese Bezeichnung Gottes, die auch Paulus verwenden kann, wenn er unter die Heiden geht, ist ein Bezug auf den Schöpfergott und auf den Herrn der Geschichte.
Was ist das Wesen Gottes? Ein Jude sagt: »Das ist der heilige Gott, der gerechte Gott, der barmherzige Gott.«

Ein Christ sagt: »Jesus ist Liebe.«

Ich gebe eine dritte und, so denke ich, eine noch umfassendere Definition, wer Gott ist. Jahwe ist sein Wesen, sein Name. Das ist kein persönlicher Name, sondern eine Deutung. Das bedeutet: Der Seiende, der Wirkende, der Herr der Schöpfung und der Herr der Geschichte und der Heilsgeschichte für Israel, für die Gemeinde und für jeden von uns.
 Und eingebettet in diese Heilsgeschichte ist seine Gerechtigkeit, seine Allmacht, seine Heiligkeit, seine Barmherzigkeit, seine Liebe, seine Weisheit – alles. So ist Gott der Wirkende. Künstler der vorreformatorischen Zeit haben als Ausdruck ihrer Frömmigkeit goldene Zickzack-Ornamente in Kirchen gestaltet; sie sahen darin die Ausstrahlung des Wirkens Gottes, seines Heiligen Geistes

»… und schwöre mir bei dem Herrn, dem Gott des Himmels und der Erde, daß du meinem Sohn keine Frau nehmest von den Töchtern der Kanaaniter, unter denen ich wohne . . .«

So wollten auch meine Eltern, daß ich ein jüdisches Mädchen heiraten sollte. Dann kam es aber anders, und weil wir nicht mehr in der Zeit Esras und Nehemias leben, ließen wir uns auch kirchlich trauen, nachdem ich zuvor versprochen hatte, die Kinder christlich taufen und erziehen zu lassen. Für Abraham war es ein Gehorsamsakt, dem Sohn der Verheißung keine Heidin zur Frau zu geben.

». . . sondern daß du ziehest in mein Vaterland und zu meiner Verwandtschaft und nehmest meinem Sohn Isaak dort eine Frau.«

Abraham schickte seinen Knecht zurück. Man soll zurückgehen, um die richtige Frau zu bekommen so haben meine Eltern zu mir gesagt. Sie wollten, daß ich eine Rabbiner-Tochter heiratete.
»Warum mußt du eine Frau in Deutschland heiraten, 16 Jahre nach Auschwitz?
Gibt es nicht nette und hübsche Jüdinnen?« Doch es gab nette und hübsche Jüdinnen, aber der Herr hatte etwas ganz anderes mit mir vor. Als ich nach Europa ging, hat meine Mutter mich fast beschworen: »Bring mir keine Deutsche mit!« Abraham ließ seinen Knecht schwören – so wichtig war ihm das!

»Der Knecht sprach: Wie, wenn das Mädchen mir nicht folgen wollte in dies Land, soll ich dann deinen Sohn zurückbringen in jenes Land, von dem du ausgezogen bist? Abraham sprach zu ihm: Davor hüte dich, daß du meinen Sohn wieder dahin bringest! Der Herr, der Gott des Himmels, der mich von meines Vaters Hause genommen hat und von meiner Heimat, der mir zugesagt und mir auch geschworen hat: Dies Land will ich deinen Nachkommen geben -, der wird seinen Engel vor dir hersenden, daß du meinem Sohn dort eine Frau nehmest.«

Jetzt fängt Abraham an, Gott wirklich zutiefst zu vertrauen, denn er hat viel mit Gott erlebt. Er vertraut Gott nicht, indem er ein Wunder von ihm erwartet. Sondern für ihn sind da die Verheißungen Gottes: Gott hat gesagt, gegeben und bestätigt, und er wird auch erfüllen. Und Gott weiß auch, wie das zu erfüllen ist: Er schickt seinen Engel und der Weg wird offen sein. Abraham hält fest an Gottes Heilsplan, denn er steht mitten in diesem Heilsplan. Stehen nicht auch wir mitten in diesem Heilsplan? Jesu Heilsplan gilt für jeden von uns, und wir sind mitten auf dem Weg, jeder von uns. Der Herr handelt wie und wann er will. Und die Fülle der Möglichkeiten ist bei ihm nicht bei uns. Abraham rechnete damit, unbeirrt!

Wo fand der Knecht die Frau? Am Brunnen! Fließendes Wasser, Quellwasser – Zeichen von Leben, Tod und Reinheit in der ganzen Bibel. Der Erfüller aller Verheißungen an Israel wird Leben aus dem Tod bringen, weil er die Reinheit selbst ist, Jesus Christus. Das ist ein gesamtbiblisches Thema.

Arahams zweite Ehe, sein Tod und Begräbnis

Abraham nahm wieder eine Frau, die hieß Ketura. Die gebar ihm Simran und Jokschan, Medan und Midian, Jischbak und Schuach. Jokschan aber zeugte Saba und Dedan. Die Söhne Dedans aber waren: die Aschuriter, die Letuschiter und die Leummiter. Die Söhne Midians waren: Efa, Efer, Henoch, Abida und Eldaa. Diese alle sind Söhne der Ketura. Und Abraham gab all sein Gut Isaak. Aber den Söhnen, die er von den Nebenfrauen hatte, gab er Geschenke und schickte sie noch zu seinen Lebzeiten fort von seinem Sohn Isaak, nach Osten hin ins Morgenland. Das ist aber Abrahams Alter, das er erreicht hat: hundertundfünfundsiebzig Jahre. Und Abraham verschied und starb in einem guten Alter, als er alt und lebenssatt war, und wurde zu seinen Vätern versammelt. Und es begruben ihn seine Söhne Isaak und Ismael in der Höhle von Machpela auf dem Acker Efrons, des Sohnes Zohars, des Hetiters, die da liegt östlich von Mamre auf dem Felde, das Abraham von den Hetitern gekauft hatte. Da ist Abraham begraben mit Sara, seiner Frau. Und nach dem Tode Abrahams segnete Gott Isaak, seinen Sohn. Und er wohnte bei dem »Brunnen des Lebendigen, der mich sieht«.
1. Mose 25, 1-11

»Abraham nahm wieder eine Frau, die hieß Ketura. Die gebar ihm . . . Und Abraham gab all sein Gut Isaak.«

Der Erbe ist nicht Ismael, der Erbe ist keiner, der von dieser zweiten Frau kommt. Es gibt nur einen Erben: Isaak, der gerettet wurde vor einem Opfertod, den Gott befohlen hatte.
In Isaak, in niemand anderem, liegt die Vordeutung auf Gottes Heilshandeln in Jesus Christus.
Wir haben gelesen: Isaak trug das Holz auf seinen Schultern wie Jesus das Holz des Kreuzes getragen hat. Wo anstelle Isaaks ein Widder zum Opfertier gegeben wurde, trat Gott in Jesus selbst an unsere Statt. Der Widder hatte sich in den Dornen verfangen Jesus wurde die Dornenkrone aufs Haupt gedrückt. Es ist eindeutig: Die Verheißung geht über Isaak zu Jesus über niemand anderen!

»Aber den Söhnen, die er von den Nebenfrauen hatte, gab er Geschenke und schickte sie noch zu seinen Lebzeiten fort von seinem Sohn Isaak, nach Osten hin ins Morgenland.«

Es gibt nur einen Erben, und es gibt nur einen Weg, und der Weg geht über Isaak Jakob/Israel, dann über Mose bis hin zu Jesus Christus. Das ist die Linie der Verheißungen Gottes, die einzige Linie.

»Das ist aber Abrahams Alter, das er erreicht hat: hundertundfünfundsiebzig Jahre. Und Abraham verschied und starb in einem guten Alter, als er alt und lebenssatt war, und wurde zu seinen Vätern versammelt.«

Segen bedeutete damals, daß man lange lebte, daß man angesehen und reich war und einmal lebenssatt starb. Es kann zu unserem Lebensende aber auch durch ein Gethsemane gehen, ein Gethsemane, das Gott uns ganz persönlich zumutet. Aber wir dürfen wissen, daß der Tod, wenn wir wirklich tief im Glauben leben und wenn wir durch unseren Garten Gethsemane gegangen sind, nicht das Schlimmste ist, sondern der Tod ist der Höhepunkt des Lebens. Ich habe absolute Gewißheit, daß mein Tod mich zu Jesus Christus führt, zu meinem Heiland. Warum sollte ich Angst davor haben? (vgl. Röm. 8, 38.39)?! Wir sollten ruhig darüber nachdenken. Der Tod ist nicht das schlimmste Übel. Das schlimmste wäre, wenn wir vorher unsere Seele verkaufen würden.

Die Toten sind getrennt von Gott und dem Volk Gottes, denn der Tod ist der Sünde Sold auch für Abraham. Das ändert sich aber bei David. In seinen Psalmen, z. B. Psalm 22, wo das Kreuz Jesu, seine Auferstehung und die Weltmission genau beschrieben werden, geht es auch um den Totenbereich, wo ich nicht ferne bin von Gott. Das finden wir auch in Psalm 139. David sieht das Totenreich nicht mehr getrennt von Gott, sondern Gott herrscht über die Lebenden wie über die Toten. Das ist die Wegweisung zur Auferstehung über den Karsamstag hinaus, wo Jesus in den Totenbereich ging und das Evangelium denen predigte, die vorzeiten gestorben sind.

»Und es begruben ihn seine Söhne Isaak und Ismael in der Höhle von Machpela auf dem Acker Efrons, des Sohnes Zohars, des Hetiters, die da liegt östlich von Mamre auf dem Felde, das Abraham von den Hetitern gekauft hatte. Da ist Abraham begraben mit Sara, seiner Frau. Und nach dem Tode Abrahams segnete Gott Isaak, seinen Sohn. Und er wohnte bei dem >Brunnen des Lebendigen, der mich sieht<.«

Das Leben unter der Verheißung geht weiter beim “Brunnen des Lebendigen”, der ein Zeichen für das Leben aus dem Tod ist, der Zielsetzung von Israels Geschichte.

 

David Jaffin, 1937, gebürtiger Jude, ist durch zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen bekannt geworden.

Eingestellt von Horst Koch, im Oktober 2023. Auch etliche Texthervorhebungen sind von mir.

info@horst-koch.de




Watchman Nee – Gottes Bote in China (A.Kinnear)

Angus I. Kinnear

Watchman Nee

Ein Leben gegen den Strom

Inhalt

Wer ist wer?
Das Gottesgeschenk
Ehre deine Ahnen
Revolution
Hingabe
Das Samenkorn entfaltet sich
Die Glaubensprobe
Dienst im Ausland
Die alten Weinschläuche
Irdene Gefäße
Ernüchterung
Neue Horizonte
Der Höhepunkt
Rückkehr
Die Falle klappt zu
Die Feuerprobe
Unterdrückung
Die letzten Jahre

Eingestellt und leicht gekürzt von Horst Koch. Auch die Textbetonungen sind von mir. Im Herbst 2023.

Vorwort des Autors

Wenn ich diesen Bericht über Leben und Dienst Watchman Nees vorlege, so geschieht das aus einer gewissen Distanz, da ich nie in China gewesen bin. Ich war ein junger Missionar, der von England gerade nach Indien ausreisen sollte, als ich einige unvergeßliche Wochen mit Nee verbrachte. Leben und Dienst des Christen erschienen mir danach in einem neuen Licht; ich gewann eine neue Ausrichtung und sah das Ziel klarer. . . Das eine erhellt das andere. Dazu kommen die vielen Anekdoten, mit denen er seine Gedanken veranschaulichte . . . Alles zusammen zeigt Gottes Hand in einem Leben, das durch welterschütternde Ereignisse führte.
Bei meiner Arbeit haben mir also viele Menschen geholfen; aber an erster Stelle muß ich meine Dankesschuld gegenüber der verstorbenen Elisabeth Fischbacher erwähnen, die das beste von Nees Predigten und Artikeln in zuverlässigen Abschriften festhielt. . . . Bei der Deutung der Ereignisse verdanke ich viel der Reife und Weisheit des verstorbenen Faithful Luke, der schon als Knabe Watchmans Freund war. . . .
Angus I. Kinnear London 1973

Wer ist wer?

Die Nee (Ni) Familie (in der Futschou-Sprache: Nga)
Watchmans Eltern:
Ni Weng-hsiu (W. H. Ni) oder Nga Ung-siu aus Futschou, geboren 1877. Höherer Beamter am Zoll. Gestorben in Hongkong 1941.
Lin Huo-ping (
Peace Lin), geboren 1880 in Futschou, starb in Swatou 1950, in Singapur.

Watchman, geb. 1903, früherer Name Ni Schu-tsu, gestoben 1972

Chang Pin-huei oder Charity Chang, Ehefrau von Watchmann Nee. Gestorben 1971 in Shanghai


1. Das Gottesgeschenk.

Im Mittleren Königreich war der Frühling schon weit vorgerückt, und die Zeit der »Reinen Heiterkeit« war der des »Kornregens« gewichen. Die Nachtluft war klar. Schäfchenwolken trieben über den silbernen Mond. Kein Nebel verhüllte die zusammengedrängten Hausboote auf dem Min. Die Stadt Futschou-Fu hatte ihre sieben Tore unter den vielstöckigen Türmen geschlossen. . . .
. . .   Wieder schloß sie die Augen, aber nicht um zu schlafen. Zum hundertsten Mal flüsterte sie: »Laß es ein Junge sein!« Groll brannte in ihr, als sie sich an die bösen, spottenden Worte erinnerte, die ihr den Besuch bei den Schwiegereltern so schmerzlich machten. Die chinesische Gesellschaft legte großen Wert auf männliche Nachkommen, und sie hatte ihrem freundlichen Nga Ung-siu nur zwei Mädchen geboren. Ihre Schwiegermutter in Kanton war wütend gewesen. Die unglückliche Frau ihres ältesten Sohnes empfinge nur Mädchen – sie hatte bereits sechs –, und nun gehe es mit Ung-sius Frau, so versicherte sie, genau so.
»Räche mich, Gott!« weinte Huo-ping voller Bitterkeit. »Nimm diesen Makel von mir!« Dann fiel ihr das halbherzige Versprechen wieder ein, das sie vor einem Jahr gegeben hatte, als ihr zweites Kind unterwegs war, und das sie so schnell wieder vergessen hatte. Mit Hannas Worten hatte sie gebetet: »Gott, wenn du mir einen Jungen gibst, will ich ihn dir zurückgeben, damit er sein Leben lang dein Diener sei.« Das waren vertraute Worte für sie. Seit ihrer Kindheit kannte sie die Geschichte von Samuel. . . .
Es waren noch viele Wochen. Mit dem Schiff reisten sie zurück in ihr Heim in Swatou. Endlich kamen die Wehen, und dann, als ihr Mann rief: »Es ist ein Junge!« löste sich ihre Spannung in Tränen.
Rotgefärbte Enteneier sagten den Nachbarn und Freunden, daß der Sohn und Erbe da war.
So kam Henry Nga am 4. November 1903 zur Welt – zur Freude seines stillen Vaters und seiner willensstarken Mutter.
Chinesische Namen haben Bedeutung, ob sie einem Kind bei der Geburt gegeben werden oder ob jemand an irgendeinem Wendepunkt seines Lebens einen neuen Namen annimmt. Entsprechend der Familientradition hieß der Knabe Nga Schu-jeo oder – in der Mandarinsprache – Ni Schu-tsu, »Der die Verdienste seiner Ahnen verkündet«. Später jedoch, als er sich seiner Mission im Leben bewußt wurde, suchte er sich einen neuen Namen, der seine Aufgabe als Gottes Sprachrohr umschrieb. Eine Zeitlang nannte er sich Ching-fu: »Einer, der warnt und ermahnt«. Aber dies schien etwas streng und herb, und er war nicht ganz befriedigt. Seine Mutter schlug dann To-scheng (Sturmglocke) vor und erinnerte ihn an ihr Versprechen in jener Nacht, als der Wächter mit seiner Bambusrassel durch die Straßen ging. So wurde Ni To-scheng aus ihm oder auf Englisch Watchman (Wächter) Nee, und unter diesem Namen ist er allgemein bekannt geworden. . . .

2. Ehre deine Ahnen

Futschou ist die Hauptstadt der Provinz Fukien und eines der Tore zum südlichen Ozean. Seit Generationen wohnte die Nga (oder Nee)-Familie dort; seit Generationen gingen Männer, Frauen und Kinder der Familie im Frühling zu dem nahegelegenen Hügel, um die Gräber ihrer Ahnen zu pflegen. 1839, ein Jahr, bevor Watchmans Großvater Nga U-cheng geboren wurde, waren die Feindseligkeiten zwischen China und England wegen der ausgebrochen. Es folgte der drei Jahre dauernde Opiumkrieg, der mit der Demütigung Chinas und der gewaltsamen Öffnung des Reiches für den Westen endete.
Der Vertrag von Nanking 1842, in dem Hongkong an England abgetreten wurde, erzwang auch die Öffnung des Hafens von Futschou und vier anderer Häfen für den ausländischen Handel, mit allen Mißbräuchen, die das mit sich brachte. Während der chinesische Küstenhandel mit Holz, Papier, Früchten und Textilien weiterging, entstand nun eine neue und unwillkommene Niederlassung von ausländischen Fabriken und Wohnvierteln auf dem in der Mitte des Stroms gelegenen Inselchen Tschung-Tschou und auf den Hügeln der Nantai-Inseln.

Fünfzig Jahre früher hatte der gebildete Kaiser Chien Lung, der wahrscheinlich von den englischen Übergriffen … in Indien wußte, in einem Brief an Georg III. erklärt, daß in der ausgewogenen Wirtschaft seines Landes kein Raum sei für die seltsamen Produkte von Leuten, die weit fort in den Tiefen der See lebten. »Wie Ihr Abgesandter selbst feststellen kann, besitzen wir alles. Ich lege keinen Wert auf fremde und raffinierte Dinge, und wir haben keinen Gebrauch für die bei Ihnen erzeugten Waren.«
In offiziellen Kreisen herrschte diese Ansicht noch immer vor. Doch wurden in Europa zunehmend chinesisches Porzellan, Seide und Lack verlangt, und da durch kaiserliches Edikt Tauschhandel verboten war, mußten die englischen Kaufleute mit Silber bezahlen. Dieses Problem wurde erst gelöst, als sie herausfanden, daß man die Chinesen zum Kauf von indischem Opium bewegen konnte. Das Prinzip des Umtauschs wurde dann so angewandt, daß es einseitig zum Vorteil der Engländer arbeitete, und um 1851 war der Widerstand des Himmelssohnes schon so weit ausgeschaltet, daß der Opiumhandel legalisiert wurde.
Zum Aufschwung des Handels trug vor allem auch Europas Verlangen nach Tee bei. Um 1853, als Großvater Nga U-cheng vierzehn Jahre alt war, wurden die ersten Schiffsladungen mit Futschou-Tee nach Europa und Amerika verfrachtet . . . 
Eine andere Folge des Opiumkrieges und des Vertrags von Nanking war das Eindringen des protestantischen Christentums in China. Die Missionare folgten den Kaufleuten, und ein westlicher Zeitgenosse schrieb mit erstaunlicher Selbstzufriedenheit: »Die Art, wie Gott mit diesem Volk handelte, beginnt offenbar zu werden; er unterwarf sie dem Gericht, damit er ihnen seine Gnade zeigen kann.« Der Kaiser hatte in einem Dekret verordnet, daß der christliche Glaube im Reich der Mitte toleriert werden sollte, doch militärischer Druck laugte die Verordnung aus.
Trotzdem tat sich nun die Tür weit auf; westliche Missionare mit ihrem sozialen Bewußtsein und evangelistischen Eifer zogen ein und pflanzten einen neuen Begriff von Gerechtigkeit in chinesische Herzen.

Dies geschah schnell. Die ersten Missionare, die 1847 in Futschou ankamen, waren Kongregationalisten aus Amerika; im gleichen Jahr folgten amerikanische Methodisten und 1850 Anglikaner von der Missionsgesellschaft der Englischen Kirche. Die Missionare zögerten nicht, gegen den frevelhaften Opiumhandel zu protestieren. Aber als rothaarige Ausländer mit exterritorialen Vorrechten, fielen sie für die Chinesen mit den Kaufleuten und deren Handel in einen Topf.

Die erste Schule, die westliche Bildung vermittelte, wurde von der amerikanischen Mission in einem Vorort der alten Stadt eröffnet, und dort hörte Watchman Nees Großvater als Knabe von der Liebe Gottes in Christus Jesus und wurde für ihn gewonnen. Vier Jahre später, 1857, als die erste christliche Gemeinde in Futschou entstand, gehörte er zu einer Gruppe von vier Schülern, die im Min getauft wurden. Er machte so gute Fortschritte, daß die Amerikaner ihn zum Evangelisten ausbildeten, und bald verkündete er mit anderen jungen Männern das Evangelium von Jesus Christus in dieser Stadt, die eine halbe Million Einwohner hatte. Schließlich wurde er zum Pastor ordiniert, der erste Chinese von den drei Missionen Nord-Fukiens. Er hatte eine besondere Gabe, die Schrift auszulegen; daran erinnerte man sich noch lange nach seinem Tod im Jahre 1890.

Als für den Heranwachsenden die Zeit zum Heiraten kam, wurde das für ihn die große Prüfung seines Glaubens. In Fukien glaubten noch sehr wenige Frauen an Christus, und die Sitte verbot, jemanden aus einem anderen Kanton zu heiraten. So mußte sich Watchmans Großvater entscheiden, sich entweder gegen die Tradition außerhalb seines Kantons umzusehen oder in bezug auf sein christliches Zeugnis einen Kompromiß zu schließen. Es spricht für ihn, daß bei ihm der Glaube über die Tradition siegte. Aus Kanton kam ein Kwangtung-Mädchen 450 Meilen mit dem Küstenschiff angereist, das er als von Gott für ihn bestimmt empfing und das ihm eine echte Lebensgefährtin wurde.

Sie wurden mit neun Jungen »gesegnet« (in chinesischen Augen). Watchmans Vater, Nga Ung-siu, war der vierte, der 1877 geboren wurde. Als Pastorensohn besuchte er die christliche Elementarschule und fuhr dann fort, die klassischen Schriften des Konfuzius für die Examina zu studieren.
Futschou war ein literarisches Zentrum . . . Zur festgesetzten Zeit betrat Ung-siu mit einer Menge Gefährten unter jahrhundertealtem Zeremoniell den weiten Prüfungsbezirk nordöstlich der Stadt durch einen Torbogen mit der Inschrift: »Für den Kaiser: Betet um gute Menschen.« Dort wurde er für drei Tage in einer Zelle eingeschlossen.  . . .

Seine junge Frau Lin Huo-ping war bäuerlicher Abkunft, sie war 1880 geboren und die letzte einer großen Familie. Diese war sehr arm und im Aberglauben gefangen, Erwachsene und Kinder lebten in ständiger Angst vor Dämonen, Drachen und Zauberfüchsen.
Damals herrschte eine Hungersnot in Fukien, und da so viele hungrige Mäuler gefüttert werden mußten, hatte Huo-ping keine große Überlebenschance. Selbst unter normalen Umständen konnte ein kleines Mädchen, nur weil einer zu viel war, von seinem Vater ausgesetzt oder ertränkt oder lebendig begraben werden. Einigen bot das katholische Waisenhaus außerhalb des Südtors ein Heim. Die Inschrift über dem Eingang lautete: »Wenn dein Vater und deine Mutter dich verlassen, wird der Herr dich aufnehmen.«

Aber Huo-pings Vater verließ sie nicht so, wie andere Väter ihre überzähligen Mädchen verließen. Für drei oder vier Dollar, die er dringend brauchte, verkaufte er sie durch einen Vermittler an eine besser gestellte Familie in der Stadt, die sie als Sklavin aufziehen wollte. Sie war ein lebhaftes Kind, und bald wandte sich – wieder durch einen Mittelsmann – ein Kaufmann namens Lin, der in einer ausländischen Firma in Nantai arbeitete, an die Familie, in der Huo-ping lebte. Seine Konkubine war unfruchtbar und wünschte, sie als Tochter zu adoptieren. So kam Huo-ping wieder in andere Hände. Nach Gottes Vorsehung liebte auch der Kaufmann Kinder, und so fand sie hier ein Heim. Obwohl schon zwei Jungen und ein Mädchen in der Familie waren, schloß das Paar den temperamentvollen kleinen Neuankömmling ins Herz und zog ihn wie ein eigenes Kind auf.

Als Huo-ping sechs Jahre alt war, begann ihre Adoptivmutter der herrschenden Sitte gemäß ihre Füße einzubinden. Als Bauernmädchen wäre Huo-ping dieser Behandlung entgangen, denn die Landfrauen um Futschou hatten dieser Sitte widerstanden. Aber Huo-ping war jetzt das Kind eines Kaufmanns, das für ein besseres Geschick bestimmt war, und Lilienfüße waren ein Teil des Preises, den sie dafür bezahlen mußte.
In jenem Jahr wurde Herr Lin von einer geheimnisvollen Krankheit befallen, die der Kunst der Ärzte widerstand. Nun war ein Vorgesetzter von Lin mit Namen Chang Methodist geworden, und dieser Mann schlug vor, daß die Lins den Methodistenpastor kommen und für Lin beten ließen. Sie konnten diesen Vorschlag kaum abschlagen. Das Gebet wurde erhört, und die Lins waren von der dramatischen Genesung so beeindruckt, daß sie christliche Unterweisung suchten. Schließlich kamen sie zum Glauben an Jesus und warfen die häßlichen kleinen Götzenbilder aus dem Haus.

Herr Lin und seine Frau wurden in der Methodistenkapelle in der Nähe seines Arbeitsplatzes getauft. Weil es für die Konkubine näher war, besuchte sie mit ihrem Kind die Anglikanische Kirche. Zu Huo-pings großer Freude hörte das Einbinden der Füße jetzt auf, und sie konnte wieder frei herumlaufen. Als sie die Kirchenlieder und biblischen Geschichten lernte, wurde ihr Herz warm und zu göttlichen Dingen hingezogen. Ihre neue Glückseligkeit erwies sich bald als ansteckend. Der Lehrer in der Schule fragte sie, warum sie immer singe, und sie erzählte ihm, was ihre Familie erlebt hatte. Das Ergebnis war, daß auch er sich schließlich mit Frau und Kindern der Kirche anschloß.

Nach dem Besuch einer Elementarschule kam Huo-ping im Jahr 1891 auf die methodistische Missionsschule für Mädchen zu amerikanischen Lehrerinnen. Sie war inzwischen elf Jahre alt geworden, lernte gut und erlebte auch etwas von der Gnade und Vergebung Gottes. Doch ihre Religiosität blieb, wie sie später betonte, weitgehend auf Verdienste ausgerichtet, die sie durch gute Werke zu erlangen suchte.
Sie hatte die Schule schon fast durchlaufen, als eine junge chinesische Ärztin von ihrer Ausbildung in Philadelphia nach Futschou zurückkehrte. Es war Hu King-en, die zweite Chinesin, die die medizinischen Examen abgelegt hatte. Seit 1895 arbeitete sie in einem Missionshospital der Stadt und weckte in manchem Mädchen den Ehrgeiz, es ihr nachzutun. So bat auch die sechzehnjährige Huo-ping ihre Lehrerin, ihr bei der Vermittlung eines Studienplatzes in Amerika zu helfen. Da die vorläufige Antwort günstig lautete, setzte sie bei ihrem Vater durch, daß er sie in Begleitung einer Schulfreundin in die Chinesisch-Westliche Mädchenschule nach Schanghai sandte, damit sie ihr Englisch vervollkommnete. In jenen Tagen hing dort an den Parktoren ein Schild: »Für Hunde und Chinesen verboten!«

Huo-ping plagte das Heimweh unter diesen in einem fremdartigen Stakkato sprechenden Chinesen; . . .
Eine Begegnung in Schanghai sollte für den Plan Gottes mit Huo-ping bedeutsam werden. Eine gewisse Dora Jü, nicht viel älter als sie selbst, besuchte eines Tages Huo-pings Schule, um zu den Schülerinnen zu sprechen. Jü Tzi-tu stammte aus einer kultivierten Familie und war wie viele andere dem Christentum begegnet, als sie eine westliche Schule besuchte. Sie hatte sich mit einem guten Abschlußzeugnis nach England auf den Weg gemacht, um Medizin zu studieren. Als ihr Schiff im Mittelmeer ankerte, begegnete ihr Gott, der sie nach China zurückrief, wo sie ihrem Volk Christus predigen sollte. Der Kapitän, dessen Obhut man sie anvertraut hatte, hielt sie für übergeschnappt. Da sie aber in ihrem Ersuchen fest blieb, stimmte er schließlich zu, sie auf ein von Marseille zurückkehrendes Schiff überzusetzen. In Schanghai war der Empfang durch ihre skeptische Familie kühl, aber Doras stilles Zeugnis war so überzeugend, daß am Ende auch sie erkannten: Gott hatte seine Hand auf Dora gelegt. Von jenem Tag an, begann sie standhaft Zeugnis von Jesus zu geben, indem sie predigte und Bibelstunden hielt, und das um so wirksamer, als sie kein Gehalt aus dem Ausland erhielt und darauf vertraute, daß Gott für ihre Bedürfnisse sorgen würde.
Huo-ping war sehr bewegt, als sie Doras Geschichte aus ihrem eigenen Mund vernahm. Sie besuchte sie in ihrem Zimmer, um ihr einen sorgsam gehüteten goldenen Ring anzubieten, ein Geschenk ihrer eigenen Mutter, und Doras offensichtliches Zögern, eine solche Gabe von einem jungen Mädchen anzunehmen, überzeugte Huo-ping noch mehr von der Reinheit ihrer Motive: »Da wußte ich, daß sie Gott liebte und nicht das Geld«, sagte Huo-ping später.

Aber an sie selbst erging mit achtzehn Jahren kein Ruf Gottes, sondern sie geriet in eine Katastrophe. Ihre Mutter hatte sich nach ihr gesehnt und sich dem Studium in Amerika immer widersetzt. Als nun ein Abgesandter der Witwe von Pastor Nga U-cheng auftauchte, der eine Braut für ihren Sohn suchen sollte, ging sie sogleich auf das Angebot ein.
Ohne daß Huo-ping davon wußte, wurde die Heirat mit Ung-siu beschlossen, und nun brachte ihr ein Brief, hinter dem die ganze elterliche Autorität stand, diese Nachricht. Damit war der Traum vom Medizinstudium zu Ende, denn kein Mädchen aus Fukien hatte sich je einer solchen elterlichen Abmachung widersetzt. . . . Sie war verzweifelt. Die Heimreise verbrachte sie in tiefer Depression. In ihrem Herzen nährte sie einen wachsenden Haß gegen die Mutter, der sie ihr Leben verdankte und die dieses Leben nun ruiniert zu haben schien.

Zu Hause wurde ihr formell die Fotografie Nga Ung-sius und das Verlobungsgeschenk überreicht, das den Vertrag besiegelte. Sie war nun unwiderruflich an einen Mann gebunden, den sie nie vorher gesehen hatte. Noch während der Hochzeitsvorbereitungen schmerzte ihr Herz. Nur unerwünschte Mädchen wurden als Bräute fortgegeben, sagte sie sich. Die anderen durften unabhängig sein und beruflich Karriere machen. Das Leben war für sie zu Ende. »Hochzeit – wie ich dies Wort haßte!«

Der Oktober kam und am neunzehnten Tag feierte man die Vereinigung Nga Ung-sius – der als Regierungsbeamter beim Hafenzoll fortan Ni Weng-hsiu hieß –, des Sohnes des verstorbenen Kongregationalistenpastors, mit Lin Huo-ping.
Es wurde ein Tag der Freude und Hoffnung. Das junge Paar ging für vierzehn Tage in das Haus der Ngas, wo die alte Frau Nga über sieben Söhne und fünf Schwiegertöchter regierte. Die kurze Zeit, die Huo-ping dort in der schwierigen Rolle der Frau eines jüngeren Sohnes verbrachte, war mehr als genug, um die Zuneigung zu der eigenen liebenswürdigen Mutter wiederherzustellen. Sie beschloß, wenn sie Kinder hätte, sollten die Mädchen niemals so leiden, wie sie durch die Frauen dieses Hauses gelitten hatte, damals und später. Es war eine große Erleichterung, als die Zeit zur Abreise kam. Mit allem Hab und Gut ging es nach Swatou, dem 150 Meilen entfernten kleinen Vertragshafen an der felsigen Mündung des Han. . . .  Hier richtete sich das junge Paar in der Dienstwohnung häuslich ein. Das war im Jahre 1899.

Ein Jahr später ermordeten die I-ho-t’uan, im Ausland unter dem Namen »Boxer« bekannt, in den nördlichen Provinzen chinesische Christen und hetzten gegen die Ausländer. Die Kaiserin Dowager hatte die ursprünglich gegen das Kaiserhaus gerichtete Bewegung ihren eigenen Zwecken nutzbar gemacht und eine Verordnung gegen Fremde in China erlassen. Glücklicherweise beschlossen die Vizekönige im Süden unter großem persönlichen Einsatz, zu den »ungleichen Verträgen« mit den fremden Regierungen zu stehen und das neue kaiserliche Edikt zu ignorieren. In Futschou fügte es sich, daß in der kritischen Zeit eine Überschwemmung die Brücke über den Min zerstörte und so die Mörder von ihren Opfern fernhielt. Auch in Swatou herrschte Ruhe.

In dieser Zeit wurde Kuei-chen geboren, die mit spontaner Freude als Gabe Gottes begrüßt wurde. Als jedoch ein Jahr später wieder ein Mädchen, Kuei-cheng, ankam, war die Freude nicht mehr so ungetrübt. So stark war der Einfluß der Tradition, daß ein Gefühl der Schuld die Eltern beschlich. Warum gab Gott ihnen wieder nur ein Mädchen? Sie waren schlichte Christen, und ihr Gottvertrauen wurde hart geprüft. Glücklicherweise brachte sie dieser Schmerz wieder zum Beten, so daß sie ihr Problem Gott brachten.

Und dann kam Huo-pings dritte Schwangerschaft und schließlich der beglückte Ruf des Vaters: »Es ist ein Junge!« Mit dem kleinen Ni Schu-tsu hatte Gott Huo-pings Herzenswunsch erfüllt, und obwohl sie kein Held im Glauben war, hielt sie doch ihr Versprechen. Wie Hanna gab sie dem Herrn ihren Schatz zurück. »Um diesen Knaben habe ich gebetet, und der Herr hat mir gegeben, worum ich bat. Nun gebe ich ihn dem Herrn zurück, sein Leben soll ihm gehören.«
Gott hatte sich selbst einen »Wächter« erwählt.

3. Revolution

In den folgenden Jahren vermehrten sich die Nee (= Ni)-Kinder auf neun: fünf Jungen und vier Mädchen. Nach Kuei-chen, Kuei-cheng und Henry (Schu-tsu oder Watchman) kamen Georg (Huai-tsu) und der dritte Sohn Scheng-tsu, der als Student starb. Dann folgten nach einer Pause noch zwei Mädchen, Tek-ting und Teh-tsching, und zum Schluß noch einmal zwei Jungen: Paul (Hong-tsu) und John (Hsing-tsu).

Als junger Beamter bei der Hafenzollbehörde erhielt Nga Ungsin ein Monatsgehalt von 35 Taels, was nicht viel war. Überdies ging fast die Hälfte davon an seine verwitwete Mutter. Um ihre Finanzen aufzubessern, gewann Lin Huo-ping die Hilfe ihres Vaters. Mit ihm baute sie in Swatou ein Exportgeschäft mit Hohlsaumarbeiten auf. Dies erwies sich bald als sehr gewinnbringend, da die Ware in Malaya, Großbritannien und den Vereinigten Staaten abgesetzt wurde.
Auch ihr Mann hatte Erfolg. Er wurde von seinen Vorgesetzten als sorgfältiger Beamter geschätzt und wegen seiner gewissenhaften Arbeit immer wieder befördert. So lebte die Familie einige Jahre in Wohlstand. Dann bereitete die Versetzung nach Sutschou, einer Stadt fünfzig Meilen westlich von Schanghai, dem lukrativen Handel ein jähes Ende. Nach zwölf Monaten wurde Nga Ung-sin von seiner Mutter gedrängt, sich um einen Posten in Futschou zu bewerben, und zu seiner Freude erhielt er ihn auch.

In Swatou hatten die Eltern sich selbst um die Erziehung ihrer Kinder gekümmert. In Futschou stellte Nga Ung-sin einen Lehrer für sie an, einen Hsiu taai, der das erste Examen bestanden hatte. Von ihm lernten die Kinder Schönschrift und die literarischen und ethischen Grundsätze der »Vier Bücher« . . . Der junge Watchman lernte schnell und stach seine älteren Schwestern gewöhnlich aus, wenn es darum ging, den Dollar zu gewinnen, den der Lehrer manchmal für gute Arbeit aussetzte.

Die Nees waren musikalisch, und ihr Lehrer unterrichtete sie auch in dem alten chinesischen System, den »Melodien«, während Huo-ping ihre Kinder christliche Lieder lehrte. Als ihr Mann es sich später leisten konnte, kaufte er ein Klavier und schrieb selbst Noten auf Blätter, damit die Kinder sie abspielen lernten.
Gewöhnlich regierte ein chinesischer Vater sehr streng, aber das lag Nga Ung-sin nicht. Er mochte nicht schelten, und obwohl er immer erreichbar war, blieb er doch meist im Hintergrund und verbrachte seine Zeit mit seinen beruflichen Pflichten und seinen Freunden. Im Haus herrschte Huo-ping. Sie übte strenge Zucht, weil das, wie sie meinte, zu einer angesehenen Familie gehörte, und zügelte ihre äußerst lebhaften Kinder durch die Furcht, die sie ihnen einflößte. Es war ein Familiengesetz, daß alle für Ordnung und Reinlichkeit im Hause mitverantwortlich waren. Wurde etwas nicht an seinem Platz gefunden, durfte sich niemand vor der Verantwortung drücken. . . .

Sie hatten das Glück, mit einer anderen Familie in Futschou befreundet zu sein, den Changs, die ganz in ihrer Nähe wohnten – am Strand von Nantai mit dem Blick über die Brücke. Chang Cheun-kuan war ein Christ und entfernter Verwandter von Vater Nee. Die Kinder paßten im Alter gut zusammen. Die beiden ältesten Chang-Mädchen waren gute Freundinnen der Nee-Töchter, während die kleine Charity ständig hinter Watchman herlief. Bei ihren Spielen war er der Anführer, und so wurde er für sie alle der »ältere Bruder«.

Vom Haus der Changs war es nur ein kurzer Weg zum Fischmarkt, von wo eine alte Steinbrücke mit ausgetretenen Platten zur Insel Tschung-Tschou führte. . . . Da waren die Stände der Händler, die Wahrsager, vielleicht zog gerade ein Zahnarzt vor amüsierten Zuschauern einen Zahn, und vielleicht sahen sie auch ein Opfer der Mandschu-Justiz, es würde um den Hals ein schweres Eisen tragen und ein Schild, das über sein Vergehen Aufschluß gab. . . . Vom Kai bei ihres Vaters Dienstgebäude am Südufer konnten die Kinder die Küstendschunken beobachten, die von Nantai heraufkamen. Auf ihren breiten Bug waren richtungsuchende Augen gemalt, ihre steifen braunen Segel hoben sich gegen die blauen Kuschan-Hügel ab.  . . .  Darin war Futschou noch hinter der Zeit zurück, denn überall in China hatte sich auf industriellem Gebiet ein Wandel vollzogen: Textilfabriken schossen in den Küstenstädten wie Pilze aus dem Boden, Eisenbahnen wurden in das Innere des Landes gelegt, und ausländische Ingenieure beuteten fleißig Chinas Bodenschätze aus.

Watchman war sechs Jahre alt, als die Familie nach Futschou zurückkehrte, und er war neun, als die Revolution ausbrach und die Dynastie hinwegfegte.  . . .

Ihr Held war Dr. Sun Yat-sen, der zwanzig Jahre lang für die Erneuerung Chinas gearbeitet hatte. Er war armer Leute Kind, protestantischer Christ und der erste Ideologe der Chinesischen Revolution. Obwohl das Fehlen aller Führereigenschaften sein Verderben war, ergriffen seine drei Grundprinzipien Nationalismus, Demokratie und Sozialismus Besitz von der Volksseele. Er war lange gezwungen gewesen, von seinem Exil aus zu agieren, denn das Mandschuregime wurde immer noch von den ausländischen Mächten aus selbstsüchtigen Motiven gestützt. Dann starb Kaiser Kuang Hsu im November 1908. Begabt, doch schwach, war er vollständig von Chinas bösem Geist, der abergläubischen alten Kaiserin Dowager, beherrscht worden. Sie starb am darauffolgenden Tag, und wenige trauerten um sie. Der Thronerbe war Kuang Hsus dreijähriger Neffe, der nun unter dem Namen Hsuan Tung zum Kaiser ausgerufen wurde.
Es folgten drei Jahre der Unsicherheit, in der unter der Bevölkerung die Überzeugung wuchs, daß die Dynastie ihr Himmelsmandat verwirkt habe. Am 10. Oktober 1911 löste die zufällige Explosion einer Bombe die Revolte in Wutschang aus, der Hauptstadt der Hupeh-Provinz. So begann die Kette der Ereignisse, die zur Abdankung des Kind-Kaisers und weiter zur Republik führte, zur nationalistischen Diktatur und schließlich zum Sieg der kommunistischen Partei.

Im Dezember kehrte Sun Yat-sen aus dem Exil zurück und wurde zum ersten provisorischen Präsidenten der Republik China gewählt. Er bekannte sich zur Demokratie, und um den Umsturz zu symbolisieren, schnitten seine Anhänger ihre Zöpfe ab, jenes Zeichen der Unterwerfung, das sich die Schuljungen in Futschou nun nicht länger auf den Veranden vor ihren Schlafräumen gegenseitig flechten mußten.

Nach zwei Jahrtausenden chinesischer Kultur war ihr Inbegriff, der Drachenthron, gestürzt, um einer demokratischen Republik Platz zu machen.
Aber Sun und andere Prominente der Revolution, die aus dem Süden stammten, kamen größtenteils aus dem Exil. Sie träumten von einem China, das nach westlichem Vorbild umgestaltet werden sollte, sahen aber nicht, daß für eine wirksame Demokratie alle Grundlagen fehlten. So fiel es einem Mann aus dem Norden, Yüan Schi-kai, einem kaiserlichen General mit persönlichen Absichten auf den Thron, nicht schwer, Sun als Präsidenten abzusetzen. Doch bevor Sun im August 1913 wieder ins Exil gehen mußte, organisierte er eine »zweite Revolution« in den Küstenstädten des Südens.

In all diese Geschehnisse war die Nee-Familie verwickelt. Suns nationale Bewegung fand in ihnen glühende Anhänger. Während aber Nga Ung-siu ein schüchterner Mann war, war seine Frau das Gegenteil: redegewandt, stark und bereit, hier ihre Emanzipation durchzusetzen. Trotz des Kämpfens und Blutvergießens um sie herum begab sie sich auf eine Vortragsreise, nachdem sie zunächst öffentlich ihre goldenen Armringe und anderen Schmuck der Bewegung geopfert und damit ein Beispiel gegeben hatte, dem viele folgten. Sie gründete eine patriotische Frauengesellschaft, die von prominenten Führern unterstützt wurde, und war selbst die Generalsekretärin.
Als im Juli 1913 Sun Yat-sen persönlich nach Futschou kam, gab man Huo-ping eine offizielle Rolle beim Empfang des Präsidenten.
Es stellte sich heraus, daß Suns Privatsekretärin Fräulein Song eine Schanghaier Klassenkameradin von ihr war, und mit ihr zusammen nahm sie an jedem Fest und jeder Aufgabe während des vier Tage währenden Besuches teil.

Watchman war jetzt zehn Jahre alt. Wißbegierig lauschte er den politischen Gesprächen. Die Revolution hatte dem Land neue Hoffnung gebracht, und der Aufschwung prowestlicher Gefühle verhieß eine schnelle Ausbreitung der christlichen Mission. Eines Tages würden sich auch die Türen für ein Studium im Ausland öffnen. Doch ein Jahr später brach der Krieg in Europa aus, und man erhoffte nichts mehr vom Westen. Daheim schien die Revolution zu einem Stillstand gekommen. Das Land war durch rivalisierende Kriegsherren zerstückelt, und die Japaner drangen ein unter dem Vorwand, Kriegshilfe zu geben. Am 8. Januar 1915 stellte Japan seine »Einundzwanzig Forderungen«, die mit dem Anspruch auf die Provinz Schantung begannen und am Ende aus China einen Marionettenstaat gemacht hätten. In jenem Jahr zerschlug Präsident Yüan all ihre Hoffnungen, indem er sich als Kaiser auf den Drachenthron setzte. Aber er sollte seine Tage in Schande beschließen.

Ab 1916 besuchte der dreizehnjährige Watchman die Mittelschule der Anglikaner in Futschou, wo er zum ersten Mal mit dem westlichen Schulsystem in Berührung kam. Dann würde er die höhere Schule von St. Marks besuchen, in der Englisch Unterrichtssprache war. Diese Schule gehörte zu einem Komplex der Anglikaner in Nantai, der mit fast vierhundert Schülern alle Arten von Schulen umfaßte. Das Ganze war in Futschou als Dreifaltigkeits-College bekannt, weil die meisten Lehrer Iren waren und vom Dreifaltigkeits-College in Dublin kamen.

Watchman war ein guter Schüler. Er holte gelegentliche Rückschläge infolge von Krankheit bald wieder auf – für seine Erkrankungen gaben die Freunde der Familie übrigens Huo-pings Mutter die Schuld, die ihn ständig verwöhnte. Trotzdem war er oft der Erste in der Klasse, wenn auch nicht der Bravste. Er wuchs jetzt schnell zu einem mageren, schlaksigen Burschen heran, der einen Kopf größer war als die meisten seiner Kameraden.

Er hatte sich bald den nördlichen Dialekt angeeignet, das »Mandarin«, das sich immer mehr zur Nationalsprache entwickelte und als pai-hua, die »reine Sprache« galt. In seiner Kindheit hatte er Bücher in klassischem Chinesisch gelesen, wie es literarisch gebildete Männer liebten und wie es noch immer von dem veralteten staatlichen Schulsystem verlangt wurde. Doch jetzt erlebte China eine riesige kulturelle Erneuerung. Auf allgemeines Verlangen wandten sich die Pioniere unter den Schriftstellern und Dichtern der Umgangssprache zu, die bisher der Trivialliteratur vorbehalten war.

1922 ordnete das Erziehungsministerium an, daß alle Schulbücher in die Umgangssprache umgeschrieben würden. Dieser Wandel sollte in der Zukunft einen gewaltigen Einfluß auf die Ausbreitung von Ideen haben und auch der freieren Verbreitung christlichen Denkens dienen.

Aber die Religion hatte gerade jetzt unter den Studenten jedes Ansehen verloren. Eine antireligiöse Bewegung war 1918 durch die Zeitschrift »Neue Jugend« gefördert worden. Der Herausgeber war Chen Tu-hsiu, Dekan der literarischen Fakultät und einflußreicher Führer unter den Gebildeten. Seine Bewegung gipfelte in der »Großen Föderation aller Anti-Religiösen« 1922 und in den folgenden emotional aufgeladenen Angriffen auf das Christentum. Chen selbst wurde später Generalsekretär der kommunistischen Partei in China.

Aber ein Ereignis von noch weitreichenderen Folgen muß uns hier beschäftigen: die »Bewegung vom 4. Mai«. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges und dem Vertrag von Versailles erwartete China 1919, daß es die deutschen Konzessionen in Schantung erhalten würde. Stattdessen wurden sie von England und Frankreich an Japan gegeben. Die Entrüstung unter den jungen Chinesen über diesen Verrat ihrer eigenen unfähigen Regierung führte am 4. Mai 1919 zu jenem spontanen Protest der Pekinger Studenten, unter denen sich ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren mit Namen Tschu En-lai hervortat. Die Studenten waren es dann, die Streiks in Schanghai und Futschou anführten und marxistische Ideen verbreiteten. Durch das Angebot der Sowjetregierung, auf die russischen exterritorialen Rechte zu verzichten, erhielt der Marxismus Auftrieb, und am Ende erwies sich die »Bewegung vom 4. Mai« als höchst bedeutsame Wegbereitung für den chinesischen Kommunismus.

Watchman hatte inzwischen die Mittelschule beendet. Er befand sich in seinem sechzehnten Jahr und war natürlich empfänglich für den durch diese Ereignisse hervorgerufenen Aufruhr unter den Studenten. Aber der Anreiz, daß er nun nach St. Mark kommen würde, mag ihm über die sich überall bemerkbar machende politische Ernüchterung hinweggeholfen haben.
Auch zu Hause gab es viel, was einen heranwachsenden Jungen ernüchtern konnte. Die Tätigkeit seiner Mutter bei der Partei hatte allen Glanz verloren. Der Gouverneur von Fukien hatte sie in Anbetracht ihres politischen Einsatzes für eine Belohnung vorgeschlagen, und Peking hatte darauf reagiert, indem es ihr den Orden zweiter Klasse für Patriotismus verlieh. Nachdem sie diese Ehrung erhalten hatte, ließ ihr Eifer nach. An die Stelle der Vaterlandsliebe trat, so erzählt sie selbst, die Freude an der Karriere. Anstatt wie früher zur Kirche zu gehen, widmete sie sich jetzt gesellschaftlicher und kultureller Unterhaltung. »Durch den Umgang mit den ungläubigen Revolutionären wurde ich selbst beinahe ungläubig.« Täglich kamen die Damen der Gesellschaft in ihr Haus in Nantai, um Karten und Mah-Jongg zu spielen, und als der Pastor kam und um eine Spende für eine Reichgottesarbeit bat, meinte sie spottend: »Wenn ich gewinne, soll Gott etwas davon haben.«

Auch bei der Erziehung der Kinder wurde sie ungeduldig und ungerecht. Am Ende der Winterferien 1920 wurde ein wertvolles Ornament im Haus zerschlagen. Huo-ping hielt Watchman für den Schuldigen und verlangte ein Bekenntnis. Als er das ablehnte, verabreichte sie dem großen Jungen eine Tracht Prügel. Sie hatte zwar Gewissensbisse, als sie später entdeckte, daß er unschuldig war, doch tat sie nichts, um ihren Fehler wieder gutzumachen. So kehrte er verbittert ins Internat zurück.

Im gleichen Monat bekam Huo-ping eine unerwartete Nachricht. Dora Jü, die sie vor Jahren in Schanghai so sehr beeindruckt hatte, wollte zum chinesischen Neujahrsfest nach Futschou kommen, um vierzehn Tage Erweckungsversammlungen in der Methodistenkapelle zu halten. Fräulein Jü war als begabte Evangelistin bekannt geworden. Sie hatte Nordchina und Korea auf ausgedehnten Reisen besucht und auch eine eigene Bibelschule in Schanghai gegründet. Huo-ping hatte sie nicht mehr gesehen seit jenem Tag vor mehr als zwanzig Jahren, als sie ihr den Ring schenkte. Am Vorabend der Versammlungen in Futschou lud sie sie nun zu einem Abendessen ein, zu dem sie auch ihre Freundinnen vom Glücksspiel bat. Sie sprach mit Wärme über Fräulein Jü und kündigte am Schluß an:
»Morgen wird Fräulein Jü in der Halle des Ewigen Friedens sprechen. Bitte, seien Sie alle da!«
Jemand fragte: »Und Sie?«
»Natürlich werde ich hingehen.«

Am 15. Februar fand die erste Versammlung statt, und Huoping war pünktlich mit den anderen da. Die Füße der Predigerin, die man ihr als Kind eingebunden hatte, steckten in winzigen Brokatschuhen. Steif erhob sie sich, um ihren Text anzukündigen, Gottes Worte an Eva: »Du sollst ihn nicht einmal berühren, sonst wirst du sterben.« An diesem und am folgenden Tag predigte sie mit großer Kraft über den geistlichen Tod als Trennung von Gott. Aber das Thema langweilte Huo-ping. Das alles wußte sie von ihrer Kindheit an. So ließ sie es mit diesen zwei Versammlungen genug sein, und da sich auch ihre Freundinnen über die für das Glücksspiel verlorene Zeit ärgerten, klapperten am dritten und vierten Tag wieder die weißen Mah-Jongg-Steine auf der harten Tischplatte. Und doch – »ich saß da und spielte«, erinnert sich Huo-ping, »wie eine Tote. Ich wußte, Gottes heiliger Geist wirkte in mir«. Nach zwei Tagen hielt sie es nicht länger aus

»Ich bin eine Christin«, sagte sie zu den anderen. »Fräulein Jü hat eine weite Reise gemacht, um hier zu predigen. Daß ich nicht hingehe, muß sie verletzen. Sagt, was ihr wollt, ich werde morgen nicht spielen.«

Am nächsten Tag kam ihr Dora Jü entgegen, um sie zu begrüßen.
»Wo sind Sie gewesen?« fragte sie unschuldig.
»Ich fühlte mich nicht wohl«, log Huo-ping.

Fräulein Jü sah sie freundlich an: »Möge Gott selbst Sie heilen«, erwiderte sie.
Diese Worte trafen Huo-ping. Wie wenig hatte Mah-Jongg mit Krankheit zu tun! Während der Ansprache rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Sprach Dora Jü von ihr? Sie war vierzig Jahre alt und genoß öffentliches Ansehen, da konnte sie sich nicht vorstellen, daß jemand sie so bloßstellte. Dies sollte ihre letzte Versammlung sein! Doch als Dora Jü sie fragte: »Werden Sie morgen wieder hier sein?« fand sie keine Ausrede, und am nächsten Tag sprach die Predigerin über das sühnende Leiden Jesu am Kreuz. »Jedes Wort war für mich bestimmt«, berichtet Huo-ping später. »Jeden Tag brachte mich eine Macht, die stärker war als ich, in die Versammlung zurück.« Schließlich kam der Abend, an dem sie Gott ihre Not bekannte und ihm für Seine Gnade dankte. Seine Gnade hatte über sie triumphiert.

Ihr Mann, der ein paar der Versammlungen besucht hatte, war verblüfft.
»Du schläfst nicht und ißt nicht und vergießt den ganzen Tag Tränen«, protestierte er. »Andere sind glücklich, wenn sie sich bekehrt haben. Wenn das der einzige Erfolg ist, dann gib es auf und bleib weg!«

»Aber du weißt ja gar nicht, wie es in mir aussieht«, rief sie aus. »Ich habe dich belogen. Ich habe so viel Geld, das der Familie gehört, für Mah-Jongg vergeudet«, und fuhr fort aufzuzählen, was sie seit langem belastete. Dann war er an der Reihe, seine Fehler zu bekennen, und bald weinten sie beide. Friede – »Huoping« – hatte endlich Einzug in ihr gehalten. Nie wieder berührte sie die Karten oder die Mah-Jongg-Steine.

Es war den höheren Schülern freigestellt worden, die Versammlungen von Fräulein Jü zu besuchen, und einige machten davon Gebrauch. Watchman war bis jetzt nicht erschienen. Der Agnostizismus seiner Freunde hatte ihn schon ein wenig angesteckt, und überdies war er mehr denn je enttäuscht von dem Christentum in seinem Elternhaus. Huo-ping lud ihren Sohn ein, obwohl sie wußte, daß sie ihm etwas zu bekennen hatte. Aber ihr Stolz empörte sich gegen diesen Verlust an Gesicht. Lehrte nicht auch Konfuzius, daß Eltern immer recht haben?

Doch etwas anderes konnte sie in Ordnung bringen, und sie war entschlossen, das zu tun. Mit drei Dollar ging sie los, eine Bibel und ein Gesangbuch zu kaufen, um mit der Familienandacht wieder zu beginnen. Am nächsten Tag fing sie an zu spielen und das erste Lied zu singen – aber der Geist Gottes wehrte ihr. »Wie kann ich, eine Mutter, meinem Sohn einen Fehler eingestehen?« protestierte sie. »Es ist der einzige Weg«, kam die Antwort.

Ihr Mann und die Kinder waren verblüfft, als sie sich plötzlich Watchman zuwandte und ihn umarmte. »Um Jesu willen«, weinte sie, »ich bekenne, daß ich dich ungerecht und im Zorn schlug.«

»Das tatest du, ehrwürdige Mutter, und ich haßte dich deswegen«, stellte der Sohn sachlich fest.

»Bitte, vergib mir!« bettelte sie. Aber er wandte sich ab, ohne ihr zu antworten.

Die Familienandacht wurde fortgesetzt.
An jenem Abend wurde Watchman von Gott angerührt.
Huopings Bekenntnis!
Niemals hatte er von chinesischen Eltern gehört, die einen solchen Gesichtsverlust hingenommen hätten. Wenn seine eigene Mutter so verwandelt war, dann mußte er hingehen und selbst hören. Am nächsten Morgen stand er früh auf.

»Ich bin jetzt bereit, Dora Jü anzuhören«, sagte er zu seiner Mutter. Er ging hin, und noch ehe die Versammlungen zu Ende waren, hatten ihre Predigten auch in ihm die Reue über seine Sünden geweckt, und er hatte in Jesus Christus einen lebenden Erlöser und Freund gefunden.
In einem Akt jugendlicher Hingabe gelobte er sich selbst, Gott ganz und ausschließlich zu dienen, und er wich nie mehr zurück von dem einmal eingeschlagenen Weg. Gott antwortete ihm mit einer Wiedergeburt aus dem Geist, die sein ganzes Leben umkrempeln sollte. Er hatte vom Gebet der Mutter in jener Nacht vor vielen Jahren gehört und stand nun seinerseits zu dem Pakt.
In eben diesen Monaten verschlang ein Mann, der nur zehn Jahre älter als Watchman war, marxistische Schriften, die erst jetzt in chinesischer Sprache erschienen, und kam durch sie zu tiefen inneren Überzeugungen. Im Frühling 1920 besuchte Mao tse-tung Chen Tu-hsiu in Schanghai, und Chens Bekenntnis seines politischen Glaubens machte aus Mao einen überzeugten Kommunisten.
Aus so kleinen Anfängen sollte sich eine alles verschlingende Flut entwickeln. Doch der Weg, den Watchman Nee einschlug, war bereits gegen den Strom festgelegt.

4. Hingabe

Als sich Watchman Nee in seinem achtzehnten Lebensjahr Jesus Christus zuwandte, tat er das wie die Jünger Jesu, von denen es heißt, daß sie »alles verließen und ihm nachfolgten«. Später erzählte er einem guten Freund, daß er in den wenigen Tagen, als Dora Jü in Futschou Versammlungen hielt, die Sache sorgfältig erwogen habe. Er wußte, es mußte alles sein oder nichts. Um gerettet zu werden, mußte man sich lebenslang im Gehorsam dem Einen unterwerfen, der totale Ansprüche stellte.

Und warum nicht? In einem Laden in der Altstadt arbeitete ein unbekannter Handwerker schon seit sechs Jahren an drei Holzflügeln eines viertürigen Wandschirms. Er schnitzte Blumenreliefs in das Holz, die sich weiß von der schwarz lackierten Oberfläche abhoben. Dafür erhielt er achtzig Cents am Tag, Reis und Gemüse und ein Holzbrett zum Schlafen, ganz gleich, ob »es regnete, die Sonne schien, Feiertag war oder eine Revolution ausbrach«, wie der Ladenbesitzer sich ausdrückte. Nachdem der Mann dieses Kunsthandwerk einmal erlernt hatte, konnte er möglicherweise nur zwei solcher Wandschirme herstellen, ehe ihm Augen und Nerven versagten und er mit den Bettlern hinausgetrieben wurde. Wenn eine schöpferische Begabung so für einen geizigen Arbeitgeber verschwendet werden konnte, überlegte Watchman, war da irgend etwas zu gut, um es Gott zurückzugeben, der »seines eigenen Sohnes nicht verschont« hatte?

Bald stieß Watchman auf die Worte des Apostels Paulus: »Bringt euch Gott dar als Menschen, die vom Tod zum Leben durchgedrungen sind, und eure Glieder als Werkzeuge der Gerechtigkeit.« – »Gott verlangte von mir deshalb«, so berichtet er später, »daß ich von da an alle meine Fähigkeiten als einem anderen gehörig betrachtete. Ich wagte nicht, auch nur ein wenig von meinem Geld oder eine Stunde meiner Zeit oder geistige oder körperliche Kraft zu verschwenden, denn sie gehörten nicht mir, sondern ihm. Es war etwas Großes, als ich diese Entdeckung machte. An jenem Abend begann für mich das christliche Leben.« Das bedeutete auch, daß Unrecht gutgemacht werden mußte. Watchman hatte z. B. einen Widerwillen gegen Bibelkunde, der ihm schlechte Zensuren einbrachte. Diese wiederum führten zu Gesichtsverlust, denn er war ja der Sohn einer christlichen Familie. Bei der Prüfung – Bibelkunde war Schulfach – hatte er sich damit geholfen, daß er wichtige Daten in seine Handflächen schrieb und diese in den weiten Ärmeln verbarg. Auf diese Weise konnte er 70 Prozent der gestellten Aufgaben lösen, und da dies seinen Leistungen in den anderen Fächern entsprach, erregte er keinen Verdacht.

Da er nun wiedergeboren war, hörte er mit dieser Mogelei auf. Trotzdem bekam er keine Beziehung zu diesem Fach, so sehr er sich auch mühte. Es wurde ihm klar, daß Gott ihm nicht helfen konnte, solange er nicht mit dem Direktor gesprochen hatte. Aber er hatte allen Grund, damit zu zögern. Der Direktor hatte sie gewarnt, ein beim Mogeln ertappter Schüler würde sofort von der Schule gewiesen, und damit wäre alle Hoffnung auf ein Universitätsstudium oder gar ein Studium im Ausland zunichte gewesen. Ganz leicht fiel es Watchman nicht, die Karriere aufs Spiel zu setzen und sich für Jesus Christus zu entscheiden. Doch er ging zum Direktor, und zu seiner Erleichterung wurde er nicht von der Schule gewiesen.
In dieser Zeit wurde das Leben in Fukien durch Militär gestört. Auf dem Land wurde gelegentlich gekämpft, und die Stadt geriet bald unter nördlichen, bald unter südlichen Einfluß. Um den 9. Mai herum, dem Gedenktag der Schande Chinas, an die »Einundzwanzig Forderungen« der Japaner von 1915, wurden die Jungen der höheren Schule in antijapanische Demonstrationen verwickelt. Die Unruhe pflanzte sich fort und wirkte sich auf alle Lebensgebiete bis hin zum Lehrplan der Schule aus.

Watchman sah dies, und weil er die Notwendigkeit spürte, sein Leben auf eine ganz neue Grundlage zu stellen, verschwand er eines Tages. Seine Klassenkameraden hatten keine Ahnung, wohin er gegangen war, und seine Familie bewahrte das Geheimnis, bis er viele Monate später zurückkam. Er hatte sich nach Schanghai eingeschifft, wo die philosophischen und pädagogischen Ideen von John Dewey, Bertrand Russell und Rabindranath Tagore die Gemüter der Studenten bewegten. Doch auf Watchman machten sie keinen Eindruck mehr! Er war nach Schanghai gegangen, um ein Jahr lang Dora Jüs Bibelschule zu besuchen und die Heilige Schrift kennenzulernen, deren Studium er bis dahin so mühselig gefunden hatte. Er war mit ganzem Herzen bei der Arbeit, und er hätte keine bessere Lehrerin finden können. Von ihr lernte er, in bezug auf das Lebensnotwendige allein auf Gott zu vertrauen, wie sie es ihr Leben lang getan hatte. Sie lehrte ihn, Gottes Wort mit dem Herzen zu erfassen und es nicht nur – so wichtig das auch ist – auswendig zu lernen.

Als er zurückkehrte, schickte ihn seine Mutter sofort wieder in seine alte Schule, und da der Unterricht durch die Unruhen sehr gelitten hatte, holte er schnell auf.
Aber er war ein anderer geworden. Er befaßte sich energisch mit dem Lernstoff, aber er machte sich auch eine Liste seiner Klassenkameraden und fing an, für jeden systematisch zu beten und bei jeder Gelegenheit das Zeugnis seines Glaubens abzulegen. Zuerst lachten sie über ihn, weil er ständig eine Bibel mit sich herumtrug, und nannten ihn ärgerlich »Zitatenschatz«. Man erzählt, daß er sich vornahm, das Neue Testament mehrmals im Monat durchzulesen. Er war bereit, mit jedem Kameraden ernsthaft über die Botschaft der Bibel zu reden, und durch den Wandel in seinem Leben und seine offensichtliche Aufrichtigkeit gewann er langsam ihr Interesse. Ein Schüler der Marineschule, Wilson Wang, hatte seine Ausbildung dort aufgegeben und war in Watchmans Klasse gekommen. Er war einer der ersten, die sich mit ihm zu zwangloser Gebetsgemeinschaft im Andachtsraum der Schule trafen. Langsam wurden mehrere Jungen überzeugt, und einer nach dem anderen entdeckte in Christus die neue Freude, unter ihnen Simon Meek aus dem Lien-Kiang-Distrikt in der Nähe der Küste, und Faithful Luke und K. H. Weigh, die beide aus dem flußaufwärts gelegenen Ku-tien stammten.

Einigen Schülern genügte die Schule als Missionsfeld nicht. Sie begannen in der Stadt zu arbeiten. Dazu benutzten sie die Sonnund Festtage und die häufigen Studentenstreiks. Sie beschafften sich einen lauten volltönenden Gong, mit ihm zogen sie singend durch die Straßen und verkündeten allen, die anhielten und zuhörten, die gute Botschaft von dem lebendigen Erlöser. Es herrschte sowieso ein ständiger Lärm in der Stadt, eine Kakophonie von Trommelschlägen, knallenden Feuerwerkskörpern, quietschenden Schweinen, dem Geschrei von Straßenhändlern und Kulis und den Tumulten jener Gruppen, die zu einer Beerdigung gingen. Ein bißchen mehr Lärm machte nichts aus. Die Jungen verteilten Traktate und trugen Plakate mit sich, sie malten auch Schilder, auf denen in großen Buchstaben der Weg der Erlösung dargestellt war. Diese klebten sie an Hauswände zwischen grellrote Zigarettenreklame und Reklame für Petroleumlampen und die unheimlichen Wandmalereien des menschenfressenden blauen Tigers, der der Schrecken der Hügelbewohner in den Dschungeln von Futsing im Süden war. Die chinesische Schrift, die von oben nach unten geschrieben wird, brachte sie auf einen neuen Gedanken. Sie nähten sich weiße Baumwollhemden, auf denen in roten Buchstaben »Gott liebt die sündige Welt« und »Jesus Christus ist ein lebendiger Erlöser« zu lesen war. Die Christen in den Vororten zu beiden Seiten des Flusses erlebten ein geistliches Erwachen.

Als Watchman bei seiner Rückkehr von Schanghai am Anlegeplatz Pagoda das Schiff verließ, hatte er auf Dora Jüs Vorschlag Margaret E. Barber besucht, eine frühere anglikanische Missionarin, die jetzt unabhängig von ihrer Missionsgesellschaft arbeitete. Sie war von der C.M.S., ihrer Missionsgesellschaft, 1899 nach Fukien ausgesandt worden. Dort hatte sie, eine Persönlichkeit mit großer Ausstrahlung, sieben Jahre in der Mittelschule für Mädchen unterrichtet. Als sie 1909 ihren Heimaturlaub in England verbrachte, hatte sie sich zur Glaubenstaufe entschlossen, woraufhin ihr Bischof ihr verständlicherweise schrieb, daß sie nicht nach Fukien zurückkommen möge. Trotzdem kehrte sie im Alter von zweiundvierzig Jahren dorthin zurück im Vertrauen, daß Gott für ihre Bedürfnisse sorgen würde. Li Ai-ming, ein unabhängiger chinesischer Prediger, schloß sich ihr an, und um ihren früheren Kollegen in Nantai kein Ärgernis zu geben, mietete sie den Bungalow eines in den Ruhestand tretenden amerikanischen Missionars in Pei Ya Tan (Weißer Zahnfelsen) gegenüber dem Landeplatz bei der Lo-hsing Pagode. Von hier aus und gemeinsam mit der zwanzig Jahre jüngeren M. S. Ballord, die aus England zu ihr kam, begann sie mit ihrer Arbeit.

Zehn Jahre lang arbeiteten die beiden geduldig unter den Frauen der Umgebung und, wo es möglich war, auch unter den Männern. In gewissen Abständen besuchten sie Futschou, um Traktate auf den Märkten zu verteilen. Dabei spürten sie stark die Begrenzung, die ihnen als Frauen auferlegt war, und dies an der Schwelle einer weiten Provinz, die noch nichts von Christus wußte. In ihrem ersten Jahr hatte sich in Futschou der zweite Priester des nahegelegenen Tempels der »Kochenden Quelle« zur Taufe entschlossen. So etwas geschah jetzt nicht mehr. Das ländliche China für Christus zu gewinnen – dies schien ein ausgeträumter Traum, bis Gott selbst einheimische junge Männer und Frauen für diese Aufgabe berufen würde. Warum sollte er das nicht tun? Sie machten dies zu ihrem ständigen Gebetsanliegen.

Eines Tages zu Beginn des Jahres 1921 ankerte ein Kriegsschiff der Republik gegenüber der Pagode, und ein junger Marineoffizier kam an Land. Er spazierte hinter dem Zollgebäude umher und wurde von Melodien angelockt, die aus einem Missionshaus kamen. Er ging hinein und stellte sich vor. Es war Wang Tsai (Leland Wang), der ältere Bruder von Watchmans Klassenkamerad Wilson Wang aus Futschou. Nach dem Verlassen der Marineschule war er auf einem Schiff in Nanking stationiert, und dort hatte er sich auf wunderbare Weise zu Jesus Christus bekehrt. Er war jetzt dreiundzwanzig und hatte beschlossen, auf sein Offizierspatent zu verzichten und ein Prediger des Evangeliums zu werden. Nun erlebten die beiden Frauen, daß Gott ihr Gebet beantwortete.
Das Haus der Wangs lag in Tschien Schan, einer Vorstadt von Futschou auf derselben Seite des Flusses wie Nantai, am Hang des Hügels ein wenig höher als das Haus der Nees. So bekam Wang Tsai bald Kontakt zu Watchman und seinen Freunden. Nachdem sein Gesuch um Entlassung aus dem Dienst den Behördenweg durchlaufen hatte, kehrte er hierher zurück und machte sein Elternhaus zu seinem Hauptquartier als Evangelist. Für diesen Dienst brachte er eine wirkliche Begabung mit. Da er etwas älter und viel erfahrener als sie alle war, wurde er von der Schülergruppe warm willkommen geheißen und ihm so etwas wie eine Führerrolle zugestanden.

Das Haus der Nees wurde zu einem Aktionszentrum ganz anderer Art. Es brauchte eine Zeit, bis die Leute sich daran gewöhnten, daß aus der politischen Rednerin Huo-ping eine christliche Zeugin geworden war. Doch dann kamen die Einladungen, als methodistische Laienpredigerin in Versammlungen für Frauen und Mädchen in Nord-Fukien zu sprechen. Und da sie das Paihua beherrschte, führten sie diese Vortragsreisen auch noch weiter ins Land hinein. Sie lebte mit Gott und suchte seinen Willen in allen Dingen, und Gott segnete ihr Zeugnis sichtbar.

Obwohl sie nun wieder viel reiste, war sie sich doch der Bedürfnisse ihrer großen Familie bewußt. In einem heißen Sommer, nachdem sie vierzehn Tage lang auf einem Treffen des Futschouer Christlichen Vereins junger Frauen gesprochen und zu Hause eine Woche vorher die wunderbare Bewahrung vor einer Feuersbrunst erlebt hatte, die gerade drei Häuser vor dem ihren zum Stillstand gekommen war, trieb wieder ein heftiger Wind die Flammen vor sich her, die sich diesmal vom Fischmarkt nach Norden wälzten. Wieder weckte sie die Kinder, und während sie dann mit Packen und dem Hinausschaffen der wichtigsten Dinge begann, kam ihr plötzlich Abrahams Gebet für Sodom in den Sinn. Gott schien sie mit der Frage zu tadeln: »Warum betest du nicht?« So hörte sie mit ihrer Beschäftigung auf und kniete sich hin. »O Gott«, betete sie, »in diesem Teil von Futschou ist meine Familie die einzige, die an dich glaubt. Gib mir eine Antwort für die Ungläubigen, damit sie nicht sagen können: ›Wo ist nun dein Gott?‹« Doch die Flammen näherten sich schnell, und dann geschah das Unglaubliche: Die städtische Feuerwehr, die durch das Durcheinander am Brückenkopf am Löschen gehindert wurde, kam auf dem Wasserweg ausgerechnet zu ihrem Haus, um von hier aus die Löscharbeiten zu kontrollieren. Ihre geschickten Bemühungen, verbunden mit einem Drehen des Windes und etwas Regen, brachten den Brand zwei Häuser vor ihrem Heim zum Stillstand. Die beiden Feuersbrünste in einer Woche hatten eine Insel von fünf Häusern am Flußufer zurückgelassen, die wunderbarerweise unberührt in der Verwüstung stehengeblieben waren. Es ist sicher, daß diese gnädige Bewahrung den Glauben der Familie stärkte.

Etwas später, als Huo-ping gerade wieder von einer Predigtreise zurückkam, hörte sie, daß die beiden Engländerinnen vom Weißen Zahnfelsen sie hatten besuchen wollen. Huo-ping wußte, daß Watchman und seine Schulkameraden manchmal bis zum Anlegeplatz Pagoda fuhren, um an den Bibelstunden der beiden Damen teilzunehmen. Sie selbst hatte die Missionarinnen gemieden, seit Dora Jü auf ihrem Heimweg nach Schanghai dort abgestiegen und von den beiden Frauen im Fluß getauft worden war. Damit habe sie ihrer Arbeit selbst am meisten geschadet, meinte Huo-ping, und zögerte nicht, auch öffentlich dagegen Stellung zu nehmen. Doch jetzt kam Watchman einige Tage vor Ostern zu ihr:
»Ehrwürdige Mutter, ab morgen habe ich drei Tage schulfrei. Ich möchte zum Bibelstudium zu Ho Scheo-ngen (so nannten sie Margaret Barber) gehen. Würdest du wohl mitkommen?«

»Warte, bis ich den Herrn gefragt habe«, erwiderte sie und stieg die Treppe hinauf. Sie betete kniend. Als kleines Kind war sie mit ihrer Mutter zusammen getauft worden. Verlangte Gott nun von ihr, daß sie öffentlich tat, wogegen sie so heftig gesprochen hatte: als Erwachsene ihren Glauben in der Taufe erneut zu bestätigen? Ganz sicher war es Gott und kein anderer, der sie zu diesem Gehorsamsakt drängte. Sie erinnerte sich der Worte Gottes bei Jesu Taufe: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.« Nachdem sie noch ein wenig nachgedacht hatte, ging sie hinunter und rief Watchman. Sie hatte sich entschlossen, mit ihm zu Fräulein Ho zu gehen, »und überdies möchte ich getauft werden«.

»Ich auch!« sagte Watchman. »Zu diesem Zwecke gehe ich nämlich hin.«
Watchman war beim Lesen des Neuen Testaments aufgefallen, daß Paulus die Taufe zum Tod Christi in Beziehung setzt, und Petrus zur Herrschaft Christi. Er hatte erkannt, daß es zwei einander feindliche Welten gibt und daß man unmöglich ihren beiden Herren dienen kann, dem Fürsten dieser Welt und dem Fürsten des Lebens. Nun wollte er öffentlich mit dem einen brechen und seine Hingabe an den anderen bezeugen. »Ich ziehe aus diesem vom Satan regierten System aus«, sagte er. »Ich gehöre nicht mehr zu dieser Ordnung der Dinge. Ich richte mein Herz auf das, worauf Gottes Herz gerichtet ist. Mein Ziel ist sein ewiges Ziel in Christus, und ich gehe in jenes Reich und bin aus diesem entlassen.«

Als Watchmans Bruder Georg von ihrem Plan hörte, äußerte auch er den Wunsch, getauft zu werden, und so fuhren die drei am nächsten Morgen mit einem Flußboot zum Weißen Zahnfelsen.

Margaret Barber war entzückt, als sie Huo-ping begrüßte.

»Haben Sie Ihren Reis gegessen? Was für gute Nachricht bringen Sie uns?« Und sie war sehr erstaunt, als sie aus Huo-pings eigenem Munde hörte, daß Gott zu ihr von Taufe gesprochen habe. Seit sie von Dora Jü erfahren hatte, wie Gott Huo-ping nachgegangen war, hatte sie nicht aufgehört, für sie zu beten.

Am Ostersonntag gingen sie zu den Stromschnellen hinunter. Die Strömung war träge, und der Tag war trübe; es regnete leicht, so daß ihre Stimmung litt. An diesem Morgen hatte Huo-ping einen ihrer gelegentlichen Anfälle von Herzjagen. Aber als Margaret anbot, die Taufe zu verschieben, bestand Huo-ping darauf:
»Ich würde lieber bei der Erfüllung des göttlichen Willens sterben, als noch länger nach meinem eigenen Willen leben.«

Nach seiner Taufe sagte Watchman mit wenigen Worten, wo er stand: »Herr, ich lasse meine Welt hinter mir. Dein Kreuz trennt mich von ihr für immer. Ich bin in eine andere Welt eingetreten. Ich stehe da, wo du mich in Jesus Christus hingestellt hast.«

5. Das Samenkorn entfaltet sich

Wang Tsai und Watchman Nee kamen sich jetzt sehr nahe, da sie ein gemeinsames Ziel hatten: die Ausbreitung des Evangeliums unter den jungen Männern und Mädchen der Stadt und in den Schulen und Colleges. Sie setzten ihre Straßenpredigten fort, besuchten die Nachbardörfer und bemühten sich, die zerstreut wohnenden neuen Gläubigen im geistlichen Wachstum anzuleiten. Dabei begann Watchmans fleißiges Schriftstudium Früchte zu tragen. Er entwickelte eine große Klarheit in der Bibelauslegung.

In Wang Tsais Haus war ein Raum groß genug für Versammlungen. Ein paar Menschen pflegten sich dort zu Gebet und Bibelstudium zu treffen. Eines Sonntagabends im Jahre 1922 feierte eine kleine Gruppe von vier Personen in diesem Raum das Abendmahl. Es waren Wang Tsai und seine Frau, Watchman und seine Mutter. Sie fanden so viel Freude und Erleichterung dabei, den Herrn ohne festen Ritus, ohne Priester oder Pastor anzubeten, daß sie dies von da an häufig taten. Nach einigen Wochen gesellten sich auch andere dazu, Simon Meek, Wilson Wang, Faithful Luke und ein zweiter aus dem Dienst ausgeschiedener Marineoffizier, John Wang, der aber nicht mit den anderen Wangs verwandt war.
Ende 1922 besuchte wieder eine Frau, eine ausgeprägte Persönlichkeit, Futschou, um eine Evangelisation zu halten.
Ruth Lee (Li Yuen-ju) war klein von Wuchs, hatte aber ein feuriges Temperament. Sie stammte aus Tientsin und war jetzt als Lehrerin in einem Nankinger College angestellt. Früher war sie überzeugte Atheistin gewesen und hatte Chen Tu-hsius »Neue Jugend« verschlungen. Nach Nanking war sie als Leiterin einer Regierungsschule gegangen. Dort hatte sie sich bei ihrer Ankunft gebrüstet: »Obwohl sich die ganze Welt dem Christentum zuwendet, werde ich niemals glauben.« Als sie erfuhr, daß unter den Mädchen das religiöse Interesse schon geweckt war, verbrannte sie die Exemplare des Neuen Testaments, die sie finden konnte, öffentlich. Zwei Schülerinnen begannen deshalb mit der Lehrerin Christiana Tsai um ihre Bekehrung zu beten. Dann wurde die Schule wegen einer Epidemie geschlossen, und Ruth mußte einige Schülerinnen auf dem Kanalboot in ihre Dörfer begleiten. Diese ruhige Fahrt durch den Frühling und die sprossenden Weizenfelder weckte in ihr den Gedanken an den Schöpfer all dieser Schönheit. Eine neue Sehnsucht erwachte in ihrem Herzen, heimlich las sie die Bibel, und endlich fand sie Jesus Christus als ihren Erlöser. Sie legte dann ihren Posten in der Regierungsschule nieder und fand Anstellung in der Mission. Christus sollte von nun an ihre ganze Zeit gehören.

Da Wang Tsai Ruth Lee zur Zeit seiner eigenen Bekehrung in Nanking kennengelernt hatte, lud er sie ein, noch etwas länger zu bleiben und vier Tage lang Versammlungen in seinem Haus zu halten. Es sollten bemerkenswerte Versammlungen werden. Der Raum war gepackt voll von Männern und Frauen, von alten und jungen Leuten, und es war eine Zeit großen Segens.

Für wenigstens einen Schüler, Faithful Luke, wurden sie zum Wendepunkt in seinem geistlichen Leben. Mit einem Herzen, das nach Gott hungerte, hatte er damals alle Versammlungen von Dora Jü besucht und in den folgenden zwei Jahren eifrig an der Tätigkeit der christlichen Schülergruppe teilgenommen. Die volle Heilsgewißheit erlangte er erst durch Ruth Lees Predigten. Zwei andere fanden zu dieser Zeit ihren Erlöser, und es wurde notwendig, die Versammlungen fortzusetzen, auch nachdem Ruth Lee abgereist war. Junge Männer gingen auf die Straßen hinaus und luden die Leute ein, und Wang Tsai, Watchman Nee und John Wang predigten abwechselnd vor einer wachsenden Zahl von Zuhörern.

. . .  Simon Meek war dreißig Meilen flußabwärts gereist, um in seiner Heimatstadt Lien Kiang einen kurzen Urlaub zu machen. Er war kaum eine Woche fort, als eine Postkarte von Watchman eintraf: »Es ist sehr dringend! Gott tut hier große Dinge, und wir brauchen deine Hilfe. Bitte komm schnell zurück!«

Obwohl rivalisierende Armeen die Stadt und ihre Umgebung unsicher machten, begab sich Simon Meek sofort auf die gefährliche Rückreise. Was er vorfand, setzte ihn in Erstaunen. Gottes Geist war an der Arbeit, und die Schüler, zum Glauben an Jesus gekommen, waren völlig verwandelt. Ihre Freude, die demütige Danksagung bewegten Simon so tief, daß er sich erneut der Nachfolge des Herrn weihte. »Hier auf der Erde ist es schon wie im Himmel«, schrieb er in jenen Tagen.  . . .

Nach Simon Meeks Berichten war es Watchman, der diese Unternehmen plante und anführte. Noch während er mit der Schar zog, leitete er die weniger Erfahrenen im Gespräch an. Er war um die Zukunft dieser jungen Zeugen besorgt, die so viel für die Ausbreitung des Gottesreiches bedeuteten, und so bestand er darauf, daß die Zeit außerhalb der Evangelisation für die Bibelunterweisung genützt würde. Gottes Ziele sollten sie erkennen und die hohen Ansprüche, die Jesus an seine Jünger stellt.

Um selbst im geistlichen Leben zu wachsen, fuhr er nun oft nach Pagoda, wo manchmal bis zu zwei Dutzend junger Männer und Mädchen die Bibelklasse der englischen Damen besuchten. Margaret Barber gab hauptsächlich den Unterricht. Watchman selbst schätzte ihren Rat und ihre Freundschaft mehr und mehr.  . . .

Im Frühlings 1923. Eine Gruppe der Wiedergeborenen hatte um die Taufe gebeten. Für die Brüderschar war dies von großer Bedeutung. »Jeder, der erlebt hat, wie sich in einem heidnischen Land Menschen zu Christus bekehren«, führt Watchman aus, »weiß, was für eine große Wirkung eine Taufe hat.«  . . .

Margaret Barber schalt Watchman oft, doch zu Faithful Luke bemerkte sie eines Tages: »Er wird einmal ein großer Prediger werden.«
In späteren Jahren erkannte er ihren Einfluß auf seinen Lebensweg wiederholt an:
»Ich hielt sie immer für eine erleuchtete Christin. Wenn ich nur ihr Zimmer betrat, fühlte ich mich sogleich in die Gegenwart Gottes versetzt. In jenen Tagen war ich noch sehr jung und hatte viele Pläne, viele Entwürfe, die der Herr billigen sollte, hundertundein Dinge, die ich mir herrlich vorstellte, wenn sie in die Tat umgesetzt würden. Mit all diesem kam ich zu ihr, um sie zu überreden, um ihr zu sagen, daß dies oder jenes das einzig Richtige sei. Aber ehe ich noch den Mund aufmachen konnte, sagte sie ein paar ganz alltägliche Worte – und die Erkenntnis dämmerte mir. Ich schämte mich einfach. Mein Planen war so natürlich, so menschlich, und hier war jemand, der nur für Gott lebte. Ich mußte Gott rufen: ›Herr, lehre mich, diesen Weg auch zu gehen‹«.

Etwa um diese Zeit gab sie ihm die Biographie der französischen Mystikerin Jeanne de la Motte Guyon (1648-1717) zu lesen, die von Ludwig XIV. um ihres Glaubens willen in die Bastille gesperrt wurde. In Frau Guyons Schriften bewegte ihn der Ausdruck ruhiger Ergebung in Gottes Willen sehr und hatte einen starken Einfluß auf sein künftiges Denken. Dieses Buch vertiefte irgendwie sein Bewußtsein von den unsichtbaren, ewigen Dingen. Eine andere Frucht der Lektüre, die Watchman von Margaret Barber erhielt – Schriften von G. H. Pember, Robert Govett und D. M. Panton –, war der Sinn für das Endzeitliche. Die nahe bevorstehende Wiederkunft Jesu war etwas, worauf man sich mit großer Dringlichkeit vorbereiten mußte. Faithful Luke erinnert sich, wie Watchman in dieser Zeit das Buch Daniel und die Offenbarung mit großer Begeisterung und sehr wirkungsvoll auslegte.

Aber nicht alles ging glatt. In dieser Zeit zeigte ihm Gott, daß er während der Ferien das Evangelium auf einer Insel predigen solle, die häufig von Piraten heimgesucht wurde. Es kostete einen Kampf, bis er diesen Ruf annahm. Was würde Gott alles tun, wenn er gehorchte! Nach viel Gebet besuchte er die Insel, die weit draußen in der Trichtermündung des Min lag. Zu seiner Freude stellte er fest, daß die Leute ihn willig aufnehmen würden. Nach einigen Schwierigkeiten mietete er ein Haus, ließ es ausbessern und machte alles für seinen Einzug bereit. Dieser Plan beschäftigte auch die Brüder, und um die hundert von ihnen beteten für ihn und hatten schon zu den Kosten beigesteuert. Während dieser ganzen Zeit erhoben seine Eltern keinen Einspruch. Doch fünf Tage, ehe er hinüberfahren wollte und als schon alles gepackt war, schritten sie ein und verboten ihm die Reise. Das Haus stand bereit, das Geld war ausgegeben, der Wille Gottes brannte in seinem Herzen. Was sollte er tun? Seine Eltern sagten Nein, und Gott hatte gesagt: Ehre Vater und Mutter!
Tief bekümmert suchte er Licht von Gott. Ja, es war Gottes Wille, daß er ging. Andrerseits durfte er seinen Weg nicht erzwingen. So erkannte er Gottes Willen darin, daß er sich seinen Eltern unterwarf und wartete und es Gott überließ, seinen Willen auf andere Weise walten zu lassen.

Die Schwierigkeit bestand nun aber darin, daß Watchman den anderen nicht erklären konnte, warum sein Plan sich zerschlagen hatte. »Alle mißverstanden mich«, berichtet er, »und der, auf dessen gute Meinung ich den größten Wert legte, meinte: Es wird schwierig sein, dir in Zukunft noch zu trauen.«
Lang und bitter grübelte er über diesem Problem, bis er eines Tages im Matthäusevangelium auf Jesu Worte über die Tempelsteuer stieß: »Die Söhne sind frei. Doch, um ihnen keinen Anstoß zu geben, nimm es und gib es für mich und dich.« Sogleich fühlte er die Bedeutung, die auf dem kleinen Wort »doch« liegt, und begriff. Selbst Jesus paßte sich denen an, die an der Freiheit, die er besaß, Anstoß nehmen würden. Jahre später konnte er seine Erfahrung im Licht der Kreuzigung deuten. »Der Wille Gottes mag klar und unmißverständlich sein, doch manchmal führt er uns auf einem Umweg an sein Ziel. Unserem Selbstgefühl gefällt es sehr zu sagen: Ich tue den Willen Gottes! Und es führt uns dazu anzunehmen, daß uns nichts auf der Welt daran hindern dürfte. Dann erlaubt Gott eines Tages, daß sich uns ein Hindernis in den Weg stellt. Wie das Kreuz Christi durchkreuzt es nicht nur unseren Eigenwillen, sondern alles, unseren Eifer, unsere Liebe zum Herrn. Und das anzunehmen, ist äußerst schwer für uns.« Zu jener Zeit konnte er es noch nicht annehmen, er fühlte nur Groll gegen seine Eltern, und die Hauptschuld gab er seiner Mutter. Es dauerte eine Weile, bis er darüber hinwegkam.

Er fragte Margaret Barber, ob sie ihm nicht ein Buch zum Thema »Kreuz« leihen könne. Ja, sie hatte zwei Bücher, aber sie würde sie ihm jetzt noch nicht geben, sie wollte warten, bis er reif genug dafür wäre.
»Ich konnte diesen Grund nicht verstehen«, berichtet er. »Ich wollte diese beiden Bücher so brennend gern haben und verschaffte sie mir durch eine List. Ich erfragte von ihr die Titel und die Autoren, ohne daß sie merkte, warum, und schrieb dann an Frau Penn-Lewis, die mir die Bücher als Geschenk sandte und auch noch einen netten Brief dazu schrieb. Das eine hieß »Das Wort vom Kreuz«, und das andere »Das Kreuz von Golgatha und seine Botschaft«. Ich las sie sehr aufmerksam, doch obwohl ich eine gewisse Hilfe erhielt, beantworteten sie zu meiner Enttäuschung meine Frage nicht. Es ist nicht Gottes Art, uns schnelle Antworten zu geben.«
Wegen eines Streiks wurde die Schule im letzten Monat des Sommersemesters geschlossen. Faithful Luke und vier andere benutzten diese Gelegenheit, um in der Taufe ihren Bruch mit der Welt und ihr Einswerden mit dem Herrn zu bezeugen.
Dabei machte Luke eine typische Erfahrung: Ein einflußreicher Onkel aus Ku-tien eilte herbei, der fürchtete, sein als Anglikaner erzogener Neffe habe sich damit den Weg zur St. Johns Universität selbst verbaut, und drängte ihn, seine Tat – die Taufe – zu bereuen. Doch Luke erwiderte: »Meine Reue gilt meinen Sünden. Ich bin in Frieden.«

Auch der Direktor der Schule dachte, daß Luke den Verstand verloren habe. Das Dreifaltigkeits – College war das Sprungbrett für den Staats- oder Missionsdienst, und die Schüler stiegen von dort oft zu einflußreichen Stellungen auf.
»Heißt das, daß du nicht weiterstudieren willst?« fragte er Luke. »Nein, ich werde das Evangelium predigen«, lautete die heftige Antwort.
Der Direktor, selbst Missionar, war aufrichtig bekümmert. Er fürchtete, daß Nee einen schlechten Einfluß auf die Schülergemeinschaft ausübte.
»Geh und bete«, sagte er zu Luke, »und komm nach drei Nächten wieder zu mir.« Doch als Luke wiederkam, hatte er seinen Sinn nicht geändert.
»Ich habe beschlossen, dem Herrn Jesus allein zu dienen«, verkündete er. Sein Leben lang stand er zu dieser Entscheidung.

Die beiden jungen Männer, die mit ihm das College verließen, erhielten eine Anstellung bei der Zollbehörde, während Luke selbst nach Pagoda ging. Für die englischen Damen war dies eine überschwengliche Antwort auf ihr langes, beharrliches Beten. Margaret Barber lud Luke ein, sich um die jungen Männer zu kümmern, die zu ihr in den Unterricht kamen, während ihre Gefährtin die Frauen betreute. Luke blieb sechs Jahre dort. Watchman und Wilson waren noch ein Jahr auf dem Dreifaltigskeits – College. Der religiöse Eifer hielt an. Sie hatten täglich drei Gebetsstunden, eine am frühen Morgen und zwei am Abend. Auch in der Stadt machte die Verkündigung des Evangeliums Fortschritte, da Wang Tsai und John Wang Abend für Abend in dem kleinen gemieteten Saal predigten. Sonntags wurde dort jetzt regelmäßig das Abendmahl gefeiert.

Watchman widmete indessen alle Zeit, die er erübrigen konnte, dem geistlichen Wachstum der Bekehrten und jungen Mitarbeiter. Er gab die »Erweckung« heraus, ein vervielfältigtes Blatt, das Bibelstudien enthielt und das in einigen Nummern erschien. Im Februar fand dann die Neujahrskonferenz statt, und als im Frühling die Ferien begannen, zogen die jungen Männer wieder hinaus in die Dörfer. Das Sommersemester wurde durch schwere Überschwemmungen gestört, die mit ihrem starken Druck die niedrigen Bogen der alten Brücken gefährdeten und Cholera und andere Plagen in die Häuser am Fluß brachten. Doch die Jungen konnten ihr letztes College-Jahr beenden. Wilson war Primus und Watchman Nee mit geringem Abstand Zweiter.
Watchman war jetzt einundzwanzig Jahre alt. Im Examen trug er einen Zehn-Dollar-Talar, den ihm seine Großmutter väterlicherseits, die scharfzüngige Dame aus Kanton, gekauft hatte. Sie war mit ihrer Schwiegertochter wieder völlig ausgesöhnt
Gott hatte in den letzten zwölf Monaten ganze Scharen bekehrt – in den Colleges, in der Stadt und ringsumher auf dem Land. Jetzt bei Semesterschluß versammelten sich die Studenten, um ihm dafür zu danken.

6. Die Glaubensprobe

Die Chang-Familie lebte jetzt in Tientsin, wo Chang Chuenkuan als Pastor bei der »Christian and Missionary Alliance« beschäftigt war. Von Zeit zu Zeit kehrten sie nach Futschou zurück. Sie blieben eng mit den Nees befreundet, und da sich die ehemals strengen Sitten lockerten, konnten die heranwachsenden Kinder innerhalb des Hauses frei miteinander verkehren. Diese Begegnungen hatten in Watchman ein Interesse für seine einstige Spielgefährtin Charity geweckt, die klug und außerordentlich hübsch war.

Doch Watchman, der seinen Erlöser gefunden und dessen Weltanschauung sich so vollkommen gewandelt hatte, wollte nach der Abschlußprüfung, wie Faithful Luke vor ihm, weder das St. Johns College besuchen, noch sonst irgendwie seine Ausbildung fortsetzen – von jetzt an sollte sein Leben der Predigt von Jesus Christus gehören. Es scheint, daß er diese weitreichende Entscheidung allein und aus persönlicher Überzeugung traf.
Damals wurde ihm klar, wie sehr Charity Chang seine Gedanken beschäftigten. Von Heirat war noch nicht gesprochen worden, aber er dachte manchmal daran. Da brachte ihm ihre nächste Begegnung Klarheit. Charitys weltliche Neigungen, ihre Leidenschaft für elegante Kleider, sagten ihm genug. Sie teilte in keiner Weise seine Liebe zum Herrn, und dieser Liebe durfte nichts vorgezogen werden. Charity verfolgte eigene Ziele, sie strebte nach weltlicher Ehre und nach Erfolg, die ihm nichts mehr bedeuteten. Es war klar, daß sie beide in verschiedene Richtungen lebten.

Eine Weile schob er das Problem auf, bis er eines Tages Psalm 73, 25 las: »Es gibt nichts auf der Erde, das ich begehre, außer dir.« Und der Geist Gottes ließ ihn innehalten: »Du hast ein verzehrendes Verlangen auf Erden. Du solltest deine Neigung zu Charity Chang aufgeben. Welche Befähigung hat sie denn, die Frau eines Predigers zu sein?«
Seine Antwort bestand in dem Versuch zu einem Handel. »Herr, ich will alles für dich tun. Wenn du willst, daß ich das Evangelium zu den entferntesten Stämmen bringe, so will ich das tun. Nur dies kann ich nicht.«
Wie konnte er, der gerade einundzwanzig geworden war, sein Herz von einem Mädchen losreißen, mit dem er sich so viel beschäftigt hatte?

Er stürzte sich in die Evangelisationsarbeit. Viele Türen standen ihm offen, und nachdem er an der Neujahrskonferenz in Futschou teilgenommen hatte, widmete er sich der Arbeit in den Dörfern und wieder besonders dem Unterricht der neu Bekehrten.
Dabei mußte er eine neue Lektion lernen. »In dem Jahr nach meiner Bekehrung«, berichtet er, »hatte ich große Lust zu predigen. Es war mir unmöglich zu schweigen. Es war, als würde ich vorwärtsgetrieben, und ich mußte einfach gehen. Das Predigen war mein Leben geworden.« Er hatte eine gute Schulbildung und war in der Schrift beschlagen und hielt sich für äußerst befähigt, die Landleute zu unterweisen, deren Frauen meistens Analphabeten waren. Aber nachdem er eine Gruppe mehrmals besucht hatte, erhielt sein Selbstgefühl einen empfindlichen Dämpfer. Er entdeckte, daß diese Frauen, obwohl sie nicht richtig lesen konnten, zu einem vertrauten Umgang mit dem Herrn gelangt waren. »Ich kannte das Buch, aus dem sie stockend vorlasen, sie aber kannten den Einen, von dem das Buch sprach.« Das war eine erste Erfahrung mit dem göttlichen Gesetz des Fruchtbringens: »Ohne mich könnt ihr nichts tun.«

In dieser Zeit erlebte er auch, was es heißt, in allen materiellen Bedürfnissen allein auf Gott zu vertrauen. Seine Studiengelder hatten aufgehört, und er hatte keine bezahlte Tätigkeit in Aussicht. Unter all den Büchern, die er von den englischen Damen geliehen, hatten ihn am meisten die Berichte über Georg Müller in Bristol und Hudson Taylor von der China-Inland-Mission beeinflußt. Diese Männer hatten ihr Vertrauen auf den Unsichtbaren gesetzt und bewiesen, daß Gott hinlänglich für die Bedürfnisse in der Reichsgottesarbeit sorgt.

In seiner näheren Umgebung war ihm Margaret Barber ein lebendiges Beispiel dafür. Sie war aus England aufgebrochen nur mit der Versicherung eines jüdischen Christen: »Wenn Gott euch sendet, muß er auch die Verantwortung tragen.« Watchman wußte, wie oft sie nur noch einen einzigen Dollar besaß; aber Gott hatte sie nie verlassen. 1923 hatte sie den Brüdern erzählt, daß sie um ein Haus mit zehn Zimmer bete, um ihre Arbeit in Pagoda auszuweiten. Dabei hatte sie keine Ahnung, woher sie die Mittel dazu nehmen sollte. Watchman war erstaunt, als wenig später eine benachbarte Gewerbeschule schloß und Gott ihr zwanzig Zimmer für eine ganz geringe Miete verschaffte.

Solcher Glaube war ansteckend. Als er einmal ein Wochenende bei Margaret Barber verbrachte, war auch ein Freund von ihm anwesend, der zwei Dollar in der Tasche hatte und bis zum Montagmorgen dringend deren 150 brauchte. Samstags und sonntags fuhr das Postboot nicht. Nachdem er diese Angelegenheit vor Gott gebracht hatte, ging dieser Mann hinaus zum Predigen und traf dabei einen Mann, dem er einen Dollar schuldete. Er bezahlte seine Schuld, und der Dollar, der in seiner Tasche blieb, erhielt nun einen neuen Wert für ihn. Als er einen Bettler traf, wollte er den Dollar erst in Kupfermünzen umwechseln, ehe er ihm etwas gab. Doch Gott hemmte ihn, und er gab dem Bettler das ganze Geldstück. Als auch dieser Dollar weggegeben war, zog Gott bei ihm ein. Er ging nach Hause und schlief friedlich, und am Montag morgen erhielt er telegrafisch eine ganz unerwartete Gabe von 150 Dollar.

Für Watchman wurde dieser göttliche Grundsatz: »Gib, und dir wird gegeben« zur Lebensregel. Wenn wir uns einzig um die Bedürfnisse der anderen kümmerten, dann würde Gott, so glaubte er, unsere Anliegen zu den Seinen machen. Aber er ging noch weiter: Wir sollten niemals anderen unsere finanzielle Not offenbaren, selbst wenn solche Geheimhaltung unsere Freunde annehmen ließe, wir hätten alles reichlich. Überdies sollten wir, abgesehen von dem Genuß kurzer Gastfreundschaft, für Reichsgottesarbeit nichts von den Heiden annehmen, damit Gott den Sündern keinen Dank schulde.  . . .

Von der dortigen Mission erhielt Watchman eine Einladung, Evangelisationsversammlungen zu halten. Seine Auslagen, so nahm er als sicher an, würden ihm ersetzt werden, und nachdem er darüber gebetet hatte, telegrafierte er zurück, daß er am Freitag abreisen würde.

Das Problem war nur, wie er nach Kienning gelangen sollte. Er besaß nur etwa dreißig Dollar, und das Fahrgeld für das Motorschiff würden wenigstens achtzig Dollar kosten. Und was noch schlimmer war: Er bekam heraus, daß in Futschou ein geistlicher Bruder finanziell mindestens ebenso bedürftig war wie er selbst. Als Gott ihn am Donnerstag daran erinnerte, wußte er, daß er handeln mußte. Mit innerem Beben sandte er dem Bruder deshalb eine Gabe von zwanzig Dollar, die er durch Wang Tsai überbringen ließ.

Am nächsten Morgen erhielt Watchman von niemandem etwas, bevor er aufbrach, und als er zum Hafen übersetzte, mit nur zehn Dollar in der Tasche, betete er verzweifelt: »Herr, ich bitte dich nicht um Geld, nur darum, daß ich irgendwie nach Chien-O komme.«

Als er am Landungsplatz ankam, wurde er von dem Besitzer eines kleinen Dampfers angesprochen: »Wollen Sie nach Jenping oder nach Chien-O?«
»Nach Chien-O!«
»Dann kommen Sie doch mit mir!«
»Und was kostet das?«
»Sieben Dollar.«
Erstaunt erkundigte er sich, wie das möglich sei. Als er sein Gepäck an Bord brachte, erfuhr er, daß das Schiff von der Verwaltung gechartert sei, doch stand es dem Besitzer frei, sich noch ein wenig Geld dazu zu verdienen, indem er einen Passagier mitnahm. So machte Watchman die lange Reise unbelästigt von Banditen und ohne die endlosen Verzögerungen durch die an Bord kommenden Zollbeamten.

Es war eine landschaftlich schöne Reise durch fruchtbares Hügelland. Hier wuchsen die besten Apfelsinen der Welt, wie Watchman behauptete.  . . .

In Chien-O predigte Watchman zwei Wochen lang mit großem Freimut und 1,20 Dollar in der Tasche. Seine Botschaft kam gut an, sein Freund K. H. Weigh wurde besonders gesegnet und weihte sich Gott erneut. Zum Schluß gab es ein Abschiedsmahl, bei dem der Erzdiakon Hugh Phillips den jungen Prediger beiseite nahm. Er war ein Mann reicher Erfahrung und hatte unglaubliche Härten um des Evangeliums willen überstanden.

»Ihre Predigten haben uns sehr geholfen«, begann er, »bitte, darf ich mich an Ihren Ausgaben beteiligen?«
Ungestüm erwiderte Watchman:
»Das ist nicht nötig. Es ist für alles gesorgt.« In Wahrheit bereitete es ihm ein unbehagliches Gefühl, Hilfe von einer Mission anzunehmen. Er war sicher, daß Gott auf seine Weise helfen würde.

Aber am nächsten Tag, als ihn viele neugewonnene Freunde zum Boot begleiteten, betete er: »Herr, du kannst mich nicht einfach hierherführen und mich dann nicht wieder nach Hause bringen.« Auf halbem Weg überholte sie ein Bote mit einer Nachricht von Hugh Phillips: »Obwohl Sie jemanden haben, der die Fahrt für Sie bezahlt, lassen Sie Ihren alten Bruder auch einen kleinen Anteil daran haben, indem Sie das Einliegende annehmen.« Da er Gottes Hand darin erkannte, nahm er dies Unterpfand der Freundschaft an. Es war weit mehr, als er brauchte, denn dasselbe Charterboot war wieder da und im Begriff, die Rückreise anzutreten, mit demselben freien Platz und demselben niedrigen Fahrpreis.  . . .

Das war eine Erfahrung, die er nie vergessen sollte. Wie er es später ausdrückte: »Gottes Art ist es nicht zu sagen: Spare, und du wirst reich werden! sondern: Gib, und es wird dir gegeben werden, ein gutes, gerütteltes, überfließendes Maß.«

Doch in Nantai hatte sich Watchmans Beziehung zu seinen Mitarbeitern gewandelt. Es ist im einzelnen nicht klar, was zu dem Beschluß der älteren Brüder (Wang Tsai und John Wang, von einigen anderen unterstützt) geführt hatte, Watchman aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen. Gewiß, er hatte sie enttäuscht, als er nicht auf die Pirateninsel ging. Doch nicht dies, sondern eine einzige grundsätzliche Streitfrage wurde damals von den Beteiligten angeführt, und es ist überraschend, daß sie bei diesen jungen Menschen auftauchen konnte.
In seiner Suche nach einem neuen Durchbruch in der Arbeit für das Evangelium hatte Watchman versucht, auf die Grundlagen zurückzugreifen. Gott selbst, so sah er, ist der Urheber jeder Arbeit, die wirklich als die Seine bezeichnet werden kann, und Gott muß auch ihr Ziel sein. Was aber lag zwischen Ursprung und Ziel? Handelte Gott nicht auch da in einem gewissen Sinne, mußte er nicht die Kraft dazu geben?

Hier, meinte Watchman, war ein Punkt, den die Christen im allgemeinen übersahen. Er drückte es so aus: »Wenn wir einen begabten, redegewandten und tatkräftigen Menschen sehen, der auch für die Verwaltung Geschick hat, dann meinen wir: ›Was für ein Gewinn würde dieser Mensch für die Sache Christi sein!‹ Aber damit würden wir behaupten, daß, während Gott Anfang und Ende ist, der mittlere Teil Menschenkraft überlassen wäre.«
Trotz seines eigenen evangelistischen Eifers wurde er von den Worten Jesu beunruhigt: »Der Sohn kann nichts aus sich selbst tun, sondern er tut, was er den Vater tun sieht«, und durch seine Worte an Paulus: »Meine Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung.« Dies schien ihm die Haupttriebfeder alles wahren Wirkens für Gott.

Während der Neujahrskonferenz hatte Watchman versucht, diese Gedanken weiterzugeben. Er hatte über das Alte Testament, und zwar »Das Zeugnis Gottes durch die Bundeslade«, gesprochen – ein Thema, das uns seine gelegentlichen Ausflüge in die Allegorie veranschaulichen kann:
In Jericho, so sagte er, hatte die Gegenwart der Bundeslade den Fall der Stadt bewirkt. Später, als das Volk besiegt war, während der priesterliche Dienst in Silo noch hinsiechte, war es dieselbe Bundeslade, zu der Gott sich in der Verbannung bekannte, sehr zum Mißvergnügen derer, die sie geraubt hatten. Die Frage, die Watchman stellte, lautete: Wie kann Gott heute noch eine Arbeit oder Arbeiter finden, denen er sich so anvertrauen könnte?

Als Antwort deutete er auf den Inhalt der Bundeslade: die Gesetzestafeln, das verborgene Manna und Aarons Stab, der Knospen trieb. Dieser Stab war dort zur Erinnerung an eine dunkle Nacht und einen Auferstehungsmorgen aufbewahrt. Dies deutete, so glaubte er, auf den einen sicheren Weg für jeden Diener Gottes, Frucht zu bringen. Wir wirken nicht für Gott, wenn wir bloß den offenen Türen und den großen Gelegenheiten nachjagen. Sehr oft muß man auch um eines neuen Lebens willen, das kein Mensch aus sich hervorbringen kann (veranschaulicht durch den knospenden Zweig), eine dunkle Nacht mit Geduld ertragen. Dies Auferstehungsleben in seiner vollen Bedeutung war in Sicht, als Jesus das Kreuz bestieg, und der Diener ist nicht größer als sein Herr.
Diese Bibelauslegung war in der Zeitschrift abgedruckt, die er in unregelmäßiger Folge herausgab. Eine Nummer war mit der Gabe des Erzdiakons Phillips in Chien-O bezahlt worden. Watchman glich damals noch nicht durch sorgfältige redaktionelle Arbeit die Übertreibungen aus, mit denen der Prediger seinen Aussagen Nachdruck zu verleihen sucht, und es mag die allzu quietistische Auffassung vom christlichen Dienst gewesen sein, die das Mißfallen der Brüder erregte. Dazu kam ein Druck von außen. Die antichristliche Bewegung hatte in den Städten einen Höhepunkt erreicht, und so hätte man es in manchen Missionskreisen vorgezogen, wenn das Zeugnis der Studenten weniger kompromittierende Formen angenommen hätte.

Wenige konnten das Format von Wang Tsai und John Wang leugnen, beide schlagartig bekehrte Marineoffiziere, hoffnungsvolle Männer, die man vielleicht in das Establishment einordnen konnte. Wang Tsai war kürzlich in Schanghai von Missionaren formell ordiniert worden.

Watchman dagegen war weniger anpassungsfähig. Er war eine mögliche Quelle der Spaltung und dies zu einer Zeit, da man sich vor jeder Verwirrung unter den Gläubigen hüten mußte. Einige Missionare verboten den Studenten, Watchmans Erweckungsversammlungen zu besuchen, und ein Missionar bezeichnete ihn als »Teufel und Betrüger«.

So kam es, daß ihn seine engsten Freunde, die Wangs, aufforderten, nicht mehr an den Gottesdiensten der Gruppe teilzunehmen. Diesen Schritt bereuten bald viele, und von den meisten wurde diese Entscheidung später zurückgenommen. »Wir taten etwas sehr Törichtes. Aber vielleicht wurden wir auch von der Eifersucht geleitet, denn Bruder Nee war so sehr viel begabter als wir anderen.«
Doch für eine Weile blieben diese Beschränkungen in Kraft, und zu Watchmans großem Kummer heilte der Bruch mit einigen der Brüder niemals vollständig aus.

Watchman ging nach Ma-shien, einem Dorf in der Nähe von Pagoda, und mietete dort eine winzige Hütte, deren Fenster auf den Hafen hinausgingen. Diese neue Bleibe machte er nun zum Ausgangspunkt für seine Predigtreisen, und hier begann er auch ernsthafter an seiner Zeitschrift zu arbeiten. Ein oder zwei junge Brüder blieben bei ihm, und Faithful Luke war am anderen Ufer des Min auch nicht so weit entfernt.

Um diese Zeit erhielt Watchman den Besuch einer Ärztin des C.M.S.-Missionskrankenhauses stromabwärts. Fräulein Li hatte einen Jungen adoptiert und aufgezogen, aber er war nicht gut geraten. Als er sechzehn war, wurde er von der Schule gewiesen, und nun brachte sie ihn verzweifelt nach Ma-shien und bat Watchman um Hilfe. Dieser nahm den Burschen – Kuo-ching hieß er – auf und gab ihm Bibelunterricht, und es dauerte nicht lange, bis der Junge eine echte Bekehrung erlebte. Zum Entzücken seiner Mutter und der ganzen Familie zeugte auch sein Betragen von diesem Wandel.

Als man sich im Januar 1925 auf das Neujahrsfest und mit ihm auf die übliche Konferenz in Futschou vorbereitete, die die Gläubigen aus der Stadt und dem Umkreis vereinigte, ließ Wang Tsai  Watchman wissen, daß sein Besuch in Futschou nicht erwünscht sei. Die Kritik an ihrer Arbeit richtete sich hauptsächlich gegen ihn, Watchman, und sie würden es leichter ohne ihn haben.

Dieses Ansinnen, so gibt Watchman zu, nahm ihm den Frieden in Christus und allen Mut. In seiner höchsten Not bestieg er die Fähre zum Weißen Zahnfelsen, um seine Ratgeberin aufzusuchen. »Dahin ist es nun gekommen!« rief er und erklärte ihr, was geschehen war. Sie entgegnete nur sehr wenig, aber durch ihr Schweigen zeigte sie ihm, wie sehr sie mit ihm fühlte.
Dann suchte er Faithful Luke auf, der, obwohl er den älteren Brüdern in Futschou die Treue hielt, tief bekümmert über ihren Bruch mit seinem Freund war. Zusammen suchten sie Gott im Gebet. Watchman war nüchtern genug, um Kritik anzunehmen, und er stellte seine Frage demütig: Hatte er trotz der vielen echten Bekehrungen, die sie in diesem Jahr erlebt hatten, Gott auf irgendeine Weise mißfallen? Hatte er den Brüdern einen Grund für ihre Haltung gegeben?
Während sie beteten, erhielten sie die klare Antwort: »Überlaßt mir euer Problem! Geht und predigt das Evangelium!«

Faithful Lukes Mutter arbeitete damals als Hebamme in dem Dorf Mei-hwa am südlichen Arm der Trichtermündung des Min. Hier herrschte noch finsteres Heidentum, die Leute wußten nichts vom Evangelium. Faithful und Watchman beschlossen deshalb mit vier anderen, die Festtage dort zu verbringen und Christus zu predigen. In letzter Minute schloß sich ihnen der eben bekehrte Li Kuo-ching an, so daß sie sieben waren. Sie meldeten sich im voraus bei einem früheren Schüler des Dreifaltigkeits – Colleges an, der jetzt dort Schulleiter war; doch als sie nach Einbruch der Nacht in Mei-hwa an Land gingen, verweigerte er ihnen die Benutzung des leeren Schulgebäudes. Schließlich fanden sie auf dem Dachboden eines freundlichen Kräuterhändlers Bretter und Stroh für die Nacht.
In den ersten Tagen waren die Fischer und Bauern mit den üblichen Feierlichkeiten beschäftigt: mit zeremoniellen Besuchen, vegetarischen Mahlzeiten, Ahnenkult, Glücksspielen, Entzünden von Feuerwerkskörpern, Spenden für mildtätige Zwecke. Am vierten Tag unterhielten sie ihre verschiedenen Hausgötter mit Opfergaben. Kein Wunder, daß sie nicht zuhören wollten. Aber als selbst am neunten Tag noch kein Echo auf die Predigt der sieben Aufrechten kam, wurde der junge Li Kuo-ching ungeduldig.
»Was stimmt nicht? Warum glaubt ihr nicht?« fragte er die Leute.

Man erzählte ihm von ihrem zuverlässigen Gott Ta-Wang (Großer König), dessen Festtag, durch Weissagung bekanntgegeben, dieses Jahr auf den elften Januar festgelegt war. Während der letzten 286 Jahre hatte er ihnen, versicherten sie, immer Sonnenschein für den erwählten Tag verschafft.
»Dann verspreche ich euch«, rief der halsstarrige Li, »daß unser Gott, der der wahre Gott ist, es am 11. regnen lassen wird.« Sogleich gingen die Zuhörer auf diese Herausforderung ein.
»Sag nichts mehr! Wenn es am 11. regnet, dann ist euer Jesus in der Tat Gott, und wir werden bereit sein, von ihm zu hören.«

Watchman hatte an einer anderen Stelle des Dorfes gepredigt, und als ihn die Nachricht, die sich wie ein Steppenbrand ausbreitete, erreichte, war er entsetzt. Die Ehre des Herrn schien dem Zufall überlassen, denn sie hatten ihn leichtfertig auf etwas festgelegt, was er vielleicht gar nicht unterstützen wollte. Er wußte, daß sie alle sieben – und nicht nur Li allein – die Verantwortung dafür tragen mußten. Doch wenn Gott nicht darauf einging, welche Zukunft hatte das Evangelium dann auf diesen Inseln? Hatten sie gesündigt? wiederholte er die Frage, die er Gott erst vor einigen Tagen gestellt hatte. Sollten sie jetzt aufgeben und diesen »Großen König« Ta-Wang unumschränkt regieren lassen? Als sie wieder in ihrem Quartier waren, suchten sie Gottes Antlitz in großer Demut, bereit, eine Zurückweisung zu erhalten.

Dann empfing Watchman das Wort: »Wo ist der Gott des Elias?« und dies war die Zusicherung, daß es am 11. regnen würde. Es war so eindeutig, daß sie hinausgingen und diese Herausforderung laut verkündeten.
An diesem Abend beunruhigte ihr Gastgeber sie, indem er die Aussage der Dorfbewohner bestätigte. Der Gott Ta-Wang war der Hüter von Frieden und Ordnung, er beschützte seine Anhänger vor Krankheit, ihre Felder vor Unwettern, ihre Frauen bei der Entbindung. An seinem Festtag konnte man damit rechnen, daß er ihren Eifer mit einem wolkenlosen Himmel belohnte. Darüber hinaus erinnerte sie der Mann daran, daß die Hälfte der Dorfbewohner Fischer waren, die Monate auf der See zubrachten und wenigstens für einige Tage das Wetter zuverlässig voraussagen konnten.

Als die Brüder das hörten, beteten sie wieder um Regen, und wieder empfingen sie das Wort des Propheten: »Wo ist der Gott des Elias?«
Am nächsten Tag setzten sie auf eine nahegelegene Insel über – die Pirateninsel, auf die Watchman früher hatte gehen wollen. Dort bekehrten sich sogleich drei Familien zu Christus, bekannten sich zu ihm und verbrannten öffentlich ihre Götzen. Spät kehrten die Brüder zurück, müde, aber glücklich.
Am nächsten Morgen – es war der 11. – schliefen sie lange. Watchman erzählt, wie er von den Sonnenstrahlen erwachte, die durch das einzige Dachfenster auf ihn fielen. Es regnete nicht! Und es war schon nach sieben Uhr. So erhob er sich, kniete nieder und betete: »Herr, bitte schicke uns Regen!« Da klangen ihm sogleich wieder die Worte in den Ohren: »Wo ist der Gott des Elias?«

Schließlich saßen sie alle beim Frühstück, die sieben Brüder und ihr Gastgeber, alle sehr still. Es war keine Wolke am Himmel, und doch wußten sie, Gott hatte sich verpflichtet. Als sie den Kopf senkten, um vor dem Essen zu beten, meinte Watchman: »Ich denke, die Zeit ist da. Der Regen muß jetzt kommen. Wir können den Herrn daran erinnern.« Still taten sie das, und noch ehe sie Amen sagten, hörten sie die ersten Tropfen auf das Dach fallen. Als sie ihren Reis aßen, ging ein Schauer nieder, und als sie ihre Schalen zum zweiten Mal füllten, rief Watchman: »Laßt uns Dank sagen!« Draußen schüttete es wie mit Eimern, als sie ihre zweite Reisportion zu essen begannen. Als sie fertig waren, stand die Straße schon unter Wasser, es floß über die drei Stufen, die zur Haustür des Kräuterhändlers führten.
Schon als die ersten Tropfen fielen, hatten ein paar der jüngeren Dorfbewohner offen gesagt: »Das ist Gottes Hand, Ta-Wang ist nicht mehr! Der Regen hat ihn zu Hause festgehalten.«

Aber seine Anhänger gaben nicht auf. Sie trugen den Gott in einer Sänfte hinaus, denn gewiß würde er dem Schauer ein Ende bereiten. Aber dann stolperten die Träger der Sänfte im strömenden Wasser, und mit ihnen glitt auch Ta-Wang zu Boden. Der Gott brach sich den Kiefer und den linken Arm. Seine Anhänger besserten ihn eilig aus und setzten ihn wieder in die Sänfte. Sie zogen oder trugen ihn durch die Straßen von Mai-hwa, bis die niederstürzende Flut sie endgültig vertrieb. Einige der älteren Dorfbewohner, Männer zwischen sechzig und achtzig Jahren, barhäuptig und im Glauben an Ta-Wangs gutes Wetter ohne Schirm, hatten sich im Fallen verletzt.

Der Götze wurde in ein Haus getragen, und das Orakel erneut befragt. »Heute war der falsche Tag«, kam die Antwort. »Das Fest muß am 14. stattfinden mit einer Prozession um sechs Uhr am Abend.«
Als diese Nachricht sie erreichte, kamen die Brüder sogleich wieder zum Gebet zusammen. Am Nachmittag klärte sich der Himmel auf, und jetzt hatten sie aufmerksame Zuhörer für das Evangelium. Gott schenkte ihnen mehr als dreißig echte Bekehrungen in Mai-hwa und auf den Nachbarinseln während dieser drei kurzen Tage.
Der 14. Januar brach an, ein strahlender Tag, und wieder hatten sie eine große Zuhörerschar. Als der Abend nahte, trafen sie sich und brachten zu der festgesetzten Stunde – »um sechs Uhr am Abend« – die Angelegenheit vor Gott. Seine Antwort kam nicht eine Minute zu spät. Wolkenbruchartige Regenfälle und Fluten brachen wie beim ersten Mal herein. Satans Macht, die sich in diesen Götzen manifestiert hatte, war gebrochen, und Ta-Wang würde nie mehr ein angesehener Gott sein.
Am nächsten Tag war ihre Zeit abgelaufen, denn die Brüder, die eine Arbeit hatten, mußten abreisen. Die Mission, zu deren Arbeitsfeld die Inseln gehörten, nahm sich der Bekehrten an. Als Watchman später auf diese Ereignisse zurückblickte, erkannte er in ihnen eine Lektion von bleibendem Wert. Das Zusammentreffen der Ereignisse war für ihn und seine Gefährten eine große Beruhigung. Wenn sie nur demütig weitermachten und sich nahe zu Gott hielten, konnte man ihm die Sorge für alle Folgen gewiß überlassen.

7. Dienst im Ausland

Von seiner kleinen Hütte aus über dem Hafen sah Watchman das Kommen und Gehen von Flußbooten und Ozeanschiffen. Flußaufwärts lagen Schiffswerft und Marineschule, flußabwärts auf der Lo-sching-Insel stand die etwa dreißig Meter hohe Pagode, die dem Hafen ihren Namen gab – Pagoda. Hier, wo die beiden Arme des Min, die acht Meilen lang die Nantai-Insel umgaben, sich vereinigten, war das Flußbett tief genug, daß große Frachter in der Mitte des Flusses liegen konnten.  . . .

Hier führte Watchman von seinem zweiundzwanzigsten bis zu seinem vierundzwanzigsten Jahr ein sehr einfaches Leben. Es wurde für ihn eine Zeit des Übergangs und starker geistlicher Entwicklung.
Er sehnte sich nach festen Zielen. Vor Jahren, als er radfahren lernte, hatte er geglaubt, er müsse seine Augen nur fest auf die Lenkstange richten; wenn sie fest stände, dann würde er davon geradeaus fahren. Doch er fuhr in den engen Straßen ständig gegen Hauswände und verletzte sich die Knöchel. Dann zeigte ihm ein Freund, wo der Fehler lag: »Sieh auf die Straße! Richte die Augen fest auf den vor dir liegenden Weg!«

Er versuchte nun, dieses Prinzip auf seine Arbeit für Gott anzuwenden. Er sah die Notwendigkeit einer guten Vorbereitung ein und legte ein anstrengendes Studienprogramm für sich fest, ahnte aber schon, daß für Gott der Prediger mindestens so viel bedeutet wie das, was er predigt. Gott wollte zuerst in ihm ausarbeiten, was er dann als Botschaft weitertragen sollte.

Zeitweise ließ Watchmans Gesundheit zu wünschen übrig, er wurde oft vom Husten geplagt, und in solchen Zeiten widmete er sich dem Studium, der Meditation des Wortes und einer ausgedehnten Lektüre, die die Kommentare von Alford und Westcott und die Biographien von Luther und Knox, Jonathan Edwards, George Whitefield und David Brainerd einschloß. Wenn es ihm besser ging, teilte er seine Zeit zwischen Predigtreisen und der Herausgabe der Zeitschrift »Erweckung«.

Dieses kleine Erbauungsblatt gab er seit 1923 heraus.  . . .
Später im Jahr führten ihn Familienangelegenheiten nach Schanghai, und dort hörte er das Neueste von Charity in Tientsin. Es war nun einige Zeit her, seit sie sich gesehen hatten, aber er hatte sie nicht aus seinen Gedanken verbannen können. Er hörte, daß sie eine glänzende Schülerin in Keans College war und an die Yenching Universität nach Peking gehen wollte. Was er von ihren gesellschaftlichen Ambitionen hörte, vertiefte in ihm die Überzeugung, daß er den Gedanken an sie aufgeben mußte, wenn er dem Herrn nachfolgen wollte. Bekümmert beschloß er deshalb, nicht mehr an sie zu denken. Er ging in sein Zimmer, kniete sich hin, übergab entschlossen und endgültig Gott die Angelegenheit und schrieb dann ein Gedicht »Grenzenlose Liebe«.

In Schanghai stieß Watchman bei seiner Bibellektüre auf die Worte Jesu: »Ich muß die frohe Botschaft vom Gottesreich auch in anderen Städten predigen, denn dazu bin ich gesandt.« Kurz danach kam ein Telegramm von seiner Mutter: »Ich bin eingeladen, in Malaya zu evangelisieren. Bist du frei, um mich zu begleiten?«
Etwa einen Monat vorher hatte Huo-ping auf der Geburtstagsfeier einer Freundin einen Mann namens Cheng aus Malaya getroffen, der geistlich in Not war. Er hatte von der wunderbaren Bekehrung der Nees gehört, und als Huo-ping nun darüber sprach, übergab er voller Eifer Gott sein Leben. Nun schrieb er ihr wegen seiner Heimatgemeinde in Sitiawan, in der nur wenige die Erlösung durch Christus kannten, die er erfahren hatte. Würde sie kommen und ihnen predigen? Huo-ping brachte die Angelegenheit vor den Herrn, und er gab ihr Bestätigung durch die Worte des Lukasevangeliums: »Ich muß die frohe Botschaft vom Gottesreich auch in anderen Städten predigen.« Daraufhin hatte sie Watchman telegrafiert, der nun von Schanghai aus zu ihr stieß.  . . .

Sie reisten auf Kosten des Herrn Cheng über Singapur und Ipoh nach Sitiawan . . . .
Während dieser Wochen hatte sich Frau Nee im Heim der Lings sehr wohl gefühlt. Sie war besonders von der ältesten Tochter Ai-king, einer vielversprechenden jungen Christin, eingenommen. In ihr sah sie die vollkommene Gefährtin für ihren Sohn. Sie sprach mit den Eltern des Mädchens darüber, nahm deswegen auch Verbindung mit ihrem fügsamen Mann auf, doch Watchman wurde weiter nicht gefragt. Da sie auch von anderen Orten zum Predigen eingeladen wurden, blieben sie länger in Malaysia, und so trafen sich die Familien wieder. Huo-ping vergaß ihre eigene bittere Erfahrung in der Jugend und trieb die Angelegenheit ungestüm voran. Der Gehorsam verlangte, daß Watchman seine Zweifel unterdrückte. Durch formellen Austausch von Karten und ein kleines Fest wurde die Verlobung verkündet, die sofort eine Quelle großer Unruhe für Watchman wurde. In einer Angelegenheit, die so tief mit Gottes Ziel für sein Leben verknüpft war, wollte er auf keinen Fall einen falschen Schritt tun. Er verbrachte einige schwere Tage im Gebet, prüfte vor Gott, was er tun sollte, und schließlich, als sie Schanghai erreichten, sagte er es seiner Mutter: Gott hatte ihm keine innere Freiheit zu einer Ehe mit Ai-king gegeben. Außerdem hatte ihm ein Bekannter der Familie Ling Negatives über Ai-king hinterbracht. Er setzte durch, daß Huo-ping die Verlobungsgeschenke zurückschickte, und er selbst schrieb an die Lings so höflich, wie er konnte, und erklärte ihnen seine Lage. Seine Mutter konnte sich nur schwer damit abfinden, denn sie liebte Ai-king bereits wie eine Tochter. So herrschte eine gewisse Spannung zwischen ihnen, als sie das Wort im Bethel – Krankenhaus auf Einladung von Dr. Mary Stone verkündeten. Aber als Huo-ping dann eingeladen wurde, in der Mädchenschule zu sprechen, erinnerte sie das an ihre eigene Verlobung, während sie dort Schülerin war, und sie begann die Dinge mit Watchmans Augen zu sehen. Auf dem Dampfer nach Futschou war sie bereit zuzugeben, daß sie sich vielleicht geirrt habe.

Der Vorzug von Watchmans Predigten lag vor allem darin, daß er den Weg zu Gott so klar aufzuzeigen wußte. Viele Christen mühten sich um eine Erlösung, die auf ihren eigenen guten Werken gründete, und unterschieden sich darin wenig von den Buddhisten. Man hatte ihnen gesagt, es sei vermessen zu behaupten, daß sie gerettet seien. Die Lehre vom neuen Leben als Gottes Gnadengeschenk bestürzte sie darum durch ihre Neuheit. Watchman blieb aber nicht bei dem Evangelium von der Rechtfertigung durch den Glauben stehen. Er hatte die Schriften von Andrew Murray und F. B. Meyer über ein geheiligtes Leben gelesen und alles, was er von Charles E. Finney, Evan Roberts und über die Erweckungsbewegung in Wales 1904-05 bekommen konnte. Er forschte auch bei Otto Stockmayer und Jessie Penn-Lewis, was sie über Seele und Geist und den Triumph über satanische Mächte zu sagen hatten. Sein eigenes Studium des Neuen Testamentes unterstützte ihn in der Ansicht, daß hier wichtige Fragen lagen, die den Gläubigen irgendwie in einfachen Worten nahegebracht werden mußten.

Zweifellos war vieles, was er verkündigte, nur die Frucht seines fleißigen Studiums und mußte erst noch durch eigene Erfahrung geklärt werden. Trotzdem beschäftigte er sich mit dem Gedanken, ein Buch über das geistliche Leben zu schreiben. So vieles, was er voller Freude entdeckt hatte, fand keine Erwähnung in den Missionskirchen ringsum. Wenn er in einer Versammlung sagte, der auferstandene Erlöser müsse das wahre Leben des Menschen werden, nur so könne er hoffen, wirklich nach Gottes Willen zu leben, dann waren das ganz neue Gedanken für Leute, die das Evangelium nur als eine Garantie für die ewige Seligkeit verstanden. »Nimm den Erlöser an, und dann vergiß ihn und wende dich einer menschlichen Lebensphilosophie zu«, das war die verbreitete Ansicht, und deshalb hatten die Lehren des Konfuzius und Meng-tse in vielen sogenannten christlichen Häusern das gleiche Gewicht wie die Bibel.

Wie weit war dies entfernt von den Früchten eines neuen Lebens! Wie wenig Raum gab es dem innewohnenden Geist Gottes! Auf ihn als den Lehrer der Unwissenden stützte sich Watchman mehr und mehr. Vor Monaten hatte er einen bescheidenen Schneider namens Chen entdeckt, der die lose letzte Seite eines Markusevangeliums aufgehoben und gelesen hatte. Dieser Mann kannte keinen Christen, der ihn beraten oder vor der zweifelhaften Anwendung dieser Verse gewarnt hätte. Er hatte sich aus Vers 18 des letzten Kapitels das, wie er meinte, geringste Zeichen ausgewählt, nämlich die Gabe zu heilen, und war ins Dorf hinuntergegangen, um sie zu erproben. Er war durch die dramatische Genesung eines Nachbarn überzeugt worden und ging dann einfach in seine Schneiderwerkstatt zurück, um dort für Christus Zeugnis abzulegen.

Solche Erlebnisse halfen Watchman eine Schwierigkeit zu überwinden, die ihm zu schaffen gemacht hatte. Er berichtet, daß er nach seiner Bekehrung große Angst hatte, einem Atheisten oder Modernisten zu begegnen, weil dieser ihm beweisen könnte, daß die Bibel unglaubwürdig sei und er dann seinen Glauben verlieren würde. Aber als er in seinem Leben dem lebendigen Christus begegnete und dies auch bei anderen erlebte, wußte er die Antwort: Auf alle Beweisgründe konnte er mit Sicherheit antworten: »Ja, es ist viel Vernünftiges in dem, was Sie sagen. Aber ich kenne meinen Gott! Das genügt.«

In einem anderen Dorf hatte ein neubekehrter Bauer eine andere Prüfung erlebt. Sein Reisfeld lag dicht über einem Bewässerungsgraben auf einem in Terrassen angelegten Hügelhang. Immer wieder wurde er durch seinen Nachbarn betrogen, der nachts das in mühevoller Arbeit hinaufgepumpte Wasser auf sein eigenes Feld leitete, indem er den Wall durchstach, der das Wasser auf dem oberen Feld zurückhielt.
In seiner Verzweiflung ging dieser Bauer zu den anderen Gläubigen. »Das ist nicht recht!« rief er aus. »Aber was soll ich tun? Sagt mir, wie ich mich in dieser Situation verhalten soll.« Sie beteten mit ihm, und dann schlug einer vor, er solle versuchen, die zweite Meile zu gehen. »Wenn wir nur tun, was recht ist«, meinten sie, »sind wir unnütze Knechte. Wir sollten über das Rechte noch hinausgehen.« So trug er am nächsten Tag wieder seinen Holztrog hinaus und begann auf seiner Tretmühle zu arbeiten und das Wasser hochzupumpen. Am Morgen pumpte er Wasser auf die beiden nassen Streifen des Nachbarn unter ihm, und am Nachmittag pumpte er genug für sein eigenes Feld.
Der Nachbar war sprachlos. Nachdem er die Sache bedacht hatte, ging er zu dem christlichen Bauern und bat ihn ganz aufrichtig um eine Erklärung. Bald wurde auch er Christ.
Dies waren Menschen, die die Bibel ernst nahmen. Sie lebten in einer rechten Gemeinschaft von Neugeborenen. Hier begann Watchman das Wesen der Kirche Jesu Christi auf Erden und das Zeugnis seines Geistes für das Heidentum zu sehen. Jedes geringste Kind Gottes sollte ein Zeuge von der umwandelnden Macht des Evangeliums sein.

Die alten Weinschläuche

Die Entfernung zwischen der Kapelle des Dreifaltigkeits-Colleges und Watchmans grasgedeckter Hütte am Fluß betrug nur zehn Meilen. Doch innerlich war er einen weiten Weg gegangen. Hier wie in Nantai drängten sich ihm die Gegensätze zwischen Ost und West auf. Der Hang hinter der Hütte war mit komfortablen ausländischen Bungalows bedeckt; im Hafen lagen die Küstenlinienschiffe und Frachter aus Europa und Amerika vor Anker, sie kamen mit der Flut und glitten mit der Flut hinaus. Aber zwischen ihnen schlingerten die winzigen Hausboote der Einheimischen, die die Göttin Ma-zu anbeteten. Hier unten am Strand, wo sich der Lärm und die Gerüche des Bazars bemerkbar machten, drängten sich ihre einfachen Behausungen rings um seine Hütte. Es war eine durcheinandergewürfelte Welt. Er fragte sich ständig, wie sein Christentum dahinein passen sollte.

In Futschou war es die Anglikanische »Steinkirche« (oder ihr aus roten Ziegelsteinen erbautes amerikanisches Gegenstück), die das Christentum symbolisierte. Dort kam, wie ein Zyniker feststellte, einmal wöchentlich die »Gemeinschaft« von ausländischen Konsuln, Hafenbeamten und Kaufleuten zusammen und vereinte sich mit den Missionaren zu einer kurzen Stunde religiöser Übung, die vom Kaplan der Marine mit einem sicheren Gefühl für religiöse Formen geleitet wurde. Wenn sie das vollbracht hatten, machten sich die Vertreter von Jardine Matheson oder Gillman & Sassoon an ihre traditionelle Aufgabe nach dem Kirchgang: Sie setzten den Teepreis für die Woche fest. Die übrigen begaben sich in den Britischen Klub oder zu ihren Sonntagsvergnügungen.

Natürlich fanden sich in den kleineren Gemeinden der Stadt und in der Umgebung, die mit so viel Eifer in jahrelanger Aufbauarbeit entstanden waren, mehr Chinesen ein. Auch ihre Geistlichen waren meistens Chinesen. Und doch spürte man das westliche Vorbild überall: Die Laien verhielten sich weitgehend passiv. Sie waren abhängig von einer schwerfälligen kirchlichen Organisation, an deren Spitze ein ausländischer Bischof stand. So herrschte ständig Mangel an ordinierten Geistlichen, und Pastoren, die die Sakramente austeilen durften, mußten oft sieben Gemeinden und mehr »bedienen«. So war es auch unvermeidlich, daß sich die einheimischen Sekten ausbreiteten. In Watchmans Jugendjahren zog besonders die »Wahre Kirche Jesu« (Chen Yehsu Chiao) in Fukien viele Pastoren und Gemeindeglieder an.

Watchman spähte ständig nach einer Bewegung des Geistes im Gottesvolk aus, und er glaubte, daß sie nicht in der Enge einer Sekte zum Durchbruch kommen könne. So sagte er etwas später in einer Versammlung: »Wenn wir uns heute um den Tisch des Herrn versammeln und unser Horizont auf unsere eigene kleine Gemeinschaft begrenzt ist, sind wir nicht berechtigt, das Brot zu brechen. Christi Leben in uns hat uns zur ganzen Kirche in Beziehung gebracht, nicht nur zu einem kleinen Teil von ihr. Wir brauchen ein weites Herz, das alle Kinder Gottes einschließt, sonst werden wir dies Brot unwürdig essen. Wir verkünden hier, daß alle Kinder Gottes Brüder und Schwestern sind, deshalb dürfen wir nichts für uns behalten. Wir wollen daran denken, daß derselbe Heilige Geist, der über uns gekommen ist, auch über sie ausgegossen wurde.«
Hier versuchte er für das Problem der Trennung in viele Denominationen eine Antwort zu finden: Es war ein »importiertes« Problem und für einen Neubekehrten in China nicht annehmbar.

Unter den jungen Christen jener Zeit war Watchman nicht der einzige, der sich fragte, ob eine Rückkehr zu der Einfachheit des Neuen Testaments nicht jene Einheit der Gläubigen wiederherstellen könne, um die Jesus gebetet und für die er sein Leben hingegeben hatte.

Er wußte wohl, daß jede Bewegung, die sich von den bestehenden Kirchen fortbewegt, in der Gefahr steht, nationalistisch und antimissionarisch zu werden und schließlich alle anderen christlichen Gemeinschaften abzulehnen. Aber unter den westlichen Schriftstellern, die er jetzt mit Freuden las, waren Govett, Panton und der viel ältere J. N. Darby, die ihr Amt in der Anglikanischen Kirche niedergelegt hatten und auf deren Suche nach einer schlichteren Form des Gottesdienstes Gott sichtbar geantwortet hatte. Solcher Gehorsam der Schrift gegenüber würde genügen, und so setzte sich Watchman für Qualität im geistlichen Leben ein. »In der Reichsgottesarbeit hängt alles von der Art des ausgesendeten Arbeiters und der Art der Neubekehrten ab.« Wenn er Qualität zu seinem Ziel erhob, brauchte er keinen Kreuzzug gegen die ausländischen Missionen zu führen. Er durfte seine eigene geistliche Pilgerschaft nicht mit der nationalistischen Strömung vermischen.

In dieser Zeit von 1925-28 erlebte das Nationalgefühl einen mächtigen Auftrieb unter den Studenten. Ihre Lehrer hatten ihnen gesagt, sie seien die Hoffnung der Nation – nun wollten sie ihre Retter sein. Mit dem Untergang des alten Systems stand ihnen der Eintritt in die Regierungsämter nicht mehr offen, ihre beruflichen Aussichten waren gering. Aber sie waren jung und Idealisten, ungeduldig gegenüber dem Alten und eifrig dem Neuen zugetan und bereit, jede aussichtsreiche Massenbewegung anzuführen.

Die Nee-Eltern kamen auf tragische Weise mit dieser Entwicklung in Berührung. Ihr dritter Sohn, Scheng-tsu, der unter dem Einfluß seiner weltlich gesinnten und nachsichtigen Großmutter herangewachsen war, hatte sich schon früh zur Politik hingezogen gefühlt. Er war für die Eltern eine Quelle ständiger Sorge, da er fast immer in Schwierigkeiten steckte. Angeblich um »die Nation zu retten«, aber in Wirklichkeit, um sich vor dem Studium zu drücken, hatte er sich nacheinander zwei radikalen revolutionären Bewegungen angeschlossen und war dann bei einer Demonstration umgekommen.

Die Demonstrationen richteten sich auch gegen die Missionen. Schon im Jahre 1925 während Watchman und seine Freunde auf den Inseln in der Min-Mündung missionierten, waren in Futschou die katholischen Schwestern und einige Missionarinnen der Anglikanischen Mission C. M. S. angegriffen worden und mit knapper Not mit dem Leben davongekommen.
Am 12. März dieses Jahres starb in Peking Dr. Sun Yat-sen, und am 30. Mai schossen weiße Polizisten des Ausländerviertels in Schanghai auf demonstrierende Studenten. Das löste eine Welle antibritischer Gefühle aus, die zu weiteren Gewalttaten in den Städten des Südens führte. Die »antichristliche Allianz« leistete so gründliche Arbeit, daß zwei Jahre später, im Frühjahr 1927, alle ausländischen Missionare vorübergehend an die Küste evakuiert wurden. Im Sommer 1927 brannte im Dreifaltigkeits-College die Elementarschule nieder, und im Januar 1928 das neue Internat. Die Flitterwochen der protestantischen Mission schienen zu Ende zu sein.

Zu Beginn des Jahres 1926 nahm Watchman, der den Kontakt mit den an den lebendigen Christus glaubenden Missionaren aufrecht erhielt, eine Einladung nach Amoy in Süd-Fukien an. Er sollte zu den Studenten des Talmage College und des Seminars der amerikanischen Presbyterianermission sprechen. Hier fielen ihm zwei eifrige christliche Studenten auf, Daniel Tan und James Chen, ein Pastorensohn, die in späteren Jahren seine Mitarbeiter werden sollten.

Dieser Dienst in Amoy führte zu einer herzlichen Einladung nach Nanking. Dort gab der Verlag »Geistliches Licht« eine gleichnamige Zeitschrift heraus, zu deren Redaktion seine alte Freundin Ruth Lee gehörte. Sie bat ihn um Mitarbeit, und da Watchmans Gesundheit zu wünschen übrig ließ und ein Klimawechsel sich vielleicht günstig auswirken würde, und da der Herr ihm zu sagen schien: »Geh und gewinne etwas Erfahrung im Verlagswesen!« kam er zu dem Schluß, daß Gott diese Reise wünsche.

Der Zwischenaufenthalt in Schanghai war in mehr als einer Beziehung wertvoll für ihn. Er frischte alte Freundschaften auf und gewann neue Bekannte. Viele Leser seiner Zeitschrift »Der Christ«, die die »Erweckung« abgelöst hatte, lebten in Schanghai und in den nördlichen Städten, den Jangtesekiang hinauf, und er erkannte erneut, wie günstig Schanghai als Operationsbasis für das ganze Land lag. Die Stadt war ein brodelnder Kessel und mit ihrer scharfen Konkurrenz und ihren politischen Intrigen ein ungemein anregendes, wenn auch gefährliches Pflaster. Die Moral dieser Stadt wurde oft mit der Bemerkung umrissen: »Wenn Gott Schanghai verschont, muß er sich bei Sodom und Gomorra entschuldigen.« Hier war das wirtschaftliche, industrielle und finanzielle Zentrum Chinas. Welche Möglichkeiten! dachte Watchman. Sollte er sich eines Tages hier niederlassen?

In Nanking mit seinen ausgedehnten Missionsniederlassungen genoß er erst einmal die Gemeinschaft mit anderen Christen. Hier eignete er sich nützliche Kenntnisse auf redaktionellem und publizistischem Gebiet an. Am wertvollsten war für ihn die Gemeinschaft mit Ruth Lee. Sie war zehn Jahre älter als er und hatte schon größere geistliche Erfahrung; er fühlte, daß er eine »ältere Schwester« brauchte. Mit ihr sprach er über das, was ihn innerlich bewegte: China für das Wort des Lebens zu erobern. Er fand in ihr einen verwandten Geist und eine weise Ratgeberin. Beide glaubten, daß die gegenwärtige Unruhe einen neuen geistlichen Hunger in den jungen Chinesen wecken würde, die sich Christus zuwenden und dann von dem Christentum, das sie vorfanden, enttäuscht sein würden. Konnte er in dieser Not nicht helfen? Ruth bestätigte auch Watchmans Ansicht, daß Schanghai der strategisch richtige Platz für diese Arbeit sei, und war bereit, ihren Posten in Nanking aufzugeben und nach Schanghai zu kommen, besonders auch, um ihm in seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu helfen.

Watchmans Arbeit in Nanking dauerte nur einige Monate. Er wurde krank, und außerdem hatte er das Gefühl, daß Gott ihn nicht an den Schreibtisch binden wollte. So fuhr er im Frühherbst 1926 heim, geistlich erfrischt, doch im übrigen schwach. Wieder quälte ihn ein Husten, der nicht weichen wollte. Abends fror er, nachts schwitzte er. Unterwegs in Schanghai suchte er einen Arzt auf. Das Röntgenbild zeigte, daß die eine Lunge ganz, die andere zum Teil mit Tuberkulose befallen war. Während der Arzt die noch feuchte Aufnahme betrachtete, hörte Watchman, wie er auf englisch zur Schwester sagte:
»Der arme Kerl! Sehen Sie sich das nur an! Unser letzter Fall mit einem solchen Befund war nach sechs Monaten tot.«

Auf dem Schiff, das ihn nach Hause brachte, begann er sich einer strengen Selbstprüfung zu unterziehen. Er untersuchte sein Handeln, seine Motive, seinen Ehrgeiz. Ein Wunsch war nun übermächtig in ihm: Er wollte rein sein vor Gott. Er bekannte seine Sünden. Der Gedanke an das Mädchen Ai-king in Sitiawan bedrückte ihn. Seine Entscheidung damals war mitbestimmt worden von einer Information über Ai-king, die, das hatte er inzwischen festgestellt, völlig aus der Luft gegriffen war. Hatte er Gottes Führung in der ganzen Angelegenheit mißverstanden? Er war nun willig, um seiner Arbeit willen unverheiratet zu bleiben. Dies schien das einzige zu sein, womit er wieder gutmachen konnte.

Der Küstendampfer fuhr mit der Flut den Min hinauf und setzte Watchman in Pagoda ab. Seine Hütte in Mai-hsien schien ihm ein öder und freudloser Platz zu sein. Sein ganzes Leben kam ihm plötzlich nutzlos vor.
Er machte sich an die Arbeit. Einer Kiste in der Hütte entnahm er den Aufriß eines Buches, das er früher hatte schreiben wollen. Vor drei Jahren hatte er einen ersten Entwurf von zweieinhalb Kapiteln zu Papier gebracht, sein Thema lautete: Der Mensch Gottes – nach Geist, Seele, Leib.
Er hatte die Arbeit wieder weggelegt, weil sie ihm zu theoretisch vorkam, an vielen Punkten fehlte ihm noch die praktische Erfahrung. Aber in der Zwischenzeit war viel geschehen. In seinem eigenen Leben hatte er ein neues Gefühl für die Wirklichkeit bekommen, und er hatte auch erlebt, wie andere von der Macht der Finsternis befreit wurden. Wenn Gott ihn bald zu sich nehmen würde, wollte er vorher noch die kostbaren Erkenntnisse, die er empfangen hatte, niederschreiben. Er setzte sich ans Fenster, blickte über den Fluß und nahm Pinsel und Tinte zur Hand.

Aber auch jetzt quälte ihn das Fieber. Er konnte nicht schreiben, er konnte nicht einmal seine Gedanken sammeln. Er erkannte, daß er nicht allein durchkommen würde. So nahm er die Bibel und sein Manuskript und verschloß die Tür der Hütte wieder. An der Anlegestelle ließ er sich übersetzen zum Weißen Zahnfelsen. Im Gästehaus hieß ihn Faithful Luke willkommen. Er gab ihm ein Zimmer in der Männerabteilung, dort legte sich Watchman auf das kleine Feldbett und ließ sich in die Hände Gottes fallen.

Die beiden englischen Damen versorgten Watchman nun mit Milch, guter Nahrung und Medizin, soweit sie erhältlich war, und die Brüder pflegten ihn. Die dunklen Tage dehnten sich zu Wochen, während er immer mehr abnahm und seine Kräfte schwinden fühlte. »Er war so bescheiden«, sagte Luke, »und sehnte sich so sehr nach Heilung! Jeden Tag bat er mich, ihn im Namen des Herrn mit Öl zu salben und über ihm zu beten.« Wenn er zu erschöpft war, um zu lesen, kamen ihm aus dem Gedächtnis Schriftworte zu Hilfe, so auch der: »Demütigt euch unter die gewaltige Hand Gottes …«
Watchman wagte nicht, diesen Satz zu Ende zu sprechen: »… so wird er dich erhöhen …« – »Zwei Monate lang befand ich mich täglich in den Klauen Satans«, bemerkt er später.

Margaret Barber besuchte ihn regelmäßig mit den Worten »Christus ist Sieger«. Doch Watchman glaubte, er habe sich irgend etwas zu Schulden kommen lassen und Satan dadurch Macht über sich gegeben. Sie brachte ihm Schriften, die ihn eines Tages wieder von der allumfassenden Wirksamkeit der Erlösung überzeugten, so daß er endlich im Glauben zustimmen konnte: »Christus ist Sieger.«

Als Watchman ein wenig kräftiger geworden war, verlangte er nach Papier und Tinte. Nun wollte er, solange Gott es erlaubte, seine ganze Kraft für die von ihm als dringend empfundene Aufgabe einsetzen.
Nach Monaten war der erste Teil fertig. Er führte in erschöpfenden Einzelheiten aus, wie sich die Erlösung auf Geist, Seele und Leib des Gläubigen auswirkt. Im Vorwort nennt er es eine Arbeit über »Biblische Psychologie«, aber er warnt seine Leser: Wenn sie sie nur als Mittel der Selbstanalyse benutzten, würde sie das daran hindern, sich an Christus zu verlieren. Er hatte durch sein Leiden reiche Einsichten gewonnen.

Im Mai fuhr er, obwohl noch sehr schwach, mit dem Manuskript nach Schanghai. Ruth Lee war schon dahin übergesiedelt, nachdem in Nanking bei kommunistischen Aufständen einige Missionare getötet worden waren. Sie hatte angeboten, Watchmans Entwurf zu ordnen und mit ihrem ausgezeichneten Mandarin druckreif zu machen.

Nanking wurde damals das Hauptquartier der neuen Regierung von Tschiang Kai-schek. Seine Armeen bewegten sich nördlich durch Hunan, nahmen Tschangscha und Hankau ein und wandten sich dann östlich nach Schanghai. Hier ging Tschiang erbarmungslos gegen die kommunistische Bewegung unter den Arbeitern vor. Nur mit knapper Not entging ein gewisser Tschu En-lai dem Blutbad. Inzwischen war wieder Ruhe in der Stadt.

In Schanghai hatte Watchman, während er letzte Hand an seine Arbeit legte, ein Erlebnis, das seine künftige Bibelauslegung entscheidend beeinflussen sollte.
Hören wir ihn selbst:
»Nach meiner Bekehrung war ich gelehrt worden, daß man nun der Sünde gestorben sei und nur noch Gott lebe. Dies glaubte ich von 1920 bis 1927, und je mehr ich mich in dieser Richtung bemühte, desto mehr war die Sünde in mir lebendig. So bat ich Gott, mir zu zeigen, was das Wort bedeutete: ›Ich bin mit Christus gekreuzigt.‹ Ich stellte fest, daß Gott nirgends sagt: ›Du mußt dich kreuzigen lassen‹, sondern: ›Du bist gekreuzigt.‹ Das konnte ich nicht sagen, ohne zu heucheln, und so kam ich allmählich zu der Überzeugung, daß nur Heuchler eine solche Feststellung machen konnten. Doch immer, wenn ich Hilfe bei anderen suchte, wurde ich auf dieses Wort im Römerbrief hingewiesen. Ich bejahte es, aber ich konnte mir nicht erklären, warum es nichts in mir bewirkte. Niemand hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß das ›wissen, (daß Christus nicht mehr stirbt) dem ›darauf vertrauen‹ (daß wir auch mit ihm leben werden) vorausgehen muß. Monatelang war ich beunruhigt und betete ernstlich, ich las die Schrift und suchte Licht. Ich sagte zum Herrn: ›Wenn ich diese grundlegende Erkenntnis nicht begreifen kann, will ich nicht mehr predigen. Zuerst will ich hier klar sehen.‹ Als ich eines Morgens wieder an die Stelle kam, betete ich: ›Herr, öffne meine Augen!‹ Und dann wurde ich plötzlich wie durch einen Blitzstrahl erleuchtet. Ich schlug den ersten Korintherbrief auf: ›Durch ihn (Gott) seid ihr in Gemeinschaft mit Christus Jesus.‹ Es war erstaunlich! Wenn Christus starb, und das ist Tatsache, und wenn ich durch Gott in Gemeinschaft mit Jesus bin, dann muß ich auch gestorben sein. Ich erkannte plötzlich mein Einssein mit Christus:
Ich war in ihm, und, wenn er starb, war auch ich gestorben.
Mein der Sünde Gestorbensein gehörte der Vergangenheit an und nicht der Zukunft. Voller Freude sprang ich vom Stuhl und lief die Treppe hinunter zu dem jungen Bruder, der in der Küche arbeitete.
›Bruder‹, rief ich und faßte ihn bei den Händen, ›weißt du, daß ich gestorben bin?‹ Ich muß zugeben, daß er recht verwirrt aussah.
›Was meinst du?‹ fragte er.
›Weißt du, daß Christus gestorben ist? Weißt du, daß ich mit ihm gestorben bin? Weißt du, daß mein Tod nicht weniger Tatsache ist als derseine?‹
Ich hätte meine Entdeckung am liebsten in den Straßen von Schanghai ausposaunt. Von jenem Tag an habe ich nie wieder die Endgültigkeit des Wortes bezweifelt: ›Ich bin mit Christus gekreuzigt: ich lebe, doch nicht ich, Christus lebt in mir.‹«

9. Irdene Gefäße

Watchman fühlte sich jetzt kräftig genug, um in Schanghai zu bleiben und an den weiteren Teilen seines Buches zu arbeiten, von dem er annahm, Gott wünsche seine Vollendung. Unter Ruth Lees erfahrener Anleitung fanden die Erkenntnisse, die er durch Leiden und Niederlagen gewonnen hatte, langsam ihren schriftlichen Ausdruck.

Hier kam er auch zum ersten Mal in engere Beziehung zu der interkonfessionellen China-Inland-Mission, die, von Hudson Taylor gegründet, seit über sechzig Jahren das Evangelium in das Innere des Landes trug. Er befreundete sich mit Charles Judd, der in der Verwaltung der Missionsgesellschaft arbeitete und ein Missionar mit großer Erfahrung war.
Watchman besuchte ihn oft. Sie vertieften sich gemeinsam in die Bibel, und Watchman erzählte seinem Freund von seiner großen Hoffnung, China für das Evangelium zu gewinnen. Wenn seine Kräfte es erlaubten, gingen sie zusammen mit einigen jungen Männern in die Stadt und predigten.

An einem Sonntag gegen Ende des Jahres 1927 trafen sich Watchman, Charles Judd und Ruth Lee bei Peace Wang, einer früheren Schülerin von Ruth, zum ersten Mal zu einem Abendmahlsgottesdienst. Das setzten sie einige Wochen fort, bis Watchman meinte, er solle einen Glaubensschritt tun und eine geeignete Unterkunft für Bibelstunden und Predigt mieten. Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Beginne mit kleinen Dingen.« Schließlich fand er ein kleines Haus in Wen Teh Li. Einige andere hatten sich bereits zu ihnen gesellt. An jedem Sonntag früh radelte Judd nun quer durch die Stadt, um mit ihnen gemeinsam das Brot zu brechen, ehe er zu seinen Pflichten im Hauptquartier der ChinaInland-Mission zurückkehrte. Ein knappes Jahr später wurde er nach Kanada zurückgerufen. Im Licht der folgenden Entwicklung mag man bedauern, daß diese wertvolle Verbindung zwischen Watchman und Charles unterbrochen wurde.

Im Juni 1928, während Tschiang Kai-scheks Truppen Peking besetzten, wurden die restlichen sechs Teile von Watchmans Buch »Der geistliche Mensch« druckfertig. Er hatte das Buch unter demselben inneren Zwang vollendet, mit dem er es begonnen hatte. Es blieb das einzige Buch, das er selbst schrieb; seine übrigen Schriften setzten sich aus mitgeschriebenen Predigten und Bibelstunden zusammen.
Doch obwohl alles, was er geschrieben hatte, Teil seiner eigenen Erfahrung war, gelangte Watchman bald zu einer ganz anderen Beurteilung seines Buches. In späteren Jahren stellte er oft fest, »Der geistliche Mensch« sei zu »vollkommen«, das Buch täusche vor, alle Antworten zu wissen. 1941 lehnte er darum eine Neuauflage ab: »Nicht, daß der Inhalt falsch ist! Wenn ich es jetzt lese, heiße ich alles gut. Es ist eine sehr vollständige Darlegung der Wahrheit. Aber gerade darin liegt die Schwäche des Buches! Es läßt keine Fragen offen. Gott handelt nicht auf diese Weise und viel weniger erlaubt er uns, so zu handeln. Die Gefahr einer Systematisierung göttlicher Aussagen besteht darin, daß sie auch ohne den Heiligen Geist verstanden werden können. Nur der unreife Christ verlangt nach intellektuell befriedigenden Schlüssen. Gottes Wort selbst spricht immer zu Geist und Leben.« Darum ist »Der geistliche Mensch« heute nur noch als Einblick in eine Entwicklungsstufe des Autors von Interesse, er war kaum fünfundzwanzig Jahre alt, als er es schrieb.

Der Versammlungsraum in Wen Teh Li konnte nur hundert Menschen fassen. 1928 fand hier die kleine, aber bedeutsame erste Schanghai-Konferenz statt, die Gläubige aus verschiedenen Vereinigungen in der Stadt zu einer Zeit des Bibelstudiums zusammenführte. Der Redner war Watchman, und seine Botschaft fand warmen Anklang. Aber diese Anstrengung, verbunden mit den vielen Gesprächen mit Ratsuchenden, erschöpfte ihn. Mit dem Einbruch des Winters kehrte sein Husten zurück, und er nahm wieder ab. Eine Familienangelegenheit erforderte seine Anwesenheit zu Hause, so ergriff er Anfang 1929 die Gelegenheit und schiffte sich nach dem Süden ein. In Futschou sollte er auch seine letzte Begegnung mit Margaret Barber haben.

Nur zögernd hatte sie ihm früher einige Schriften von C. A. Coates und J. N. Darby geliehen. Sie waren ganz nach Watchmans Geschmack, und er hatte sich in London weitere Bücher dieser Autoren bestellt. Dadurch war er mit den englischen »Brüdern« bekannt geworden. An jedem Sonntag versammelten sie sich um den Tisch des Herrn, und jeder Bruder hatte das Recht, Gott Anbetung oder Dank darzubringen, ehe sie Brot und Wein zu sich nahmen. Andere Merkmale waren die Gläubigentaufe, die Auslegung des Wortes, ihre Sorge füreinander und für die Reichsgottesarbeit und ihr ständiges öffentliches Zeugnis von der Erlösung in Christus. Das alles entsprach ganz Watchmans Ansichten, und so führte er wie diese »Brüder« in England auch das Redeverbot für Frauen in der Versammlung und eine Kopfbedeckung für sie ein. Nun kannten die chinesischen Frauen weder Schleier noch Hut, so mußte eigens eine Kopfbedeckung entworfen werden. Sie bestand in einer schwarzen Häkelmütze.

Die chinesischen Schwestern unterwarfen sich bereitwillig diesen Beschränkungen, und Ruth Lee und Peace Wang verzichteten ab jetzt außer in Frauenversammlungen auf die Fortsetzung ihrer Predigttätigkeit. Als Watchman nun Margaret Barber traf, stellte er sie zur Rede, daß sie Bibelklassen für junge Männer hielt. Margaret hörte höflich zu, sagte jedoch nicht viel. Sie machte ihn nur mit den Schriften eines anderen englischen Predigers bekannt, T. Austin-Sparks, dessen Botschaft vom Kreuz ihr im vergangenen Jahr zum Segen geworden war.

Watchman konnte nicht bleiben. Er nahm das Flußboot nach Nantai, doch auf der zweistündigen Fahrt kam das Fieber wieder, und erneut die Versuchung: Du hattest eine glänzende Zukunft vor dir und gabst alles auf, um Gott zu dienen. Wofür? Was hast du gewonnen?
Er ging zum Haus seiner Eltern am Flußufer, um ihnen seine Achtung zu erweisen und die Angelegenheit zu regeln, die ihn hergeführt hatte. In seinem Herzen war er bereit, alles zu tun, was Gott verlangte, wenn er nur seine Gesundheit zurückerhielt.

Am nächsten Tag bummelte er in die Stadt und vermied dabei sorgfältig die beiden Versammlungsstätten der ehemaligen Bruderschaft. Unter der Brücke waren die Kormoranfischer an der Arbeit, und wie einst als Kind stand er still, um sie zu beobachten. Langsam ging er, auf einen Stock gestützt, weiter und stand plötzlich vor einem früheren Lehrer vom Dreifaltigkeits-College. Der Mann musterte Watchman von oben bis unten, und nach ein paar scharfen Fragen rief er:
»Was muß ich da hören? Wir hielten viel von Ihnen in der Schule und hofften, daß Sie Großes leisten würden. Wollen Sie sagen, daß Sie immer noch nicht weiter gekommen sind?«

Watchman verehrte diesen Mann, um so mehr traf ihn dessen Frage, die nichts als eine Feststellung war. Es stimmte: seine Gesundheit war gebrochen, seine Pläne durchkreuzt. Was hatte er aufzuweisen? Nichts? In diesem Augenblick war Watchman, obwohl er erwachsen war, den Tränen nahe. »Doch im nächsten Augenblick wußte ich«, so berichtet er, »was es heißt, daß der Geist der Herrlichkeit auf uns ruht. Ich konnte aufblicken und beten: ›Herr, ich preise dich, daß ich den besten Weg gewählt habe.‹ Meinem Professor schien es eine vollkommene Vergeudung aller Gaben, Jesus, dem Herrn, zu dienen; aber das ist das Ziel des Evangeliums: alles für Gott.«

Eine Zeitlang blieb er zu Hause und war froh über die wieder angeknüpfte Verbindung zu seinen Eltern und über die Nachrichten von den Geschwistern, von denen die meisten jetzt verheiratet waren. Huo-ping steckte immer noch voller Energie und folgte jedem auswärtigen Ruf. Sie hatte die Freude, ihren bejahrten Vater noch zum Herrn zu führen, und schließlich auch die wenig interessierte Mutter.

Damals fürchtete Huo-ping, Watchman würde nicht mehr lange leben. Sie machte sich Sorgen um ihn. Gleichzeitig hielt sie vieles, was er tat, für falsch, und er ärgerte sich über ihre Predigtdienste und sprach das auch aus. Doch ruhte er viel und betete wieder und wieder um Kraft für die Arbeit, zu der er sich berufen fühlte. Die Zeitschrift »Der Christ« gewann jetzt schnell Leser und spielte eine wichtige Rolle in der Ausbreitung der Arbeit.  . . .

Seine Gesundheit besserte sich. Die Ärzte bestätigten diese Wendung zum Guten und rieten ihm, eine Ruhepause in dem gesünderen Klima des Kuling einzulegen, eines sechshundert Meilen Jangtseaufwärts liegenden Hochtals. Hier verbrachten die Angestellten der großen Geschäftshäuser in Schanghai und Hankau den heißen Sommer und erholten sich müde Missionarsfamilien. Ein hölzerner Zaun begrenzte das den Europäern abgetretene Gebiet. Weiter unten, außerhalb des Zauns, lag der chinesische Marktflecken mit dem Namen »Die Schlucht«, immer noch über 1000 Meter hoch.

Watchman konnte sich für zehn Taels am Tag eine Behandlung in dem gut eingerichteten Missionssanatorium der Europäer leisten. Schlafen durfte er in einem leerstehenden Haus unten im Ort, das einer Dame aus Nanking gehörte, und Nachbarn luden ihn zu den Mahlzeiten ein. Selbst, hier auf dem Kuling suchten ihn morgens ratsuchende Freunde auf, doch er ließ sie wissen, daß er an den Nachmittagen »anderweitig beschäftigt« sei – das hieß: er machte Liegekur.  . . .

Viele Wochen erholte Watchman sich in Kuling. Wieder überdachte er sein Leben als Christ und entdeckte, wo sein wirklicher Schwerpunkt lag. »Als ich zum Herrn kam, hatte ich meine eigene Vorstellung, wie ein Christ zu sein hätte. Ich glaubte, ein wahrer Christ müsse von morgens bis abends lächeln, und er dürfe unter keinen Umständen auch nur das leiseste Zeichen von Furcht zeigen, und ich tat mein Äußerstes, um diesem Ideal nachzukommen.«
Aber sein wiederholtes Lesen des Neuen Testamentes brachte ihm auch immer wieder zum zweiten Korintherbrief, in dem Paulus tiefe Einblicke in sein Leben und Leiden gibt. Ein Geheimnis begann ihm aufzugehen, das in den Worten zusammengefaßt ist: »Wir tragen diesen Schatz in irdenen Gefäßen, um damit zu zeigen, daß die alles übersteigende Kraft Gottes ist und nicht unser.« So lernte Watchman stündlich und täglich Gott zu vertrauen, und er fand zu einer neuen Ruhe und Gelöstheit

Der Sommer ging vorüber, und der Tag kam, an dem Watchman sich von seinen neuen Freunden verabschieden und nach Schanghai zurückkehren mußte.  . . .
Im Mai 1930 erhielt Watchman die Nachricht vom Tode Margaret Barbers.

»Der Herr hat sie wunderbar hindurchgetragen« hieß es in dem Telegramm. Sie war vierundsechzig Jahre alt geworden.  . . .
Als Watchman an ihr Leben zurückdachte, konnte er Gott nur danken. Es hatte ihn oft beunruhigt, daß sie so isoliert am Weißen Zahn lebte und so mit ihrer Kenntnis der Schrift nicht weiteren Kreisen dienen konnte und nicht mehr bekannt war. Doch die folgenden Jahre bewiesen, daß viele junge Männer und Frauen die Großes in der Evangelisationsarbeit leisteten, unter ihrem Einfluß herangereift waren. Besonders Wang Tsai, der jetzt in Hongkong lebte, reiste als Evangelist weit umher und gründete schließlich in Indonesien die China-Übersee-Missionsgesellschaft.
Margaret hatte ihre zerlesene Bibel Watchman vermacht. Darin fand er das Gebet: »O Gott, gewähre mir eine vollkommene und schrankenlose Selbsterkenntnis! «
Und auf das Vorsatzblatt hatte sie vor langer Zeit die Worte geschrieben, die Watchman sich nun zu eigen machte:
»Ich begehre nichts für mich selbst, ich begehre alles für den Herrn.«

10. Ernüchterung

Im Dezember 1930 genossen Watchman Nee und John Chang die brüderliche Gemeinschaft mit einem Engländer. Charles R. Barlow gehörte zu einer besonderen Gruppe der Londoner »Brüder« und war für eine britische Maschinenbaufirma nach Schanghai gereist. In seinen Briefen nach Hause berichtete er: »Einige dieser lieben Brüder sind sehr aufrichtig und dürsten nach der Wahrheit. Watchman Nee ist ohne Zweifel der hervorragendste unter ihnen. Er steht weit über den anderen. Er ist erst achtundzwanzig, aber er hat eine gute Bildung und ausgezeichnete Fähigkeiten. Er ist ein unermüdlicher Arbeiter und liest viel. Er hat auch J. N. Darby eifrig gelesen und hat augenscheinlich viel Hilfe durch seine Schriften empfangen.«

Für Watchman kam dieses Zusammentreffen einem stark empfundenen Verlangen entgegen, das er seit der Abreise C. H. Judds spürte: dem Bedürfnis, mit einem reifen und klugen Europäer Austausch zu haben. Und Barlow war kein Missionar, sondern nur ein »geliebter Bruder in Christo«, dem er sich wie einem Freund anvertrauen konnte.

Barlow wurde eingeladen, bei der täglichen Versammlung um vier Uhr nachmittags zu etwa vierzig Gläubigen zu sprechen, unter denen sich auch einige Studenten befanden. Am Sonntagnachmittag kamen achtzig bis neunzig Menschen zusammen, um ihn zu hören. Was ihn am meisten beeindruckte, war Watchmans Bibelkenntnis. Ganz nebenbei hatte er ihn sagen hören: »Ich schätze, daß ich das Neue Testament einmal im Monat durchlese.« Wie oft er das Alte Testament las, wissen wir nicht, doch Faithful Luke bekam durch eine ähnliche gelegentliche Äußerung den Eindruck, daß es auch sehr oft gewesen sein muß.
Gegen Ende des Jahres wurde in dem vergrößerten Wen Teh Li-Haus die zweite Schanghai-Konferenz abgehalten. Ein Beobachter der China-Inland-Mission berichtet, daß diese Konferenz zwölf Tage dauerte und sie bis zu vier Stunden täglich im Gebet zubrachten. Watchmans Mutter, die zu einem kurzen Besuch bei ihm weilte, schreibt über diese Zeit: »Was mein Sohn predigte, war zu tief, als daß ich es verstehen konnte, doch ich war zu stolz, um zu fragen, und hatte darum nicht viel davon. Aber als ich sah, wie sie lebten, konnte ich mich nur tief verneigen.«

Für diese Gelegenheit wurden die Lieder, die bisher nur auf losen Blättern erschienen waren, gesammelt und unter dem Titel »Hsiao Chun Shih-ko« (Die Lieder der kleinen Herde) veröffentlicht. Viele der 134 übersetzten oder selbstgedichteten Lieder, die oft mißtönend, aber immer mit Begeisterung gesungen wurden, fanden Eingang in Häusern und Gemeinden, selbst an entfernten Orten. Ihre Veröffentlichung sollte eine unvorhergesehene Nebenwirkung haben.

Watchman verabscheute die konfessionellen Bezeichnungen wie »Anglikaner«, »Lutheraner«, »Baptisten« mit dem nationalen oder persönlichen Beiklang, den sie hatten. Er selbst beschränkte sich deshalb auf die einfachsten biblischen Ausdrücke. Er sprach vom christlichen Leben als dem »Weg«, von den Gläubigen als von »Christen«, dem Platz, an dem man zusammen kam, als der »Versammlung«, seine Zeitschrift hieß »Der Christ« seine Druckerei das »Evangeliums-Verlagshaus«. Die Lieder hatte er meist aus dem Gesangbuch der »Brüder« übersetzt, das sich »Lieder für die kleine Herde« nannte. Auch der Titel hatte ihm gefallen, er war biblisch, einprägsam, nicht anmaßend und auch im Chinesischen klangvoll. Doch schlug dieser Name nur zu gut ein, und innerhalb eines Jahres wurde die Versammlung in Wen Teh Li in Missionskreisen »die kleine Herde« genannt. Obwohl Watchman den Titel des Gesangbuches sofort in »Lieder« änderte, war das Unheil geschehen, die Bezeichnung für seine Gemeinde blieb. Als sich sein Werk über China ausbreitete, wurden allerorts die ihm angeschlossenen Gruppen die »Kleine Herde-Gemeinden« genannt, ein Name, den die Mitglieder bedauerten und niemals selbst benutzten.

Kaum war die Schanghai-Konferenz zu Ende, als Unruhe in der Stadt ausbrach. Die japanische Besetzung der Mandschurei hatte den chinesischen Zorn entfacht, der in einem Boykott japanischer Waren seinen Ausdruck fand. Die Japaner verlangten in Schanghai, daß die Behörden Gegenmaßnahmen ergriffen, dann landeten japanische Truppen, die viel Schaden anrichteten. Die Feindseligkeiten hörten im Mai auf, aber die Unruhen waren nur ein kurzer Vorgeschmack des Kommenden.

Wunderbarerweise besserte sich Watchmans Gesundheit weiter. Er konnte jetzt nicht nur das Wort verkünden, er konnte auch größere Reisen unternehmen. Das Jahr 1931 brachte verheerende Überschwemmungen, und viele Menschen kamen im Jangtse-Becken ums Leben; doch in den kleinen Städten am Fluß wuchs das Werk ebenso wie in Nanking und Hankau weiter flußaufwärts; alle diese Orte besuchte er auf seinen Reisen.

Bei einer anderen Gelegenheit besuchte er Peking und kam dort zum ersten Mal mit dem mutigen Fundamentalistenpastor Wang Ming-tao in Berührung.

In Tsingtau lernte er die sogenannte »Geistesgaben-Bewegung« (Ling En) kennen, die in der Provinz Schantung sehr aktiv war. Watchman fühlte sich durch ihre unkontrollierten Gefühlsausbrüche und extravaganten Methoden gewarnt und brachte im Sommer 1932 in seiner Zeitschrift, die nun wieder »Erweckung« hieß, eine Artikelserie, wo er zwischen der von Gott geschenkten Geistestaufe und den äußeren Begleiterscheinungen unterschied, auf die manche ihrer Vertreter so großen Wert legten. Dabei zitierte er Margaret Barbers Beobachtung:
»Wir brauchen die Kraft, die aus dem Heiligen Geist kommt, nicht zu fühlen. Dazu wurde sie nicht gegeben. Unsere einzige Pflicht ist es, Gott zu gehorchen.«

Hier traf er auch zum ersten Mal Witness Lee. Er war Kind buddhistischer Eltern und hatte sich 1925 mit zwanzig Jahren bekehrt. Seit 1927 hatte er Watchmans Blatt bezogen, und nun entwickelte sich bei ihm die Gabe der Verkündigung und der Bibelauslegung. An einem Ferienabend taufte Watchman ihn im Gelben Meer.
Watchman kam nun auf seinen Reisen mit Menschen in Verbindung, die ihn als Herausgeber seiner kleinen, viel gelesenen Zeitschrift kannten. . . .

Im Dezember 1931 kam Dr. John Sung auf einer Predigtreise durch Tsinan, und nachdem er auf einer Versammlung im Haus der Stearns gesprochen hatte, fanden binnen weniger Tage vierzig oder fünfzig Studenten zu Christus. Gottes Geist begann unter der Studentenschaft zu wirken. Sie kamen ratsuchend zu den Stearns, und diese suchten nun nach einem entsprechenden Referenten für die bevorstehende Freizeit im Frühjahr. Einmütig wurde Wang Tsai gewählt, doch da er in Java Verpflichtungen hatte, schlug ein Student aus Futschou Watchman Nee vor. Dieser wenig bekannte Prediger in Schanghai führte keinen Terminkalender, und er stand in dem Ruf, daß man ihn nur schwer festlegen könne. Nachdem Dr. Stearns darüber gebetet hatte, lud er Watchman ein, und dieser gab seine Zusage.

Er kam, und Gott war mit ihm. Als er an einem Wochenende im Hörsaal der Medizinischen Fakultät sprach und den Weg des Lebens vor einer dicht gedrängten Zuhörerschaft verkündete, breitete sich die lang ersehnte Erweckung aus. Immer mehr Studenten fanden Christus.  . . .

Inzwischen war Charles Barlows Begeisterung über Watchmans Arbeit auf die »Brüder«-Gemeinden in der englisch sprechenden Welt übergesprungen. Man sah, daß in China der Geist Gottes am Werk war, und die Gemeinschaft, die daraus entstanden war, stellte Grundsätze auf, wie sie sie selbst in ihren Anfängen vor hundert Jahren gefunden hatten. So beschlossen sie denn, eine Abordnung nach Schanghai zu den chinesischen Brüdern zu senden.

Es waren acht – sechs Männer und die Ehefrauen von zweien –, die am 23. Oktober in Schanghai eintrafen und in einem passenden Hotel untergebracht wurden. Diese Vertreter aus England, den Vereinigten Staaten und Australien waren bewegt von der herzlichen Gastfreundschaft der Chinesen, die sie mit aufrichtiger Zuneigung erwiderten. Watchman fühlte sich bei ihrer Ankunft nicht wohl, doch bald konnte er an den freundschaftlichen Gesprächen teilnehmen, die sich über zwei Wochen hinzogen.
Am ersten Sonntag entschuldigten sich die Besucher. Sie konnten nämlich nicht am Brotbrechen der chinesischen Brüder teilnehmen. Sie beteten und debattierten über alles, was sie sahen und hörten, ob vielleicht doch etwas verkehrt daran wäre. Würde die Gemeinschaft mit den Brüdern zu Hause nicht gefährdet, wenn sie hier an etwas teilnähmen, das Gott möglicherweise nicht billigte? Aber es gab wiederum so viel, das sie beruhigte, die anbetende Haltung, der Gehorsam gegenüber der Schrift, das Gebet dieser Leute, die offensichtliche Autorität der Brüder und die Unterwürfigkeit und das Schweigen der Frauen, sowie ihre Kopfbedeckung!

Es war geplant, daß am 6. November eine einwöchige Konferenz folgen sollte, zu der vierzig Brüder von außerhalb erwartet wurden. Auch sollten einige öffentliche Versammlungen stattfinden. Die Gäste aus Übersee waren jetzt sicher, daß nichts sie von ihren chinesischen Brüdern trennte, und so nahmen sie am 6. November am Brotbrechen teil. Es war eine Zeit unaussprechlicher Freude.
Die Konferenz begann unter wechselseitigen Beglückwünschungen. Die Hauptsprecher waren Charles Barlow und W. J. House. Nee diente als Dolmetscher. Faithful Luke war mit anderen aus dem Süden angereist, und eine Anzahl Brüder war vom Oberlauf des Jangtse und von noch weiter nördlich gekommen. Auch Watchmans Mutter war da.

Nach der Konferenz luden einige Brüder aus Kiangsi die ausländischen Gäste ein, ihre Gemeinden zu besuchen, aber dies nördliche Gebiet hatte vor kurzem Unruhen erlebt, und das Risiko, daß ihre Gäste von Banditen gefangen wurden, war zu groß. W. J. House und Charles Barlow hatten jedoch den Wunsch geäußert, den Schauplatz zu besuchen, in dem das Werk begonnen hatte, und so reiste Faithful Luke voraus, um John Wang zu treffen und mit ihm den Empfang in Futschou vorzubereiten. Dort wehte ein schwerer Monsumsturm, als die Gäste eintrafen. Huo-ping und ihr Mann empfingen sie in ihrem Haus am Flußufer. Die Versammlungen waren gut besucht, etwa 250 Menschen kamen, und sie kehrten ermutigt und bereichert nach Schanghai zurück.

Der Bericht, den die Brüder zu Hause gaben, war so günstig, daß Watchman im Frühling 1933 eine Einladung nach England und Amerika erhielt. Er sollte Dr. Yu oder Faithful Luke mitbringen. Yu war zu dieser Zeit an Tuberkulose erkrankt und Luke weit fort, und Watchman erwähnte keinem gegenüber, daß er mit eingeladen war. Hatte er ein Vorgefühl der Probleme, die vor ihm lagen, und hielt er sich für den berufenen Wächter seines Volkes? Auf jeden Fall beschloß er, nachdem er mit den Brüdern darüber gebetet hatte, allein zu reisen.
Die Fahrt nach Europa machte eine Unterbrechung in Singapur möglich. Er fuhr nach Sitiawan und zeigte den Eltern Ling seine Ehrerbietung, eine Geste, die den Frieden besiegelte, den Gott ihm vor kurzem geschenkt hatte.

Die lange Seereise war der Ruhe und dem Studium günstig. Ende Juni kam er gestärkt in England an, wo ihn Charles Barlow abholte und zu sich in sein Haus in Peterborough nahm. Von dort aus besuchte Watchman weit verstreute Versammlungsorte bis nach Schottland, Islington, Croydon und Ventnor. Überall wurde ihm eine überwältigende Gastfreundschaft entgegengebracht, war sein Kommen doch etwas völlig Neues in dieser engsten Gruppe der »Brüder«, die selbst keine Missionstätigkeit ausübten.

Man lud ihn ein, über seine Arbeit zu sprechen, er durfte natürlich auch am Abendmahl teilnehmen und gelegentlich mit dem Wort dienen, wobei ihn sein Englisch etwas behinderte. Er führte lange Gespräche mit den älteren Brüdern und fand heraus, daß seine Gastgeber die chinesischen Gläubigen für ausgesprochen unreife Christen hielten, die eine Menge Belehrung nötig hatten. Watchman selbst sah trotz seiner dreißig Jahre noch wie ein Student aus, und nun nahm er mit seinem anerzogenen Respekt vor Weisheit und Alter ihre Ratschläge entgegen. Er überraschte die englischen Brüder jedoch durch die praktischen Probleme, mit denen er und die Brüder in Schanghai sich auseinandersetzen mußten. Wie würden sie entscheiden, wenn ein Neubekehrter käme und fragte: »Ich möchte getauft werden, aber ich habe zwei Frauen. Was soll ich tun?«

Mit den jüngeren Menschen plauderte er etwa über die einfache chinesische Regel für Versammlungen: »Keine Bibel, kein Frühstück!« Oder er erfreute sie durch Geschichten von den »Scherendämonen« in Fukien, die Löcher in die Schirme aus Ölpapier schnitten, damit der Regen durchkam.
Doch meistens, wenn er nicht gerade in Diskussionen verwickelt war, lauschte und beobachtete er schweigend. Er achtete den Reichtum geistlicher Erkenntnis in dieser Gruppe, doch störte ihn ihre Selbstgefälligkeit. Sie waren überzeugt – und sagten es auch –, daß es auf dem Gebiet geistlicher Offenbarung kaum etwas geben könne, was die »Brüder« nicht hätten, und hielten es für Zeitverschwendung zu lesen, was andere Christen geschrieben haben. »Was haben sie, was wir nicht haben?«

Bei einer Konferenz in Islington wurde er eingeladen, auch einen Beitrag zu einer langen Diskussion über die Lehre zu geben. Er erhob sich zu seiner ganzen Länge, streckte die Arme aus und machte seiner wachsenden Ungeduld Luft:
»Meine lieben Brüder, euer Verständnis der Wahrheit ist groß, doch in meinem Land würde sie euch so viel nützen« – er drückte Daumen und Zeigefinger zusammen –, »denn wenn es notwendig würde, könntet ihr nicht einmal einen Dämon austreiben …«.

Später schämte er sich über seinen Ausbruch, doch als er England verließ, meinte er voller Sorge zu seinem Freund Charles Barlow: »Ihr habt wundervolle Erkenntnisse, doch so wenig Glauben!«

Auf seinen Reisen durch England wurde Watchman immer von Charles Barlow oder einem anderen Bruder begleitet. Doch einmal entschuldigte er sich für eine Woche, um geschäftehalber nach London zu fahren. In dieser Zeit brach er, ohne seinen Gastgebern etwas davon zu verraten, aus dem engen Kreis aus, in dem er sich bewegte. Am Sonntag besuchte er das Christian Fellowship-Zentrum in der Honor Oak Straße, um am Gottesdienst dieser unabhängigen Gruppe teilzunehmen, die sich um T. Austin-Sparks, einen früheren Baptistenprediger, geschart hatte. Dieser Mann, den er zu treffen gehofft hatte, war zur Zeit im Norden, doch George Paterson und andere hießen ihn herzlich willkommen. Er genoß die Gemeinschaft und den Dienst am Wort und empfing voller Freude mit ihnen Brot und Wein.

Zwei Wochen später war sein Aufenthalt in England zu Ende. Mit dieser einzigen Ausnahme war er ausschließlich in dem sehr engen Kreis einer einzigen christlichen Splittergruppe geblieben und hatte keinerlei Verbindung zu anderen evangelikalen Kreisen aufnehmen können.

Ein älterer Mann aus Brooklyn, N. Y., dessen Wort bei diesen Brüdern großes Gewicht hatte, war einige Wochen in England gewesen und wollte Watchman nun auf seiner Rückreise über den Atlantik begleiten. Es war jener James Taylor, der neben einer Kette von Herrenkonfektionsgeschäften seit 1930 die Versammlungen der »Ravenschen« Brüder leitete. Er prüfte Watchman auf Herz und Nieren und war entzückt, als dieser so offen und frei über seine Arbeit in China und ihre besonderen Bedingungen sprach und ihn häufig um Rat fragte. Als es aber um Lehrfragen ging und besonders um die Prophetie, entdeckte er, daß Nee sich Vorstellungen über die Wiederkunft Christi machte, die er nur als Irrlehre betrachten konnte. Sie erreichten New York, wo Nee mit der größten Herzlichkeit empfangen wurde. Er sprach in einer Versammlung in Westfield über das Thema »Erlösung«. Die meisten waren begeistert, nur Taylor hielt seine Ausführungen für »mangelhaft in bezug auf die Lehre«.

Zur selben Zeit etwa saß ein älterer Herr im Zug nach Glasgow einem Teenager gegenüber. Das Mädchen las eifrig in der Bibel. Die Unterhaltung brachte zutage, daß es sich zur Versammlung in der Honor-Oak-Straße hielt. Er forschte weiter und erfuhr, daß ein netter Chinese am Wochenende dagewesen sei. Hatte jemand versäumt, auf Watchman aufzupassen?

An jenem Abend wurde George Paterson von einem Fremden angerufen: »Kennen Sie einen Chinesen namens Nee?« – »Hat er Gemeinschaft mit Ihnen gehabt?« – »Hat er mit Ihnen das Brot gebrochen?« Auf jede Frage antwortete Paterson mit einem »ja«, und dann wurde auf der anderen Seite eingehängt.

Ein Telegramm an Taylor nach Brooklyn kam zu spät, Watchman befand sich schon in New Haven. Er hatte den Atlantik hauptsächlich überquert, um einige Tage bei Thornton und Carol Stearns zu verleben, die auf Heimaturlaub waren. Am Sonntag brach er entgegen dem vorsorglich ausgesprochenen Rat Taylors mit den Stearns und anderen das Brot in ihrem Haus. »Er gab nicht zu, daß er Grundsätze verletzt hatte«, schrieb Taylor sorgenvoll. Gedrängt, Stellung zu beziehen, lehnte Watchman es ab, sich mündlich oder schriftlich zu äußern, bis er sich mit seinen Mitarbeitern in Schanghai beraten hätte.

Taylor berichtete nach Vancouver, wo Watchman in Versammlungen sprechen sollte, was geschehen war und wie er die Dinge sah. Die Gemeinden, in deren Mitte sich Taylor bewegte, grenzten sich hermetisch von allen anderen christlichen Gemeinden ab. Jeder »draußen« war von der Gemeinschaft mit denen »drinnen« ausgeschlossen, außer er stimmte zu, von jetzt an nur Versammlungen »innerhalb des Zauns« zu besuchen. Diese Regel galt auch für die gesellschaftlichen Beziehungen und wurde später von James Taylor jr. noch verschärft, bis sich die Bewegung in den frühen sechziger Jahren hoffnungslos über dieser Streitfrage aufspaltete.

In Vancouver wurde Watchman trotz Taylors Warnungen herzlich willkommen geheißen und eingeladen, auf den geplanten Veranstaltungen zu sprechen. Es scheint, daß er wirkliche Freiheit genossen hat, denn wenigstens ein junger Kanadier fand den Herrn, und man erinnert sich Watchmans dort noch immer mit großer Zuneigung. Hier erneuerte er auch die Freundschaft mit C. H. Judd von der China-Inland-Mission und besuchte Lena Clark, die dreiundzwanzig Jahre für die China-Inland-Mission gearbeitet hatte.
Auf der langen, stillen Heimreise über den Pazifik schenkte Gott Watchman eine neue Erkenntnis: »Als ich ein junger Christ war, lobten mich viele Leute, ich lebte Christus gemäß. Einige Jahre später entdeckte ich zu meiner Bestürzung, daß mein Temperament oft mit mir durchging, daß ich meine Gereiztheit und meine Launen nicht beherrschen konnte. Selbst wenn ich mich äußerlich zusammennahm, schwelten sie doch innerlich. Schlimmer wurde das Ganze noch dadurch, daß mich dieselben freundlichen Christen nicht gerade sanft auf diesen Unterschied hinwiesen. Ich wäre so demütig und geduldig gewesen, so sanft und liebevoll, doch jetzt …! Ich hätte ihre Kritik noch übertreffen können, wenn ich selbst ausgepackt hätte. Aber wie war es dazu gekommen? Was war die Ursache …?«

Für ihn war, wie er sagt, Christus der Inbegriff aller preiswürdigen Tugenden wie Sanftmut, Geduld, Liebe, Weisheit, Heiligkeit gewesen, deren Mangel er selbst so schmerzlich empfand. »Zwei Jahre lang tappte ich in dieser Finsternis herum und suchte diese Tugenden, die das christliche Leben ausmachen, als persönlichen Besitz anzuhäufen, genauso wie ich vor meiner Bekehrung weltliche Dinge angehäuft hatte. Doch ich hatte keinen Erfolg. Ich hatte geistliche Güter zu sammeln versucht, und Gott hatte eingegriffen und mich von ihnen befreit, um damit dem Leben seines Sohnes Bahn zu schaffen.
Und dann eines Tages im Jahre 1933 wurde ich erleuchtet. Wieder las ich 1. Korinther 1,30 und erkannte plötzlich, daß Christus von Gott dazu bestimmt ist, mir in seiner ganzen Fülle zu gehören. Was für ein Unterschied! O die Leere der Dinge! Wenn sie nicht zu ihm in Beziehung stehen, sind sie tot, denn Gott sucht nicht eine Zurschaustellung unserer Gerechtigkeit, sondern eine Offenbarung seines Christus. Damit begann ein neues Leben für mich. Er selbst ist die Antwort auf alle Forderungen Gottes, und das nicht für die Zukunft, sondern als eine gegenwärtige Tatsache. Mein tägliches Leben als Christ stand von da an unter dem Motto ›Empfangen‹.«

11. Neue Horizonte

In China erwarteten Watchman ungeheure Aufgaben. Die Korrespondenz zwischen den Brüdern in Schanghai und ihren ehemaligen Freunden im Westen schleppte sich zwei qualvolle Jahre hin bis zu ihrem traurigen Ende. Dies durfte Watchman jedoch nicht davon abhalten, das Evangelium zu verkünden und die gläubigen Mitarbeiter weiter zu schulen. Die Stärke seiner Arbeit lag darin, daß jeder Gläubige ein unbezahlter Evangelist war. Jeder, der aus geschäftlichen Gründen oder im Regierungsdienst in eine andere Stadt zog, konnte sein Heim zu einem Ort des Gebets und der Verkündigung machen. Durch Straßen- und Eisenbahnbau wurde China schnell erschlossen, auch die rasche Entwicklung des Flugverkehrs machte es immer leichter, das Land zu bereisen. Zu den Brüdern, denen sich diese neuen Arbeitsfelder öffneten, sprach er an Neujahr über Gemeindebildung. Er hatte im Westen viel Ungesundes gesehen. So prüfte er das Neue Testament erneut, wo er sich in seiner Ansicht bestätigt fand: daß eine Stadt oder ein Dorf nur eine einzige Kirche haben sollten und nicht deren mehrere.

Aber er war ruhelos. Schon seit einiger Zeit hatte er den Wunsch, die entfernten südwestlichen Provinzen von Kweitschou und Jünnan zu besuchen. Im Frühling 1934 bot sich nun eine Gelegenheit dazu.

Ein Mann namens Ma hatte kürzlich zum Glauben gefunden und bei seiner Taufe den Namen »Hirt« angenommen (Ma Muh). Er hatte ein gutgehendes Geschäft im Jangtsehafen Jo-tschou in Hunan, und seine geschäftlichen Interessen erstreckten sich bis in die Provinz Kweitschou hinein. Er war ein redlicher Bruder, besaß einen Ford und einen wagemutigen Geist, dazu kam nun sein Eifer für das Evangelium. Er und Watchman planten eine Reise bis zum Ende der neuen südwestlichen Autostraße. Watchman fuhr ihm per Schiff nach Futschou entgegen. Dort beluden sie den Wagen mit Benzinkanistern und Evangelien und umfuhren das große Reisanbaugebiet von Hunan. Zuerst ging es in südlicher Richtung zur Provinzhauptstadt Tschangscha und dann nordwestlich nach Tschangtu. Sie ließen sich Zeit. Hirt Ma fuhr den Wagen, und bei jedem Anlegeplatz einer Fähre, oder wenn sich ein paar Vorübergehende versammelten, stand Watchman auf und predigte.

Der schiffbare Jüan war immer der Handelsweg nach dem Südwesten gewesen, und ihr Weg führte sie nun in seinem breiten Tal hinauf nach Jüanling. Nicht weit von dieser Stadt, in Sangschi, lag die kommunistische zweite Armee Ho Lungs. Doch als die beiden zur Grenze von Hunan hinauffuhren, war alles ruhig. Hier gab es manche Außenposten europäischer Missionen, doch der größte Teil der Bevölkerung hatte noch nichts vom Evangelium gehört.

Die Provinz Kweitschou war in einem raschen Wandel begriffen. Stadtstraßen, die bisher an den Stadttoren endeten, wurden ins Land hinaus verlängert, und feste Straßen ersetzten die Fußwege, die sich um die Hügel wanden. Es mußten noch im Bau befindliche Wegstrecken bewältigt werden, und selbst da, wo die Straßen fertig waren, konnten sie so holperig sein, daß man äußerst vorsichtig fahren mußte. Hirt war kurzsichtig, er trug eine dicke Brille, so daß er in den nicht markierten Haarnadelkurven, wo eine falsche Bewegung den Sturz in die Tiefe zur Folge haben mußte, unsicher war. Dann mußte sich Watchman, weniger geübt im Fahren, aber mit stärkeren Nerven ausgerüstet, ans Steuer setzen.

In der Provinzhauptstadt Kweijang trafen sie eine Gruppe von Gläubigen, die eine Hausgemeinde bildete. Hier erlebten sie einen frohen Empfang, so daß sie einige Tage blieben. Hier wurde ihnen aber auch klar, wie ungewiß ihr weiterer Weg war. Sie hörten, daß weite Abschnitte der Straße nach Kunming in der Provinz Jünnan nur auf den Karten der Planer standen. Aber da die beiden Reisenden nun so weit gekommen waren, vermummten sie sich gegen die Kälte und fuhren entschlossen weiter, immer tiefer in die Berge hinein. Noch lag Schnee auf den Gipfeln, als sie zwischen Azaleen und Rhododendron immer höhere Pässe erklommen. Bergab stellten sie den Motor ab, um das knappe Benzin zu sparen.

Hirt Ma berichtet, wie der Rhythmus des Motors die kurzen Belehrungen und Predigten Watchmans in sein Bewußtsein tuckerte und daß in größerer Höhe Watchman häufig sein Herz zu schaffen machte; seine frühere lange Erkrankung forderte ihren Tribut. Aus dem Regen von Kweitschou kamen sie in den heftigen Wind von Jünnan, und schließlich gelangten sie an einen Punkt, an dem amüsierte Stammesleute sie über die Baustellen schieben mußten. Ein Ingenieur versicherte ihnen, daß sie tatsächlich die ersten Reisenden seien, die durchgekommen waren. Sie waren froh und erleichtert, als sie nun die lange Talfahrt in die Kü-tseng-Ebene antraten.

Als sie endlich in Kunming angekommen waren und versuchten Zeugnis abzulegen, interessierten sich ihre Zuhörer nur für das Auto. Als sie erfuhren, welche Strecke der Ford hinter sich gebracht hatte, wurde er schnell berühmt.
Nördlich von Kunming jenseits des Goldsand-Flusses lagen die ersten Tibeter-Siedlungen. In Schanghai waren einige Brüder, die Gott dazu rief, die Tibeter zu missionieren, und Watchman wollte sich ein Urteil über die Lage bilden. Ein mehrtägiger Ausflug brachte sie zu einem Marktflecken in den Bergen, zu dem die Tibeter ihre Waren brachten. Während Hirt Ma ihre außerordentliche Gastfreundlichkeit genoß, verschaffte sich Watchman mit Hilfe eines Dolmetschers ein Bild von ihrer geistlichen Finsternis und Erlösungsbedürftigkeit.

Diese Fahrt in den Südwesten zur rechten Zeit war offensichtlich Führung.
Das zeigten die beiden folgenden Jahre des Bürgerkrieges, die solche Reisen ganz unmöglich machten. Im Herbst 1934 wurden die Kommunisten unter Mao Tse-tung durch Tschiang Kai-scheks Einkreisung gezwungen, aus Süd-Kiangsi auszubrechen. Von dort aus begannen sie ihren historischen Sechstausend-Meilen-Treck, der in die Geschichte als der »Lange Marsch« einging und dicht an Kunming vorbeiführte. Doch lange vor diesen Ereignissen war Watchman zurück. Er hielt eine Zeitlang in der großen Handelsstadt Hankau Bibelstunden und kehrte anschließend nach Schanghai zurück. Hier hatte K. S. Lee, ein Führer unter den Christen, ein Treffen zwischen ihm, John Sung und Wang Tsai zustandegebracht, um diese drei so verschiedenen Männer zu einem Team zusammenzuschweißen. Doch diese Bemühung war umsonst. Wang Tsai lehnte Watchmans Überzeugung ab, daß die Prediger nicht besoldet werden sollten, und Watchman verstand nicht, warum er von den Missionen abhängig bleiben wollte, die, wie Watchman fürchtete, der christlichen Sache nur Schaden durch Spaltungen zufügen würden. Erst im Lichte späterer Ereignisse kamen Worte der Anerkennung über Wang Tsais Lippen, als er sah, wie Watchman für seine Überzeugungen einstand.

John Sung und Nee vertrugen sich unglücklicherweise niemals, obwohl der eine erntete, wo der andere gesät hatte. Sung, der nur noch zehn Jahre leben sollte, war ein großer Evangelist, der sich allerdings fast ausschließlich an das Gefühl wandte. Ein Freund beschreibt ihn als einen Menschen, bei dem jede Meinung eine Überzeugung war. Obgleich Nee der begabtere Evangelist war, benutzte Gott doch Sung, um dem Himmelreich die großen Massen zuzuführen, und die Erweckung, die durch seine Predigten entstand, verbreitete sich wie ein Präriefeuer. Ein Beobachter bemerkt: »Wenn Sung predigte, wachten die Schafe auf und wurden hungrig, und weil niemand ihnen Nahrung geben konnte, kam Watchmans Belehrung zur rechten Zeit, um den Hunger zu stillen.«
Doch Sung war Nee gegenüber ausgesprochen kritisch, und Vertrauten gegenüber äußerte sich Nee verächtlich über Sungs theologische Unreife und die Unbeständigkeit in seiner Arbeit. Ob Watchman ein unbestimmbares Verlangen nach einer Salbung durch Gott spürte, die er bei Sung wahrnahm, die ihm selbst aber fehlte?

Es folgte die dritte Schanghai-Konferenz, auf der er über die zentrale Stellung Christi in der Schrift und im Leben des Gottesvolkes sprach. Witness Lee aus Chefoo war anwesend sowie Gläubige aus Städten in Kiangsu und Schantung, wo seit Watchmans Besuch im Jahre 1932 in schneller Folge Gemeinden entstanden. (Die Brüder gliedern die Anfänge des Werks in drei Abschnitte von je vier Jahren: Futschou 1924, Schanghai 1928, der Norden 1932.)
Bei seiner Rückkehr aus England hatte Watchman erfahren, daß Charity Chang wieder in Schanghai war und ihr M. A. in Englisch an der Yenching Universität gemacht hatte. Sie war das weltlich gesinnte Mädchen geblieben, das er kannte; sie trug Make up und kleidete sich elegant.
Doch dann besuchte sie einige Versammlungen in Wen Teh Li und fand dort den Herrn, und als sie um die Taufe bat, bezeugten die älteren Schwestern, daß sie vollkommen umgewandelt sei. Das wurde durch Watchmans eigene Beobachtung bestätigt. Die Begegnung mit ihr brachte totgeglaubte Gefühle zu neuem Leben.

Als Charitys Schwester Faith dies sah, ergriff sie die Initiative. Sie suchte Watchman auf, der gerade von einer seiner Reisen zurückgekommen war, und fragte:
»Würdest du jetzt, da Charity eine ernste Christin geworden ist, die dem Herrn standhaft dient, eine Ehe mit ihr in Betracht ziehen? Ich bin sicher, daß sie keine Einwände erheben würde.«

Nur nach viel Gebet um Klarheit über Gottes Willen folgte Watchman seinem Herzen. Er sandte einen eiligen Brief an seine Eltern in Futschou und bat um ihre Vermittlung bei den Heiratsverhandlungen. Huo-ping erinnerte sich an ihren Fehler in Sitiawan und geriet in Panikstimmung. Sie machte sich auf den Weg nach Schanghai, wo sie sich durch eine Flut von Gerüchten hindurcharbeiten mußte. Charitys verwitwete Tante Chang Mei-chen war dem Vernehmen nach entschlossen gegen diese Eheschließung ihrer prächtigen Nichte mit einem armen Prediger. Und auch in den Gemütern der Gläubigen herrschten Zweifel. Sie vergötterten Watchman und waren entsetzt, daß er – ein Mann des Gebets – an die Gründung einer Familie dachte, und das, was noch schlimmer war, mit einer College-Schönheit von der Yenching-Universität!

Aber seine Mutter suchte Charitys Onkel Chang Schiu-kan, das Familienoberhaupt, auf, und erlangte zu ihrer Erleichterung seine Einwilligung. Dann lud sie Charity ein, sie zu Evangeliumsversammlungen in eine andere Stadt zu begleiten. Eine Woche lang teilten sie ein Zimmer, lebten und beteten zusammen, und als sie zurückkehrten, hatte sie die volle Gewißheit, daß Gott Charity für ihren Sohn gewählt habe.

Anfang Oktober versammelten sich fast 400 Gläubige in Hangtschou, der Hauptstadt der Tschekiang-Provinz, einer altertümlichen und malerischen Stadt inmitten steiler Hügel und verträumter grüner Seen. Seit Peace Wang, jene Schülerin Ruth Lees, die gegen den Widerstand aller Autoritäten Christ geworden war, dieses Gebiet zuerst besucht und unter den Frauen gearbeitet hatte, gab es an verschiedenen Orten in Ost-Tschekiang kleine Gruppen von Gläubigen. Hier hielt Watchman zehn Tage Bibelstunden, und er war überglücklich, daß seine Eltern anwesend waren. Für den folgenden Tag war seine Hochzeit festgesetzt. Der Gedanke daran lag ihm so fern, daß Faithful Luke ihn noch am Hochzeitsmorgen in einen Laden mit Gebrauchtkleidern schleppen mußte, damit er sich einen Hochzeitsanzug kaufte.

So wurde am Nachmittag des 19. Oktober 1934, am Hochzeitstag seiner Eltern, Watchman in christlicher Ehe mit Chang Charity (Pin-huei) vereinigt.

Gemeinsam mit zahlreichen Gemeindegliedern dankten sie Gott, sangen das Lied, das er zehn Jahre zuvor für Charity geschrieben hatte, und nachher feierten sie an dreißig Tischen mit je zehn Gästen.

Doch jetzt brach der Sturm los. Inzwischen hatte Charitys Tante Mei-chen ihrem Zorn in einer Schanghaier Tageszeitung Luft gemacht und Watchman in gelehrtem Chinesisch angegriffen. Wie, fragte sie, konnte dieser bettelarme Prediger es wagen, ihre geliebte Charity zu entführen? Wenn er es sich jemals leisten konnte, eine Frau zu ernähren, geschweige denn eine so kultivierte junge Dame zufriedenzustellen, dann mußte er das Geld dazu aus ausländischen Quellen erhalten. Und schließlich folgte ein verschleierter Angriff auf seine Redlichkeit, der in diesem Zusammenhang beleidigend genug war und bereitwillig von seinen Gegnern aufgegriffen wurde. Der Artikel wurde nachgedruckt und kursierte wochenlang in christlichen Kreisen. »Das Exemplar, das ich bekam«, bemerkt ein Missionar, »war so gemein, daß ich es verbrannte und anschließend das Bedürfnis nach einem Bad verspürte.«

Watchman geriet in eine tiefe Depression. In ihrem neuen Heim legte er sich zu Bett und wollte niemanden sehen. Eine energische Missionarin besuchte ihn trotzdem. »Er wird mich empfangen«, sagte sie, »weil ich eine Botschaft von Gott für ihn habe.« Sie betrat sein Schlafzimmer. »Keine Waffe, die gegen dich gerichtet ist, soll Erfolg haben«, verkündete sie, »und jede Zunge, die über dich zu Gericht sitzt, sollst du verwerfen.« Auch Faith Chang versuchte ihn aufzumuntern. »Was soll’s – du hast eine Frau nach deinem Herzen gefunden.«
Und Charity war in der Tat eine Quelle der Freude für ihn. Ihr Chinesisch war wunderbar und ebenso ihr Englisch. Sie lebte demütig mit dem Herrn und würde Watchman in seiner Arbeit eine große Hilfe sein. Und sie war eine Schönheit, darin waren sich alle einig.

Im November fuhren sie noch einmal nach Amoy zu einer Konferenz, und dann folgte eine Zeit, in der ihn die Probleme fast arbeitsunfähig machten. Die Londoner Korrespondenz mit dem Brüderkreis um Taylor sen. und jun. belastete ihn. Sein Herz machte ihm zu schaffen. Und da war die ungelöste Frage nach der persönlichen Begabung mit dem Heiligen Geist für den Dienst, er spürte, daß er sie nicht hatte, fand aber auch keinen Zugang zu der Lehre, die von dieser Gabe die Qualifikation für den Dienst abhängig machte. Im Blick auf die Lehre half ihm Gott während der Arbeit an einem Platz, der für seine theologischen Fragen absolut immun war und wo er, in seiner Verzweiflung allereinfachste Dörfler bat, mit ihm zu beten.

Und noch andere Hilfen machten sich bemerkbar. Etwa die Rückkehr der Stearns im Januar 1935. Nach Watchmans Besuch in Tsinan 1932 hatte sich dort eine »Separatisten«-Gruppe gebildet, die den Stearns die Rückkehr an die Universität Chefoo verleidete, und so nahm Dr. Stearn eine Berufung nach Schanghai an. Eine weitere Freude war es, Li Kuo-ching wiederzusehen, den Adoptivsohn der Dr. Li, mit dem er auf den Inseln in der Minmündung das Regenwunder erlebt hatte. Als Watchman ihn fragte, ob er dem Herrn noch nachfolgte, fragte Kuo-ching zurück: »Denken Sie, ich könnte ihn nach allem, was ich mit ihm erlebt habe, vergessen?«

Der lange Briefwechsel mit London und New York half, so schmerzlich er war, den Brüdern in Schanghai, ihre eigenen Vorstellungen über die Beziehungen zwischen den Kirchen klarer zu formulieren. Die Londoner Brüder hatten Watchman beschuldigt, die Gemeinschaft verraten zu haben, als er mit Christen anderer Gruppen (in Honor Oak und New Haven) am Tisch des Herrn teilnahm.

Nun ging es um die Frage, ob man sich von allen anderen christlichen Gemeinschaften absondern müsse, um zum Tisch des Herrn zugelassen zu werden. Wie stand es z.B. um die chinesischen Gemeinden, die ihre Beziehung zur Mission aufrechterhalten hatten?

Die Antwort der Ältesten in Schanghai war ein demütiger und versöhnlicher Hinweis auf die christliche Vernunft und das Wirken des Geistes. Sie befürwortete klar die offene Gemeinschaft beim Abendmahl, die sich auf das christliche Gewissen gründet. Doch ihr ausführlicher Brief , unterschrieben von D. C. Du, Y. A. Wu, W. Nee und K. Y. Chang, erreichte in London das Gegenteil: Am 30. Juli 1935 wurde in Islington der Bruch mit den chinesischen Brüdern verkündet. An diese Entscheidung war jede Versammlung dieser Brüdergruppe in der ganzen Welt gebunden. Den Chinesen bereitete dies eine Art Schock. Ihre Enttäuschung war groß.

Watchman erhielt den Brief in Chefoo. Hier hielt Elisabeth Fischbacher, eine der begabtesten Rednerinnen der China-Inland-Mission, Erweckungsversammlungen. Watchman machte gerade eine Zeit geistlicher Trockenheit durch. Ihn hungerte nach einer neuen Erfahrung Gottes, und nun überwand er seine Abneigung gegen weibliche Prediger und besuchte zusammen mit Charity diese Versammlungen. Elisabeth Fischbacher teilte die Schanghaier Vorliebe für ekstatisches Gebet, und wenn ihr Englisch nicht mehr ausreichte, betete und sang sie in Zungen. Aber sie predigte mit Vollmacht, und Watchman geriet in ihren Bann. Er antwortete dem Anruf des Wortes und kam so zu einer ganz neuen Entdeckung göttlichen Segens. Damit war diese etwas unfruchtbare Zeit beendet. Er konnte wieder predigen und sandte ein Telegramm nach Schanghai: »Ich bin dem Herrn begegnet.«

Bei der Herbstkonferenz sprach er über die Ausgießung des Heiligen Geistes, was manche zu einer ähnlichen Erfahrung führte. Die Folge war, daß sich etwa ein oder zwei Jahre lang eine Welle geistlicher Erregung in den südlichen Gemeinden ausbreitete. Diese Gruppen von Gläubigen hatten einen mehr intellektuellen Zugang zur Bibel gehabt, die für sie über aller subjektiven Erfahrung stand. Nur in den Gebetsstunden kannten sie kurze Gebetsgemeinschaften am Schluß. Diese Praxis soll John Sung eingeführt haben. Nun aber überließ man sich äußerster Erregung mit Hüpfen, Händeklatschen, Schreien, Lachen und unbekannten »Zungen«, die den Zuhörern und selbst dem Redner keine Botschaft übermittelten. Hinzu kam eine Flut von dramatischen Heilungen, von denen einige sicher echt, andere jedoch Selbsttäuschung waren.

Im Spätherbst 1935 fand eine zehntägige Konferenz in Tsinkiang statt. Lukas Wu, der Dekan des christlichen Colleges, der vor kurzem Christ geworden war, als er für John Sung in einer Evangelisation übersetzte, öffnete sein großes Haus für die fast vierhundert Konferenzteilnehmer. Hier sprach Watchman über sieghaftes Leben und die Ausgießung des Heiligen Geistes, und noch einmal wurde fühlbar der Segen Gottes erlebt. Nach diesen Tagen wurde Wus Heim zum Mittelpunkt einer Gruppe von Gläubigen. Er setzte damit ein Beispiel, das in Zukunft in einer Stadt nach der anderen Nachnahmer finden sollte.

Witness Lee versichert, daß Watchman »nie in Zungen redete«. Das mag sein, kann aber jetzt nicht mehr bewiesen werden. Gewiß glaubte er an die geringeren Gaben, die der Heilige Geist der Kirche gegeben hat, die Gaben des Heilens, des Zungenredens und seiner Auslegung. »Ich habe mit eigenen Augen Fälle von sofortiger göttlicher Heilung gesehen«, berichtet er. »Wir wenden uns nicht dagegen, wir bekämpfen nur falsche Wege der Heilung … Manchmal werde ich gefragt, ob ich gegen das Zungenreden bin. Gewiß nicht! obwohl ich ein Zungenreden in Frage stelle, das durch falsche Mittel erworben wird.« Er berichtete, wie Gott in einer sehr verwirrten Dorfgemeinde dies Mittel benutzt hatte, um schlimme Tatsachen zu enthüllen, die notwendig bekannt werden mußten. Die einzige eingeweihte Person hatte versprechen müssen zu schweigen. Hier hatte die Gabe des Zungenredens Sinn und Zweck gehabt, meinte er.

Andrerseits hielt Watchman streng daran fest, daß »nicht alle in Zungen reden«. Seine Lehre war in diesem Punkt immer ausgewogen. Ein älterer China-Inland-Missionar, der einige Jahre später in Schanghai seine Vorträge über den Heiligen Geist besuchte, beschreibt sie als »die klarste Unterweisung, die ich jemals zu diesem Thema gehört habe«.

Einige Erweckungsmethoden, die Watchman damals anwandte, wirkten wie geistliches Opium. Wenn man ihnen verfiel, verlangten sie eine ständig verstärkte Dosis. Elisabeth Fischbacher spürte, daß sie selbst für diese Entwicklung mitverantwortlich war und gab ihr öffentliches Predigen auf. Sie wandte sich der Schriftstellerei zu und fand hier einen neuen lohnenden Dienst.

Drei Jahre später, als das Pendel zurückschwang und diese Episode vorüber war, sagte Watchman in einer Unterhaltung mit K. S. Wong: »Wenn wir auf diese Zeit zurückblicken, stellen wir fest, daß der Gewinn gering, der Verlust aber sehr groß war.«

12. Rückbesinnung

Im Oktober 1938 tauchte Mao Tse-tung mit den ersten verstreuten Überlebenden des »Langen Marsches« im nördlichen Schensi auf und schlug als der unbestrittene Führer der chinesischen kommunistischen Partei sein Hauptquartier in Jenan auf. Der »Lange Marsch« sollte als ein Höhepunkt kommunistischer Heldenhaftigkeit in die Annalen der Partei eingehen. Einige eindrucksvolle Episoden waren schon zu Legenden geworden: der Ausbruch aus der Umklammerung von Kiangsi, der geheime Übergang über den Goldsand-Fluß, die Einnahme der Brücke der Eisernen Ketten über den Tatu bei Luting, der Aufstieg auf den Großen Schneeberg und die Durchquerung des Sumpflandes von Szetschuan, dem Alptraum der Helden. Aufrechtgehalten durch ihr politisches Programm und eiserne Entschlossenheit, tauchten sie nun an einem Schlüsselpunkt am Rand der nord-chinesischen Ebene auf. Ihre Feuerprobe hatte sie zu einer disziplinierten Kerntruppe zusammengeschweißt. Nachdem sie so lange fast ständig militärisch angegriffen worden waren, hatten sie ein neues Selbstbewußtsein als Chinesische Kommunisten entwickelt, die nicht länger Rußland verantwortlich waren.

Tschiang Kai-scheks Versuch, sie vernichtend zu schlagen, war mißlungen. Nun war der Süden offen, und für die Brüder von Schanghai war endlich der Weg nach Tibet frei. Im nächsten Jahr gingen sechs von ihnen dorthin. Sie wurden von den Tibetern herzlich aufgenommen. Um dem Mangel an Schrifttum abzuhelfen, ließen sie Traktate und Bibelauszüge in tibetischer Sprache in Schanghai drucken und sandten sie per Schiffsfracht über Hanoi, wo die Franzosen sie zu Nees großem Ärger beschlagnahmten. Er ließ deshalb die Druckplatten nach Jünnan fliegen, damit dort an Ort und Stelle gedruckt würde.

Zwei Faktoren waren es, die das Werk in China förderten. Der eine war die wachsende Nachfrage nach Abschriften von Watchmans Predigten. Seine Zeitschrift und seine Traktate fanden überall Eingang in die christlichen Häuser und brachten denen Nahrung, die durch Erweckungspredigten geistlich aufgerüttelt waren, aber niemand hatten, der ihnen weiterhalf. Nees Gabe, die christliche Lehre in einfachen Worten zu erklären, begegnete dieser Not.
Der andere Faktor war, daß sich die Häuser der Gläubigen geöffnet hatten. Eine Gebetsgruppe entstand immer da, wo sich ein gläubiger Geschäftsmann oder Regierungsbeamter niederließ. Sein Haus wurde sogleich zu einem neuen Zentrum des christlichen Zeugnisses, in dem sich Männer und Frauen, die sich von der Sünde losgesagt und sich Christus ganz ausgeliefert hatten, zu einer schlichten Gemeinschaft zusammenschlossen.  . . .

Um neue sektiererische Spaltungen aufgrund der Lehre oder der Ausstrahlung einer Persönlichkeit zu vermeiden, dachte man sich die Gemeinde als an den Ort gebunden, an bestimmte Städte und Dörfer, ähnlich wie im System der Pfarreien. Sie unterhielten sich selbst und waren an ihrem Ort autonom. Darüber spannte sich eine lose Zentralorganisation, in der Watchman und ein paar andere oder die »Apostel« berieten und schulten. Wenn ein »Apostel« an einem Ort eine Gemeinde vorfand, unterwarf er sich den Ältesten dieser Gemeinde. 1938 stellte Watchman fest, daß es 128 solcher Apostel gab.  . . . 
Ein Allianzmissionar in der im Nordwesten gelegenen Provinz Kansu sagte zu Beginn der vierziger Jahre: »Je weiter die Bewegung sich von ihrem Ursprungsort entfernt, desto weniger gelingt es ihr, zwischen ungeheuchelter Bruderliebe und weniger wünschenswerten Gefühlsausbrüchen zu unterscheiden.« Er empfand wie andere den geistlichen Stolz vieler Anhänger der »Kleinen Herde«.  . . .  In der Küstenprovinz Tschekiang sprachen einige China-Inland Missionare mit warmer Anerkennung von ihrer Lehre und der echten christlichen Gemeinschaft unter ihnen. Anderen, denen die Abnahme der Gläubigen in den Missionskirchen Sorge bereitete, erschien Watchman als ein »Dieb der Schafe« und somit als ein äußerst gefährlicher Mann. Zu dieser Zeit war er zweifellos manchem Missionar ein Dorn im Auge.

Inzwischen waren mehrere von den Brüdern in Fukien als christliche Zeugen nach Übersee gegangen: Simon Meek 1931 nach den Philippinen, Faithful Luke, Daniel Tan und K. S. Wong nach Singapur und Malaya, andere nach Niederländisch Indien. Im Juli 1937 besuchte Watchman auf Meeks Einladung Manila. Hier und in Baguio sprach er vier Wochen lang zu Versammlungen bis zu hundert Menschen über ein sieghaftes christliches Leben, die Fülle des Heiligen Geistes und die Gemeinschaft in der Kirche. Er war in Singapur, als die japanische Invasion mit der Einnahme Pekings in China begann, und auch am 14. August, als die Feindseligkeiten in Schanghai ausbrachen. Chinesische Flugzeuge griffen japanische Schiffe auf dem Wangpoo an, und zwei Bombenladungen auf ein Warenhaus und die benachbarte Straße verursachten einen Massentod unter den eigenen Bürgern. Marine landete und machte aus der nördlichen Vorstadt Hongkew eine Festung, während Scharen von Flüchtlingen aus den angrenzenden Gebieten hereinströmten und auf jedem freien Platz ihre Strohhütten aufbauten.
Schanghai blieb vom Süden her offen, und auf diesem Weg fand Watchman nach vierwöchiger Fußwanderung zurück zu seiner Frau. Ihr Haus lag in einem evakuierten Bezirk, sie selbst war bei den Schwestern in der Hardoonstraße, wo man das Schießen in Tschapei einige Meilen nördlich hören konnte. Nicht zum letzten Mal waren ihre Sachen durchwühlt worden.
Beruhigt, daß alles in Ordnung war, brach Watchman bald wieder auf. Er umging das Kampfgebiet und machte sich auf die Reise Jangtse aufwärts nach Hankau. . . .
Danach kehrte er wieder hinter die Schlachtlinie, nach Schanghai zurück, das im November völlig unter japanischer Herrschaft stand. Jedes Haus, jedes Hausboot trug eine Fahne mit der aufgehenden Sonne, um zu zeigen, wer Herr im Lande sei. Überall stieß man auf Stacheldraht und Barrikaden, und die Preise stiegen. Im Dezember fiel die Hauptstadt Nanking. Die Nationalregierung hatte ihren langen Rückzug nach Westen begonnen, der in Tschungking enden sollte.

Watchmans Vorträge waren mitgeschrieben und weitergegeben worden, und nun forderte man ihre Veröffentlichung. Mit Charitys und Ruth Lees Hilfe machte Watchman sie druckfertig, so daß Gläubige und Mitarbeiter im ganzen Land aus ihnen Nutzen ziehen konnten. Im März 1938 erschien das Buch unter dem Titel »Kong Tsch-tih Tsai Hsiang« (Rückbesinnung auf die Arbeit). Im Vorwort zitiert Nee Margaret Barbers Bemerkung, daß »der Geist Gottes nur nach Gottes Richtlinien arbeitet«.
»Die Erkenntnisse in diesem Buch«, schreibt Nee, »haben wir in den vergangenen Jahren allmählich erlangt und angewandt. Wir haben vieles berichtigt, wenn wir größeres Licht empfingen, und wenn wir demütig bleiben und Gott gnädig, so wird es auch in Zukunft weitere Berichtigungen geben.« Watchmans Freunde unter den Missionaren drängten auch auf eine englische Ausgabe des Buches, doch er glaubte nicht, daß dies geraten sei. Wenn sein erstes englisches Buch so untypisch für seinen Dienst als Ganzem war, konnte dies zu Mißverständnissen führen. Er suchte Kontakt zu älteren und erfahreneren Männern und plante deshalb, Elisabeth Fischbacher und zwei andere Missionarinnen nach Europa zu begleiten. Ehe er abfuhr, hatte er noch die große Freude, daß die Ärzte seine Lunge für ausgeheilt erklärten.

Charity begleitete sie bis Hongkong, wo sie bei den Eltern Nee außerhalb der Reichweite des Krieges blieb. Dann bestiegen sie ein Schiff der Anchor-Linie nach Schottland, und bei ihrer Ankunft im Juli begab sich Watchman zuerst nach Kilcreggan, um Austin-Sparks zu besuchen. Die beiden Männer fanden sich schnell. Zusammen reisten sie zur Konferenz nach Keswick. Es war ein sonniger Morgen, als der Direktor der China-Inland-Mission, der die Versammlung leitete, Watchman zusammen mit einem japanischen Redner auf die Plattform holte. Der Krieg in China war in jedermanns Bewußtsein, und als Watchman an der Reihe war, leitete er die Versammlung in der Fürbitte für den Fernen Osten mit Worten, die für viele eine Offenbarung bedeuteten. Es war ein Gebet, das wenige, die das Vorrecht hatten anwesend zu sein, je vergaßen:
»Der Herr regiert. Das bekennen wir kühn. Unser Herr Jesus Christus regiert, und er ist der Herr aller Dinge. Nichts kann seine Autorität beeinträchtigen. Es sind geistige Kräfte, die darauf aus sind, seine Interessen in China und Japan zu zerstören. Darum beten wir nicht für China, und wir beten nicht für Japan, sondern wir beten für die Interessen deines Sohnes in China und Japan. Wir tadeln nicht Menschen, denn sie sind nur Werkzeuge in der Hand deines Feindes. Wir treten für deinen Willen ein. Zerschmettere, o Herr, das Reich der Finsternis, denn die Verfolgung deiner Kirche verwundet dich. Amen.«

In Keswick sprach er auch zu den Missionskandidaten über die »Befähigung zum Missionar«. Am Ende der Woche nahm er an dem großen Abendmahlsgottesdienst teil, der unter dem Motto stand »Alle sind eins in Christus« und besiegelte so öffentlich die Stellung, die er und seine Mitarbeiter drei Jahre zuvor bezogen hatten.

Watchman reiste nun nach London, wieder war sein Ziel die Honor-Oak-Straße, wo sein erster Besuch so unangenehme Folgen gehabt hatte. Hier bei Austin-Sparks und den anderen verantwortlichen Männern schlug er sein zeitweiliges Hauptquartier auf, und hier verbrachte der Autor dieses Buches einige unvergeßliche Wochen mit ihm.

Die Honor-Oak-Gemeinde hatte ein klares Missionskonzept und weit offene Türen für das Volk des Herrn. Aber indem sie das subjektive Werk des Kreuzes im Leben des Christen hervorhob – dies entsprach durchaus dem evangelikalen Klima damals –, litt die Aktivierung des Zeugnisses. Die Beschäftigung mit »höheren Dingen« trieb die Christen in Passivität. Andererseits erhob man wie gegen Nee auch gegen Honor Oak den Vorwurf, man werbe dort den alten Missionen die Mitarbeiter ab, indem man für einfachere oder »geistlichere« Gestaltung von Leben und Zeugnis eintrat. Das veranlaßte Watchman wieder einmal, seinen eigenen Weg neben dem Hauptstrom der Evangelikalen zu suchen.

Er unterhielt sich gern, und seine Verwurzelung in der östlichen Kultur machte die Diskussion unseres gemeinsamen Erbes in Christus noch besonders reizvoll. Er sprach ein ausgezeichnetes Englisch; dies und der Charme seiner Gesten machte es zu einem Vergnügen, ihm zuzuhören. Aber es war der Inhalt seiner Ansprachen, der uns gewann. Er verlor nicht viele Worte, sondern führte uns sofort mitten in das Problem, mit dem wir allein nicht fertiggeworden waren. Oder er sprach über Gebote Gottes, die wir aus unserem Bewußtsein verdrängt hatten. Und immer beobachtete er die den chinesischen Denkern eigene Sorgfalt bei der Wahl der Begriffe. So gab er unseren evangelikalen Klischees oft einen neuen Inhalt.

Obwohl er uns durchschaute, blieb er bei uns. Denn es war sein Ziel, Christus, den er liebte, zu verherrlichen. Nachdem er einen Monat unter uns gewesen war, legte er den Finger immer wieder auf unsere gefährlichste Stelle, und das war regelmäßig unser geistlicher Hochmut. Gott habe ihn durch Erfahrung gelehrt, sagte er freundlich, daß das Gebot »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet« genauso zu seiner Selbstmitteilung gehört wie »Gib, und es wird dir gegeben«.

Wir machten uns damals fleißig Notizen von seinen Ansprachen, und es ist kein Wunder, daß sie uns 30 Jahre später mit neuer und überraschender Bedeutung aus dem abgegriffenen Notizbuch entgegensprangen. Ich war damals ein angehender junger Missionar und wollte gerade nach Asien ausreisen. Mit zwei anderen Freunden genoß ich die langen Unterhaltungen mit ihm, die alles mögliche zum Gegenstand hatten, von der finanziellen Lage des Missionars bis zur Offenbarung des Johannes. Niemals machte er auch nur den Versuch, mein Verhältnis zu den etablierten Missionsgesellschaften zu beeinflussen. Der beste Rat, den er mir als zukünftigem Botschafter des Herrn in einer fremden Kultur gab, war, in den ersten zehn Jahren ein L-Schild zu tragen, das Watchman mit großem Vergnügen auf den Autos von Fahrschülern und Anfängern gesehen hatte. Ich kam mit der Zeit zu dem Eindruck, daß für den Christen diese zehn Jahre viel zu kurz sind, daß sie auf sein ganzes Leben ausgedehnt werden könnten.
Wir erlebten in Europa gerade die Krise von München, und Watchman beobachtete, wie wir ängstlich Luftschutzkeller bauten und Gasmasken verteilten, und dann die große Erleichterung, als Chamberlain den Frieden aus München mitbrachte. Weil ihn all das nicht unmittelbar betraf, erlebte er es in jener Art von Gelassenheit, die der Christ auf einer anderen Ebene als Fremdling und Pilger in der Welt empfindet. Aber er hatte auch persönliche Sorgen.
Um diese Zeit erreichte ihn aus Hongkong die Nachricht, daß Charity, die ein Kind erwartete, eine Fehlgeburt gehabt hatte. Sie selbst schrieb tapfer, aber er wußte, wie sehr sie dieser Schlag getroffen haben mußte, besonders da er um die halbe Welt von ihr getrennt war. Sobald Charity wieder reisen konnte, begleitete sie ihre Schwiegermutter, die über Hanoi nach Kunming fuhr, um die evakuierten Gläubigen in der Jünnan-Provinz zu besuchen. Die Nees blieben ohne Kinder.

Im Oktober reiste Watchman auf Einladung von Pastor Fjord Christensen in Kopenhagen nach Dänemark zu Versammlungen in der Internationalen Schule in Helsingör (Hamlets »Elsinore«), wo er zehn Referate über Römer 5-8 zum Thema »Das normale christliche Leben« hielt. Diese Vorträge wurden zusammen mit anderen zum gleichen Thema in Buchform veröffentlicht. Für Watchman war das »sieghafte Leben« das wahre christliche Leben, dies Wort werde aber zu oft von den Nicht-Sieghaften für sich beansprucht. Jene, die überwinden, führte er aus, sind in Gottes Augen normal, die anderen sind dagegen keine normalen Christen.

Watchman hatte höchstens vier Monate im Westen zubringen und im November über die Vereinigten Staaten heimkehren wollen. Doch sein Besuch erschien ihm unvollständig ohne einen ausführlicheren Gedankenaustausch mit seinem neuen Freund und Ratgeber über die Probleme der praktischen Auferbauung des Leibes Christi. Als er über Norwegen, Deutschland und die Schweiz nach Paris kam, erhielt er dort einen Brief seiner Mitarbeiter in Schanghai, die ihn drängten, nicht ohne diese Beratung zurückzukehren. Das bedeutete die Übersetzung von »Rückbesinnung auf die Arbeit« ins Englische. Glücklicherweise war Elisabeth Fischbacher frei. Zwei Monate widmete sie dieser Übersetzung, während Watchman kürzte, änderte und ein neues Vorwort schrieb. Im Januar war das Manuskript fertig, und er kehrte für weitere vier Monate nach London zurück, wo sich die Freundschaft mit Mr. und Mrs. Austin-Sparks weiter vertiefte.

Hier fand Watchman Geschmack am englischen Familienleben. War er früher sehr förmlich und steif gewesen, so entspannte er sich jetzt und spielte mit den Kindern, ging mit zu einem Picknick in die Heide von Surrey und hatte nach den Worten eines der Teilnehmer »an allem seinen Spaß. Er machte überhaupt nicht den Eindruck eines ›geistlichen Bruders‹.« Im Heim der Austin-Sparks war er erstaunt, daß nicht jeder aufstand, wenn die Großmama das Zimmer betrat, und andrerseits ging dort ein Erwachsener so weit, daß er sich bei dem Hund entschuldigte, den er aus Versehen getreten hatte! Mit der Sparsamkeit, die er in den Tagen von Jünnan gelernt hatte, bestand er bei Autofahrten darauf, daß bergab der Motor abgestellt würde, Kinder lud er zu chinesischem Essen ein und genierte sich nicht, die einfachen englischen Gerichte mit Soyasoße zu würzen, von der er ständig einen Vorrat bei sich zu haben schien.

In Sheringham in Norfolk besuchte er Margaret Barbers Freund, D. M. Panton, dessen Schriften er schätzte und dem er seine Anerkennung dadurch zeigen Watchman Nee 1939. wollte, daß er ihm zwei Eier zum Frühstück zubereitete. Und zu seiner Freude führte ein Treffen mit Charles Barlow zu einer herzlichen Versöhnung. Diesmal beschattete ihn niemand.

Im Mai 1939, gerade ehe er England verließ, erschien die englische Übersetzung seines Buches in London unter dem Titel »Concerning Our Missions«, das später mit dem neuen Titel »Das normale Gemeindeleben« erschien.  . . . 

13. Der Höhepunkt

Wie sechs Jahre zuvor wollte Watchman wieder über die Vereinigten Staaten nach Hause reisen. Als er jedoch auf seiner Botschaft hörte, daß die Japaner in manchen Häfen gewisse Chinesen, die aus dem Westen zurückkehrten, mit Hilfe von Zwangsimpfungen liquidierten, hielt er es für weiser, den Rückweg auf einem britischen Schiff zurückzulegen. Die Reise über Bombay und Colombo ermöglichte ihm einen kurzen Aufenthalt in Indien, doch im Juli war er in Schanghai zurück – zur großen Erleichterung Charitys, die um seine Sicherheit im kriegsbedrohten Westen gebangt hatte.

Er kam in eine Stadt zurück, die nur der Schatten ihres früheren Selbst war. Ihr fröhliches Leben war unter dem Elend der feindlichen Besetzung verstummt, ihr einstmals blühender Handel durch den Krieg zum Erliegen gebracht. Aus den zerstörten Gebieten wurden Seuchen in die Viertel der Ausländer eingeschleppt, die immer noch durch die Anwesenheit englischer, französischer und amerikanischer Kriegsschiffe gehalten wurden. Jetzt waren sie überfüllt durch mittellose Flüchtlinge. Als Watchman unauffällig in seinem alten Gewand und dem zerdrückten Filzhut in den Häusern einund ausging, begegnete er schamloser Selbstsucht, auch bei Gläubigen. »Viele sind in diesem Existenzkampf hart geworden«, schrieb er an einen Freund, »und manche preisen den Herrn, weil sie nichts von dem Leiden ringsum zu spüren bekommen. Was mich betrifft, so muß ich bekennen, daß ich es in allen Einzelheiten mitleide, nur daß ich mich an den Herrn halte. Selbst wenn man tausend Herzen hätte, so ist das Geschehene genug, um sie alle zu brechen … Aber Gott ist mein Vater. Ich habe niemals das Wort ›Gott‹ so lieben gelernt wie heute. Gott!«

Unter den Brüdern war durch seine lange Abwesenheit eine Lücke entstanden, in die John Chang und besonders Dr. Yu, der Augenspezialist, eingesprungen waren. Als Redner zeigte Dr. Yu vielversprechende Gaben.
Am ersten Sonntag morgen im September 1939 rief Watchman die Kirche zur Fürbitte für Europa auf. Er bat einige Brüder, sich ihm im Gebet anzuschließen, und dann »ging er in die Gegenwart Gottes und nahm die Kirche mit hinein«; er erbat nichts anderes, als daß Gottes Wille in dieser Krise geschehe. Er beendete diese Stunde mit den Worten: »Herr, nun kannst du niemals sagen, deine Kirche habe nicht gebetet!«

Die Gebetsstunde am Montag und die Mahlfeier am Sonntagabend wurden jetzt in verschiedenen Häusern gehalten, und hier begannen die Gläubigen stürmisch darum zu beten, daß dem japanischen Vormarsch ein Ende gesetzt würde. Daraufhin hielt Watchman zu Beginn des Jahres 1940 eine Ansprache – »nicht an Chinesen (oder Briten oder Amerikaner), sondern an Männer und Frauen in Christus« – darüber, wie Gott die weltlichen Regierungen für seine Zwecke benutzt.
»Wir müssen deshalb wissen, wie wir beten sollen. Es muß möglich sein, daß deutsche und englische, chinesische und japanische Christen zusammen knien und beten.
Im letzten Weltkrieg gab es viel unwürdiges Gebet; laßt uns nicht in denselben Fehler verfallen! Die Kirche muß über den nationalen Belangen stehen und sagen können: ›Wir bitten weder um einen chinesischen noch einen japanischen Sieg, sondern um das, was von Vorteil für das Zeugnis deines Sohnes ist.‹ Das sind keine leeren Worte. Wenn die ganze Kirche auf diese Weise betete, könnte der Krieg bald auf Gottes Weise beigelegt werden.«  . . .

Lena Clark, die sieben Jahre in Schanghai zubrachte, beschreibt, wie es 1940 in Wen Teh Li aussah: »Am Sonntagmorgen versammeln sich die Leute, um die Predigt zu hören. Die Frauen sitzen auf der einen, die Männer auf der anderen Seite. Auf den lehnenlosen Bänken müssen alle so eng wie möglich zusammenrücken, um den Raum auszunützen, und außen ums Haus stehen weitere Menschen, um durch die Fenster oder mit Hilfe von Lautsprechern zuzuhören. Arme sitzen neben Reichen und Gebildeten, Ärzte neben Arbeitern, Juristen und Lehrer neben Rikschafahrern und Köchen. Unter den bescheiden gekleideten Schwestern sitzen auch moderne Frauen… Kinder laufen umher, Hunde strolchen herum, Autos hupen und Straßenhändler rufen ihre Waren aus. Doch jeden Sonntag wird das Wort vom Kreuz im Glauben gepredigt. Sünde und Heil, das neue Leben in Christus und die ewigen Absichten Gottes, Dienst und geistlicher Kampf – über alles wurde gesprochen und nichts zurückgehalten. Sie waren im Blick auf feste Nahrung und direkte Aufforderung kaum zu überbieten.«

Wenn Watchman sprach, hing eine begierig lauschende Menge an seinen Lippen. Er stand in seinem dunkelblauen Baumwollgewand da und fesselte ihre Aufmerksamkeit durch seine liebenswürdige Art, seine einfachen, aber durchdachten Begründungen und gut gewählten Vergleiche. Um etwas zu illustrieren, zeichnete er schnell eine Skizze in die Luft (die ein jüngerer Mitarbeiter manchmal auf ein Plakat übertrug), oder er erzählte eine Anekdote, die sich fast immer gegen ihn selbst richtete. Sein Sinn für Humor rief häufig Gelächter im Saal hervor, so wurde man in seinen Versammlungen nie schläfrig. Er blieb beim Thema, und am Schluß ließ er einen klaren und tiefen Eindruck in den Herzen seiner Zuhörer zurück.

Immer war Charity anwesend, still und zurückhaltend und ein wenig abseits vom Gedränge. Sie war nicht so tätig wie ihre Schwester Faith (Frau Bao) und die anderen Mitarbeiterinnen, zu denen auch Watchmans zweite Schwester Kuei-cheng (Frau Lin) gehörte, die, wenn sie konnte, sich von ihren Pflichten wegstahl, um den Schwestern zu helfen. Und im Hintergrund war da immer noch Ruth Wang, stattlich, heiter, Ruhe ausstrahlend, und die kluge und unendlich gütige Ruth Lee.

Im Frühjahr 1940 sprach Watchman fortlaufend über die Erzväter. Er nannte die Reihe »Gottes Handeln mit seinem Volk«. Seit seinem Aufenthalt in Europa trugen seine Vorträge einen mystischen Zug, der, obwohl er gar nicht so ganz in Watchmans Charakter paßte, dem Geschmack einiger Missionarinnen entgegenkam und sie veranlaßte, sich seiner Arbeit zur Verfügung zu stellen. Zusammen mit anderen Angehörigen der verschiedensten Gruppierungen in Schanghai bildeten sie einen wachsenden Kreis ausländischer Sympathisanten. Doch obwohl manche von ihnen die Hoffnung hatten, daß es zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen Nee und den Missionen und besonders der China-Inland-Mission komme, verhielten sich ihre Feldleiter und Direktoren Nee gegenüber weiterhin reserviert; vielleicht war es noch immer der heimliche Vorwurf des Schafestehlens.

Leider war Dr. Thornton Stearns der einzige Ausländer unter den Ältesten der Gemeinde in Wen Teh Li. Das war sehr schade, denn für einige der Missionarinnen war die Gemeinde in Wen Teh Li nicht nur der höchste Ausdruck des Leibes Christi in Schanghai, »unser Bruder« Watchman, dieser außergewöhnliche Mann Gottes, war auch der einzige Mensch in China, durch den sie Gottes Willen erfahren konnten. Die »neue Lehre« von Gottes ewigem Plan im Blick auf die Herrschaft seiner Kinder hatte sie so mit Beschlag belegt, daß sie die Rettung der Ungläubigen kaum noch interessierte. Dienst und Zeugnis, Gebet und stille Zeit waren in ihren Augen nun »Übungen des natürlichen Menschen«. Und nur der Zerbruch dieses natürlichen Menschen durch eine lange Prüfung konnte die große Offenbarung des Leibes Christi herausrufen. Deshalb »sitze und laß Gott alles tun«.
Solche Extravaganzen führten dazu, daß manche Leute ihre Missionen verließen und dafür in Wen Teh Li saßen und nichts taten. Sie schienen von einer lähmenden Trägheit ergriffen zu sein, einer Furcht, sich zu bewegen oder etwas zu unternehmen, damit sie ja nicht »ohne den Antrieb des Geistes« handelten. Die sichtbare Tätigkeit für Christus wurde gering geachtet zu Gunsten von etwas »Höherem«.

Als Watchman sich diesem Zustrom von Europäern gegenübersah, bekam er es mit der Angst zu tun; er vertraute den Stearns an, daß er einige dieser Damen fürchtete, und diskutierte mit Thornton die Möglichkeit einer eigenen Gemeinde für sie. Als sich 1941 zwei idealgesinnte, aber schlecht informierte junge Missionarinnen in seinem Werk betätigen wollten, gab er ihnen den gesunden Rat: »Sie haben eine ziemlich anstrengende Zeit hinter sich und einen Urlaub nötig. Gehen Sie an die See und suchen sich ein paar Kinder, mit denen sie toben können.« Diese Verordnung erwies sich als sehr heilsam. Es stimmt sicher, daß Wen Teh Li für China ein Christentum ohne ausländische Fesseln bedeutete und deshalb Ausländer, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen, nicht in dieses Werk paßten.
Geistliche Trägheit war niemals ein Merkmal der »Kleinen Herde« gewesen. Die meisten waren sehr kraftvoll in ihrem evangelistischen Zeugnis. Selbst die »Evangeliumshemden«, die die Schüler einst in Futschou getragen hatten, wurden noch auf den Straßen der Stadt und in den Dörfern verwendet. Auch eine ausgedehnte Sonntagsschularbeit gab es in Wen Teh Li, für die der Predigtsaal zu klein war und die deshalb in verschiedenen Privathäusern getan wurde.
Watchmans Traktate wurden verteilt und auf den Straßen durchdiskutiert; christliche Geschäftsleute verteilten sie über der Theke. Er verpflichtete alle Gläubigen zu evangelistischer Arbeit und stellte die Regel auf »Am Tag wenigstens einem Menschen gegenüber Zeugnis ablegen!« an die er sich selbst als erster hielt.
Er war deshalb begeistert, als er entdeckte, daß eine gläubig gewordene Haushaltshilfe in einer Straße mit zwölf Häusern beschloß, die Haushaltshilfe in dem Haus nebenan für den Herrn zu gewinnen, und die dann die Straße hinunter so weiter machte, bis schließlich sechs Dienstmädchen den Erlöser gefunden hatten. »Gewinne wenigstens einen Menschen am Tag für den Herrn«, war seine eigene Regel.

Obwohl diese Jahre den Höhepunkt seiner Arbeit in Schanghai bildeten, wurde er doch auch erstaunlich viel kritisiert. Man warf ihm Wankelmut vor und zu große Anpassungsfähigkeit. Andrerseits richteten sich manche Angriffe gegen seine Lehre. Ein angesehener Missionar, der zugab, daß Nee »so viele in China zu den Wahrheiten des Neuen Testaments zurückbringt«, griff ihn öffentlich wegen des »schweren Irrtums« an, Evangelisten »Apostel« zu nennen und weil er »Scharen von Jüngern in seine Gefolgschaft zog«. Ein sich auf »inneres Wissen« berufender Chinese schrieb ein Pamphlet, in dem er behauptete, Watchman flössen ständig ausländische Gelder zu, und stellte Fragen an Nees Redlichkeit in der Verwendung dieser Gelder. Als dann ein befreundeter Missionar der »Christian and Missionary Alliance«, die in Watchmans Wertschätzung der Missionen an erster Stelle stand, einen Artikel schrieb, der Nee und seine Arbeit ungerecht kritisierte, zeigte Watchman, was er von Selbstrechtfertigung hielt:

»Wenn ich bewiese, daß ich recht habe«, sagte er, »würde ich damit beweisen, daß mein Bruder im Unrecht ist. Aber was für einen Vorteil hätte ich davon, wenn mein Bruder ins Unrecht gesetzt würde?«
Er hatte erkannt, daß unser Verhalten unseren Brüdern gegenüber nicht ohne Folgen ist: »Wenn wir barmherzig sind, ist Er barmherzig.«

Auf ihn selbst jedoch waren diese kritischen Stimmen nicht ohne Wirkung. Er zog sich für einige Wochen nach Chefoo zurück. Dort fand ihn ein Freund in tiefer Depression, und da er spürte, daß Nee sich gefühlsmäßig abreagieren mußte, forderte er ihn heraus:
»Hast du schon versucht, den Herrn zu preisen?«
Watchman wollte es versuchen. Er ging hinaus auf den Tennisplatz und brüllte mit der ganzen Kraft seiner ausgeheilten Lunge: »Halleluja!« Dies half, und bald stand er wieder am Rednerpult.

Jemand hatte ihm einen kleinen Fiat geschenkt. Der stand die meiste Zeit in der Garage, doch gelegentlich zwängte Watchman seine langen Glieder hinein und fuhr mit irgendeinem Mitarbeiter zu einem Dienst. Die Nees erhielten auch andere Beweise von Gottes Fürsorge. Eine Dame, die sie zum Tee eingeladen hatte, überraschte Charity mit einem Päckchen. Wer beschreibt ihre Überraschung, als sie Watchmans Hochzeitsgeschenk darin fand, die Bibel, die nach der Landung der Japaner aus ihrem Haus verschwunden war!

Die Geschichte war kurz:
Bei einer Versammlung in Irland hatte ein Chinamissionar seine Ansprache mit der Bemerkung unterbrochen, daß er mit Hilfe einer chinesischen Bibel eine bestimmte Stelle viel klarer auslegen könnte. Zu seiner Überraschung wurde ihm eine überreicht. Der Sohn eines Freundes des jetzigen Besitzers war bei den englischen Streitkräften in Schanghai gewesen. In der Absicht zu plündern, hatte er ein leeres Haus betreten und ein Buch in die Hand genommen, auf dessen Vorsatzblatt in Englisch stand: »Das Lesen dieses Buches wird dich veranlassen, die Sünde zu meiden. Sünde wird dich veranlassen, das Lesen dieses Buches zu meiden.« Der Soldat hatte die Bibel dann als Andenken mitgenommen.

Mutter Nee hatte ihren Mann mit der ältesten Tochter in Hongkong zurückgelassen, um Watchman und Charity in Schanghai zu besuchen. In der Kirche war sie eine der »Schwestern«, doch im Haus war sie immer noch die alles beherrschende Mutter. Sie war ständig unterwegs, predigte, betete für die Kranken und legte vor allen Menschen Zeugnis ab. Sie machte aber auch viel Aufhebens um ihren Sohn, was Watchman früher verdrossen hätte; doch inzwischen hatte er sich mit seinen Eltern abgefunden.
»Manchmal haben wir das Gefühl, daß wir in die falsche Familie hineingeboren wurden«, hatte er im Juni 1940 zu seinen Mitarbeitern gesagt, »aber Gott bestimmte, wessen Kinder wir werden sollten. Joseph hätte sich gewiß auch andere Brüder gewünscht, doch er konnte sagen: ›Gott sandte mich vor euch hierher, um euch am Leben zu erhalten.‹ Unser ganzes Leben, nicht erst seit unserer Bekehrung, wurde von Gott vorgeplant, um uns für seine Zwecke zuzubereiten.«

Am 7. Dezember 1941, einem Sonntag, überfielen die Japaner Pearl Harbour. Am nächsten Morgen um acht Uhr, während ein leichter Regen niederging, »Tränen des Himmels über Schanghai«, versenkten sie die amerikanischen und britischen Kriegsschiffe im Whangpoo und besetzten die internationale und die französische Niederlassung. Sie handelten schnell und leisteten ganze Arbeit. Überall wurden Straßenbarrikaden errichtet, Autos beschlagnahmt; die Busse verschwanden, und Fahrräder wurden sehr begehrt. Die Lebensmittelpreise schnellten in die Höhe. Daß die Verbrechen zunahmen, kümmerte die Japaner wenig, die Furcht vor ihrer schrecklichen Vergeltung beschützte sie.
Am 18. Dezember 1941 starb Watchmans Vater in Hongkong plötzlich an einem Herzanfall, gerade eine Woche, bevor die Japaner auch diese Stadt besetzten. Watchman konnte noch hinreisen und für die Beerdigung sorgen. Nga Ung-sin war vierundsechzig Jahre alt geworden und starb als Kind Gottes.

14. Rückzug

Wenn der Erweckungsprediger sein Werk getan hat, überläßt er die Früchte seiner Arbeit den anderen – und Gott; er selbst freut sich seiner Freiheit und zieht weiter. Watchmans Arbeit war es jedoch, neue Gemeinden zu gründen und für ihren Aufbau zu sorgen. Das lag in diesen Jahren der politischen Krise und des Zusammenbruchs des gesamten Verkehrs als eine schwere geistliche Bürde auf ihm. Besonders ernst war ihm die Verantwortung für die jungen vollzeitlichen Mitarbeiter, die ohne ein festes Gehalt im Land verstreut treu ihren Dienst taten. Seine eigenen Erfahrungen in der Jugend gaben ihm eine Vorstellung davon, welchen Prüfungen sie unterworfen waren. Nachdem er erlebt hatte, wie einer von ihnen eine schwere Glaubensprobe bestand, sagte er: »Wir müssen unsere Hand am Pflug lassen, während wir unsere Tränen abwischen – das ist Christentum.« Einem Kollegen schrieb er: »Die Anliegen der Gemeinden liegen schwer auf mir. Ich bin nicht gerade fröhlich, mache aber im Vertrauen auf den Herrn weiter.«

Wie wurde nun dieses sich schnell ausbreitende Werk finanziell unterhalten? Die Haupteinnahmequelle bestand darin, daß die Gläubigen den »Zehnten« von ihrem Einkommen gaben. Niemand wurde dazu gezwungen, doch wurde das Geben des Zehnten als Zeichen der Ganzhingabe an Gott angesehen. Auf diese Weise konnten sich alle Ortsgemeinden selbst erhalten. Nun gab es neben den örtlichen Gemeinden mit ihren Ältesten noch die etwa 200 hauptberuflichen Evangelisten, die nicht notwendig einer Gemeinde verantwortlich waren. Sie gewannen neue Gebiete für das Evangelium und hatten oft Auslagen, die über den Unterhalt ihrer Familien weit hinausgingen, etwa für Reisekosten, das Mieten von Sälen und den Druck von Bibelteilen und Traktaten. Sie erhielten Spenden von Gemeinden und einzelnen Christen und wurden gelehrt, aus dem Glauben zu leben. Ihre geistliche Betreuung und ihre materielle Unterstützung lag bis zu einem gewissen Grade in Watchmans Händen. Für etwa vierzig von ihnen war er unmittelbar verantwortlich. Die Gelder für die Ausbreitung des Werkes wurden darum in einem Fonds gesammelt, der von den Gaben für die Gemeinde getrennt war und von Watchman und zwei oder drei älteren Mitarbeitern verwaltet wurde.

Die Chinesen haben eine besondere Begabung für den Handel, und durch die Ausbreitung des Wortes kamen manche erfolgreiche Geschäftsleute zur Gemeinde, von denen einige die Ausbreitung des Werkes großzügig finanzierten. Doch wurde wie alles andere auch der Handel durch die japanische Besetzung stark beschnitten, im Verlauf der Monate und Jahre kam er fast völlig zum Erliegen, was die Gemeinden hart zu spüren bekamen. Viele der jungen »Apostel« hungerten mit ihren Familien, waren krank und mittellos. Die Gemeindeglieder waren nicht viel besser daran, und weder sie noch Watchman hatten Geld zurückgelegt, um zu helfen.

So nimmt Watchman Nees Geschichte jetzt eine unerwartete Wendung.
Das Problem bestürzte ihn. Einige Monate lang legte er es Gott vor und bat um eine Lösung. Zu Beginn des Jahres 1942 tat er dann einen Schritt, zu dem er sich von Gott gerufen fühlte, der aber vielen seiner Freunde fragwürdig erschien.
Sein Bruder Georg, der an der St. Johns Universität einen Grad in Chemie erworben hatte, besaß ein eigenes Laboratorium, dazu in Schanghai eine pharmazeutische Fabrik und eine Arzneimittelgroßhandlung, die »Gebrüder Nee«, an der einige Familienglieder mit Aktien beteiligt waren. Doch da Georg mehr Lehrer und Wissenschaftler als Geschäftsmann war, arbeitete das Unternehmen nicht sehr erfolgreich. Watchman sah jedoch, daß hier etwas zu machen war. Schon 1939 hatte er in London Rat für seinen Bruder eingeholt, der sich um eine Lizenz für die Herstellung von Sulfonamiden bemühte. Nun hatte Watchman den Gedanken, eine Gesellschaft für die Produktion von hochwertigen synthetischen Medikamenten zu gründen. Auf diese Weise konnte er die chemischen Kenntnisse seines Bruders nutzen und den Gewinn dem Werk des Herrn zuführen. So entstanden die »Chinesischen Biologischen und Chemischen Laboratorien« (CBC) in der Kiaotchou-Straße in Schanghai. Als Aufsichtsratsvorsitzender schlüpfte Watchman nun, wenn er zu geschäftlichen Sitzungen ging, in einen modernen Anzug, nachher zog er wieder sein altes Gewand an, um die Heiligen zu besuchen.

Faithful Luke beschreibt, wie er mit David Tan und Philip Luan das einfache Haus besuchte, in dem Watchman und Charity lebten. In dem fast ungeheizten Zimmer mit den Verdunkelungsvorhängen und den mit Streifen beklebten Fensterscheiben stellte Luke die Frage, die viele damals bewegte:
»Warum hast du die Reichsgottesarbeit verlassen und dich dem Geschäftsleben zugewandt?«
»Ich tue nur, was Paulus in Korinth und Ephesus tat«, erwiderte Watchman. »Es handelt sich um eine Ausnahme, und ich verwende nur einen Teil meiner Zeit dafür. Eine Stunde am Tag schule ich die Vertreter der Firma, danach arbeite ich für den Herrn.«
Diese Vertreter waren die hart bedrängten »Apostel«, die nun aufgefordert wurden, ihr Evangeliumszeugnis mit einer bezahlten Tätigkeit zu verbinden. Als die Besucher ihm zusetzten, antwortete er reuig: »Ich bin wie eine Frau, die ihren Mann verloren hat und gezwungen ist, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen.«
Bezeichnenderweise gab er später aber noch einen anderen Grund an: seine wachsende Langeweile. Als ein glänzender Geist mag er sich durch die Mittelmäßigkeit vieler Gemeindeglieder bedrängt gefühlt haben. Ihm fehlte der Austausch mit Ebenbürtigen. Seine Schwierigkeit mag dann die mittelalterliche Sünde der Acedia gewesen sein, »eine Verachtung des heiligen Dienstes, ein Haß gegen den eigenen Beruf, der so ausgesprochen ist, daß das Opfer beim Gesang der Psalmen den Vers durch ein unziemliches Gähnen unterbricht«.

Doch seine neue Lebensweise beunruhigte die vier Ältesten der Gemeinde in Schanghai. Das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatten, war getrübt worden, und in ihren Augen war er jetzt ein Abtrünniger oder einer, der die Hand an den Pflug gelegt hat und zurückblickt. Wie geeignet ist ein solcher Mann zum Dienst am Wort? fragten sie sich. Schon Ende 1942 baten sie ihn deshalb, seinen Predigtdienst in Wen Teh Li aufzugeben, obwohl Dr. Yu, einer der vier Ältesten und ein vernünftiger Mann, möglicherweise dagegen Einspruch erhob, denn auch er hörte von da an mit Predigen auf.

Watchman war entmutigt und wußte nicht, was er tun sollte. »Ich beneide Sie«, meinte er zu C. L. Yin, dem Manager seiner Firma, als sie zusammen einen Beutel seiner geliebten Fukien-Orangen verspeisten. »Sie haben Freiheit, in der Fabrik zu tun, was Sie wollen. Und wenn Sie dann einige Worte in der Versammlung sagen, wird man Sie als einen sehr eifrigen Bruder ansehen. Niemand wird das in Frage stellen. Aber ich? Sie wollen genau wissen, was ich während der vierundzwanzig Stunden eines Tages getan habe. Ich bin ein gezeichneter Mann.«

Watchman machte keinen Versuch, sich selbst zu rechtfertigen. Vielmehr nahm er ihre Feindseligkeit als Züchtigung Gottes an, der ihn auf seine Art eines Tages rechtfertigen würde. Wegen der vielen abhängigen Arbeiter hielt er nach wie vor den eingeschlagenen Kurs für richtig. Aber Charity, die ihm bei seinen Geschäften tatkräftig zur Seite stand, konnte seine, Haltung den Kritikern gegenüber nicht verstehen. Eines Tages hörte sie, wie ihr Mann einen Anruf beantwortete. Die Stimme am anderen Ende der Leitung sprach mit großer Lautstärke und konnte kein Ende finden. Watchman hörte einfach zu und warf nur hin und wieder ein »Ja« oder »danke« ein.
»Wer war das?« fragte sie, als er aufgehängt hatte.
»Es war ein Bruder, der mir sagte, was ich alles falsch gemacht habe.«
»Und war es wirklich deine Schuld?«
»Nein.«
»Warum hast du es ihm dann nicht erklärt, anstatt ›danke‹ zu sagen?« fragte sie ungeduldig.
»Wenn jemand Watchman bis in den Himmel erhebt, ist er immer noch Watchman. Und wenn jemand ihn in die Hölle verdammt, bleibt er immer noch Watchman.«

Gott war gerecht, und das genügte ihm. Bezeichnenderweise hat er manchen Brüdern, die ihn anfeindeten, im Geheimen finanzielle Hilfe zukommen lassen.
Im Frühling 1943 hatten die Japaner ihre Internierungslager für die Ausländer fertiggestellt. Watchman tat für seine Freunde alles, was in seinen Kräften stand, und brachte ihnen Dinge, die in den vor ihnen liegenden Tagen von Wert sein konnten. Besonders war er um Dr. Stearns besorgt, der im Krankenhaus lag und zu krank war, um mit seiner Familie ins Lager zu gehen. Elisabeth Fischbacher kam in ein südlich der Stadt gelegenes Lager.

In seiner Fabrik, die jetzt »Scheng Hua Arzneimittel-Fabrik« hieß, stellte Watchman nun außer alten eingeführten Mitteln Sulfonamide, Vitamin B-Konzentrate und Yatren her. Natürlich gab es Probleme, die er nicht vorausgesehen hatte, und diese beanspruchten seine Zeit. Er war nicht mehr sein eigener Herr. Es gab Konkurrenz mit den anderen großen Firmen, von denen jede danach strebte, ein neues Medikament zuerst auf den Markt zu bringen. Von Aktionären kamen Klagen, und Unfälle in bezug auf die Verträglichkeit der Vitamin B-Injektionen wurden gemeldet. Daß es ein Familienbetrieb war, bereitete auch nicht nur Freude, und Watchman mußte seine organisatorischen und diplomatischen Fähigkeiten voll einsetzen, um mit einer Situation fertigzuwerden, die zu jeder Zeit delikat gewesen wäre, nun aber durch den Krieg noch erschwert wurde. Watchman war deshalb häufig von Schanghai abwesend
Nachdem er mit seinem Bruder Georg verabredet hatte, daß die Geldüberweisungen an die Reichsgottesarbeiter weitergingen, plante er eine längere Reise. Obwohl die japanischen Armeen gegen Tschiang-Kai-scheks Stellungen weiter nach Westen vorrückten, war es möglich, die Front zu überqueren. Watchman machte sich auf den Weg nach Tschungking. In Schanghai waren Berichte von einer geistlichen Erweckung in den noch unbesetzten Provinzen eingelaufen. Universitäten, Banken, Geschäftshäuser hatten sich in die westlichen Provinzen abgesetzt und diese abgelegenen Gebiete plötzlich ins zwanzigste Jahrhundert geholt. Und da es nicht in Watchmans Plan lag, seine Medikamente der japanischen Armee zu verkaufen, begann er diese Gebiete zu besuchen, wo die Nachfrage am größten war. Darin war er äußerst erfolgreich. Er verbrachte zweieinhalb Jahre mit häufigen Reisen zwischen Schanghai und Tschungking, wo er eine kleine Wohnung mietete, in der Charity zu ihm stieß, auch ihr jüngerer Bruder Stephen, der gleichfalls geschäftliche Interessen in Szetschuan hatte. Die Gemeinde hier hatte sich durch den Zustrom verfolgter Christen vergrößert und blühte unter dem Dienst eines Mannes namens Stephen Kaung auf, der mit seiner Frau Mary über Indien der japanischen Eroberung von Singapur entkommen war. Watchman half einigen dieser Vertriebenen, indem er sie in seiner Firma beschäftigte. Von Zeit zu Zeit predigte er das Wort mit gewohnter Klarheit und Kraft, so 1945 über die sieben Sendschreiben.

Diese Doppelrolle hatte Watchman intellektuell angespannt wie nie etwas zuvor, und er war glücklich darüber; doch sein Körper, der immer zart gewesen war, begann unter der Anspannung zu leiden. Eine Zeitlang waren die geschäftlichen Anforderungen so groß, daß ihm wenig oder gar keine Kraft für das Werk des Herrn blieb. Weltliche Sorgen beschäftigten ihn so stark, daß er seine frühere Seelenruhe fast verlor. Augenscheinlich war es Zeit für einen Wandel.

In der Zwischenzeit waren die Versammlungen in Wen Teh Li noch eine Weile mit geringeren Besucherzahlen weitergegangen und hatten sich dann wohl auch, um den Anschluß an die von der Besatzungsmacht propagierte »Religiöse Union« zu vermeiden, in Hausversammlungen aufgelöst. Dies geschah in weiser Voraussicht. Die Japaner hatten in jedem Häuserblock der Stadt Straßenbarrikaden aufgebaut, die auf ein Signal hin plötzlich für Stunden oder selbst für Tage geschlossen wurden. In Fällen schwerer Repressalien konnten sie sogar wochenlang geschlossen bleiben und riefen dadurch große Not hervor, denn niemand durfte sich aus dem Abschnitt fortbewegen, in dem er gefangen war. Wie andere christliche Gruppen in Schanghai überlebte die Gemeinde in Wen Teh Li nur in Privathäusern.

Aber der achtjährige Krieg näherte sich seinem Ende. Ein letzter japanischer Vorstoß schnitt China in zwei Teile und zwang die chinesische Regierung in Tschungking fast in die Knie. Dann kapitulierte Japan am 15. August 1945, und der Waffenstillstand mit China wurde am 8. September unterzeichnet.
Im Winter kam Watchman für kurze Zeit nach Schanghai zurück, doch nicht, um in Wen Teh Li zu predigen. Gerüchte liefen unter den Gläubigen über ihn um, daß er Kirchengelder veruntreut, ja sogar mit den Japanern zusammengearbeitet habe. Selbst ihm nahestehende Freunde nahmen Anstoß an seiner weltlichen Tätigkeit. So konnte er natürlich nicht mitarbeiten. »Ich habe es in Gottes Hand gelegt«, sagte er zu einem Freund.

In den folgenden Monaten löste Watchman sich allmählich von seiner chemischen Fabrik. Nachdem er die Aktionäre befriedigt hatte, legte er große Summen beiseite für die Ausbreitung des Werks und die zukünftige Versorgung der Mitarbeiter. Dann reiste er nach Futschou, wo das Haus seiner Familie nun leer stand. Es hatte einen großen Garten und Nebengebäude und würde ein ideales Schulungszentrum für Mitarbeiter abgeben. Er war inzwischen Familienoberhaupt geworden, so nahm er sein Elternhaus in Besitz und wandelte es mit Charitys Hilfe für seinen künftigen Zweck um.

Hier an der Stätte seiner Kindheit suchte er sein Denken mit Fasten, Beten und Schriftlesung in Ordnung zu bringen. Während der schwierigen Jahre hatte er nicht aufgehört, die Bibel zu studieren und Pläne für die Ausbreitung des Evangeliums zu entwerfen. Die Frage war nur, wo er beginnen sollte. Die Verwirrung in Schanghai zwang ihn, zunächst abzuwarten, wie Gott ihn führen würde. Dr. Yu war dorthin zurückgekehrt und brachte die Gläubigen langsam wieder zusammen. Und doch schien mehr nötig zu sein.

Watchman schrieb deshalb an Witness Lee in Schantung, stellte ihm die Not in Schanghai vor und bat ihn, den Gläubigen dort zu Hilfe zu kommen. Lee zog mit seiner Familie nach Nanking und machte sich von dort aus an die Aufbauarbeit in Nanking und Schanghai. War Watchman ein gründlicher Bibelausleger gewesen, der die Fundamente legte, so brachte Lee mit seinem beweglichen Temperament etwas von dem Feuer mit, das in Schantung gebrannt hatte. In wenigen Monaten war das Vertrauen wiederhergestellt und die Leute begannen erneut zu den Versammlungen zu strömen. Lee war energisch und autoritativ und hatte auch organisatorische Gaben, die er nun in der verfahrenen Lage in Schanghai einsetzte. In den nächsten zwölf Monaten arbeitete die Gemeinde unter seiner Leitung nach folgendem Plan:
zweimal in der Woche trafen sie sich in Weng Teh Li als der »einen Kirche in Schanghai«: Sonntagmorgens um 10.00 Uhr zum »Dienst des Wortes«; am ersten Sonntag jeden Monats hieß das Evangelisation, an den anderen Sonntagen Bibelstunde. Der Samstagabend galt der Pflege der Gemeinschaft.
Dreimal wöchentlich kamen sie als Tschias = Familien in fünfzehn Hauskreisen zusammen: Am Sonntagabend zum Abendmahl, am Dienstag zum Gebet und am Freitagabend zur Unterweisung der Neubekehrten. Am Mittwochabend arbeiteten vier Hauskreise evangelistisch.

Die Ältesten standen der ganzen Gemeinde vor, aber jede Tschia hatte einen leitenden Bruder und eine leitende Schwester als »Trainingsdiakone«.
Bald machte sich eine Neigung der Leute bemerkbar, von einem Stadtteil zum andern zu wandern, und so wurden sie im Juni 1948 auf ihre Distrikte mit der Anweisung verpflichtet »Gehorcht denen, die Gewalt über euch haben«, und ab sofort mußten sie um Erlaubnis bitten, wenn sie wechseln wollten.
Nun wurde auch das Problem der Seelsorge akut. Deshalb wurden die »Familien« (Tschias), zu denen vierzig bis zweihundert Gläubige gehörten, in Gruppen oder Pais von höchstens fünfzehn Personen unterteilt, die oft zu einer einzigen Straße gehörten. Auch hier trugen zwei Personen die Verantwortung für jede Gruppe. Sie sollten sich um die geistliche Verfassung der Gläubigen kümmern und darauf achten, daß sie die Gemeindeveranstaltungen besuchten. In dieses System waren einige Erfahrungen eingeflossen, die die Kirche während der japanischen Besetzung gemacht hatte: In solchen kleinen Versammlungen konnte man offener miteinander sprechen, die Beteiligung am Gebet und an der Diskussion war größer, und es entwickelten sich geistliche Gaben in denen, die Führungsaufgaben übernehmen sollten.

Hier ist festzustellen, daß es keine Männerversammlungen oder Frauenversammlungen gab, keine besonderen Versammlungen für Studenten oder andere Bevölkerungskreise. Diese Gemeinde war tatsächlich ohne Klassen. Nur die Existenz begabter Predigerinnen wuchs zu einem Problem heran. Für sie wurden nun gelegentlich Frauenversammlungen eingerichtet. Eines Tages sah ein junger Christ, wie Männer ein großes weißes Tuch quer durch den Versammlungsraum in Kanton spannten. Auf seine Frage, was das zu bedeuten hätte, hörte er, daß Ruth Lee und Peace Wang erwartet wurden. Damit sie nun nicht zu Männern sprechen mußten, setzten sich die Brüder hinter den Vorhang und lauschten dort ihrer Botschaft!

Evangelisation war nicht allein Sache des Predigers. Sie war Aufgabe der ganzen Gemeinde. Deshalb wurden alle Gläubigen als Seelsorgeberater geschult. Am Ende einer evangelistischen Predigt wandte sich jeder an den Menschen, der neben ihm saß. Er notierte sich Namen und Anschrift, stellte Fragen, hörte zu, suchte zu beraten und ihn wenn möglich dazu zu bringen, den Namen des Herrn anzurufen, denn manchmal wurden Menschen dadurch gerettet. Auf Missionare, die diese Versammlungen besuchten, machte das verständlicherweise einen großen Eindruck.

1948 baten die fahrenden Gemeindemitglieder Watchman, die zweiundfünfzig Lektionen, die er freitagsabend den Neubekehrten gegeben hatte, auszuarbeiten und den Mitarbeitern als Hilfe für deren Unterweisung in den Gruppen zu geben. Es war eine systematische Einführung in die christlichen Grundwahrheiten, beginnend bei der Rechtfertigung aus Glauben bis zu den praktischen Grundbegriffen des kirchlichen Lebens. Diese Lektionen wurden bald in den meisten Kirchen fleißig benutzt.
Die Folgen einer so straffen Organisation blieben nicht aus. Pünktlichkeit in den Gottesdiensten, eine volle Erfassung der Gemeindeglieder nach Adresse, Beruf, Familienstand usw., Zulassungspflicht zum Abendmahl mit einem sorgfältig ausgeklügelten Prüfungssystem – wie weit hatte sich das alles von dem Rat entfernt, den Watchman 1940 einem Bruder gab: »Erwarte nicht, daß der Heilige Geist in Tsingtau dasselbe tut wie in Schanghai. Gib ihm Freiheit!« Diese Freiheit wurde nun ersetzt durch ein strenges Reglement, das Witness Lee nicht mit dem Makel der »Organisation« befleckt sehen wollte, sondern als Gefäß für den Austausch geistlicher Dinge bezeichnete. »Tue nichts, ohne vorher zu fragen«, pflegte er zu sagen. »Seit dem Sündenfall tut der Mensch, was er will. Bei uns ist Ordnung. Bei uns ist Autorität. Die Kirche ist ein Raum strenger Disziplin.«

15. Rückkehr

Während der letzten Kriegsjahre hatte die chinesische kommunistische Partei von ihrem Hauptquartier in den Höhlen von Jenan aus den Kampf gegen die Besatzungsmacht geführt. Durch den »Langen Marsch« 1935 im Guerillakrieg geübt, hatte sie erreicht, daß sich die Japaner auf die Städte beschränken mußten, während sie selbst engen Kontakt mit der chinesischen Landbevölkerung hatte. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Landreform in den großen Gebieten um den Gelben Fluß. Eine weitere Konsequenz des »Langen Marsches« war, daß Mao Tse-tung als unbestrittener Führer und Ideologe galt und seine »Gedanken« als unfehlbare Richtlinien für die Partei.
Hinzu kam eine eindrucksvolle Selbstdisziplin, die die verschiedenen Elemente in der Partei zu einer einheitlichen Macht zusammenband und sich damit bewußt vom Luxus der Kuomintang-Führung distanzierte. Das wiederum hatte zur Folge, daß es die reichen Geschäftsleute und die Intellektuellen nach Tschungking und in den Südwesten zog und die Idealisten, die das Land von Unordnung und Korruption befreien wollten, nach Jenan.
Im Nordwesten saßen die Leute mit einem klaren Konzept für die Zukunft, das wußte man in Schanghai.

Bei Kriegsende, nachdem Tschiang Kai-schek nach Nanking zurückgekehrt war, entwickelte sich das Mißtrauen zwischen der nationalen Regierung und der kommunistischen Partei zu offener Feindschaft. Wieder begann Tschiang Kai-schek einen Feldzug, um die Kommunisten vernichtend zu schlagen. Dabei eroberte er große Gebiete, in denen die Landreform durchgeführt worden war, und besetzte im März 1947 sogar Jenan.

Einen Augenblick lang schienen die Nationalisten zu triumphieren, aber es war nur ein scheinbarer Sieg. Die kommunistische Guerillatechnik machte einen solchen militärischen Sieg ziemlich bedeutungslos.

Den verantwortlichen Männern in Wen Teh Li begann die Tatsache, daß sich Watchman noch immer vom Dienst zurückhielt, Sorge zu bereiten. Schon 1946 hatte Witness Lee die Ältesten in Schanghai mit der Frage herausgefordert:
»Wurdet ihr vom Geist geleitet, als ihr Nee zurückstießt? Und was war die Folge? Könnt ihr sagen, daß es euch Leben und Gewinn brachte?«
»Nein«, hatten sie kleinlaut geantwortet. Im April 1947 sagte ein Bruder:
»Der Fall des Bruders Nee brachte uns eine tödliche Wunde bei; mit Worten kann man gar nicht alle Folgen schildern. Der Vorwurf, daß er mit dem Feind zusammenarbeite, und vieles andere, das über ihn verbreitet wurde, beruhte nicht auf Tatsachen. Das war die Arbeit des Teufels …, aber wir hoffen, daß wir unsere Lektion gelernt haben. Die Widerstände gegen seine Rückkehr sind nach und nach geschwunden. Er ist bereit, und bei uns herrscht eine große Sehnsucht nach seiner Wiederkehr … So warten wir auf den richtigen Augenblick.«

Inzwischen hatte Watchman zwei christliche Geschäftsleute gefunden, die ihm die Verantwortung für die Arzneimittelgesellschaft abnahmen, und eine geraume Zeit, nachdem er im April endlich nach Futschou zurückgekehrt war, ließ er die Gemeinde in Schanghai wissen, daß er zur Mitarbeit dort bereit sei.

Die Zahl der ausländischen Missionare war durch den Krieg zusammengeschmolzen. So gab es überflüssig gewordene Feriengrundstücke auf dem Kuliangberg, von denen Watchman zwei geräumige ebenerdige Steinhäuser erwarb, um sie zu Trainingszentren auszubauen. Hier begann er mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern aus Fukien, Tschekiang und anderen Provinzen, darunter auch sein alter Schulfreund K. H. Weigh. In den zehn Einführungsreferaten kehrte Watchman zu seinem geistlichen Ausgangspunkt zurück, zu den Grundwahrheiten seiner Botschaft vom Kreuz, die dann unter dem Titel »Freiheit des Geistes« erschienen sind. Sie bildeten die Basis für einen neuen Anfang. Aber das war nicht alles. Gott gab Watchman nun eine starke Resonanz bei den neubekehrten Studenten der staatlichen Universität. In Futschou mietete man die große Halle der amerikanischen Mission, um die riesige Menge zu fassen, die den früheren Studenten des Dreifaltigkeits – College hören wollte. Gott schien ihn in seinen alten Dienst als evangelistischer Zeuge neu eingesetzt zu haben.

Witness Lee, der seine Energien vorerst auf Schanghai und Nanking konzentriert hatte, beendete im Februar 1948 eine Reise durch die von einer Hungersnot betroffenen südlichen Provinzen. Er hielt eine Reihe von Versammlungen und nahm die Gelegenheit wahr, sich mit Watchman auszutauschen und, begeistert von Watchmans Schulungsprogramm auf dem Kuliangberg, ihn für eine revolutionäre Evangelisationsmethode zu gewinnen, die er gerade für den von den Japanern besetzten Norden entwickelt hatte.
Die Gemeinden in den Küstenstädten von Schantung waren sehr gewachsen, und Lee plante, durch Auswanderung zu missionieren. Schon immer waren die Chinesen ausgewandert, entweder wegen der Überbevölkerung oder auch nur, um Handel zu treiben. Nun beschlossen die verantwortlichen Brüder in Schantung, daß es unpraktisch und wenig erfolgversprechend sei, einen einzelnen Missionar in die Ferne zu senden. Vielmehr sollte eine ganze Gruppe von Gläubigen auswandern und einen sich selbst erhaltenden Verband in einem noch nicht missionierten Gebiet bilden. Dort konnten sie durch ihr Leben und Zeugnis zu einem Samenkorn des Christentums werden.
In der Apostelgeschichte stießen sie auf ein Vorbild: »In jenen Tagen erhob sich eine große Verfolgung gegen die Gemeinde in Jerusalem, und sie wurden alle zerstreut nach Judäa und Samaria mit Ausnahme der Apostel. Sie zogen deshalb umher und predigten das Wort.«
»Wir haben zwar noch keine Verfolgung«, meinten die Brüder, »aber auch ohne das können wir ihrem Beispiel folgen und uns zerstreuen.«

Lee arbeitete die Einzelheiten sorgfältig aus. Gruppen von Familien, in denen verschiedene Handwerke und Berufe vertreten waren – Gärtner, Schuster, Lehrer, Krankenschwestern, Friseure –, wurden ausgewählt und sorgfältig auf ihr Abenteuer vorbereitet. Besonders geeignet war der Beruf des Friseurs. Er brauchte wenig Ausrüstung und bot viel Gelegenheit zum Zeugnis. Alle diese weihten sich der Gemeinde, die ihre Reisekosten und die Lebenskosten für drei Monate bezahlte. Danach sollten sie sich selbst erhalten.

Schon im Frühling 1943 hatten zwei Auswanderergruppen die Gemeinde in Chefoo verlassen. Eine von dreißig Familien ging nordwärts in die Mandschurei, eine andere von siebzig Familien westwärts nach Sui-yuan in Schensi. Einige Glieder dieser Gruppen hatten viele Härten zu durchstehen. Das Schema war also durchaus kein voller Erfolg, außerdem brachte es Witness Lee im Mai 1943 in den Verdacht der Spionagetätigkeit. Mit großem Mut bestand er die einen Monat währenden Verhöre durch die Japaner, die damit verbundenen Prügel und die »Wasserbehandlung«. Trotzdem brachte dieses Auswandererexperiment Frucht.
Im Oktober 1944 berichtet ein Bruder Sun in einem Brief an Dr. Yu, wie sie am Oberlauf des Gelben Flusses mit Versammlungen begonnen haben. Sieben Brüder und drei Schwestern bildeten den Kern. Dann beschreibt er die Taufe von sechs gläubig gewordenen Männern. »Es gab keine Taufgelegenheit in einem Haus, doch diese Männer waren so sehr von dem Wunsch erfüllt, dem Herrn zu gehorchen, daß sie nicht warten konnten. So konnte man nur das sechzig Zentimeter dicke Eis auf dem Fluß aufbrechen. Es herrschte eine große Kälte, aber am Tauftag wurde es plötzlich zwanzig Grad wärmer. Ein Zelt zum Umkleiden wurde am Flußufer aufgeschlagen, und keiner erlitt Erfrierungen oder wurde krank.« Einige Monate später fand eine zweite Taufe statt an vier Brüdern und einer sechsundsechzigjährigen Schwester, die im Winter aus Furcht vor Erkältung sonst nie ausging. Diesmal war es noch schwieriger, weil das Wasser unter dem Eis nicht tief genug war und sie erst nach einer geeigneten Stelle suchen mußten. Wieder wurde niemand krank, und es herrschte große Freude.
Dies war nur eins von vielen Zentren, in denen auf diese Weise neues Leben entstand.

Als jetzt im Februar 1948 Lee mit Nee über dieses Experiment sprach, stimmte Watchman zu, doch betonte er, daß die Apostelgeschichte mit Kapitel 1 und nicht mit Kapitel 13 beginnt. »1937, in Hankau, waren wir in Kapitel 13«, sagte er.
Die erste Sorge müsse den Ortsgemeinden gelten, und dann, wenn regionale Zentren – wie in Jerusalem – voll aufgebaut seien, könne man Gruppen an andere Orte senden, »falls der Herr nicht eine Verfolgung schickt, um sie zu zerstreuen«. Das warf neues Licht auf ihre Arbeit.

Wie sie sich früher die Gemeinden streng an den Ort gebunden vorstellten, so erblickten sie jetzt das Werk in seiner geographischen Breite. Das bedeutete für die »Apostel« oder Mitarbeiter das Ende ihrer individualistischen Unternehmungen. »Wir Mitarbeiter, die wir anwesend waren«, berichtet Lee, »legten unsere Arbeit willig nieder und beschlossen, daß Futschou unser ›Jerusalem‹ und Ausgangspunkt sein solle.« Von diesem Zeitpunkt an machte sich eine strengere Führung in der Bewegung bemerkbar, auch unter den ausgewanderten Chinesen außerhalb Chinas.

Lee überbrachte Watchman eine versöhnliche Botschaft von den Ältesten in Schanghai. Er wurde eingeladen, im April eine Konferenz in Wen Teh Li zu leiten, und sagte zu. Als er dort ankam, erwarteten ihn sechzig Mitarbeiter aus ganz China und über dreißig Älteste und andere aus der Gemeinde in Schanghai. Die Mitarbeiter aus Schantung waren es, die die kommunistische Landreform aus nächster Nähe miterlebt hatten und sich über die feindliche Einstellung der Partei gegenüber dem christlichen Glauben nichts vormachten.

Watchman ging zunächst mit den Ältesten von Wen Teh Li beiseite, um ihnen im Angesicht Gottes ein Bekenntnis seiner Fehler und Versäumnisse in den vergangenen Jahren abzulegen. Mit diesem Akt der Versöhnung wurde die Gemeinschaft zwischen ihnen voll wiederhergestellt.

In der Gemeinde hatte sich inzwischen eine Art Hierarchie entwickelt, die ihren äußeren Ausdruck in einer neuen Sitzordnung fand, in der Platz Nummer Eins für Watchman reserviert war. Der Slogan »Beuge dich der Autorität!« zeigte von jetzt an einen neuen und für viele störenden Zug in der Bewegung an. Er scheint so wenig mit der früheren Lehre und Arbeitsweise Nees zusammenzustimmen, daß man sich fragt, ob die Änderung wirklich bei ihm ihren Ursprung hat.
Alle Anwesenden waren bereit, sich Gott aufs neue für die geplante Auswanderungsbewegung zu weihen. Watchman legte ihnen dar, was er auf dem Herzen hatte:
»Als es einige Tausend Christen in Jerusalem gab, zerstreute sie Gott durch Verfolgung; das war der Anfang einer ständigen Bewegung nach draußen. Doch als Paulus nach Jerusalem zurückkehrte, fand er dieselbe große Zahl von Gläubigen wieder vor. Wir dürfen nicht an einem Ort kleben, wir müssen ihn verlassen und Platz für andere machen. So viele auswandern, so viele werden neu hinzugetan werden. Heute hat China 450 Millionen Einwohner, und nur eine Million sind Christen. Man muß alle Christen in der gleichen Weise ausbilden, sie aussenden, und dann werden wir sehen, wie die Gemeinde das Wort überall verbreitet. Wir brauchen nicht auf eine Verfolgung zu warten.
Für viele von uns ist das halbe Leben schon vorüber. Für die verbleibende Hälfte müssen wir einen geraden Kurs einschlagen. Wenn wir nicht treu sind, wird der Herr andere an unserer Stelle erwählen, aber das würde wenigstens noch zwanzig Jahre brauchen. Wir müssen Gott diese zwanzig Jahre ersparen!«

Als dringendstes Anliegen bezeichnete er die Evangelisierung des Nordwestens.
»Ich glaube«, schloß er, »daß in kurzer Zeit ganz China für das Evangelium gewonnen werden kann. Für dies Ziel wollen wir alles daransetzen!«
Danach sprach er zu der ganzen Gemeinde, in der sich viele nach ihm gesehnt hatten, und sein erstes Thema war Jesu Wort: »Gebt Gott, was Gottes ist.«
Die Wirkung war gewaltig. Zunächst bekehrte sich eine große Zahl von Männern und Frauen. Binnen eines Monats wurden zweihundert neue Gläubige getauft und der Gemeinde hinzugetan. In der Versammlungshalle, die nur 400 Menschen fassen konnte, drängten sich 1500 Zuhörer, sie saßen auf der Treppe, hinten in den Sprechzimmern und standen auf der Straße. Man würde Land kaufen müssen, um einen größeren Predigtsaal zu bauen.

Es war bekannt, daß Watchman seine chemische Fabrik der Gemeinde übergeben hatte. In der gehobenen Stimmung und in der Eile, sich Gott ganz hinzugeben, brachten viele jetzt Gaben für die Ausbreitung des Werkes. Die hohen Steuern, die unkontrollierte Inflation und das wirtschaftliche Chaos, die durch die korrupte Nationalregierung gefördert wurden, hatten in vielen eine Abkehr von der Welt bewirkt. So brachten sie ihre Unternehmungen – Druckereien, Tintenfabriken und ähnliches – der Gemeinde als Gabe dar. Daß Christen sich in dieser Weise von ihrem Reichtum lossagten, war in China noch nicht dagewesen. Der Slogan »Alles für den Herrn« lief von einer Küstenstadt zur anderen, und ein großer geistlicher Segen begleitete die Bereitschaft, das eigene Leben ganz der Sache Gottes zu widmen.
Die Schwierigkeit lag nur darin, daß die Gemeinden nun ein großes Vermögen verwalteten. Sie verfügten über ausgedehnte Geldquellen und machten Geschäfte, und dies gerade zu der Zeit, als das Wort »Kapitalist« etwas Anrüchiges bekam und der bloße Besitz von Reichtum sofort Verdacht erwecken mußte. So lieferte die christliche Bewegung der kommunistischen Partei selbst die Waffen gegen sich in die Hand.

Mitte Juni 1948 wurde mit dem Schulungsprogramm in Futschou begonnen. Über hundert junge Mitarbeiter aus verschiedenen Städten hatten sich in der grünen Abgeschiedenheit des Kuliangberges versammelt. Aus Übersee hatte man Simon Meek, Lukas Wu und Faithful Luke eingeladen, dazu Joy Betteridge, eine Missionarin mit zwanzigjähriger Erfahrung. Grüße kamen von Geoffrey Bull und George Paterson, die an der tibetanischen Grenze festgehalten wurden.
Das bewaldete Kuliangtal hoch über dem buddhistischen Kloster von der »Kochenden Quelle« bot einen weiten Ausblick über das Stromgebiet des Min von Pagoda bis zum Ozean und war ein idealer Platz für geistliche Besinnung.
Watchman und Charity
hatten dort eine winzige Hütte für sich allein. Hier wartete Watchman auf Gott und ordnete seine Gedanken die sich in den Jahren der Zurückgezogenheit und des Schweigens angesammelt hatten. Die Ernte, die er einbrachte, war kaum zu fassen. Es war, als hätten sich Schleusentore geöffnet, die lange unter Druck gestanden hatten. Er behandelte Themen wie: die Befähigung zum Missionsarbeiter, der Dienst am Wort Gottes, die Grundlagen geistlicher Autorität, das Problem der Krankheit; die versprochenen zweiundfünfzig Lektionen für gläubig Gewordene waren da und Anweisungen, wie man die geschäftlichen Angelegenheiten der Ortsgemeinde regeln, die neuen Grundsätze bei der Ausbreitung des Evangeliums anwenden und wie man die Bibel studieren solle.

Er sprach ohne Konzept. Während des Vortrags ging er auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Danach bat er um Fragen, und bei der Beantwortung machte er niemals Ausflüchte, sondern war aufrichtig und sprach zur Sache.
An jedem Morgen war eine Zeit für das persönliche Zeugnis angesetzt: ein Mitarbeiter sprach eine halbe Stunde, danach kritisierten ihn die anderen, und schließlich faßte Watchman das, was für den Betreffenden dabei herausgekommen war, kurz zusammen. Das ganze Schulungsprogramm stand unter dem Eindruck der Dringlichkeit. Die Zukunft der Nation war ungewiß.
Im Norden hatte sich die Einnahme Jenans durch die Nationalregierung als Scheinsieg erwiesen. Die Soldaten Tschiangs gingen brutal gegen die unschuldigen Bauern vor, die sie von der Landreform »erlösten«, und leisteten auf diese Weise den Kommunisten Vorschub, die geschickt hinter der Gefechtslinie operierten und auch hier wieder um die Gunst der Landbewohner warben.

Im Juni 1947 hatte Mao Tse-tung Truppen der Volksbefreiungsarmee durch Honan geschickt, die im September bis ins Jangtsetal vorgedrungen waren. Andere Verbände gingen nach Norden und Osten; zu Beginn des Jahres 1948 wurde die Mandschurei von China getrennt, und im Herbst waren viele Städte in Honan und Schantung ohne Kampf gefallen. Die kommunistischen Truppen wurden diszipliniert und gut geführt und hatten einen unbeugsamen Glauben an die Sache, während von Tschiangs Armee bald ganze Regimenter und Divisonen desertierten oder sich kampflos ergaben.

In dieser unsicheren Lage fand der Schulungskurs auf dem Kuliangberg statt. Im Winter wurde er durch eine Mitarbeiterkonferenz in Wen Teh Li unterbrochen. Schanghai war damals vom Hunger heimgesucht. Die Inflation brachte viele in wirtschaftliche Not; Gewalttätigkeiten, Polizeikontrollen und Repressalien machten das Leben gefährlich. Die Bürger sehnten sich nach Frieden – viele um jeden Preis.
In dieser spannungsreichen Zeit nahmen die Gläubigen von Wen Teh Li jede Äußerung Watchmans begierig auf. Viel Zeit verwendeten sie auf das Gebet; sie flehten, Gott möge die Ereignisse so lenken, daß die Türen für das Evangelium offen blieben.

Watchman selbst zog sich mit den Mitarbeitern und Ältesten zurück. Ihnen vertraute er seine Überzeugung an, die er nach viel Gebet erlangt hatte: daß er in Schanghai bleiben solle, wenn die Kommunisten die Regierung übernähmen. Er hatte Marx und Engels gelesen und war sicher, daß das christliche Zeugnis unter dem Marxismus sehr erschwert werden würde. Die Kirche würde vielleicht nicht länger die Freiheit haben, dem Herrn zu dienen, selbst im Leiden nicht, und von Ausrottung bedroht sein. Doch seine persönliche Berufung war es, dem Herrn in China zu dienen und dem chinesischen Volk Christus zu bringen. Tschiang und seine Leute mochten fliehen, aber nicht die Kirche Gottes.
Zu den wenigen jüngeren Mitarbeitern, die anwesend waren, sagte er: »Wenn der Älteren einer fällt, müßt ihr Jüngeren weiter vorangehen.« Dann empfahl er noch, daß, wenn die Umstände eine Emigration erforderten, Witness Lee mit seiner Familie auswandern und das Evangelium unter den emigrierten Chinesen verbreiten solle. Lee stimmte zu. Dann kehrten die Teilnehmer des Schulungskurses nach Futschou zurück, um ihre Studien auf dem Kuliangberg wieder aufzunehmen.

16. Eine folgerichtige Wahl

Am 3. Januar 1949 besetzte die Achte kommunistische Armee das unverteidigte Peking. Im April standen die Befreiungsarmeen auf dem sumpfigen Nordufer des zwei Meilen breiten Jangtseflusses. Fast eine halbe Million durch Kriegsschiffe und Luftwaffe unterstützte Kuomintag-Truppen standen ihnen auf dem Südufer gegenüber. Doch als Mao Tse-tung am 20. April den Befehl gab, über den Fluß zu setzen und den Süden zu befreien, stießen die Dschunken, Flöße und Hausboote kaum auf Widerstand. Nanking, die Hauptstadt des Südens seit drei Jahrzehnten, hatte sich der Situation angepaßt.

Watchman hatte von Futschou aus an Lee telegrafiert, daß er mit seiner Familie von Schanghai nach dem neuen Arbeitsfeld in Taiwan übersiedeln solle. Er hatte auch Charity mit einer kleinen Gruppe von Damen nach Hongkong geschickt. Luke war nach Singapur, und Meek und Wu waren nach Manila abgereist. Da die Befreiungsarmee schnell nach Süden vordrang, wurde der Schulungskursus vorzeitig abgebrochen. Die Teilnehmer aus dem Norden flogen in Städte, in denen sie schnell überrannt wurden und von denen aus sie dann bald wieder in ihre Gemeinden gelangten. Witness Lee kam, um kurz über die Lage in Schanghai zu berichten, ehe er nach Taipeh zurückkehrte. Der neue Saal in der Nanyangstraße war fertig und konnte 4000 Menschen aufnehmen. Die zweiundfünfzig »Lektionen für gläubig Gewordene« waren im Druck. Es herrschte wirtschaftliche Not, aber die Versammlungen gingen weiter und erfuhren immer neu Gottes Treue.
Im Mai war es offensichtlich, daß Schanghai bald fallen würde, und Watchman wußte, daß er zurückkehren mußte. Die Befreiungsarmee, die am 25. Mai in die Stadt eindrang, machte einen guten Eindruck, sie war diszipliniert, gut genährt und in ihren olivgrünen Uniformen gut gekleidet – die Offiziere so einfach wie die Soldaten. Zur allgemeinen Erleichterung gab es keine Plünderungen und keine Gewalttaten.

Für eine kurze Zeit nahm sich Watchman wieder der Gemeinde an. Er hielt wöchentlich Bibelstunden und unterrichtete die Mitarbeiter und Helfer in den verschiedensten Fächern. Außerdem nahm er sich Zeit für seine eigene Weiterbildung. Er stand auf freundschaftlichem Fuß mit mehreren Parteimitgliedern in der Stadt, einer davon war Charitys sechzehnter Onkel, der nahe bei ihrem Haus wohnte. Er besuchte diesen Mann nun häufiger, um sich über die Pläne der Partei zu informieren. Er sah Schwierigkeiten zwischen der Parteiführung und den Gläubigen voraus und ahnte, daß die Partei dem Gemeindeprogramm der Evangelisation ganz Chinas feindlich gegenüberstehen würde.
Während der zwei Jahre, die der »Befreiung« folgten, blieb die Kirche unbehelligt. Die Parteimitglieder beobachteten die Christen. Sie informierten sich über begabte und einflußreiche Führer, und während sie gleichgültig schienen, machten sie Pläne für die Zukunft.

Charitys Onkel versprach, Watchman zu helfen. Er verbürgte sich dafür, daß er unbehelligt bleiben und nichts zu fürchten haben würde. Wahrscheinlich wurde Watchman wie so viele andere von den Funktionären getäuscht.
Im Sommer 1949, als Schanghai unter Taifunen und Überschwemmungen zu leiden hatte, fiel das Jangtsetal mit der Eroberung Wuhans in die Hände der Kommunisten. Im Oktober verlor die nationale Regierung Kanton, und Kweijang und Tschungking fielen einen Monat später. Am 1. Oktober 1949 wurde die Volksrepublik China proklamiert mit Mao Tse-tung an der Spitze und Tschu En-lai als Ministerpräsident.

In diesen Wochen besuchte Watchman Taiwan, um Lee und die Handvoll Mitarbeiter, die ihn dorthin begleitet hatten, zu ermutigen. Den zahlreichen Flüchtlingen dort fiel es schwer, Unterkunft und Arbeit zu finden. In wenigen Tagen sammelte Watchman mehrere Hundert. Es bildete sich der Kern für eine neue Kirche in Taiwan, die sich unter Lees Führung glänzend entwickelte. Von hier aus ging Watchman nach Hongkong, um Charity zu treffen.

Zu Beginn des Jahres 1950 reiste er nach Schanghai zurück, das am 6. Februar von nationalen Flugzeugen bombardiert wurde. Im Mai finden wir ihn wieder in Hongkong, dort hielt er eine Reihe von Versammlungen für junge Leute und erlebte den Beginn einer Erweckung.
Lee kam nach Hongkong, um ihm über die Entwicklung in Taiwan zu berichten, und hier versuchte Lee, ehe sie sich im Juni zum letzten Mal verabschiedeten, Watchman von der Rückkehr nach Schanghai zurückzuhalten.
»Aber Bruder«, protestierte dieser, »es hat so lange gedauert, die Gemeinde dort aufzubauen. Kann ich sie jetzt verlassen? Blieben die Apostel nicht unter den gleichen Bedingungen in Jerusalem?«

Lee hatte schon Erfahrungen mit der C.C.P. (Chinesische Kommunistische Partei) gemacht. Deshalb überprüften sie noch einmal ihre eigenen letzten Pläne über die weitere Verkündigung des Evangeliums und fragten sich, wie sie als sichtbare Kirche Mißtrauen abbauen und das Werk fortsetzen könnten. Am letzten Abend kam Lee wieder darauf zurück.
»Wenn du zurückgehst, könnte es das Ende bedeuten«, meinte er. Aber Watchman hatte aus Schanghai ein Telegramm von den Ältesten erhalten, das von ihren Problemen berichtete und um seine schnelle Rückkehr bat
»Ich mache mir keine Sorge um mein Leben«, erklärte er. »Wenn das Haus einstürzt, so habe ich Kinder darin und muß es stützen, wenn nötig mit meinem Kopf.«
Auch als aus Swatow die Nachricht kam, daß seine Mutter Lin Huo-ping heimgegangen sei, wankte sein Entschluß nicht. Er bat seine älteste Schwester, Frau Chan, für die Beerdigung zu sorgen, während er nach dem Norden abreiste. Er wollte eine Auswanderungsbewegung nach Hongkong unter den Gläubigen stoppen, die er früher ermutigt hatte, und zugleich die pharmazeutische Firma einem Konzern in der Mandschurei übergeben.

Von Schanghai aus bat er Charity, ihm nachzukommen. Danach sprach er zu den Mitarbeitern und forderte sie auf, die »Zeit auszukaufen, denn die Tage sind böse«. Er bekannte, daß er in der Vergangenheit Gelegenheiten versäumt hatte, und fuhr fort:
»Kein Diener Gottes sollte sich mit dem Erreichten zufriedengeben. Damit würden viele Gelegenheiten verpaßt … Heute ist der 7. Juli 1950. Die Zeit auskaufen heißt, die Möglichkeiten ergreifen, die Gott uns heute gibt. Wenn die Kirche ihr Talent vergräbt, so ist das ein schwerer Verlust. Wir denken vielleicht, weil die Versammlungshalle in der Nanyangstraße gebaut ist, können wir uns für den Rest unseres Lebens zur Ruhe setzen. Wir haben unsere Predigtgottesdienste, und wenn zehn oder zwanzig Seelen gerettet werden, denken wir, daß wir das gut gemacht haben. Aber wenn es die Absicht des Herrn wäre, tausend Seelen am Tag zu gewinnen, dann wären neunhundert verloren! Wenn Gott handelt, laßt auch uns handeln! Wenn die Tür sich nur ein wenig öffnet, tretet ein, denn das Schlimme ist, daß die Gelegenheiten nicht auf uns warten.«
Und er schlug vor, in der gegenwärtigen Krise mit Gruppen von Gläubigen aus anderen Bewegungen wie der aus Schantung stammenden »Jesus-Familie« – Gemeinschaft zu pflegen.

Es scheint, daß Watchman an die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit der neuen Regierung glaubte. Natürlich hing das davon ab, wie der Artikel in der Verfassung, der die Religionsfreiheit garantierte, in der Praxis angewandt wurde. Die Gemeinden der »Kleinen Herde« beschworen die Gläubigen, nicht auszuwandern, sondern um des Herrn willen in China zu bleiben. Sie sollten darauf vorbereitet werden, den materiellen Komfort aufzugeben und als gute Christen und gute Chinesen mit dem Staat zusammenzuarbeiten, wenn sie zu öffentlichen Arbeiten wie Straßenbau und dem Bau von Bewässerungsanlagen eingesetzt würden. Nur dürften sie nicht gegen die Vorschriften der Bibel handeln und ihren Glauben nicht verleugnen.

Dies ging zuerst auch gut, doch eine bessere Kenntnis des Marxismus-Leninismus hätte sie warnen können, daß der erste Eindruck täuscht. Die kommunistische Politik ist etwas Relatives. Zeit, Raum und Umstände gestalten sie mit, und wenn sich diese Bedingungen ändern, ändert sich auch die Politik. Das kann über Nacht geschehen, und die Partei wird niemals ein gegebenes Versprechen halten.

In Schanghai machte man sich klar, daß allein die Größe der Versammlungen in der Nanyangstraße, in der drei- bis viertausend Menschen am Sonntagmorgen zusammenkamen, die Kritik herausfordern könne. Die Gläubigen mußten sich um des Evangeliums willen zerstreuen. Mehrere Gruppen von Freiwilligen verkauften deshalb ihren Besitz und zogen in die entvölkerten Gebiete von Kiangsi, um sie wieder zu bebauen. Sie errichteten einfache Lehmhäuser für die einzelnen Familien und führten ein streng geregeltes gemeinsames Leben, das Zeit ließ für persönliche Frömmigkeitsübungen und eine abendliche Gemeinschaftsandacht.

Sie hatten diese Übersiedlung aufs Land mit großer Begeisterung vollzogen, und als sie nun noch ein paar Kommunisten für den Herrn gewannen, meinten sie, daß ihre Zeit gekommen sei. Doch im Juni wurde die bereits erprobte Landreform der Regierung Gesetz. Während des folgenden Jahres bekamen die Städte eine Gnadenfrist, während in den Dörfern alles umgekrempelt wurde.

Massenversammlungen, öffentliche Tribunale und manchmal auch Hinrichtungen von Großgrundbesitzern und reichen Bauern waren an der Tagesordnung. Das Land wurde unter die armen Bauern und Arbeiter verteilt. Alle Arbeit ruhte, und alle Kirchen auf dem Land blieben während dieser Zeit geschlossen. Die ausgewanderten Christen waren von dieser Umerziehung nicht ausgeschlossen, ihre Motive wurden absichtlich verdreht. Sie wie auch die Angehörigen der Jesus-Familie erkannten, daß sie den Kommunisten nicht weniger verdächtig waren, wenn sie das Richtige aus in deren Augen falschen Motiven taten, als wenn sie überhaupt nicht mitgearbeitet hätten.
Missionare in Hunan berichten um diese Zeit, daß ihnen ein kürzlich eingewanderter Bruder aus der »Kleinen Herde« behilflich war, als ihre Gemeinde sich aufgelöst hatte und sie im Begriff standen, abzureisen. Trotz der Gefahr hielt er Versammlungen im Schein einer zerbrochenen Lampe (für die sie ihm eine bessere geben konnten). Als die Polizei kam und diese Zusammenkünfte verbot, entgegnete der Mann:
»Unsere Bibel sagt aber, daß wir mit unseren Versammlungen nicht aufhören sollen.«
»Wenn Sie müssen, dürfen wir dann auch kommen?«
»Selbstverständlich!«

Eine Missionarin in Tschekiang schrieb bald, nachdem sie das Land verlassen hatte: »Der Einfluß der ›Kleinen Herde‹ macht sich im ganzen Land bemerkbar. Mit einem ganz neuen und starken Nachdruck wird evangelisiert. Diese Bewegung hatte nie eine Beziehung zu ausländischen Missionen, und das ist ein großes Plus im neuen China. Ob Gott sie nicht besonders für die gegenwärtige Zeit vorbereitet hat? Ihre Organisation ist fest, doch unauffällig und anpassungsfähig, und sie liegt ganz in einheimischen Händen. Die Gläubigen sind geistlich gesinnt und entwickeln starken missionarischen Eifer.«
In einem späteren Brief schreibt sie von der möglichen Vereinigung der verschiedenen christlichen Gruppen in der Stadt: »Dies würde eine Vereinigung unter der Führung der ›Kleinen Herde‹ bedeuten und ist vielleicht der beste Schutz in den gegenwärtigen Schwierigkeiten.«

Im Jahre 1949 waren die meisten Missionare noch auf ihrem Posten geblieben in der Hoffnung, ihr Zeugnis unter dem neuen Regime fortsetzen zu können. Doch im Mai 1950 fand jeweils am späten Abend eine Reihe von Zusammenkünften zwischen dem Premierminister Tschu En-lai und drei liberalen protestantischen Führern statt, an deren Spitze Y. T. Wu vom Verein Christlicher Junger Männer stand, der schon seit zehn Jahren geheimes Mitglied der kommunistischen Partei gewesen war. Sie arbeiteten ein christliches Manifest für die protestantischen Kirchen aus. Für Tschu waren diese drei Männer die rechtmäßigen Vertreter der Kirchen und die Gründer einer neuen christlichen Bewegung, deren Grundsätze er ihnen nun mit allen Anzeichen des Wohlwollens diktierte. Das Manifest verlangte von der Kirche, daß sie auf allen Gebieten die Führung der Volksregierung anerkannte. Die Zusammenarbeit mit dem Reformprogramm des Staates war der Preis für die Religionsfreiheit. Tschu befahl die Entlassung von ausländischem Personal und die Ablehnung ausländischer Gelder. Waren nicht alle Missionare Imperialisten?

Die Männer, die an dieser Konferenz teilnahmen, bildeten ein Vorbereitungskomitee für die »Anti-Amerika-Korea-Hilfe – Drei-Selbst-Reformbewegung der Kirche Christi in China«.


Die Kirche sollte sich selbst regieren, sich selbst unterhalten und selbst missionieren, wobei »selbst« das Gegenteil von »imperialistisch« war. Sie war dem Büro für »Religiöse Angelegenheiten« verantwortlich, das dem atheistischen Komitee für Kultur und Erziehung in Peking unterstand. Ihr Leitsatz sollte sein: »Liebe dein Land! Liebe deine Kirche!« Dabei war absichtlich vermieden, den Namen Gottes zu nennen. Die Zeitschrift »Tien Feng« (Himmlischer Wind) wurde schnell zum offiziellen und einzigen christlichen Organ.
In den folgenden Monaten lief eine sich über das ganze Land erstreckende Aktion an, um Unterschriften für das Christliche Manifest zu sammeln. Als es am 23. September gedruckt vorlag, bestand kein Zweifel mehr darüber, daß die Arbeit der Missionare in Zukunft sehr eingeschränkt, wenn nicht unmöglich sein würde. Ihre Anwesenheit belastete die chinesischen Kirchen, auf die ständig Druck ausgeübt wurde, sich der neuen Bewegung anzuschließen. Im Lauf des Jahres 1951 reisten fast alle Missionare ab, die nach dem japanischen Krieg mit so großen Hoffnungen zurückgekehrt waren. Die jahrhundertelange Verbindung zwischen chinesischen und ausländischen Christen wurde auf diese Weise hart und jäh unterbrochen.

Viele Missionare, die durch Schanghai kamen oder sich dort aufhielten, um die Ausreisegenehmigung zu bekommen, besuchten die Versammlungen in der Nanyang-Straße, wo der entfachte evangelistische Eifer und Watchmans Persönlichkeit Eindruck auf sie machte.

Um diese Zeit kam Leslie Lyall mit einigen seiner Kollegen von der China-Inland-Mission zu Watchman. Ihr Thema war die Zukunft der Kirche in China. Sie hatten aber auch noch eine andere Frage: Wie sollten sich die Missionare in der Zeit, bis sie zur Abreise gezwungen waren, nutzbringend beschäftigen?

»Übersetzen Sie uns einige wirklich gute Kommentare«, antwortete Watchman. »Wir haben so wenig in dieser Art und brauchen es dringend. Und kommt als Älteste in unsere Versammlungen zurück, nicht wieder als Evangelisten. Die Evangelisation muß in Zukunft Aufgabe der Chinesen sein.«

Am 1. Januar 1951 hielt Watchman eine Neujahrsansprache über die Bedeutung von Gottes Segen bei der Brotvermehrung. Hier ein paar Sätze, die uns wichtig erscheinen:
»Aller Dienst hängt vom Segen Gottes ab. Wir mögen sehr gewissenhaft und sehr fleißig sein, wir mögen an seine Macht glauben und beten, daß sie offenbar wird, aber wenn der Segen Gottes fehlt, nützen all unsere Gewissenhaftigkeit, unser Fleiß, unser Glaube und unser Gebet nichts. Andrerseits werden wir, obgleich wir Fehler machen und die Situation, vor der wir stehen, hoffnungslos ist, auch Frucht erleben, wenn wir den Segen Gottes haben.«
»Da ist das Wunder von den Broten und den Fischen. Dabei ging es nicht um die Menge, sondern um den Segen, der darauf lag. Früher oder später werden wir feststellen, daß nicht die Größe unseres Reichtums oder die Vielzahl unserer Gaben zählt. Was zählt, ist allein der Segen des Herrn, der alle Bedürfnisse des Menschen befriedigt. Eines Tages wird es sich zeigen, wie wesenlos unsere Wendigkeit, unsere Macht, unsere Plackerei, unsere Treue sind. Die größte Enttäuschung der kommenden Tage wird in der Erkenntnis bestehen, daß wir absolute Versager sind.
Was wir hier zu lernen haben, lernt sich nicht leicht. Die Hoffnung so vieler konzentriert sich ja nicht auf den Segen des Herrn, sondern auf die paar Brote in ihrer Hand. Es ist so kümmerlich wenig, was wir in der Hand halten, aber für uns zählt es! Und je mehr wir damit rechnen, um so schwerer wird es uns. Meine Brüder und Schwestern, Wunder kommen vom Segen des Herrn. Wo dieser Segen über den Broten liegt, werden sie vermehrt. Wo der Segen ruht, werden Tausende satt. Wo der Segen fehlt, genügen auch keine ›zweihundert Denare‹, um die Menschen zu sättigen. Wenn wir das bedenken, hören wir auf zu fragen ›Wieviel Brote haben wir?‹ Dann hören wir auf zu manipulieren und auf Auswege zu sinnen. Wir verlassen uns nicht mehr auf uns selbst und brauchen nicht mehr zu stottern. Wir sollten es gelernt haben, auf den Segen Gottes zu vertrauen und darauf zu warten. Und dann werden wir es erleben, daß trotz unserer Stümpereien alles gut wird. Ein kleines bißchen Segen kann uns aus großen Nöten heraushelfen.
Was ist Segen? Es ist Gottes Handeln dort, wo du nicht damit rechnest. Ein Beispiel: Du willst für eine Mark etwas kaufen, was eine Mark wert ist. Aber wenn dir dann Gott etwas für zehntausend Mark gibt, noch bevor du deine eine Mark ausgegeben hast, dann hast du keinerlei Grundlage für deine Berechnungen. Wenn fünf Brote fünftausend Menschen sättigen und noch zwölf Körbe Brocken übrig bleiben, dann ist das Segen. Wenn die Frucht deines Dienstes in keinem Verhältnis mehr zu deinen Gaben steht, dann ist das Segen. Oder noch deutlicher: Wenn du an all das denkst, das du falsch gemacht hast und mit keiner Frucht mehr rechnest und dann doch Frucht siehst, dann ist das Segen. . . .  »Ein Leben des Segens«, schloß Watchman, »sollte das normale Leben des Christen sein, und unsere normale Arbeit die, auf der der Segen Gottes ruht. ›Prüfet mich doch, spricht der Herr der Heerscharen, ob ich euch dann nicht die Fenster des Himmels auftue und Segen über euch ausgieße bis zum Überfluß.‹ Hier in Schanghai, am Anfang des Jahres 1951, ist dieses Wort noch Wort Gottes.«

17. Die Falle klappt zu

Während sich durch die Hauptstraßen immer neue Umzüge von Arbeitern und Jugendlichen mit Papierflaggen und großen roten Seidenfahnen wälzten, während sich nach dem Rhythmus von Trommeln und zum Klang der Sprechchöre, die Parteiparolen ausposaunten, Jang-ko-Tänzer vor riesigen Maobildern drehten, wurde in den Nebenstraßen ein großer Umwandlungsprozeß in Gang gesetzt. Nachbarschafts-Revolutionskomitees arbeiteten. Ständig wurden Arbeitsplätze und Wohnungen geprüft. Jeder mußte über jeden Auskunft geben. Schulungskader begannen mit der Umerziehung. Privatleben gab es nicht mehr. Die städtische Polizei war immer bereit, auf Grund von Informationen einzugreifen, und hinter ihr lauerte die Geheimpolizei. Auf »Tigerjagden« wurden böse Kapitalisten, die sich am Volk bereicherten, gesucht und unschädlich gemacht. Unter diesen Verhältnissen als Christ zu leben, verlangte Mut und Glauben.

Vom 16. bis zum 21. April 1951 berief Tschu En-lai eine Konferenz von hunderteinundachtzig Kirchenführern ein, um die Unruhe, die durch die plötzliche Sperrung aller ausländischen Hilfsgelder entstanden war, zu schlichten. Watchman, der eine »Sich selbst regierende, sich selbst erhaltende und selbst propagierende« christliche Gruppe, also kein »Werkzeug des Imperialismus«, vertrat, wurde ersucht, dies Treffen als Beobachter zu besuchen.
In Schanghai gingen die Versammlungen »fast wie früher« weiter; alle Mitarbeiter waren eifrig dabei, die Zeit auszunutzen. Aber dann kam der 27. April, ein »schwarzer Samstag« für Schanghai, an dem Tausende verhaftet wurden, hauptsächlich Intellektuelle. Ein Programm zur Umschulung von Schriftstellern folgte. Unter den Festgenommenen waren auch ein paar Christen, »und litten für den Herrn, aber die meisten sind frei und wohlauf. Unter Anklage stehen alle«.
Am 2. Mai veröffentlichte »Der himmlische Wind«, das offizielle christliche Organ, eine Aufforderung an die christliche Kirche in China, sich an der Selbstkritik zu beteiligen. Ganze Gemeinden wurden dazu überredet. Nur so würden sie befähigt sein, der Reformkirche anzugehören. Öffentlich mußten sie sich von allen »imperialistischen Elementen und ihren Handlangern« in den eigenen Reihen und unter ihren Führern lossagen. Manchen Gruppen sagte man, welche unter ihren Leitern sie anzuklagen hatten, anderen überließ man es, sie selbst herauszufinden.

L. M. Liu, der Sekretär des Christlichen Vereins Junger Männer, veröffentlichte einen Artikel »Wie man in einer Versammlung erfolgreich Selbstkritik üben kann«. Er berief sich dabei auf Matthäus 23 und ermahnte die Christen, ihre Hemmungen zu überwinden und durch den Besuch politischer Versammlungen zu lernen. »Viele Christen haben die altmodische Vorstellung, daß sie ›über der Politik stehen‹; deshalb müssen wir in unseren Versammlungen Selbstkritik üben, um alle zu erziehen … Eine solche Versammlung erfolgreich zu halten ist eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche, um damit den Einfluß des lmperialismus zu brechen.«
Um ein Beispiel zu geben, veranstaltete die »reformierte« christliche Bewegung ein großes Treffen am Sonntag, dem 10. Juni. Es richtete sich gegen die Missionare und wurde im Stadion für Hunderennen abgehalten. Sorgfältig ausgewählte »Ankläger«, die verschiedene christliche Gruppen vertraten, sprachen zu einem Publikum, das sich hauptsächlich aus Kirchenmitgliedern zusammensetzte. Mit einstudierten Reden voller Haß und Verachtung machten sie ihre Brüder in Christo herunter. Die ganze Veranstaltung zielte darauf ab, daß nicht nur die missionierenden Nationen, sondern schließlich auch das Christentum selbst das Gesicht verlieren sollte. Christen, die dieses Treffen nicht besuchten, wurden sorgfältig notiert. So gewann die Bewegung an Boden, während die Christen in dieser Art Verfolgung an Boden verloren.

Am 11. August konnte »Himmlischer Wind« melden, daß seit Mai dreiundsechzig solche Anklageversammlungen gehalten worden waren. Und wehe den Gemeinden, die sich fernhielten! Die christlichen Kirchen mußten sich bequemen, das Plätzchen einzunehmen, das man ihnen in der neuen Gesellschaft einräumte, und das hieß: Kontrolle durch den Staat, finanzielle Abhängigkeit vom Staat und eine Verkündigung, die mit der Staatsideologie gleichgeschaltet war. Kein Wunder, daß im Juli Briefe davon berichteten, daß »die Gemeinden in einer sehr kritischen Lage sind, und ganz besonders die Verantwortlichen wie Bruder Nee«. Von ihm wurde berichtet, daß er wieder krank war und zu Bett lag.

Inzwischen machte die Volksregierung mit ihrem Programm der moralischen Säuberung erfolgreich weiter, um Verbrechen, Prostitution und Korruption auszumerzen. Im November 1951 rief der Staat zu zwei Feldzügen auf, die das Land in den kommenden Monaten beschäftigen sollten. Der eine Feldzug nannte sich San-Fan oder »Die Drei Antis«, Anti-Korruption, Anti-Vergeudung und Anti-Bürokratie bei den Beamten.
Wu-Fan oder »Die Fünf Antis« bekämpfte Bestechung, Steuerhinterziehung, Diebstahl von Staatseigentum, minderwertige Arbeit und Wirtschaftsspionage für private Zwecke.
Überall riefen Plakate die Öffentlichkeit auf, zu bereuen und zu bekennen, und es folgte eine Welle von Anklagen und falschen Beschuldigungen, die viele Selbstmorde zur Folge hatten. Dies war ein Hinweis auf kommende Dinge. Er wurde unterstrichen durch die Nachricht, daß der Verkauf von Watchmans pharmazeutischer Fabrik vorerst gestoppt worden sei, weil die Regierung vorher die Bücher prüfen wolle.

Am 30. November erschien im »Himmlischen Wind« ein Artikel von einem Mitglied der »Kleinen Herde« in Nanking: »Enthüllung über die geheime Organisation und die dunklen Machenschaften der Gemeinde in der Tsi-Tang-Straße.« Darin heißt es: »Ich bin ein Gläubiger, der von Anfang an zu der Gemeinde (in Nanking) gehört hat und sie als die reinste ihrer Art ansah, bis ich in der Reformbewegung geschult wurde und erkannte, wie schlecht diese Gemeinde ist. Lange wurde ich betrogen. Doch heute, da ich auf dem Grund der Vaterlandsliebe und der Liebe zur Religion stehe, enthülle ich voller Zorn ihre angebliche Geistigkeit. Um den wahren antirevolutionären Charakter dieser Bewegung zu verbergen, versichern die Verantwortlichen in der Tsi-Tang-Straße ständig, daß es sich nur um eine ›örtliche Gemeinde‹ handele. Tatsache ist aber, daß wir irregeführt wurden. Von Anfang an war unsere Gemeinde der Kirche in Schanghai unterstellt, und sie wurde von Watchman Nee streng kontrolliert. Die von ihm gegründete Gemeinschaft erstreckt sich über die ganze Nation und umfaßt 470 Gemeinden. Watchman Nee hat ein geheimes System, um diese Gemeinden zu beaufsichtigen. Schanghai ist dabei die Basis, und von hier aus werden die Gemeinden indirekt durch ›Zentralkirchen‹ in großen Städten wie Peking, Hankau, Tsingtau, Futschou usw. regiert. Die geheime Kontrolle, die Watchman Nee über die Gemeinden ausübt, geht weit über das Gebiet der Religion hinaus. Um seine totalitäre Herrschaft zu erleichtern, streut er antirevolutionäre Parolen aus. Schamlos nennt er sich selbst den ›Apostel Gottes‹.«

Die Mitarbeiter fragten sich, was Watchman zur Selbstverteidigung unternehmen würde.
Und was tat er? Er zählte die vier Züchtigungen auf, die er durch Gottes liebende Hand erhalten hatte: sein Ausschluß aus der Brüdergemeinschaft in Fotschou 1924 und die Erweckung, die ihr gefolgt war; seine schwere Krankheit, während der er vor der schwierigen Aufgabe stand, zwischen der Rolle eines volkstümlichen Predigers und der weniger anziehenden eines christlichen Zeugen, der durch seine Gemeinde wirkt, zu wählen; sein Rücktritt vom Predigtdienst während des japanischen Krieges und die geistliche Bereicherung, mit der er zurückgekehrt war; und nun dieser Angriff auf ihn! Zweifellos war in jeder Kritik ein Körnchen Wahrheit enthalten. Warum sich rechtfertigen, wenn sich jedesmal die Zurechtweisung durch den Herrn als so lehrreich, die Züchtigung sich als geistlich fruchtbar erwiesen hatte?

Kommunistische Kader besuchten jetzt die Nanyang Straße und versuchten durchzusetzen, daß die Gemeinde ihre eigene Versammlung zwecks Selbstkritik anberaume. Endlich, zu Beginn des Jahres 1952, wurde unter großem Druck eine Versammlung einberufen, auf der zwei Vertreter der Drei-Selbst-Zentrale sprechen durften. Ihre Ansprachen, die die Führer der Gemeinde des Imperialismus anklagten, stießen nur auf ein verwirrtes Schweigen. Niemand meldete sich zum Wort, um die Redner zu unterstützen. Schließlich brachte jemand den Mut auf zu sagen:
»Ist es nicht wahr, daß Paulus um Christi willen alle Dinge als Verlust betrachtete? Sollten wir darum nicht selbst unsere verehrte Volksregierung zurückweisen, damit wir Christus gewinnen?«

Nun platzte einer vom Kader, der in der Versammlung untergebracht war, heraus: »Watchman Nee hat angeordnet, daß die Frauen beim Gebet ihren Kopf bedecken müssen. Das ist Despotismus!« Dies sollte aufrührerisch wirken, doch die Beschuldigung fiel auf den Ankläger zurück. Die Brüder verlangten zu wissen, wer dieser Außenseiter war, der die Bemerkung gemacht hatte. Der Drei-Selbst-Sprecher stand auf und verkündete: »Offensichtlich seid ihr noch nicht zur Selbstreform bereit und braucht Schulung. Ich beauftrage Herrn Nee selbst mit eurer Umerziehung.«

Jetzt erkannten alle in der Gemeinde, gegen wen sie standen. Zweifellos hatten die Redner eine Niederlage erlitten, aber sie würden ihre Zeit abwarten.

Nachdem Watchman mit Charity und seinen Mitarbeitern die Lage besprochen hatte, widmete er sich nur noch einer Sache: der Vorbereitung von biblischem Material für die Gläubigen. So sprach er zu einer Gruppe von jungen Leuten ausführlich über die Beweise für die Existenz Gottes. Es folgten Abhandlungen über »Christus unsere Gerechtigkeit, unsere Weisheit und Herrlichkeit vor Gott« und über »die Macht seiner Auferstehung«;
Ruth Lee und ihre Helferinnen schrieben alles nieder. Aber das war es nicht, was die Regierung von ihm verlangte. So kamen neue Forderungen, diesmal, daß er Schanghai verließe. Finanzielle Fragen im Zusammenhang mit der pharmazeutischen Firma, mit der die Gemeinde noch immer belastet war, verlangten seine Anwesenheit in der Mandschurei. So arbeitete das Team unter einem verzweifelten Druck. Sie schafften den ganzen Tag und bis spät in die Nächte hinein, um das Wort Gottes auszulegen und festzuhalten. Im März standen sie so unter Zeitdruck, daß sie nur noch zwei Stunden schliefen.

Schließlich konnte Watchman dem Ultimatum des Staates nicht länger Widerstand leisten. Er richtete ein letztes Wort der Ermahnung an seine geliebten Brüder und Schwestern und fügte hinzu: »Sagt denen in Hongkong, daß die Kirche alle weltlichen Geschäfte aufgibt.« Voller Sorge nahm er Abschied von Charity. Mit bösen Ahnungen reiste er dann nach Harbin. Dies war das letzte, was die Gläubigen von ihm hörten vor seinem Prozeß im Januar 1956.

In seinem fünfzigsten Lebensjahr wurde Watchman am 10. April 1952 in der Mandschurei verhaftet. Bei seinem ersten Verhör, entweder in Harbin oder in Peking, wurde ihm vorgeworfen, ein kapitalistischer »Tiger« zu sein, der aller fünf Verbrechen schuldig war, gegen die sich der Wu-Fan-Feldzug gerichtet hatte. Man eröffnete ihm, daß die pharmazeutische Firma eine Geldstrafe von 17000 Millionen in alter Währung (umgerechnet etwa 6 Millionen DM) zu zahlen habe.
Watchman bekannte sich weder schuldig, noch hatte er das Geld, um diese Summe zu bezahlen. So blieb er im Gefängnis, und die Fabrik wurde vom Staat konfisziert.

Ursprünglich waren die Bedingungen in den Gefängnissen äußerst hart. Wahrscheinlich wurde keine physische Gewalt angewendet, doch Drohungen, kärgliche Nahrung, Schlafentzug, Ungeziefer und ständige Anforderungen an die körperliche Ausdauer taten das Ihre. Die Gefangenen durften mit keinem Menschen in der Außenwelt Verbindung haben.

Man sagt, daß Watchman die Chance gehabt habe, wieder als christlicher Führer in sein Amt zurückzukehren unter der Bedingung, daß er seine große Gefolgschaft mit der Volksregierung und dem kirchlichen Reformprogramm gleichschaltete. Durch die Erfahrungen anderer wissen wir, daß er, falls das zutrifft, ständigen Versuchen zur Umerziehung ausgesetzt war. Man bearbeitete ihn, in die nationale Neurose einzuwilligen und alle Gedankenfreiheit aufzugeben. Wir haben genügend Dokumente über Methoden der Gehirnwäsche, wie sie damals geübt wurde; über die langen Verhöre, bei denen sich die Beamten ablösten, die politischen Vorlesungen, die Überwachung durch unbarmherzige Aufseher, die Bespitzelung durch überzeugte und »bekehrte Mitstudenten«. Daß sich bei Watchman kein Sinneswandel vollzog und ihm kein brauchbares Bekenntnis entschlüpfte, spricht für die bewahrende Macht Gottes. Man wird von ihm verlangt haben, daß er die Geschichte seines Lebens mit endlosen Einzelheiten immer wieder aufschrieb. Aus diesem Material wurde dann Stück um Stück die Anklage gegen ihn aufgebaut, und er wurde »Beweisen« gegenübergestellt, die geisttötend endlos wiederholt wurden.

Es gab Präzedenzfälle. Bereits im Februar 1952 hatte man Isaac Wei, dem Sohn des Gründers der einheimischen »Wahren Jesuskirche«, nach einer Gefängnishaft ein Geständnis abgerungen, das genau dem entsprach, was man von Watchman wollte. Die Anhänger dieser großen Gruppe hatten sich daraufhin dem Staat angepaßt. Im gleichen Jahr war die »Jesusfamilie« genau entgegengesetzt behandelt worden, man hatte sie gezwungen, sich aufzulösen. Ihre Führer waren in Ungnade gefallen und wurden der Spionage, konterrevolutionärer Tätigkeit und eines unzüchtigen Lebenswandels beschuldigt. Die Partei duldete in China kein »Zentrum der Finsternis«, wo das Richtige aus – in ihren Augen – falschen Motiven getan wurde. Wenn in einer wirklich einheimischen Bewegung keine Verbindung zum Imperialismus gefunden wurde, mußten ihre Führer als gewöhnliche Verbrecher vor Gericht gestellt werden. Und dies war das Schicksal, das auf Watchman Nee wartete.

Während seiner Abwesenheit machten die Vertreter der Reformbewegung Fortschritte bei den Gläubigen. Den Ältesten der »Kleinen-Herde«-Gemeinden versicherte man, daß man sie bedingungslos willkommen heißen würde, wenn sie sich dem ständigen Zustrom der Kirchen in diesen »Bergstrom« anschließen würden, »der, je weiter er fließt, desto klarer und breiter wird«. »Noch steht die Tür offen«, sagte man ihnen, »wir strecken euch die Hand entgegen und hoffen, daß der Tag kommen wird, an dem wir alle einmütig zusammen wohnen.« Da Watchman nicht erreichbar war, hatten sie keinen geistlichen Ratgeber, an den sie sich wenden konnten, und eine Gemeinde nach der anderen kapitulierte. Die meisten sollten diesen Schritt allerdings bald bereuen.

Um ein Beispiel zu geben: Die »Kleine Herde« in der Stadt Wuhan hatte sich schon 1951 der Bewegung angeschlossen und sich dem vorgeschriebenen Schulungsprogramm unterworfen. Doch dann führte einer ihrer Prediger, Ho Kuang-tao, sie wieder heraus. »Wir ziehen uns von der Bewegung zurück«, sagte er nach dem Polizeibericht, »rein aus Gründen unseres Glaubens, denn der Gläubige und der Ungläubige können nicht dasselbe Joch tragen.« Von da an lehnten es die Ältesten ab, Kinokarten und anderes Schulungsmaterial anzunehmen, und empfingen die Beamten, die zur Gemeinde über die Religionspolitik der Regierung sprechen sollten, sehr kühl. Viele andere Ortsgemeinden folgten diesem Beispiel. 1954 berief Ho eine Predigerkonferenz nach Wuhan, er ermutigte die Teilnehmer im Glauben und beschwor sie, unabhängig von der patriotischen Bewegung zu bleiben und für die Gemeinden zu beten, die sich noch nicht von ihr distanziert hatten. In den vier Jahren, die Nees Verhaftung folgten, fanden viele Gemeinden auf diese Weise wieder zu sich selbst; die Gemeinde in Schanghai zog sich Ende 1955 zurück. Der Zorn der Partei war die unausbleibliche Folge. Inzwischen wuchs die Gemeinde in der Nanyangstraße weiter. Die Versammlungen konnten fortgesetzt werden und sogar ein oder zwei Jahre lang die Evangelisationen während der Neujahrsferien.

Wegen der allgemeinen Unsicherheit waren die Möglichkeiten zum persönlichen Zeugnis größer als je zuvor. Eine Menge Bücher wurde veröffentlicht, die meisten anonym, doch man konnte in ihnen Watchmans Bibelauslegungen erkennen. Die Buchhandlung der Gemeinde arbeitete auf Hochtouren. Im Frühling 1952, nachdem alle Studenten zwangsweise im Marxismus geschult worden waren, gab es in zwei Colleges ein christliches Erwachen. Viele wurden wiedergeboren. Dies führte zu einer Reihe von Winter- und Sommerkonferenzen, die in der Nanyangstraße abgehalten wurden. In jedem College in Schanghai entstanden neue christliche Gemeinschaften, selbst in der Schule für Politik. Das Tischgebet vor den Mahlzeiten diente den Studenten als Erkennnungszeichen. Ein Gebet im Freien, das als Gespräch zwischen zweien oder dreien getarnt war, mochte unentdeckt bleiben, und die freie Dreiviertelstunde nach der wöchentlichen politischen Schulung gab Gelegenheit zu einem eiligen Treffen. Hier beteten einige laut, die das vorher nie ohne Gebetbuch getan hatten, und riskierten damit ihre künftige Karriere. Eine wahrhaft ökumenische Gesinnung griff unter diesen Umständen um sich, um die Watchman immer gebetet hatte. Diese Erweckung in Studentenkreisen verbreitete sich über ganz China.

Im Juli 1955 erschien ein öffentlicher Angriff auf den fundamentalistischen Prediger Wang Ming-tao in Peking. Dieser wurde von den Studenten, die zu neun Zehntel seine Versammlungen füllten, sehr geliebt. Ein Versuch zehn Monate früher, ihn durch Selbstkritik in einer Versammlung bloßzustellen, hatte eine Gegenbewegung zum Schutz Wang Ming-taos ins Leben gerufen. Seine Zeitschrift, die sich treu an die Schrift hielt, erschien immer noch und hatte großen Einfluß. Watchman Nee achtete ihn als Gottesmann sehr. Doch für seine Kirche hatte Wang keine Zeit. Er verglich sie mit einem Rasthaus am Wege, einem Platz, an dem man sich auf der Reise erfrischte, der aber nicht das Ziel der Reise ist.

Wang Ming-tao hatte alle Vorschläge der Regierung standhaft zurückgewiesen, und die Schwierigkeit für die Partei lag nun darin, daß er als unabhängiger Prediger keiner Organisation angehörte. Es war deshalb schwierig, ihn eines Verbrechens zu bezichtigen. So mußten Vorwände allein in seinem christlichen Zeugnis gesucht werden. Diese wurden denn auch in dem mutigen Traktat gefunden, das er im Juni 1955 veröffentlichte: »Wir sollen standhaft im Glauben sein.« Die Geschichte seiner Festnahme am 8. August ist wohlbekannt. Einige seiner früheren Anhänger suchten sich bei der Partei in Gunst zu setzen, indem sie ihn verräterischer Absichten beschuldigten. Mit seiner Einkerkerung und seinem erzwungenen »Geständnis« war wieder eine der Stützen der Kirche gefallen. Das Feld war leer, als der große Sturm losbrach.

18. Die Feuerprobe

Am 18. Januar 1956, einem Mittwoch, begann in der Nanyangstraße eine Reihe von Zusammenkünften, die vom Büro für religiöse Angelegenheiten einberufen worden waren und bei denen alle Gläubigen anwesend zu sein hatten. Sie dauerten zwölf Tage. Die Mitglieder der Gemeinde waren bei der Arbeit entschuldigt, damit sie den ganzen Tag teilnehmen konnten.

Die Gläubigen sollten nach und nach über Einzelheiten der Anklage gegen Nee informiert werden, und anschließend sollten sie ihre Meinung dazu sagen.
Die Beschuldigungen waren in einer Anklageschrift von 2296 Seiten zusammengefaßt. Danach war Watchman wegen imperialistischer Umtriebe, Spionage, konterrevolutionärer Tätigkeit gegen die Regierung, wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten und ausschweifenden Lebens verurteilt worden.
Zweck der Übung war, die Entrüstung der Gemeindeglieder zu wecken, die in einer Massenkundgebung am Monatsende ihren Ausdruck finden sollte, wo die Ältesten und die älteren Schwestern ihre Mitschuld zugeben und die Gemeinde dabei anführen würden, wenn sie Watchman als Volksfeind brandmarkte.
Zwei Älteste machten Feststellungen, die die Vertreter der Partei als völlig unangemessen abwiesen. Dr. Yu, Ruth Lee und Peace Wang lehnten es ab, überhaupt Anschuldigungen zu erheben.
Am Sonntag, den 29. Januar, kam der Fall Watchman zu einem zusammenfassenden Verhör vor den Schanghaier Gerichtshof für öffentliche Sicherheit. Das Verhör war kurz und nicht öffentlich. Die Anklage lautete darauf, daß er von der Nanyangstraße aus eine systematische konterrevolutionäre Tätigkeit gegen die Volksregierung ausgeübt habe. Fünf Punkte wurden verlesen, und ihm war nur erlaubt, mit Ja oder Nein zu antworten. Nee äußerte sich zur einzig wesentlichen Anklage, die der Spionage und Sabotage. Zu den anderen Punkten soll er geschwiegen haben. Der Fall wurde nun dem Obersten Gerichtshof übergeben mit der Empfehlung, Strenge walten zu lassen.
Am selben Tag wurden Dr. Yu und die beiden tapferen Frauen mit einigen anderen ins Gefängnis geworfen. In der Woche darauf waren schon dreißig Mitarbeiter und verantwortliche Brüder verhaftet. Gleichzeitig kämmte man die Gemeinden im ganzen Land durch und ließ ein paar tausend Männer und Frauen hinter Gefängnismauern verschwinden. Niemand durfte sie besuchen, sie hatten keinerlei Unterstützung.

Am Montag, dem 30. Januar, fand die öffentliche Anklage Nees in der Versammlungshalle in der Nanyangstraße statt. Sie war von der Abteilung für öffentliche Sicherheit und der Abteilung für religiöse Angelegenheiten einberufen. 2500 Personen waren anwesend. Vorsitzender war Lo Chu-feng vom Schanghaier Büro für religiöse Angelegenheiten. Eine Ausstellung von Fotografien und anderen Dokumenten »bewiesen« die Anklage.

Schon 1941, so wurde behauptet, habe Nee Informationen über die Bewegungen der kommunistischen Armee und ihre geheimen Pläne an die amerikanische Luftwaffe und an Tschiang Kaischeks Agenten weitergegeben. Der wahre Zweck seines letzten Besuches in Hongkong im Frühling 1950 sei es gewesen, über den Erfolg des nationalen Luftangriffs auf Schanghai, auf seine Wasser- und Stromversorgung, zu berichten. Er habe Abgesandten Tschiangs auch über die Epidemie berichtet, die in der Befreiungsarmee in Kiangsu und Tschekiang herrschte. Er habe dazu geraten, mit Larven infizierte Schnecken über den Flüssen und Seen Tschekiangs abzuwerfen und habe selbst wichtige Rohstoffe für Arzneimittel zurückbehalten. Er sei ein gesetzloser Kapitalist, der aus dem Handel mit pharmazeutischen Produkten Gewinn geschlagen habe; unter dem Deckmantel seiner Firma habe er Rohstoffe aus dem Ausland eingeführt, um sie anderen Herstellerfirmen zu verkaufen, und durch Bestechung der Zollbeamten habe er die Devisenbestimmungen umgangen. Auf diese Weise habe er die Nation um 17200 Millionen Yüan bestohlen. Indirekt sei er auch der Sabotage schuldig. Feuersbrünste und Explosionen in den Schanghaier Farbwerken seien dadurch entstanden, daß er geschulte Christen in diese Fabriken geschickt habe, um die Produktion zu sabotieren.
Er sei ferner ein Laufhund der Imperialisten. Unter dem Vorwand, daß es sich um chinesische Gründungen handele, habe er es versäumt, die christlichen Gemeinden als vom Ausland unterstützte Missionen eintragen zu lassen. Seit 1921 habe er Geschenke und Legate von Missionaren, von den Londoner »Brüdern«, von dem christlichen Gemeinschaftszentrum in London und von einzelnen Spendern aus Übersee erhalten. Als die China-Inland-Mission sich aus dem Land zurückzog, habe sie Nee eine Reihe von kirchlichen Gebäuden übergeben und so bewiesen, daß »sie im politischen Denken eines Sinnes« mit Nee waren.
Lange vor der Befreiung habe Nee unter dem Deckmantel der Religion eine konterrevolutionäre Bewegung geplant und organisiert. In seiner Rolle als Gründer der christlichen Gemeinden und mit Hilfe seiner Reaktionärsclique habe er den Plan gefaßt, China zu erobern. In Schulungskursen für seine Mitarbeiter habe er durch Vorträge, Predigten und bei Diskussionen seine subversive Tätigkeit verfolgt. Er habe die Christen aufgefordert, sich dem großen Unternehmen der nationalen Befreiung zu widersetzen, statt dessen zu fasten und zu beten, damit Gott die Volksbefreiungsarmee im Jangtse ertränke wie einst das Heer des Pharao im Roten Meer.
Er habe die Landreform angegriffen. Und doch habe er vor ihrer Einführung eine eigene Landreform unternommen, indem er der Kirche seinen ausgedehnten Besitz in Futschou übergeben habe. Doch sei dies nur ein Deckmantel für seine kriminelle Tätigkeit gewesen, deren schmerzlicher Einfluß noch immer zu spüren sei.
Zu einer Zeit, da China sich unter der Führung Maos auf dem lichten Pfad zum sozialistischen Aufbau befand, lehrten Nees Genossen, daß es sich um die in der Bibel erwähnten »letzten Tage« handele. Sie hatten das Volk demoralisiert, indem sie zum Beispiel die große Flutkatastrophe in Wuhan einem Gottesgericht zuschrieben.
Die Jugend sei durch die bösartigen Ratschläge Nees und seiner Anhänger verdorben worden. Manch junger Mann, manch junges Mädchen sei verlockt worden, sich einer Schulung zu unterziehen, »um dem Herrn zu dienen«, und hätte dann nur harte und demütigende Arbeit erhalten. Er habe der Jugend abgeraten, sich der Volksbefreiungsarmee anzuschließen, und sie gelehrt, »die Welt nicht zu lieben«. Darin sei er einfach unaufrichtig gewesen, denn was er wirklich liebte, sei die unglaubwürdige Welt von Tschiang Kai-scheks Banditen.
Nee und seine Clique hätten Kuomintang-Agenten beherbergt: Untergrundarbeiter, Generäle, entflohene Großgrundbesitzer, und hätten sie in den christlichen Gemeinden als Prediger, Älteste und Diakone eingesetzt, wo sie ihn in seiner subversiven Tätigkeit unterstützten. 1950 seien die Gläubigen ermahnt worden, in ihrem Eifer beim Straßenbau die Nicht-Christen auszustechen, doch nur, um auf diese Weise seinen geheimen Plan weiterzutreiben. Einige dieser »Untergrundarbeiter« wurden namentlich genannt: Chen Lu-sand, ein »früherer Polizeichef und konterrevolutionärer Bandit«, Lu Shih-kuang, »dessen Hände vom Blut des Volkes triefen«, Li Yin-shin und viele andere. (Sicher waren einige dieser Männer früher Beamte im Nationalstaat gewesen, ehe sie ihr Leben Gott übergaben.) Törichterweise habe Nee angekündigt, daß er China in fünfzehn Jahren für das Evangelium gewinnen wolle, das besser als der Kommunismus sei. Und diese Evangelisationsbewegung sei ein guter Deckmantel für seine politische Propaganda gewesen.
Der schamloseste Akt sei der Feldzug im April 1948 gewesen mit der Aufforderung an die Christen, dem Beispiel der Apostelgeschichte zu folgen und ihren Besitz um des Evangeliums willen Gott zu übergeben und nicht den Kommunisten. Dieser Feldzug habe sich wie ein Buschfeuer verbreitet und schätzungsweise 500000 Dollar erbracht. Natürlich habe Nee dies Geld für sein konterrevolutionäres Programm gebraucht.
Schließlich, um auch schlichte, gottesfürchtige Gläubige zu überzeugen, wurde Nee angeklagt, ein »liederlicher Vagabund« zu sein, der ein »zügelloses Leben« geführt habe und häufiger Gast in den Bordellen gewesen sei. Er habe bekannt, so wurde behauptet, daß er über hundert Frauen verführt habe, chinesische und ausländische. Für diese Behauptung blieben sie den Beweis schuldig.
In dem Saal in der Nanyangstraße, in dem Watchman die Gemeinde im Gebet geleitet und ihr das Wort Gottes ausgelegt hatte, schleppte sich die Aufzählung seiner »Verbrechen« dem Ende zu. Der Vorsitzende Lo Cu-feng rief den Vizebürgermeister von Schanghai auf, die Hauptansprache zu halten. Hsu Chienkuo stand auf. Nachdem er auf die Einzelheiten von Nees Verhaftung im April 1952 anspielte, die bis dahin nicht bekannt waren, fuhr er fort, über die Regierungspolitik in Sachen Religion zu sprechen.
»Die Volksregierung garantiert die Freiheit des religiösen Glaubens«, versicherte er. »Das Problem, das uns heute beschäftigt, sind die Konterrevolutionäre, die in den christlichen Gemeinden versteckt sind. Die Opposition, die Nee und seine Bande gegenüber der staatlichen religiösen Bewegung zeigen, kommt nicht aus religiösen Motiven. Sie hat ihren eigenen verborgenen Zweck. Religion ist Religion, und Glaube ist Glaube. Man darf sie nicht mit seiner eigenen konterrevolutionären Anschauung vermischen oder als Deckmantel benutzen, hinter dem man das Gift des Hasses im Volk sät. Jeder Christ sollte aktiv daran teilnehmen, die Verbrechen der verhafteten Männer aufzudecken.
Über die Haltung vieler anderer Gemeindeglieder haben wir noch ernste Zweifel. Aber wir befassen uns noch nicht mit ihnen, um zu sehen, ob sie bereuen und eine neue Haltung an den Tag legen werden. Durch unsere Nachforschungen in den letzten Jahren haben wir eine Menge Informationen, die wir, wenn nötig, benutzen werden. Wer diese Warnung in den Wind schlägt, muß die Folgen tragen. Der Kampf hat erst begonnen. Wir werden nicht ruhen, bevor der Sieg unser und auch die kleinste Wurzel konterrevolutionärer Ideen aus der ›Kleinen Herde‹ ausgemerzt ist.«

Nach der Rede des Bürgermeisters erhob sich ein Medizinstudent. Er gehörte zur Gemeinde und hielt eine Ansprache voller Denunziationen. Andere, die auch zu sprechen suchten, wurden auf eine spätere Gelegenheit vertröstet.
Ein alter Schulfreund und Mitarbeiter Watchmans betonte, daß die Anklagen nicht religiöser, sondern politischer und moralischer Natur waren. »Es ist ein Ding, als Christ zu leiden; und es ist etwas ganz anderes, als Verbrecher zu leiden für Sünden, die man nicht begangen hat.«

Am 1. Februar erschien in der Presse eine offizielle Bestätigung von Watchmans Verhaftung am 10. April 1952 und daß er nun mit zwei weiteren Gefangenen, Chang Tzu-chieh und Ni Hongtsu, im Gefängnis von Schanghai einsaß. Chang war Mitarbeiter in Tsingtau und Hong-tsu, Watchmans dritter Bruder, das achte Kind der Familie. Er war ein alter Agent Tschiangs und verstand sich selbst nicht als praktizierender Christ. Man hatte ihn mit dem Versprechen, seine zerrütteten Finanzverhältnisse zu ordnen, von Hongkong nach Schanghai gelockt. Hier wurde er als Verräter hingerichtet. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die politische Agententätigkeit des einen Bruders den anderen belasten sollte, um auf diese Weise den Vorwürfen, die man gegenüber Watchman erhob, Nachdruck zu verleihen.

Am 2. Februar denunzierte Bischof Robin Chen Watchman in einem Artikel, in dem er offen seine Genugtuung darüber äußerte, daß dieser harte Block beiseite geräumt worden war. Am selben Tag führte er den Vorsitz bei einer großen Versammlung der Drei-Selbst-Bewegung. Etwa ein Dutzend Geistliche und Kirchenführer sprachen und priesen Mao und die kommunistische Partei wegen ihres Kampfes gegen Nee und seine Gruppe. Das sei »vollkommen korrekt und unbedingt notwendig« gewesen. Diese »reißenden Wölfe in Schafspelzen« verdienten die schwerste Bestrafung. Die Versammlung verfaßte eine Resolution, in der sie gegen die Sünden dieser Landesverräter Stellung nahm. Eine Frau beschrieb Nee in ihrer Ansprache als »antirevolutionären liederlichen Menschen und schamlosen Ehebrecher«. »Wir Frauen konnten ihn nur hassen.«

Am nächsten Tag erschien in einer Schanghaier Zeitung eine Karikatur auf den Feldzug der »Kleinen Herde« »Gebt Gott, was Gottes ist«. Sie zeigte zwei Stockwerke eines Hauses. Im oberen Stock drängten sich die Leute um einen maskierten Mann, der auf einer Trittleiter saß und sie aufforderte, ihren Besitz in einen großen Trichter zu werfen, der die Aufschrift trug: »Gebt Gott, was Gottes ist.« Alle Arten von Gaben wurden hineingetan bis hinunter zu dem Hemd, das ein Kuli auszog, und dem Jäckchen eines weinenden Kindes. Im unteren Stock war der Trichter anders beschriftet: »Für die Arbeit der Konterrevolution.« Aus ihm strömten Gold und Silber, Armbanduhren, Schmuck und Geldscheine und häuften sich zu Füßen Watchmans, der, mit einer Prostituierten auf dem Schoß, entspannt dasaß und den ganzen Segen entgegennahm.
Durch solche gezielten Angriffe wollte man Watchman aus den Herzen der Gläubigen reißen. Nur wenige wagten es noch, seinen Namen auszusprechen, aber im Stillen unterstützten ihn viele Christen in ganz China, indem sie für ihn beteten.

Die Pastoren und Evangelisten in Schanghai wurden nun aufgefordert, vom 5. Februar an kleine Studiengruppen einzurichten, um die Christen über die »Verbrechen von Watchman« zu informieren. In der Nanyangstraße wurden mit Ausnahme des Sonntagsgottesdienstes alle Veranstaltungen abgesagt, um diese Schulung durchzufahren.

Der »Himmlische Wind« widmete am 6. Februar dem Fall Nee elf Seiten. »Treibt die grausamen Wölfe aus der Kirche«, stand da zu lesen. »Sie sind eine Gefahr für die nationale Erneuerung, für die soziale Ordnung, die Wohlfahrt des Volkes; sie untergraben die nationale Sicherheit. Ihr Dasein in den christlichen Kirchen bringt den Namen des Herrn in Verruf, schändet die Kirche und verfälscht die Wahrheit des Evangeliums. Sie sind sehr clever und sprechen gern über Heiligung. Ihre Aktionen aber sind weit davon entfernt, und das Leben Watchmans ist nicht mehr zu revidieren. Brüder und Schwestern, wir freuen uns, daß diese Bande unserer geliebten Kirche nichts mehr anhaben kann.«

Am 29. Februar berichtete das Blatt über eine weitere große Anklageversammlung, die von mehr als 3000 Angehörigen der »Kleinen Herde« besucht wurde. Sie sollten der Ernennung von vierzehn neuen Führern ihre Zustimmung geben, die, von der Regierung bestimmt, an die Stelle der Gefangenen treten sollten. Diese Versammlung stand unter einem noch stärkeren emotionalen Druck als die vom 30. Januar. Der Bericht über diese Versammlung im »Himmlischen Wind« nahm fünfzehn Seiten ein. Er war überschrieben: »Nun bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei.«

Eine große Zahl von Abgeordneten aus der »Kleinen Herde« besuchte die zweite nationale Konferenz der Chinesischen Christlichen Kirche in Peking vom 15. bis zum 23. März 1956. Hier gab der Vorsitzende der Drei-Selbst-Bewegung, Y. T. Wu, einen Bericht über die Fortschritte, die seit der letzten Konferenz im Jahre 1954 erreicht worden waren. »Zu diesem Zeitpunkt«, sagte er, »gerade als wir voller Vertrauen vorangingen, widersetzte sich eine kleine Gruppe unserer Bewegung unter dem Vorwand, daß es sich um eine ›Glaubensfrage‹ handele, und störte so unsere Einheit. Während der nationalen Kampagne 1955/56 wurden einige in der Kirche versteckte Gegenrevolutionäre entdeckt. Unter dem Deckmantel der Religion betätigten sich diese Männer als Spione, verbreiteten Gerüchte und behinderten den Feldzug des chinesischen Volkes. Innerhalb der Kirche benutzten sie den ›Glauben‹ als Vorwand, um sich der Drei-Selbst-Bewegung zu entziehen; mit einem religiösen Slogan suchten sie ihre Mitchristen zu verwirren, die Jugend zu verderben und die Einheit der Christen zu verhindern. Sie sind entlarvt; dieses Hindernis ist hinweggeräumt. Heute sind alle Christen vereinigt, auf einer breiteren und festeren Grundlage als je.«

Den Abgeordneten der »Kleinen Herde« wurde bald Gelegenheit gegeben, ein öffentliches Bekenntnis abzulegen und sich in die Bewegung einzureihen. In einer späteren Ansprache stellte der Anglikaner Dr. Tsui fest:
»Der Älteste Yen Chia-le aus der ›Kleinen Herde‹ in Peking und Fräulein Hsu Ma-li aus der ›Kleinen Herde‹ in Schanghai haben auf dieser Konferenz Beschuldigungen vorgebracht. Wer wurde jemals gezwungen, Anklage zu erheben? Wir konnten einfach nicht anders, als solche Gelegenheiten ergreifen, um diese Vertreter des Imperialismus bloßzustellen und anzuklagen, wenn wir ihre furchtbaren Verbrechen erkannten.« Er sprach von den »verborgenen Wolfsklauen unter dem Schafpelz« jener, die der Westen »tapfere christliche Führer« nennt.

Konferenzen in den einzelnen Provinzen folgten. Für die Provinz Tschekiang wurde sie in Hangtschou abgehalten, wo Watchman und Charity einst ihre Hochzeit feierten. Als Gelegenheit zum Sprechen gegeben wurde, waren die Mitglieder der »Kleinen Herde« besonders eifrig, sich von ihrer früheren Haltung zu distanzieren und ihren eingekerkerten Führer zu exkommunizieren.

In der Provinz Anhwei wurde im März offiziell berichtet, daß »so viele wie möglich von denen, die unter Watchman Nees weitreichendem Einfluß gestanden hatten, umgeschult wurden und man den Rest verhaftete«.

Mitte April war die Umerziehung der Gemeinde in der Nanyangstraße beendet. Ihren formellen Eintritt in die nationale Kirche vollzog sie am 15. April bei einer Zusammenkunft mit Vertretern der anderen Kirchen. Die Diskussionsthemen bei diesem Treffen lauteten: »Die Klärung unseres Glaubens« und »Wie man an der nationalen Bewegung teilnehmen soll«. Die Kirche beugte sich dem »Volksbegehren« und verkündete öffentlich ihre »Wiedergeburt«. Damit war die ganze protestantische Kirche in China unter einer einzigen Autorität vereinigt.

Später allerdings klagte ein Reporter im »Himmlischen Wind«: »Eine kleine Zahl von Brüdern und Schwestern, die durch das antirevolutionäre Gift sehr beeinflußt waren, fühlt sich noch immer unbehaglich und stimmt in ihrem Gewissen nicht zu. Für sie hängt diese Frage mit dem Glauben zusammen.«
So machte sich die Regierung daran, auch die letzten Schlupflöcher zu verstopfen. Alle Bibelund Gebetsstunden in Privathäusern wurden verboten. Unabhängige Evangelisten und Prediger wurden verfemt. Die Religionsfreiheit wurde laut proklamiert, doch sie stand unter staatlicher Kontrolle.
Nee blieb während dieser Zeit für die Öffentlichkeit verschwunden. Am 21. Juni 1956 erschien er dann in Schanghai vor Gericht. Wie zuvor und wie in allen solchen Fällen, handelte es sich nicht um einen öffentlichen Prozeß, sondern nur um eine öffentliche Verurteilung. Sie dauerte fünf Stunden. Dabei wurde verkündet, daß er von seiner eigenen Kirche exkommuniziert sei. Er wurde aller Anklagen für schuldig befunden und unter Anrechnung der vier Jahre Untersuchungshaft zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt, »zur Umschulung durch Arbeit.

19. Unterdrückung

Als der Sturm in Schanghai ausbrach, im Januar 1956, gehörte Charity zu denen, die man »haben wollte«. Doch sie befand sich unter ärztlicher Aufsicht im Krankenhaus, da ihr Augenlicht bedroht war, und sie war zu krank, um die Anklageversammlungen zu besuchen oder das verlangte Bekenntnis abzulegen. Und im Juni, zur Zeit von Watchmans Verurteilung, war auch sie im Gefängnis. Bei Jahresende war ihr Geständnis immer noch nicht ausreichend.

1957 wurde sie wieder entlassen. Es war der Anfang ihrer langen einsamen Zeit. Sie wohnte in einem Zimmer in der Nähe der Medizinschule. Nur wenige wagten es, sie zu besuchen. Es verlangte großen Mut, das offen zu tun, denn sie war als »verbrecherische Reaktionärin« abgestempelt und hatte die bürgerlichen Rechte verloren; die Verbindung mit ihr konnte gefährlich werden. Ihre Nachbarn sprachen kaum mit ihr. Hin und wieder suchte ein christlicher Student oder einer der Gläubigen sie auf, doch gewöhnlich nach Einbruch der Dunkelheit, um unerkannt zu bleiben. Sie vermieden es, ihren Mann zu erwähnen, statt dessen sprachen sie über Jesus, den Herrn, und hatten Gebetsgemeinschaft mit ihr. Die Besucher verließen sie immer gestärkt und überrascht von ihrer Kraft und Ruhe, denn sie verfügte über beachtliche innere Reserven.

Ein Gefangener, der seine Strafe verbüßte, konnte einen Verwandten als Besucher empfangen, und so wurde es Charity endlich nach fünf Jahren erlaubt, Watchman zu sehen. Sie durchquerte die Stadt, ihr Ziel war das frühere internationale Viertel, wo das weitläufige Gefängnis am Suchow-Bach lag. Ihre Unterredung fand unter Aufsicht in einem Saal statt, in dem eine Barriere sie trennte, und dauerte eine halbe Stunde. Die Erlaubnis dazu konnte monatlich erneuert werden. Ebenfalls monatlich konnte Watchman je einen unter strenger Zensur stehenden Brief absenden und empfangen.

Das Gefängnis mit seinen häßlichen grauen Mauern hatten die Engländer im Jahre 1913 erbaut. Watchmans Einzelzelle maß drei mal anderthalb Meter. Als einzige Einrichtung gab es eine Holzplattform auf dem Fußboden zum Schlafen. Vor den Zellen zog sich eine etwa siebzig Meter lange Galerie hin, auf die die Zellenfenster hinausgingen.

Der Tag teilte sich in acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schulung und acht Stunden Nachtruhe. Wegen des Ungeziefers war es schwer, Schlaf zu finden. Watchman stand um fünf Uhr auf, um sich mit der Schar verlorener Männer zur Arbeit in die Gefängnisfabrik zu begeben oder zur Übung in einen der kahlen Innenhöfe. Es gab keine Gefängniskleidung, und so trugen die Gefangenen ihre eigene, meist abgetragene und zerrissene Kleidung. Wenn einer fleißig war, bestanden seine Kleider aus einer Anhäufung von Stopfen und Stichen.
Die drei Mahlzeiten am Tag wurden von den weiblichen Gegangenen zubereitet: eine war kräftig (für die Arbeit), eine leicht (für die Schulung), und die dritte bestand aus Haferschleim. Obwohl es frisches Gemüse und gelegentlich auch Fleisch gab, lebten die Häftlinge gerade ein wenig über dem Existenzminimum. Gelegentlich gestattete man ihnen ein heißes Bad und alle vierzehn Tage einen Haarschnitt. In der bitteren Winterkälte und ohne Heizung mußten sie viele Kleider übereinander ziehen, um überhaupt am Leben zu bleiben.

Als »Krimineller« erhielt Watchman dieselbe Schulung wie die politischen Häftlinge. Sie besuchten Vorlesungen über Politik, Tagesereignisse und Produktionstechniken. In jeder Abteilung gab es eine Bücherei und Zeitungen, und es wurden Diskussionen veranstaltet, Theatergruppen gebildet und Filme gezeigt. Einen großen Teil des Tages wurden sie über Lautsprecher mit politischer Propaganda gefüttert.

Als jenseits der Grenze bekannt wurde, unter welchen Umständen Watchman lebte, sandten die Gläubigen aus Hongkong kleine Mengen Nahrung, Kleidung und Seife (die streng rationiert war) an Charity, und es gelang ihr, ein wenig davon ins Gefängnis einzuschmuggeln. Man gestattete Watchman Schreibmaterial, und ein Teil seiner »Umerziehung durch Arbeit« bestand darin, daß er wissenschaftliche Bücher und Artikel aus dem Englischen ins Chinesische übersetzte, die für die Regierung wichtig waren. Für diesen Zweck konnte er auch anerkannte Bücher anschaffen, und später wurden einmal zwei Bände eines medizinischen Lexikons in Hongkong für ihn gekauft. Doch es ist ziemlich sicher, daß ihm nie erlaubt wurde, eine Bibel bei sich zu haben. Hier war er allein auf sein erstaunliches Gedächtnis angewiesen.

Im Sommer 1956 gab es mit dem Beginn der »Laßt-hundert-Blumen-blühen«-Kampagne eine gewisse Entspannung. Doch ein Jahr später, zur Zeit von Charitys Entlassung aus dem Gefängnis, folgte die Phase des »Blühens und Sich-Behauptens« mit ihrem harten Kampf gegen alles freiheitliche Denken. Trotzdem fand eine Studentin, die 1957 die Versammlung in der Nanyangstraße besuchte, mutige Christen, die verkündigten: »Der Herr ist meine Kraft und mein Lobgesang und mein Heil.« Sie erlebte einen Gottesdienst am Sonntagmorgen, das Abendmahl am Nachmittag und am Abend eine Zusammenkunft für junge Leute. Im Juli fand dort auch eine fünftägige Studentenkonferenz statt. In jenem Sommer gab es ein weit verbreitetes christliches Erwachen unter den Studenten in ganz China, das unter anderem vermutlich durch die Schriften Wang Ming-taos und Watchman Nees hervorgerufen wurde. Damals begannen viele Studenten, große Abschnitte der chinesischen Bibel auswendig zu lernen.
Im November wurde das erste Buch Watchmans im Ausland, in Bombay, gedruckt: »Das normale Christenleben.« Wahrscheinlich hat er nie erfahren, wieviel Frucht seine Bücher außerhalb Chinas brachten.

Im Januar 1958 proklamierte Mao Tse-tung den »Großen Sprung« mit dem Ziel, »schneller, besser und ökonomischer« zu produzieren. Seine unfehlbaren Gedanken begannen das Volk zu beherrschen. Die Parteikader interpretierten und prägten sie dem Volk ein, und so begann es über die gewöhnliche Zeit hinaus und unter Anspannung aller Kräfte zu arbeiten. Das Pflanzen von Reis, das Schmelzen von Roheisen im Hinterhof bekam den Rang nationaler Würde. Die Leute arbeiteten bis zur Erschöpfung, und so ließ der Kirchenbesuch nach.

Ebenfalls Anfang des Jahres hatte ein Feldzug zur sozialistischen Umschulung der Pastoren begonnen. Sie sollten als Glieder der ausbeutenden Klassen, als »Parasiten«, gebrandmarkt und zur produktiven Arbeit herangezogen werden. Der »Himmlische Wind« war voll von Berichten über die schlimmen Dinge, die man entdeckt hatte, wie Glaubensheilungen oder Dämonenaustreibungen; damit habe der Imperialismus sein Haupt wieder erhoben. Und hinzu kamen die meist jeder Grundlage entbehrenden Anschuldigungen wegen Unmoral. Listen wurden aufgestellt von Pastoren, die ins Gefängnis oder zur Arbeit in die Bergwerke geschickt wurden. Viele christliche Führer, die die anfängliche Strategie der Partei für ihr letztes Ziel gehalten und sich an den Denunziationen beteiligt hatten, wurden nun selber denunziert.

Daneben lief ein Feldzug zur Vereinigung der Gottesdienste. Überall wurden die Versammlungen zusammengelegt, und so wurden viele Kirchen für weltliche Zwecke frei. Im September waren in Peking aus 64 Gemeinden vier geworden, und in Schanghai blieben von 150 noch zwanzig übrig. In der Versammlungshalle in der Nanyangstraße wurde eine Fabrik untergebracht. Zur Zwangsreform der »Kleinen Herde« gehörte die Abschaffung der Frauenversammlungen und des wöchentlichen Abendmahlsgottesdienstes. Die Lieder wurden vereinheitlicht und mußten durch ein Komitee gebilligt werden. In allen Kirchen war es verboten, über das Jüngste Gericht und die Wiederkunft des Herrn oder die Vergänglichkeit dieser Welt zu predigen.
Vielmehr sollten die Vereinigung der Kirchen und der Sozialismus gelehrt werden. Alle Bibelkommentare wurden geprüft und nur solche, die keine gefährlichen Gedanken enthielten, zugelassen. Gebäude, kirchliches Eigentum, Bankguthaben mußten der patriotischen Bewegung übergeben werden.

Im Innern des Hauptgefängnisses, wo der Produktionszwang genauso hart wie draußen war, stieg ein heller Lobgesang zu Gott auf. Ein Gefangener, der in einem andern Block untergebracht war und im Sommer 1958 entlassen wurde, berichtete, daß man aus Watchmans Zelle häufig geistliche Lieder hörte. Er hatte eine angenehme Baritonstimme, und morgens, ehe die Lautsprecher einsetzten, war Zeit für vier oder fünf Lieder. Er hatte viele Lieder selbst verfaßt und andere ins Chinesische übersetzt, und nun hörten ihn die Gefangenen – eine Geschichte wie im ersten Jahrhundert.

Ruth Lees und Peace Wangs Prozeß fand im Sommer 1958 statt. Sie hatten sich standhaft geweigert, Watchman anzuklagen, und wurden beide zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Unter harten Bedingungen mußten sie Stoffschuhe anfertigen. Auch Dr. Yu hatte der Versuchung widerstanden, Watchman zu denunzieren, selbst als seine Frau und sein Sohn zu ihm geschickt wurden und ihm auftragsgemäß die Freiheit als Gegenleistung anboten. Er erkrankte dann an Krebs und war zu krank, um bei seinem Prozeß zu erscheinen. Ein wenig später, nachdem er auf Ehrenwort entlassen war, starb er in einem der früheren Büroräume in Wen Teh Li, bis zum Ende standhaft im Glauben.

Zu Neujahr 1959 gab es keine Feuerwerkskörper und keine bunten neuen Kleider. Der »Himmlische Wind«, die letzte überlebende christliche Zeitschrift, beschränkte sich nur noch auf Propaganda-Artikel. Die durch die Produktion voll ausgelastete Bevölkerung wurde ermahnt, »ihr Herz der Partei zu übergeben«. Aber als im Mai 1960 drei chinesische Bergsteiger eine kleine Gipsbüste von Mao Tse-tung auf dem Gipfel des Mount Everest aufstellten, befand sich China schon in der Wirtschaftskrise. Schlechte Planung und Naturkatastrophen kamen zusammen, die Lebensmittel mußten rationiert werden, und in vielen Gebieten herrschte Hungersnot. Maos »großer Sprung nach vorn« verkehrte sich in das Gegenteil. Natürlich herrschte auch in den Gefängnissen der Hunger. 1962 wurden zwei bejahrte und sehr gebrechliche Älteste der »Kleinen Herde« entlassen, nachdem sie zehn Jahre Haft verbüßt hatten. Sie berichteten, daß Watchman keine hundert Pfund mehr wöge.

Achtzehn Monate später wurde er mit einem Koronarschaden ins Gefängnishospital eingeliefert und für eine Weile von der körperlichen Arbeit befreit. Man erlaubte, daß in Hongkong Medizin für ihn gekauft wurde.

Im Juni 1966 brach die große proletarische Kulturrevolution aus. Sie überraschte selbst die scharfsinnigsten Beobachter, die nicht weit ab vom Schauplatz waren. Am 18. August erhielten die studentischen Roten Garden bei einer Massenparade in Peking den Segen Mao Tse-tungs, »unseres großen Lehrers, Führers, obersten Befehlshabers und Steuermanns«. Mit seinen »Worten« bewaffnet, griffen sie die Führer der Nation als »bourgeoise Sowjet-Revisionisten« an. Die Fabriken wurden geschlossen, Schmähplakate bedeckten jede freie Wand, die Massen füllten die Straßen, es kam zu einer großen Säuberungsaktion.

Rote Garden erschienen auch im Stadtgefängnis, beschuldigten den Direktor des Revisionismus und besetzten das Gebäude. Als sie durch die Zellen und Vortragssäle stürmten, wurden sie gegen einige Insassen gewalttätig. Dabei wurde Watchman niedergeschlagen und brach sich den Arm.
Von jetzt an spielten die »Worte Maos« die Hauptrolle bei der Schulung der Gefangenen, und die Gefängnisbücherei wurde in der Auswahl der Bücher darauf abgestellt.

Im April 1967 waren Watchmans fünfzehn Jahre um. Die Gefangenen waren durch die Lautsprecher oft genug gewarnt worden: »Wenn du zu fünf oder sieben Jahren verurteilt bist und wir nach dieser Zeit nicht zufrieden mit deiner Umwandlung sind, wird man dir weitere fünf oder sieben Jahre geben.« Viele Freunde in der ganzen Welt beteten um die Freilassung Watchmans, und Charity erwartete sie zuversichtlich. Doch nicht alle waren so hoffnungsvoll. Watchmans ältere Schwestern in Hongkong und Schanghai wechselten Postkarten: »Ist der ältere Bruder zu Hause?« – »Der ältere Bruder ist nicht zu Hause.«

1967 wurden 86 Millionen Exemplare der »Ausgewählten Werke« Mao Tse-tungs verteilt, 350 Millionen des »Kleinen Roten Buches« und 100 Millionen der »Ausgewählten Lesungen« und der »Gedichte«. Es wurde jetzt gefährlich, eine Bibel zu besitzen.

Dreizehnmal in dreizehn Monaten wurde Charitys kleines Heim von den Roten Garden durchsucht, ihre Habseligkeiten durchwühlt und alles Christliche lächerlich gemacht oder vernichtet. Am Ende war sie wie viele andere in einem akuten Angstzustand, der sich zu einem völligen Zusammenbruch steigerte. Obwohl die Gläubigen alles taten, um sie zu unterstützen, konnte nur Gott ihr durch diese Zeit helfen. Von jetzt an hörten alle Gottesdienste auf, und den wenigen Geistlichen, die es noch gab, wurde befohlen, in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Alle religiösen Gebäude wurden säkularisiert und an ihre Mauern Plakate mit antireligiöser Propaganda geklebt. »Himmlischer Wind« stellte sein Erscheinen ein.

Im September erhielten die Ältesten der Gemeinde in Hongkong Nachricht, anscheinend von hohen Beamten der Volksrepublik, daß Watchman und Charity China verlassen dürften, wenn eine beträchtliche Geldsumme in U.S.-Dollar bei der Hongkonger Zweigstelle der Bank von China hinterlegt würde. Watchman war so beliebt unter den chinesischen Gläubigen in Südostasien, daß das Lösegeld sehr schnell zusammenkam und auf die Bank gebracht wurde. Doch zu Beginn des Jahres 1968 kam aus derselben amtlichen Quelle die Nachricht, daß der Handel abgeblasen war. Die Summe wurde voll zurückgezahlt.

Wenn man annimmt, daß das Angebot ehrlich gemeint war und daß Watchman davon hörte, so war es ihm gewiß erlaubt, sich so oder so zu entscheiden. Darauf läßt ein eigenhändiger Brief schließen, den ebenfalls im September ein Flüchtling nach Hongkong brachte. Darin versichert Watchman, daß er guten Mutes und bei guter Gesundheit sei. So nehmen seine jungen Mitarbeiter, die ihm am nächsten standen, an, daß er diesen Vorschlag selbst ablehnte. Das ist wahrscheinlich.

Er hielt an den Prinzipien fest, daß es richtig sei, auf neutralen Gebieten – Studium, Arbeit, Übersetzungen – mit der Regierung zu kooperieren, um zu beweisen, daß Christen loyale Chinesen sind. Damit hoffte er das Los der anderen zu erleichtern, während seine Einwilligung in die Ausreise nach Hongkong als Kompromißbereitschaft verstanden werden mußte und sie belastet haben würde.

Aber da spielte noch etwas anderes mit. Er befand sich ja nicht in den Händen von gewissenlosen Menschen, sondern in Gottes Händen. Die Menschen wußten, daß seine Verbrechen erfunden waren. Aber das war ihre Sache. Was galt, war, daß Gott auf seine Weise handelte und daß Gott sagen konnte: »Ich segne dich«.

Früh schon hatte Watchman die Lektion Jakobs am Jabbok gelernt, den Gott da anrührte, wo er stark war, und ihn an dieser Stelle zum Krüppel machte, damit er durch diese Erfahrung die immer neue Kraft Gottes entdeckte. Wenn er schwach ist, dann ist er stark in Gott. »Ich kann dich nicht festhalten, aber ich kann dich bitten. Ich habe keinen Glauben und kann kaum beten, und doch glaube ich!« Und wenn das so ist, dann muß Gott, weil man sich auf ihn verläßt, handeln. Watchman dachte nicht daran, diese Schule zu verlassen. »Wir bleiben immer Schüler«, hatte er in Wen Teh Li gesagt, »aber jeder kommt einmal an den Punkt, an dem er diese grundlegende Lektion lernen muß. Dann ist plötzlich alles anders. Von da an bekommen wir eine Erkenntnis Gottes, die über allem steht, was wir erträumt haben.« Ich erinnere mich, daß er bei einem gemeinsamen Essen einen Keks zerbrach und dann die beiden Hälften aneinanderhielt. »Er sieht aus, als wäre er ganz«, sagte er mit einem Lächeln, »aber er kann niemals mehr so sein, wie er war. So geht es dir auch. Bei der leisesten Berührung Gottes wirst du dich vollkommen verändern.«

Watchmans innerer Friede entsprang einem Gefühl des Geführtseins, das in diesem Leben vielleicht Gottes größte Gabe an einen Menschen ist. 1949 war er von Hongkong nach Schanghai in der Überzeugung zurückgekehrt, daß Gott eine Aufgabe in dem neuen China für ihn hätte. Und es war dann ganz folgerichtig, wenn er auch jetzt spürte, daß Gott ihn brauchen würde und daß er deshalb bleiben sollte, was immer auch geschähe. »Nichts hindert uns so wie die Unzufriedenheit mit unseren Umständen. Die Voraussetzung für jeden Start ist Ruhe, aber es gibt eine besondere Ruhe, die wir dann entdecken, wenn wir wie Jesus sagen lernen: ›Ich danke dir, Vater, denn es ist gut in deinen Augen. Gott weiß, was er tut, und es gibt nichts Zufälliges im Leben eines Gläubigen. Und nur Gutes kann denen geschehen, die ihm ganz gehören.«

»Zu was sind wir berufen? Nicht zum christlichen Werk, sondern in den Willen Gottes, zu sein und zu tun, was ihm gefällt. Gott hat den Weg jedes Christen schon vorgezeichnet. Und wenn wir am Ende eines Lebens mit Paulus sagen können: ›Ich habe meinen Lauf vollendet‹, dann sind wir tatsächlich gesegnete Leute. Die alttestamentlichen Heiligen dienten ihrer eigenen Generation und gingen davon. Die Menschen gehen, aber der Herr bleibt. Gott selbst nimmt seine Arbeiter hinweg, aber er gibt neue. Unsere Arbeit leidet, seine niemals. Er bleibt Gott.«

20. Die letzten Jahre

Watchman wurde durch die Verbreitung seiner Schriften in den sechziger Jahren auch im Westen bekannt, und dies führte dazu, daß an vielen Orten für die Christen in China gebetet wurde. Dieses Interesse war neu und ohne Beimischung des früheren Argwohns, mit dem man das Eindringen der Ideen Watchman Nees in andere Missionswerke beobachtet hatte. Offensichtlich fühlten seine westlichen Leser die Besonderheit dieses chinesischen Zeugnisses heraus, dem sie sich mehr verbunden fühlten als den orientierungslosen westlichen Missionen. Ein zu Herzen gehendes Eingeständnis für diese Unfähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen, machte ein anglikanischer Missionar aus Fukien. Er beschrieb die »Kleine Herde« als eine echte und sich ausweitende Gemeinschaft und räumte ein, daß solche Bewegungen »ihren Ursprung in unseren eigenen Irrtümern haben«.
Den tragischen Gegensatz zwischen Ordnung und Freiheit des Geistes »würde es nicht gegeben haben, wenn wir ihn nicht nach China exportiert und unsere westlichen nachmittelalterlichen christlichen Traditionen dort verbreitet hätten«. Ein chinesischer Beobachter im Westen sah in der Einstellung der ausländischen Missionsarbeit die Voraussetzung für eine reichere evangelikale Zukunft.
»Nun kann mit einem neuen Typ missionarischer Bewegung in China gerechnet werden«, schreibt er. Würde dies eine Arbeit vom Typ der »Kleinen Herde« sein? Würde Watchman ein Mann dieser Zukunft sein?

Geboren in einem revolutionären Zeitalter und gewonnen für Jesus Christus, erkannte er die Notwendigkeit, ein eigenes Programm für Leben und Zeugnis zu entwickeln, das frei von fremden Bezügen in einem chinesischen Kontext stand und für das die Bibel als Quelle absolut genügte. Indem er sie wieder und wieder las, hoffte er, der Gefahr der Einseitigkeit zu entgehen, und er erwartete, daß sich die Probleme, die ein aus der Bibel aufgebautes Leben mit sich brachte, in der Begegnung mit dem lebendigen Christus, der ja ihr Thema ist, lösen würden. So wurde, um mit einem Missionar zu sprechen, die Bewegung, deren Führer er war, als eine Verkörperung eines ebenso radikal biblischen wie radikal chinesischen Evangeliums ungemein anziehend.

Sein Kirchenbegriff hatte einen schwachen Punkt. Dieser lag in dem Versuch, die Grundsätze, die er dem Neuen Testament entnommen hatte, direkt zu übertragen. So bestand er auf der geographischen Ortsgebundenheit der Kirchen: eine Stadt – eine Kirche. Dieser allzu statische Begriff hat diese Kirche denn auch schneller als nötig der staatlichen Kontrolle unterworfen. Im Gegensatz dazu wirkt zehn Jahre später seine Entdeckung der Auswanderungsbewegung im ersten Jahrhundert als echte Inspiration, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität halfen jenen, deren Bestimmung es war, schon sehr bald von den anderen isoliert zu werden. Als die Partei die Bevölkerung zu bespitzeln begann und auf diese Weise die Kirche zu liquidieren suchte, half dieses bewegliche Konzept dem Leben und Zeugnis der Christen zu ihrer eigentlichen Entfaltung. Das war die Kirche, deren Auftrag nicht das Überleben, sondern der Kampf war, während sie selbst im Feuer stand.
Aber der Hauptbeitrag Watchmans für das Überleben des Glaubens und lebendigen biblischen Denkens in China mag woanders liegen. In seine unvergeßliche Lehre vom Weg des Christen mit Gott hatte er sein eigenes Leben eingesät. Wenn das Weizenkorn stirbt, bleibt es nicht allein. Das Wort wird nicht leer zurückkehren, sondern es wird ausrichten, wozu es gesandt wurde. Wahrscheinlich hat jener Missionar recht, wenn er sagt: »Watchman Nee war von dem Herrn dazu bestimmt, die Wahrheiten des Evangeliums in den Blutstrom des chinesischen Volkes einzuimpfen. Seine Worte hafteten wie Kletten. Seine Bücher und Traktate tauchten überall auf. Und wenn jemand ein paar der einflußreichsten chinesischen christlichen Autoren nennen sollte, gab es kaum eine Möglichkeit, ihn auszulassen.«

Aber was kann Watchman Nee bewogen haben – wenn er tatsächlich die Möglichkeit einer Wahl hatte –, in China als ein zum Schweigen verurteilter »Krimineller« zu bleiben? Was mag die Botschaft seiner letzten Jahre gewesen sein?

Da ist zunächst seine Situation. Sie umreißt das, was Christentum überhaupt ist.
»Ihr werdet vor Obrigkeiten und Könige geschleppt werden um meinetwillen, um mich vor ihnen und den Heiden zu bezeugen« – das sagt Jesus den Zwölfen lange voraus. »Sorget euch nicht im voraus darum, was ihr reden sollt, sondern was euch in jener Stunde gegeben wird, das redet! Denn nicht ihr seid es, die reden, sondern der Heilige Geist.« Das waren Erfahrungen der Apostel und das eigentliche Motiv des Paulus, den Kaiser anzurufen. Denn »was könnte nicht alles dabei herauskommen, wenn der Kaiser selbst hört, wie Paulus sich verteidigt! Wir können die Hoffnungen, die Paulus mit diesem Verfahren verband, gar nicht hoch genug ansetzen. Daß sie sich nicht verwirklichen ließen, können wir rückblickend verstehen, denn wir wissen mehr über Nero als Paulus im Jahre 59. Für Paulus war das Gefängnis keine Strafe für die Predigt des Evangeliums, sondern eine Plattform dafür.«
Die gleichen Erfahrungen haben andere Christen gemacht. Madame Guyon, deren Geschichte einen so wesentlichen Einfluß auf Watchmans frühere Jahre hatte, schrieb über ihr öffentliches Verhör unter Androhung des Schafotts 1688: »Unser Herr schenkte mir, was er seinen Jüngern versprochen hatte: Er gab mir Antworten, die weit besser waren, als wenn ich mich sorgfältig darauf vorbereitet hätte.« Damit wird die Evangelisationstätigkeit des gefangenen Apostels beschrieben.

Im Mai 1968 bat ein chinesischer Besucher in einer westlichen Hauptstadt um Asyl. Er erzählte den Behörden, daß er eine Zeitlang Aufseher im Schanghaier Gefängnis gewesen sei und durch Watchmans Zeugnis Jesus Christus als seinen Erlöser gefunden habe. Wenn dies einen Schluß darauf zuläßt, was chinesische Christen heute durch »das Wort ihres Zeugnisses« leisten – und das tut es tatsächlich –, dann müssen wir eine weitere Feststellung machen.

In seinen letzten Tagen pflegte Jesus das, was er früher den Zwölfen über das Zeugnis vor den Obrigkeiten gesagt hatte, auf die Gemeinde zu übertragen – auf uns. Nun hatte er zwischen die beiden oben zitierten Sätze eine Bemerkung eingeschoben, die wir gewöhnlich auf die Weltmission beziehen, daß nämlich »das Evangelium zuerst den Völkern gepredigt werden soll«. Das würde bedeuten, daß der eigentliche Ort für die Verkündigung des Evangeliums von Christus heute der Gerichtshof und Untersuchungsrichter ein offenes Ohr für das Zeugnis seines Opfers hat. Seine Rolle ist es zu fragen und nach Motiven und Gründen zu suchen. Er mag glauben, alle Karten in der Hand zu haben, aber vor Gott ist er ein verlorener und sterbender Mann. Der Gefangene dagegen, der weiß, was der Mensch braucht, ist in der idealen Situation, ihn mit »der Macht Gottes«, seinem Wort, zu konfrontieren.

Das heißt nicht, daß der Gefangene dem Gericht entgeht, selbst wenn es ungerecht ist. Jesus, unser Herr selbst, stand unter falschen Anschuldigungen, und er benutzte ein Gericht und eine Hinrichtung, um seine Richter, einen Mitgefangenen, seine Henker und das Volk zu dem Eingeständnis zu bringen, daß er ein schuldloser Mensch war. Wir sind nicht schuldlos. Und doch: »Wir werden bedrängt, in Zweifel versetzt, verfolgt, zu Boden geworfen, allezeit tragen wir das Sterben Jesu am Leibe herum, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde.«

Die Gemeinschaft mit Christus, dem Überwinder, durch Teilhabe an seinem Triumph über den Tod – dieses Privileg war lange Zeit das Ziel Watchmans für seine Mitchristen. Der stürmische Symbolismus des Roten Drachens und der gebärenden Frau in der Offenbarung des Johannes hatte Watchman schon in den vierziger Jahren gefesselt. Dieses Kind und seine Flucht zum Throne Gottes war für ihn ein Bild der Auferstehung, da jene, die mit dem Bild gemeint waren, ihr Leben nicht liebten, selbst bis zum Tod. Nun mag man meinen, daß der chinesische Drachen wenig mit dem hellenistischen Symbolismus des Johannes zu tun hat. Doch für die chinesischen Gläubigen hat der Gedanke an einen enttäuschten Drachen – und einen roten – einen gewissen Reiz.

In einer Nachtsitzung erklärte der Premierminister Tschu En-lai den Gründern der »Chinesischen christlichen Drei-Selbstpatriotischen-Bewegung«, was die Partei unter Freiheit des christlichen Zeugnisses verstand. »Unter der Voraussetzung, daß Sie Ihre sozialen Aufgaben weiterhin wahrnehmen, erlauben wir Ihnen auch künftig den Versuch, Menschen zu bekehren. Sie und ich sind der Meinung, daß sich Wahrheiten durchsetzen werden. Wir denken, daß Ihr Glaube unwahr und falsch ist. Deshalb werden die Menschen, wenn wir Recht haben, Euch abweisen, und Eure Kirche wird zerfallen. Habt Ihr dagegen Recht, dann werden die Menschen Euch glauben. Aber da wir sicher sind, daß Ihr Unrecht habt, haben wir uns für die kommende Entwicklung vorbereitet.«

Das war die gnädige Eröffnung eines erbarmungslosen Planes, der aber schon beantwortet ist in der Versicherung Jesu an seine Kirche, daß selbst die Pforten der Hölle sie nicht überwinden werden. Wenn Jesus das sagt, dann hat er selbst für die Festigkeit dieser Pforten gesorgt. Und sicher ist dies der Grund, weshalb wir heute in China einen lebendigen christlichen Glauben erwachen sehen. »Der alte Aberglaube lebt wieder auf«, stellen die enttäuschten Wachhunde der Partei fest, und sie müssen es wissen.
Die offene Kollision ist unausweichlich. Christliches Leben kann nicht unsichtbar und nicht dauernd im Untergrund vor sich gehen. »Das Christentum ist keine Religion für einige Laien. Es ist sozial und an Gemeinschaft gebunden. Deshalb muß es den Kommunismus herausfordern.«

Im Januar 1970 wurde Watchman im Alter von 66 Jahren und nach achtzehn Jahren Schanghaier Gefängnishaft in eine offene Anstalt oder ein Arbeitslager auf dem Land verlegt. Dort vertrug er entweder das Klima nicht, oder die leichte Arbeit, die man ihm gab, wurde ihm zuviel. Seine Herzbeschwerden stellten sich wieder ein und machten ihm viel zu schaffen, und vermutlich wurde er deshalb für eine Zeit nach Schanghai zurückgebracht. Im nächsten Jahr ging es ihm besser.

Der Tag, an dem er zwanzig Jahre Haft hinter sich hatte, kam näher, und Charitys Hoffnungen regten sich wieder. Eines Abends im September 1971 brachte sie etwas in ihrem kleinen Heim an, womit sie Watchman bei seiner Rückkehr erfreuen wollte. Sie stand auf einem Stuhl, als sie plötzlich das Gleichgewicht verlor. Möglicherweise hatte sie einen leichten Schlaganfall. Sie fiel schwer zu Boden und brach sich mehrere Rippen. Freunde benachrichtigten ihre Schwester in Peking, die sie zuletzt vor Watchmans Prozeß gesehen hatte. Diese kam noch rechtzeitig zu ihr ins Krankenhaus, ehe sie starb. Gott hatte sein Kind zu sich genommen.

Nachdem diese Schwester für Charitys Beerdigung gesorgt hatte, besuchte sie Watchman in dem Arbeitslager, das etwas von der Stadt entfernt lag. Er hatte die Todesnachricht schon erhalten und litt unter dem Verlust. Sie hatten sich beide so auf ihre Wiedervereinigung im April gefreut. Die Schwester berichtete jedoch, daß er guten Mutes sei.

Was nun im Sommer 1972 eigentlich geschah, wissen wir nicht genau. Am 12. April waren zwanzig Jahre Haft um, das waren fünf Jahre über das Strafmaß hinaus, zu dem er verurteilt worden war. Zehn Tage später schrieb er seiner Schwägerin in seiner klaren, festen Handschrift. Er redete sie »Ältere Schwester« an und dankte ihr zunächst für einige Päckchen mit Geschenken.

»Ich habe Deinen Brief vom 7. April erhalten und ersehe daraus, daß Du meinen Brief, in dem ich die Sendung bestätigte, nicht bekommen hast. Alles, was Du aufzählst, habe ich erhalten, und ich bin Dir sehr dankbar.« Dann beruhigte er sie über seinen Zustand: »Du weißt, meine chronische Krankheit werde ich nicht los. Die Anfälle sind natürlich qualvoll, aber in der Zwischenzeit ist es nicht so schlimm. Die Heftigkeit der Anfälle wechselt und an Genesung ist nicht zu denken. Die Sommersonne gibt der Haut ein wenig Farbe, aber auf die Krankheit hat sie keinen Einfluß. Doch bin ich voller Freude, so beunruhige Dich bitte nicht. Ich hoffe, daß Du gut auf Dich aufpaßt und auch Dein Herz von Freude erfüllt ist.
Mit guten Wünschen Schu-chu.«
Er unterschrieb mit dem Kosenamen seiner Kindheit, den sie benutzten, als sie vor langer Zeit in Futschou zusammen spielten.

Sechs Wochen später befand er sich in der Provinz Anhwei. War die lange Reise dorthin zu viel für ihn? Gab es dort neue Entbehrungen? Wurde er als Intellektueller, der sich nicht gewandelt hatte und der keine bürgerlichen Rechte mehr besaß, schlecht behandelt? Oder verschlechterte sich sein Gesundheitszustand plötzlich? Wir wissen nichts Näheres.

Wir wissen auch Watchman Nees letzter Brief, datiert 22. April (1972) und unterschrieben mit dem Kosenamen seiner Kindheit: Schu-chu. Nicht, ob ein Christ ihm bei seinem Tod beistand. Alles, was wir wissen, ist, daß er am 1. Juni 1972 in seinem neunundsechzigsten Lebensjahr hinüberging, um den Herrn zu schauen.

Wenn man seinen letzten Brief sorgfältig durchliest, spürt man mehr hinter den Zeilen. Watchman nimmt seine Lage an und spricht von dem Sonnenschein, der von außen kommt und ein wenig Änderung bringt. Dann schließt er mit seiner Bemerkung über die Freude, die ihn erfüllt, und diejenigen, die ihn kennen, wissen, daß dies ganz zu seinem Charakter paßt. Da ist keine Rede von Selbstmitleid, er ist vielmehr um seine Schwägerin besorgt, daß auch sie die innere Freude spüre, die er erfährt. Wir müssen daran denken, daß er den Namen Gottes nicht erwähnen darf. Der Brief wird zensiert und kann leicht vernichtet werden, wenn etwas den Ärger des Zensors erregt. So verfällt Watchman auf einen anderen Ausweg. Indem er seinen Wunsch für seine Schwägerin ausdrückt, daß ihr »Herz von Freude erfüllt« sein möge, benutzt er vier Zeichen: hsi-loh = Freude und man-tsu = voll. Er mag sie mit einem Zwinkern in den Augen niedergeschrieben haben, denn diese vier Zeichen finden sich in der Übersetzung des Wortes Jesu: »Bittet, und ihr werdet empfangen, und eure Freude wird vollkommen sein.«

Diese verkleidete Botschaft gilt auch uns: »Bittet!« Da Gott immer gegenwärtig ist, gibt es keine Situation auf Erden, in der wir ohnmächtig und unfähig sind. Ob jemand von seinen Feinden gefesselt oder durch die Umstände behindert ist, ob jemand völlig gelähmt oder in einsamer Dunkelheit liegt – wir können beten, wir können uns an ihn wenden, wir können bitten. Und wir werden gewiß empfangen. Wenn wir nur beharrlich fortfahren, zu bitten, wird sich unsere Not in überströmende Freude verwandeln.
»Und eure Freude wird niemand von euch nehmen.«

Horst Koch, Herborn, im Oktober 2023. Die Hervorhebungen im Text sind von mir.
info@horst-koch.de




Mohammed (Ibn Hischam)

IBN HISCHAM

Das Leben Mohammeds

nach Mohammed Ibn Ishaq
bearbeitet von Abd al-Malik Ibn Hischam

Erster Band


Der verfolgte Prophet in Mekka

– Von seiner Geburt bis zu seiner Auswanderung nach Medina –

Aus dem Arabischen übersetzt von Dr. Gustav Weil
Neu bearbeitete und ergänzte Auflage von Abd al-Masih 


LICHT DES LEBENS • VILLACH • ÖSTERREICH

Eingestellt und leicht gekürzt von Horst Koch, Herborn. Im Oktober 2023. Einige Textbetonungen sind von mir.

Teil I  Die Zeit der Unwissenheit

1. Die Vorfahren Mohammeds
2. Die Geburt Mohammeds und seine Kindheit
3. Mohammeds Heirat mit Khadidja,

Teil II  Mohammed der verfolgte Prophet in Mekka

1. Mohammeds Prophetentum
2. Die Entstehung der islamischen Urgemeinde
3. Der Widerstand der Mekkaner
4. Die erste Auswanderung nach Abessinien
5. Der wachsende Boykott der Mekkaner
6. Die Vision Mohammeds von seiner Himmelfahrt
7. Die Loslösung Mohammeds von Mekka

Vorwort


Mohammed ist nach Jesus Christus die einflußreichste und bedeutendste Persönlichkeit der Weltgeschichte. Über 1 Milliarde Moslems, das sind über 20 Prozent der Weltbevölkerung, vertraut ihm und der von ihm gestifteten Religion. Der Islam schuf und prägte eine 1350 Jahre alte Kultur. Von Indonesien bis Marokko, von den Steppen Rußlands bis Kapstadt wird Mohammeds Name Tag für Tag 40 mal über die Dächer der Städte und Dörfer ausgerufen. Kein Mann wird von Millionen so fanatisch geliebt wie er.

Nur wenige Christen kennen das Leben Mohammeds genau. Deshalb bringen wir diese Biographie aufs neue in deutscher Sprache heraus. Ibn Ishaq, ein islamischer Gelehrter, begann etwa 90 Jahre nach dem Tod Mohammeds (gest. 632 n. Chr.) mit der Sammlung bekannter Geschichten und Legenden über den Propheten der Araber. Er kam jedoch schon bald mit den religionsgesetzlichen Autoritäten Medinas (Malik b. Anas) in Konflikt, verließ die Heimat und wanderte über Kairo nach Bagdad aus. Dort führte er unter dem Kalifen Mansur seine Forschungen weiter. Er starb im Jahre 767 n. Chr.

Ibn Ishaq hinterließ zwei umfangreiche Werke über das Leben Mohammeds, die von Ibn Hischam (gest. 834) zusammengefaßt und erheblich gekürzt wurden. Sein Werk ist bis heute eine unverzichtbare Quelle für jeden, der die überlieferten Berichte der Augenzeugen und Gefährten Mohammeds kennenlernen will.
Ibn Hischams grundlegendes Dokumentarwerk über das Leben Mohammeds wurde 1864 von Prof. Dr. Gustav Weil aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt. Wir haben seine Übersetzung überarbeitet und die Schreibweise der arabischen Begriffe und Namen modernisiert (mit Ausnahme der Namen Mohammed, Moslem usw.). Die Überarbeitung wurde nochmals mit dem arabischen Urtext verglichen und die Namen der Suren samt den Versnummern zu den vielen zitierten Qurantexten hinzugefügt. Die Zählung der Versnummern folgt der Einteilung der al-Azhar Universität in Kairo.

Da der umfangreiche Bericht über die Ereignisse im Leben Mohammeds auch im Zeitalter der Flugzeuge, Atombomben und des Fernsehens lesbar sein soll, haben wir die Einleitung mit den ermüdenden Genealogien wegfallen lassen. Das Buch beginnt daher mit den Berichten über Abd al-Muttalib, den Großvater Mohammeds. Mehrere arabische Gedichte und Trauergesänge, die in der deutschen Übersetzung Spannung und Klang verlieren würden, sowie Diskussionen über die grammatikalische Ableitung einzelner Begriffe, Legenden oder märchenhafte Geschichten wurden gestrichen, damit die Person Mohammeds mehr hervortritt und die wirklichen Ereignisse in seinem Leben deutlicher werden.

Die eingefügten Fußnoten enthalten Erläuterungen oder situationsbezogene Vergleiche zum Leben Jesu Christi und aus den Grundlagen seines Evangeliums. Damit wird Mohammed an Jesus gemessen und der Prophet der Moslems vor dem Hintergrund des Neuen Testaments dargestellt.

Der erste Band dokumentiert Mohammeds Jugendzeit und die zwölf Jahre seiner Verkündigung unter der wachsenden Verfolgung in Mekka.


Der zweite Band umfaßt Mohammeds Auswanderung nach Medina, den Aufbau des religiösen Stadtstaates, die 8 Kämpfe gegen die Kaufleute von Mekka und die Eroberung seiner Heimatstadt. Er beschreibt außerdem die Unterwerfung und Islamisierung der Arabischen Halbinsel bis zum Tod Mohammeds.

Der Begründer des Islam hinterließ hoch motivierte, kampferprobte Beduinentruppen unter zwei genialen Feldherren. In nur 100 Jahren eroberten ihre Heere die Länder vom Atlas bis zum Indus, ein Gebiet, das größere Flächen umfaßte, als Europa sie je besaß. In diesen Kernländern des Islam sind heute noch über 95 Prozent der Bevölkerung Moslems, unter denen Juden und Christen oft nur als Menschen zweiter Klasse geduldet werden.
Mit der Entdeckung des Erdöls in der Golfregion um 1930 und der Erhöhung der Ölpreise seit 1973 hat die Renaissance des Islam neuen Schwung bekommen.

Die Moslems haben sich die Islamisierung der ganzen Welt zum Ziel gesetzt, sei es durch Mission, Wirtschaftsmacht oder Heiligen Krieg. Vor allem aber breitet sich der Islam durch den starken Geburtenüberschuß aus. Dadurch werden sich die islamischen Völker in 27 Jahren verdoppeln und schneller als alle anderen Religionen und Bevölkerungsgruppen unserer Erde wachsen.
Es ist deshalb für den verantwortungsbewußten Christen unerläßlich, das Leben Mohammeds im Vergleich mit Jesus Christus zu studieren. Wir werden die Moslems und ihre Beweggründe nur dann verstehen, wenn wir Mohammed, seine Motive und Taten kennengelernt haben.
Abd al-Masih

TEIL I   Die Zeit der Unwissenheit

1. Die Vorfahren Mohammeds

Abd al-Muttalib, der Großvater Mohammeds
Als einst Abd al-Muttalib b*. Haschim schlief, wurde ihm in einer Erscheinung befohlen, den Brunnen Zamzam wieder aufzugraben. Die Djurhumiden hatten ihn bei ihrer Auswanderung von Mekka verschüttet. * Übliche Abkürzung für „Ibn” (Sohn des).
Dies war derselbe Brunnen, aus dem Allah einst Ismail hatte trinken lassen, als er noch klein war und Durst hatte. Seine Mutter hatte Wasser gesucht und keines gefunden. Sie stellte sich auf den Hügel Safa und betete um Wasser für Ismail. Auf dem Hügel Marwa bat sie nochmals um Wasser. Da sandte Allah den Engel Gabriel. Er drückte eine der Fersen Ismails in die Erde — und schon zeigte sich Wasser! Seine Mutter hörte Stimmen wilder Tiere. Sie war besorgt um ihren Sohn, lief zu ihm und fand ihn, wie er auf dem Gesicht lag, mit der Hand Wasser schöpfte und trank. Da reinigte sie die Quelle vom Sand*
(*Vgl. 1. Mose 21,9-21, Die Vertreibung Hagars und Imaels).

Der Streit um den Zamzambrunnen
Als eines Tages Abd al-Muttalib im Heiligtum schlief, hatte er eine Erscheinung und erhielt dabei die Weisung, den Zamzam aufzugraben. Er hat dies folgendermaßen erzählt: „Als ich einst an der Mauer des Heiligtums schlief, trat jemand zu mir und sagte: ‚Grabe Taiba (die Gute) auf!’ Ich fragte: ,Was ist Taiba?’ Hierauf verschwand die Erscheinung. Am folgenden Tage als ich wieder auf meiner Lagerstätte schlief, kam die Erscheinung von neuem und sagte: ‚Grabe Barra (die Reine) auf! Ich fragte: ,Was ist Barra?’ Die Erscheinung verschwand wieder. Am dritten Tage begegnete sie mir nochmals mit den Worten: .Grabe al-Madhnuna (die Kostbare) auf!’ Ich fragte: ‚Was ist Madhnuna?’ Die Erscheinung entfernte sich wieder. Am vierten Tage erschien mir abermals jemand, der mir sagte: ‚Grabe Zamzam auf!’ Ich fragte: ,Was ist Zamzam?’ Mir wurde geantwortet: ,Die, welche nie ausgeschöpft und nie wasserarm wird, welche den geehrten Pilger tränkt. Sie liegt zwischen Unrat und Blut bei dem Gekrächze des starken Raben, bei dem Ameisennest!'”
Als somit der Zustand der Quelle und ihr Ort näher bezeichnet waren und Abd al-Muttalib keinen Zweifel mehr an der Wahrheit des Hinweises hegte, nahm er am nächsten Tage sein Hackeisen und fing an zu graben. Al-Harith — damals sein einziger Sohn — begleitete ihn. Als der Brunnen allmählich zum Vorschein kam, pries er Allah. Nun eilten auch die Quraischiten herbei. Sie merkten, daß sein Unternehmen geglückt war und sagten: „Dieser Brunnen gehört unserem Stammvater Ismail. Wir haben alte Rechte auf ihn. Du mußt uns einen Anteil daran geben.” Abd al-Muttalib weigerte sich jedoch und entgegnete: „Er ist mir geschenkt worden! Er gehört mir allein!” Sie erwiderten: „Gib uns unser Recht, oder wir verklagen dich!”
„Gut, wählt einen Schiedsrichter!” Sie wählten eine Wahrsagerin aus dem Stamme Sa’d Hudsam, die auf den Höhen Syriens wohnte. Abd al-Muttalib ritt zu ihr. Einige Söhne Abd Manafs begleiteten ihn. Auch die Quraischiten schickten aus jedem Stamm Abgesandte. Als sie sich in der Wüste zwischen Hidjaz und Syrien befanden, in der es damals keine Wasserstellen gab, ging Abd al-Muttalib das Wasser aus. Er und seine Leute waren dem Verdursten nahe. Sie baten die Abgesandten der Quraischiten um Wasser. Diese verweigerten es ihnen jedoch und sagten: „Wir sind hier in der Wüste. Es könnte uns genauso ergehen wie euch.”
Abd al-Muttalib beriet mit seinen Leuten, was zu tun sei. Sie antworteten: „Du hast zu befehlen. Wir können dir nur gehorchen.” Da sagte er: „Meine Meinung ist, daß ein jeder von uns, so lange er noch bei Kräften ist, sein Grab selbst aushebe. Immer, wenn einer von uns stirbt, werden die noch Lebenden ihn in sein Grab legen und bedecken, bis der Tod den Letzten von uns heimsucht. Es ist in der Tat besser, wenn wir statt der ganzen Karawane umkommen.”
Seine Gefährten stimmten ihm zu. Jeder grub sich sein Grab und wartete auf den Tod. Da sagte Abd al-Muttalib plötzlich: „Bei Allah, es ist doch eine Schwäche unsererseits, wenn wir uns tatenlos dem Tode ausliefern und nicht unser Leben zu retten suchen. Vielleicht zeigt uns Allah irgendwo Wasser. Brecht auf!” Da brachen sie wieder auf, und die anderen Quraischiten sahen ihnen zu.

Abd al-Muttalib bestieg sein Kamel und ritt voran. Alsbald sprang unter den Hufen seines Kamels frisches Wasser hervor. Abd al-Muttalib und seine Gefährten priesen Allah, stiegen ab, tranken und füllten ihre Schläuche. Nun rief Abd al-Muttalib auch die übrigen Quraischiten zu der neuen Quelle und sagte: „Allah hat uns getränkt. Trinkt auch ihr und füllt eure Gefäße!” Als sie es getan hatten, sagten sie: „Bei Allah, das Urteil ist schon gegen uns gefällt. Wir machen dir Zamzam nicht mehr streitig; denn der, welcher dir in dieser Wüste Wasser gegeben hat, hat dir auch Zamzam geschenkt. Fahre fort, die Pilger zu tränken.” Abd al-Muttalib kehrte daraufhin nach Mekka zurück und die anderen mit ihm, ohne die Wahrsagerin aufgesucht zu haben.

Abd al-Muttalibs Gelübde
Es ist überliefert — doch Allah allein weiß, wie es sich wirklich verhielt—, daß Abd al-Muttalib beim Graben des Zamzambrunnens von den Quraischiten angefeindet wurde. Da tat erfolgendes Gelübde: Falls ihm zehn Söhne geboren werden sollten und sie ein Alter erreichen würden, in dem sie ihm beistehen könnten, wollte er einen von ihnen an der Kaaba Allah opfern. *
(* Dieser Brauch des Kinderopferns ist urheidnisch (vgl. Richter 11, 30-40).

Als dann in der Tat zehn Söhne herangewachsen waren und ihm Schutz bieten konnten, machte er sie mit seinem Gelübde bekannt und forderte sie auf, sich der Erfüllung zu unterwerfen. Sie waren dazu bereit und fragten, in welcher Weise dies geschehen solle. Da sagte er: „Jeder schreibe seinen Namen auf einen Pfeil und gebe ihn mir.” Mit diesen Pfeilen ging er zum Götzen Hubal, der auf dem Brunnen im Innern der Kaaba aufgestellt war. Dort brachte man die Opfer für das Heiligtum dar. Hubal hatte sieben Pfeile. Jeder war mit einer Inschrift versehen. Auf einem Pfeil stand „Sühne”. War man uneinig, wer Sühne zu bezahlen hatte, so mußte derjenige es tun, für den dieser Pfeil gezogen wurde.
Auf dem zweiten Pfeil stand „ja” und auf dem dritten „nein”. War man im Zweifel, ob man etwas tun oder unterlassen sollte, so entschied der mit „ja” oder „nein” gewählte Pfeil. Es gab auch einen Pfeil, auf dem „Wasser” vermerkt war. Wurde er gezogen, so sollte man nach einer Quelle graben. Schließlich gab es da noch drei weitere Pfeile. Auf dem einen stand „von euch”, auf dem anderen „verbleibend” und auf dem dritten „nicht von euch”. Wollten die Beduinen (Araber) eine Beschneidung vornehmen, eine Ehe schließen, einen Toten beerdigen oder zweifelten sie an der Herkunft eines Mannes, so führten sie ihn zu Hubal und brachten dem, der die Lose zog, hundert Dirham und ein Opferkamel. Sie sagten dann — wobei sie den Mann vor Hubal stellten — „Du, unser Gott, hier steht der Unbekannte, über den wir dies und jenes wissen möchten. Tue uns die Wahrheit über ihn kund!”

Nun ließen sie das Los ziehen. Kam dabei der Pfeil heraus, auf welchem „von euch” stand, so wurde der Unbekannte als einer der Ihrigen betrachtet. Kam der Pfeil mit „nicht von euch” heraus, so wurde er als Bundesgenosse angesehen. Kam aber der Pfeil mit dem Wort „verbleibend” heraus, so hatte der Betreffende in seinem bisherigen Zustand, ohne Anspruch auf Verwandtschaft oder Bundesgenossenschaft, zu bleiben. In anderen Fällen, in denen eine Antwort mit „ja” oder „nein” erwartet wurde, pflegten sie, wenn sie gern so gehandelt hätten, der Pfeil aber mit „nein” entschied, bis zum nächsten Jahr zu warten und dann die Pfeile aufs Neue ziehen zu lassen, um endlich in Übereinstimmung mit dem Los handeln zu können.

Abd al-Muttalib ging nun zu dem Wahrsager, der die Pfeile zog, und teilte ihm sein Gelübde mit. Jeder seiner Söhne hatte ihm einen Pfeil mit dem eigenen Namen darauf gegeben. Der Vater forderte nun den Mann auf, einen der Pfeile zu ziehen. Das Los traf Abd Allah, den Vater des Gesandten Allahs. Er war der Lieblingssohn Abd al-Muttalibs und obendrein der Jüngste. Als nun das Los Abd Allah getroffen hatte, nahm Abd al-Muttalib sein Schwert und ging mit Abd Allah zu den Götzen Isaf und Naila, um ihn dort zu opfern. Da stürzten die Quraischiten aus dem Rathaus und riefen: „Was willst du tun, Abd al-Muttalib?” — „Ich will ihn mit dem Halsschnitt schlachten*!”
(* Vergleiche 1. Mose 22,1-19, Abraham und Isaak auf dem Berg Morija. Auch Isaak sollte geopfert werden).

Da antworteten seine Söhne und die übrigen Quraischiten: „Bei Allah, du schlachtest ihn nicht ohne Grund. Tust du es dennoch, so wird jeder seinen Sohn bringen, um ihn zu opfern. Wie aber sollen dann die Menschen bestehen?” Auch al-Mughira b. Abd Allah, ein Onkel Abd Allahs sagte: „Bei Allah, du opferst ihn nicht, bis du uns einen ausreichenden Grund angibst. Lieber wollen wir ihn mit unserem Gut auslösen.”
Dann fuhren seine Söhne und die übrigen Quraischiten fort: „Tu’ es nicht! Geh’ mit ihm nach Hidjaz. Dort lebt eine Wahrsagerin, die einen ihr gehorsamen Geist hat. Befrage sie, dann wird deine Angelegenheit recht entschieden werden. Befiehlt sie dir, ihn zu opfern, so tu es. Sagt sie dir etwas anderes, wodurch dir und ihm geholfen wird, so folge ihr!”

Sie reisten also nach Medina und fanden die Wahrsagerin in Khaibar. Abd al-Muttalib teilte ihr sein Gelübde mit, die Entscheidung des Loses und seine Absicht, seinen Sohn zu opfern. Da befahl sie: „Verlaßt mich jetzt, bis mein Geist mich besucht und ich ihn fragen kann.”
Sie verließen sie, und Abd al-Muttalib betete zu Allah. Als sie am folgenden Morgen wieder zu ihr kamen, sagte sie: „Es ist mir Kunde geworden. Was ist bei euch die Sühne für einen Menschen?” Sie antworteten: „Zehn Kamele”. Sie erwiderte: „Geht in eure Heimat zurück, stellt Abd Allah auf die eine und zehn Kamele auf die andere Seite und lost zwischen ihnen. Kommt der Pfeil mit den Kamelen heraus, so opfert sie statt seiner. Er ist dann gerettet und euer Herr befriedigt. Kommt aber der Pfeil mit Abd Allah heraus, so bringt noch zehn weitere Kamele und so fort, bis der Pfeil mit den Kamelen gezogen wird.”

Sie kehrten hierauf nach Mekka zurück und beschlossen, dieser Weisung zu folgen. Abd al-Muttalib betete wieder zu Allah vor Hubal, dann brachten sie Abd Allah und zehn Kamele herbei und losten. Als das Los Abd Allah traf, brachten sie zehn weitere Kamele. Aber das Los fiel immer auf Abd Allah, bis schließlich hundert Kamele auf der anderen Seite standen. Da kam der Pfeil mit den Kamelen heraus. Die Quraischiten und die übrigen Anwesenden stellten fest: „Nun ist die Sache entschieden, Abd al-Muttalib! Dein Herr ist befriedigt!” Abd al-Muttalib soll aber, wie man hört, geschworen haben, nicht zu ruhen, bis noch dreimal gelost werde. Erst als das Los noch dreimal auf die Kamele fiel, wurden sie geschlachtet, und es stand jedem frei, davon zu nehmen, soviel er wollte.

2. Die Geburt Mohammeds und seine Kindheit

Wie der Vater Mohammeds heiratete
Abd al-Muttalib nahm die Hand Abd Allahs und kam mit ihm in der Nähe des Heiligtums an einer Frau von den Banu Asad b. Abd al-Uzza vorbei. Sie war die Schwester des Waraqa b. Naufal. Sie sah ihn an und fragte: „Wo willst du hin, Abd Allah?” — „Ich gehe mit meinem Vater.” — „Ich gebe dir so viele Kamele wie statt deiner geschlachtet worden sind, wenn du sogleich mit mir zusammenliegst.” — „Ich kann meinen Vater jetzt nicht verlassen, noch etwas gegen seinen Willen tun.” — Abd al-Muttalib ging dann mit seinem Sohn zu Wahb b. Abd Manaf, der damals sowohl wegen seines Ansehens als auch wegen seiner Abstammung der Herr der Banu Zuhra war. Dieser gab ihm seine Tochter Amina zur Frau. Sie war damals die vorzüglichste Frau unter den Quraisch infolge ihres Ranges und ihrer Abstammung. Ihre Mutter hieß Barra und war die Tochter des Abd al-Uzza. Barras Mutter hieß Umm Habib und war die Tochter des Asad b. Abd al-Uzza. Abd Allah heiratete sie alsbald, und sie wurde mit dem Gesandten Allahs schwanger. Dann verließ er sie, kehrte zu der Frau zurück, die sich ihm angeboten hatte und fragte sie: „Warum machst du mir heute nicht wieder den Vorschlag, den du mir gestern gemacht hast?” Sie erwiderte: „Das Licht, das gestern an dir war, hat dich verlassen. Ich habe nichts mehr mit dir zu tun.”
Sie hatte nämlich von ihrem Bruder Waraqa b. Naufal gehört — dieser war Christ geworden und hatte die Schriften gelesen — daß aus diesem Geschlecht* ein Prophet aufstehen werde.

(* Nirgendwo in den 66 Schriften der Bibel ist davon die Rede, daß ein Prophet arabischer Abstammung aufstehen werde.)

Abu Ishaq b. Jasar berichtet ähnliches. Abd Allah sei zu der Frau gekommen, welche er neben Amina hatte und habe sie liebkosen wollen. Er hatte aber zuvor Erdarbeiten verrichtet und war noch beschmiert davon. Deshalb hatte sie ihn abgewiesen. Er verließ sie, wusch sich und wollte zu Amina gehen. Als er wieder an jener Frau vorüberkam, rief sie ihn zu sich. Er schenkte ihr jedoch kein Gehör, sondern begab sich zu Amina und schlief mit ihr. Da wurde sie mit Mohammed schwanger. Später suchte er jene Frau nochmals auf und fragte sie: „Hast du Lust*?”
(* Vergleiche 2. Mose 20,14, Das Verbot des Ehebruchs).

Sie erwiderte: „Nein; als du an mir vorüberkamst, war ein glänzender Punkt zwischen deinen Augen. Deshalb forderte ich dich auf, zu mir zu kommen. Du weigertest dich aber und gingst zu Amina. Nun ist der Glanz auf sie übergegangen.”
Andere behaupten, die Frau habe gesagt: „Als er vorüberging, war zwischen seinen Augen so etwas wie der weiße Stirnfleck einer Stute. Da lud ich ihn ein in der Hoffnung, dieses Zeichen werde auf mich übergehen. Er weigerte sich aber und schlief mit Amina, und sie wurde schwanger mit dem Gesandten Allahs. Dieser war der Beste seines Volkes in bezug auf Abstammung und Adel, sowohl väterlicher als auch mütterlicherseits*.”

(* Mohammed war von Geburt ein normaler Mensch. Sein Vater hieß Abd Allah und seine Mutter Amina. Beide waren in Mekka bekannt. Der Islam nimmt nicht für sich in Anspruch, Mohammed sei auf übernatürliche Weise gezeugt worden. Er war ein Mensch wie wir alle ohne göttliche Natur.

Die Bibel aber bezeugt vielfach, daß Christus wahrer Mensch und wahrer Gott ist (vgl. Mt. 1,20-21: die Erfüllung der Prophetie aus Jes. 7,14).

Der Quran bezeugt ebenfalls, daß Jesus von der Jungfrau Maria ohne Zutun eines Mannes geboren wurde (3,46-48; 19,17-34). Der Engel Gabriel habe den Heiligen Geist in die Jungfrau Maria geblasen (21,91; 66,12). Deshalb wird Christus im Quran „das Wort Gottes” genannt (3,45; 4,171; 19,34).

Jesus wurde durch den Heiligen Geist in der Jungfrau Maria gezeugt. Der Unterschied zwischen der Person Mohammeds und der Person Jesu entspricht dem Unterschied zwischen der Geburt Mohammeds und der Geburt Jesu.)

Ereignisse während der Schwangerschaft Aminas
Es wird berichtet — nur Allah ist allwissend*— Amina, die Tochter Wahbs, habe erzählt: „Als ich mit dem Gesandten Allahs schwanger war, ist mir ein Geist erschienen, der mir gesagt hat: ,Du bist mit dem Herrn dieses Volkes schwanger. Sage bei seiner Geburt: Ich stelle ihn unter den Schutz des Einzigen, daß er ihn vor der Bosheit seiner Neider bewahre, und nenne ihn Mohammed**!'”

* Diese Redensart deutet an, daß der Verfasser sich über die Wahrheit oder Echtheit des von ihm überlieferten Textes nicht sicher ist.

** Vergleiche Matthäus 1,18-25 (Die Ankündigung der Geburt Jesu und Bestimmung seines Namens durch den Engel Gabriel). Siehe auch Lukas 1,26-38.

Die Bedeutung des Namens „Mohammed” im Arabischen ist „der Hochgelobte” oder „der Gepriesene.”

Sie soll auch während ihrer Schwangerschaft ein aus ihr strahlendes Licht bemerkt haben, bei welchem man (in 1 000 km Entfernung) die Schlösser von Bosra in Syrien (einer römischen Provinzstadt) sehen konnte*.
* Vergleiche Jesaja 60,1-3.

Noch während der Schwangerschaft Aminas starb Abd Allah, der Sohn Abd al-Muttalibs, der Vater des Gesandten Allahs*.
* Mohammed war bereits bei seiner Geburt Halbwaise.

Die Geburt und Ernährung des Gesandten Allahs
Der Gesandte Allahs wurde an einem Montag im „Jahr des Elefanten” ‘geboren, als zwölf Nächte des Monats Rabia al-Auwal verflossen waren. Hassan b. Thabit berichtet: „Ich war ein Knabe von sieben oder acht Jahren und verstand recht gut, was ich hörte, als ein Jude von einem Gebäude in Jathrib (Medina) aus seine Volksgenossen zusammenrief. Als sie sich bei ihm versammelten, sagte er: .Heute nacht ist der Stern** aufgegangen, an dem Ahmad ***geboren worden ist.’ Ich fragte Said b. Abd al-Rahman, wie alt Hassan gewesen sei, als Mohammed nach Medina kam. Er antwortete: .Sechzig Jahre alt'”. Da Mohammed damals dreiundfünfzig Jahre alt war, muß Hassan, als er diese Worte vernahm, ein siebenjähriger Knabe gewesen sein.
* Die Abessinier versuchten im Jahr 571 Mekka zu erobern. Da sie in ihrem Heer einige Elefanten mitführten, wurde dieses Jahr später bei den Arabern das „Jahr des Elefanten” genannt. Die Bezeichnung der Jahre nach dem jeweils wichtigsten Ereignis, das in ihnen stattgefunden hat, war eine Art primitiver Kalender.

** Vergleiche Matthäus 2,1-12 (Die Weisen aus dem Morgenland und der Stern, der sie nach Bethlehem führte)
***Ahmad heißt „Hochgelobter” und stellt eine andere Form des Namens Mohammed dar. Ahmad, der Hochgelobte, wird auf Grund von Sure 61,6 als der Name des im Evangelium verheissenen Parakleten (Tröster) verstanden.

Nachdem Mohammed geboren worden war, schickte seine Mutter zu Abd al-Muttalib und ließ ihn bitten, den Knaben anzusehen. Er kam und sie erzählte ihm, was sie zur Zeit der Schwangerschaft gesehen hatte, was ihr über ihn gesagt worden war und wie sie ihn nennen sollte. Man nimmt an, Abd al-Muttalib habe ihn gleich mitgenommen, zur Kaaba getragen, zu Allah gebetet und ihm für diese Gabe gedankt.

Dann brachte er ihn wieder zu seiner Mutter zurück und suchte eine Amme für ihn. Die Amme war eine Frau von den Banu Sa’d b. Bakr. Sie hieß Halimaund war die Tochter des Abu Dsuaib. Mohammeds Milchgeschwister waren Abd Allah b. al-Harith, Unaisa und Djudsama, die stets „al-Schaima” genannt wurde. Sie alle waren leibliche Kinder der Halima.

Djahm b. Abi Djahm, ein Freigelassener des Harith b. Hatib al-Djumahi, hat berichtet, Halima, die Tochter Abu Dsuaibs von den Banu Sa’d, die Amme des Gesandten Allahs, habe erzählt: „Ich verließ meine Heimat mit meinem Gatten, einem Säugling und anderen Frauen von den Banu Sa’d, die auch Säuglinge suchten, in einem Hungerjahre, das uns nichts übrigließ. Ich ritt auf einer scheckigen Eselin, und wir hatten eine Kamelstute bei uns, die keinen Tropfen Milch gab. Wir konnten die ganze Nacht nicht schlafen, denn der Kleine weinte vor Hunger. Weder ich noch unsere Kamelstute hatten Milch genug, um ihn zu stillen. Wir hofften aber auf irgendeine Hilfe. Ich ritt auf meiner Eselin und hielt die Karawane oft auf, weil die Eselin so schwach und elend war. Schließlich erreichten wir Mekka, um dort nach Säuglingen zu suchen. Der Gesandte Allahs wurde allen Frauen angeboten, doch keine wollte ihn nehmen, weil er ein Waisenkind war. Man erwartete Geschenke vom Vater des jeweiligen Säuglings und dachte, was würde wohl eine Mutter und ein Großvater geben können. Als aber bereits alle anderen Frauen Säuglinge gefunden hatten und wir wieder abreisen wollten, sagte ich zu meinem Gatten: ,Bei Allah, ich gehe nicht gern ohne einen Säugling mit meinen Gefährtinnen zurück. Ich werde dieses Waisenkind annehmen.’ Er erwiderte: ,Es wird dir nichts schaden, wenn du ihn nimmst. Vielleicht wird uns Allah durch ihn segnen.’ Ich nahm ihn also nur, weil ich keinen anderen Säugling gefunden hatte und brachte ihn zu meinem Reittier. Als ich ihn an meinen Busen legte, fand er soviel Milch, daß er satt wurde. Auch sein Milchbruder trank, bis er genug hatte. Dann schliefen beide ein. Zuvor hatten wir nie wegen des schreienden Säuglings schlafen können. Dann ging mein Gatte zur Kamelstute. Sie war von Milch angeschwollen, und er molk so viel, daß er und ich vollständig satt wurden und wir die angenehmste Nacht hatten. Am folgenden Morgen sagte mein Gatte zu mir: ‚Wisse, Halima, bei Allah, du hast ein gesegnetes Geschöpf mitgenommen.’ Ich erwiderte: ,Bei Allah, ich hoffe es!’ Dann reisten wir ab. Ich nahm ihn zu mir auf meine Eselin, die jetzt so schnell sprang, daß die Mitreisenden auf ihren Eseln nicht mehr Schritt halten konnten. Sie baten mich, auf sie zu warten und fragten mich, ob es nicht dieselbe Eselin sei, auf der ich gekommen sei. Als ich ihre Frage bejahte, antworteten sie: ,Bei Allah, mit ihr hat es eine besondere Bewandtnis.’ Als wir in unsere Heimat im Lande der Banu Sa’d kamen, welches das unfruchtbarste aller Länder war, da kam mir doch des Abends mein Vieh wohlgenährt und Milch verheißend entgegen. Tatsächlich hatten wir Milch im Überfluß, während andere Leute keinen Tropfen melken konnten. Schließlich sagten einige zu ihren Hirten: ,Wehe euch! Laßt euer Vieh dort weiden, wo der Hirte der Tochter Abu Dsuaibs weiden läßt!’ Aber dessen ungeachtet kehrte das meinige gesättigt und mit Milch gefüllt zurück, während das ihrige hungrig blieb und keinen Tropfen Milch gab. So fanden wir in allem Allahs Segen und Überfluß, bis zwei Jahre vorüber waren. Da entwöhnte ich den Knaben. Er war so kräftig herangewachsen wie kein anderer. Wir brachten ihn dann seiner Mutter, wünschten aber, daß er noch bei uns bleiben möchte wegen des Segens, der uns durch ihn zuteil geworden war. Ich sagte daher zu seiner Mutter: .Möchtest du doch dein Söhnchen noch bei uns lassen, bis er noch stärker wird; denn ich fürchte, die schlechte Luft Mekkas könnte ihm schaden.’ Wir drangen dann so lange in sie, bis sie ihn uns wieder gab.

Einige Monate nach unserer Rückkehr — Mohammed war eben hinter unserem Hause mit seinem Bruder beim Vieh — kam der Bruder eilig zu uns und sagte: ,Zwei weißgekleidete Männer haben meinen Bruder, den Quraischiten, ergriffen und zu Boden gestreckt, ihm den Leib aufgeschnitten und darin herumgewühlt.’ Ich lief mit seinem Vater zu ihm. Da wir ihn ganz entstellt fanden, nahten wir uns ihm und fragten, was ihm widerfahren sei.
Er antwortete: ,Zwei weißgekleidete Männer sind auf mich zugekommen, haben mich hingestreckt, meine Brust gespalten und etwas darin gesucht; ich weiß nicht was*.’
*Sure al-lnschirah 94,1-3 (Die Reinigung Mohammeds durch zwei Engel).

Wir brachten ihn in unser Zelt, und sein Vater sagte zu mir: .Ich fürchte, dieser Knabe ist von bösen Geistern geplagt. Bringe ihn zu seiner Familie zurück, ehe es bekannt wird.’
Wir reisten mit ihm zu seiner Mutter, und sie fragte: ,O Amme, was führt dich hierher? Du wünschtest doch so sehr, den Säugling länger zu behalten!’ Ich antwortete: ,Allah hat meinen Sohn heranwachsen lassen. Ich habe das Meinige getan und fürchte, es möchte ihm ein Unglück widerfahren. Darum bringe ich ihn dir deinem Wunsche gemäß zurück.’ Amina entgegnete: ,So verhält es sich nicht! Sage mir die Wahrheit!’ Sie drang so lange in mich, bis ich ihr alles erzählt hatte. Da fragte sie: ‘Fürchtest du, er sei von einem bösen Geist besessen?‘ Als ich nickte, erwiderte sie: .Niemals, bei Allah! Satan findet keinen Zugang zu ihm; denn mein Söhnchen wird einst eine hohe Stellung einnehmen. Soll ich dir von ihm erzählen?’ Als ich bejahte, fuhr sie fort: ‘Als ich schwanger wurde, sah ich ein Licht von mir ausstrahlen, so hell, daß es die fernen Schlösser von Bosra in Syrien beleuchtete. Meine Schwangerschaft war so leicht und angenehm, wie ich noch nie eine hatte. Als ich ihn gebar, streckte er die Hände auf den Boden und hob den Kopf gen Himmel. Doch laß ihn jetzt bei mir. Komm’ gut heim!'”

Einige Gefährten des Gesandten Allahs hatten ihn einst gebeten, ihnen Auskunft über sich selbst zu geben. Daraufhin habe er gesagt: „Ich bin der, dem zu glauben mein Vater Ibrahim (Abraham) geboten hat, und derjenige, der von Isa (Jesus) vorhergesagt worden ist*. Meine Mutter hat, als sie schwanger wurde, ein Licht gesehen, das von ihr ausstrahlte und selbst die fernen Schlösser Syriens beleuchtete. Ich bin unter den Banu Sa’d b. Bakr gesäugt worden. Als ich einmal mit meinem Bruder hinter unserem Haus das Vieh hütete, kamen zwei weißgekleidete Männer auf uns zu. Sie hatten eine goldene Waschschüssel bei sich, die mit Schnee gefüllt war. Sie ergriffen mich und spalteten meine Brust. Dann nahmen sie das Herz heraus, spalteten es ebenfalls und entnahmen ihm einen schwarzen Klumpen. Diesen warfen sie weg**. Dann wuschen sie mein Herz und meinen Leib mit Schnee, bis sie rein waren. Schließlich sagte einer zum andern: ‘Wiege ihn gegen zehn von seinem Volke auf!’ Er tat so, aber ich wog sie auf. Nun sagte er: `’Wiege ihn gegen hundert von seinem Volke’; aber ich wog auch die hundert auf. Zuletzt sagte er: .Wiege ihn gegen tausend von seinem Volke auf, und als ich auch diese aufwog, sagte er: ,Laß ihn! Selbst dann, wenn du sein ganzes Volk in die eine Waagschale legst, wird er sie doch aufwiegen!'”



*Jesus hat viele falsche Propheten (vgl. Mt. 24,14-24) und falsche Messiasse vorausgesagt. Die Moslems nehmen irrtümlicherweise für sich in Anspruch, daß in der Bibel mehrere Voraussagen über das Kommen Mohammeds stehen (5. Mose 18,15 u. a.)

** Diese Geschichte beschreibt die Berufung und Reinigung Mohammeds zum Propheten. Seither heißt er Mustafa, der Gereinigte. Er war nicht rein in sich selbst. Sein Herz mußte gereinigt werden. Er empfing jedoch kein neues, geistliches Herz, wie Gott es in Hesekiel 36,26-27 verhieß. Das Herz Mohammeds blieb das alte.


Indirekt soll diese Geschichte die Reinigung Mohammeds von der Erbsünde bezeugen. Der Islam glaubt jedoch nicht an die Existenz einer Erbsünde (vgl. jedoch Röm. 5,12-21). Nichtsdestotrotz hat Mohammed sich als Sünder verstanden. Dreimal steht im Quran, daß er Allah um Vergebung seiner Sünden bitten mußte (Sure 33,38; 4035 und 47,19).

Jesus aber lebte ohne Sünde. Er war heilig wie Gott und frei von der Erbsünde. Er war durch den Heiligen Geist gezeugt worden. Sogar der Quran behauptet an keiner Stelle, daß Jesus gesündigt habe, während bei allen bedeutenden Propheten Sünden genannt werden. Der Quran und die islamische Tradition bestätigen vielmehr Jesu Sündlosigkeit auf verschiedene Weise (Sure 19,19)

Der Gesandte Allahs hat gesagt: „Es gibt keinen Propheten, der nicht zuvor ein Hirte gewesen ist.” Und als man ihn fragte: „Und du?” antwortete er: „Auch ich war einer.” Ferner hat der Gesandte Allahs zu seinen Gefährten gesagt: „Ich bin der reinrassigste Araber unter euch*. Ich bin ein Quraischite und habe als Säugling unter den Banu Sa’d gelebt.”



* Araber (al-Arab) bedeutete in der arabischen Halbinsel nur die Nomaden, die Beduinenstämme, im Gegensatz zu den seßhaftgewordenen Stadt- und Dorfbewohnern. Diese verstanden sich nicht als Araber, sondern bezeichneten sich mit den Namen der konkurrierenden Sippen oder Stämme.

Mohammed verstand sich als Beduine. Er hat in seiner Jugend in der dürren Steppe Herden gehütet.

Manche behaupten — Allah allein weiß es — Halima habe den Gesandten Allahs auf dem Weg zu seiner Mutter auf der Höhe von Mekka im Menschengewühl verloren, und sie konnte ihn nicht wiederfinden. Sie ging zu Abd al-Muttalib und klagte es ihm. Dieser suchte das Heiligtum auf und betete zu Allah, er möge ihn ihm wieder zurückgeben. Es wird berichtet, Waraqa b. Naufal und ein anderer Quraischite hätten ihn auf der Höhe von Mekka gefunden und zu Abd al-Muttalib gebracht. Dieser nahm ihn auf die Schulter und umkreiste mit ihm das Heiligtum, indem er ihn Allahs Schutz empfahl und für ihn betete. Dann ließ er ihn wieder zu seiner Mutter bringen.

Ein Gelehrter (Traditionsträger) hat mir erzählt: „Halima wurde noch aus einem anderen Grunde, den sie seiner Mutter nicht angegeben hatte, bewogen, Mohammed zu ihr zurückzubringen. Als sie nämlich nach seiner Entwöhnung auf der Heimkehr von Mekka war, begegneten ihr einige Abessinier, die Christen waren. Sie betrachteten ihn von allen Seiten und fragten sie aus. Dann sagten sie: ‚Wir wollen diesen Knaben mit uns nehmen und unserem König bringen. Wir kennen die Zukunft dieses Knaben und wissen, daß er einst einen hohen Rang einnehmen wird.'” Derjenige, der mir dies erzählt hat, setzte hinzu, sie hätten den Abessiniern nur mit großer Mühe entrinnen können.

Der Tod Aminas und Abd al-Muttalibs
Der Gesandte Allahs lebte unter Allahs Beistand und Schutz bei seiner Mutter und seinem Großvater, und Allah ließ ihn als eine schöne Pflanze aufwachsen, bis er durch seine Gnade das vorgesteckte Ziel erreichte. Als er sechs Jahre alt war, starb seine Mutter. Abd Allah b. Abi Bakr erzählt: „Die Mutter des Gesandten Allahs starb in Abwa zwischen Mekka und Medina, als er sechs Jahre alt war. Sie hatte mit ihm seine Verwandten, die Banu Adi b. al-Nadjdjar, besucht und starb auf der Rückkehr nach Mekka*.”

* Mohammed war bereits bei seiner Geburt Halbwaise und ab dem sechsten Lebensjahr Vollwaise. Niemand sorgte für ihn, wie eine Mutter für ihr Kind zu sorgen pflegt. Schon in den ersten Monaten seines Lebens wurde er zu einem Beduinenstamm gegeben, wo eine Amme ihn anstelle seiner Mutter stillte. Im Herzen Mohammeds blieb ständig eine Leere und ein Hunger nach Liebe.

Für Jesus hatte Gott, sein Vater, in Josef einen treuen Adoptivvater berufen, der für ihn sorgte. Seine Mutter blieb ihm auch in der Verfolgung treu und stand unter seinem Kreuz, als er starb.

Der Gesandte Allahs lebte dann bei seinem Großvater Abd al-Muttalib. Dieser hatte sein Bett in der Nähe der Kaaba aufgestellt. Seine Söhne saßen um das Bett herum und warteten, bis er kam; aber keiner setzte sich aus Ehrfurcht vor ihm auf das Bett. Einst kam auch der Gesandte Allahs — er war damals noch ein kleiner Knabe — und setzte sich auf das Bett. Da wollte ihn sein Onkel wegschieben, aber Abd al-Muttalib sagte: „Laßt meinen Sohn! Bei Allah, er wird einst einen hohen Rang einnehmen.” Er ließ ihn dann bei sich sitzen und sich von ihm den Rücken streicheln. Was er auch tat, erfreute ihn. Als der Gesandte Allahs acht Jahre alt war, starb auch Abd al-Muttalib.

Als Abd al-Muttalib seinen Tod herannahen fühlte, ließ er seine sechs Töchter, Safija, Barra, Atiqa, Umm Hakim al-Baida, Umaima und Arwa, zusammenrufen und sagte zu ihnen: „Beweint mich, damit ich vor meinem Tode höre, was ihr über mich sagen wollt.” Da dichtete seine Tochter Safija:
„Als des Nachts eine klagende Stimme schweres Unheil wegen eines Mannes verkündete, vergoß ich Tränen, die wie Perlen über meine Wangen herabrollten, über einen wahrhaft edlen Mann, der allen Sklaven entschieden überlegen ist; über den Freigiebigen, den mit hohen Tugenden Begabten; über einen vortrefflichen Vater, den Erben aller Güte; über den Treuen in seiner Heimat, der keine Anstrengung scheute, der fest stand und keiner Stütze bedurfte; der mächtig war, wohlgestaltet, von hoher Natur, der bei seinem Geschlechte Lob und Gehorsam fand, aus erhabenem, glänzendem, tugendhaftem Geschlecht; der den Menschen wie ein Regen in Hungerjahren Segen spendete, von edlen Ahnen, ohne Scharte; der dem Herrn und dem Sklaven teuer war; er war äußerst mild, Abkömmling gnädiger, freigebiger, edler Männer, stark wie Löwen.
Könnte ein Mann wegen alten Adels ewig leben — aber Fortdauer ist keines Menschen Los — so würde er bis zur letzten Nacht unvergänglich bleiben durch seinen hohen Ruhm und adlige Abstammung.”

Auch die übrigen Töchter beweinten ihren Vater noch zu Lebzeiten und dichteten über ihn ruhmreiche Verse, wobei jede versuchte, die andere zu überbieten. Auch Freunde des Sterbenden kamen herein, um ihn zu loben und zu rühmen.
Abd al-Muttalib, der schon nicht mehr sprechen konnte, gab durch Kopfnicken zu verstehen, daß er so betrauert werden wollte. Nach dem Tode Abd al-Muttalibs wurde sein Sohn al-Abbas Herr der Zamzamquelle. Er war es, der die Pilger von der Quelle trinken ließ, obgleich er damals noch ältere Brüder hatte. Er wurde vom Gesandten Allahs in seinen Rechten bestätigt. Sie sind seinem Geschlecht bis zu diesem Tage verblieben.

Mohammed bei Abu Talib
Nach dem Tode Abd al-Muttalibs kam der Gesandte Allahs zu seinem Onkel Abu Talib. So hatte es Abd al-Muttalib empfohlen. Sein Vater Abd Allah war nämlich ein Doppelbruder Abu Talibs. Ihre Mutter hieß Fatima. Sie war eine Tochter des Amr b. Aids. Abu Talib sorgte nach dem Tode seines Großvaters für den Gesandten Allahs und behielt ihn stets bei sich. Ein Wahrsager, der oft nach Mekka kam, prophezeite dem Jungen einen hohen Rang. Und zwar geschah dies so: Als Abu Talib mit einigen Jünglingen unterwegs war, erblickte der Wahrsager den Gesandten Allahs. Doch wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes von ihm abgezogen. Als er das erledigt hatte, fragte er wieder nach ihm und wollte, daß man ihn herbeihole. Da Abu Talib merkte, wie gierig der Wahrsager sich nach dem Jungen umsah, verbarg er ihn. Da sagte dieser: „Wehe euch! Bringt mir den Jungen wieder, den ich vorher gesehen habe, bei Allah, er wird einen hohen Stand einnehmen.” Abu Talib ging aber mit ihm weg.

Später wollte Abu Talib mit einer Karawane zu einer Handelsreise nach Syrien aufbrechen. Er war eben im Begriff abzureisen, da schmiegte sich der Gesandte Allahs so zärtlich an ihn, daß er weich wurde und sagte: „Bei Allah, ich nehme ihn mit und trenne mich nie mehr von ihm!” So oder ähnlich sprach er. Er reiste also mit ihm ab. Wie gewöhnlich stiegen sie in der Nähe einer Mönchsklause ab. Der Mönch hieß Buhaira (oder Bahira). Er kannte die Schriften und die Religion der Christen und wohnte seit eh und je in dieser Zelle. In ihr wurde ein Buch aufbewahrt, aus dem sich die Mönche belehren ließen. Es vererbte sich vom einen auf den andern. Sooft Abu Talib auch früher hier vorbeigekommen war, so hatte sie der Mönch doch nie angesprochen noch sich ihnen vorgestellt. Diesmal jedoch ließ er eine Mahlzeit bereiten, weil — wie es heißt — er von seiner Zelle aus sah, wie eine Wolke den Gesandten Allahs inmitten der Karawane beschattete und wie sie auch dem Baum Schatten spendete, unter dem er sich mit der Karawane niedergelassen hatte. Selbst die Zweige des Baumes neigten sich zum Gesandten Allahs herab, um ihn besser schützen zu können. Als die Mahlzeit zubereitet war, sandte Buhaira zur Karawane und ließ alle, jung und alt, Sklaven und Freie, zum Essen einladen.

Da sagte einer der Quraischiten: „Es ist auffallend, daß du uns zuvor nie solche Gastfreundschaft erwiesen hast. Weshalb gerade heute?” Buhaira entgegnete: „Es ist so, wie du sagst, doch ihr seid heute meine Gäste. Ich will euch mit einem Mahle ehren, zu dem ihr alle eingeladen seid.” Alle kamen auch zu ihm, nur der Gesandte Allahs blieb seiner Jugend wegen unter dem Baum im Lager zurück. Als Buhaira den, an welchem er gewisse Merkmale erkannt hatte, nicht unter den Gästen fand, sagte er: „Ihr Quraischiten, es darf keiner von euch im Lager zurückbleiben, der hier noch einen Platz hätte.” Sie erwiderten: „Nur ein Knabe, der Jüngste der ganzen Karawane, ist im Lager zurückgeblieben.” Er versetzte hierauf: „Rufet ihn. Er soll auch mit euch essen!”
Da rief einer der Quraischiten: „Bei Lat*und Uzza**, es ist nicht recht von uns, daß wir den Sohn Abd Allahs im Lager zurückgelassen haben!” Er begab sich daher zu ihm, umarmte ihn und brachte ihn zu den anderen. Buhaira musterte ihn und suchte nach den Merkmalen, die er an seinem Körper zu finden hoffte. Als die Mahlzeit beendet war und die Gäste sich zerstreut hatten, stellte sich Buhaira vor ihn hin und beschwor ihn bei Lat und Uzza, ihm seine Fragen zu beantworten. Er beschwor ihn deshalb bei Lat und Uzza, weil die Quraischiten so zu tun pflegten.



*Al-Lat (die Frau Allahs) war die Stammesgöttin der Banu Thaqif, die auch al-Rabba (die Herrin) genannt wurde.

** Al-Uzza (die Tochter al-Lats) war die Stammesgöttin der Quraisch und der Kinana und stand außerhalb Mekkas. Die Statuen der beiden Göttinen wurden nach der Eroberung Mekkas zerstört.

Es heißt, Mohammed habe ihm gesagt: „Frage mich nicht bei Lat und Uzza, denn, bei Allah, nichts ist mir verhaßter als diese Götzen.” Da sagte Buhaira: „Nun, so beschwöre ich dich bei Allah, mir meine Fragen zu beantworten.” Mohammed erwiderte: „Frage, was dir gut dünkt!” Da befragte er ihn über seinen Zustand im Schlaf, über seine äußere Beschaffenheit und andere Dinge. Der Gesandte Allahs gab ihm über alles Auskunft, und es stimmte mit dem überein, was Buhaira von ihm wußte. Dann betrachtete er seinen Rücken und fand zwischen seinen Schultern, an der Stelle, wo es beschrieben war, das Siegel des Prophetentums. Es sah wie das Mal von einem Schröpfkopfe aus. Sodann ging er zu Abu Talib und fragte ihn: „Wie ist dieser Knabe mit dir verwandt?” Er entgegnete: „Er ist mein Sohn.” — „Er ist nicht dein Sohn, dieser Knabe braucht keinen Vater mehr.” — „Nun, er ist mein Neffe.” — „Und sein Vater?” — „Er ist während der Schwangerschaft seiner Mutter gestorben.” — „Du hast die Wahrheit gesagt. Geh’ jetzt mit dem Knaben nach Hause und verbirg ihn vor den Juden, denn, bei Allah, wenn sie ihn sehen und ihn erkennen wie ich, so werden sie ihm Böses antun. Dein Neffe wird einst einen hohen Rang einnehmen. Darum eile mit ihm in die Heimat zurück*!”

* Die Begegnung zwischen Buhaira und Mohammed wird von mehreren Islamisten als christliche Apologetik verworfen, die von den Moslems zur Erklärung des biblischen Wissens Mohammeds benützt wurde.

Abu Talib tat also, sobald er seine Geschäfte in Syrien abgewickelt hatte.

Der Gesandte Allahs wuchs heran, und Allah beschirmte und bewahrte ihn vor den Irrtümern des Heidentums, weil er ihn zu seinem Gesandten bestimmt hatte. So wurde er der hervorragendste Mann seines Volkes: an Ritterlichkeit, gutem Benehmen und edler Abstammung übertraf ihn keiner. Er war der angenehmste Nachbar, der Sanfteste, Wahrhaftigste und Treueste und hielt sich fern von allen häßlichen Eigenschaften, die den Mann erniedrigen. Er war erhaben darüber und vereinigte in sich so viele Tugenden, daß er unter seinem Volke „der Treue” genannt wurde. Als „der Krieg des Frevels” ausbrach, war Mohammed zwanzig Jahre alt. Der Krieg führte diesen Namen, weil dabei von den Kinana und Qais Ailan manches heilige Gebot übertreten wurde. Der Führer von Quraisch und Kinana war Harb b. Umaija b. Abd Schams. Am Anfang des Tages siegten die Qais, von Mittag an aber die Kinana.

3. Mohammeds Hochzeit mit Khadidja

Die Vorgeschichte

Als Mohammed fünfundzwanzig Jahre alt war, heiratete er Khadidja, die Tochter des Khuwailid b. Asad.
Khadidja war eine angesehene Unternehmerin. Sie ließ Männer mit ihrem Gut Handel treiben und gab ihnen einen Anteil am Gewinn. Als sie von der Treue, Wahrhaftigkeit und den guten Sitten Mohammeds hörte, sandte sie zu ihm und schlug ihm vor, in ihrem Auftrag nach Syrien zu reisen und dort mit ihrem Gut Handel zu treiben. Sie versprach, ihm mehr Waren als den anderen Kaufleuten zu geben. Mohammed ging auf ihren Vorschlag ein und reiste mit ihrem Gut in Begleitung eines Dieners von Khadidja, der Maisara hieß, nach Syrien.

Als er sich unter dem Schatten eines Baumes in der Nähe der Klause eines Priesters niedergelassen hatte, fragte jener Maisara, wer der Mann unter dem Baum sei. Maisara erwiderte: „Es ist ein Quraischite, ein Bewohner des heiligen Gebietes.” Da sagte der Priester: „Derjenige, der zur Zeit unter diesem Baum sitzt, ist nichts als ein Prophet!” Als Mohammed die mitgebrachten Waren verkauft und andere eingekauft hatte, kehrte er mit Maisara nach Mekka zurück. Maisara sah, so wird berichtet, während der Mittagshitze zwei Engel, die Mohammed, der auf seinem Kamel saß, Schatten spendeten. Als sie in Mekka angelangt waren, verkaufte Khadidja die Waren, die er mitgebracht hatte und fand ihr Gut verdoppelt. Auch erzählte ihr Maisara, was der Priester gesagt und wie er die schattenspendenden Engel gesehen hatte. Als Khadidja, eine verständige, edle und gute Frau, die Allah zu hoher Gnade bestimmt hatte, dies hörte, ließ sie — wie es behauptet wird — Mohammed rufen und sagte zu ihm: „Mein Vetter, ich möchte dich für mich haben wegen deiner Verwandtschaft mit mir, wegen deines Ansehens unter deinem Volke sowie wegen deiner Treue, Wahrhaftigkeit und guten Sitten.” Zuletzt trug sie sich ihm als Gattin an *.

* Khadidja war etwa vierzig, Mohammed fünfundzwanzig Jahre alt, als sie heirateten. Khadidja war zuvor mit zwei anderen Männern verheiratet und hatte von beiden Männern Kinder, die sie mit in die Ehe brachte. Ihr erster Mann war verstorben; den zweiten hatte sie entlassen. Sie war eine starke Persönlichkeit und eine erfolgreiche Kauffrau und Unternehmerin.
An Khadidja wird deutlich, daß die Frau vor dem Islam in der Arabischen Halbinsel eine viel höhere Stellung inne hatte als die islamischen Gelehrten zugeben. Diese behaupten, daß erst der Islam der Frau ihre Würde gegeben habe. Das Gegenteil ist der Fall.
Solange Mohammed mit ihr verheiratet war, ging er keine weitere Ehe ein. Vielleicht sah und suchte Mohammed in Khadidja einen Ersatz für seine früh verlorene Mutter, da er als Vollwaise wenig Mutterliebe erfahren hatte. Mohammed hatte es fertiggebracht, seine Chefin zu heiraten. Dadurch wurde er reich, angesehen und wohnte im Zentrum Mekkas.
Jesus zog vor, nicht zu heiraten. Er wußte, daß er 30jährig als Lamm Gottes für die Sünde der Welt sterben würde. Er wollte keine unversorgte Familie zurücklassen und seine Kraft ganz der Erlösung der Menschen widmen.


Mohammeds Ehe und Kinder
Khadidja war damals die Angesehenste unter den Frauen Quraischs, sowohl durch ihre Abstammung als auch wegen ihres großen Reichtums. Jeder aus ihrem Volke begehrte sie. Sie war die Tochter des Khuwailid b. Asad, und ihre Mutter war Fatima, die Tochter des Zaid b. al-Assam.
Mohammed teilte Khadidjas Antrag seinen Onkeln mit. Sein Onkel Hamza b. Abd al-Muttalib ging mit ihm zu Khuwailid b. Asad und hielt für ihn um dessen Tochter an, und die Ehe wurde geschlossen. Als Morgengabe gab ihr Mohammed zwanzig junge Kamele. Sie war die erste Frau, die Mohammed heiratete. Bis zu ihrem Tode heiratete er keine zweite Frau. Sie war die Mutter aller seiner Kinder mit Ausnahme Ibrahims*. Sie gebar ihm al-Qasim, weshalb er selbst Abu al-Qasim genannt wurde, al-Taijib, Zainab, Ruqaija, Umm Kulthum und Fatima. Al-Qasim war der älteste seiner Söhne, dann kam al-Taijib, dann al-Tahir. Die älteste der Töchter war Ruqaija, dann Zainab, dann Umm Kulthum, dann Fatima. Die drei Söhne starben noch im Heidentum, die Töchter aber erreichten alle den Islam, bekannten sich zu ihm und wanderten mit ihrem Vater aus**

* Ibrahims Mutter war Maria, die Koptin. Abd Allah b. Wahb hat von Ibn Lahia erzählt, Maria, die Mutter Ibrahims, die Sklavin des Gesandten Allahs, welche ihm al-Muqauqas geschenkt hatte, stamme aus Hafr im Bezirk Ansina.
** Der Tod seiner drei Söhne war für Mohammed eine bittere Tragik. Er hatte keinen Erben. Im Orient werden solche Schicksalsschläge auf den Zorn Gottes zurückgeführt oder als Folge Schwarzer Magie angesehen. Mohammed war reich und angesehen, innerlich aber haltlos und fragend.



Khadidja, die Tochter Khuwailids, hatte ihrem Vetter Waraqa b. Naufal* erzählt, was ihr Maisara von den Worten des Priesters und von den Mohammed beschattenden Engeln mitgeteilt hatte. Waraqa, ein Christ, der die Schriften eingehend studiert hatte, antwortete ihr: „Wenn das wahr ist, so ist Mohammed der Prophet unseres Volkes; denn ich weiß, daß ein Prophet erwartet wird und daß jetzt die Zeit dazu gekommen ist.” Er hatte schon lange darauf gewartet und stets gefragt: „Wie lange wird es noch dauern?”
* Waraqa b. Naufal war der Vorsteher einer kleinen christlichen Gemeinde in Mekka und hat wahrscheinlich an der Hochzeit Mohammeds mit Khadidja teilgenommen. Die islamischen Traditionen bestätigen, daß es vor dem Islam in Mekka eine christliche Gemeinde gab




TEIL II  Der verfolgte Prophet in Mekka

1. Mohammeds Prophetentum

Wie Mohammed den Streit um den heiligen Stein schlichtete

Als Mohammed fünfunddreißig Jahre alt war, beschlossen die Quraischiten, die Kaaba wieder aufzubauen. Sie war nicht höher als ein Mann und bestand aus übereinandergeschichteten Steinen. Doch scheuten sie sich, sie einzureißen. Sie wollten die Wände hochziehen und bedecken; denn der Schatz, der in einem Brunnen im Innern der Kaaba verborgen lag, war gestohlen worden. Man hatte ihn bei Duwaik, einem Freigelassenen der Banu Mulaih, wieder gefunden. Man nimmt aber an, daß andere ihn gestohlen und bei Duwaik versteckt hatten. Kurz zuvor hatte ein Sturm das Schiff eines griechischen Kaufmanns an die Küste von Djidda geworfen, wo es zerbrach. Die Araber hatten sein Holz herbeigeschafft und wollten es zum Bau des Daches der Kaaba verwenden. Außerdem fand sich in Mekka ein Kopte*, der von Beruf Zimmermann war und ihnen das Holz für das Dach bearbeitete.
* Es war ein koptischer Christ, der das Dach der Kaaba in Mekka gezimmert hat! Die seßhaft gewordenen Beduinen waren der Zimmermannsarbeiten unkundig.

Im Brunnen der Kaaba, in den man täglich Speisen warf, wohnte eine Schlange. Sie lag gern auf der Mauer der Kaaba und sonnte sich. Man fürchtete sie sehr. Sobald sich jemand ihr näherte, erhob sie sich, zischte und sperrte den Schlund auf. Eines Tages, als sie sich wie gewöhnlich auf der Mauer der Kaaba sonnte, schickte Allah einen Vogel, der sie wegschleppte. Da sprachen die Quraisch: „Wir hoffen, daß Allah unsere Absicht billigt. Wir haben einen Zimmermann als Freund; wir haben Holz, und nun hat uns Allah auch vor der Schlange Ruhe verschafft.”

Die Quraisch teilten nun den Bau der Kaaba unter sich auf. Die Seite, an der sich die Tür befand, fiel den Söhnen Abd Manafs und Zuhra zu; der Teil zwischen dem schwarzen und dem jemenitischen Pfeiler den Banu Makhzum und anderen zu ihnen gehörenden Stämmen von Quraisch; der hintere Teil der Kaaba den Banu Djumah und Sahm, den Söhnen Amrs, die nördliche Mauer „der Hatim”, den Banu Abd al-Dar b. Qusai, den Banu Asad b. Abd al-Uzza und den Banu Adi b. Ka’b.
Aber immer noch scheuten sich die Männer, die Kaaba einzureißen. Da sagte al-Walid b. Mughira: „Ich will den Anfang machen!” Er nahm seine Hacke, stellte sich vor die Kaaba und rief: „Allah, laß kein Unglück über uns kommen. Allah, wir wollen nur Gutes!”
Damit fing er an, die Mauer bei den beiden Pfeilern einzureißen. Die anderen warteten die ganze Nacht und sagten: „Wir wollen sehen, ob ihm ein Unglück widerfährt. Wenn ja, lassen wir es sein, wenn nicht, so billigt Allah unser Vorhaben.”
Am folgenden Morgen, als al-Walid mit dem Einreißen fortfuhr, folgten auch die andern seinem Beispiel. Als man auf die Grundsteine stieß, die noch von Ibrahim (Abraham) stammten*, waren sie mit einer grünlichen Farbe überzogen und hatten die Form eines Kamelhöckers. Sie waren fest übereinandergeschichtet. Ein Quraischite, der ebenfalls mit dem Einreißen beschäftigt war, hatte einen großen Hebel zwischen zwei Steine geschoben, um den einen zu lockern und herauszubrechen. Als der Stein zu wanken anfing, erbebte ganz Mekka. Man ließ daher die Grundsteine unverrückt, sie blieben an ihrem Ort.
*Hierbei handelt es sich offensichtlich um eine Legende. Abraham war nie in Mekka.

In einem der Pfeiler fanden die Quraisch eine syrische Inschrift, die niemand entziffern konnte, bis sie ihnen ein Jude vorlas. Sie lautete: „Ich bin Allah, der Herr von Mekka. Ich habe diese Stadt an dem Tag geschaffen, als ich Himmel und Erde schuf, Sonne und Mond bildete und habe ihr sieben Engel als Schutz gegeben. Sie wird so lange bestehen wie die beiden Berge, die sie umgeben. Ihre Bewohner werden durch Wasser und Milch gesegnet.”
Laith b. Abi Sulaim behauptet, man habe vierzig Jahre vor der Sendung Mohammeds einen Stein in der Kaaba gefunden, auf welchem geschrieben war: „Wer Gutes sät, erntet Segen, wer Böses sät, erntet Reue. Wollt ihr für schlechte Handlungen mit Wohltaten belohnt werden? So wenig wie von Dornen Trauben gepflückt werden können*.”
* Vielleicht liegt hier ein abgewandeltes Wort Jesu vor (Matth. 7,16).

Die Quraischiten trugen nun die Steine zum Bau der Kaaba zusammen. Jeder Stamm arbeitete für sich. Sie bauten, bis sie an die Stelle des heiligen Steines kamen. Da entspann sich ein Streit. Jeder Stamm wollte die Ehre und das Vorrecht besitzen, ihn wieder einzulegen. Bald zerstritten sie sich, schlössen Bündnisse und bereiteten sich zum Kampf vor.

Die Banu Abd al-Dar brachten eine Pfanne mit Blut herbei und schlössen ein Bündnis mit den Banu Adi. Dabei schworen sie sich Treue bis zum Tod, indem sie ihre Hände in das Blut tauchten, das in der Pfanne war. Sie wurden daher „Blutlecker” genannt. Dieser Streit dauerte vier oder fünf Tage. Dann versammelten sich alle in der Moschee und berieten miteinander. Datrat Abu Umaija b. al-Mughira hervor, der damals der Älteste unter den Quraisch war, und machte den Quraisch den Vorschlag, denjenigen als Schiedsrichter anzuerkennen, der zuerst in die Moschee treten würde.
Sie willigten ein, und der erste, der eintrat, war Mohammed. Als sie ihn sahen, riefen sie: „Der ist uns recht, er ist der Wahrhaftige.”
Sie trugen ihm die Streitsache vor. Da ließ er sich ein Tuch bringen und legte den Stein mitten darauf. Dann ließ er einen aus jedem Stamm das Tuch fassen, den Stein gemeinsam aufheben und bis an den Ort tragen, wo er eingefügt werden sollte. Er legte ihn dann selbst an seine alte Stelle, und der Bau konnte fortgesetzt werden *.
* Die vermittelnde Hilfe Mohammeds bei der Kaabaerneuerung in Mekka steht der Tempelreinigung Jesu gegenüber, der die Händler und Kaufleute aus dem Tempel in Jerusalem trieb, um ihn för die Anbetung Gottes zu reinigen (Joh. 2,13-22). Darüber hinaus verkündete Jesus, daß seine Feinde den Tempel abreißen, er ihn aber in drei Tagen wieder aufbauen werde (Mt. 26,61; 27,40). Er meinte damit seinen Tod und die Auferstehung seines Leibes, welcher der wahre Tempel Gottes ist.
Mohammed ließ den alten Tempelkult bestehen, befestigte den Schwarzen Stein in der Kaaba und integrierte die heidnische Pilgerfahrt in das Gesetz des Islam.
Jesus aber schuf mit seiner Gemeinde einen neuen Tempel, in dem Gottes Geist wohnt.

Mohammed tolerierte die Kaaba mit ihren Götzen solange, bis er die Stadt mit seinem Heer eroberte. Dann reinigte er den Tempelbesitz von seinen Götzen, ließ aber den schwarzen Stein in der Kaaba eingemauert und küßte ihn.

Zur Zeit Mohammeds war die Kaaba je achtzehn Ellen lang, breit und hoch. Sie war mit ägyptischer Leinwand und später mit gestreiftem Baumwollstoff bedeckt. Al-Hadjdjadj b. Jusuf war der erste, der sie mit Seidenstoff überspannte.

Vom Glauben an Djinn in Mekka
Die jüdischen Rabbiner, die christlichen Priester und die Wahrsager unter den Arabern hatten bereits zu ihrer Zeit von Mohammed gesprochen. Die Rabbiner verkündeten, was sie in ihren Schriften über ihn und seine Zeit gefunden hatten. Die Wahrsager gaben weiter, was böse Djinn*(Geister) von ihm verstohlenerweise gehört hatten, ehe Sterne auf sie geschleudert wurden (Sternschnuppen).
*Ibn Hischam bezeichnet hier die Djinn als „böse” Geister, obwohl sie vorgaben, Geheimnisse über Mohammeds Sendung zu kennen.
Der Islam spricht von zwei verschiedenen Arten von Djinns, den bösen und den guten. Die letzteren hatten den Quran angenommen und waren Moslems geworden!

Die Wahrsager und Wahrsagerinnen verbreiteten mancherlei Andeutungen über Mohammeds Erscheinen, aber die Araber zeigten daran kein Interesse, bis das Gesagte sich bestätigte. Nun kamen sie zur Einsicht. Als dann die Ankunft des Gesandten Allahs nahe war, konnten die bösen Djinn nichts mehr erlauschen. Sie durften nicht mehr an ihre früheren Plätze zurückkehren, wo sie gelauscht hatten und deshalb Sterne auf sie herabgeschleudert worden waren. Daran merkten sie, daß nun eingetroffen sei, was Allah zuvor beschlossen hatte. Allah offenbarte seinem Propheten diese Geschichte der Djinn (Sure al-Djinn 72,1-3): „Sprich! Mir ist geoffenbart worden, daß einige Djinn gelauscht und gesagt haben, wir haben einen wunderbaren Quran (Vortrag) gehört, der zur Wahrheit leitet. Wir haben daran geglaubt. Wir werden unserm Herrn keinen Teilhaber zur Seite stellen, denn unser Herr, der Erhabene, ist allein allmächtig. Er hat weder eine Gattin noch ein Sohn*.”
* Eine andere Tradition verlegt diese Begegnung Mohammeds mit den Djinn in die Zeit nach seiner Abweisung von den Bewohnern Taifs.

Als die Djinn den Quran vernahmen, wußten sie, weshalb sie nicht mehr lauschen durften. Die Offenbarung sollte nicht durch verschiedenartige Nachrichten vom Himmel unverständlich und zweifelhaft gemacht werden. Nun glaubten auch die Djinn und predigten* ihren Gefährten: „Wir haben von einem Buch gehört, das nach Mose erschienen ist und das bestätigt, was ihm geoffenbart wurde. Es führt zur Wahrheit und weist den geraden Weg” (al-Ahqaf 46,30).
* Die moslemischen Djinn erweisen sich als eifrige Missionare für die Ausbreitung des Islam.

Mohammed b. Muslim b. Schihab al-Zuhri hat es von Ali b. Husain b. Ali b. Abu Talib, der es wiederum von Ansar gehört hat. Mohammed habe sie gefragt: „Was denkt ihr über die geschleuderten Sterne?” Sie antworteten: „Wir dachten, ein König sei gestorben oder auf den Thron erhoben worden, ein berühmtes Kind sei geboren oder gestorben.” Da erwiderte Mohammed: „Das stimmt nicht, sondern Allah hat etwas über seine Geschöpfe verhängt. Das hörten die Träger des Thrones und priesen ihn. Die untergeordneten Engel folgten ihrem Beispiel. So breitete sich der Lobpreis bis in den untersten Himmel aus.” Nun wollte einer vom andern wissen, weshalb sie Allah gepriesen hätten. Sie erhielten die Antwort: „Weil die Oberen ihn loben.” Nun fragte man die Oberen bis hinauf zu den Trägern des Thrones. Wenn diese dann Allahs Beschluß mitteilten, so kam die Antwort wieder stufenweise herunter bis in den untersten Himmel. Hier lauschten die bösen Djinn und faßten manches verkehrt oder falsch auf. Diese gingen zu den Wahrsagern auf der Erde und führten sie teils in die Irre, teils sagten sie ihnen das Richtige. Die Wahrsager gaben es weiter und verbreiteten so manchen Irrtum und manche Wahrheit. Daraufhin hielt Allah die Djinn fern, indem er Sterne auf sie schleudern ließ. Auf diese Weise wurde die Wahrsagerei beendet*.
* Die Djinn werden als mediale Geister verstanden, die durch Menschen (Medien) reden. Bei den Quraischiten waren solche besessenen Medien bekannt. Okkulte Kontakte und Belastungen waren üblich und bestehen bis heute noch in islamischen Ländern.

Begegnungen mit Juden *
Salama b. Salama erzählte: „Ein Jude, der ein Schutzgenosse der Banu Abd al-Aschhal war, suchte diese eines Tages auf — ich war damals noch einer ihrer Jüngsten, trug ein Oberkleid und lag vor der Wohnung meiner Familie — und sprach von der Auferstehung, vom Gericht, von der Waage, vom Paradies und von der Hölle. Die Polytheisten und Götzendiener, die an keine Auferstehung glaubten, entgegneten ihm: .Glaubst du wirklich, daß die Menschen nach dem Tode wieder auf erweckt werden und in eine Welt kommen, in der es eine Hölle und ein Paradies gibt, und daß ihnen dann nach ihren Taten vergolten wird**?'”
* Zahlreiche Juden lebten seit ihrer Vertreibung im Jahre 70 n. Chr. durch die Römer im Hidjaz, dem Westteil der Arabischen Halbinsel. Sie glaubten an den einen Gott und besaßen eine ausgereifte Liturgie in ihren Gottesdiensten. Vor allem aber besaßen sie ein Buch, aus dem sie alle Details ihres Glaubens, ihres Gesetzes und ihrer Geschichte herauslesen konnten.
**Der Glaube an die Auferstehung der Toten, an das Paradies und die Hölle wurde von den Juden an Mohammed weitergegeben. Etwa 70 Prozent der Texte des Qurans enthalten verzerrt wiedergegebene Geschichten und Gesetze aus dem Alten Testament.

Er erwiderte: „Jawohl, bei dem, bei welchem man schwört”, und fügte den Wunsch hinzu, er wolle sich lieber in den größten geheizten und verschlossenen Ofen sperren lassen, wenn er dadurch vor dem ihm bestimmten Feuer der Hölle bewahrt werden könne.
Einige Jahre vor dem Islam hatte sich ein Jude aus Syrien namens Ibn al-Haijaban bei uns niedergelassen, der, bei Allah, der beste unter denen war, die das fünfmalige Gebet nicht verrichteten. Immer, wenn wir Regenmangel hatten, gingen wir zu ihm und baten ihn, von Allah Regen zu erflehen*. Erforderte uns dann stets auf, vorher Almosen zu geben, und wenn wir ihn fragten wieviel, antwortete er: „Ein Sa’a “Datteln oder zwei Mudd Gerste.” Sobald wir diese Dinge herbeigebracht hatten, ging er mit uns aufs Feld und flehte Allah um Regen für uns an. Und, bei Allah, kaum hatte er sich erhoben, als eine Wolke vorüberzog, die ihr kostbares Naß über uns ausschüttete. Dies geschah häufiger. Als seine Todesstunde herannahte, fragte er seine Volksgenossen: „Weshalb habe ich nach eurer Meinung mein fruchtbares Land verlassen und bin in dieses karge Land eingewandert?” Sie erwiderten: „Du weißt es besser!” Da fuhr er fort: „Ich bin hierher gekommen, weil ich auf einen Propheten gewartet habe, dessen Zeit bald kommen wird, und in diesem Land wird er erscheinen. Ich habe auf sein Kommen gewartet, um ihm zu folgen. Nun ist seine Zeit nahe. Laßt euch nicht von anderen verleiten, denn er wird das Blut seiner Gegner vergießen und ihre Kinder gefangennehmen. Nichts kann euch gegen ihn schützen.”
* Regengebete sind in der islamischen Welt, besonders im Nahen Osten, auch heute noch eine weit verbreitete Praxis.
** Ein Sa’a ist ein Hohlmass, das vier Mudd aufnehmen konnte. Seine Grosse variierte in den verschiedenen Gebieten.

Als Mohammed später die Banu Quraiza belagerte, sagten jene Männer, die damals noch jung gewesen waren: „O ihr Söhne Quraizas! Bei Allah, das ist der Prophet, den euch Ibn al-Haijaban verheißen hat*!” Jene aber entgegneten: „Er ist es nicht!”
* Das weitere Warten der Juden — auch nach Jesu Kommen — auf den Messias bzw. auf den Propheten, den Mose geweissagt hatte (5. Mose 18,15), brachte Mohammed auf die Idee, daß er selbst dieser verheißene Prophet sei. Dabei steht an der betreffenden Stelle ausdrücklich, der Messias werde aus dem Volk Israel stammen („aus dir und aus deinen Brüdern”).

Die Gottsucher (Hanifen)
Einst hatten sich die Quraisch auf einem ihrer Feste um einen ihrer Götzen versammelt, den sie verehrten, dem sie Opfer brachten, bei dem sie sich aufhielten und den sie bei Prozessionen mit sich führten. Es war an einem Festtag, den sie alljährlich feierten. Vier Männer jedoch hielten sich fern und schlössen insgeheim einen Freundschaftsbund miteinander. Es waren Waraqa b. Naufal, Ubaid Allah b. Djahsch, Uthman b. al-Huwairith und Zaid b. Amr. Einer sagte zum andern: „Wir wissen, bei Allah, daß unser Volk nicht den rechten Glauben hat. Sie haben die Religion ihres Vaters Abraham verfälscht. Wie sollen wir einen Stein umkreisen, der weder hört noch sieht, der weder nützen noch schaden kann? Wir suchen uns einen anderen Glauben. Der überlieferte taugt nichts.” Sie zerstreuten sich hierauf in verschiedene Länder, um den wahren Glauben Abrahams zu erforschen*.
* Die Zweifel am Animismus und an versteinerten Seelen (Götzen) regten sich in Mekka schon vor Mohammed. Deshalb ist es ein fragwürdiger Kompromiß, daß Mohammed in die Liturgie der islamischen Pilgerfahrt das Umkreisen und Küssen des Schwarzen Steines wieder aufgenommen hat. Dies bedeutet einen Rückfall ins finsterste Heidentum.

Waraqa b. Naufal vertiefte sich in das Christentum und studierte die Bücher der Christen, bis er mit der Wissenschaft der Buchbesitzer vertraut war*.
* Waraqa b. Naufal war ein Neffe des Onkels von Khadidja, der Frau Mohammeds. Er war der Vorsteher einer kleinen christlichen Gemeinde in Mekka und hat zweifellos einen gewissen Einfluß auf Mohammed gehabt. Er soll versucht haben, die Schriften des Alten Testaments ins Arabische zu übersetzen.

Ubaid Allah b. Djahsch blieb bei seinen Zweifeln, bis er sich zum Islam bekehrte. Dann wanderte er mit seiner Frau Um Habiba, einer Tochter Abi Sufjans, nach Abessinien aus. Als sie dort lebten, bekehrte er sich zum Christentum und starb als Christ. Nachdem Ubaid Allah b. Djahsch Christ geworden war, sagte er zu seinen Gefährten, die mit ihm nach Abessinien ausgewandert waren: „Wir haben die Wahrheit klar erkannt. Ihr aber sucht sie noch und habt noch nichts gesehen.” Er gebrauchte dabei einen Ausdruck, der verwendet wird, wenn ein junger Hund zum erstenmal die Augen öffnet und dabei noch nicht klar sieht. Später heiratete Mohammed die Witwe Ubaid Allahs*.
Dazu schickte er Amr b. Umaija al-Dhamri zu dem Fürsten von Abessinien und ließ um sie werben. Der Fürst nahm die Werbung gegen eine Morgengabe von 400 Dinaren an.
*Das Ringen um die Erkenntnis des wahren Gottes ging mitten durch die Reihen der Moslems hindurch. Sie hörten das deutliche Zeugnis eines der Ihrigen, der Christ geworden war. Vielleicht wollte Mohammed aus erster Hand die Beweggründe zum Übertritt eines Moslems zu den Christen kennenlernen, als er die Witwe des Konvertiten, Umm Habiba, eine Tochter Abu Sufjans, heiratete.

Uthman b. al-Huwairith kam zum Kaiser von Byzanz, wurde Christ und gelangte bei ihm zu hohem Ansehen*.
Am Hof des Kaisers von Byzanz dürften Spuren der Kenntnis Mohammeds und des Islam existiert haben. Uthman wird aus der Ferne die Entwicklung in Mekka und Medina verfolgt und seine Gönner unterrichtet haben.

Zaid b. Amr nahm weder das Judentum noch das Christentum an. Allerdings hat er den Glauben seines Volkes aufgegeben. Er hielt sich fern von jeglichem Götzendienst, vom Genuß toter Tiere sowie solcher, die Götzen geopfert wurden und vom Genuß von Blut. Auch verurteilte er den Brauch, Mädchen lebendig zu begraben *. Er sagte: „Ich bete den Herrn Abrahams an”, und tadelte laut die Fehler seines Volkes. Hischam b. Urwa hat mir von seinem Vater berichtet, der von seiner Mutter Asma, der Tochter Abu Bakrs gehört hat, wie sie sagte: „Ich habe Zaid b. Amr gesehen, wie er als Greis seinen Rücken an die Kaaba lehnte und sagte: Gemeinde Quraisch! Bei dem, in dessen Gewalt meine Seele ist, außer mir ist keiner von euch im Glauben Abrahams.” Dann fuhr er fort: „Allah, wüßte ich, in welcher Weise es dir am liebsten ist, angebetet zu werden, ich würde es tun; aber ich weiß es nicht. Dann fiel er anbetend auf seine Hände nieder.”
* Der Koranische Hinweis auf die Tötung von Mädchen als Kleinkinder findet sich in der Sure al-Takwir 81,8-9.

Zaid hat über seinen Abfall vom Glauben seines Volkes und über das, was er deshalb zu erdulden hatte, folgende Verse gedichtet:
„Soll ich an einen Gott glauben oder an tausend Götter? Dann wäre ja die Herrschaft geteilt. Ich habe der Lat und Uzza entsagt*. So handelt der Starke, der Ausdauernde. Ich glaube weder an Uzza noch an ihre beiden Töchter. Auch besuche ich die beiden Götzen der Söhne Amrs nicht. Ich glaube auch nicht an den Götzen Ghanm, der unser Herr war, als ich ins Jünglingsalter trat. Ich erstaunte — aber in der Nacht setzt uns manches in Staunen, was bei Tag der Sehende begreift —, daß Allah viele Männer vertilgt hat, die ruchlos waren und wie er fromme erhalten hat. Allah läßt Kinder groß und stark werden. Wenn ein Mann sich auch verfehlt, so kann er sich doch eines Tages bekehren, so wie ein vom Regen befeuchteter Zweig wieder aufblüht. Ich bete meinen Herrn, den Barmherzigen, an, damit er, der Erbarmer, mir meine Sünden vergebe. Bleibt in der Furcht vor Allah, eurem Herrn, dann geht ihr nicht zugrunde. Du wirst sehen wie Gärten den Frommen als Wohnung zugewiesen werden, den Ungläubigen aber brennendes Höllenfeuer. Schmach im Leben finden sie und nach dem Tode, was ihnen die Brust beengt.”
* Vergleiche die „satanischen Verse” im Quran, nach denen Mohammed eine Zeitlang die Existenz einer Frau Allahs (al-Lat) und ihrer Töchter (Manat und al-Uzza) bejahte (Sure 22J2-53; 53,1923). Nach den Maßstäben der biblischen Prophetenprobe (vgl. 5. Mose 18,20) hätte Mohammed sterben müssen.

Er reiste dann ab, um den Glauben Abrahams zu suchen und befragte Mönche und Rabbiner. Er reiste durch Mesopotamien, kam nach Mossul** besuchte Syrien, bis er nach Maifa in der Provinz Balka kam, wo er einen Mönch fand, der, wie man annimmt, der gelehrteste Christ war. Erfragte ihn nach der wahren Religion, nach dem Glauben Abrahams. Der Mönch erwiderte: „Du suchst eine Religion, in welcher dich jetzt niemand mehr unterrichten kann, aber die Zeit ist nahe, da ein Prophet in dem Lande, aus dem du kommst, auftreten wird, der von Allah mit dem wahren Glauben Abrahams gesandt wird. Schließe dich ihm an, er wird bald auftreten, es ist an der Zeit.” Zaid hatte sich mit dem Judentum und dem Christentum bekanntgemacht, aber keine von beiden Religionen hatte ihn befriedigt. Auf der Rückreise nach Mekka zog er durch das Land der Lakhmiten. Sie fielen über ihn her und ermordeten ihn*. *
* Bereits vor den Offenbarungen an Mohammed war in Mekka durch den Einfluß zahlreicher Juden und Christen bei manchen „Hanifen” (Gottsuchern) die Überzeugung gewachsen, daß die Götter, Götzen und Statuen im Tempelbereich der Kaaba wertlos und tot seien.
** Eine nordirakische Stadt, die einst ein blühendes Zentrum der christlichen Aramäer darstellte.

Wie der Gesandte Allahs im Evangelium vorausgesagt sein soll
Isa b. Marjam* hatte sich in dem von Allah geoffenbarten Evangelium, nach der Abschrift, die der Jünger Johannes zu Lebzeiten Isas vom Evangelium angefertigt hatte, folgendes über Mohammed ausgesprochen: „Wer mich haßt, haßt den Herrn. Hätte ich nicht vor ihren Augen Werke getan, wie keiner vor mir, so wären sie unschuldig. Sie aber wurden undankbar und glaubten, sie müßten mich wie den Herrn selbst verehren. Das Wort, das im Gesetzbuch geschrieben ist, muß jedoch erfüllt werden, daß sie mich ohne Grund hassen**. Wäre Munhamanna***(d.h. im Syrischen Mohammed und im Griechischen Paraklet), den euch Allah vom Herrn und dem Geist der Heiligkeit senden wird**** schon hervorgetreten, so würde er Zeugnis für mich und für euch ablegen und ihr würdet es auch tun, denn ihr wart früher mit mir. Dies sage ich euch, damit ihr nicht zweifelt*****”.
* Isa b. Marjam ist die islamische Bezeichnung für Jesus den Sohn der Maria.
** Teile des Johannes-Evangeliums waren in Mekka zur Zeit Mohammeds bereits bekannt und in der Bevölkerung diskutiert worden (Joh. 15,23-27; 16,1).

*** „Munhamanna” ist eine Übersetzung des griechischen Wortes „parakletos” in die arabische Sprache. Es handelt sich jedoch dabei um einen Irrtum, weil das griechische Wort zwar mit arabischen Konsonanten richtig, jedoch mit falschen Vokalzeichen als „perikletos” geschrieben wurde. „Parakletos” heißt der Tröster und Beistand. „Perikletos” aber heißt „der Gepriesene”, was der arabischen Bedeutung des Namens Mohammed entspricht. Deshalb behaupten die Moslems, Mohammed sei der Parakletos, der im Neuen Testament verheißene Tröster.
**** Die Personen der heiligen Dreieinigkeit werden an dieser Stelle noch gänzlich unreflektiert genannt: „Allah”, „der Herr” und „der Geist der Heiligkeit”. In der Theologie des Islam aber werden sie strikt abgelehnt.
***** Mohammed hat die Verheißung Jesu Christi (Joh. 15,26), daß er den Tröstergeist senden werde, falsch verstanden und auf sich bezogen. Kein Moslem kann akzeptieren, daß Mohammed ein Gesandter Christi ist (Joh. 14,16-17 und 16,7-11)! Es ist bezeichnend, daß Ibn Hischam sich kurz vor dem Beginn der sogenannten Offenbarungen an Mohammed mit den meist unverstandenen Splittern des Evangeliums auseinandersetzt und damit indirekt die Aussage Ubaid Allahs bestätigt, der vom Islam zum Christentum in Abessinien übergetreten ist.

Als Mohammed vierzig Jahre alt war, sandte ihn Allah in die Welt — als eine Barmherzigkeit von ihm für die gesamte Menschheit *. Allah hatte schon in früheren Zeiten jedem seiner Propheten die Verpflichtung auferlegt, an Mohammed zu glauben, ihn als wahrhaftig zu erklären und ihm gegen seine Feinde beizustehen. Sie sollten dies allen verkünden, die an sie glaubten und sie für wahrhaftig hielten; und sie taten, wie ihnen befohlen war.
* Der betreffende Quranvers wird häufig auf den Quran selbst und nicht auf Mohammed bezogen (al-Nahl 16,89).

Die ersten Visionen Mohammeds
Urwa b. al-Zubair hat von Aischa folgendes gehört: „Als Allah Mohammed ehren und sich der Menschheit erbarmen wollte, ließ er sein Prophetentum damit beginnen, daß er Erscheinungen im Traume hatte wie die anbrechende Morgenröte. Allah gewährte ihm die Neigung zur Einsamkeit. So liebte Mohammed die Einsamkeit über alles.”
Wahb b. Kaisan erzählte, was Ubaid ihm gesagt hatte: „Mohammed brachte einen Monat auf Hira zu und speiste die Armen, die zu ihm kamen. Wenn der Monat zu Ende war, umkreiste er siebenmal die Kaaba oder so oft, wie es Allah gefiel. Dann erst begab er sich in sein Haus. Als das Jahr seiner Sendung kam, ging er wie gewöhnlich mit seiner Familie im Monat Ramadan nach Hira. In der Nacht, in der Allah seinen Diener mit seiner 58 Botschaft ehrte, erschien ihm der Engel Gabriel und brachte ihm den Befehl Allahs*.”
* In Galater 1,8-9 bezeichnet Paulus jeden Engel oder Geist, der nach der Offenbarung des Evangeliums durch Jesus Christus ein anderes Evangelium oder wieder eine Gesetzesreligion inspiriert, als verflucht. Es konnte deshalb nicht der Engel Gabriel sein, der Mohammed erschienen war. Aber genau dies behauptet der Islam!
Darüber hinaus wird der Engel Gabriel im Islam auch „ Geist der Heiligkeit” genannt. Der koranische Heilige Geist ist also ein geschaffener Engel, niemals aber Gottes eigener Geist. Hier wird deutlich, daß im gesamten Islam und in allen Moslems kein Heiliger Geist wohnt und wirkt.

„Ich schlief”, erzählt Mohammed, „als er mir ein beschriebenes, seidenes Tuch brachte und sagte: ,Lies *!’ Ich erwiderte: ,Ich kann nicht lesen**!’ Da drückte er mich in das Tuch, daß ich glaubte, ich müßte sterben***. Dann ließ er mich los und forderte mich erneut auf: ,Lies!’ Als ich wieder antwortete, ich könne nicht lesen, bedeckte er mich wieder mit dem Tuch, so daß ich beinahe den Geist aufgab. Dann ließ er mich frei und erneuerte seinen Befehl. Ich fragte nun aus Furcht, er werde mich wieder wie vorher behandeln, was ich lesen solle. Da sagte er: ,Lies im Namen deines Herrn, der den Menschen aus einem Blutklumpen**** erschaffen hat, lies, dein Herr ist der Barmherzige, der durch die Feder den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte’ (al-Alaq 96,1-5). Ich rezitierte nun, und Gabriel verließ mich wieder. Danach erwachte ich, und es war, als stünden diese Worte in mein Herz eingeschrieben.
*Das Wort „ Quran ” („Rezitation ” oder „ das zu Lesende “) ist eine Ableitung vom Grundverb (qara’a) des Befehls: „Lies!” oder „Rezitiere!” (Iqra’). Der Quran kann nicht nur gelesen oder vorgelesen, sondern auch von Analphabeten auswendig gelernt rezitiert werden. (Siehe auch Nöldeke T, Geschichte des Qurans, Bd. 1, S. 31-32, Nachdruck 1981 Hildesheim.)

**Mohammed war Analphabet. Er konnte weder lesen noch schreiben (Sure 7,157-158). Außerdem waren zu seiner Zeit das Alte und das Neue Testament noch nicht ins Arabische übersetzt. Mohammed hätte sie trotzdem jedoch nicht lesen können. Noch weniger war er in der Lage, die Bibel in ihren Ursprachen, dem Hebräischen (AT) und Griechischen (NT), zu lesen. Er hatte also keinen Zugang zu den Quellen der Wahrheit und war auf mündliche Überlieferungen angewiesen. Jesus konnte lesen und schreiben und rezitierte Texte der Thora und der Propheten (Luk. 4,17-20) in hebräischer Sprache. Darüberhinaus ist er Gottes Wort im Fleisch und die Wahrheit in Person.

*** Die Offenbarungen an Mohammed spielten sich in keiner befreienden und gesegneten Weise ab. Mohammed hatte jedesmal das Gefühl, daß er unter Schmerzen ersticken würde oder sterben müßte, wenn er die Offenbarungen von seinem Geist empfing.

****Gott hat den Menschen nicht aus einem geronnenen Blutklumpen erschaffen. Nicht das Blut war zuerst da, es hätte sonst höchstens Tierblut sein können. Gott schuf den Menschen durch sein Wort und formte ihn aus Erde als sein Ebenbild (1. Mose 1,26-27; 2,7; 3,19).

Ich trat aus der Höhle und stand auf der Mitte des Berges. Da hörte ich eine Stimme vom Himmel, die mir zurief:,Mohammed! Du bist der Gesandte Allahs und ich bin Gabriel.’ Ich hob mein Haupt gegen den Himmel empor, um nach dem Sprechenden zu sehen, und ich sah Gabriel in der Gestalt eines beflügelten Mannes. Seine Füße waren am Horizont und er rief: .Mohammed! Du bist der Gesandte Allahs und ich bin Gabriel.’ Ich blieb stehen und schaute nach der Erscheinung und ging weder vorwärts noch rückwärts. Dann wandte ich mich von ihm ab, aber nach welcher Seite ich auch meine Blicke richten mochte, immer sah ich Gabriel vor mir. Ich blieb so stehen, ohne vorwärts und rückwärts zu gehen, bis Khadidja Leute schickte, um mich zu suchen. Sie gingen bis zur Höhe Mekkas und kehrten wieder zu ihrer Auftraggeberin zurück. Ich aber blieb stehen, bis der Engel wegging, dann kehrte ich zu meiner Familie zurück.

Als ich zu Khadidja kam, setzte ich mich auf ihren Schoß und drückte mich fest an sie. Sie fragte mich, wo ich war und sagte mir, sie habe Leute ausgeschickt, um mich zu suchen. Sie seien bis zur Höhe von Mekka gekommen und wieder umgekehrt. Als ich ihr erzählte, was ich gesehen hatte, sagte sie: .Freue dich, mein Vetter, und sei guten Muts bei dem, in dessen Gewalt meine Seele ist. Ich hoffe, du wirst der Prophet deines Volkes werden*.’
* Khadidja glaubte als erste an Mohammed und ermunterte ihn zum Glauben an seine Sendung. Sie machte ihn seiner Berufung bewußt. Bei ihr suchte er Trost in engster Umarmung.

Sie stand dann auf, kleidete sich an und ging zu ihrem Vetter Waraqa b. Naufal, der Christ geworden war, die heiligen Schriften gelesen und manches von Juden und Christen gehört hatte. Sie erzählte ihm, was ich gesehen und gehört hatte. Da sprach Waraqa: .Heilig, heilig, heilig bei dem, in dessen Gewalt Waraqas Seele ist! Wenn du mir die Wahrheit berichtest, so ist der größte Namus*zu ihm gekommen, der auch Mose erschienen ist, dann ist er der Prophet dieser Nation. Sage ihm, er soll standhaft bleiben.'”
* Namus bedeutete bei den arabischen Christen soviel wie „Geheimnis” oder „Gesetz”. Bei den Moslems aber war es eine Bezeichnungfür den „Engel Gabriel”.

Khadidja kehrte hierauf zu Mohammed zurück und erzählte ihm, was Waraqa gesagt hatte.
Als die Andachtszeit vorüber war, Mohammed sich auf dem Heimweg befand und wie gewöhnlich zuerst die Kaaba umkreiste, begegnete ihm Waraqa und sagte zu ihm: „Erzähle mir, was du gesehen und gehört hast.” Als Mohammed es ihm erzählt hatte, sagte er: „Bei dem, in dessen Gewalt meine Seele ist, du bist der Prophet dieser Nation. Der größte Namus, der Mose erschienen ist, ist auch zu dir gekommen. Man wird dich einen Lügner nennen, dich mißhandeln, verbannen und bekämpfen. Wenn ich jene Zeit erlebe, so werde ich Allah in einer Weise beistehen, daß er es mir anerkennen wird.” Er neigte sich dann mit dem Haupte zu ihm und küßte ihn auf die Stirn, worauf Mohammed nach Hause ging*.
* Waraqa b. Naufal war zwar Vorsteher der christlichen Gemeinde in Mekka, besaß aber nicht die Unterscheidungsgabe und geistliche Reife, um festzustellen, welcher Geist tatsächlich durch Mohammed redete.

Wie Khadidja die Offenbarungen Mohammeds prüfte
Ismail b. Abi Hakim, ein Freigelassener der Familie Zubairs, hat mir erzählt, er habe von Khadidja folgendes gehört: „Ich sagte zu Mohammed: .Kannst du mich benachrichtigen, sobald dein Freund dir erscheint?’ Er sagte: ,Ja.’ Ich bat ihn, dies zu tun. Als nun Gabriel wieder erschien, benachrichtigte er mich. Ich sagte zu Mohammed: ,Setze dich auf meinen linken Schenkel!’ Als er dies getan hatte, fragte ich: ,Siehst du ihn noch?’ Er antwortete: ,Ja.’ Da ließ ich ihn auf meinen rechten Schenkel sitzen und fragte ihn erneut, ob er ihn noch sehe. Als er meine Frage wieder bejahte, ließ ich ihn auf meinen Schoß sitzen und fragte nochmals, ob er ihn sehe. Als er es bestätigte, seufzte ich und warf meinen Schleier ab. Dann fragte ich ihn wieder, ob er ihn noch sehe, und ersagte: .Nein.’ Da rief ich: .Freue dich, mein Vetter, und sei festen Mutes, bei Allah, es ist ein Engel und kein Satan!'”
Ibn Ishaq ergänzte: „Als ich diese Überlieferung dem Abd Allah b. Hassan mitteilte, sagte er: ,lch habe dieselbe Tradition von meiner Mutter Fatima, der Tochter Husains, im Namen Khadidjas gehört, nur hat nach dieser Überlieferung Khadidja den Propheten unter ihr Hemd genommen, worauf Gabriel verschwand*.'”
* Die Prüfung der Offenbarung durch Khadidja trägt allzu menschliche Züge. Sie hatte die Religion fleischlich und nicht geistlich verstanden.

Mohammed widersetzte sich dieser Art von Geisterunterscheidung durch eheliche Kontakte nicht. Das widerspricht der Prüfung der Geister im Neuen Testament völlig (vgl. 1. Joh. 4,1-3). Hier wird das niedrige Niveau der Gotteserkenntnis und Frömmigkeit in der Familie Mohammeds deutlich.

2. Die Entstehung der islamischen Urgemeinde

Die bevorzugte Stellung Khadidjas
Khadidja glaubte an Mohammed, hielt die Offenbarung für wahr und unterstützte ihren Ehemann in seinen Vorhaben. Sie war die erste, die an Allah, an seinen Gesandten und an die Offenbarung glaubte. Dadurch hat ihm Allah Trost geschickt, denn sooft er etwas Unangenehmes hörte, Widerreden erfuhr, man ihn der Lüge bezichtigte und er darüber betrübt war, tröstete ihn Allah durch sie. Immer, wenn er zu ihr heimkehrte, richtete sie ihn auf, versicherte ihn ihres Glaubens an ihn und stellte ihm das Gerede der Menschen als geringfügig dar.
Hischam b. Urwa hat mir von seinem Vater erzählt, der von Abd Allah b. Djafar b. Abi Talib gehört hat, Mohammed habe gesagt: „Mir ist befohlen worden, Khadidja zu verkünden, daß sie ein Haus aus Qassab erhalten wird, in dem kein Geräusch und keine Krankheit herrscht” (Qassab ist eine ausgehöhlte Perle). Auch hat mir ein zuverlässiger Mann erzählt, Gabriel sei zu Mohammed gekommen und habe ihm gesagt: „Grüße Khadidja von ihrem Herrn!” Als Mohammed ihr diesen Gruß überbrachte, sagte sie: „Allah ist das Heil, von ihm kommt das Heil und Heil über Gabriel*!”
* Khadidja war es, die Mohammed zu seinem Sendungsbewußtsein verhalf und ihn immer wieder ermutigte, an seine prophetische Berufung zu glauben. Es war eine Frau, die als erste an Allah und seinen Gesandten glaubte. Mit ihrem Eifer als Gattin stabilisierte sie ihren Mann und beeinflußte ihre Töchter, an seine Lehre zu glauben. Der Islam begann im Rahmen einer Familie, während Jesus seine Jünger aus dem Kreis der Bußfertigen um Johannes den Täufer berufen hatte (Joh. 1,35-51).

Als die Offenbarungen ausblieben
Als die Offenbarungen eine Zeitlang ausblieben, wurde Mohammed darüber sehr betrübt*.
*Die Offenbarungen blieben zweieinhalb Jahre lang aus. Das trieb Mohammed zur Verzweiflung und zu der Überzeugung, von Allah verlassen und verworfen zu sein. Er ging öfters zum Abgrund des Berges Hira in der Absicht, sich dort hinabzustürzen (Bukhari, Kitabu fada’ il al-nabi).

Da überbrachte ihm Gabriel die Sure al-Duha 93,1-9, in der Allah, der ihm viel Gnade erwiesen hatte, schwor:
„Bei dem klaren Tag und der sinkenden Nacht! Dein Herr hat sich nicht von dir abgewandt und ist dir nicht abgeneigt, dein zukünftiges Leben wird besser als das gegenwärtige sein. Was ich bei deiner zukünftigen Rückkehr zu mir beschlossen habe, wird dir mehr wert sein, als die dir in diesem Leben vorausgeschickte Gnade. Dein Herr wird dir so viel geben, daß du zufrieden sein wirst (Sieg in diesem Leben und Lohn in der zukünftigen Welt). Fand er dich nicht als Waise und verschaffte dir Fürsorge? Fand er dich nicht im Irrtum gefangen, und leitete dich? Warst du nicht arm, und er machte dich reich?”

Allah erinnerte ihn mit diesen Worten, wie er angefangen hatte, sich ihm barmherzig zu erzeigen und wie er ihn durch seine Huld aus dem Waisenstand, aus Irrtum und Armut gezogen hatte.

Beginn der Verpflichtung zum Gebet
Dann wurde Mohammed das Gebet vorgeschrieben, und er betete. Zunächst wurde er gelehrt, wie die Gebetsabläufe praktisch durchzuführen seien. Später hat Allah das Gebet für jeden, der sich zu Hause aufhält, auf viermaliges Niederfallen erhöht. Für den Reisenden blieb es bei der ersten Bestimmung.

Als Mohammed vorgeschrieben wurde, wie und was er beten solle, geschah dies folgendermaßen: Gabriel kam auf der Höhe von Mekka zu ihm, drückte eine Ferse nach dem Tale zu in die Erde, und es sprudelte eine Quelle hervor. Da wusch sich Gabriel. Mohammed sah ihm zu, wie er sich vor dem Gebet reinigte. Dann folgte er seinem Beispiel*. Nun betete Gabriel, und Mohammed betete ihm die Worte nach. Als Gabriel sich entfernt hatte, ging Mohammed zu Khadidja und zeigte ihr, wie man sich vor dem Gebet waschen müsse. Dann betete er, wie Gabriel es ihm vorgemacht hatte, und sie betete ihm nach**.
* Jeder Moslem muß sich vor jedem offiziellen Gebet reinigen. Die Waschungen sind genau vorgeschrieben. Wer die Waschungen nicht in der rechten Reihenfolge erfüllt, dessen Gebet wird wertlos.
Die Waschungen im Islam verdeutlichen, daß der Moslem ein verborgenes Bewußtsein von Schuld und Sünde besitzt und ahnt, daß ohne Vergebung der Sünden ein Gebet von Gott nicht erhört werden kann. Wasser kann jedoch nicht von Sünden reinigen. Die islamischen Waschungen bleiben ein äußeres Symbol, das keine innere Realisierung kennt.
Die heutige Praxis des fünfmaligen Gebets kann aus dem Quran nicht abgeleitet werden. Diese Vorschriften beruhen auf mündlichen Traditionen Mohammeds.
**Das offizielle Gebet im Islam enthält kein freies Reden mit Gott, dem Vater, in Bitte und Fürbitte, Dank und Anbetung, sondern stellt eine buchstäblich vorgeschriebene, straff geordnete Liturgie zur Anbetung des großen, fernen, unbekannten Allah dar. Mohammed kannte kein geistliches Beten. Der Geist in ihm betete nicht. Der Engel Gabriel betete ihm vor und Mohammed sprach die Worte nach (Sure 1,1-7).

Gabriel hatte Mohammed die fünf Gebetszeiten vorgeschrieben: Das Mittagsgebet fand statt, sobald die Sonne anfing, sich nach Westen zu wenden. Das Nachmittagsgebet begann, sobald der Schatten ihm gleich war, das Abendgebet, als die Sonne unterging, und das letzte, das Nachtgebet, sobald die letzte Abendröte verschwunden war. Das Morgengebet wurde verrichtet, sobald die Morgenröte angebrochen war, das Mittagsgebet wieder, sobald der Schatten ihm gleich war, das Nachmittagsgebet, sobald der Schatten zweimal so groß war wie er. Das Abendgebet fand wie am vorhergehenden Tag statt, als die Sonne untergegangen war, das Nachtgebet, als das erste Drittel der Nacht vorüber war. Es folgte wieder das Morgengebet, sobald der Morgen anbrach, aber die Sonne noch nicht am Horizont zu sehen war*.
* Der Tag eines Moslems ist in die Anbetung Allahs eingebettet. Das islamische Gebet befestigt den Moslem in einer theozentrischen Kultur. 34 mal wirft sich ein Moslem in seinen fünf Gebetszeiten vor Allah zu Boden. Er ist deshalb nicht frei, sondern an Allah ausgeliefert, ein Moslem. Die fünf Gebetszeiten sind das Rückgrat des Islam. Der anbetende Moslem stellt den inkarnierten Islam dar.
Diese islamischen Gebete sind keine geistlichen, persönlichen Gebete als Antworten auf Gottes Wort, sondern bestehen aus vorgeschriebenen, festen Formulierungen, die Nachsprechen, Unterwerfung und Zucht verlangen. Diese gesetzliche Anbetung ist ein Gebet für Sklaven, nicht für freie Menschen, die Gott als ihren Vater ansprechen dürfen.

Dann sagte Gabriel zu Mohammed: „Die Zeit des Gebetes liegt zwischen der, in welcher du gestern und heute gebetet hast.”

Ali, der erste Gläubige unter den Männern
Die erste männliche Person, die an Mohammed glaubte, mit ihm betete und seine Offenbarungen für wahr hielt, war der zehnjährige Ali b. Abi Talib b. Abd al-Muttalib b. Haschim. Allah hatte ihm die Barmherzigkeit erwiesen, daß er schon vor dem Islam bei Mohammed lebte*.
* Ali war der Vetter Mohammeds, zugleich sein Pflegesohn und später sein Schwiegersohn, der Fatima, die Tochter Mohammeds, heiratete. Er wurde der vierte Kalif. Die Anhänger Alis und seine Verwandten hatten erwartet, daß er als der direkte Nachfolger Mohammeds gewählt würde. An der Streitfrage um Ali und seine Söhne Hassan und Hussein spaltete sich der Islam in Sunniten und Schiiten. Letztere betrachten ihn als ihren ersten Imam.

Es war ein Werk göttlicher Huld und Gnade gegenüber Ali, daß Quraisch einst von großer Unfruchtbarkeit heimgesucht wurde. Da aber Abu Talib eine große Familie hatte, sagte Mohammed zu seinem Onkel al-Abbas, dem reichsten Mann unter den Banu Haschim: „Du weißt, daß dein Bruder Abu Talib eine große Familie hat und daß alle unter dieser Dürre zu leiden haben. Darum laß uns zu ihm gehen und es ihm leichter machen, indem ich ihm einen Sohn abnehme und du einen.” Al-Abbas war damit einverstanden. Er ging mit Mohammed zu Abu Talib. Sie sagten ihm, sie seien gekommen, ihm Erleichterung zu verschaffen, bis die Not nachlasse. Abu Talib erwiderte: „Wenn ihr mir Aqil laßt, so tut, was ihr wollt.” Mohammed nahm Ali und drückte ihn an sich; al-Abbas tat das gleiche mit Djafar. Auf diese Weise kam Ali zu Mohammed. Er folgte ihm, glaubte an ihn und hielt ihn für wahrhaftig. Djafar aber blieb bei al-Abbas, bis er zum Islam übertrat und seines Onkels nicht mehr bedurfte.

Manche Gelehrte behaupten, Mohammed habe, sobald die Zeit zum Gebet kam, die Täler bei Mekka aufgesucht. Ali habe ihn — ohne daß sein Vater und seine Stammesgenossen etwas davon wußten — dabei begleitet und mit ihm gebetet. Abends kehrten sie gemeinsam zurück. Dies ging eine Weile so, bis sie eines Tages von Abu Talib beim Gebet überrascht wurden*. Da fragte dieser Mohammed: „Was ist das für eine Religion, an die du glaubst?” Er antwortete: „Das ist die Religion Allahs, seiner Engel und seiner Gesandten. Es ist die Religion unseres Vaters Abraham, mit der mich Allah zu den Menschen geschickt hat. Du, mein Onkel, verdienst es am meisten, daß ich dir Belehrung zukommen lasse und dich zur Leitung aufrufe. Dir steht es am besten zu, meinem Ruf zu folgen und mir beizustehen.” Abu Talib erwiderte: „Ich kann, teurer Neffe, den Glauben meiner Väter nicht verlassen, aber, bei Allah, solange ich lebe, soll dir nichts zuleide getan werden.” Außerdem erzählt man, er habe Ali gefragt: „Was hast du für einen Glauben, mein Sohn?” Ali habe geantwortet: „Ich glaube an den Gesandten Allahs, mein Vater, und halte seine Offenbarung für wahr. Ich bete mit ihm zu Allah und folge ihm.” Man behauptet, Abu Talib habe darauf erwidert: „Er wird dich gewiß nur zum Guten anstiften. Schließe dich ihm ruhig an!”
*Als die Zahl der Moslems größer wurde und über den Rahmen der Familie Mohammeds hinauswuchs, trafen sie sich in einem einsamen Tal zum Gebet. Sie wagten anfangs nicht, ihre Gebete in der Öffentlichkeit auszuüben.

Von der Bekehrung Zaids, des zweiten Moslems
Danach bekehrte sich Zaid b. Haritha, der Freigelassene Mohammeds. Er war der erste erwachsene Mann, der sich bekehrte. Hakim b. Hizam b. Khuwailid hatte ihn als angehenden Jüngling aus Syrien mitgebracht. Als seine Tante Khadidja — damals schon die Gattin Mohammeds — ihn besuchte, schenkte er ihr einen Sklaven, den sie selbst auswählen konnte. Ihre Wahl fiel auf Zaid. Als Mohammed Zaid bei ihr sah, erbat er sich ihn von ihr. Sie schenkte ihn ihrem Gatten, und er gab ihm die Freiheit und adoptierte ihn als Sohn. Dies geschah bereits vor seiner Sendung. Später begegnete Haritha seinem Sohn Zaid bei Mohammed. Mohammed sagte zu Zaid: „Wenn du willst, bleibe bei mir, wenn nicht, so ziehe mit deinem Vater.” Zaid zog vor, bei Mohammed zu bleiben. Als Allah Mohammed als Propheten sandte, glaubte er an ihn, wurde Moslem und betete mit ihm. Als Allah später anordnete: „Nennt die Adoptivsöhne nach ihren Vätern”, nannte er sich Zaid b. Haritha.

Die Bekehrung Abu Bakrs und sein Eifer
Danach bekehrte sich Abu Bakr b. Abi Quhafa, der eigentlich Atiq hieß. Sein Vater war Uthman. Der eigentliche Name Abu Bakrs war Abd Allah, während „Atiq” nur sein Beiname war, den er wegen seines schönen, edlen Gesichts erhalten hatte. Als Abu Bakr Moslem wurde, bekannte er sich offen zum Islam und forderte auch andere auf, sich zu Allah und seinem Gesandten zu bekehren. Er war ein leutseliger, liebenswürdiger Mann, den jedermann gern hatte. Er war der Gelehrteste unter den Quraischiten und der Kundigste, was die Vorfahren der Quraischiten, ihre Schwächen und Vorzüge, betraf. Er war ein wohltätiger Kaufmann mit guten Sitten. Die Leute seines Stammes kamen häufig zu ihm, um ihre Angelegenheiten mit ihm zu beraten, weil er im Handel und in anderen Dingen bewandert war und sein Umgang jedem gefiel. Er rief alle zum Islam auf, welche ihm vertrauten und seine Gesellschaft suchten.

Durch Abu Bakrs Aufforderung wurde Uthman b. Affan bekehrt, ferner Zubair b. al-Auwam, Abd al-Rahman b. Auf und Sa’d b. Abi Waqqas und Talha b. Ubaid Allah. Als sie seinem Rufe folgten, ging er mit ihnen zu Mohammed. Sie bekannten sich zum Islam und beteten mit ihm. Mohammed soll gesagt haben: „Außer Abu Bakr’habe ich niemanden zum Islam aufgerufen, der nicht zuerst Bedenken, Zweifel und Einwände gehabt hätte. Abu Bakr warder einzige, der nichts einzuwenden hatte und keinerlei Bedenken vorbrachte.” *
* Abu Bakr, der erfahrene Kaufmann, wird in seiner Gradlinigkeit manchmal mit Petrus verglichen. Er wurde nach dem Tod Mohammeds der Fels, auf dem sich die anderen Moslems aufbauten. Abu Bakr hat den Islam in seiner kritischsten Stunde zusammengehalten. Er war ein enger Vertrauter Mohammeds und einer seiner Schwiegerväter. Seine Tochter Aischa wurde die Lieblingsfrau Mohammeds. Sie war neunjährig mit ihm verheiratet worden. Als Mohammed starb war sie erst 18 Jahre alt.

Diese acht Männer sind allen anderen Gläubigen im Islam vorangegangen. Sie beteten, glaubten an Mohammed und an seine göttliche Offenbarung.

3. Der Widerstand der Mekkaner

Die Ausbreitung des Islam unter den Stammesgenossen
In der Folgezeit nahmen mehrere Männer und Frauen den Islam an. Man sprach nun in Mekka viel von der neuen Gruppe. Drei Jahre nach seiner Sendung erhielt Mohammed den Befehl von Allah, mit seiner Offenbarung an die Öffentlichkeit zu treten, die Leute mit ihr bekanntzumachen und sie zum Islam zu bekehren: „Tritt hervor mit dem, was dir aufgetragen worden ist und wende dich von den Götzendienern ab! Predige deinen Stammesgenossen und Verwandten und breite deine Flügel über die Gläubigen, die dir folgen… Sprich: Ich bin der wahre Prediger” (al-Hidjr 15,94 und 89 mit al-Schuara 26,215).
In den Anfangszeiten des Islam stiegen die Gefährten Mohammeds in verborgene Schluchten und verheimlichten ihr Gebet vor ihrem Volk. Eines Tages, als Sa’d b. Abi Waqqas mit weiteren Gefährten Mohammeds in einer der Schluchten bei Mekka betete, erschienen mehrere Götzendiener, die sie tadelten und durch ihre Beleidigungen zum Kampf herausforderten. Sa’d b. Abi Waqqas verletzte damals einen der Götzendiener mit dem Kinnbacken eines Esels. Es war das erste Blut, das bei der Ausbreitung des Islam vergossen wurde.
Als Mohammed mit seiner Religion offen auftrat, hielt sich sein Volk nicht fern von ihm und widerstand ihm nicht, bis er über ihre Götter sprach und diese schmähte. Nun verleugneten sie ihn und feindeten ihn an mit Ausnahme derer, welche Allah durch den Islam bewahrt hatte. Diese aber waren in geringer Zahl und verachtet.

Mohammed unter dem Schutz Abu Talibs
In diesem Streit wurde Mohammed von seinem Onkel Abu Talib bemitleidet und beschützt. Mohammed befolgte den Befehl Allahs und ließ sich durch nichts abhalten, seinen Glauben zu verkünden. Als die Quraisch feststellen mußten, daß Mohammed in nichts nachgab, unbeirrt mit seinen Schmähreden gegen ihre Götter fortfuhr und Abu Talib ihm gewogen war, ihn nicht preisgab und für ihn einstand, begaben sich mehrere von ihren Angesehensten zu Abu Talib und sagten: „Dein Neffe, o Abu Talib, schmäht unsere Götter, lästert unseren Glauben, betört unsere Jugend und leitet unsere Väter in die Irre. Entweder du hältst ihn davon ab oder du gibst ihn uns preis, da du ja wie wir anderer Meinung bist als er, und wir werden dir Ruhe vor ihm schaffen*.” Abu Talib jedoch richtete freundliche Worte an sie und widerlegte sie mit sanfter Rede, bis sie wieder gingen.
* Die Verschwörung gegen Mohammed begann schärfere Konturen anzunehmen. Sie glich in ihrer Radikalität der Konspiration der Pharisäer gegen Jesus und seine Jünger. Lediglich Abu Talib und Khadidja schützten ihren Verwandten in allen Verfolgungen.

Mohammed fuhr indessen fort, den Glauben an Allah zu verkünden und zum Islam aufzurufen. Die Spannungen zwischen ihm und den Quraisch wurden immer größer. Sie mieden und haßten Mohammed, sprachen viel von ihm und reizten einander zur Feindseligkeit gegen ihn auf. Dann begaben sie sich abermals zu Abu Talib und sagten: „Du bist ein geehrter und hochgestellter Mann unter uns. Wir haben dich schon einmal gebeten, dem Treiben deines Neffen gegen uns Einhalt zu gebieten. Du hast es aber nicht getan. Wir werden nun, bei Allah, nicht länger dulden, daß er unsere Väter schmäht, unsere Jugend betört und unsere Götter lästert. Entweder du hältst ihn von uns fern oder wir werden euch beide bekämpfen, bis ihr oder wir zugrunde gehen.”

Hierauf entfernten sie sich. Abu Talib war über die Spaltung seines Volkes sehr betrübt. Aber er konnte und wollte Mohammed nicht aufgeben und ausliefern. Abu Talib ging zu Mohammed, wiederholte ihm ihre Worte und sagte dann: „Schone mich und dich selbst und bürde mir nicht mehr auf, als ich tragen kann!”
Mohammed dachte, sein Onkel habe bereits den Entschluß gefaßt, ihm seinen Beistand zu entziehen und ihn auszuliefern, weil er sich zu schwach fühle, ihn zu beschützen. Er sagte daher: „Bei Allah, wenn sie die Sonne zu meiner Rechten und den Mond zu meiner Linken setzten und von mir forderten, meine Sache aufzugeben, bis sie Allah offenbar mache oder ich zugrunde gehe, so würde ich sie doch nicht aufgeben.” Dann weinte *er und stand auf. Als er sich entfernen wollte, hielt ihn sein Onkel zurück und sagte: „Geh’ und rede, was du willst. Ich werde dich, bei Allah, niemals ausliefern.”
* Die Evangelien berichten, daß Jesus mehrmals weinte (Luk. 19,41; Joh. 11,35). Nicht aus Mitleid mit sich selber, sondern über die Hartherzigkeit der Menschen, über die furchtbare Macht des Todes und aus Mitleid mit den Menschen im Blick auf das kommende Gericht Gottes.

Als die Quraisch merkten, daß Abu Talib dem Gesandten Allahs seinen Schutz auch weiterhin nicht entziehen und ihn nicht ausliefern wollte und daß er eher sich von ihnen lossagen und sie zu Feinden haben wollte, gingen sie zu ihm mit Umara b. al-Walid und sagten: „Hier ist Umara b. al-Walid, der wackerste und anmutigste Jüngling der Quraisch. Nimm ihn, benutze seinen Verstand und gebrauche ihn als Beistand und liefere uns deinen Neffen aus, der deinem und deiner Väter Glauben untreu geworden ist. Er hat deine Gemeinde verlassen und die Jugend betört, und wir werden ihn töten. Er ist doch nur ein Mann wie jeder andere auch.”
Abu Talib erwiderte: „Bei Allah, ihr mutet mir etwas Unwürdiges zu. Ihr wolltet mir euren Sohn geben, daß ich ihn ernähre, und ich soll euch meinen Sohn geben, daß ihr in tötet. Daraus kann, bei Allah, nie etwas werden!”
Da sagte al-Mut’im b. Adi: „Bei Allah, deine Stammesgenossen sind gerecht gegen dich und bemühen sich, dir Unangenehmes zu ersparen. Ich sehe aber, daß dir von allem nichts genehm ist, was sie dir anbieten.” Abu Talib entgegnete: „Bei Allah, sie sind nicht gerecht gegen mich, aber du scheinst entschlossen, mich aufzugeben und es mit den anderen gegen mich zu halten. Tu”, was dir gut dünkt!”
Der Streit wurde immer heftiger. Man rüstete sich zum Kampf und zeigte sich feindselig gegeneinander. Jede Sippe versuchte, die Gefährten Mohammeds vom Glauben abzubringen. Einige von ihnen wurden mißhandelt.
Mohammed aber wurde von seinem Onkel Abu Talib gedeckt, der, als er das Vorgehen der Quraisch gegen die Gläubigen sah, die Banu Haschim und Muttalib aufforderte, ebenfalls Mohammed zu beschützen und für ihn einzustehen. Sie folgten seiner Aufforderung und schlössen sich ihm an*, mit Ausnahme Abu Lahabs, des verruchten Feindes Allahs.
* Das Gesetz der Sippe verpflichtete die Söhne Abd al-Muttalibs, Mohammed zu beschützen, auch wenn sie nicht an seine Sendung glaubten. Die arabische Sippenordnung hat den Islam gerettet.

Die Verleumdungskampagne der Quraisch gegen Mohammed
Einst versammelte sich eine Anzahl Quraischiten bei Walid b. al-Mughira. Er war ihr Ältester und sagte: „Die Festtage nahen; die Karawanen der Beduinen werden kommen. Sie haben schon von Mohammed gehört. Faßt also einen gemeinsamen Entschluß darüber, was von ihm zu halten ist. Oder soll einer den andern Lügen strafen und widerlegen? Verwickelt euch in keine Meinungsverschiedenheiten, damit keiner den anderen der Lüge bezichtigt.” Da sagten sie: „Sprich du, Vater des Abd Schams. Wir wollen deiner Ansicht zustimmen.” Er antwortete aber: „Sprecht ihr, ich will euch anhören!”
Da sprachen sie: „Wir wollen sagen, er sei ein Wahrsager {Kahin) *.” Da erwiderte er: „Nein, bei Allah, er ist kein Wahrsager! Er murmelt und reimt nicht, wie sie es zu tun pflegen.”
„Nun”, sagten sie, „dann wollen wir ihn als Besessenen (Madjnun) ‘ausgeben.” Walid entgegnete aber: „Er ist kein Besessener. Er ist nicht wie jene dem Ersticken nahe, flüstert nicht und redet nicht verrückt daher.” Da meinten die Quraischiten:
*„Madjnun “: Sure 37,36; 44,14; 52,29; 68,2; 81,22.

„Nun, so nennen wir ihn einen Dichter {Sha’ir)*.” Jener versetzte: „Er ist kein Dichter. Wir kennen alle Gedichte in den verschiedenen Versalien, aber seine Worte sind keine Gedichte.”
* „Sha’ir”: Sure 37,35; 52,30; 69,42.

„Nun”, argumentierten sie, „dann wollen wir sagen, er sei ein Zauberer (Sahir)*.” Walid b. al-Mughira erwiderte: „Er ist kein Zauberer. Wir haben Zauberer bei ihrem Tun beobachtet. Er wispert nicht wie sie und macht keine Knoten wie sie.”
* „Sahir”: Sure 10,2; 15,15; 38,4 („Mashur”, die passive Wortform von „Sahir”: Sure 17$0; 25,9; 44,13; 8125).
Aus den Texten des Quran geht hervor, daß Mohammed den Einwohnern Mekkas als psychisch gestörte Person erschien, vor der sie sich, wie vor einem Verrückten oder Zauberer, fürchteten.

Da fragten sie: „Nun, Vater des Abd Schams, was sollen wir dann sagen?” Er antwortete: „Bei Allah, seine Rede ist süß. Sein Stamm ist ausgezeichnet und seine Zweige sind ein Garten. Von all dem könnt ihr nichts sagen, ohne daß man sofort weiß, daß es falsch ist. Das beste ist noch, daß ihr sagt, er sei wie ein Zauberer; denn seine Rede ist ein Zauber, durch sie trennt er den Mann von seinem Vater, von seinem Bruder, von seiner Gattin und von seinem Geschlecht.”

Sie trennten sich nun, nachdem sie sich geeinigt hatten. Als die Festzeit kam, setzten sie sich an den Weg, wo die Pilger vorüber kamen, warnten jeden vor Mohammed und erklärten ihnen, daß er ein Zauberer sei. Sie sagten allen, denen sie begegneten, über Mohammed, was sie ausgemacht hatten. Auf diese Weise kehrten alle Beduinen von diesem Fest mit der Kenntnis von Mohammeds Prophetentum heim. Man sprach von ihm in ganz Arabien.
Als die Kunde von Mohammed sich immer mehr unter den Beduinen verbreitete und in alle Provinzen gelangte, sprach man auch in Medina über ihn. Kein arabischer Stamm wußte mehr von ihm als die Aus und Khazradj, die in Medina wohnten. Schon früher hatten sie durch jüdische Rabbiner, die als Schutzgenossen bei ihnen wohnten, von ihm gehört.

Was Mohammed noch von seinem Volk angetan worden ist
Die Quraisch wurden immer heftiger aufgrund der Unannehmlichkeiten, die sie sich wegen ihrer Feindschaft gegen Mohammed zuzogen. Sie stachelten die Verwegensten gegen ihn auf. Diese nannten ihn einen Lügner, mißhandelten ihn und schalten ihn öffentlich einen Zauberer, Dichter, Wahrsager und Besessenen.
Mohammed aber vollzog öffentlich Allahs Befehl, indem er laut sagte, was sie ungern hörten. Er schmähte ihren Glauben, verwarf ihre Götzen und sagte sich von ihnen, den Ungläubigen, los.

Sie sprachen: „Wir haben nie Ähnliches ertragen. Er nennt uns Toren, beschimpft unsere Väter, schmäht unseren Glauben, spaltet unser Volk und lästert unsere Götter. In der Tat, wir erleiden Schweres von ihm.”
Abd Allah b. Umar b. al-Aas erzählte: „Während sie so sprachen, erschien Mohammed selbst, umfaßte den Pfeiler des Heiligtums und ging dann, das Gebäude umkreisend, an ihnen vorüber. Ich merkte an seinem Gesicht, daß sie ihn beleidigt hatten. Ich machte dieselbe Beobachtung, als er zum zweiten und dritten Mal an ihnen vorübergegangen war. Dann blieb er stehen und sagte: ,Hört, ihr Gemeinde Quraisch, bei dem, in dessen Gewalt meine Seele ist, ich komme zu euch mit dem Halsschnitt* (Schächten)!’*
* Diese Worte enthalten eine Drohung bzw. einen Fluch, mit dem Mohammed den Untergang der Quraischiten voraussagte. Die Absicht seiner Worte war Rache.
Jesus hat auch den Tempel zur Ehre seines Vaters gereinigt, eiferte jedoch nicht um die Wiederherstellung seiner eigenen Ehre. Er hat den Kaufleuten und Händlern nicht den Tod angedroht, sondern ihr Geld in den Staub geworfen und ihnen geboten, die Opfertiere wegzutragen.

Die Leute hörten dieses Wort, und es war einem jeden, als hätte sich ein Vogel auf seinem Haupt niedergelassen. Selbst der Schlimmste unter ihnen redete ihn nun mit den zärtlichsten Worten an und sagte: ,Geh, Abu al-Qasim, bei Allah, du bist kein Tor.’ Daraufhin entfernte sich Mohammed. Am folgenden Tage waren sie wieder im Heiligtum versammelt. Ich befand mich bei ihnen und hörte, wie einer dem andern zuraunte: .Erinnert ihr euch, was ihr ihm und er euch angetan, so daß er euch zu hören gab, was euch nicht lieb ist, und doch habt ihr ihn gehen lassen?’
Während sie so sprachen, kam auch Mohammed. Sie fielen wie ein Mann über ihn her, umzingelten ihn und fragten: ,Hast du tatsächlich unsere Götter und unseren Glauben geschmäht?’ Er antwortete: ,Ja, das habe ich getan!’ Da sah ich, wie einer ihn an der Stelle faßte, wo erden Mantel übereinandergeschlagen hatte. Abu Bakr stellte sich weinend vor ihn und sagte: .Wollt ihr einen Mann töten, der Allah seinen Herrn nennt?’ Daraufhin entfernten sie sich. Das war etwas vom Gemeinsten, was sie Mohammed antaten.”

Umm Kulthum, die Tochter Abu Bakrs, läßt uns wissen, wie es weiterging: „Als mein Vater an jenem Tage nach Hause kam, war ein Teil seines Hauptes kahl, so sehr hatten sie ihm die Haare an Kopf und Bart herausgerissen.”

Ein Gelehrter berichtet dazu: „Eines Tages, als Mohammed ausging, nannte ihn jedermann, sowohl Freier als auch Sklave, einen Lügner und beleidigte ihn. Er ging wieder nach Hause und hüllte sich ein. Da sprach Allah zu ihm: ,O du Eingehüllter, steh’ auf und predige!'” (al-Muddaththir 74,1-2)

Die Bekehrung Hamzas
Abu Djahl ging bei Safaa an Mohammed vorüber und beschimpfte und beleidigte ihn wegen seiner neuen Religion und seiner sonstigen Verhältnisse. Mohammed entgegnete kein Wort. Eine Freigelassene des Abd Allah b. Djudan, die in ihrer Wohnung saß, hörte alles mit an. Abu Djahl begab sich alsdann zur Versammlung der Quraisch bei der Kaaba und setzte sich zu den andern. Nicht lange danach kehrte Hamza von der Jagd mit umgehängtem Bogen zurück. Er liebte die Jagd und war ein guter Jäger. Er pflegte, wenn er von der Jagd heimkam, nicht eher nach Hause zu gehen, bis er die Kaaba umkreist hatte. Wenn er dann an der Versammlung der Quraisch vorüberkam, blieb er stehen und grüßte und unterhielt sich mit ihnen. Erwar einer der stärksten und kräftigsten Männer unter den Quraisch.

Als er an der Frau vorüberkam — der Prophet war schon nach Hause gegangen — sagte sie zu ihm: „O Abu Umara, hättest du doch gesehen, wie soeben dein Neffe Mohammed von Abu al-Hakam b. Hischam behandelt worden ist! Letzterer ging hier an Mohammed vorbei und hat ihn geschmäht und beschimpft. Dann hat er sich entfernt, ohne daß Mohammed ein Wort erwidert hätte.”

Da Allah Hamza mit seiner Gnade segnen wollte, geriet dieser in Zorn. Er ging rasch weiter, ohne sich aufzuhalten und beschloß, Abu Djahl anzugreifen, falls er ihn treffen sollte. Als er zum Heiligtum kam, sah er ihn bei den anderen sitzen. Er trat auf ihn zu und versetzte ihm mit dem Bogen einen derben Schlag. Dann rief er: „Beschimpfst du ihn auch, wenn ich mich zu seinem Glauben bekenne und seine Worte zu den meinigen mache? Gib mir den Schlag zurück, wenn du es magst!” Einige unter den Makhzumiten erhoben sich, um Abu Djahl beizustehen. Er entgegnete aber: „Laßt Abu Umara in Ruhe, denn, bei Allah, ich habe seinen Neffen arg beschimpft.” Hamza blieb auch weiterhin Moslem und folgte in allem den Lehren Mohammeds. Die Quraisch sahen ein, daß Mohammed durch Hamza eine beachtliche Verstärkung erlangt hatte. Sie unterließen in Zukunft manche Kränkung, die sie ihm bisher zugefügt hatten*.
* Die islamische Gemeinde erstarkte immer mehr durch kampfwillige, starke Männer, vor denen jedermann Respekt hatte. Sie gewann das Wohlwollen und die Achtung der Bevölkerung nicht um ihrer Liebe und ihrer Opfer willen, wie es von der Urgemeinde der Christen berichtet wird (Apg. 2,47; 3,11; 5,12-16), sondern setzte sich mit wachsender Kampfkraft durch.

Wie Utba b. Rabia von Mohammed überzeugt wurde
Nachdem Hamza sich bekehrt und die Zahl der Anhänger Mohammeds zugenommen hatte, meldete sich Utba b. Rabia in der Versammlung der Quraisch zu Wort: „Soll ich nicht zu Mohammed gehen und ihm gewisse Vorschläge machen, die er vielleicht annimmt und uns dann mit seinem Glauben nicht länger belästigt?” Die Quraischiten hießen ihn, zu ihm zu gehen, um mit ihm zu reden. Utba stand auf, ging zu Mohammed, der allein im Heiligtum saß, und sagte zu ihm: „Du weißt, mein Vetter, daß du in unserem Stamm einen beachtlichen Rang einnimmst. Nun aber bist du mit einer schweren Last gekommen, wodurch du den Stamm gespalten, uns als Toren verspottet, die Götter gelästert, die Religion geschmäht und die dahingeschiedenen Väter des Unglaubens bezichtigt hast. Höre mir zu. Ich will dir Vorschläge machen, die du dir überlegen solltest. Vielleicht erscheint dir der eine oder andere annehmbar.” Mohammed antwortete: „Sprich, Abu al-Walid, ich will dich anhören.”

Da begann Utba: „Bezweckst du, mit deinem Vorhaben Geld zu gewinnen, so wollen wir so viel zusammenlegen, daß du der Reichste unter uns wirst; willst du aber Ehre erringen, so wollen wir dich zu unserem Ältesten erwählen. Somit kann nichts ohne dich beschlossen werden. Wir wollen dich sogar als unseren Fürsten anerkennen, wenn du es wünschst. Wenn dich ein Geist besucht, den du nicht abweisen kannst, so wollen wir dir einen Arzt beschaffen und unser Gut opfern, bis du geheilt bist; denn oft bemächtigt sich ein Geist eines Menschen, bis er geheilt wird*.”
* In dieser Versuchung wurden Mohammed Geld, Ehre, Macht und Heilung angeboten. Er hat alles abgelehnt und ist seiner Überzeugung und seinem Grundsatz treu geblieben.
Die Versuchung Jesu unterscheidet sich von der Versuchung Mohammeds in dem Maße, wie die Person Jesu größer als die Person Mohammeds ist (Mt. 4,1-11). Satan selbst versuchte Jesus und bot ihm allen Reichtum und alle Schätze dieser Welt an. Jesus lehnte jedoch dieses dämonische Angebot ab. Er wollte die Menschen nicht durch Reichtum oder Wunder für sich gewinnen, sondern sie durch seinen Sühnetod erlösen.

Als Utba so gesprochen hatte, entgegnete Mohammed: „Wenn du fertig bist, so höre auch mich an: ,lm Namen Allahs des barmherzigen Erbarmers. Ich habe eine Offenbarung vom barmherzigen Erbarmer erhalten, ein Buch, das in Verse eingeteilt ist, einen arabischen Quran für ein verständiges Volk, der gute Botschaft und Drohungen enthält. Aber die meisten wenden sich ab und hören nicht zu'” (Sure Ha-Mim-Sadjda oder Fasalat 41,1-4). Mohammed fuhr dann fort, ihm eine Sure des Qurans vorzutragen, und Utba hörte ihm aufmerksam zu. Er stützte sich dabei auf seine Hände. Als Mohammed an die Stelle kam: „Fallet nieder vor Allah!” (41,37), fiel Utba mit Mohammed nieder. Mohammed sagte ihm dann: „Du hast nun gehört, was du gehört hast. Du weißt jetzt, was du zu tun hast.”
Utba kehrte darauf zu seinen Freunden zurück. Da sagte einer zum andern: „Wir können bei Allah schwören, daß Utba mit ganz anderem Gesicht kommt, als er es beim Weggehen hatte.” Nachdem er sich wieder zu ihnen gesetzt hatte, fragten sie ihn: „Was bringst du?” Er antwortete: „Ich habe, bei Allah, Worte gehört, wie sie mir früher nie zu Ohren gekommen sind. Sie haben nichts mit Dichtung, Zauberei oder Wahrsagerei zu tun. Darum vertraut mir, folgt mir, und laßt Mohammed in Frieden. Die Worte, die ich von ihm gehört habe, werden tiefen Eindruck machen. Feinden ihn die Beduinen deshalb an, so habt ihr Ruhe vor ihm durch andere. Siegt er über sie, so ist seine Herrschaft auch eure Herrschaft, seine Macht eure Macht, und ihr werdet die glücklichsten Menschen durch ihn.”

Da riefen sie: „Bei Allah, er hat dich mit seiner Zunge verzaubert!” Er erwiderte: „Dies ist meine Ansicht. Tut nun, was euch gut dünkt.”

Der Streit zwischen Mohammed und den Quraischiten spitzt sich zu
Der Islam breitete sich nun in Mekka auch unter den Familien und Sippen Quraischs aus. Die Quraischiten aber nahmen viele, über die sie Gewalt hatten, in Gewahrsam, und suchten, sie wieder vom Islam abtrünnig zu machen. Nach Sonnenuntergang versammelten sich eines Tages folgende Quraischiten an der Rückwand der Kaaba: Utba b. Rabia, Schaiba b. Rabia, Abu Sufjan b. Harb, al-Nadhr b. al-Harith b. Kaiada, ein Bruder der Banu Abd al-Dar, Abu al-Bakhtari b. Hischam, al-Aswad b. al-Muttalib b. Asad, Zama’a b. al-Aswad, al-Walid b. al-Mughira, Abu Djahl b. Hischam, Abd Allah b. Abi Umaija, al-As b. Wail, Nubaih und Munabbih, die Söhne des Hadjdjadj, die Sahmiten und Umaija b. Khalaf. Außerdem waren noch etliche von den Edelsten aus jeder Sippe dabei.

Man beschloß, nach Mohammed zu senden und mit ihm zu disputieren, um nachher entschuldigt zu sein. Als der Bote zu Mohammed kam, der ihn zu den Edlen Quraischs bringen sollte, folgte Mohammed sofort, denn er glaubte, sie wollten nun seine Worte beherzigen. Er forderte sie zur Bekehrung auf, denn ihr Widerstand tat ihm weh. Als er sich zu ihnen gesetzt hatte, wiederholten sie ihre früheren Anklagen und machten ihm dieselben Vorschläge, die ihm schon Utba unterbreitet hatte. Mohammed erwiderte: „Ich brauche keinen Arzt; auch versuche ich nicht, Geld, Ehre oder Macht zu erlangen. Allah hat mich als Gesandten geschickt und mir ein Buch geoffenbart und befohlen, euch gute Botschaft und Warnungen zu bringen. Ich habe die Botschaft meines Herrn zu euch gelangen lassen und euch treuen Rat erteilt. Nehmt ihr an, was ich euch gebracht habe, so ist es euer Glück in diesem und in jenem Leben. Verwerft ihr es, so gedulde ich mich, bis Allah zwischen mir und euch entscheiden wird.”
Da sagten sie zu Mohammed: „Willst du von allem, was wir dir angeboten haben, nichts annehmen, so weißt du, daß wir ein hartes Leben haben, da es uns mehr als andern an Wasser fehlt und unser Tal sehr eng ist. Bete daher zu deinem Herrn, der dich gesandt hat, er soll die Berge* die uns beengen, von uns entfernen, daß unser Land weiter werde, und soll es mit Flüssen segnen wie Syrien und Mesopotamien, auch soll er unsere verstorbenen Väter auferstehen lassen. Wir wollen sie dann fragen, ob du die Wahrheit sprichst oder lügst. Erklären sie dich für wahrhaftig und tust du, was wir von dir fordern, so glauben wir dir und erkennen daraus deinen hervorragenden Rang bei Allah und sehen dich als seinen Gesandten an.”
* Die Bewohner Mekkas mußten etwas von den Worten Jesu über einen bergeversetzenden Glauben gehört haben, sie und Mohammed verstanden jedoch die geistliche Bedeutung dieses Wortes nicht (Mt. 17,20; 21,21; Mk. 11,23).



Mohammed antwortete: „Ich habe euch gesagt, was mir Allah für euch aufgetragen hat. Nehmt ihr es an, so ist es euer Glück in diesem und in jenem Leben, wenn nicht, werde ich geduldig warten, bis Allah zwischen uns entscheidet.” Sie sagten: „So lasse den Himmel stückweise auf uns herabfallen, wie, nach deiner Behauptung, Allah tut, wenn es ihm gefällt; sonst glauben wir nicht an dich.” Mohammed erwiderte: „Das ist Allahs Sache. Sobald es ihm gefällt, wird er es tun.” Sie entgegneten ihm: „O Mohammed, dein Herr weiß doch, daß wir hier bei dir sitzen und gewisse Forderungen an dich stellen. Warum kommt er nicht und sagt dir, wie du uns widerlegen sollst und was er tun wird, wenn wir dir kein Gehör schenken? Wir haben gehört, ein Mann in Jamama sei dein Lehrer. Er heißt Rahman, aber, bei Allah, wir werden nie an Rahman glauben. Wir haben nun das Unsrige getan, und wir werden dich mit deinen Bestrebungen nicht länger dulden, bis wir dich oder du uns vernichten wirst. Wir werden nicht an dich glauben, bis du uns Allah und die Engel herabbringst*.”
* Die Verschwörung der Mekkaner gegen Mohammed wuchs. Sie wollten ihn töten. Er konnte ihnen aber keine über den Tod hinausreichende Antwort geben.
Die Konspiration der Pharisäer gegen Jesus war so weit gediehen, daß sie seinen Tod planten (Mt. 12,14; 26,4; 27,1; Mk. 3,6; 15,1; Joh. 5,16). Er aber sagte zu ihnen: „Diesem ehebrecherischen 87 Geschlecht wird kein anderes Zeichen gegeben werden als das Zeichen des Jona” (Mt. 12,39-40; 16,4; Lk. 11,29;). Jesus hatte seinen Tod bejaht und ihn im Glauben an seine eigene Auferstehung in einen Sieg verwandelt. Mohammed konnte keine solche siegesgewissen Worte wagen, weil es im Islam keine Heilsgewißheit gibt. Mohammed liegt noch im Grab und ist nicht auferstanden. Jesus aber lebt!

Abu Djahls Mordanschlag auf Mohammed
Nachdem Mohammed sich entfernt hatte, sagte Abu Djahl: „Ihr seht, Mohammed will nichts anderes, als unseren Glauben schmähen, unsere Väter beschimpfen, uns für töricht erklären und unsere Götter lästern. Ich nehme daher Gott zum Zeugen, daß ich mich morgen mit einem Stein, der so schwer ist, daß ich ihn noch mit einer Hand tragen kann, zur Kaaba begebe. Wenn dann Mohammed beim Gebet niederfällt, zerschmettere ich ihm damit den Kopf. Ihr mögt mich dann beschützen oder den Söhnen Abd Manafs ausliefern, damit sie nach Belieben mit mir verfahren.” Die Quraischiten antworteten hierauf: „Wirwerden dich nie ausliefern! Tu, was du willst!”

Am folgenden Tag nahm Abu Djahl einen schweren Stein und erwartete Mohammed im Heiligtum. Dieser kam des Morgens wie üblich und betete, wie er es stets in Mekka zu tun pflegte, mit dem Gesicht nach Syrien * gerichtet, zwischen dem Schwarzen Stein und dem südlichen Pfeiler, so daß sich die Kaaba zwischen ihm und Syrien befand. Alle Quraisch waren versammelt, um zu sehen, was Abu Djahl tun werde. Mohammed fiel nieder, Abu Djahl trat mit dem Stein auf ihn zu. Als er ihm aber nahe kam, wandte Abu Djahl sich plötzlich zur Flucht. Sein Gesicht war dabei ganz entstellt und voller Entsetzen. Seine Hand hielt zitternd den Stein, bis er ihn wegwarf. Die Quraisch traten ihm entgegen und fragten: „Was ist los?” Er antwortete: „Ich wollte ausführen, was ich euch gestern mitgeteilt hatte. Als ich Mohammed aber nahe kam, sah ich ein Kamel zwischen ihm und mir mit einem Kopf und mit Zähnen, wie ich sie nie an einem Kamel gesehen hatte. Es machte Miene, mich aufzufressen **!”
* Mohammed betete zuerst in Richtung nach Jerusalem, wie es bei den Juden der arabischen Halbinsel der Brauch war. Jerusalem gehörte damals zur syrischen Provinz Ostroms.

** Der übernatürliche Schutz, den Mohammed erfuhr, war kein gnädiger Schutz durch einen heiligen Engel Gottes, sondern glich dem Dazwischentreten eines Dämons, der sich in tierischer Form mit einer gräßlichen Fratze zeigte.

Al-Nadhr b. al-Harith, der weitgereiste Widersacher Mohammeds
Nachdem Abu Djahl dies berichtet hatte, erhob sich al-Nadhr b. al-Harith und sprach: „ O ihr Quraischiten, bei Allah, es ist etwas über euch gekommen, das ihr mit List nicht abwenden könnt. Als Mohammed noch jung war, war er beliebt. Er galt unter euch als der Wahrhaftigste und Treueste, bis er älter wurde und über euch brachte, was ihr wohl wißt. Da nanntet ihr ihn einen Zauberer. Aber bei Allah, er ist kein Zauberer. Er bläst nicht und macht keine Knoten, wie die Zauberer zu tun pflegen. Ihr sagtet dann, er sei ein Wahrsager, aber er ist kein Wahrsager. Er reimt nicht wie sie und redet nicht irre. Ihr behauptetet hierauf, er sei ein Dichter. Aber er ist kein Dichter. Wir kennen die verschiedenen Versarten. Sie gleichen nicht seinen Reden. Ihr nanntet ihn besessen, aber, bei Allah, er murmelt nicht, er stöhnt nicht und rast nicht wie ein Besessener. Darum überlegt euch eure Sache, denn es ist euch etwas Schwieriges zugestoßen.” Al-Nadhr war einer der bösartigsten Gegner Mohammeds unter den Quraisch, einer von denen, die ihn gekränkt und verhaßt gemacht hatten. Er hatte Hira besucht und dort die Geschichten des Rustems*und des Isfendiars* gehört. Wenn nun Mohammed in einer Gesellschaft zum Glauben an Allah ermahnte und sein Volk vor Allahs Strafe warnte, die früher bereits andere Völker getroffen hatte, ergriff er nach Mohammed das Wort und sagte: „Ich weiß schönere Geschichten als Mohammed.” Er erzählte ihnen dann von den Königen der Perser und von Isfendiar und Rüstern. Auf Nadhr beziehen sich acht Verse des Qurans, etwa der Vers: „Wenn ihm unsre Verse vorgetragen werden, sagt er: ,Das sind Fabeln der Früheren'” (al-Qalam 68,15).
* Rüstern und Isfendiar sind persische Könige, deren Heldentaten an den Lagerfeuern der Beduinen immer wieder erzählt wurden.



Wie die Quraisch die Rabbiner befragen ließen
Weil al-Nadhr die Botschaft Mohammeds unglaubwürdig machte, sandten ihn die Quraisch mit Uqba b. Abi Muait zu den Rabbinern nach Medina*. Sie sollten ihnen über Mohammed, seine Reden und Eigenheiten berichten und sie fragen, was sie von ihm hielten, zumal die Rabbiner zu den Buchbesitzern gehörten, Kenntnis der alten Bücher hatten und vieles von den Propheten wußten, wovon sie selbst keine Ahnung hatten. Sie reisten nach Medina und begaben sich zu den Rabbinern. Sie sprachen diese weisungsgemäß auf Mohammed an. Ihre Antwort lautete: „Richtet drei Fragen an ihn, die wir euch mitgeben wollen. Beantwortet er sie, so ist er ein gesandter Prophet, wenn nicht, so ist er ein Lügner. Achtet darauf, wie ihr gegen ihn verfahrt! Fragt ihn zuerst nach den Männern, die in früheren Zeiten dahingegangen sind. Es wird Wunderbares von ihnen berichtet. Fragt ihn femer nach dem Wanderer, der bis zum äußersten Osten und Westen der Erde gelangt ist, und endlich nach dem Geist. Gibt er euch Antwort, so folgt ihm, denn er ist ein Prophet. Gibt er euch keine Antwort, so ist er ein Lügner.”
* In Medina, dem ehemaligen Jathrib, gab es Stadtteile, in denen wohlhabende Juden wohnten. Unter ihnen lebten auch angesehene Rabbiner, die im ganzen Land als Gelehrte der Thora und der Kabbala bekannt waren. 


Al-Nadhr und Ukba kehrten nach Mekka zurück und sagten den Quraisch: „Wir haben jetzt eine Möglichkeit zur Klärung der Angelegenheit erhalten”, und teilten ihnen die Fragen der Rabbiner und deren Worte mit. Dann gingen sie zu Mohammed und legten ihm die drei Fragen vor. Mohammed erwiderte mit Bestimmtheit: „Morgen werde ich euch die Antwort geben.” Er wartete aber fünfzehn Nächte, ohne daß ihm eine Offenbarung gegeben wurde. Die Mekkaner versammelten sich schließlich und sagten: „Mohammed hat uns auf den folgenden Tag eine Antwort versprochen, und nun sind bereits fünfzehn Nächte vorüber.” Mohammed selbst war sehr betrübt, weil die Offenbarung ausblieb und weil die Mekkaner ihn verhöhnten. Endlich sandte Allah Gabriel zu Mohammed. Der sagte zu Gabriel: „Du bist lange ausgeblieben. Ich habe Schlimmes befürchtet.” Gabriel antwortete: „Wir können nur auf Allahs, deines Herrn Befehl zu dir herabkommen. Er hat zu gebieten über das, was in unseren Händen, was hinter uns und was dazwischen ist.” Er sprach dann die Sure al-Kahf mit dem Lob Allahs und dem Prophetentum Mohammeds, das man ihm absprechen wollte: „Lob dem Herrn, der seinem Sklaven die Schrift offenbart hat!” (al-Kahf 18,1) Sie diente als Bestätigung auf ihre Frage nach seinem Prophetentum. Außerdem sei es rechtens, „daß er mit großer Strafe von Allah drohe, mit baldiger Strafe in diesem Leben und schwerer Pein in jenem Leben” (18,2). Richtig sei auch, „daß er den Gläubigen, die Gutes tun, einen schönen Lohn verkünde, in welchem sie immer verharren dürften” (18,3), nämlich eine Wohnung in der Ewigkeit, in der sie unsterblich sind, denen, die an seine Offenbarung glauben, welche andere für Lügen halten, und die die ihnen befohlenen Werke vollbringen. „Des weiteren solle er diejenigen warnen, die behaupten, Allah habe ein Kind” (18,4). Er meinte damit die Quraisch, die die Engel als Töchter Allahs anbeteten. „Sie hatten keine Kenntnis von Allah, ebensowenig wie ihre Väter, von denen sie sich nicht trennten und deren Religion sie nicht schmähen lassen wollten” (18,5). Weiter fuhr Gabriel fort: „Du quälst dich aus Kummer über ihr Benehmen, wenn sie diese Offenbarung nicht glauben. Aber Allah sagt dir, du sollst dies nicht tun” (al-Kahf 18,6).

„Als einst Männer sich in eine Höhle flüchteten und riefen: ,Herr! Schenke uns deine Barmherzigkeit und zeige uns das Rechte!’ Da verschlossen wir (Allah) ihre Ohren jahrelang in jener Höhle. Dann weckten wir sie wieder auf, um zu sehen, ob einige die Dauer ihres Aufenthaltes ausrechnen konnten…Es waren Männer, die an Allah glaubten und denen wir unsre Leitung in vollem Maße zukommen ließen. Wir stärkten ihr Herz, als sie sich erhoben, und sagten: .Unser Herr ist der Herr des Himmels und der Erde, wir beten außer ihm keinen Gott an, sonst würden wir Unwahres reden’. Unser Volk hat andere Götter außer Allah anerkannt. Haben sie triftige Gründe dafür? Wer ist ein größerer Übeltäter als derjenige, der über Allah Lügen erdichtet! Als ihr euch von euren Göttern lossagtet und von allem, was ihr außer Allah noch angebetet habt, da sagte einer zum anderen: .Flüchtet in die Höhle, Allah wird seine Gnade über euch ausbreiten und euch Erleichterung gewähren.’ Du hättest sehen können, daß, wenn die Sonne aufging, sie sich in ihrer Höhle nach rechts gewendet hatten, und wenn sie unterging, nach links; dabei befanden sie sich in ihrer Mitte.
Das sind Zeichen Allahs: ,Wen Allah leitet, der wird geleitet; wen er irreführt, der findet keinen anderen Herrn, der ihn auf den rechten Weg führt* (al-Kahf 18,7 und al-Ghafir 40,33)’.”
* Der Islam lehrt eine doppelte Prädestination zum Heil und zur Hölle (13,27; 14,4; 16,93; 35,8 u. 74,31). Ein Moslem hat wenig Freiheit zur eigenen Entscheidung. Der weitverbreitete Fatalismus und die Verantwortungslosigkeit im Islam finden hier ihre Begründung.

Jesus aber hat uns zur Freiheit der Kinder Gottes berufen, die mit ihrem eigenen Willen das für sie bereite Heil ablehnen oder annehmen können. Christus starb anstelle aller Menschen und erwartet den Glauben an ihn als Dank für seine Stellvertretung. Die Entscheidungsfreiheit der Christen adelt sie zur Verantwortlichkeit und Aktivität.

Die christliche Prädestination findet ihre Lösung in dem Wort des Apostel Paulus, daß wir „in Christus” erwählt worden sind (Eph. 1,4). Alle Menschen sind nur wegen Jesus, ihrem Stellvertreter, erwählt. Wer an den glaubt (und mit ihm lebt) der ist gerecht (Römer 10,4).

Man meinte, die Männer in der Höhle seien wach, aber sie schliefen. Wir drehten sie bald nach rechts, bald nach links, und ihr Hund streckte seine Vorderfüße an der Tür aus (Sure al-Kahf 18, 10-19)…Sie sagten: „Es waren drei, und der vierte war ihr Hund. Andere behaupteten, es seien fünf, und der Hund sei der sechste gewesen. Wieder andere sagen, es seien sieben Männer gewesen und ihr Hund der achte. Allah kennt ihre Zahl, und nur wenige kennen sie. Laß dich nicht in einen Streit mit ihnen ein und fordere keine Auskunft von ihnen über sich; denn sie haben keine Kenntnis davon. Sage auch niemals: ,lch werde dies morgen tun’, ohne hinzuzusetzen, ,so Allah will’; gedenke deines Herrn, wenn du es vergessen hast und sprich: .Vielleicht wird mein Herr mich noch mehr in die Wahrheit leiten1″ (al-Kahf 18,22-24). „Wenn man dich etwas fragt, so sage nie, wie du es bisher getan hast: ,lch will es morgen tun’, sondern behalte dir den Willen Allahs vor, erwähne ihn, wenn du es vergessen hast und sprich: .Vielleicht wird mein Herr mich leiten und belehren über das, was ihr mich fragt’, denn du kannst nicht wissen, was ich tun will.’ Die Männer blieben dreihundert Jahre in ihrer Höhle und dann noch weitere neun Jahre” (al-Kahf 18,25).

In bezug auf ihre Frage über den Wanderer heißt es: „Sie werden dich fragen über den Zweigehörnten (Alexander der Große). Sprich! Ich will euch etwas über ihn vorlesen: Wir haben ihm Macht auf Erden und Zugang zu allem gegeben, und er ging seinen Weg (al-Kahf 18, 83-85).” Von dem Zweigehörnten wird berichtet, Allah habe ihm mehr als jedem anderen Macht gegeben. Alle Wege wurden ihm geebnet, so daß er die ganze Erde von Osten bis Westen unterjochte, bis er dahin kam, wo es keine Menschen mehr gibt.

Ein in den persischen Traditionen bewanderter Mann hat mir berichtet: „Der Zweigehörnte war ein Ägypter und hieß Marzuban b. Marzuba und stammte von Junan, dem Sohne Jafeth b. Nuh her. Sein Name war Iskander. Er ist der Erbauer von Alexandrien.”
Thaur b. Jazid hat mir von Khalid b. Madan al-Kalai, einem Zeitgenossen Mohammeds, erzählt: „Mohammed wurde einst über den Zweigehörnten befragt, und er antwortete: Es war ein Engel, der die Erde von unten mit Stricken gemessen hat.” Khalid berichtet ferner, Umar habe einst gehört, wie jemand den Zweigehörnten anrief. Da habe Mohammed gesagt: „Allah! Verzeihe! Ist es nicht genug, daß ihr Propheten anruft? Wollt ihr auch noch Engel anrufen?”
In bezug auf die Frage über den Geist heißt es: „Sie werden dich fragen über den Geist*, sprich, der Geist gehört zu den Dingen meines Herrn, euch ist nur wenig Kenntnis gegeben” (al-lsra 17,85).
* Der Geist Gottes bzw. der Heilige Geist war bei den Juden in Medina und bei den Moslems in Mekka weitgehend unbekannt. Die Gemeinde Christi aber ist der Tempel des Heiligen Geistes und lebt in seiner Kraft (Joh. 3,34-36; Apg. 1,8; 2,1-4 und Röm. 5,5; 8,1-16 ebenso 1. Kor. 3,16; 6,19 und andere). Christen leben in der Kraft und unter der Führung des Heiligen Geistes. Ein Moslem trägt keinen Heiligen Geist und kein ewiges Leben in sich. Natürliche Frömmigkeit darf nicht mit geistlicher Wiedergeburt (vgl. Joh. 3,1-8) verwechselt werden.



Als Mohammed später nach Medina kam, fragten ihn die Rabbiner: „Meintest du uns oder deine Leute, als du sagtest: Euch ist wenig Kenntnis gegeben?” Mohammed erwiderte: „Die einen wie die andern.” Da sagten sie: „Hast du nicht in deiner Offenbarung gelesen, daß uns die Thora gegeben worden ist, in der alles erklärt ist?” Mohammed antwortete: „Auch sie enthält in bezug auf die Erkenntnis Allahs nur wenig. Für euch aber genügt es, wenn ihr euch danach richtet.” Über diesen Einwand der Rabbiner heißt es im Quran: „Wenn alle Bäume der Erde Federn wären und das Meer Tinte, und hinter demselben noch sieben Meere, so würden die Worte Allahs damit doch nicht erschöpft. Allah ist mächtig und weise” (Luqman 31,27).

In bezug auf ihr ferneres Verlangen, daß er für sich Gärten, Paläste und Schätze erflehen solle und daß Allah einen Engel schicke, der für ihn zeuge und ihn verteidige, heißt es: „Sie sagen, was ist das für ein Gesandter, der Speisen ißt und auf den Märkten umhergeht. Käme doch ein Engel als Warner mit ihm herunter oder sendete ihm Allah einen Schatz oder einen Garten, von welchem ersieh ernähren könnte.” Die Ruchlosen sagen: „Ihr folgt nur einem verzauberten Menschen! ,Sieh, mit was sie dich vergleichen und wie sie vom rechten Weg abirren. Gepriesen sei Allah, der, wenn er wollte, dir noch mehr als dieses in deinem Leben spenden könnte, Gärten, unter welchen Bäche fließen, und Paläste'” (al-Furqan 25,7-10).
„Wir haben vor dir keinen Boten geschickt, der nicht Speisen gegessen hätte und auf die Märkte gegangen wäre. Wir haben einige von euch den andern zur Versuchung gesetzt, ob ihr wohl ausharret. Dein Herr sieht alles” (al-Furqan 25,20).

Auf die Worte des Abd Allah b. Abi Umaija beziehen sich folgende Verse: „Sie sagen, wir glauben nicht an dich, bis du uns aus der Erde eine Quelle hervorsprudeln läßt oder bis vor dir Gärten entstehen mit Palmen und Reben, in deren Mitte Bäche entspringen, oder bis du, wie du vorausgesagt hast, Stücke vom Himmel auf uns herabstürzen läßt oder mit Allah und Scharen von Engeln daherkommst oder bis du ein geschmücktes Haus hast oder in den Himmel steigst. Aber auch dann glauben wir nicht, bis du uns ein Buch herabbringst, das wir lesen. Sprich! Gepriesen sei mein Herr! Ich bin nur ein Mensch, ein Bote” (al-lsra 17,90-93).
Über ihre Aussage, daß ein Mann aus Jamama namens Rahman Mohammeds Lehrer sei, heißt es im Quran: „So haben wir dich zu einem Volk gesandt, wie es schon bei früheren Völkern vorgekommen ist, daß du ihnen vorliest, was wir dir geoffenbart haben, und sie leugnen den Rahman*. Sprich! Er ist mein Herr. Es gibt keinen Gott außer ihm. Auf ihn vertraue ich, und zu ihm kehrt alles zurück” (al-Ra’d 13,30).
* „Rahman” ist ein jemenitisches Wort und bedeutet die Personifizierung des Erbarmens. Dieser Begriff scheint in Mekka unbekannt gewesen zu sein, so daß er ein erklärendes Adjektiv benötigte. Dieses heißt „ rahim ” und wird als Synonym angesehen. Alle Suren beginnen außer einer mit der Formel „Im Namen Allahs, des barmherzigen Erbarmers”.

In bezug auf das Geld, das Mohammed angeboten wurde, heißt es: „Sprich! Ich verlange keinen Lohn von euch. Behaltet ihn! Allah wird mich belohnen. Er ist Zeuge aller Dinge” (al-Saba’ 34,47).
Als aber Mohammed ihre Frage beantwortet und seine Kenntnis des Verborgenen offengelegt und damit nachgewiesen hatte, daß er die Wahrheit spreche und wirklich ein Prophet sei, hielt sie der Neid davon ab, an ihn zu glauben und ihm zu folgen. Sie blieben widerspenstig gegen Allah, wandten sich mit geöffneten Augen von ihm ab und verharrten in ihrem Unglauben. Einer von ihnen sagte: „Hört diesen Quran gar nicht an. Setzt ihn herab. Vielleicht siegt ihr!” (Ha-Mim-Sadjda 41,26)


Abu Djahl sagte eines Tages im Spott über Mohammed und seine Offenbarung: „O ihr Quraischiten! Mohammed behauptet, die Zahl der Diener Allahs, die euch in der Hölle peinigen und darin festhalten, sei neunzehn. Ihr aber seid der größte Stamm. Sollten wohl hundert Mann von euch nicht je einen dieser Sklaven überwältigen können?”


Da offenbarte Allah: „Wir haben nur Engel*zu Herren der Hölle gemacht und ihre Zahl als Versuchung für die Ungläubigen bestimmt” (al-Muddaththir 74,31)*.



* Engel sind Diener Gottes, zum Schutz der Heiligen ausgesandt. Sie versuchen die Menschen nicht zur Sünde. Mohammed aber vermochte gefallene Engel bzw. Dämonen nicht von den Engeln Gottes zu unterscheiden. Wahrscheinlich ist er nie einem Herrlichkeitsengel Gottes begegnet, sondern nur mit Dämonen in Kontakt gekommen, die sich zwar als Engel ausgeben, aber in Wirklichkeit unreine Geister sind.



Nach diesen Auseinandersetzungen wandten sich die Quraischiten von Mohammed ab, sooft er laut aus dem Quran vorlesen wollte, und hörten ihm nicht mehr zu. Wenn einer trotzdem zuhören wollte während er betete, tat er dies insgeheim, aus Furcht vor den anderen, und wenn er sah, daß sie es doch merkten, so entfernte er sich, weil er befürchten mußte, von ihnen mißhandelt zu werden. 


Abd Allah b. Abbas hat gesagt: „Der Vers .Sprich dein Gebet nicht zu laut und nicht zu leise, wähle die Mitte dazwischen’ (al-lsra 17,110) sei in bezug auf diese Leute geoffenbart worden.” Er sollte nämlich nicht zu laut beten, damit die Leute sich nicht von ihm abwenden, aber auch nicht zu leise, damit jene, die ihm unbemerkt zuhören wollten, ihn verstehen, manches auffassen und zu ihrem Nutzen anwenden könnten.

Widerstand in Mekka gegen das Rezitieren von Suren
Der erste, der nach Mohammed in Mekka den Quran laut rezitierte, war Abd Allah b. Mas’ud*. Die Gefährten Mohammeds waren nämlich eines Tages versammelt und sagten: „Bei Allah, die Quraisch haben noch nie gehört, wie ihnen der Quran laut vorgetragen wurde. Wer will es tun?” — „Ich”, antwortete Abd Allah b. Mas’ud. Da sagten sie: „Wir fürchten die Quraisch. Wir müssen einen Mann haben, der einem Geschlecht angehört, das ihn schützt, wenn die Quraisch gegen ihn vorgehen.” Abd Allah entgegnete: „Laßt mich, Allah wird mich schützen!” Am nächsten Morgen ging er in das Heiligtum, als die Quraisch versammelt waren, und sagte mit lauter Stimme: „Im Namen Allahs des barmherzigen Erbarmers, der den Quran gelehrt hat” (al-Rahman 55,2). Die Quraisch horchten auf und sagten: „Der Sohn der Mutter eines Sklaven rezitiert laut eine Offenbarung Mohammeds.” Sie standen auf und schlugen ihm ins Gesicht. Er aber ließ sich nicht beirren, sondern las noch eine Weile vor und ging dann wiederzu seinen Gefährten. Sie entdeckten die Spuren der Schläge in seinem Gesicht und riefen: „Das haben wir befürchtet!” Er aber erwiderte: „Die Feinde Allahs sind mir nie verächtlicher erschienen als jetzt. Wenn ihr wollt, werde ich ihnen morgen wieder Suren rezitieren.” Sie aber antworteten: „Es ist genug, du hast sie hören lassen, was ihnen verhaßt ist.”
* Abd Allah b. Mas’ ud war einer der schreibgewandten Begleiter Mohammeds, der seine sogenannten Offenbarungen niederschrieb. 


Wie die Quraischiten auf Mohammeds Vorlesungen reagierten
Sobald Mohammed den Quran rezitierte und die Quraischiten ermahnte, an Allah zu glauben, sagten sie spottend: „Unser Herz ist eingehüllt in einer Hülle und bleibt unzugänglich für deine Ermahnungen. Unsere Ohren sind taub für deine Klugheit. Wir hören nicht, was du sagst. Zwischen uns und dir hängt ein Vorhang, der uns scheidet. Handle du nach deiner Überzeugung, wir handeln nach der unsrigen. Wir wollen nichts von dir lernen.” Auf diese Reden hin offenbarte ihm Allah: „Wenn du den Quran vorliest, lassen wir zwischen dir und denen, die nicht an ein Jenseits glauben, einen Vorhang herabfallen. Wenn du im Quran Allah als den Einzigen erwähnst, wenden sie sich um und laufen davon” (al-lsra 17,46). Wie können sie begreifen, was du von Allahs Einheit sagst, wenn ich eine Hülle um ihr Herz gelegt, ihre Ohren taub gemacht und einen Vorhang zwischen dir und ihnen herabhängen lasse? „Wir wissen, was sie hören wollen, wenn sie dir zuhören und was sie einander zuflüstern und wie die Ruchlosen sagen: ,lhr folgt nur einem verzauberten Menschen'” (al-lsra 17,101). Sieh, mit wem sie dich vergleichen, wie sie irren und den rechten Weg nicht finden. Sie spotten: „Wenn wir Knochen und Staub sind — sollen wir dann als neue Geschöpfe wieder auferstehen?” Sprich: „Seid Eisen oder Stein oder etwas anderes Geschaffenes, das euch groß scheint.” Sie fragen dann: „Wer bringt uns ins Leben zurück?” Antworte: „Derjenige, der euch zum ersten Mal geschaffen hat” (al-lsra 17,49-51).

Kampf gegen die Gefährten Mohammeds
Die Quraisch bekämpften die gläubigen Gefährten Mohammeds. Jeder Stamm erhob sich gegen die schwachen Moslems, die unter ihnen wohnten. Die Moslems wurden eingesperrt, geschlagen, mußten Hunger und Durst leiden und wurden gefesselt der Sonne ausgesetzt. Manche fielen wieder vom Glauben ab, um so den vielen Mißhandlungen zu entgehen. Andere stärkte Allah, daß sie ihnen trotzten. Bilal b. Rabah, dessen Mutter Hamama hieß, ein später von Abu Bakr Freigelassener, gehörte damals einem der Söhne Djumahs. Er war einer der wahren Gläubigen. Umaija b. Khalaf führte ihn in der Mittagshitze in das Tal bei Mekka, warf ihn auf den Rücken, legte ihm einen schweren Stein auf die Brust und rief: „So lasse ich dich sterben, wenn du nicht von Mohammed abfällst und Lat und Uzza anbetest.” Bilal schrie aber immerzu: „Einer, einer!” Hischam b. Urwa hat von seinem Vater Bilal erzählt: „Während er so gepeinigt wurde, kam Waraqa b. Naufal vorüber, und als jener, .einer, einer!’ rief, sagte Waraqa: ,Ja, bei Allah, Bilal, einer, einer!’ Dann wandte er sich an Umaija und seine Helfer von den Banu Djumah und sagte: ,Bei Allah, wenn ihr ihn tötet, werde ich an seinem Grab beten’.” Eines Tages, als sie ihn erneut mißhandelten, kam Abu Bakr vorüber, dessen Haus im Viertel der Banu Djumah stand und sagte zu Umaija: „Fürchtest du nicht Allahs Strafe wegen der Mißhandlung dieses Armen? Wie lange noch?” Er antwortete: „Du hast ihn verdorben, befreie du ihn aus seinem Elend!” — „Das will ich tun”, antwortete Abu Bakr, „ich will dir für ihn einen schwarzen Sklaven geben, der stärker ist als er und fester an deinem Glauben hängt.” Umaija willigte ein. Abu Bakr schenkte Bilal die Freiheit und mit ihm noch sechs weiteren Sklaven*. Es waren: Amir b. Fuhaira, der den Kampf von Badr und Uhud mitfocht und während der Schlacht am Brunnen Mauna als Märtyrer starb; dann Umm Ubais und Zinnira. Zinnira wurde blind, als Abu Bakr ihr die Freiheit schenkte. Die Quraisch sagten daraufhin: „Lat und Uzza haben sie blind gemacht.” Sie rief jedoch: „Sie lügen, bei dem Haus Allahs, Lat und Uzza können weder schaden noch nützen!” Und Allah schenkte ihr das Augenlicht wieder. Ferner befreite er die Nahdija und ihre Tochter. Sie gehörten einer Frau von den Banu Abd al-Dar. Abu Bakr kam an ihnen vorüber, als ihre Herrin sie mit Mehl wegschickte und schwur, sie werde sie nie freilassen. Da sagte Abu Bakr: „Ist das erlaubt?” Sie antwortete: „Es ist erlaubt, du hast sie verführt, jetzt befreie sie auch.” Er fragte dann nach dem Preis und schenkte ihnen die Freiheit. Abu Bakr sagte zu ihnen, sie könnten jetzt das Mehl der Frau zurückbringen. Da fragten sie: „Sollen wir nicht erst die Arbeit vollenden und es hernach zurückbringen?” Er antwortete: „Auch das könnt ihr tun, wenn ihr wollt.” Dann kam er an einer Sklavin der Banu Muammal, eines Zweiges der Banu Adi b. Ka’b, vorüber, die gläubig war und die Umar, der damals noch ungläubig war, fortwährend schlug, um sie wieder vom Islam abzubringen, bis er müde war. Er sagte ihr noch, daß er nur aus Müdigkeit aufhöre, sie zu prügeln. Sie erwiderte: „Das hat Allah dir angetan.” Abu Bakr kaufte sie und schenkte ihr ebenfalls die Freiheit. Mohammed b. Abd Allah b. Abi Atiq hat mir von Amir b. Abd Allah b. Zubair erzählt, der es von einem seiner Verwandten gehört hat: Abu Quhafa sagte einst zu Abu Bakr: „Mein Sohn, ich sehe, daß du immer schwache Sklaven loskaufst. Kaufe doch lieber kräftige Männer frei, die dich beschützen und dir beistehen können.” Abu Bakr erwiderte: „Ich suche bei dem, was ich tue, Allahs Wohlgefallen.”
* Die Anhängerschaft des Islam in Mekka setzte sich zu einem beachtlichen Teil aus Sklaven zusammen, die in diesem Leben keine Hoffnung mehr hatten. Sie hatten in den Verheißungen Mohammeds über die materiellen Freuden des Paradieses eine Hoffnung gefunden und deshalb den Islam angenommen. Viele von den gläubigen Sklaven wurden später freigekauft. So vermehrte sich die Zahl der Moslems schnell. 

Die Banu Makhzum führten Ammar b. Jasir mit seinen Eltern, welche zum Islam übergetreten waren, in der prallen Mittagshitze auf den heißen Boden Mekkas. Da kam Mohammed vorüber. Er soll gesagt haben: „Geduld, Geschlecht Jasirs! Euch ist das Paradies verheißen.” Ammars Mutter wurde getötet, weil sie nicht vom Islam abließ*.

*Die Zahl der Märtyrer für den Islam in Mekka wuchs.



Es war der ruchlose Abu Djahl, der die Quraisch gegen die Gläubigen aufhetzte. Wenn er hörte, daß ein starker, angesehener Mann zum Islam übergetreten war, so wies er ihn zurecht und beschämte ihn, indem er zu ihm sagte: „Du hast den Glauben deines Vaters verlassen, der besser war als du. Wir werden dich für geistesgestört und schwachköpfig erklären und deinen guten Ruf schmälern.” War der Bekehrte ein Kaufmann, so sagte er zu ihm: „Bei Allah, wir werden deine Waren nicht mehr kaufen und dich zugrunde richten.” War es ein Armer und Schwacher, so schlug er ihn und hetzte andere gegen ihn auf. Hakim b. Djubair berichtet: „Die Götzendiener schlugen die Gefährten Mohammeds, ließen sie Hunger und Durst leiden, bis sie vor Schwäche nicht mehr aufrecht sitzen konnten und endlich der Verführung erlagen und Lat und Uzza als Götter anerkannten. Sogar einen Käfer am Wege mußten sie als Gott anbeten, um ihre schwere Pein loszuwerden.“

4. Die erste Auswanderung nach Abessinien

Die erste Flucht einiger Moslems
Als Mohammed erkannte, in welcher Not sich seine Gefährten befanden, während er selbst durch Allahs und seines Onkels Schutz unbelästigt blieb, sagte er zu ihnen: „Wie wäre es, wenn ihr nach Abessinien’auswandern würdet? Dort regiert ein König, der kein Unrecht duldet. Es ist ein Land, in dem Aufrichtigkeit herrscht und in dem ihr bleiben könnt, bis Allah euch aus eurem jetzigen Zustand befreit.”
*Mohammed, der unter dem Sippenschutz Abu Talibs lebte, riet den sozial schlecht gestellten Moslems, in das christliche Abessinien auszuwandern. Die Christen dort gewährten den Moslems Asyl und retteten den Islam vor dem Untergang. Mohammed und die Moslems wußten, daß bei den Christen Aufrichtigkeit herrschte und Unrecht nicht geduldet wurde.



Aus Furcht vor Versuchung und um ihren Glauben zu retten, begannen die Gefährten Mohammeds, nach Abessinien auszuwandern. Es war die erste Auswanderung der Gläubigen.
Die Gesamtzahl der Auswanderer, ohne die kleinen Kinder, die mitgenommen oder in Abessinien geboren wurden, belief sich auf 83 Personen, wenn Ammar b. Jasir, bei dem es zweifelhaft ist, ob er dabei war, mitgerechnet wird.

Als die Moslems in Abessinien Sicherheit gefunden hatten und ohne Furcht Allah anbeten durften, weil der Nadjaschi ihnen lobenswerten Schutz gewährte, dichtete Abd Allah b. al-Harith b. Oais folgende Verse:

„Benachrichtige von mir, wandernder Reiter, jeden, der Allah und den Glauben erhofft, jeden Diener des Herrn, der in Mekka der Verführung und der Gewalt ausgesetzt ist: Wir haben gefunden, daß Allahs Land geräumig ist und daß es gegen Erniedrigung, Schmach und Schande Schutz bietet. Verharret nicht in Erniedrigung in diesem Leben, in Beschämung nach dem Tode und in Sünden, bei denen es keine Sicherheit gibt. Wir sind dem Gesandten Allahs gefolgt, sie aber haben das Wort des Propheten verworfen und sind in der Waagschale hoch hinaufgestiegen. Strafe, o Allah, die Übeltäter, lasse sie nicht aufkommen und mir Gewalt antun.”

Der Auslieferungsantrag der Quraischiten
Als die Quraisch erfuhren, daß die Gefährten Mohammeds in Abessinien Ruhe und Sicherheit sowie feste Wohnplätze gefunden hatten, beschlossen sie, aus ihrer Mitte zwei tüchtige Männer zum Nadjaschi zu schicken. Sie sollten ihn bewegen, die Moslems wieder aus dem Lande zu treiben. Die Gesandten waren Abd Allah b. Abi Rabia und Amr b. al-Aas b. Wail. Man gab ihnen reichlich Geschenke für den Nadjaschi und die Patrizier mit.

Die Auswanderer (Asylanten) erzählten: „Als wir nach Abessinien kamen, gewährte uns der Nadjaschi den besten Schutz. Wir konnten in Sicherheit unserem Glauben anhängen und Allah anbeten. Niemand tat uns etwas zuleide, noch bekamen wir irgendwelche Unannehmlichkeiten. Als die Quraisch dies vernahmen, beschlossen sie, zwei tüchtige Männer zum Nadjaschi zu senden, die die besten Waren Mekkas als Geschenke bei sich hatten. Das Kostbarste darunter war Leder, mit dem man den Herrscher und seine Obersten reichlich beschenken wollte. Abd Allah b. Abi Rabia und Amr b. al-Aas erhielten den Auftrag, zuerst den Patriziern ihre Geschenke zu überreichen und dann erst beim Nadjaschi vorzusprechen und ihm die für ihn bestimmten Gaben zu überreichen. Sie sollten ihn dann ersuchen, ihnen die Moslems ohne vorherige Anhörung auszuliefern.

Die Gesandten kamen in Abessinien an, wo sie den besten Aufenthalt bei dem hilfsbereiten Gastfreund gefunden hatten. Sie beschenkten alsbald, noch ehe sie den Nadjaschi gesprochen hatten, alle Patrizier und sagten zu ihnen: ,Es haben sich in das Land eures Königs junge, törichte Leute geflüchtet, die den Glauben ihrer Väter verlassen haben, aber euren Glauben nicht annehmen, die einen neuen Glauben gebracht haben, der uns und euch nicht bekannt ist. Darum schicken uns die Edelsten unseres Volkes zum König, um sie zurückzubringen. Wenn wir daher mit dem König darüber verhandeln, so ratet ihm, sie uns auszuliefern, ohne zu ihnen zu sprechen; denn ihr Volk kennt sie besser und weiß, was tadelnswert an ihnen ist.’
Als die Patrizier sich mit ihnen einverstanden erklärt hatten, überreichten die Gesandten ihre Geschenke dem Nadjaschi. Nachdem er sie angenommen hatte, wiederholten sie vor ihm, was sie den Patriziern gesagt hatten und baten ihn im Namen der Edelsten ihres Volkes — darunter auch Väter und Onkel der Ausgewanderten — sie auszuliefern. Die Patrizier, die den König umgaben, stimmten ihnen bei und sagten: „Gewiß kennen ihre Leute sie besser und wissen, worin sie sich vergangen haben. Darum liefere sie aus. Laß sie mit den Gesandten wieder zu den Ihrigen zurückkehren.” Die Gesandten fürchteten nichts mehr, als daß der Nadjaschi mit den Moslems sprechen würde.

Der Nadjaschi geriet in Zorn und rief: „Bei Allah, ich werde Leute, die in mein Land gekommen sind und meinen Schutz jedem anderen vorgezogen haben, nicht ausliefern, bis ich sie über das, was die Gesandten behaupten, verhört habe. Verhält es sich nach deren Aussage, so liefere ich sie aus und schicke sie zu ihrem Volk zurück, wenn nicht, so schütze ich sie und gestatte ihnen, hierzu wohnen, solange es ihnen beliebt.”

Der Nadjaschi befragt die Auswanderer*
Nun wurde ein Bote zu den Gefährten Mohammeds geschickt, um sie zu rufen. Als der Bote zu ihnen kam, versammelten sie sich, und einer fragte den anderen: „Was wirst du dem König sagen, wenn du vor ihm erscheinst?” Sie antworteten: „Wir werden sagen, was wir wissen und was uns der Prophet anbefohlen hat, es entstehe daraus, was da wolle.”
* Die Anhörung der moslemischen Auswanderer gilt als die erste öffentliche christlich-islamische Disputation.



Als sie vor den Nadjaschi kamen, der auch seine Bischöfe mit ihren Büchern um sich versammelt hatte, fragte er sie: „Was ist das für eine Religion, um deretwillen ihr euch von eurem Volke getrennt habt und die euch abhält, meinen oder irgendeinen anderen Glauben anzunehmen?” Dja’far, der Sohn Abu Talibs, antwortete hierauf: „O König, wir waren in Unwissenheit, beteten Götzen an und aßen totes Vieh. Wir begingen obszöne Dinge, verletzten die Verwandtenliebe und die Gastfreundschaft. Der Starke verzehrte den Schwachen, bis uns Allah einen Gesandten aus unserer Mitte schickte, dessen Abstammung, Wahrheitsliebe, Treue und Keuschheit wir kennen. Er forderte uns auf, Allah allein anzubeten und uns abzuwenden von Steinen und anderen Götzen, die wir und unsere Väter außer Allah noch angebetet hatten. Er befahl uns ferner, aufrichtig in unseren Worten zu sein, Treue zu bewahren, die Verwandten zu lieben und den Gast zu schützen, abzulassen von Verbotenem, kein Blut zu genießen, keine Schändlichkeiten zu begehen, nicht zu lügen, das Gut der Waisen nicht zu verzehren und tugendhafte Frauen nicht zu verleumden. Er hat uns befohlen, Allah ohne Genossen anzubeten, Almosen zu geben und zu fasten.”

Nachdem Dja’far noch andere Gebote des Islam aufgezählt hatte, fuhr er fort: „Wir hielten Mohammed für wahrhaftig und glaubten an ihn und folgten dem, was er uns als göttliche Offenbarung gebracht hat. Wir beten Allah allein an, ohne Genossen, entsagen dem, was er uns verboten und sahen als erlaubt an, was er uns erlaubt hatte. Da wurde unser Volk feindselig gegen uns und mißhandelte uns und suchte uns von unserem Glauben abtrünnig zu machen und uns zur Verehrung der Götzen zurückzuführen. Wir sollten die früheren Abscheulichkeiten wieder für erlaubt halten. Als sie Gewalt anwendeten, uns durch ihre Übeltaten in die Enge trieben und uns von unserem Glauben losreißen wollten, wanderten wir nach deinem Lande aus, zogen deinen Schutz jedem anderen vor und hofften, daß wir bei dir, o König, kein Unrecht zu dulden haben würden.”
Der Nadjaschi fragte ihn hierauf, ob er etwas von dieser göttlichen Offenbarung bei sich habe.
Als er bejahte, forderte er ihn auf, es ihm vorzulesen. Dja’far las ihm den Anfang der 19. Sure Marjam (Maria) vor. Da weinte der Nadjaschi so sehr, daß sein Bart naß wurde. Auch die Patrizier benetzten ihre Bücher mit ihren Tränen, als sie hörten, was er ihnen vorlas. Dann sagte der Nadjaschi: „Dieses und das, was Moses geoffenbart hat, kommt aus derselben Quelle. Geht! Ich bin weit davon entfernt, sie euch auszuliefern.”

Was die Auswanderer dem Nadjaschi über Isa gesagt haben
Als die Gesandten den Nadjaschi verlassen hatten, sagte Amr b. al-Aas: „Bei Allah, ich werde ihm morgen Dinge von ihnen berichten, durch die ihre grünen Pflanzen entwurzelt werden.” Abd Allah b. Abi Rabia, der andere Gesandte, meinte: „Tu es nicht, wenn sie uns auch widersprechen, so sind sie doch unsere Verwandten.”Amr erwiderte aber: „Bei Allah, ich werde dem König sagen, daß sie Isa (Jesus), den Sohn der Maria, für einen Sklaven halten.”

Am anderen Morgen begab sich Amr erneut zum Nadjaschi und sagte: „O König! Sie führen schlimme Reden gegen Christus. Schicke nach ihnen und frage sie, was sie von ihm sagen.” Der Nadjaschi ließ sie holen, um sie über Christus zu befragen.
„Dies war”, so erzählte Umm Salama weiter, „das Gefährlichste, was uns je widerfahren ist. Die Auswanderer versammelten sich, und einer sagte zum andern: ,Was wollen wir von Isa sagen, wenn wir über ihn befragt werden?’ Sie beschlossen das zu sagen, was Allah geoffenbart und was Mohammed über ihn erklärt hatte. Es möge daraus folgen, was da wolle. Als sie nun zum Nadjaschi kamen und er sie fragte, was sie von Isa hielten*, sagte Dja’far: Wir bekennen von ihm, was unser Prophet uns geoffenbart hat: ,Er ist ein Sklave Allahs, sein Gesandter, sein Geist und sein Wort, das er der Jungfrau Maria eingegeben hat’ (al-Nisa 4,171).
* Die islamischen Asylanten betonten in der für sie gefährlichen Situation die positiven Elemente des christlichen Glaubens im Quran, verschwiegen aber ihre Leugnung der Gottessohnschaft Jesu und seiner Kreuzigung. So erschienen sie dem Nadjaschi als eine christliche Sekte, nicht aber als eine antichristliche Bewegung (Sure 19,17-35; 3,34-59).



Der Nadjaschi hob ein Stück Holz von der Erde auf und sagte: ‘Jesus, der Sohn Marias, ist nicht um dieses Stück Holz mehr als das, was du von ihm gesagt hast.’ Die Patrizier, die um ihren König herumstanden, murmelten etwas. Er aber fuhr fort: ‘Murmelt nur!’ — ‘Bei Allah’, sagte er dann zu den Ausgewanderten, ‘geht nur, ihr seid sicher in meinem Land. Wer euch beleidigt, soll bestraft werden! Wer euch beleidigt, soll bestraft werden!’ wiederholte er. ‘Nicht um einen Berg Goldes möchte ich einem von euch etwas zuleide tun. Gebt den Gesandten ihre Geschenke zurück! Ich brauche sie nicht! Ich habe Allah nicht bestochen, als er mir mein Reich zurückgab; wie sollte ich mich gegen ihn bestechen lassen?’ Er hat den Gesandten kein Gehör geschenkt.
‘Warum sollte ich gegen Allah ihrem Willen folgen?’

Die Gesandten zogen beschämt und ohne etwas erreicht zu haben ab.



Wir blieben bei dem Nadjaschi in bester Ruhe und unter bestem Schutz. Während wir in seinem Lande lebten, zettelte ein Abessinier einen Aufstand gegen den Nadjaschi an. Dies versetzte uns in größte Erregung. Wir befürchteten, der Nadjaschi könnte unterliegen und sein Widersacher unser Recht nicht so anerkennen wie er. Als der Nadjaschi gegen die Rebellen auszog und nur noch der Nil die feindlichen Heere trennte, sagten die Gefährten des Propheten:,Wer wird den Kampf beobachten und uns Nachricht über seinen Ausgang bringen?’ Al-Zubair b. al-Auwam, einer der Jüngsten, meldete sich. Sie waren damit einverstanden und bliesen einen Schlauch für ihn auf. Er hing ihn um seine Brust und schwamm darauf, bis er in die Gegend kam, in der die Schlacht stattfand. Wir aber beteten zu Allah, er möge dem Nadjaschi den Sieg geben und seine Herrschaft festigen.
Während wir der Dinge harrten, die kommen sollten, kehrte al-Zubair zurück, winkte mit seinem Gewand und rief: ,Gute Botschaft! Der Nadjaschi hat gesiegt!’ Allah hatte seine Feinde vertilgt. Bei Allah, wir haben noch nie eine größere Freude erlebt als damals.
Der Nadjaschi kehrte siegreich zurück, denn Allah hatte seine Feinde zugrunde gerichtet und seine Macht gefestigt, so daß ganz Abessinien sich um ihn scharte. Wir aber hatten bei ihm den angenehmsten Aufenthalt, bis wir zu Mohammed nach Mekka zurückkehrten.”

Die Empörung der Abessinier gegen den Nadjaschi
Dja’far b. Mohammed hat mir von seinem Vater erzählt: „Eines Tages aber rotteten sich die Abessinier zusammen und warfen dem Nadjaschi vor: ,Du hast dich von unserem Glauben losgesagt*!’ Der Nadjaschi sandte zu Dja’far und seinen Genossen, rüstete ihnen ein Schiff aus und ließ ihnen ausrichten: .Geht auf das Schiff, und wenn ich in die Flucht geschlagen werde, so flieht, wohin es euch beliebt. Siege ich aber, so bleibt!’ Er schrieb dann auf ein Stück Papier: ,lch bekenne, daß es keinen Gott gibt außer Allah, daß Mohammed sein Sklave und Gesandter ist, daß Jesus sein Sklave und sein Gesandter ist, sein Geist und sein Wort, das er Maria eingehaucht hat.’ Er steckte dann diese Zeilen in die rechte Seite seines Oberkleides und zog den Abessiniern entgegen, die sich in Reihen zur Schlacht aufgestellt hatten. Er rief: ,O ihr Abessinier, habe ich nicht das höchste Recht, über euch zu regieren?’ Sie antworteten: ,Ja.’ Dann fragte er: ,Wie habt ihr meinen Lebenswandel gefunden?’ Sie antworteten: ,So gut wie möglich.’ — ,Was wollt ihr also?’ — ,Du hast unseren Glauben verlassen und Jesus einen Sklaven genannt.’ — ,Und was glaubt ihr von Jesus?’ — ,Wir sagen, er ist Gottes Sohn.’
* Der Glaube, daß Jesus nur ein Sklave Gottes war, widersprach der Auffassung der Kopten, die damals als Monophysiten die Gottheit Christi stärker herausstellten als seine Menschheit. So wirken sich die Glaubensauseinandersetzungen zwischen Arius und Athanasius und ihren Nachfolgern bis nach Abessinien hinein aus und zeigen, aufweiche Seite sich Mohammed und die Moslems geschlagen haben. Der Islam wird bisweilen als eine arianische Sekte angesehen.

Der Nadjaschi legte seine Hand auf die Brust und sagte: ,lch bekenne, daß Isa, der Sohn Marjams, nichts anderes als dies war.’ Er meinte damit was in der Schrift, auf welche er seine Hand gelegt hatte, geschrieben stand. Die Abessinier gaben sich mit diesen Worten zufrieden und gingen auseinander.”
Als der Nadjaschi starb, verrichtete Mohammed das rituelle Bestattungsgebet (in Mekka) für ihn und flehte Allah um Gnade für ihn an.

5. Der wachsende Boykott der Mekkaner

Die Bekehrung Umars b. al-Khattab
Als Amr b. al-Aas und Abd Allah b. Abi Rabia unverrichteter Dinge aus Abessinien zurückgekehrt waren und auch Hamza und Umar b. al-Khattab sich zum Islam bekehrt hatten — letzterer war ein kräftiger Mann, gegen den niemand im Kampf anzutreten wagte — fühlten sich die Gefährten Mohammeds stark genug, um es mit den Quraisch aufzunehmen.
Abd Allah b. Mas’ud berichtete: „Bis zur Bekehrung Umars konnten wir nicht bei der Kaaba beten. Als Umar* zum Islam übertrat, bekämpfte er die Quraisch, bis er bei der Kaaba beten konnte und wir mit ihm.” Umars Bekehrung fand nach der Auswanderung der Gefährten Mohammeds statt.
* Umar, der spätere zweite Kalif, war ein belesener Mann und glich in seiner Dynamik dem Apostel Paulus. Umar trug den Islam nach dem Tod Mohammeds mit seinen Armeen tief nach Nordafrika und Mittelasien hinein. Er hat Jerusalem erobert und die Zentren der Christenheit dem Islam unterworfen. Er war der Völkermissionar der Moslems, siegte jedoch nicht mit dem Wort, sondern mit dem Schwert! 


Abd al-Rahman b. al-Harith erzählt (der es von seiner Mutter, der Tochter Abi Hathma, gehört hat): „Bei Allah, wir wollten nach Abessinien auswandern. Amir war ausgegangen, um etwas zu besorgen, als Umarb. al-Khattab, der damals noch Götzendiener war und uns oft beleidigt und gekränkt hatte, herbeikam, vor mir stehen blieb und sagte: ,lhr wollt abreisen, Mutter Abd Allahs!’ Ich antwortete: ,Ja, wir wollen in das Land Allahs ziehen, bis uns Allah hilft. Denn ihr habt uns Gewalt angetan und Kränkungen zugefügt.’ Er sagte:,Allah sei mit euch!’ und ging weiter. Ich bemerkte eine Rührung in seinen Mienen, wie ich sie nie zuvor an ihm gesehen hatte. Er schien betrübt über unsere Auswanderung. Als Amir mit dem, was er besorgt hatte, zurückkam, sprach ich ihn an: .Hättest du doch eben Umar gesehen, wie er so gerührt und so traurig um unsertwillen aussah.’ Da erwiderte er: .Hoffst du etwa, er werde sich bekehren?’ Ich antwortete: ,Ja.’ Er entgegnete: ,Der, den du eben gesehen, wird sich nicht früher bekehren als die Esel al-Khattabs.’ Er zweifelte nämlich an seiner Bekehrung, weil er ihn stets derb und verstockt gegen den Glauben gefunden hatte.”

Umars Bekehrung fand wie folgt statt: Seine Schwester Fatima, Gattin des Said b. Zaid b. Amr b. Nufail, war mit ihrem Mann zum Islam übergetreten, aber heimlich aus Furcht vor Umar. Auch Nuaim b. Abd Allah al-Nahham, von den Banu Adi b. Ka’b, hatte sich zum Islam bekehrt, aber aus Furcht vor seinem Geschlecht, zu dem auch Umar gehörte, seinen Glauben geheimgehalten. Khabbab b. al-Arat kam zu Umars Schwester, um sie den Quran zu lehren. Eines Tages ging Umar mit umgürtetem Schwert aus, um sich zu Mohammed zu begeben, der etwa vierzig Personen beiderlei Geschlechts in einem Hause bei Safa um sich versammelt hatte. Unter ihnen waren auch sein Onkel Hamza, Abu Bakr, Ali und andere, die bei ihm in Mekka geblieben und nicht ausgewandert waren.
Nuaim b. Abd Allah begegnete Umar und fragte ihn, wohin er wolle. Er antwortete: „Ich will den abtrünnigen Mohammed töten, der die Quraisch gespalten, sie für Toren erklärt, ihren Glauben geschmäht und ihre Götter gelästert hat.” Da sagte Nuaim: „Bei Allah, Umar, du stürzest dich ins Verderben. Glaubst du, die Söhne Abd Manafs werden dich auf der Erde umherwandeln lassen, wenn du Mohammed erschlagen hast? Weshalb gehst du nicht lieber zu deiner eigenen Familie zurück und ordnest ihre Angelegenheiten?” Umar entgegnete: „Wen meinst du mit .meiner Familie’?” Nuaim antwortete: „Deinen Schwager und Vetter Said b. Amr und deine Schwester Fatima. Sie sind, bei Allah, zum Islam übergetreten und folgen Mohammed. Beschäftige dich zunächst mit ihnen!” Umar kehrte hierauf um und begab sich in die Wohnung seines Schwagers, in der Khabbab b. al-Arat sich mit einem Heft befand, auf dem die 20. Sure Ta-ha’geschrieben war, die er sie lehrte. Als sie Umars Stimme hörten, zog sich Khabbab zurück und Fatima verbarg das Heft in ihrem Gewand. Umar aber hatte, als er sich dem Hause näherte, gehört, wie Khabbab ihnen vorgelesen hatte. Sobald er eintrat, sagte er: „Was habe ich für ein Gemurmel gehört?” Sie sagten: „Du hast nichts gehört.”
* Einige Suren fangen mit Buchstaben an, deren Bedeutung selbst dem Moslem unbekannt ist.

Er entgegnete: „Sicherlich! Auch habe ich, bei Allah, gehört, ihr folgt dem Glauben Mohammeds.” Er schlug hierauf seinen Schwager ins Gesicht, und als seine Schwester dazwischentrat, um ihn abzuhalten, schlug er auch sie und verwundete sie. Hierauf gestanden beide: „Nun ja, wir sind Moslems geworden. Wir glauben an Allah und seinen Gesandten. Tu nun, was dir gut dünkt!”
Als Umar seine Schwester bluten sah, bereute er, was er getan hatte und erschrak darüber. Er sagte zu ihr: „Gib mir das Heft, aus welchem ich euch habe lesen hören. Ich will sehen, was euch Mohammed gebracht hat.” — Umar war nämlich des Schreibens kundig. Fatima erwiderte: „Wir fürchten, du möchtest es beschädigen.” Er versicherte aber: „Fürchte nichts!” und schwur bei seinen Göttern, daß er es ihr wieder zurückgeben wolle, sobald er es gelesen habe.

Aufgrund dieser Worte hoffte sie auf seine Bekehrung. Sie sagte daher zu ihm: „Du bist als Götzendiener unrein. Diese Schrift darf nur ein Reiner berühren.” Da stand Umar auf und wusch sich. Nun gab sie ihm das Heft, in dem die Sure Ta-ha stand. Als er den Anfang gelesen hatte, rief er aus: „Wie schön und erhaben sind diese Worte!” Als Khabbab dies hörte, betrat er ebenfalls den Raum und sagte: „Bei Allah, Umar, ich hoffe, daß Allah dich durch das Gebet seines Propheten auserkoren hat. Ich habe nämlich gestern gehört, wie er gebetet hat: .Allah, stärke den Islam durch Abu al-Hakam b. Hischam oder durch Umar b. alKhattab.’ Nun, Umar, wende dich zu Allah!” Umar erwiderte: „So führe mich zu Mohammed, daß ich mich vor ihm bekehre.” Khabbab sagte: „Er ist mit einigen Gefährten in einem Hause bei Safa.”

Umar befestigte sein Schwert an der Seite, ging zu jenem Haus und klopfte an die Tür. Einer der Gefährten Mohammeds schaute durch die Spalten der Tür. Als er Umar mit seinem Schwert an der Seite sah, lief er erschrocken zu Mohammed und meldete es ihm. Da sagte Hamza b. Abd al-Muttalib: „Laß ihn eintreten. Hat er Gutes im Sinn, so vergelten wir es ihm. Kommt er mit bösen Absichten, köpfen wir ihn mit seinem eigenen Schwert.” Mohammed ließ ihn eintreten, stand auf und ging ihm in das Vorzimmer entgegen, faßte ihn am Gürtel oder am Kragen, zog ihn zu sich heran und fragte: „Was bringt dich hierher, Sohn Khattabs? Bei Allah, ich glaube, du wirst nicht ruhen, bis Allah ein Ungemach über dich herabschickt.” Umar sagte: „Gesandter Allahs, ich bin gekommen, um zu bekennen, daß ich an Allah glaube und an seinen Gesandten und an das, was er von Allah geoffenbart hat.” Mohammed rief: „Allah ist größer!” Alle im Hause Versammelten erkannten daraus, daß Umar Moslem geworden war.

Die Gefährten Mohammeds gingen dann auseinander und fühlten sich gestärkt durch die Bekehrung Umars und Hamzas. Sie wußten, daß diese beiden Mohammed schützen und ihnen gegen ihre Feinde Recht verschaffen würden.

Die Beständigkeit Umars im islamischen Glauben
Nafi, ein Freigelassener des Abd Allah b. Umar, hat mir von Ibn Umar erzählt: „Nachdem Umar zum Islam übergetreten war, fragte er: .Welcher Quraischite kennt die Überlieferung am besten?’ Als man ihm Djamil b. Ma’mar al-Djumahi nannte, ging er des Morgens zu ihm, und ich”, so erzählt Ibn Umar, „folgte ihm, um zu sehen, was er tun werde. Ich war ein Knabe, der wohl begriff, was er sah. Als er zu Djamil kam, sagte er: .Weißt du, daß ich Moslem geworden bin und nun dem Glauben Mohammeds anhänge?’ Djamil antwortete nichts, sondern schnürte seinen Obermantel zu und ging zum Heiligtum, wo die Quraischiten versammelt waren. Auch ich folgte ihm mit meinem Vater. Hier rief er mit lauter Stimme: .Der Sohn al-Khattabs ist abtrünnig geworden!’ Umar rief aber hinter ihm her: ,Er lügt, ich bin Moslem geworden und bekenne, daß es keinen Gott gibt au ßer Allah und daß Mohammed sein Sklave und sein Gesandter ist.’
Die Quraisch fielen über ihn her und schlugen sich gegenseitig, bis die Sonne senkrecht über ihren Häuptern stand. Dann ließ sich Umar erschöpft nieder. Die Quraisch stellten sich um ihn herum, und er sagte: ,Tut, was euch gutdünkt, aber, bei Allah, wären wir dreihundert Mann stark, so würden wir so lange kämpfen, bis ihr uns oder wir euch den Platz räumen müßtet.’ Während sie so stritten, kam ein alter Quraischite in einem Oberkleid von jemenitischem Stoff und einem farbigen Unterkleid, und als er vor ihnen stand, fragte er, was es gäbe. Man antwortete ihm, Umar sei abtrünnig geworden. Da sagte er: ,Nun, laßt ihn! Er hat für sich einen Glauben gewählt, was wollt ihr? Denkt ihr vielleicht, die Banu Adi b. Ka’b werden euch ihren Feind preisgeben? Und, bei Allah, sie waren wie ein Kleid, das ihm ausgezogen wurde.'”

Abd al-Rahman b. al-Harith hat mir von einer Gattin oder von einem anderen aus der Familie Umars berichtet, Umar habe gesagt: „In der Nacht meiner Bekehrung dachte ich nach, wer wohl der erbittertste Gegner Mohammeds sein könnte und beschloß, zu ihm zu gehen, um ihm zu sagen, daß ich Moslem geworden sei. Ich fand, daß es Abu Djahl war und ging daher am folgenden Morgen zu seinem Haus und klopfte an die Tür.

Abu Djahl kam heraus und rief: .Willkommen, mein Neffe! Was führt dich her?’ Ich antwortete: ,lch bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich an Allah glaube und an Mohammed, seinen Gesandten, und daß ich seine Offenbarung für wahr halte.’ Da schlug er mir die Tür vor der Nase zu und sagte:,Allah beschäme dich und deine Nachricht!'”

In der Schlucht Abu Talibs
Als die Quraisch sahen, daß die Gefährten Mohammeds Ruhe, Sicherheit und Schutz bei dem Nadjaschi gefunden hatten, daß Umar zum Islam übergetreten war und Hamza es ebenfalls mit Mohammed hielt, ja daß der Islam sich allmählich unter vielen Stämmen ausbreitete, traten sie zusammen und beschlossen, ein Schriftstück aufzusetzen, in welchem sie sich verpflichteten, mit den Banu Haschim und Muttalib keine Ehe einzugehen und keinerlei Handel mit ihnen zu treiben. Diese Abmachung wurde zur Bekräftigung ihres Bündnisses im Innern der Kaaba angebracht.

Daraufhin zogen sich die Banu Haschim und Muttalib in die Schlucht Abu Talibs zurück. Nur Abu Lahab b. Abd al-Uzza b. Abd al-Muttalib trennte sich von den Söhnen Haschims und hielt es mit den Quraischiten. Husain b. Abd Allah erzählt: „Als Abu Lahab sein Geschlecht verließ und Genosse der Quraischiten wurde, begegnete er Hind, der Tochter des Utba b. Rabia, und sagte zu ihr: ,Nun, Tochter Utbas, bin ich nicht der Lat und Uzza beigestanden und habe ich mich nicht von denen losgesagt, die ihnen entgegen sind?’ Sie antwortete: .Freilich, Vater Utbas, Allah wird es dir lohnen.’ Ferner habe Abu Lahab unter anderem gesagt: .Mohammed verheißt Dinge nach dem Tode, an deren Bestehen, wie mir scheint, er selbst nicht glaubt. Was wird er mir in die Hand geben?’ Er blies dann in seine Hände und sprach: .Verderben über euch! Ich sehe nichts von dem, was Mohammed sagt.’ Da offenbarte Allah: ‘Mögen beide Hände Abu Lahabs verdorren!'” (Lahab 111,1).

Zwei oder drei Jahre lebten die Moslems in dieser Schlucht in großer Not, denn ihre Freunde unter den Quraisch konnten ihnen nur heimlich etwas zutragen. Einst begegnete Abu Djahl dem Hakim b. Hizam b. Khuwailid und seinem Diener, der Getreide trug. Hakim wollte es seiner Tante Khadidja, Tochter des Khuwailid, welche mit Mohammed, ihrem Gatten, in der Schlucht lebte, bringen. Abu Djahl hielt ihn fest und schrie: „Willst du den Söhnen Haschims Nahrung bringen? Bei Allah, du und deine Lebensmittel, ihr geht keinen Schritt weiter, sondern folgt mir bis nach Mekka, wo ich euch zuschanden machen werde.”

Da trat Abu al-Bakhtari b. Haschim hinzu und fragte: „Was habt ihr?” Abu Djahl erwiderte: „Er will den Banu Haschim Lebensmittel bringen.” Da sagte Abu al-Bakhtari: „Es sind Lebensmittel, die seine Tante bei ihm untergestellt hatte und die sie jetzt zurückverlangt. Willst du ihn hindern, ihr ihre eigenen Lebensmittel zu bringen? Laß den Mann in Ruhe!” Abu Djahl weigerte sich jedoch, so daß sie aneinandergerieten. Abu al-Bakhtari hob den Kinnbacken eines Kamels auf und verletzte Abu Djahl damit. Außerdem versetzte er ihm heftige Fußtritte. Hamza, der in der Nähe stand, sah alles mit an. Das war den Streitenden unangenehm. Mohammed und seine Gefährten könnten dies erfahren und Schadenfreude darüber empfinden.

Abu Lahab und seine Frau Umm Djamil
Während Allah Mohammed gegen die Quraisch schützte und die Banu Haschim und Banu Muttalib sowie sein Onkel diese hinderten, ihm Gewalt anzutun, verleumdeten und verspotteten ihn die Quraisch und feindeten ihn an. Da erschienen im Quran Offenbarungen gegen die Quraisch und gegen die, welche sich im Widerstand gegen Mohammed besonders hervortaten. Ein Teil wird mit Namen genannt und der andere Teil in die Gesamtheit der Ungläubigen eingeschlossen. Zu den ersteren gehört Abu Lahab, der Onkel Mohammeds, und seine Gattin Umm Djamil, Tochter des Harb, die Holzträgerin. Man nannte sie deshalb so, weil sie dorniges Holz auf den Weg Mohammeds legte. Darum heißt es im Quran: „Mögen die Hände Abu Lahabs verdorren und er selbst verderben. Nichts nützt ihm das Vermögen, das er sich erworben. Er wird in einem hellflammenden Feuer verbrannt und seiner Frau, der Holzträgerin, wird ein Strick von Hanf um den Hals gebunden werden*” (Lahab 111,1-5).
*Die Fluch- und Rachesure Mohammeds über seinen Onkel Lahab und dessen Frau ist ein Beispiel für den Geist des Islam, der Feinde nicht segnet, sondern verflucht, der Widersacher nicht liebt, sondern haßt (Sure 111,1-5).


Jesus hat das Gegenteil gelehrt: „Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel” (Mt 5,44; Luk. 23,34).



Als Umm Djamil die auf sie und ihren Gatten sich beziehende Offenbarung vernahm, soll sie mit einem großen Stein in der Hand auf Mohammed zugegangen sein, der mit Abu Bakr bei der Kaaba saß. Als sie dann vor ihnen stand, nahm ihr Allah das Augenlicht, so daß sie Mohammed nicht sehen konnte. Sie fragte Abu Bakr: „Wo ist dein Freund? Ich habe gehört, er tadelt mich. Bei Allah, wenn ich ihn treffe, schlage ich ihm diesen Stein auf den Mund!”

Als sie sich entfernt hatte, sagte Abu Bakr zu Mohammed: „Glaubst du, sie hat dich gesehen?” Mohammed erwiderte: „Sie hat mich nicht gesehen. Allah hat mich für sie unsichtbar gemacht.”

Das Verbot, die Götter zu lästern
Abu Djahl begegnete einst, wie mir erzählt wurde, dem Gesandten Allahs und sagte zu ihm: „Höre endlich auf, unsere Götter zu lästern, oder wir lästern den Gott, den du anbetest.” Da offenbarte Allah: „Lästere die Götter nicht, die sie anbeten, sonst lästern sie Allah in ihrer Unwissenheit” (al-An’am 6,108). Mohammed hörte sogleich auf, ihre Götter zu lästern, forderte aber jedermann auf, an Allah zu glauben*.
* Hier begegnen wir der diplomatischen Klugheit Mohammeds: Er verschwieg die negative Seite der Wahrheit, um dafür in der Lage zu sein, die positive Seite seiner Botschaft ungehindert ausbreiten zu können.



Wer Brennmaterial in der Hölle sein wird
Al-Nadhr b. al-Harith pflegte stets, sobald Mohammed in einer Versammlung den Quran vorlas und die Quraisch aufforderte, an Allah zu glauben, und sie vor dem Schicksal früherer Völker warnte, ihnen von dem starken Rüstern und von Isfendiar, den Königen der Perser, zu erzählen. Er ergänzte dann: „Bei Allah, Mohammeds Erzählungen sind nicht schöner als die meinigen. Sie sind auch nur aus alten Büchern abgeschrieben wie die meinigen.”


Da offenbarte Allah: „Sie behaupten, es seien die Schriften der Vorfahren, die er abgeschrieben oder die man ihm morgens und abends diktiert habe. Sprich: Derjenige, der die Geheimnisse des Himmels und der Erde kennt, hat sie geoffenbart. Er war gnädig und barmherzig (al-Furqan 25,5-6). Wehe dem Lügner und Übeltäter, der Allahs Verse hört, die du vorliest, und sich dann hochmütig abwendet, so, als hätte er nichts gehört; verkündige ihm schwere Pein! (al-Djathija 45,6-8) In ihrem Lügen sagen sie, es gäbe einen Sohn Gottes*. Sie sind Lügner! (Saffat37,151 u. 152)”


*Der theologische Kampf der Moslems mit den Christen spitzte sich im Zuge von Mohammeds wachsender Ablehnung der Vielgötterei immer mehr zu. Mohammed bezeichnete die Christen als Lügner, weil sie an den Sohn Gottes glaubten. Später verfluchte er sie in seinem Zorn (Sure 3,61; 9,29-30).



Mohammed saß eines Tages mit Walid b. al-Mughira und anderen Quraisch im Bereich der Kaaba. Da kam al-Nadhr b. al-Harith und setzte sich zu ihnen. Mohammed sprach eine Weile, und al-Nadhr widersprach ihm. Endlich brachte ihn Mohammed zum Schweigen und las folgenden Quranvers: „Ihr und alles, was ihr außer Allah anbetet, wird Brennmaterial in der Hölle werden, in die ihr hinabfahrt. Wären es Götter, so würden sie nicht in die Hölle fahren. Alle bleiben ewig darin. Sie stöhnen darin, werden aber nicht gehört” (al-Anbija 21,100).



Als Mohammed sich bereits erhoben hatte, kam Abd Allah b. al-Ziba’ri, der Sahmite, und setzte sich zu den andern. Da sagte al-Walid b. al-Mughira zu ihm: „Kaum hatte sich al-Nadhr zu uns gesetzt, da hat Mohammed behauptet, daß wir, und was wir außer Allah anbeten, Brennstoff der Hölle werden.” Da entgegnete Abd Allah: „Bei Allah, wenn ich ihn treffe, werde ich mit ihm disputieren. Fragt ihn, ob tatsächlich alles, was außer Allah angebetet wird, in die Hölle kommt samt dem, der es angebetet hat. Wir beten ja die Engel an, die Juden Esra* und die Christen Jesus.” Al-Walid und den andern gefiel die Rede Abd Allahs. Sie waren froh, daß er Beweise gegen Mohammeds Behauptung aufgestellt hatte. Als Abd Allahs Worte Mohammed zu Ohren kamen, antwortete er: „Nur diejenigen, die außer Allah angebetet sein wollen, werden mit denen, die sie angebetet haben, verbrannt**. Die Quraisch aber beten Satane (Tawagit) und Götzen an, die von ihnen angebetet sein wollen.” Damals offenbarte ihm Allah: „Diejenigen, denen wir früher Gutes erwiesen haben, bleiben fern von der Hölle und hören nicht ihr Getöse. Sie bleiben ewig in dem, was sie gewünscht haben” (al-Anbija 21,102), zum Beispiel Jesus, Esra, die Rabbiner und Priester, die im Gehorsam gegen Allah dahingeschieden sind.

*
* Die Juden haben zeitweise Esra so hoch verehrt, daß Außenstehende dies als Anbetung mißverstanden. 

** Die Anbetung Christi (Offbg. 5,12) stellt für Moslems einen Greuel dar. Die angedrohte Höllenstrafe im ewigen Feuer umfaßt nach islamischen Denken auch alle Christen, die Jesus anbeten.



Was ihre Behauptung anbetrifft, daß sie Engel anbeten, die Töchter Allahs seien, heißt es: „Sie sagen, der Barmherzige habe Kinder. Gepriesen sei er! Sie sind nur Sklaven, denen er seine Gnade geschenkt hat. Sie greifen ihm mit keinem Worte vor und handeln nur nach seinem Befehl” (al-Anbija 21,26).

In bezug auf Jesus erfolgte die Antwort: „Er ist nur ein Sklave, gegen den wir gütig waren und den wir den Söhnen Israels als Vorbild aufgestellt haben. Er ist ein Zeichen für die Stunde. Zweifelt nicht daran! Folgt mir, dies ist der gerade Weg” (al-Zukhruf 43,59-61). Die Wunder, die ich durch ihn vollbringen ließ, wie die Wiederbelebung der Toten und die Heilung der Kranken, ist Beweis genug für die Stunde * Darum zweifelt nicht! 

* Christus und seine Wunder gelten im Islam als Zeichen für das kommende Gericht Allahs!



Von der Auferweckung der Toten
Ubai b. Khalaf und Uqba b. Abi Muit waren enge Freunde. Eines Tages hörte Ubai, daß Uqba sich zu Mohammed gesetzt und ihm zugehört habe. Er ging daher zu ihm und sagte: „Ich habe gehört, du hast Mohammed aufgesucht und ihm zugehört. Wenn dies wahr ist, so schwöre ich, daß ich dich nicht mehr sehen will und nicht mehr mit dir sprechen werde, bis du zu ihm gehst und ihm ins Gesicht spuckst.” Uqba — Allah verfluche ihn! — der Feind Allahs, tat dies. Daraufhin offenbarte der erhabene Allah: „Eines Tages wird der Ruchlose sich in die Hände beißen und sagen: Hätte ich doch den Weg des Gesandten gewählt!” (al-Furqan 25,27).
Ubai ging einst mit einem alten Knochen zu Mohammed und fragte ihn, ob er wirklich glaube, daß dieser Knochen auferweckt würde. Er zerbröckelte ihn dabei mit der Hand und blies den Staub in den Wind. Mohammed antwortete: „Jawohl, diesen Knochen und dich selbst — wenn du einmal im selben Zustand sein wirst — wird Allah auferwecken und dich in die Hölle bringen.

Disput zwischen Mohammed und den Götzendienern Quraischs
Als Mohammed einst die Kaaba umkreiste, traten ihm al-Aswad b. al-Muttalib, Walid b. al-Mughira, Umaija b. Khalaf und al-Aas b. Wail, angesehene Männer der Quraisch, in den Weg und sagten: „Wohlan, Mohammed, wir wollen deinen Gott anbeten. Bete du dafür auch unsere Götter an, so daß wir alle gemeinsam beten. Ist das, was du anbetest, besser, so haben wir unseren Anteil daran. Ist das, was wir anbeten, besser, so erhältst du ebenfalls Anteil daran.” Da offenbarte Allah: „Sprich: O ihr Ungläubigen! Ich bete nicht an, was ihr anbetet” (al-Kafirun 109,1 u. 2).

Der Baum Zaqqum
Als im Quran vom Baume Zaqqum die Rede war, um die Ungläubigen zu bedrohen, sagte Abu Djahl: „Wißt ihr Quraisch, was der Zaqqumbaum ist, mit dem euch Mohammed bedroht? Das sind die Datteln Medinas mit Butter. Bei Allah, wenn wir solche Zaqqum bekommen können, wollen wir sie uns schmecken lassen.” Da offenbarte Allah: „Der Baum Zaqqum ist die Speise des Übeltäters, sie kocht im Leib wie geschmolzenes Metall, wie siedendes Wasser” (al-Dukhan 44,43-50). Abu Djahls Behauptung ist falsch.

Von Ihn Umm Maktum, dem Blinden
Als einst Mohammed in einem Gespräch Walid b. al-Mughira für den Islam zu gewinnen suchte, kam der blinde Ibn Umm Maktum hinzu. Auch er sprach zu Mohammed und bat ihn, aus dem Quran vorzulesen. Mohammed aber waren die Fragen des Blinden lästig, weil er sich lieber mit Walid beschäftigt hätte, dessen Bekehrung er sehnlichst wünschte. Als der Blinde immer mehr hören wollte, wandte sich Mohammed ungehalten von ihm ab und ließ ihn stehen*.
* Jesus dagegen ließ die Massen stehen, wandte sich dem Blinden zu und öffnete ihm die Augen durch sein allmächtiges Wort (Mk. 10,46-52). Mohammed hatte keine heilende Kraft. Er suchte die Starken für sich und den Islam zu gewinnen, aber nicht die Schwachen und Kranken. Er ließ den Blinden stehen, um mit den Einflußreichen zu reden. Jesus jedoch kam mit Willen zu den Armen, Elenden, Kranken, Schwachen und Sündern, um ihnen zu helfen (Mt. 11,25-30).

In Sure Abasa 80,1-11 lesen wir, daß Allah Mohammed wegen seinem Verhalten dem Blinden gegenüber tadelte!

Von denen, die aus Abessinien zurückgekehrt sind
Die nach Abessinien ausgewanderten Gefährten Mohammeds vernahmen einst das Gerücht, die Mekkaner hätten sich zum Islam bekehrt. Sie kehrten daher zurück. Erst als sie in die Nähe von Mekka kamen, hörten sie, daß es ein falsches Gerücht gewesen war. Sie konnten daher nur heimlich nach Mekka hineingehen. Einige blieben in der Stadt bis zur Auswanderung 129 Mohammeds nach Medina und kämpften bei Badr und Uhud an seiner Seite. Andere wurden zurückgehalten, so daß ihnen Badr und andere Schlachten entgingen. Wieder andere starben in Mekka. Insgesamt waren es 33 Männer, die aus Abessinien zurückkehrten*.
*Ibn Hischam verschweigt, daß Mohammed während des wachsenden Boykotts der Mekkaner eine schwache Minute hatte und neben Allah al-Lat, Uzza und Manat als weibliche Gottheiten anerkannte, ja ihre Existenz durch eine göttliche Offenbarung legitimierte (Sure 53,19-21; 22$2-53). Später hat Mohammed diese Verse als Einflüsterung Satans abgelehnt. Die „ satanische Verse ” aber blieben ein Bestandteil des Korans bis heute.


Als die Asylanten in Abessinien hörten, daß Mohammed eine begrenzte Vielgötterei zuließ, brachen sie ihren Aufenthalt im fremden Land ab und wollten wieder nach Mekka zurückkehren. Als sie jedoch zu Hause ankamen, hatte Mohammed den Kompromiß mit seinen Feinden als falsche Offenbarung widerrufen. Er habe die Einflüsterung Satans nicht von der Stimme des wahren Gottes unterscheiden können. Diese Aussage Mohammeds legt die Frage nahe, ob nicht noch weitere Verse im Quran satanischen Ursprungs sind.

Von Uthmans Mut
Salih b. Ibrahim b. Abd al-Rahman b. Auf hat mir von einem, dem es Uthman selbst erzählt hat, berichtet: „Uthman b. Maz’un sah, wie die Gefährten Mohammeds litten, während er selbst unter dem Schutz Walids ausgehen konnte, wann er wollte. Da sagte er: ,Bei Allah, es tut mir im Herzen weh, daß ich durch den Schutz eines Götzendieners in Sicherheit lebe, während meine Gefährten 130 und Glaubensgenossen wegen ihres Glaubens an Allah von allerlei Leiden und Kränkungen heimgesucht werden.’ Er ging deshalb zu Walid und sprach: ,Dein Schutz hat sich bewährt. Ich aber verzichte in Zukunft darauf.’ Al-Walid fragte: .Weshalb, mein Neffe? Hat dich einer von meinem Geschlecht beleidigt?’ Er antwortete: ,Nein, aber ich begnüge mich mit dem Schutz Allahs und bedarf keines weiteren Schutzes.’ Da erwiderte Walid: ,So geh mit mir zur Kaaba und sage dich öffentlich von meinem Schütze los, wie ich ihn dir auch öffentlich gewährt habe.’ Hierauf gingen sie zusammen zum Heiligtum, und Walid sagte: ,Uthman ist gekommen, um auf meinen Schutz zu verzichten.’ Uthman setzte hinzu: ,Es ist wahr, ich habe ihn als einen treuen und edlen Beschützer gefunden, aber ich will außer Allah keinen Beschützer mehr haben, deshalb entbinde ich ihn von seiner Verpflichtung.'”

Eines Tages rezitierte Labid b. Rabia b. Malik b. Dja’far b. Kilab in einer Gesellschaft von Quraischiten einige Verse. Als er sagte: „Alles außer Allah ist eitel”, fügte Uthman, der auch zugegen war, hinzu: „Du hast wahr gesprochen!” Labid fuhr fort: „Alles Angenehme muß einst aufhören!” Uthman erwiderte: „Du lügst, das Angenehme des Paradieses wird nie aufhören!” Da sagte Labid: „O ihr Quraischiten! Bei Allah, niemand aus eurer Gesellschaft ist bisher beleidigt worden. Seit wann darf dies geschehen?” Einer der Leute antwortete: „Nimm’s dir nicht zu Herzen, was dieser Mann sagt. Er ist einer der Toren, die sich von unserem Glauben losgesagt haben.” Uthman seinerseits wollte auch nicht schweigen, bis sie in Streit gerieten und der Mann ihm auf das Auge schlug, so daß es grün und blau wurde. Als Walid, der in der Nähe war, dies sah, bemerkte er: „Bei Allah, mein Neffe, dein Auge hätte verschont bleiben können. Du hast bisher unter meinem sicheren Schutz gelebt.” Uthman erwiderte: „Nein, bei Allah, mein anderes Auge sehnt sich nach dem, was das eine für Allahs Sache getroffen hat. Ich bin unter dem Schutz dessen, der stärker und mächtiger ist als du, Vater des Abd Schams.” Walid sagte: „Wohlan, mein Neffe, wenn du willst, stelle ich dich wieder unter meinen Schutz.” Uthman wollte davon aber nichts mehr wissen.

Von Abu Salama und seinem Schutz
Abu Ishaq b. Jasar hat mir von Salama b. Umar b. Abi Salama erzählt: „Als Abu Salama sich unter den Schutz Abu Talibs stellte, gingen Männer von den Banu Makhzum zu Abu Talib und sprachen: ,Du hast schon deinen Brudersohn gegen uns in Schutz genommen. Was brauchst du noch einen der unsrigen zu beschützen?’ Abu Talib antwortete: ,Er hat sich unter meinen Schutz begeben und ist der Sohn meiner Schwester. Wenn ich meinen Schwestersohn nicht beschütze, so könnte ich auch meinen Brudersohn nicht beschützen.’ Da erhob sich Abu Lahab und sagte: ,Bei Allah, ihr habt diesem Greis schon viel angetan. Ihr fallt stets über ihn her, weil er Leuten aus seinem Geschlecht Schutz gewährt. Laßt ihn entweder in Ruhe, oder laßt es uns in allem mit ihm halten, bis er sein Ziel erreicht.’ Sie erwiderten: ,Wir wollen nichts mehr tun, was dir mißfällt, Vater Utbas.’ Er war nämlich ihr Freund und Beistand gegen Mohammed, und dabei blieb es auch.”

Von Abu Bakr
Wie mir Muhammed b. Muslim erzählt hat, der es von Aischa gehört hatte, bat Abu Bakr, der Wahrhaftige, Mohammed um die Erlaubnis, auswandern zu dürfen, als er in Mekka vielen Beleidigungen ausgesetzt war und die Quraisch sich gegen Mohammed und seine Gefährten verbündet hatten. Mohammed erlaubte es, und er wanderte aus. Als er aber eine oder zwei Tagereisen zurückgelegt hatte, begegnete er Ibn al-Dughunna, einem Bruder der Banu al-Harith b. Abd Manat b. Kinana, der damals Herr der Ahabisch war. Dieser fragte Abu Bakr, wo er hin wolle. Er antwortete: „Mein Volk hat mich vertrieben, indem es mich beleidigt und bedrängt.” — „Und weshalb?” fragte Ibn al-Dughunna, „bist du doch die Zierde deines Geschlechts, ein Helfer bei Unglücksfällen. Du bist wohltätig und bringst Verlorenes zurück. Kehre um, ich beschütze dich!” Abu Bakr kehrte mit ihm nach Mekka zurück, und Ibn al-Dughunna erklärte den Quraischiten, daß er Abu Bakr beschütze und ihm niemand etwas zuleide tun dürfe. Daraufhin ließen sie von ihm ab.

„Abu Bakr”, so erzählte Aischa weiter, „hatte einen Betplatz vor der Tür seiner Wohnung, unter den Banu Djumah. Er war ein gefühlvoller Mann, der durch seine Quranrezitationen andere zu Tränen rührte. Junge Leute, Sklaven und Frauen blieben stehen und bewunderten ihn. Deswegen begaben sich einige Quraischiten zu Ibn al-Dughunna und beklagten sich: ,Du beschützt doch diesen Mann nicht, damit er uns kränken kann? Wenn er betet und den Quran zitiert, wird er gerührt. Außerdem ist er ein Mann von einnehmendem Äußeren. Wir fürchten daher, er möchte unsere Frauen, Kinder und Schwachköpfe verführen. Geh zu ihm und befiehl ihm, sich in sein Haus zurückzuziehen. Da mag er tun, was er will.'”
Ibn al-Dughunna ging zu Abu Bakr und sprach: „Ich habe dir nicht meinen Schutz gewährt, damit du deine Leute kränkst. Sie fühlen sich belästigt, weil du vor deinem Haus betest. Darum zieh’ dich in dein Haus zurück und tu darin, was du willst!” Abu Bakr erwiderte: „Oder ich entsage deinem Schutz und begnüge mich mit dem Schütze Allahs.” — „Nun”, erwiderte Ibn al-Dughunna, „so bestätige mir dies.” Darauf sagte Abu Bakr: „Ich entbinde dich von deiner Schutzverpflichtung.” Ibn al-Dughunna zeigte dies den Quraischiten an und überließ es ihnen, was sie gegen Abu Bakr unternehmen wollten.

Wie die Ächtung der Banu Haschim und Muttalib aufgehoben wurde
Die Banu Haschim und Muttalib hatten sich in die Schlucht zurückgezogen, nachdem die Quraisch sie geächtet hatten. Doch taten sich einige Quraischiten zusammen, um die Ächtung wieder aufzuheben. Der Eifrigste war Hischam b. Amr b. Rabia, denn er war mütterlicherseits ein Brudersohn des Nadhla b. Haschim und fühlte sich daher zu den Banu Haschim hingezogen. Auch genoß er großes Ansehen unter seinen Leuten. Wie ich gehört habe, kam er eines Nachts an den Eingang der Schlucht, in der die Banu Haschim und Muttalib lebten. Er hatte ein mit Lebensmitteln beladenes Kamel bei sich, nahm ihm den Zaum ab, versetzte ihm einen Hieb und trieb es in die Schlucht. Ein andermal belud er das Kamel mit Stoffen und tat dasselbe. Hischam begab sich zu Zuhair b. Abi Umaija, dessen Mutter Atika, eine Tochter Abd al-Muttalibs war und sagte: „Gefällt es dir, daß du dich nach Herzenslust nährst und kleidest und Ehen schließt, während deine Onkel mütterlicherseits, wie du wohl weißt, nichts kaufen und verkaufen können und keine Ehen schließen dürfen? Bei Allah, wären sie die Onkel des Abi al-Hakam b. Hischam und du hättest von ihm verlangt, was er dir zugemutet hat, er würde dir nie nachgegeben haben.” Zuhair erwiderte: „Wehe dir, Hischam, was kann ich als einzelner tun? Fände ich einen zweiten, so würde ich die Ächtung rückgängig zu machen suchen.” Hischam erwiderte: „Du hast in mir einen zweiten Mann gefunden!” Da sagte Zuhair: „Suche uns noch einen dritten!” Hischam begab sich zu Mut’im b. Adi und sprach: „Ist es dir recht, daß zwei Zweige der Söhne Abd Manafs vor deinen Augen zugrunde gehen? Bist du mit den Quraischiten darin einer Meinung? Bei Allah, wenn ihr ihnen dieses einräumt, so wirst du bald erfahren müssen, was sie gegen euch selbst vermögen.” Mut’im erwiderte: „Was soll ich tun? Ich bin nur ein Mann.” Da entgegnete Hischam: „Ich habe einen zweiten gefunden.” — „Wen?”—„Mich selbst.”—„So suche noch einen dritten!”—„Das ist bereits geschehen!” — „Wer ist es?” — „Zuhair b. Abi Umaija.” — „So suche noch einen vierten!” Hischam begab sich zu Abu al-Bakhtari und sagte zu ihm dasselbe wie zu Mut’im. Jener fragte: „Wird mich noch jemand in dieser Sache unterstützen?” Hischam nannte ihm Zuhair, Mut’im und sich selbst. Da sagte jener: „Suche noch einen fünften!” Da ging Hischam zu Zama b. al-Aswad und sprach mit ihm über die Verwandten und die Rechte der Geächteten. Zama fragte: „Wer ist noch einverstanden mit dem, was du mir vorschlägst?” Hischam nannte ihm die übrigen, und sie verabredeten eine nächtliche Zusammenkunft auf dem vorspringenden Teil von Hadjun, einer Anhöhe bei Mekka. Dort verpflichteten sie sich gegenseitig, alles aufzubieten, um die Ächtung rückgängig zu machen. Zuhair erbot sich, den Antrag zu stellen.

Am folgenden Morgen, als die Quraisch sich wie gewöhnlich versammelten, erschien Zuhair in einem weiten Gewand und umkreiste die Kaaba siebenmal. Dann wandte er sich an die Versammelten: „Ihr Bewohner Mekkas, ist es recht, wenn wir uns gut nähren und kleiden, während die Banu Haschim zugrunde gehen und wir jeden Umgang mit ihnen meiden? Bei Allah, ich werde nicht ruhen, bis diese ungerechte Vereinbarung, die unseren Stamm spaltet, zerrissen wird.”

Abu Djahl, der auf der einen Seite des Heiligtums saß, erwiderte: „Du lügst, die Ächtung wird nicht aufgehoben.” Da sagte Zama b. al-Aswad: „Du bist, bei Allah, ein größerer Lügner. Wir waren nicht damit einverstanden, als diese Abmachung aufgeschrieben wurde.” Abu al-Bakhtari entgegnete: „Zama hat recht, wir sind nicht damit einverstanden und bestätigen die Ächtung nicht.” Al-Mut’im fügte hinzu: „Ihr beiden habt die Wahrheit gesprochen. Wer etwas anderes sagt, hat gelogen. Wir sagen uns vor Allah von der Ächtung los und von dem, was in dem Schriftstück festgelegt ist.”

Als Hischam das bekräftigte, rief Abu Djahl: „Die Sache ist in der Nacht, in welcher an einem anderen Ort Rat gehalten wurde, abgemacht worden.” Daraufhin erhob sich al-Mut’im, um das Blatt zu zerreißen, doch der Wurm hatte es bereits zernagt. Nur noch die Worte „In deinem Namen, Allah” waren lesbar. Schreiber des Blattes war Mansur b. Ikrima, dessen Hand, wie behauptet wird, später verdorrt ist.

Wie Mohammed Rukana bekehrte
Abu Ishaq b. Jasar hat mir erzählt: Rukana b. Abd Jazid, der stärkste Mann unter den Quraischiten, befand sich eines Tages allein mit Mohammed in einer Schlucht bei Mekka. Mohammed sprach: „Fürchtest du Allah nicht, Rukana, und folgst meinem Rufe nicht?” Er antwortete: „Wüßte ich, daß du die Wahrheit sagst, so würde ich dir folgen.” Mohammed entgegnete: „Wirst du, wenn ich dich zu Boden werfe, glauben, daß ich die Wahrheit sage?” — „Ja.” — „So steh auf und laß uns miteinander ringen!” Rukana erhob sich, um mit Mohammed zu ringen. Mohammed versetzte ihm einen Schlag, so daß er ohnmächtig zu Boden fiel. Rukana wollte aber den Kampf wieder aufnehmen, doch Mohammed warf ihn abermals zu Boden. Da sagte Rukana: „Bei Allah, das ist wunderbar, wie kannst du mich zu Boden werfen?” Mohammed erwiderte: „Wenn du Allah fürchtest und meinen Glauben annimmst, werde ich dir noch ein größeres Wunder zeigen.” — „Welches?” — „Ich werde den Baum, den du dort siehst, herbeirufen, und er wird zu mir kommen.” Auf Verlangen Rukanas rief Mohammed den Baum, und er kam und blieb vor ihm stehen, bis er ihn wieder an seine Stelle zurückgehen hieß, was er dann auch tat. Rukana kehrte zu seinen Leuten zurück und sagte: „O ihr Söhne Abd Manafs, ihr könnt mit eurem Freund alle Bewohner der Erde verzaubern, denn, bei Allah, ich habe nie einen größeren Zauberer gesehen.” Er erzählte ihnen dann, was Mohammed getan und was er selbst gesehen hatte *.
* Sollte diese Geschichte wahr sein, so stellt sich die Frage, ob Mohammed nicht doch ein Zauberer war und über dämonische Kräfte verfügte.

Ankunft einer Abordnung von Christen aus Abessinien
Zu Mohammed kamen, als er noch in Mekka war, etwa zwanzig Christen, nachdem sie in Äthiopien Berichte von ihm gehört hatten. Sie fanden ihn in der Anbetungsstätte, setzten sich zu ihm, sprachen ihn an und stellten ihm Fragen, während die Männer von Quraisch an ihren Treffpunkten bei der Kaaba standen. Nachdem sie den Gesandten Allahs nach allem gefragt hatten, was sie von ihm wissen wollten, rief er sie zur Unterwerfung unter Allah und rezitierte vor ihnen einige Qurantexte. Als sie den Quran hörten, wurden ihre Augen von Tränen feucht. Sie nahmen sogleich Allah an, glaubten an ihn, vertrauten seiner Wirklichkeit und erfuhren, was von ihm in ihrem Buch geschrieben stand. Sie hatten Mohammed kaum verlassen, da trat ihnen Abu Djahl b. Hischam mit einigen Männern von Quraisch in den Weg und sagte zu ihnen: „Gott vereitle eure Abordnung! Die Leute eurer Religion, zu denen ihr gehört, haben euch geschickt, damit ihr ihnen Nachrichten von diesem Mann (Mohammed) bringt. Ihr aber habt euch zu ihm gesetzt und sogleich eure Religion verlassen, ohne euch mit ihm richtig vertraut gemacht zu haben. Eine dümmere Abordnung hatten wir noch nie gesehen!”

Andere sagten: „Die Abordnung kam aus dem Wadi Nadjran (im Nordjemen). Gott weiß, um wen es sich in Wirklichkeit handelte!” Über diese Abordnung wurden folgende Verse herabgesandt: „Diejenigen, denen wir die Schrift früher schon gegeben haben, sie glauben daran; und wenn sie ihnen vorgetragen wird, dann sprechen sie: Wir glauben daran. Wahrlich, das ist die Wahrheit von unserem Herrn. Wirklich, wir waren schon früher Moslems* (an Gott Ausgelieferte)” (al-Qasas 28,53).
*Die missionarische Aktivität der islamischen Asylanten in Abessinien hatte Nachwirkungen. Einige Christen wollten den Islam prüfen und besuchten Mohammed, um ihn kennenzulernen. Es gibt immer gutmütige und oberflächliche Christen, die religiöse Halbwahrheiten und eindrückliche Frömmigkeitsformen als Grundlage eines rechten Glaubens ansehen. Das Evangelium aber lehrt uns, daß selbst die tiefste Religiosität keinen Menschen rettet. Allein das Blut des gekreuzigten Gottessohnes schafft jene Gerechtigkeit, die vor Gott gilt (vgl. Röm. 1,17). Alle anderen Religionen eröffnen keinen Weg zu Gott. Sie bleiben im Irrtum der Selbsterlösung und in ihrer Gesetzlichkeit gefangen.



„Sollte Allah gerade diese begnadet haben…”
Einst saß Mohammed bei der Kaaba, umgeben von den Geringgeachteten unter seinen Genossen, u. a. Khabbab, Ammar, Abu Fukaiha Jasar, ein Freigelassener des Safwan b. Umaija b. Muharrith und Suhaib. Da sprachen die Quraischiten spöttisch untereinander: „Das sind also seine Gefährten, wie ihr seht. Sollte Allah gerade diese aus unserer Mitte durch Leitung und Erkenntnis der Wahrheit begnadet haben? Wäre tatsächlich etwas Gutes an Mohammeds Offenbarung, so wären uns diese Leute nicht zuvorgekommen. Allah hätte sie nicht vor uns ausgezeichnet.”
Da offenbarte Allah: „Verstoße nicht diejenigen, die ihren Herrn morgens und abends anbeten, die sein Wohlgefallen suchen. Du gehörst zu den Übeltätern, wenn du sie zurückweist” (al-An’am 6,52).

Mohammed und der Christ Djabr
Wie mir berichtet wurde, saß Mohammed oft bei Marwa (in der Nähe von Mekka) vor der Bude eines jungen Christen, der Djabr* hieß und Sklave der Banu al-Hadhrami war. Es hieß daher, Djabr habe Mohammed vieles von dem gelehrt, was dieser später offenbart habe. Da erschien der Quranvers: „Wir wissen, daß sie sagen, ein Mensch lehre ihn, aber die Sprache dessen, auf den sie hinweisen, ist fremd, während dies klares Arabisch ist” (al-Nahl 16,103).
* Der Sklave Djabr ist einer der namentlich bekannten Christen, bei denen Mohammed stundenlang in einer Gemischtwarenhandlung saß, um Belehrung von ihm über das Evangelium zu erfragen. Die Mohammed feindlich gesinnten Mekkaner spotteten und nannten Djabr den „Heiligen Geist” Mohammeds, der ihn inspiriere und von dem er Teile seiner Offenbarungen empfange.



Wie die Sure al-Kauthar geoffenbart worden ist
Wie mir berichtet worden ist, sagte al-Aas b. Wail der Sahmite, wenn von Mohammed die Rede war: „Laßt ihn! Er hat keine Nachkommen! In ein paar Jahren wird sein Andenken erlöschen, und ihr habt Ruhe vor ihm.” Darauf offenbarte Allah: „Wir haben dir al-Kauthar* gegeben, welcher besser ist als diese Erde samt allem, was darauf ist” (al-Kauthar 108,1).
* Al-Kauthar heißt „das Große, Erhabene und Zahlreiche”. AlKauthar ist auch der Name eines Paradiesflusses der mehrere Nebenflüße haben soll. Sein Wasser schmecke süß wie Honig und sein Flußbett sei mit Edelsteinen ausgelegt.


6. Die Vision Mohammeds von seiner Himmelfahrt

Mohammeds nächtliche Wanderung und Himmelfahrtsvision
Mohammed wurde von der Anbetungsstätte in Mekka zum Tempel in Jerusalem getragen, als der Islam sich schon unter den Quraischiten und anderen Stämmen Mekkas ausgebreitet hatte. Über diese Reise gibt es Überlieferungen von Abd Allah b. Mas’ud, von Abu Said al-Khudri, von Aischa, der Gattin Mohammeds, von Muawia b. Abi Sufjan, von Hassan b. Abi al-Hassan al-Basri, von Ibn Schihab al-Zuhri, von Qatada, von anderen Traditionsträgern und von Umm Hani, der Tochter Abu Talibs. Wir haben hier zusammengefaßt, was die verschiedenen Männer und Frauen darüber berichtet haben.



Diese Reise stellte eine Versuchung und Prüfung der Moslems auf Befehl Allahs, des Erhabenen und Mächtigen, dar. Sie bedeutete eine Belehrung für Verständige, eine Leitung, Gnade und Befestigung für die Gläubigen. Allahs Befehl war geschehen. Mohammed mußte aufbrechen, „damit Allah ihm von seinen Wundern zeige” (al-lsra 17,1), so viel er wollte, und Mohammed einen Blick auf seine Macht und Herrschaft werfe, kraft derer er tut, was ihm gefällt.

Abd 

Allah b. Mas’ud erzählt: „Man führte Mohammed den Buraq*vor, jenes Wundertier, das schon andere Propheten vor ihm getragen hatte und das seine Hufe so weit auseinandersetzt, wie das Auge reicht. Sein Freund (Gabriel) hob ihn hinauf und begleitete ihn. Mohammed sah die Wunder zwischen Himmel und Erde. Schließlich kam er nach Jerusalem. Hier begegnete er Abraham, Moses, Christus und anderen Propheten, die sich um seinetwillen einfanden, und er betete mit ihnen**.
*Buraq heißt „der Blitzschnelle Glänzende ” und bedeutet im Islam ein weißes Reittier, das die Propheten bestiegen (Sure 17,1). Es soll größer als ein Esel und kleiner als ein Maultier sein und zwei Flügel haben. Als Mohammed bei seiner Himmelfahrt dieses Wundertier bestieg, war er von Gabriel und Michael begleitet (Ali Mansuru’s Nasif: Scharhu kitabi’t-tadj).


** Abraham, Mose und Christus sind im Islam die wichtigsten Propheten in der Zeit vor Mohammed. Indem Jesus im Zusammenhang mit Abraham, Mose und Mohammed erwähnt wird, wird er auf das Niveau der übrigen Propheten degradiert.
In Wirklichkeit sind Mose und Elia dem Herrn Jesus auf dem Berg der Verklärung erschienen. Die beiden Vertreter des Alten Bundes haben Jesus auf seinem Weg zum Kreuz bestärkt, damit er die Versöhnung der Welt vollende (Mt. 17,3-4; Mk. 9,4-5; Luk. 9,30-31). Mohammed selbst wurde nie verklärt, sondern blieb auch während seiner Vision bzw. seines Nachttraums ein normaler Mensch.



Man brachte ihm drei Gefäße. Das eine enthielt Milch, das andere Wein und das dritte Wasser. Mohammed hörte, während die Gefäße vor ihm aufgestellt wurden, eine Stimme, die ihm zurief: „Wenn du das Wassergefäß nimmst, wirst du und dein Volk ertränkt. Greifst du nach dem Wein, so wirst du und dein Volk dem Irrtum verfallen. Ziehst du aber die Milch vor, so wirst du und dein Volk recht geleitet.”


„Ich nahm daher”, erzählt Mohammed selbst, „das Milchgefäß und trank daraus, und Gabriel sagte zu mir: Du wirst recht geleitet und dein Volk mit dir, o Mohammed!”

Al-Hassan hat mir erzählt, Mohammed habe einst gesagt: „Während ich im Heiligtum schlief, kam Gabriel und stieß mich mit dem Fuß. Ich setzte mich aufrecht, sah aber nichts. Ich legte mich daher wieder auf mein Lager zurück. Abermals stieß mich Gabriel mit seinem Fuß. Da erhob ich mich. Als ich aber nichts sah, legte ich mich wieder nieder. Er stieß mich zum dritten Mal, und als ich mich aufrecht setzte, faßte er meinen Arm. Ich stand auf, und er führte mich an die Tür der Anbetungsstätte. Da stand ein weißes Tier, der Größe nach zwischen einem Maulesel und einem Esel. Es hatte zwei Flügel an den Hüften, unter welchen die Hinterfüße hervortraten, während seine Vorderbeine so weit reichten, wie das Auge sehen konnte. Gabriel hob mich hinauf und begleitete mich. Er blieb stets an meiner Seite.”
Von Qatada ist mir berichtet worden, Mohammed habe erzählt: „Als ich mich dem Tier näherte, um es zu besteigen, wurde es bockig. Da legte ihm Gabriel seine Hand auf die Mähne und sagte: ,Schämst du dich nicht, Buraq? Bei Allah, es hat dich bisher kein edlerer Sklave Allahs bestiegen als Mohammed.’ Buraq schämte sich derart, daß er ganz mit Schweiß bedeckt wurde. Er blieb dann ruhig stehen, bis ich ihn bestiegen hatte.”

Al-Hassan berichtet: „Mohammed reiste in Begleitung Gabriels nach Jerusalem. Dort fand er Abraham, Moses, Christus und andere Propheten. Mohammed ging auf sie zu und betete mit ihnen. Dann brachte man ihm zwei Gefäße. In dem einen war Wein und im andern Milch. Mohammed nahm das Gefäß mit Milch und trank daraus. Den Wein ließ er unberührt. Da sagte ihm Gabriel: Du bist von deiner Erschaffung an recht geleitet, dein Volk ist recht geleitet, und der Wein ist euch verboten.”
Mohammed kehrte dann nach Mekka zurück und erzählte am folgenden Morgen den Quraischiten seine Erlebnisse. Die meisten Leute sagten: „Das ist doch, bei Allah, eine klare Sache! Mohammed will in einer Nacht die Reise nach Syrien hin und zurück gemacht haben, während eine Karawane zwei Monate dazu braucht.”
Viele Moslems fielen wieder vom Islam ab. Andere kamen zu Abu Bakr und fragten: „Was hältst du von deinem Freund, der behauptet, diese Nacht in Jerusalem gewesen zu sein? Er habe dort gebetet und sei wieder zurückgekehrt.” Abu Bakr antwortete: „Ihr dichtet ihm Lügen an.” Da entgegneten sie: „Er ist im Bereich der Kaaba und erzählt selbst davon.” Abu Bakr erwiderte: „Bei Allah, wenn er es selbst sagt, so ist es auch wahr, und was ist so Unglaubliches daran? Glaube ich doch, wenn er mir sagt, die Offenbarung komme vom Himmel zur Erde herab in einer Stunde des Tages oder der Nacht. Und dies bedeutet doch noch viel mehr als das, was euch so wunderbar erscheint.”

Er begab sich dann zu Mohammed und fragte: „Hast du, o Prophet Allahs, diesen Leuten gesagt, du seist in Jerusalem gewesen?” Er antwortete: „Ja.” Da sagte Abu Bakr: „Beschreibe mir die Stadt. Ich bin schon dort gewesen.” Mohammed fing dann an, Jerusalem zu beschreiben, und sooft er Einzelheiten eines Stadtteils geschildert hatte, rief Abu Bakr: „Du hast wahr gesprochen! Ich bezeuge, daß du ein Gesandter Allahs bist.” Als er geendet hatte, sagte er zu Abu Bakr: „Du, Abu Bakr, bist der Wahrhaftige.” Von diesem Tage an wurde er „der Wahrhaftige” genannt.
Hassan berichtet ferner: „Gegen diejenigen, welche wegen dieses Vorfalls vom Islam abfielen, offenbarte Allah: ,Wir haben das Gesicht, das wir dir gezeigt haben, nur zur Versuchung für die Menschen gemacht, ebenso den im Quran verfluchten Baum. Wir warnen sie, aber das macht sie nur noch widerspenstiger'” (al-lsra 17,60).
Einer aus der Familie Abu Bakrs hat mir erzählt, Aischa habe gesagt: „Mohammeds Körper wurde nicht vermißt, sondern Allah ließ seinen Geist reisen.” Jaqub b. Utba b. al-Mughira b. al Akhnas hat mir berichtet, Muawia b. Abi Sufjan habe, wenn man ihn über Mohammeds nächtliche Reise befragte, geantwortet: „Es war eine wahre Vision von Allah.”
Al-Zuhri berichtet nach dem, was er von Said b. al-Musaijab gehört hat: „Mohammed hat seine Gefährten Abraham, Moses und Christus beschrieben, nachdem er sie in dieser Nacht gesehen hatte. Von Abraham sagte er: ,lch habe nie jemanden gesehen, der mir selbst ähnlicher wäre oder dem ich ähnlicher wäre. Moses war ein Mann von großer Statur, beweglich, mit krausem Haar und gebogener Nase, als wäre er vom Stamme Schanua.’
Christus habe weiss-rötlich ausgesehen, von mittlerer Größe, mit wallendem Haar, strahlendem Gesicht, als käme er aus einem Bad. Man hatte den Eindruck, es tropfe Wasser von seinem Kopf, was aber nicht der Fall ist*.”
* Mohammed schien etwas von der Taufe Jesu durch Johannes im Jordan gehört zu haben.


Wahrscheinlich hatte Jesus eine hellbraune Haut. Wenn er anders als die übrigen Juden ausgesehen hätte, wäre er als Bastard verschrien und abgelehnt worden.

Beschreibung Mohammeds
Umar, ein Freigelassener des Ghufra, hat von Ibrahim b. Mohammed b. Ali b. Abu Talib berichtet, Ali habe folgende Schilderung von Mohammed gegeben: „Er war weder zu lang noch zu kurz, von mittlerer Statur. Sein Haar war nicht zu kraus, nicht zu wallend. Sein Gesicht war nicht zu voll und nicht zu fleischig. Es war weiß mit Röte gemischt. Er hatte schwarze Augen, lange Augenwimpern, einen starken Kopf und feste Schulterknochen, wenig feine Haare an der Brust, volle Hände und Füße. Wenn er ging, setzte er die Füße nicht fest auf, als ob er sich auf abschüssigem Boden bewegte; wenn er sich umdrehte, tat er es ganz. Er ging so leicht, als schwebe er auf dem Wasser, und wenn er nach einer Seite hinüberblickte, drehte er sich um. Zwischen seinen Schultern war das Siegel des Prophetentums*. Seine Hände waren die freigiebigsten aller Menschen. Seine Brust war die mutigste. Seine Zunge war die wahrhaftigste **. Er war der Treueste gegen seine Schützlinge, der Sanfteste und Angenehmste im Umgang. Wer ihn plötzlich sah, war von Ehrfurcht erfüllt. Wer ihm näherkam, liebte ihn. Wer ihn beschrieb, mußte sagen: Ich habe vor und nach ihm nicht seinesgleichen gesehen.”
* Das Siegel des Prophetentums findet verschiedene Auslegungen in bezug auf Form und Farbe. Gelegentlich wird ein Muttermal als ein Siegel angesehen.


** Mohammed erlaubte den Männern die Lüge legal im Krieg, zur Versöhnung zweier Feinde, den eigenen Frauen gegenüber und den Frauen ihren Männern gegenüber (Al-Tirmidhi, Kitab al-birr, 26; Musnad Ahmad b. Hanbai, 3,457).

Von der Himmelfahrt und den Wundern, die Mohammed dabei gesehen hat
Ein zuverlässiger Mann hat mir von Abu Said al-Khudri berichtet, er habe gehört, wie Mohammed erzählte: „Als ich in Jerusalem alles Nötige vollendet hatte, brachte man mir eine Leiter. Nie hatte ich etwas Schöneres gesehen. Es ist die, nach welcher die Toten bei der Auferstehung ihre Blicke richten. Mein Freund (Gabriel) ließ mich hinaufsteigen, bis wir an eines der Himmelstore kamen, welches das Tor der Wache hieß. Hier stand ein Engel, der Ismail hieß. Er hatte über 12 000 Engel zu gebieten, denen wieder je 12 000 Engel untergeordnet waren.”
Mohammed sagte: „Als ich in den untersten Himmel kam, begegneten mir alle Engel mit lachendem, heiterem Gesicht und wünschten mir Glück. Nur ein Engel wünschte mir Glück, ohne daß er lachte oder vergnügt aussah. Ich fragte daher Gabriel, warum gerade dieser Engel kein heiteres, lachendes Gesicht zeige wie die anderen. Gabriel antwortete: ,Er würde dir entgegenlachen, wenn er es je vor einem anderen getan hätte oder tun würde. Aber dieser Engel lacht nie. Es ist Malik, der Herr der Hölle.’ Da sagte ich zu Gabriel, der an diesem Ort nach Allahs Willen zu gebieten hatte und dem man vertrauen konnte: .Willst du ihm nicht befehlen, mir das Feuer der Hölle zu zeigen?’ Er sagte zu und erteilte Malik den entsprechenden Befehl. Dieser hob den Deckel beiseite, und das Feuer tobte und stieg in die Höhe, so daß ich glaubte, es würde alles verzehren, was ich vor mir sah. Ich bat daher Gabriel ihm zu befehlen, es wieder zurückzudrängen. Gabriel tat dies und Malik rief: .Weiche zurück!’ Da kehrte das Feuer dahin zurück, wo es hergekommen war, und mir erschien es, als wenn plötzlich ein Schatten auf alles gefallen wäre. Dann schob Malik den Deckel wieder darüber.”

Nach Abu Saids Bericht hat Mohammed gesagt: „Als ich in den untersten Himmel kam, sah ich einen Mann sitzen, dem die Seelen der Menschen vorgestellt wurden. Er freute sich mit den einen und sagte: .Gute Seele, aus gutem Körper herausgekommen.’ Bei anderen machte er ein finsteres Gesicht und rief: ,Pfui, häßliche Seele, aus häßlichem Körper herausgekommen.’ Ich fragte Gabriel: ,Wer ist dieser Mann?’ Er antwortete: .Dieser ist dein Vater Adam *, dem die Seelen seiner Nachkommen vorgestellt werden. Er freut sich mit den Gläubigen und sagt: „Gute Seele aus gutem Körper.” Bei den Ungläubigen wird er betrübt und mit Abscheu erfüllt und sagt: „Häßliche Seele aus häßlichem Körper.'”
*Nach islamischer Auffassung gehört Adam zu den Gläubigen und war bereits ein Moslem. Diese Auffassung der Moslems beruht auf einer Überlieferung von Mohammed, was in den Köpfen der späteren Generationen Verwirrung hervorrief. Daher gibt es eine Unzahl von erdichteten Überlieferungen, die von einer Huldigung Adams an Mohammed sprechen (siehe al-Mawahib al-ladunniyya).

Dann sah ich Männer mit Kamellippen, welche Stücke von Feuer in der Hand hatten, so groß, daß sie die ganze Hand ausfüllten. Dieses Feuer warfen sie in ihren Mund, und es kam hinten wieder heraus. Ich fragte Gabriel:,Was sind das für Leute?’ Er antwortete: ,Es sind Menschen, welche das Gut der Waisen ungerechterweise verzehrt haben.’
Dann sah ich Männer mit Bäuchen, wie ich sie nie gesehen. Sie krochen auf ihren Bäuchen wie durstige Kamele. Dann traten sie auf ihnen herum, so daß sie sich nicht mehr von der Stelle 148 bewegen konnten. Ich fragte Gabriel: ,Wer sind diese?’ Er antwortete: .Dies sind Wucherer.’
Dann sah ich Männer, die gutes, fettes Fleisch vor sich liegen hatten und daneben schlechtes, stinkendes, die aber doch von dem verdorbenen aßen und das gute liegen ließen. Ich fragte Gabriel, was das für Leute wären. Er antwortete: ,Es sind solche, welche die Frauen, die ihnen Allah erlaubt hat, verlassen und sich denen zuwenden, die ihnen Allah verboten hat.’
Dann sah ich Frauen, die an ihren Brüsten aufgehängt waren. Ich fragte Gabriel: ,Wer sind diese?’ Er antwortete: ,Es sind solche, die ihren Männern fremde Kinder untergeschoben haben. Allahs Zorn ist heftig gegen eine Frau, die einem Geschlechte jemanden zuführt, der nicht zu ihm gehört, der dann dessen Güter verzehrt und die Scham aufdeckt.'”

Nach Abu Said al-Khudri fuhr Mohammed fort: „Gabriel ließ mich dann in den zweiten Himmel steigen. Hier sah ich die beiden Vettern*, Christus und Johannes.
* Mohammed wird von Christen erfahren haben, daß Johannes der Täufer und Jesus ferne Verwandte waren (Luk. 1,36).
Indem er Jesus mit Johannes in den zweiten Himmel einstufte, stellte er ihn unter Mose und Abraham. Ja, sogar noch unter Joseph, Henoch und Aaron. Er wollte ihn unter allen Umständen herabsetzen und Adam ähnlich machen (Sure Al Imran 3,59).



Dann kam ich in den dritten Himmel. Da war ein Mann, der wie ein Vollmond aussah. Als ich nach seinem Namen fragte, sagte mir Gabriel: ,Es ist dein Bruder Josef, der Sohn Jakobs.’


Er brachte mich dann in den vierten Himmel. Da sah ich wieder einen Mann, welchen Gabriel Idris (Henoch, den unsterblichen Propheten) nannte und sagte darauf: ,Wir haben ihm einen hohen Platz angewiesen’ (Marjam 19,57).



Er führte mich dann in den fünften Himmel. Da war ein Greis mit weißem Haupthaar und einem langen, weißen Bart. Ich habe nie einen schöneren Greis gesehen. Ich fragte nach seinem Namen und Gabriel sagte mir, es ist Harun (Aaron), der Sohn Imrans, der Beliebte unter seinem Volk.
Im sechsten Himmel, den ich hierauf bestieg, sah ich einen großen Mann mit gebogener Nase, als wäre er vom Stamm Schanua. Ich fragte Gabriel: ,Wer ist dieser Mann?’ Er antwortete: ,Es ist dein Bruder Moses, der Sohn Imrans.’

Er ließ mich dann in den siebten Himmel steigen. Da saß ein Mann, der mir sehr ähnlich sah, auf einem Thron vor dem Tor des Paradieses, durch das jeden Tag 70 000 Engel eingehen, die bis zum Tage der Auferstehung nicht wieder herauskommen. Ich fragte Gabriel: ,Wer ist dieser Mann?’ Er antwortete: ,Es ist dein Vater Abraham.’
Dann führte er mich in das Paradies. Da sah ich ein schwarzes Mädchen (Sklavin, Dienerin), das mir wohlgefiel. Ich fragte, wem es angehöre*. Es antwortete: ,Zaid b. Haritha’, und ich brachte Zaid diese frohe Botschaft.”
* Es ist interessant, daß Mohammed diesmal nicht direkt nach der Person, sondern nach deren „Besitzer” fragte, da es sich um eine Frau handelte! Zaid, der Adoptivsohn Mohammeds, war der erste erwachsene Mann, der den Islam angenommen hatte.

Später hat Mohammed seine Frau Zainab bint Djahsh beim Baden überrascht und sie auf Grund einer speziellen Offenbarung geheiratet, nachdem Zaid sich von ihr geschieden hatte (Sure al-Ahzab 33, 35 u. 37 u. 50).



Nach der Überlieferung des Abd Allah b. Mas’ud wurde Gabriel an jedem Himmelstor, in das er eingelassen werden wollte, gefragt, wer bei ihm sei. Als er Mohammeds Namen nannte, fragte man, ob er bereits als Prophet gesandt worden sei, und sobald er diese Frage bejahte, wurde gerufen: „Allah grüße ihn von seinem Freunde und von seinem Bruder!”
Nachdem er zum siebten Himmel gelangt war, führte ihn Gabriel zu seinem Herrn*, und er schrieb ihm für jeden Tag fünfzig Gebetsgänge vor**.
* Der Quran und der Hadith beschreiben Allah selbst nie in einer Vision. Sie kennen keine Herrlichkeitserscheinungen des Herrn und wissen nichts von den Cherubim. Mohammed brach nicht entsetzt vor der Heiligkeit Gottes zusammen. Das sind Hinweise darauf, daß er Gott in Wirklichkeit nie gesehen hat, sondern durch einen Traum getäuscht und genarrt wurde. Der Islam erlaubt keine Beschreibung Allahs, weil er unbeschreiblich sei. Niemand wisse, wer er ist und wie er aussieht. Der Mensch im Islam ist kein Ebenbild Gottes, sondern Allahs Sklave. Allah bleibt der ferne, große, unbekannte Gott, den keiner erreichen oder verstehen kann.

In der Bibel jedoch werden mehrere Visionen des heiligen und herrlichen Gottes berichtet. Wer ihn sah, war tief erschüttert und fiel wie tot zu Boden (Jes. 6,1-8; Hes. 1,4-2,1; Apg. 9,4; Off. 1,17; 4,1-3 und 5,6-8). 

**Die Frucht der angeblichen Begegnung Mohammeds mit Allah war keine Heilsgnade. Sie bewirkte auch keine Erschütterung oder Buße in Mohammed, noch folgte ihr eine Warnung vor Gottes Gericht. Die Vision intensivierte lediglich die gesetzliche Grundhaltung Mohammeds und forderte vermehrte Anbetung. Das zeigt, daß Allah zuerst ein Gesetzgeber und ein anzubetender Richter ist, jedoch kein liebender Vater noch ein sich selbst opfernder Retter wie Jesus. 



„Als ich”, so erzählt Mohammed weiter, „auf dem Rückweg wieder an Moses, eurem guten Herrn, vorüberkam, fragte er mich, wieviele Gebete mir vorgeschrieben worden seien. Ich antwortete: .Fünfzig pro Tag.’ Da sagte er: ,So viele Gebetsrunden sind mühsam, und dein Volk ist schwach. Geh zu deinem Herrn zurück und bitte ihn, daß er es dir und deinem Volk leichter mache.’ Ich folgte diesem Rat, und es wurden mir zehn abgenommen.



Moses fand aber vierzig noch zu viel und riet mir, um weitere Erleichterung zu bitten, und es wurden mir abermals zehn abgenommen.
Moses fand es jedoch immer noch zu viel. Ich kehrte so oft wieder zurück, bis mir endlich nur noch fünf Gebetsgänge für jeden Tag auferlegt wurden*.
* Der Bericht vom Mittleramt Mohammeds stellt eine islamische Reflektion der Fürbitte Abrahams für die Bewohner der Städte Sodom und Gomorra dar (1. Mose 18,16-33). Während Abraham jedoch um die Rettung der Verdorbenen bat und dabei die kleinste Zahl der Gerechten als Voraussetzung für die Begnadigung der Städte erbat, ging es bei Mohammed nicht um Heil oder Rettung seiner Gemeinde, sondern um eine Erleichterung der Gesetzespflichten für den Moslem. Nicht die Begnadigung der Sünder, sondern ein Kompromiß in der Gesetzgebung als bequemere Anbetung bei vollem Lohnausgleich war das Ergebnis der Vermittlung Mohammeds. Sonst kam nichts bei der Vision von seiner Himmelsreise heraus.

Als Moses auch jetzt noch mich zur Rückkehr bewegen wollte, sagte ich: ,lch habe nun schon so oft um Erleichterung gebeten, daß ich mich schäme, es nochmals zu tun. Wer dieses fünfmalige Gebet in Glauben und Erwartung des Lohnes täglich verrichtet, erhält den Lohn von fünfzig Gebeten, wie sie ursprünglich vorgeschrieben waren.'”
* Die sogenannte Himmelsreise Mohammeds (al-mi’ radj) ist ein bei den islamischen Theologen äußerst umstrittenes Thema. Die einen sind der Meinung, daß Mohammed diese Reise leiblich unternommen habe. Die anderen stützen sich auf eine Überlieferung von Aischa und sind der Auffassung, daß die Reise nur ein Traum Mohammeds war und Mohammed sich in Jerusalem im Geist befunden habe.

Wie Allah die Spötter unschädlich machte
Mohammed ermahnte trotz allen Spottes, aller Beleidigungen und obgleich man ihn einen Lügner nannte, beharrlich sein Volk in Erwartung des Gotteslohnes. Wie mir Said b. Rumman von Urwa b. al-Zubair erzählt hat, waren fünf mächtige und angesehene Männer die ärgsten Spötter: al-Aswad b. al-Muttalib von den Banu Asad. Wie ich gehört habe, soll Mohammed, als er von seinen spöttischen und beleidigenden Reden Kunde erhielt, gebetet haben: „Allah! Mache ihn blind und töte seinen Sohn*!”


* Der Fluch Mohammeds atmet den Geist der Rache, der im Islam immer wieder durchbricht. Jesus dagegen heilte die Blinden und warnte die Spötter. Hier wird der grundverschiedene Geist im Evangelium und im Quran sichtbar.



Jazid b. Rumman hat mir von Urwa b. al-Zubair erzählt: „Gabriel kam zu Mohammed, als die Spötter die Anbetungsstätte umkreisten. Mohammed erhob sich und stellte sich neben ihn. Als al-Aswad b. al-Muttalib vorüber kam, warf Gabriel ihm ein grünes Blatt ins Gesicht, und er wurde blind *.
* Der Engel Gabriel manifestiert sich im Islam als Gerichtsengel und Gehilfe Mohammeds, um dessen Racheabsichten auszuführen. Gabriel ist hier kein Gnadenbote Gottes, der segnet und rettet. Welch eine Verzerrung! Mohammed hatte keine Ahnung von der geistlichen Hoheit und Erhabenheit der Engel Gottes.



Dann kam al-Aswad b. Abd Jaghuth vorüber. Da deutete er (Gabriel) auf dessen Leib, und er wurde wassersüchtig und starb an dieser Krankheit.

Dann kam al-Walid b. al-Mughira vorüber. Gabriel zeigte auf die Narbe einer alten Wunde an der Ferse, die er vor Jahren erhalten hatte. Da verschlimmerte sich das Übel, und er starb daran. Hierauf kam al-Aas b. Wail vorüber. Gabriel deutete auf die Sohle seines Fußes. Bald danach ritt er auf einem Esel nach Taif. Der Esel legte sich auf dorniges Gesträuch, und es ging ein Dorn in die Fußsohle al-Aas, und er starb daran. Endlich kam al-Harith b. Tulatila vorüber, und Gabriel zeigte auf seinen Kopf, der an der betreffenden Stelle zu eitern anfing, bis er starb*.”
* Solche Berichte lassen auf Schwarze Magie schließen, ebenso wie die Aufforderung zum Gebetsduell in der Sure al-Imran 3,61, in der Mohammed den Fluch Allahs auf die Christen legen wollte, weil sie den Islam nicht akzeptierten. Jesus aber gebot seinen Jüngern ihren Feinden alle ihre Sünden zu vergeben, sie zu segnen und ihnen wohlzutun (Mt. 6,14 u. 15). Der Segen Christi ist stärker als der Fluch Allahs (Joh. 16,33; Röm. 8,31-39).

Abu Talibs und Khadidjas Tod
Die Männer, die Mohammed in seinem Hause quälten, waren Abu Lahab, al-Hakam b. Abi al-Aas, Uqba b. Abi Muit, Adi b. Hamra al-Thaqafi und Ibn al-Asda al-Hudhali. Sie waren seine Nachbarn.
Von diesen Männern hat sich allein al-Hakam später zum Islam bekehrt. Wie mir erzählt worden ist, warf der eine den Uterus (Gebärmutter) eines Schafes auf ihn, während er betete, der andere warf einen Uterus in den Topf, in dem für ihn gekocht wurde. Zuletzt betete Mohammed, um sicher zu sein, in einem Zimmer. Wie mir Umar b. Abd Allah berichtet hat, pflegte Mohammed solchen Unrat auf einem Stück Holz vor die Tür zu tragen und zu rufen: „O, ihr Söhne Abd Manafs! Welche Nachbarschaft genieße ich!” Damit warf er den Unrat auf den Weg.

Dann starben Abu Talib und Khadidja im selben Jahr*. Dadurch wurde Mohammed von großem Unglück heimgesucht, denn Khadidja war ihm eine treue Stütze im Islam, bei der er Beruhigung fand, und Abu Talib hatte ihn gegen seine Stammesgenossen verteidigt und beschützt. Beide starben drei Jahre vor der Auswanderung nach Medina.


*Bis zu Abu Talibs und Khadidjas Tod war Mohammed—und damit der ganze Islam—von der Macht der Sippe und ihrer Verpflichtung, Mohammed zu schützen, erhalten und getragen worden. Als die Träger dieses Sippenschutzes im gleichen Jahr starben, wurde 155 Mohammed schutzlos und vogelfrei. Der Islam war im Schutz der arabischen Sippe gewachsen und erstarkt.
Jesus aber hatte keine Sippe, die ihn schützte. Seine Brüder trennten sich frühzeitig von ihm. Jesus wurde ein Flüchtling und wich mehrere Male ins Ausland (Phönizien und die 10 Städte) aus, bis er sich entschlossen und mit Willen auf den Weg nach Jerusalem machte, um dort als Lamm Gottes für alle Menschen zu sterben (Mt. 12,46-50; Joh. 7,3-10).



Nach dem Tode Abu Talibs mißhandelten die Quraischiten Mohammed in einer Weise, wie sie es zu Abu Talibs Zeiten nie gewagt hätten. Einer ging sogar so weit, daß er ihm Staub auf den Kopf streute. Mohammed ging in seine Wohnung und hatte noch den Staub im Haar. Eine seiner Töchter wusch ihm weinend den Kopf, er aber sagte: „Weine nicht, mein Töchterchen, Allah wird deinen Vater beschützen.” Zwischendurch sagte er: „Solange Abu Talib lebte, konnten mir die Quraisch nichts antun.”

7. Die Loslösung Mohammeds von Mekka

Wie Mohammed bei den Thaqifiten Beistand suchte
Nach dem Tode Abu Talibs häuften sich die Kränkungen, die Mohammed von den Quraisch ertragen mußte. Er ging daher nach Taif “und bat die Thaqifiten, ihm beizustehen und ihn gegen seine Stammesgenossen zu schützen. Auch hoffte er, sie würden es annehmen, was er von Allah empfangen hatte.
* Taif ist eine Stadt am großen Grabenbruch und liegt einem Adlernest gleich hoch über Mekka (etwa 2000 Meter über dem Meeresspiegel).



Als Mohammed nach Taif kam, begab er sich zu den Edelsten der Thaqifiten. Es waren drei Brüder: Abd Jaleil, Mas’ud und Habib, Söhne des Amr b. Umair. Einer von ihnen hatte eine Frau von den Quraischiten, aus dem Geschlecht der Banu Djumah. Er setzte sich zu ihnen, forderte sie auf, an Allah zu glauben, dem Islam beizustehen und ihn gegen sein Volk zu beschützen. Da sagte der eine, der das Gewand der Kaaba zerriß: „Wenn Allah dich gesandt hat?!” Der andere sagte: „Hat Allah keinen anderen Gesandten finden können als dich?” Der dritte sagte: „Bei Allah, ich spreche nicht mir dir, denn bist du, wie du behauptest, von Allah gesandt, so bist du zu gefährlich, als daß ich dir widersprechen könnte. Lügst du aber, so mag ich nicht mit dir reden.” Mohammed erhob sich hierauf, enttäuscht von den Thaqifiten. Wie mir berichtet worden ist, soll er ihnen gesagt haben: „Wenn ihr so unehrerbietig gegen mich verfahrt, so haltet es wenigstens geheim.” Erwünschte, daß seine Leute nichts davon erfuhren und dadurch nicht noch mehr gegen ihn aufgestachelt würden.



Die Thaqifiten entsprachen aber nicht dem Wunsche Mohammeds, sondern hetzten ihre Toren und Sklaven gegen ihn. Diese schmähten ihn und schrien ihn an. Bald sammelte sich eine Menschenmenge um ihn. Mohammed war genötigt, in einen Garten zu fliehen, der Utba und Schaiba b. Rabia gehörte. Beide befanden sich gerade dort. Seine Verfolger zogen sich deshalb zurück, und Mohammed setzte sich in den Schatten eines Weinstocks. Die Söhne Rabias blickten zu ihm hinüber und beobachteten ihn.

Der Christ Addas anerkennt Mohammed als Propheten
Als Utba und Schaiba, die Söhne Rabias, sahen, was Mohammed widerfahren war, regte sich ihr Mitleid. Sie riefen einen christlichen Diener namens Addas und gaben ihm folgenden Auftrag: „Schneide eine Traube von diesem Weinstock, lege sie auf eine Platte und bringe sie dem Mann dort und sage ihm, er möge sie essen.” Addas tat, was ihm befohlen worden war. Als Mohammed seine Hand danach ausstreckte, sprach er: „Im Namen Allahs”, dann erst aß er. Addas sah ihn an und sagte: „Bei Allah, solche Worte habe ich nie von den Bewohnern dieser Stadt gehört.” Mohammed fragte: „Woher bist du? Welchem Glauben gehörst du an?” Er antwortete: „Ich bin ein Christ aus Ninive.” Mohammed fragte weiter: „Aus der Stadt des frommen Junus b. Matta* ?” Addas erwiderte: „Woher weißt du etwas von Junus b. Matta?” Mohammed antwortete: „Er war mein Bruder; denn er war ein Prophet, und ich bin auch ein Prophet.” Addas neigte sich zu Mohammed hinab und küßte ihm das Haupt, die Hände und die Füße. Die Söhne Rabias aber sagten einer zum anderen: „Diesen Jungen hat er verführt.” Als er wieder zu ihnen kam, riefen sie: „Wehe dir! Warum hast du diesem Mann das Haupt, die Hände und die Füße geküßt?” Er antwortete: „Mein Herr, es gibt auf der Welt keinen besseren Dienst oder nichts besseres als das, was ich eben getan habe. Er hat mir etwas gesagt, was nur ein Prophet wissen kann.” Sie entgegneten: „Wehe dir! Addas, laß dich durch ihn nicht von deiner Religion abtrünnig machen; sie ist besser als die seinige!”
*Junus Ibn Matta ist der arabische Name für den Propheten Jona.

Von den Djinn, die gläubig wurden
Nachdem der Prophet an den Thaqifiten verzweifelt war, verließ er Taif, um wieder nach Mekka zurückzukehren. Auf seinem Rückweg kam er durch Nakhia und verrichtete dort mitten in der Nacht sein Gebet. Dabei kam eine Anzahl Geister (Djinn) an ihm vorüber und hörte ihm zu. (Dieses Ereignis wird zweimal im Quran erwähnt: al-Ahqaf 46,29; al-Djinn 72,1.) Es waren sieben Djinn aus Nasibin, die ihm zuhörten. Als Mohammed sein Gebet vollendet hatte, kehrten sie zu den Ihrigen zurück und predigten ihnen, denn sie waren gläubig geworden und hatten angenommen, was sie über den Islam gehört hatten.
Allah offenbarte Mohammed diese Begebenheit in folgendem Vers: „Wir haben dir eine Anzahl Djinn zugewandt *”.. .Sprich: „Mir ist geoffenbart worden, eine Anzahl Djinn hat mir zugehört**.”
*Al-Ahqaf 46,29-32: Was ist das für ein Gott der seinem Propheten Dämonen als Gehilfen zuleitet. Das war nicht der wahre Gott, der dies tat!
** Al-Djinn 72,1-15: Die Djinngeister bezeichnen sich im Quran als Moslems. Sie besaßen nicht das Recht, den Himmel zu betreten und mußten draußen bleiben. Sie versicherten jedoch Mohammed, daß sie ihm helfen würden, den Islam auszubreiten und die Menschen in ihren Einflußbereichen aufzufordern, den Islam anzunehmen. Moslems sind nach dem Quran nicht nur Menschen, sondern auch Geister, die mithelfen, den Islam auszubreiten. Die Öffnung der Stadt Jathrib (Medina) könnte als eine Folgewirkung für die Begegnung Mohammeds mit den Djinn angesehen werden.

Mohammed verkündigt den Beduinenstämmen den Islam
Mohammed kehrte nach Mekka zurück. Seine Stammesgenossen widersprachen ihm noch mehr als früher, mit Ausnahme von einigen Schwächlingen, die an ihn glaubten. An den Festtagen aberzeigte sich Mohammed den Beduinen aus den Stämmen und forderte sie auf, an Allah zu glauben. Er verkündigte ihnen, daß er ein von Allah gesandter Prophet sei und verlangte, daß sie ihn für wahrhaftig hielten und beschützten, damit er ihnen erklären könne, wozu ihn Allah gesandt habe.
Husain b. Abd Allah hat mir berichtet, er habe gehört, wie sein Vater dem Rabia b. Ibad folgendes erzählt habe: „Ich war als Knabe mit meinem Vater in Mina, als Mohammed vor den Lagerplätzen der arabischen Stämme stand und ihnen zurief: ,O ihr Söhne so und so! Allah sendet mich zu euch und befiehlt euch, ihn anzubeten, ihm keine Genossen zur Seite zu stellen und abzuschaffen, was ihr außer ihm anbetet und ihm gleichstellt. Ihr sollt an mich glauben, mich für wahrhaftig halten und beschützen, damit ich euch Allahs Offenbarung erkläre.’ Hinter Mohammed stand ein sauber und listig aussehender Mann mit zwei Locken in einem Gewand aus Aden. Sobald Mohammed zu sprechen aufhörte, sagte er: ,O ihr Söhne, dieser Mann fordert euch auf, Lat und Uzza und eure Verbündeten unter den Djinn von den Banu Malik b. Ukaisch aufzugeben und euch von dem, was er erdichtet hat. irreführen zu lassen. Folgt ihm nicht und hört nicht auf ihn!’

Ich fragte meinen Vater: ,Wer ist der Mann, der Mohammed folgt und seiner Rede widerspricht?’ Er antwortete: ,Das ist sein Onkel Abu Lahab.'”

Der Anfang des Islam in Jathrib*
Als Allah dem Islam zum Sieg verhelfen, seinen Propheten verherrlichen und sein Versprechen erfüllen wollte, ging Mohammed wie gewöhnlich zur Zeit des Pilgerfestes zu den Beduinenstämmen und stellte sich ihnen als Prophet vor. Auf der Aqaba** begegnete er einer Anzahl Khazradjiten, durch die Allah Gutes bezweckte. Asim b. Umar b. Qatada hat mir von Scheichs seines Volkes erzählt: „Mohammed fragte die Khazradj, denen er begegnete: ,Wer seid ihr?’ Sie antworteten: ,Wir sind Khazradjiten.’ Da fragte Mohammed weiter: ,Seid ihr die Freunde der Juden?’ Sie sagten: ,Ja.’ Er lud sie ein, sich zu ihm zu setzen, trug ihnen die Lehre des Islam vor und rezitierte vor ihnen Suren aus dem Quran. Es gehört zu Allahs Werken, daß die Juden, die Männer der Schrift und der Gesetzeswissenschaft, die unter den Khazradj, den Götzendienern, wohnten, und von ihnen unterdrückt wurden, oft bei Streitigkeiten darauf hinwiesen, daß die Zeit nahe sei, in der ein neuer Prophet aufstehen werde. Sie drohten ihnen: ,Wir werden ihm folgen und mit seiner Hilfe euch Götzendiener wie Aad und Iram vertilgen.’ Als nun Mohammed diese Leute aufforderte, an Allah zu glauben, sagte einer zum andern: .Vielleicht ist dies der neue Prophet, mit welchem die Juden uns bedroht haben. Darum laßt uns ihm zuvorkommen!’ So kam es, daß sie Mohammed Gehör schenkten, an ihn glaubten und sich zum Islam bekehrten. Sie sagten auch zu Mohammed: ,Wir stammen aus einem Volk, unter dem viel Bosheit und Feindschaft herrscht. Vielleicht wird Allah uns durch dich einig machen. Wir werden unsere Stammesgenossen zu dem Glauben auffordern, zu dem wir uns nun bekennen, und wenn Allah uns alle um dich vereint, so gibt es keinen stärkeren Mann mehr als dich.’ Hierauf kehrten sie als Gläubige in ihre Heimat zurück. Wie mir erzählt worden ist, waren es sechs Khazradjiten. Als diese Männer nach Medina kamen, sprachen sie mit ihren Stammesgenossen über Mohammed und forderten sie zum Islam auf. Bald war in jedem Haus von dem Gesandten Allahs die Rede.”
* Jathrib wurde später Medina genannt, was „die Stadt” bedeutet, die Mohammed Zuflucht gewährte. Dort wurde der Islam zum erstenmal voll realisiert, weil Mohammed hier einen religiösen Stadtstaat aufbauen konnte.
** Al-Aqaba ist der Name eines Hügels außerhalb Mekkas.

Von der ersten Zusammenkunft auf al-Aqaba
Im Jahr darauf kamen zwölf Ansar*zum Pilgerfest. Sie begegneten Mohammed auf der Anhöhe. Dies nennt man die erste Zusammenkunft auf al-Aqaba. Sie huldigten Mohammed nach der Weise der Frauen **; denn der heilige Krieg war damals noch nicht vorgeschrieben.


*Ansar (wörtlich: „die Helfer”) sind gläubige Moslems aus Medina, die der Sache Allahs zum Sieg verhelfen. Sie stammten aus den Stämmen der Aus und Khazradj.
** Die Huldigung nach der Weise der Frauen bedeutet: Sie verpflichteten sich, Allah keinen Teilhaber zur Seite zu stellen, waren aber zu keinem Kriegsdienst verpflichtet.

Ubada b. al-Samit hat mitgeteilt: „Ich zählte zu denen, die bei der ersten Zusammenkunft auf al-Aqaba zugegen waren. Wir waren zwölf und huldigten Mohammed nach der Weise der Frauen, ehe der Krieg vorgeschrieben war. Wir verpflichteten uns, Allah keinen Genossen zu geben, nicht zu stehlen, keine Unzucht zu treiben, unsere Kinder nicht zu töten, nichts Falsches zu erdichten und Mohammed in allem Guten gehorsam zu sein. .Erfüllt ihr dies,’ sagte er, ,so kommt ihr ins Paradies. Übertretet ihr etwas davon, so ist es Allahs Sache, ob er euch straft oder verzeiht.””
* Jesus hat von Gott die Vollmacht erhalten, den Menschen auf Erden die Sünden zu vergeben (Matth. 9,6). Jesus gab seinen Jüngern diese Vollmacht weiter, geleitet vom Heiligen Geist Sünden zu vergeben (Joh. 20, 21-23).


Mohammed hatte keine Vollmacht, Sünden zu vergeben. Er hatte für sich selbst keine Gewißheit der Sündenvergebung. So hat auch kein Moslem eine Gewißheit, ob ihm seine Sünden vergeben worden sind.


Nur bei Jesus und durch das Wort seiner Jünger gibt es volle Vergebung aller Sünden. Wer ihm vertraut, wird gerettet.

Ubada b. al-Samit erzählt, Mohammed habe des weiteren bei der Huldigung gesagt: „Wenn ihr etwas übertretet und in dieser Welt dafür bestraft werdet, so ist dadurch die Sünde gesühnt. Bleibt die Sünde aber bis zum Tage der Auferstehung verborgen, so ist es Allahs Sache, euch zu strafen oder zu begnadigen.
Als die Leute wieder abreisten, ließ Mohammed Mus’ab b. Umair mit ihnen ziehen, um sie den Quran und den Islam zu lehren und sie im Glauben zu unterrichten. Mus’ab wurde in Medina „Lesemeister*” genannt. Er wohnte bei Asad b. Zurara. Mus’ab hat ihnen vorgebetet, weil die Aus und Khazradj**es ablehnten, daß einer von ihnen den andern vorbete.

* Er war von Mohammed beauftragt worden den neugewonnenen Moslems das Lesen, Auswendiglernen und Rezitieren des Korans beizubringen.

** Die Stämme Aus und Khazradj waren zwei verfeindete, seßhaft gewordene Beduinenstämme, die von der jüdischen Oberschicht in der Stadt Jathrib beherrscht und gegeneinander ausgespielt wurden.

Die Bekehrung zweier Stammesfürsten in Jathrib
As’ad b. Zurara begleitete Mus’ab b. Umair in das Lager der Banu Abd al-Aschhal und der Banu Zafar. So kamen sie auch in einen der Gärten der Banu Zafar und setzten sich an einen Brunnen, der Mark genannt wurde. Dort versammelten sich viele Gläubige um sie. Als Sa’d b. Muads und Usaid b. Hudhair, welche die Herren ihres Volkes und noch Götzendiener waren, von den beiden hörten, sagte Sa’d zu Usaid: „Verflucht! Geh zu den beiden Männern, die zu uns gekommen sind, um unsere Schwachen zu betören. Weise sie ab und gestatte ihnen nicht, in unsere Wohnung zu kommen. Wäre As’ad nicht mit mir verwandt, wie du wohl weißt, ich würde dich mit diesem Auftrag verschonen. Aber er ist der Sohn meiner Tante, und ich kann ihm nicht entgegentreten.” Usaid nahm sein Schwert und ging auf die beiden zu.



Als As’ad ihn sah, flüsterte er zu Mus’ab: „Dieser Mann ist der Herr seines Stammes. Er kommt auf dich zu. Bleibe Allah treu!” Mus’ab erwiderte: „Wenn er sich setzt, werde ich mit ihm reden.” Usaid blieb vor ihnen stehen, schimpfte und rief: „Was bringt euch hierher, um unsere Schwachköpfe zu betören? Wenn euch euer Leben lieb ist, so verlaßt uns!” Mus’ab erwiderte: „Setze dich und höre mich an. Gefällt dir meine Rede, so nimm sie an, wenn nicht, so soll dir weiter nichts Unangenehmes zu Ohren kommen.” Usaid sagte: „Dein Vorschlag ist gut”, steckte sein Schwert in den Boden und setzte sich. Mus’ab sprach mit ihm vom Islam und las ihm aus dem Quran vor. Als Mus’ab geendet hatte, sagte Usaid: „Wie schön und lieblich sind diese Worte! Wie kann man dieser Religion beitreten?” Sie sagten: „Du mußt dich waschen* und dich und deine Kleider reinigen. Dann mußt du das Bekenntnis des Islam ablegen und beten.”
* Die Waschungen vor jedem Gebet zeigen immer wieder das tiefe Bedürfnis nach Reinigung im Islam. Aber Wasser reinigt nur das Äußere. Das Innere, Herz und Gewissen, bleibt im Islam unrein.

Usaid tat, wie ihm geheißen worden war. Dann sagte er: „Außer mir gibt es noch einen Mann, wenn dieser euch folgt, dann bleibt kein einziger von seinem Volk zurück. Ich will ihn euch sogleich schicken. Es ist Sa’d b. Muads.” Er nahm sein Schwert und ging zu Sa’d. Dieser saß unter den Räten seines Volkes. Sobald Sa’d ihn kommen sah, rief er: „Ich schwöre bei Allah, Usaid hat jetzt ein anderes Gesicht, als bei seinem Weggehen.” Als er schließlich herangekommen war, sagte Sa’d: „Was hast du getan?” Er antwortete: „Ich habe mich mit den beiden Männern unterhalten und, bei Allah, nichts Schlimmes an ihnen gefunden. Ich habe ihnen verboten, länger zu verweilen, und sie haben sich meinem Verbote gefügt. Aber ich habe gehört, daß die Banu Haritha ausgezogen sind, um As’ad b. Zurara zu töten. Sie wissen, daß er dein Vetter ist und wollen ihren Schutzvertrag mit dir brechen.”



Sa’d geriet hierüber in Zorn, sprang auf, riß das Schwert aus der Hand Usaids und rief: „Bei Allah, du hast nichts Gutes gestiftet!” Als er aber zu den beiden Männern kam und sie in Ruhe und Sicherheit fand, merkte er, daß Usaid ihn nur veranlassen wollte, die beiden anzuhören. Er begann zu schimpfen und sagte zu As’ad: „Bei Allah, wären wir beide nicht verwandt, du hättest es nicht gewagt, von uns so etwas zu verlangen. Bringst du uns in unser eigenes Haus, was wir für abscheulich halten?”

Mus’ab, den As’ad bereits darauf hingewiesen hatte, wie wichtig es sei, diesen führenden Mann für den Islam zu gewinnen, sagte zu Sa’d: „Setze dich und höre mich an! Findest du Wohlgefallen an dem, was ich dir sage, so nimm es an, wenn nicht, so befreien wir dich von dem, was dir unangenehm ist.”
Sa’d sagte: „Du hast recht.” Er steckte sein Schwert in den Boden und setzte sich. Mus’ab machte ihn nun mit dem Islam bekannt und las ihm aus dem Quran vor. Beide erzählten, sie hätten ihm den Islam angesehen, noch ehe er sprach; denn sein Gesicht sei freundlich und leuchtend*. Er fragte dann, was man tun müsse, um diesem Glauben beizutreten. Sie ließen ihn dasselbe tun wie Usaid. Er nahm dann sein Schwert und ging mit Usaid wieder zu den Räten seines Volkes zurück. Sobald sie Sa’d kommen sahen, schworen sie bei Allah, er komme mit einem anderen Gesicht zurück als dem, mit dem er sie verlassen hatte. Als er vor seinen Räten stand, sagte er: „Ihr Söhne Abd al-Aschhals, welche Stellung nehme ich unter euch ein?” Sie antworteten: „Du bist unser Herr. Du bist der Zärtlichste, der Verständigste und der Beglückendste unter uns.”—„Nun”, sagte er, „ich gelobe, kein Wort mehr mit euren Männern oder Frauen zu reden, bis ihr an Allah und seinen Gesandten glaubt!” So kam es, daß in dem Lager der Banu al-Aschhal kein Mann und keine Frau übrig blieb, die sich nicht dem Islam zugewandt hätten.

Mus’ab kehrte dann mit As’ad in dessen Wohnung zurück und blieb bei ihm. Er predigte den Islam, bis kein Haus der Ansar übrig blieb, in welchem nicht gläubige Männer und Frauen waren. Eine Ausnahme bildeten nur die Banu Umaija b. Zaid, Khatma, Wail und Wakif, die von Aus b. Haritha abstammen. Unter ihnen lebte nämlich der Dichter Abu Qais b. al-Aslat, der Saifi hieß und als ihr Führer galt, dem alle gehorchten. Er hielt sie vom Islam zurück. Doch nach der Auswanderung Mohammeds aus Mekka und nach den Treffen (Schlachten) von Badr (624 n. Chr.), Uhud (625 n. Chr.) und Khandaq (627 n. Chr.) bekehrten auch sie sich zum Islam.

Von der zweiten Zusammenkunft auf al-Aqaba
Mus’ab b. Umair kehrte dann mit andern Männern aus Jathrib, teils Moslems, teils Ungläubigen, zum Pilgerfest nach Mekka zurück. Als Allah in seiner Gnade dem Propheten beistehen, den Islam und seine Bekenner verherrlichen und den Götzendienst und seine Anhänger demütigen wollte, verabredeten sie eine weitere Zusammenkunft mit Mohammed am mittleren Tag der Taschrik (am zweiten nach dem Feste). Abd Allah b. Ka’b, einer der gelehrtesten Ansar, erzählte, sein Vater Ka’b, der selbst bei dieser Zusammenkunft auf al-Aqaba dabei war und Mohammed dort huldigte, habe ihm gesagt: „Wir zogen mit anderen ungläubigen Pilgern unseres Volkes aus, beteten und unterrichteten uns in Glaubensfragen. Mit uns war al-Bara b. Marur, unser Herr und Vorgesetzter. Als wir Jathrib verließen, um die Reise anzutreten, sagte al-Bara: ,lch habe einen Plan entworfen, weiß aber nicht, ob ihr ihn gutheißen werdet.’ Als wir fragten, was es sei, fuhr er fort: .Meine Meinung ist, wir sollten uns diesem Gebäude’ — er meinte die Kaaba — ,beim Gebet zuwenden.’ Wir sagten: ,Bei Allah, wir haben gehört, Mohammed wende sich beim Gebet nach Syrien*. Wir werden ihm nicht zuwiderhandeln.’ Er entgegnete: ,Ich aber werde nach der Kaaba hin beten.’ Wir beharrten jedoch bei unserer Ansicht und beteten nach Syrien gerichtet, während er, trotz unseres Tadels, bis zu unserer Ankunft in Mekka sich stets beim Gebet der Kaaba zuwandte. Als wir nach Mekka kamen, sagte er zu mir: ,Laß uns zu Mohammed gehen, um ihn zu fragen, denn durch euren Widerspruch sind mir einige Zweifel gekommen.’ Wir fragten nun nach Mohammed, den wir zuvor nie gesehen hatten und darum auch nicht von Angesicht kannten. Ein Mekkaner, dem wir begegneten, fragte uns, ob wir Abbas kennen würden, und als wir diese Frage bejahten — Abbas war oft des Handels wegen nach Medina gekommen—, antwortete er: ,Wenn ihr in die Anbetungsstätte kommt, so findet ihr Mohammed an der Seite seines Onkels Abbas sitzen.’
*Die Gebetsrichtung „nach Syrien ” weist daraufhin, daß Mohammed zu Beginn seines Wirkens sich in Richtung Jerusalem niederwarf. Er leitete alle Moslems an, in derselben Richtung wie die Juden zu beten und hoffte durch diese Anpassung, die Juden in seiner Stadt für sich und den Islam zu gewinnen.



Wir gingen in das Heiligtum, setzten uns zu Mohammed und grüßten ihn. Er fragte Abbas, ob er diese beiden Männer kenne. Dieser antwortete: ,Ja, der eine ist Bara b. Marur, der Herr seines Volkes, und der andere ist Ka’b b. Malik.’ — ,Bei Allah’, erzählt Ka’b weiter, ,ich vergesse nie, wie Mohammed dann fragte: Ist er der Dichter? Und Abbas antwortete: Ja.“

Al-Bara trug nun Mohammed seinen Streit mit seinen Gefährten wegen der Gebetsrichtung vor und fragte ihn nach seiner Ansicht. Mohammed antwortete: „Du hattest früher die rechte Richtung, wärest du nur dabei geblieben!”
Al-Bara nahm hierauf die Richtung Mohammeds an und betete mit uns mit dem Gesicht gegen Syrien gewendet. Seine Familie behauptet zwar, er habe bis zu seinem Tode sich nach der Kaaba gewendet; das ist aber nicht so; wir wissen es besser.
Ka’b erzählte dann weiter: „Wir gingen nun zum Pilgerfest und verabredeten mit Mohammed eine Zusammenkunft auf den zweiten Tag nach dem Fest. Abends vor dem zweiten Tag begaben wir uns zu unseren Leuten. Bei uns war auch Abd Allah b. Amr, einer unserer Obersten. Diesem teilten wir uns mit, obgleich wir vor den anderen Ungläubigen unser Treffen geheimhielten: ,Du bist einer unserer Herren und Edlen, o Abu Djabir! Wir möchten nicht, daß du so bleibst und dereinst Brennmaterial der Hölle werdest.’ Wir forderten ihn auf, zum Islam überzutreten und setzten ihn von unserer Zusammenkunft mit Mohammed in Kenntnis. Er nahm den Islam an, war mit uns auf al-Aqaba und wurde einer unserer Vorgesetzten. Wir schliefen nun, bis ein Drittel der Nacht vorüber war. Dann verließen wir die Karawane und schlichen zur Schlucht bei al-Aqaba. Wir waren 73 Männer und zwei Frauen, nämlich Nusaiba, die Mutter Umaras, die Tochter Ka’bs, und Asma, die Mutter Manis. Als wir eine Weile in der Schlucht gewartet hatten, kam Mohammed mit seinem Onkel al-Abbas, der zwar damals noch Heide war, aber doch dabei sein wollte, um für seinen Neffen ein rechtsgültiges Bündnis zu schließen. Als sich alle gesetzt hatten, ergriff Abbas das Wort. Er sagte: ,lhr Khazradjiten wißt, daß Mohammed zu uns gehört. Wir haben ihn gegen diejenigen im Volk geschützt, die meine Ansicht über ihn teilen. Er lebt in Kraft unter seinem Volke und in Schutz in seiner Heimat. Dessenungeachtet möchte er sich zu euch begeben* und sich euch anschließen. Glaubt ihr, daß ihr erfüllen könnt, was ihr ihm versprecht und daß ihr ihn gegen seine Feinde beschützen werdet, so übernehmt die Bürde, die ihr euch aufgeladen habt. Glaubt ihr aber, daß ihr ihn täuschen und ausliefern werdet, so laßt ihn hier; denn er ist in seiner Heimat stark und geschützt.’

* Nachdem Khadidja und Abu Talib gestorben waren und Mohammed nirgendwoher einen zuverlässigen Schutz hatte, bereitete er seine Auswanderung systematisch vor. Er floh nicht ohne Sicherung, sondern plante und bereitete durch Verträge mit den verantwortlichen Moslems in Jathrib die Auswanderung der Moslems aus Mekka vor. Die Verträge sollten auf der Basis der rechtlichen Bindung einer Blutsbruderschaft stattfinden.



Wir antworteten:, Wir haben deine Worte vernommen. Mohammed mag sagen, wozu wir uns ihm und Allah gegenüber verpflichten sollen.’ Mohammed hielt eine Rede an uns, rief uns zu Allah auf, rezitierte Suren aus dem Quran und erweckte in uns die Liebe zum Islam. Dann sagte er: .Schwört mir, daß ihr mich vor allem bewahren werdet, wovor ihr auch eure Frauen und Kinder bewahrt!’ Al-Bara b. Marur ergriff seine Hand und sagte: .Jawohl, bei dem, der dich als Propheten mit der Wahrheit gesandt hat, wir werden dich wie unsere eigenen Leiber beschützen. Empfange unsere Huldigung, o Gesandter Allahs! Bei Allah, wir sind Söhne des Krieges und Männer der Waffen, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben.’



Während al-Bara sprach, unterbrach ihn Abu al-Haitham b. al-Tihan und sagte: ‘Gesandter Allahs, es bestehen Bande zwischen uns und anderen’ — er meinte damit die Juden — ,die wir nun zerreißen werden. Tun wir dies und Allah verschafft dir Sieg, wirst du uns dann verlassen und in deine Heimat zurückkehren?’ Mohammed antwortete: .Euer Blut ist mein Blut. Was ihr vergießt, vergieße auch ich. Ihr gehört zu mir und ich zu euch. Ich bekriege, wen ihr bekriegt, und schließe Frieden, mit wem ihr Frieden schließt.'”

Ka’b erzählt ferner: „Mohammed habe sie aufgefordert, ihm zwölf Vorgesetzte*zu benennen, die ihre Angelegenheiten leiten sollten. Sie wählten neun Khazradjiten und drei Ausiten.”
*Die Zahl „12″ entsprach den zwölf Stämmen Israels und den zwölf Jüngern Christi. Mohammed schloß seinen Bund nicht mit den Moslems zu Mekka, sondern nur mit den Helfern aus Medina. Seine Bünde waren Schutzbünde zwischen Menschen — ohne Gott als Bundespartner. Sie hatten keinen Versöhnungscharakter und keinen Ewigkeitswert.


Als Jesus den neuen Bund mit seinen 11 Aposteln schloß — der zwölfte war weggegangen, um ihn zu verraten—nahm er unter den Zeichen des Brotes und des Weines Wohnung in seinen Jüngern, reinigte und heiligte sie und machte sie zu königlichen Priestern, die seiner Gemeinde dienen sollten (Matth. 26,26-29; 1. Petr. 2,9-10; Offbg. 7,5-6). Der neue Bund, den Jesus stiftete, hatte kein politisches Reich zum Ziel, das mit Steuern und Waffen erkämpft wurde. Jesus beabsichtigte ein geistliches Reich, das auf Wahrheit und Liebe, Freude und Friede, Selbstverleugnung und Opfer aufgebaut ist. Der Bund Mohammeds mit den zwölf Führern von Medina lieferte die Basis für sein späteres politisches Wirken und für die kriegerische Ausbreitung des Islam.

Abd Allah b. Abi Bakr hat mir erzählt, Mohammed habe zu den Häuptern gesagt: „Ihr seid die Sachwalter eures Volkes, wie es die Jünger Christi waren, und ich bin der Sachwalter meines Volkes*.”
* Mohammed bezeichnete die Moslems als sein Volk, nachdem die Bewohner Mekkas ihn verworfen hatten.

Als die Leute sich vereinigten, Mohammed zu huldigen, sagte al-Abbas b. Ubada b. Nadhla al-Ansari: „Wißt ihr auch, ihr Khazradjiten, womit oder worauf ihr diesem Mann huldigt?” Sie antworteten: „Ja!” — „Ihr verpflichtet euch”, fuhr er fort, „alle Stämme zu bekriegen. Glaubt ihr, daß, wenn eure Güter zugrunde gehen und eure Edlen getötet werden, ihr ihn ausliefert, so ladet ihr euch Schmach in diesem und jenem Leben auf. Glaubt ihr aber, daß ihr bei dem, wozu er euch aufgerufen hat, beharren werdet, wenn auch euer Gut und das Leben eurer Edlen verlorengeht, so nehmt ihn auf, es wird euch in diesem und jenem Leben Glück bringen.” Sie sagten: „Wir nehmen ihn auf, mag auch unser Gut zugrunde gehen und mögen unsere besten Männer getötet werden*!” Sie fragten dann Mohammed, welchen Lohn sie für ihre Treue erhalten würden. Er antwortete: „Das Paradies.” Da riefen sie: „Strecke deine Hand aus!” Er streckte seine Hand aus, und sie huldigten ihm.
* Mit diesen Verordnungen war der Heilige Krieg und die Bereitschaft zum Martyrium vorprogrammiert. Mohammed versprach ihnen im Falle des Todes die Entrückung ins Paradies mit allen seinen materiellen Freuden. Nur die im Heiligen Krieg Gefallenen gelten im Islam als gerechtfertigt, während alle anderen Moslems in einem Zwischenzustand auf den Tag des Gerichtes warten.

Allen voran hatte al-Bara b. Marur Mohammeds Hand zur Huldigung ergriffen. Nach der Huldigung schrie der Teufel mit durchdringender Stimme vom Gipfel al-Aqaba herunter: „O ihr Bewohner der Djabadjib (des Lagers) — diese Ortschaft liegt bei Mina — wollt ihr den Tadelnswerten und die Abtrünnigen mit ihm zusammen aufnehmen? Schon haben sie sich vereinigt, um euch zu bekriegen.” Da entgegnete Mohammed: „Dies ist der Satan der Anhöhe, es ist der Sohn des Azjabs. Hörst du, Feind Allahs? Aber bei Allah, ich werde mit dir fertig!” Mohammed forderte sie dann auf, wieder zu ihrer Karawane zurückzukehren. Al-Abbas b. Ubada sagte hierauf: „Bei Allah, der dich mit der Wahrheit gesandt hat: wenn du willst, so fallen wir morgen mit unseren Schwertern über die Leute in Mina her.” Mohammed antwortete: „Das ist uns nicht vorgeschrieben. Kehrt zu eurer Karawane zurück!” Sie kehrten zurück und schliefen in ihrem Lager bis zum Morgen.

Wie die Quraisch zu den Ansar kamen
Am folgenden Morgen, so erzählt Ka’b b. Malik weiter, kamen die angesehensten Männer der Quraisch zu uns und sagten: „Wir haben gehört, ihr Khazradjiten seid zu dem Mann aus unserer Stadt gekommen, wollt ihn von uns wegnehmen und ihm schwören, uns zu bekriegen. Bei Allah, gegen keinen arabischen Stamm möchten wir weniger gern Krieg führen als gegen euch.” Da erhoben sich mehrere Ungläubige aus unserem Stamm und schworen bei Allah, daß dem nicht so sei, daß sie nichts davon wüßten. — Sie haben wahr gesprochen, denn sie wußten in der Tat nichts davon. — Wir aber sahen einer den andern an. Dann standen die Leute auf. Unter ihnen war al-Harith b. Hischam, welcher ein Paar neue Sandalen trug. Ich sagte, als wollte ich den Leuten in dem, was sie behaupteten, beistimmen: „O Abu Djabir, du bist doch einer unserer Herren, warum trägst du nicht auch Sandalen, wie jener Quraischite?” Al-Harith hörte diese Worte, zog alsbald seine Sandalen aus, warf sie mir zu und sagte: „Bei Allah, du ziehst sie an.” Da sagte Abu Djabir: „Laß ab! Bei Allah, du hast den Mann beschämt, gib ihm seine Sandalen zurück.” Ich erwiderte: „Bei Allah, ich gebe sie ihm nicht zurück. Es ist, bei Allah, ein rechtes Omen; wenn das Omen wahr ist, so werde ich ihm einst sein Gut abnehmen.”
Wie Sa’d gefangen und befreit wurde
Die Pilger brachen von Mina auf, und die Leute forschten der Begebenheit nach und fanden, daß es so war. Sie zogen daher aus, um die Karawane aus Jathrib aufzusuchen und holten die beiden Häupter Sa’d b. Ubada und Mundhsir b. Amr in Adsakhir ein. Mundhsir konnte allerdings nicht ergriffen werden, aber Sa’d wurde festgenommen. Man band ihm mit einem Kamelriemen die Hände auf den Rücken, führte ihn nach Mekka, schlug ihn und zerrte an seinem starken Haar. „Während ich so in ihren Händen war”, erzählt Sa’d, „kam eine Anzahl Quraischiten herbei. Unter ihnen war ein weißer, schlanker, zierlicher und anmutiger Mann. Ich dachte, wenn von einem dieser Leute etwas Gutes zu erwarten ist, dann von diesem.
Als er mir aber näher kam, erhob er seine Hand und versetzte mir einen heftigen Schlag. Ich dachte, bei Allah, nun ist nichts Gutes mehr von ihnen zu hoffen. Ich bin in ihrer Gewalt, sie werden mich mißhandeln. Einer der Männer hatte jedoch Mitleid mit mir und fragte: .Besteht keine Schutzverpflichtung oder ein Bündnis zwischen dir und einem Quraischiten?’ Ich antwortete: .Wohl habe ich einst in meiner Heimat die Leute, die für Djubair b. Mut’im b. Adi Handel trieben, beschützt und gegen diejenigen verteidigt, die ihnen Gewalt antun wollten; desgleichen die Leute des Harith b. Harb b. Umaija.’ Da sagte er: ,So nenne diese beiden Männer und erzähle, was zwischen dir und ihnen vorgefallen ist.’ Ich tat dies, und der Mann ging alsbald zu den beiden Männern, welche im Heiligtum bei der Kaaba saßen, und sagte: ,Ein Mann von den Khazradj wird im Tal geschlagen. Er hat euch angerufen und gesagt, es bestehe ein Schutzverhältnis zwischen euch und ihm.’ Sie fragten: ,Wie heißt der Mann?’ Er antwortete: ,Sa’d b. Ubada.’ Sie sagten: ,Er hat wahr gesprochen. Bei Allah, er hat unsere Kaufleute in seiner Heimat vor Gewalt beschützt.’ Sie kamen herbei und befreiten Sa’d, und er zog weiter. Der Mann, welcher Sa’d geschlagen hatte, war Suhail b. Amr, einer der Banu Amir b. Luai.”

Die Geschichte eines Götzen
Als sie nach Jathrib kamen, bekannten sie sich offen zum Islam. Doch waren unter ihren Stämmen noch einige Scheichs übrig, die in ihrer Abgötterei verharrten. Unter ihnen war Amr b. al-Djamuh b. Zaid b. Haram, dessen Sohn Sa’d auf al-Aqaba Mohammed gehuldigt hatte. Amr war einer der ersten und angesehensten unter den Banu Salama. Er hatte in seinem Haus einen Götzen aus Holz namens Manat* den er, wie es andere vornehme Leute zu tun pflegten, als Gott verehrte und regelmäßig putzte und reinigte. Als nun mehrere junge Männer von den Banu Salama, darunter sein Sohn Muads und Muads b. Djabal, sich zum Islam bekehrt hatten, schleppten sie in der Nacht Amrs Götzen fort und warfen ihn mit dem Kopf vornüber in eine Abfallgrube der Banu Salama. Als Amr des Morgens aufstand, rief er: „Wehe euch! Wer ist heute nacht über unsern Gott gekommen?” Er machte sich dann auf und suchte ihn. Als er ihn fand, wusch er ihn, reinigte ihn und rieb ihn mit wohlriechenden Salben ein. Dann sagte er: „Bei Allah, wenn ich wüßte, wer dies getan hat, ich würde ihn zuschanden machen.” In der folgenden Nacht wiederholten die Gläubigen dasselbe mit dem Götzen, und Amr reinigte ihn wieder. Als sich dieser Vorgang aber mehrmals wiederholte, nahm Amr ein Schwert und hing es dem Götzen um den Hals. Nachdem er ihn erneut gereinigt hatte, sagte er: „Bei Allah, ich weiß nicht, wer so übel mit dir verfährt. Bist du etwas wert, so verteidige dich selbst! Hier hast du ein Schwert!” Als Amr in der folgenden Nacht schlief, kamen die Gläubigen wieder, nahmen dem Götzen das Schwert vom Hals, banden ihm stattdessen einen toten Hund mit einem Strick um und warfen ihn in einen Brunnen der Banu Salama, in dem sich Unrat befand. Als Amr ihn am folgenden Morgen in solchem Zustand fand, ließ er sich von den Gläubigen seines Volkes bereden, den Islam anzunehmen, und er wurde durch Allahs Gnade ein guter Moslem.
* Al-Manat war der Name einer Göttin in einem Heiligtum der Aus und Khazradj. Es lag an der Küste in einer Ortschaft namens Qudaif nahe dem Berg Muschallal. Al-Manat war eines der drei wichtigsten Idole der vorislamischen Araber neben al-Lat und al-Uzza, die zusammen in der Kaaba verehrt wurden.

Nach seiner Bekehrung dichtete er folgende Verse:


„Bei Allah, wärest du ein Gott, so lägest du nicht mit einem toten Hund am Hals mitten in einer Grube. Pfui über den, der dir wie einem Gott dient. Wir haben dich jetzt entlarvt und werden nicht länger mehr getäuscht. Preis dem erhabenen Herrn, dem Gnadenspender, dem Versorger, dem Richter des Glaubens. Er hat mich erlöst, ehe ich dem Dunkel des Grabes verpfändet wurde.”

Der Schwur auf der Anhöhe
Als Allah Mohammed erlaubt hatte, gegen die Ungläubigen Krieg zu führen, verband er die letzte Huldigung mit der Verpflichtung, für ihn zu kämpfen. Das war bei der ersten Huldigung nicht der Fall gewesen, weil Allah damals den Krieg noch nicht erlaubt hatte. Bei der letzten Huldigung mußten sie schwören, die Schwarzen und die Roten *zu bekriegen und für ihn und den Herrn zu kämpfen. Als Lohn für ihre Treue wurde ihnen das Paradies verheißen. Ubada b. al-Samit, einer der zwölf Häupter, sagte: „Wir haben Mohammed den Kriegseid geleistet.”
* „Die Schwarzen und die Roten” war ein Ausdruck (per merismum) für alle Arten von Menschen, womit Mohammed wahrscheinlich alle Beduinen und die seßhaften Stämme gemeint hat.

Ubada war einer der Zwölf gewesen, die sich bei der ersten Huldigung auf der Anhöhe eingefunden hatten. Diese geschah nach der Weise der Frauen. Die schworen Mohammed Gehorsam und Verehrung in Not und Wohlstand, in Freud und Leid; niemandem streitig zu machen, was ihm gehört; überall die Wahrheit im Namen Allahs zu sagen und keinen Tadel zu fürchten. 


Mohammed erhält den Befehl, Krieg zu führen
Vor der zweiten Huldigung auf al-Aqaba hatte Mohammed von Allah keine Erlaubnis erhalten, Krieg zu führen und Blut zu vergießen. Er sollte nur zu Allah aufrufen, alle Beleidigungen mit Geduld ertragen und den Unwissenden verzeihen. Die Quraischiten mißhandelten seine Anhänger, um sie von ihrem Glauben abzubringen, und verbannten sie aus ihrer Heimat. Sie wurden entweder vom Glauben abtrünnig oder von ihnen gepeinigt und genötigt, nach Abessinien, nach Jathrib oder in andere Länder zu fliehen. Als nun die Quraischiten sich von Allah abwandten, also die von Allah ihnen zugedachte Gnade zurückwiesen, den Propheten einen Lügner nannten und die, welche Allah allein anbeteten und an Mohammed glaubten, peinigten und verbannten, da erlaubte Allah Mohammed Krieg zu führen* und sich gegen die, welche den Seinigen Gewalt antaten, zu verteidigen. Wie mir von Urwa b. Zubair und anderen berichtet worden ist, waren folgende Verse die ersten, in denen ihm der Krieg gegen die, welche gegen die Gläubigen Gewalt gebrauchten, erlaubt wurde: „Es ist denen, welchen Gewalt angetan wird, erlaubt zu kämpfen. Allah hat die Macht, ihnen Sieg zu verschaffen” (al-Hadj 22,39), das heißt, ich habe ihnen erlaubt, Krieg zu führen, weil ihnen Unrecht**angetan worden ist und sie nichts anderes getan haben, als Allah anzubeten, das Gebet zu verrichten, Almosen zu geben, Gutes zu empfehlen und vom Schlechten abzuhalten. Nachher wurde geoffenbart: „Bekämpft sie, bis keine Verführung (zum Abfall vom Islam) mehr stattfindet***” (al-Baqara 2,193), das heißt, bis die Moslems nicht mehr von ihrem Glauben abtrünnig gemacht wer179 den…„und der Glaube allein Allah dargebracht wird” (al-Anfal 8,39
*Mit der Übersiedlung Mohammeds nach Medina begann ein neuer Abschnitt in der Entwicklung des Islam. Der Religionsstaat war geschaffen worden. Er fußte auf dem Gesetz des Heiligen Krieges, der verschiedene Entwicklungsstufen aufweist: 
• Stufe 1: Das öffentliche Gebet und das oft wiederholte Glaubensbekenntnis des Islam. 
• Stufe 2: Geduldiges Ertragen des Spotts und der Verhöhnung. 
• Stufe 3: Verbale Verteidigung des Glaubens und vehemente Wortkriege bei zahlenmässigem Erstarken der Moslems. • Stufe 4: Die Auswanderung und Flucht verfolgter Gläubiger ist so lange denkbar, bis der Islam die Macht und Mehrheit gewonnen hat.
• Stufe 5: Bei zahlenmäßiger Überlegenheit wird Kriegsbereitschaft, Opfersinn und Rüstung erwartet.
• Stufe 6: Der Heilige Krieg bedeutet Verteidigung bei Angriffen.
• Stufe 7: Der Verteidigung kann der Überfall aus dem Hinterhalt auf feindliche Karawanen und schwächere Gruppen folgen.
• Stufe 8: Zum Heiligen Krieg gehört die Geiselnahme von Feinden und ihre Auslieferung erst nach der Zahlung von hohen Lösegeldern.
• Stufe 9: Der strategisch geplante Angriff zur Unterwerfung der näheren Umgebung.
• Stufe 10: Die weltweite Kriegserklärung gegen alle Ungläubigen. Die Erde wurde dazu in ein Haus des Islam und in ein Haus des Krieges aufgeteilt. „Bekämpft sie, bis keine Versuchung (zum Aufruhr und Abfall vom Islam) mehr existiert und die Religion Allahs (der Islam) alle umfasst” (al-Baqara 2,193).
**Khomeini sagte: „Es ist besser Unrecht zu tun, als Unrecht zu leiden.” Jesus aber zog es vor, Unrecht zu leiden, statt Unrecht zu tun (Luk. 23,34). 

*** Der Heilige Krieg wird so lange andauern, wie noch Ungläubige auf dieser Welt leben. Der Kampf mit der Waffe ist Teil der islamischen Mission. Islam heißt Unterwerfung unter Allah und seinen Gesandten —freiwillig oder gezwungen!

Als Mohammed die Erlaubnis erhielt, Krieg zu führen und der Stamm der Hilfsgenossen ihm schwor, den Islam anzunehmen und ihm und seinen gläubigen Anhängern beizustehen, befahl er seinen Gefährten, sowohl denen, die schon ausgewandert waren als auch denen, die bei ihm in Mekka geblieben waren, sich nach Jathrib zu begeben und sich dort ihren Brüdern von den Ansar anzuschließen. Er sagte: „Allah hat euch Brüder* und einen sicheren Aufenthaltsort gegeben.” Sie zogen nun truppenweise ab. Mohammed selbst blieb aber noch in Mekka und wartete, bis ihm Allah erlauben werde, auch nach Jathrib auszuwandern.
* Der Islam versteht sich als Bruderschaft, die besonders dann zum Tragen kommt, wenn ein Moslem von einem Nichtmoslem bedrängt oder angegriffen wird. Dann eilen alle Moslems ihm zu Hilfe.



Die Auswanderung der letzten Gefährten
Mit den letzten wanderte auch Umar b. al-Khattab aus und Aijasch b. Abi Rabia, der Makhzumite. Abd Allah b. Umar berichtet, sein Vater habe ihm erzählt:



„Als wir auswandern wollten, verabredeten wir—Aijasch b. Abi Rabia, Hischam b. al-Aas und ich — uns in Tanadhib an einem der Teiche der Banu Ghifar, oberhalb Sarif, zu treffen. Für den Fall, daß einer von uns ausbleiben sollte, machten wir untereinander aus, ohne ihn die Reise anzutreten. Aijasch und ich trafen in Tanadhib ein, Hischam wurde zurückgehalten und zum Abfall vom Islam gebracht. Als wir nach Jathrib kamen, stiegen wir bei den Banu Amr b. Auf in Kuba ab.



Abu Djahl b. Hischam und al-Harith b. Hischam, die Vettern und Brüder Aijaschs mütterlicherseits, kamen dann, als Mohammed noch in Mekka war, nach Jathrib und sagten zu Aijasch, seine Mutter habe ein Gelübde getan, keinen Kamm auf ihren Kopf zu bringen und keinen Schutz gegen die Sonne zu suchen, bis sie ihn wiedersehe. Er möge daher Mitleid mit ihr haben. Ich sagte ihm: ,O Aijasch, bei Allah, die Leute wollen dich nur von deinem Glauben abtrünnig machen. Sei auf der Hut! Wenn deine Mutter von Ungeziefer geplagt wird, so wird sie sich schon kämmen, und wenn die Hitze Mekkas sie plagt, wird sie Schatten aufsuchen.’ Aijasch sagte: ,lch will nur verhüten, daß meine Mutter ihren Eid bricht und auch das Geld mitnimmt, das ich noch in Mekka habe.’ Ich erwiderte: ,Du weißt, daß ich einer der reichsten Quraischiten bin. Ich gebe dir die Hälfte meines Vermögens, geh nicht mit ihnen!’ Als aber Aijasch darauf bestand, nach Mekka zurückzukehren, sagte ich: ,Wenn du schon dich nicht abhalten läßt, so nimm wenigstens mein Kamel und setze dich darauf, es ist ein edles, folgsames Tier. Schöpfst du Verdacht gegen die Leute, so rette dich auf ihm!’ Aijasch reiste mit ihnen auf Umars Kamel ab. Unterwegs sagte Abu Djahl: ,Bei Allah, mein Vetter, ich finde, daß mein Kamel einen so schweren Gang hat, daß ich gern hinter dir auf dem deinigen sitzen würde.’ Aijasch gestattete es ihm und ließ sein Kamel niederknien. Die anderen taten das gleiche, um Abu Djahl auf Umars Kamel zu bringen. Als sie aber abgestiegen waren, fielen sie über Aijasch her, fesselten ihn, führten ihn nach Mekka und nötigten ihn, vom Islam abzufallen. Sie brachten ihn bei hellem Tage gefesselt nach Mekka und sagten: ,O ihr Bewohner Mekkas, verfahrt mit euren Toren, wie wir mit dem unsrigen hier verfahren sind!'”

Umar soll später folgendes erzählt haben: „Allah nimmt von dem, der vom Islam abfällt, keine Gegenleistung, keine Sühne und keine Buße an, auch nicht von solchen, die Allah erkannt haben und wegen eines Unglücks, das sie getroffen hat, wieder zum Unglauben zurückkehren*.” Die Abtrünnigen mußten sich dies selbst auch sagen.

* Die gnadenlose Härte des Islam gegen alle abgefallenen Moslems wurde immer deutlicher sichtbar. Sie haben keine Möglichkeit zur Buße, außer wenn sie wieder Moslems werden. Wenn sie in ihrem Abfall vom Islam beharren, sollen sie in dieser Welt gepeinigt und getötet werden und in der anderen im Feuer schmoren. Abfall vom Islam kann von Allah und den Moslems nie vergeben werden (al-Baqara 2,217; al-Maida 5,54; Mohammed 47,25). Der Islam kennt keine Religionsfreiheit und widerstrebt den allgemeinen Menschenrechten.



Als Umar mit seiner Familie und seinen Stammesgenossen nach Medina kam, stieg er bei Rifa’a b. Abd al-Mundhsir in Kuba ab.

Mit ihm waren: sein Bruder Zaid, ferner Amr und Abd Allah, die Söhne des Suraqa und Khunais b. Khudsafa, der Sahmite, der Gatte seiner Tochter Hafsa, die später Mohammed heiratete, Said b. Zaid b. Amr, Waqid b. Abd Allah, der Tamimite, ein Schutzgenosse, Khaula und Malik, die Söhne des Abi Khaula, auch Schutz genossen, und die vier Söhne des Bukair: Ijas, Aqil, Amir und Khalid, ihre Schutzgenossen, von den Banu Sa’d b. Laith. Auch Aijasch war mit Umar bei Rifa abgestiegen, als er nach Jathrib kam.

Ihnen folgten weitere Auswanderer: Talha b. Ubaid Allah b. Uthman und Suhaib b. Sinan stiegen bei Khubaib b. Isaf, einem Bruder der Banu al-Harith b. Khazradj, in Sunh ab. Nach anderen stieg Talha bei As’ad b. Zurara, einem Bruder der Banu alNadjdjar, ab.
Als Suhaib auswandern wollte, sagten ihm die Ungläubigen Mekkas: „Du bist als armer Bettler zu uns gekommen und bei uns reich geworden und hast mancherlei erworben. Und jetzt willst du mit deinem Vermögen von uns wegziehen? Bei Allah, das darf nicht sein!”
Da sagte Suhaib: „Wollt ihr mich ziehen lassen, wenn ich euch mein Vermögen überlasse?” Sie sagten: „Ja.” Da schenkte er ihnen, was er besaß. Als Mohammed dies hörte, sagte er: „Suhaib hat einen guten Handel gemacht! Suhaib hat gewonnen!”

Mohammed blieb in Mekka, nachdem seine Gefährten schon ausgewandert waren, bis Allah ihm die Erlaubnis zur Auswanderung gab. Außer denen, welche mit Gewalt zurückgehalten wurden oder wieder abtrünnig gemacht worden waren, blieben nur Ali und Abu Bakr bei ihm in Mekka. Dieser bat häufig um die Erlaubnis auszuwandern. Mohammed sagte ihm aber: „Eile nicht, vielleicht gibt dir Allah einen Gefährten.” Und jener hoffte, Mohammed werde dieser Gefährte sein.


Die Häupter der Quraisch beschließen den Tod Mohammeds

Die Quraisch erkannten bald, daß Mohammed Anhänger außerhalb ihres Stammes in fremdem Gebiet gewonnen hatte. Bei diesen fanden seine Freunde, die ausgewandert waren, Schutz und Zuflucht. Nun fürchteten sie, Mohammed könnte sich zu ihnen begeben und Krieg gegen sie führen. Sie kamen daher im Rathaus, im Hause des Qusai b. Kilab, zusammen, in dem alle Beschlüsse gefaßt wurden, und berieten, was zu tun sei; denn sie begannen sich nun vor Mohammed zu fürchten*.
* Mohammed war kein Mann des Friedens. Er heilte niemand und versöhnte seine Nachfolger nicht mit Gott. Er drohte seinen Feinden mit Vernichtung (Halsschnitt, Schächten), verfluchte sie im Namen Allahs und schadete ihnen mit Hilfe seines Racheengels, der sich Gabriel nannte, aber nicht Gabriel war.



Die Quraisch kamen am festgesetzten Tag zur Beratung über Mohammed zusammen. Dieser Tag hieß Tag der Zahma (Beschwerlichkeit) . Da kam Iblis (der Teufel) in der Gestalt eines alten Mannes in einem abgetragenen Oberkleid herbei und stellte sich an die Tür des Rathauses. Als die Quraisch fragten, wer er sei, antwortete er: „Ein alter Mann aus Nadjd, der erfahren hat, was ihr verabreden wollt und jetzt hier erschienen ist, um eure Worte zu vernehmen und euch vielleicht wohlgemeinten Rat erteilen kann.” Sie sagten „gut” und ließen ihn eintreten.
Hier waren die edelsten Quraisch vereinigt. Einer sagte zum anderen: „Ihr habt gesehen, wohin die Sache dieses Mannes gelangt ist. Bei Allah, wir sind nicht sicher, daß er nicht mit seinen Anhängern aus fremden Stämmen uns überfallen wird. Darum einigt euch auf eine Maßnahme gegen ihn!” Nach einiger Beratung sagte einer: „Werft ihn in Ketten und sperrt ihn ein. Dann wartet, bis es ihm ergeht wie andern (vorislamischen) Dichtern vor ihm, Nabigha, Zuhair und anderen, die in ähnlicher Weise umgekommen sind.” Darauf sagte der Greis aus Nadjd: „Das ist kein guter Rat. Bei Allah, wenn ihr ihn einsperrt, so wird die Sache durch die Tür, hinter welcher ihr ihn eingeschlossen habt, zu seinen Gefährten gelangen. Sie könnten euch leicht überfallen und ihn aus euren Händen befreien, dann durch ihn an Zahl zunehmen und euch überwinden. Darum schafft einen besseren Rat!”

Nach abermaliger Beratung sagte einer: „Wir wollen ihn aus unserer Mitte verstoßen*und aus unserem Lande verbannen. Ist er ferne von uns, so mag er hingehen, wo er will, wir aber haben Ruhe vor ihm und ordnen unsere Angelegenheiten und stellen die Eintracht wieder her.” Der Alte aus Nadjd aber entgegnete: „Auch dieser Rat taugt nichts. Habt ihr nicht seine schönen Reden und seine süße Sprache vernommen und gesehen, wie er damit die Herzen der Männer gewinnt? Bei Allah, tut ihr dies, so stehe ich nicht dafür, daß er nicht bei einem Beduinenstamm sich niederläßt und ihn durch seine Reden gewinnt, bis er ihm folgt. Dann zieht er gegen euch und bezwingt euch, nimmt euch die Herrschaft ab und verfährt mit euch, wie es ihm gut dünkt. Drum schafft einen anderen Rat!”
* Jesus war vom Hohen Rat aus der Volksgemeinschaft des Alten Bundes ausgeschlossen worden. Die Juden verdächtigten ihn, ein Volksverführer und Lästerer zu sein, der den sofortigen Tod verdiene. Bei Jesus hatte jedoch nie die Gefahr eines bewaffneten Aufruhrs bestanden. Er war der Friedefürst und der wahre Friedenstifter.

Da sagte Abu Djahl: „Bei Allah, mir fällt etwas ein, auf das noch keiner von euch gekommen ist.” Als sie fragten, was es wäre, sagte er: „Meine Ansicht ist, daß wir aus jedem Stamm einen jungen, kräftigen, angesehenen Mann von guter Familie wählen und jedem ein scharfes Schwert übergeben. Sie sollen wie ein Mann über ihn herfallen und ihn erschlagen*. Dann haben wir Ruhe vor ihm. Tun sie dies, so ist sein Blut auf sämtliche Stämme verteilt. Die Söhne Abd al-Dars können nicht ihr ganzes Volk bekriegen. Sie werden sich mit einem Sühnegeld zufriedengeben, das wir ihnen bezahlen wollen.” Da sagte der Greis aus Nadjd: „Der Rat dieses Mannes ist der einzige gute Rat.” Die Versammlung war damit einverstanden und ging auseinander.
*Die Juden beschlossen ebenfalls, Jesus zu töten, sobald sich eine Möglichkeit dazu ergab. Er wurde beobachtet und bespitzelt. Sie hoben Steine auf, um ihn zu steinigen. Er aber ging mitten durch sie hindurch. Seine Stunde war noch nicht gekommen (Joh. 8,59; 10,39).



Mohammed verläßt seine Wohnung
Da kam Gabriel zu Mohammed und sagte: „Bringe diese Nacht nicht in dem Bett zu, in dem du gewöhnlich schläfst.” Als ein Drittel der Nacht vorüber war, sammelten sich die Quraisch vor seiner Tür und warteten, bis er eingeschlafen wäre, um über ihn herzufallen.

Als Mohammed dies bemerkte, sagte er zu Ali: „Schlafe auf meinem Bett und hülle dich in meinen grünen Obermantel aus Hadramaut*” — in diesem pflegte Mohammed zu schlafen — „sie werden dir nichts zuleide tun**.”
* Eine Landschaft in Südarabien.
** Mohammed veranlasste seinen Neffen und Adoptivsohn Ali, seine Feinde zu täuschen. Er setzte ihn — in der Nacht und ohne Beleuchtung — der Lebensgefahr aus, um sich selbst zu retten.

Jesus dagegen stellte sich in der Nacht seinen Feinden und sagte: „Wenn ihr mich sucht, so laßt diese gehen!” (Joh. 18,8). Er war bereit, selbst zu leiden und zu sterben, um seine Nachfolger nicht in Gefahr zu bringen.



Jazid Ibn Zijad hat mir von Mohammed Ibn Ka’b aus dem Stamme Quraiza berichtet: „Als die Quraisch vor Mohammeds Tür standen, sagte Abu Djahl, der sich auch unter ihnen befand: .Mohammed glaubt, daß, wenn ihr ihm folgt, ihr Herren der Araber und der anderen — der „übrigen” Welt — werdet, daß ihr nach dem Tode wieder aufersteht und Gärten bekommt, wie die am Jordanfluß. Wenn ihr ihm aber nicht folgt, so wird er euch niedermachen. Nach eurem Tode werdet ihr aber auferweckt und in der Hölle verbrannt.’ Datrat Mohammed heraus, nahm eine Handvoll Erde, streute sie über ihr Haupt und sagte zu Abu Djahl: ,Ja, dies habe ich gesagt, und du bist einerder Letzteren.’ Allah nahm ihnen allen die Sehkraft, so daß sie Mohammed nicht erkannten (Ya-sin 36,9).

Schließlich kam jemand, der nicht zu ihnen gehörte und fragte sie, auf wen sie warteten. Sie antworteten: ,Auf Mohammed.’ Da sagte jener: .Allah möge euch enttäuschen! Mohammed ist längst zu euch herausgekommen, hat euch allen Erde auf das Haupt gestreut und ist seines Weges gegangen. Seht ihr nicht, was auf euch liegt?’ Da griff jeder nach seinem Haupt und fand Erde darauf. Sie betraten dann das Haus, fanden Ali auf dem Bett in Mohammeds Mantel gehüllt und sagten: ,Bei Allah, hier schläft Mohammed in seinen Mantel gehüllt,’ und sie blieben in dieser Meinung bis zum Morgen. Als Ali endlich vom Bett aufstand, sagten sie: ,Der Mann, der uns ansprach, hat doch die Wahrheit gesagt!'”

Hierauf erlaubte Allah Mohammed die Auswanderung*. Abu Bakr, der ein reicher Mann war, hatte sich zwei Kamele gekauft, die er in seinem Hause fütterte, um sie für diesen Ernstfall bereitzuhalten.

* Allah ermöglichte es Mohammed zu fliehen, um sein politisches Reich in Medina aufzubauen. Im Islam gibt es keinen Mittler zwischen Gott und Menschen, kein stellvertretendes Opfer, keine Versöhnung und keine Ausgießung des Heiligen Geistes als Folge dieses Opfers. Das Ziel der Religion Mohammeds bleibt der islamische Staat, nicht die geistliche Erneuerung der Menschen. Deshalb starb Mohammed auch nicht für seine Nachfolger. Jesus aber opferte sich selbst auf Golgatha, damit wir ewiges Leben empfangen konnten.



 

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Islam ( Abd al-Masih)

ABD AL-MASIH

DER ISLAM AUF DEM PRÜFSTAND DES EVANGELIUMS

Warum befiehlt uns Jesus Christus Muslime zu missionieren?

VON LICHT DES LEBENS – VILLACH – ÖSTERREICH 


– Eingestellt auf meine HP, Horst Koch, Herborn, im Herbst 2023 –

INHALT

I. DER PRÜFVORGANG
1. Liebt Allah unsere Welt?

2. Was sagt der Qur’an zum stellvertretenden Sühneopfer des Sohnes Gottes?

3. Was bedeutet Glaube im Islam?

4. Kann ein Muslim verloren gehen?

5. Wie stellen sich Muslime das ewige Leben vor?
a) Die Zeichen der nahenden Auferstehung
c) Das Weltgericht im Islam

e) Die Hölle

f) Wie stellen sich Muslime das Paradies vor?

g) Wie sieht das ewige Leben bei den Christen aus?


II. DER PRÜFBERICHT
1. Der Islam ist ein antibiblischer Geist
2. Der Islam ist ein antichristlicher Geist
3. Der Islam ist ein antigemeindlicher Geist

III. KONSEQUENZEN AUS DEM PRÜFBERICHT
1. Ist der Islam die einzig gültige Religion? (Sure 3,19)…
2. Wie können wir heute Muslime missionieren?

3. Wollen wir Muslime wirklich missionieren?

Einleitung:
Das Prüfverfahren Wer sein Auto in eine moderne Reparaturwerkstatt bringt, kann zusehen, wie sein Wagen zur Inspektion in einen Prüfstand gefahren wird. Dort werden an verschiedenen Stellen Elektroden angelegt und Stromstöße durchgeschickt. Die Prüfkabel werden dann versetzt und die wichtigsten Punkte des Wagens getestet. Zum Schluß rechnet der Computer blitzschnell die Meßwerte durch, und präsentiert einen Prüfbericht, der manchem Wagenbesitzer das Grauen lehrt. Anschließend muß der Besitzer entscheiden, welche Konsequenzen er aus dem Ergebnis ziehen will: ob es billiger ist, ein neues Auto zu kaufen, ob er das alte noch mal aufpoliert, so dass es gut aussieht, oder ob er einfach weiterfährt bis der Wagen stehen bleibt oder auseinanderbricht.

I. Der Prüfvorgang

Der Radiosprecher Pastor Menes Abdul Nour aus Kairo war von uns gebeten worden, einen Vortrag über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Islam und Christentum zu halten. Er lächelte über unsere typisch europäische Frage und legte in wenigen Sätzen seine Erfahrung als Seelsorger an Christen und Muslimen dar. Wir folgen den Grundgedanken seiner Ausführungen und ergänzen sie im Blick auf unsere heutige Situation.

Er sagte: Bewusste Christen sehen in Johannes 3,16 die Summe des Evangeliums:

So sehr hat Gott die Welt geliebt,

dass er seinen einzigen Sohn gab,

auf dass alle, die an ihn glauben,

nicht verloren gehen,

sondern das ewige Leben haben.

Wir wollen die Zeilen dieses Verses wie Elektrodenkabel an den Qur’an anlegen und fünf Fragen, wie Stromstösse durch den Islam hindurchsenden, um seine Meinung zu diesem Kernwort der Bibel zu erfragen:

1. Liebt Allah unsere Welt?
2. Was sagt der Qur’an zum stellvertretenden Sühneopfer des Sohnes Gottes?
3. Was bedeutet Glaube im Islam?
4. Kann ein Muslim verloren gehen?
5. Wie stellen sich Muslime das ewige Leben vor?

Anschließend versuchen wir, die wichtigsten Gedanken in einem Prüfbericht zusammenzu- fassen und wollen zum Schluß die Konsequen- zen daraus ziehen. So sehr hat Gott die Welt geliebt…

1. Liebt Allah unsere Welt?
Im Islam ist Allahs Liebe kein beherrschendes Thema, sondern Allahs Erhabenheit, sein Recht und seine unbegrenzte Autorität. Allah steht jenseits menschlicher Emotionen.

Wir lesen sechsmal im Qur’an: „Allah verführt, welche er will und leitet, welche er will” (Suren 6,39; 13,27; 14,4; 16,93; 35,8; 74,31). (Dazu gibt es vier weitere indirekte Hinweise zu dieser Aussage: Suren 2,26; 14,27; 40,34+74).
Zur Vertiefung dieser Aussage steht 12-mal im Qur’an: „Wen Allah verführt, der findet keinen Helfer mehr, der ihn recht leiten könnte” (Suren 4,88+143; 7,178+186; 13,33; 17,97; 18,17; 39,23+36; 40,33; 42,44+46).

Allah selbst setzt dieser trostlosen doppelten Prädestination die Krone auf, indem er in Sure 32,13 (in der Wir-Form) sagt:
„Wenn wir gewollt hätten, hätten wir jeder Seele ihre Rechtleitung gegeben! Aber mein (früheres) Wort muß in Erfüllung gehen: Wahrlich ich werde die Hölle mit Dämonen (Jinna) und mit Menschen füllen.”

Allah ist kein liebender Gott im Sinne des Evangeliums. Er ist erhaben über menschliche Regungen. Er bleibt der große, ferne und unbekannte Gott (allahu akbar), der alles weiß (al-‘aliim 158-mal), alles hört (as-samii’ 45-mal), alles sieht (al-basiir 42-mal) und alles kann (al-qadiir 45-mal). Er tut, was er will (yafal maa yaschaa’ 116-mal). Niemand kann ihn zur Rechenschaft ziehen. Er ist kein Vater-Gott, der ein persönliches Verhältnis zu seinen Anbetern aufbauen möchte. Er ist der allmächtige Willkür- Herrscher, der wie ein Supercomputer alles kon- trolliert und alles steuert. Er wird nicht geliebt, son- dern gefürchtet und angebetet. Er schließt keinen Bund mit seinen Muslimen, sondern verlangt ihre bedingungslose Unterwerfung als seine Sklaven. Islam heißt Auslieferung, Unterwerfung und Hingabe, mit oder ohne freien Willen

Im Qur’an steht jedoch auch 17-mal, dass Allah eine bestimmte Art von Menschen liebt. Dabei ist nicht von der opferbereiten heiligen Liebe die Rede (Agape), sondern von seiner Sympathie für sie (rida). Er ist mit ihnen zufrieden, und sie sind mit ihm zufrieden (Suren 5,119; 9,100; 58,22; 98,8). Er steht ihnen als “Besitzer einer großen Gunst” gegenüber (Suren 2,105; 3,74+152+174; 8,29; 57,21+29; 62,4).
Wer sind diese Bevorzugten Allahs? Das sind vor allem die gottesfürchtigen Spender, die ihr Hab und Gut mit den ausgewanderten muslimischen Gläubigen teilen, die geduldig Vertrauenden, die für Allah im Heiligen Krieg mit der Waffe in der Hand kämpfen, die sich vor dem Gebet waschen und die zu ihren Frauen zurückkehren, wenn diese sich gereinigt haben, um sie nach Allahs Willen als ihr Saatfeld zu benützen (Suren 2,195+222 [2-mal]; 3,76+134+146+148+159; 5,13+42+93; 9,4+7+108; 49,9; 60,8 und 61,4).

Andererseits steht im Qur’an 23-mal, dass Allah verschiedene Kategorien von Menschen nicht liebt! Diese Abgelehnten sind besonders alle Ungläubigen und jene, die versuchen Muslimen Schaden zuzufügen, die stolzen Heuchler und jeder Feigling und Verräter im Heiligen Krieg. Allah liebt auch diejenigen nicht, die viel Geld ausgeben, die böse Worte laut aussprechen und alle, die verbotene Speise essen. Allah liebt die Fröhlichen nicht (Sure 28,76), nur die Respektvollen! Er liebt besonders alle Ungerechten nicht (Suren 2,190+205+276; 3,32+57+140; 4,36+107+148; 5,64+87; 6,141; 7,31+55; 8,58; 16,23; 22,38; 28,76+77; 30,45; 31,18; 42,40; 57,23).
Wenn Allah jedoch auch nur einen einzigen Ungerechten nicht liebt, dann liebt er keinen, denn die Bibel lehrt uns, dass „da keiner ist, der Gutes tue, auch nicht einer” (1. Mose 6,5+11- 12; Ps 14,1-3; Röm 3,10-18).

Im Islam gibt es keine umfassende Liebe Allahs zu einer abgefallenen bösen Welt, höchstens eine Zuneigung zu den gottesfürch- tigen Muslimen. Eine heilige Liebe, die Allah zur Rettung der Sünder triebe, kennt der Islam nicht. Damit fehlt das Motiv zur Erlösung der Welt im Islam.

2. Was sagt der Qur’an zum stellvertretenden Sühneopfer des Sohnes Gottes?
Das zentrale Zeugnis in Johannes 3,16 faßt die unbegrenzte, alle Menschen umfassende Liebe Gottes in der Kreuzigung Jesu Christi zusammen. Gottes Liebe und seine Heiligkeit drängten ihn, seinen einzigen Sohn als stellvertretendes Sühneopfer für alle dahinzugehen. Im Kreuz Jesu offenbart sich die Gerechtigkeit Gottes: Er bleibt gerecht, selbst wenn er die Ungerechten umsonst rechtfertigt (Rom 1,17; 3,24-26).
Muhammad hatte von dieser scheinbar unlösbaren Spannung zwischen der richtenden Heiligkeit Gottes und seiner rettenden Liebe keine Ahnung. Vermutlich hat er in seinem Leben nie eine solche Liebe erfahren.
Sein Geist in ihm rebellierte mit aller Macht gegen die Existenz eines Gottesohnes. Seine Ablehnung entfaltete sich in zunehmender Schärfe in verschiedenen Varianten, von denen wir fünf kurz skizzieren wollen:

1. Jeder bewußte Muslim lehnt mit Entrüstung den Gedanken ab, dass Allah einen Sohn habe. Im Qur’an steht mindestens 17-mal, dass Allah keinen Sohn hat, nie einen haben wird und keinen haben kann (Suren 2,116; 4,171; 6,101; 9,29; 10,68; 17,111; 18,4+5; 19,35; 19,88-92 [3-mal]; 21,26; 23,91; 25,2; 37,152; 39,4; 43,81; 72,3; 112,3). Muhammad verstieg sich dahin, dass er sagte: „Wenn der Allerbarmer einen Sohn hätte, wäre ich der erste der Anbeter” (Sure 43,81).

2. Wer sagt, Allah hat einen Sohn, begeht – islamisch gesehen – eine unvergebbare Sünde, die im christlichen Bereich mit der Sünde wider den Heiligen Geist verglichen werden kann. Wer sagt, Allah habe einen Sohn, verstößt gegen das Urdogma des Islams, wonach Allah nur ein einziger und keine Einheit aus Dreien sein kann.

Allah ist der Superstarke (al-jabbar, Sure 59,23), der allen Widerstand Zerschmetternde (al-qahhaar, Suren 12,39; 13,16; 14,48; 38,65; 39,4; 40,16), der Stolze {al-mutakabbir, Sure 59,23), der Listigste von allen (khair ul-makiriyn, Suren 3,54; 8,30) und der alleinige Besitzer der Majestät und der Verehrung (dhu al-jalaal wa al-‘ikraam, Sure 55,27).

Er kann nicht aus drei Personen bestehen. Das würde unausweichlich zu einer Palastrevolution führen. Im Islam kann nur ein einziger Herr und Herrscher sein (Sure 5,17).

Jesus aber war sanftmütig und von Herzen demütig. Er verleugnete sich selbst und ehrte allezeit seinen Vater. Auch der Heilige Geist stellt sich nicht selbst groß heraus, sondern verherr- licht Jesus (Joh 16,13-14). Es gibt nie Streit in der Heiligen Dreieinigkeit, denn unser Gott ist demütig und voller Liebe.
Der Gedanke eines Sohnes Allahs sowie eines Geistes Allahs als göttliche Personen bleibt im Islam undenkbar (Suren 4,171; 5,73).

3. Dazu kommt, dass eine christliche Sekte auf der Arabischen Halbinsel Maria vergöttlicht hatte und die Heilige Dreieinigkeit als Vater, Mutter und Sohn beschrieb (Sure 5,116). Seither meinen viele Muslime, die Christen glaubten, Allah habe mit Maria geschlafen und mit ihr einen Sohn gezeugt. Muhammad hat diese Gotteslästerung mit Recht abgelehnt! Wer heute noch solche Gedanken von Muslimen hört, sollte ihnen erklären, dass keine christliche Kirche einen solchen Unsinn glaubt. Wir lehren keine biologische Zeugung Jesu, sondern eine geistliche Dreieinigkeit, die aus Gott, seinem Wort und seinem Geist besteht (Suren 3,45 und 4,171).

4. Muhammad versuchte den Christen „tolerant” entgegenzukommen, um sie für seinen Islam zu gewinnen. Er bekannte mehrere Male, dass ‘Isa ohne Zutun eines Mannes, allein durch das Wort Allahs und seinen Geist, in Maria geschaffen worden sei (Suren 3,45-47; 19,16-22; 21,91 und 66,12). Muslime können deshalb an die Geburt Christi von der Jungfrau Maria glauben! Sie stellen sich dabei jedoch auf die Seite des Häretikers Arius aus Alexandrien (260 – 336), der behauptete, Jesus sei in Maria geschaffen aber nicht gezeugt worden. Das Konzil von Nizäa (325 n.Chr.) hat diese Irrlehre verworfen. Seither bekennen alle christlichen Kirchen im Nizänischen Glaubensbekenntnis:

Jesus ist „Gott von Gott,

Licht von Licht,

wahrer Gott vom wahren Gott,

gezeugt und nicht geschaffen,
in einem Wesen mit dem Vater.“

Muslime aber behaupten: „Nein! Er ist nur geschaffen und nicht gezeugt worden! ‘Isa ist ein Geschöpf und nicht göttlicher Natur. Allah ist sein Schöpfer, niemals sein Vater!” Sie akzeptieren zwar die Geburt Christi von der Jungfrau Maria, verdrehen aber den entscheidenden Punkt: Sie nennen ‘Isa den Sohn der Maria, nicht aber den Sohn Gottes. Deshalb ist es falsch zu sagen, der islamische ‘Isa sei mit Jesus im Evangelium identisch. ‘Isa ist nur ein zeitliches Geschöpf und steht nach dem Qur’an auf derselben Stufe mit Adam (Sure 3,59). In Jesus Christus ist jedoch die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig sichtbar geworden (Kol 2,9). ‘Isa ist nicht gekreuzigt worden. Jesus aber wurde Mensch, um die Welt mit Gott am Kreuz zu versöhnen. Wer behauptet, Jesus sei mit ‘Isa identisch, steht in Gefahr, den gekreuzigten Sohn Gottes zu verdunkeln oder zu verleugnen.

5. Die Auseinandersetzung zwischen Muhammad und den Christen wurde so scharf, dass er jeden verfluchte, der glaubte und bekannte, dass Christus Gottes Sohn ist. In Sure 9,30 lesen wir:

„Die Christen sagen

Christus ist der Sohn Gottes.

Das sagen sie nur so obenhin mit ihren Mündern. Sie ahmen damit das Geschwätz derjenigen nach, die vor ihnen ungläubig waren.
Allah schlage sie tot!
Wie sind sie doch so abgewichen!”

Solange dieser Vers im Qur’an als Direktoffenbarung Allahs steht, ist jeder Dialog zwischen Christen und Muslimen im Sinne einer Gleichberechtigung der Religionen eine Farce. Entweder wird dieser Vers bei den dialogbereiten Christen unterbewertet oder er ist ihnen nicht bekannt. Meistens wird er von Seiten der Muslime aus taktischen Gründen verschwiegen. Die Tatsache bleibt aber bestehen: Jeder Christ, der die Gottheit Christi bekennt, gilt im Islam als verflucht.

Muhammad hat die Sündlosigkeit Christi direkt oder indirekt bestätigt (Sure 19,19). Er hat jedoch nicht verstanden, dass die Inkarnation Gottes in Jesus unerläßlich war, damit ein Mensch ohne Sünde bleiben konnte und würdig war, als Lamm Gottes für alle Sünder zu sterben. Der Geist in Muhammad erlaubte ihm nicht, diese Zusammenhänge zu erkennen. Er sträubte sich bewußt, die Kreuzigung Christi anzuerkennen.

Im Qur’an zeichnet sich eine zunehmende Verhärtung Muhammads gegenüber der Tatsache des Todes Jesu ab. Im Anfang bestätigte er noch die Tatsache seiner Geburt, seines Todes und seiner Auferweckung von den Toten (Sure 19,33). Dann ließ er Allah, als „den Listigsten von allen” (Suren 3,54; 8,30) Christus vor seiner Kreuzigung retten, indem er ihn einschlafen und lebendig zu sich entrücken ließ (Sure 3,54-55). Zum Schluss leugnete Muhammad die Kreuzigung Christi offen und behauptete: „Sie haben ihn nicht getötet, sie haben ihn nicht gekreuzigt! Er ist ihnen nur so erschienen” (Sure 4,157).
Weshalb hat Muhammad die Geschichtstatsache der Kreuzigung Christi geleugnet? Wir wollen einige dieser Gründe in Kürze nennen:

1. Allah im Islam ist souverän! Er braucht kein Lamm, keinen Mittler und keine Sündopfer, um vergeben zu können. Er vergibt, wem er will, wann er will und wo er will. Er vergibt nicht, wenn er nicht will. Wäre ein Sündenbock oder ein Brandopfer zur Versöhnung nötig, wäre Allah nicht mehr allmächtig. Er wird zwar im Qur’an 114-mal als der Vergebende bezeichnet (a/- ghafur 91-mal, al-ghaffar 5-mal, al-tawwaab 11-mal, al-‘afuw 5-mal, dhu al-maghfira 2-mal). Er sagt jedoch nie direkt: Deine Sünden sind dir vergeben!
Allahs Vergebungsautorität ist lediglich theoretisch möglich und bietet nur eine ungewisse Hoffnung für die Muslime.
Seine Vergebung basiert nicht auf der geschichtlichen Tatsache eines stellvertretenden Opfers und schafft keine Gewißheit der Vergebung in den Muslimen. Deshalb schreibt Muhammad, dass Allah „vielleicht” vergibt, „wenn” er will, oder nur „einige” der Sünden, ohne je eine bindende, für jedermann gültige Zusage zu machen. Allah im Islam steht jenseits aller Bindungen und Gewißheiten.

2. Muhammad lehnte außerdem die Möglichkeit einer Stellvertretung im Jüngsten Gericht strikt ab. Jeder Mensch müsse seine Schuld und Strafe selbst tragen. Muhammad ließ zwar Allah bei der vereitelten Opferung des Sohnes Abrahams sagen: „Wir haben ihn durch ein gewaltiges Schlachtopfer erlöst” (Sure 37,107), ohne jedoch diese bedeutende Aussage anderweitig im Qur’an oder der Hadith zu erhellen. Auch die jährliche Schlachtung von Millionen Schafen und Kamelen am islamischen Adha Fest hat keine versöhnende, sondern nur eine gesellschaftlich-religiöse Bedeutung. Die Opferordnungen im Alten Testament haben im Qur’an keinen Niederschlag gefunden. Sie wurden sorgsam gemieden oder ausgemerzt. Der Geist in Muhammad sträubte sich gegen jede Stellvertretung im Gericht Allahs.

3. Muhammad war ein Kaufmann. Wer bei ihm bezahlte, erhielt Ware. Wer nicht bezahlte, bekam nichts. Wer arbeitete, empfing seinen Lohn. Wer nicht arbeitete, ging leer aus. Umsonst gab es nichts. Muhammad verstand Religion als ein Geschäft (Sure 35,29-30).
Allah kaufte die Seelen und den Besitz der Muslime (Sure 9,111). Er zahlt den Gläubigen ihren Taten entsprechend einen Lohn (Sure 3,57 u.a.). Eine Umsonst-Gnade für Faule und Ungerechte erschiene als ein Unrecht den Gottesfürchtigen und Fleißigen gegenüber. Der Islam zeigt sich damit als eine Werkgerechtigkeits- Religion, die auf den guten Werken der Muslime aufgebaut ist. Der Qur’an sagt, „die guten Taten vertreiben die bösen Taten” (Sure 11,114) Die Worte “Heil” oder “Rettung” im biblischen Sinn kommen im Qur’an nicht vor. Im Islam ist kein Platz für einen Heiland und seinen stellvertretenden Tod.

4. Vielleicht hat Muhammad auch aufgrund persönlicher Erwägungen die Kreuzigung Jesu verworfen. Er sah in Christus einen treuen Sklaven Allahs. Wie sollte der treue Allah den treuen ‘Isa in die Hände seiner Feinde fallen lassen? Das könnte bedeuten, dass Allah auch Muhammad in die Hände seiner Feinde fallen ließe. So verwarf Muhammad um seiner eigenen Sicherheit willen strikt die Möglichkeit der Kreuzigung Christi.

5. Muhammad hörte von einer christlichen Sekte im Niltal, die weder an die volle Inkarnation Gottes in Christus, noch an seinen realen Tod am Kreuz glaubte. Sie behauptete, Gott sei lediglich in Gestalt eines Menschen „erschienen”. Er könne weder menschlichen Bedürfnissen unterliegen noch sterben. Er sei nur als Gekreuzigter erschienen, aber nie real gestorben. Da griff Muhammad sofort zu und sagte: „Die armen Christen! Sie denken Christus sei gekreuzigt worden. Er ist aber nicht getötet noch gekreuzigt worden, sondern nur so erschienen!” (Sure 4,157). 20 Muslime sind überzeugt, dass das Kreuz Jesu auf die verirrten Christen wie eine Fata Morgana (Luftspiegelung) wirkt. Sie hätten sich in der Wüste des Lebens verirrt und seien bereits am verdursten und sähen in ihren Halluzinationen drei Götter anstelle von einem und meinen, einer von den Dreien sei sogar gekreuzigt worden. Die Armen, sie liegen bereits im Delirium! (Sure 1,6) Muslimische Eltern warnen ihre Kinder früh vor solchen Wahnvorstellungen der Christen, um sie gegen den Glauben an die Kreuzigung Christi immun zu machen.

Die ständig sich wiederholende, bewußte oder unbewußte Ablehnung des Kreuzes Jesu durch die Muslime stellt uns vor die bittere Tatsache, dass kein Muslim Vergebung seiner Sünden empfangen kann. 1,2 Milliarden Angehörige dieser Weltreligion lehnen Jesus heute als Lamm Gottes ab, der auch ihre Sünde getragen und sie am Kreuz mit Gott versöhnt hat. Außerhalb des Kreuzes Jesu aber gibt es keine Vergebung oder Rechtfertigung, sonst hätte Jesus Christus nicht stellvertretend für uns sterben müssen. Das Wort vom Kreuz ist für die Humanisten und Rationalisten Europas eine Torheit und für die Muslime in allen Kontinenten ein Ärgernis (1. Kor 1,18+23). Ihre beharrliche Ablehnung der Kreuzigung des Sohnes Gottes bewirkt in ihnen eine Verhärtung und Immunität gegen das auch für sie vollendete Heil.

3. Was bedeutet Glaube im Islam?

Wie jede Religion ist auch der Islam auf dem Prinzip des Glaubens aufgebaut. Die islamischen Glaubensinhalte und Methoden unterscheiden sich jedoch grundsätzlich vom christlichen Glauben. Sechs Bereiche sollen das verdeutlichen:
1. Muhammad wollte die Beduinenstämme seiner Umgebung mit ihren großen Kamelherden unterwerfen. Die Beduinen bekamen jedoch von diesem Vorhaben Wind und schrieen bei der Ankunft seiner Reiter: „Wir glauben an Allah! Wir sind Gläubige!” Darauf offenbarte Muhammad in Sure 49,14 die klassische Definition des islamischen Glaubens:

„Die Beduinen sagen: Wir glauben!’ Sag: Ihr habt nicht geglaubt, bis ihr sagt: ‘Wir unterwerfen uns’. Der Glaube ist euch noch nicht ins Herz eingedrungen. Wenn ihr aber Allah und seinem Gesandten gehorcht, so fehlt euch nichts mehr an euren guten Werken.”

Glaube im Islam besteht also nicht zuerst aus dem Vertrauen des Herzens, noch im intellektuellen Verstehen einer Glaubenslehre, sondern in der bedingungslosen Unterwerfung des Willens und der gesamten Existenz unter Allah und seinen Gesandten. Zuerst kommt die Eingliederung in den Religionsstaat und die Unterwerfung unter sein Gesetz, dann erst dringt der Glaube in Herz und Kopf und formt die Lebensweise. Bei den Christen ist es umgekehrt. Zuerst die Überzeugung, dann die Hingabe.

2. Das Eindringen des Glaubens in die Herzen nach der Unterwerfung wird von einigen Islam-Theologen als stufenweise Entwicklung definiert: Nach einem zögernden Überlegen soll die Erkenntnis kommen. Dann soll der feste Entschluss und die Bindung des Herzens folgen. Das Bekenntnis der Zunge ist unumgänglich. Die Taten sollen sich immer mehr nach dem Qur’an ausrichten. Der Glaube reift damit zum Voll-Islam. Wer kein Muslim ist, kann kein Gläubiger sein, sondern wird als Ungläubiger abgelehnt. Glaube und Islam werden zu Synonymen.

3. Eine andere Seite im Glauben der Muslime ist die weitgehende Absage an jedes kritische Denken und Analysieren der Offenbarungen Muhammads. Der Qur’an soll in erster Linie nicht erarbeitet, zerpflückt und verstanden, sondern in der arabischen Sprache auswendig gelernt werden. Niemand könne Allah mit seinen Gedanken erreichen und umfassen. Vielmehr denkt er uns, nicht wir ihn. Das aktive Denken wird im Islam selten gefördert. Dafür wird blindes Akzeptieren, Auswendiglernen und Nachplappern bevorzugt. Christen sind erzogen, viel zu denken und werden in der Bibeiarbeit geschult, aber sie kennen wenig Bibelabschnitte und selten ein Evangelium auswendig. Bei Muslimen ist es umgekehrt. Sie wissen viel und denken wenig, die Christen aber denken zu viel und wissen wenig!

4. Letztlich entscheidet der Inhalt der islamischen Glaubensordnung über den Glauben der Muslime. Diese wurde von den muslimischen Theologen in sechs Artikel gegliedert:

Allah ist der Schöpfer, der souveräne Herr aller Welten und ihr Richter.

Seine Engel sind seine Sklaven. Zu ihnen gehört auch Djibril, der als der „Geist des Heiligen” (ein geschaffener Geist) verstanden wird.

Seine Bücher sind präexistent. Zu ihnen gehören die Thora und das Evangelium, die jedoch vom Qur’an relativiert und überboten werden.

Seine Gesandten und Propheten sind seine Stellvertreter und Sprecher auf der Erde. Zu ihnen gehören u.a. Abraham, Mose, Isa und Muhammad.

Seine Prädestination determiniert alle Geschöpfe, jeden Menschen und alle Ereignisse im voraus bis ins Detail.

Die Auferstehung der Toten am Tage des Gerichts und ihre Trennung in Bewohner der Wonnegärten oder des röhrenden Feuers ist das Ziel der Weltgeschichte.

5. Wer dieses „Fundament des islamischen Glaubens” mit den drei Hauptartikeln des christlichen Glaubens vergleicht, stellt ernüchtert fest:

a) Der zweite Glaubensartikel des christlichen Bekenntnisses mit seiner alle umfassenden Recht- fertigungsgnade fehlt im Islam völlig. Es gibt zwar Versuche der Muslime, eine Gerechtigkeit allein aus Glauben aufzubauen, indem sie sagen: „Wer an Allah, Muhammad und den Qur’an glaubt, hat das Vorrecht ins Paradies einzutreten. Wer nicht an Allah, Muhammad und den Qur’an glaubt, muß draußen bleiben.”
Muhammad hat jedoch selbst mehrere Male im Qur’an angedeutet, dass der islamische Glaube allein nicht zur Rechtfertigung im Gericht genügt, indem er etwa 50-mal sagte:
„Wer da glaubt und gute Werke tut, der wird in die ewigen Gärten geführt” (Suren 2,25+82; 4,57+122+124; 11,23; 14,23; 18,107; 22,14+23+56; 29,58; 30,15; 31,8; 32,19; 42,22; 47,12; 98,7-8).
…. Sie werden ihren Lohn erhalten” (Suren 2,277; 3,57; 4,173; 5,9; 17,9; 18,2+30; 35,7; 41,8; 48,29; 84,25; 95,6).
„… Sie empfangen Vergebung und ihre bösen Taten werden zugedeckt” (Suren 5,9; 11,11; 22,50; 29,7; 33,35; 34,4; 35,7; 48,29).
… Sie sind selig zu preisen” (Sure 13,29).
„… Sie erreichen hohe Stufen” (Sure 20,75).
„… Allah schreibt ihnen alles gut” (Sure 21,94).
… und bringt sie zu den Guten” (Sure 29,9).
„…Er belohnt sie aus seinem Überfluß” (Sure 30,45).
„… Er erhört sie” (Sure 42,26)
… und bringt sie in seine Barmherzigkeit” (Sure 45,30)
Sie sind die besten aller Geschöpfe” (Sure 98,7).
„… und empfangen viele weitere Vorrechte” (Suren 19,96; 20,112; 29,58; 22,50; 42,22-23; 65,11).

Muhammad hat mit diesen Versen die Glaubensgerechtigkeit im Qur’an korrigiert und indirekt bekannt, dass der Glaube allein keinen Muslim im Gericht rettet, sondern dass seine guten Werke (Zeugnis geben, fünfmal beten am Tag, Fasten im Monat Ramadan solange die Sonne scheint, Almosen geben und eine Wallfahrt nach Mekka) dazukommen müssen. Der Glaube im Islam wird als Leistung des Menschen wie ein gutes Werk verstanden, so dass erneut deutlich wird, dass der Islam kein Heil allein aus Gnade kennt, sondern seine Hoffnung auf die Frömmigkeit der Muslime setzt.

Wer diese islamische Rechtfertigungslehre mit der Auslegung Martin Luthers im Kleinen Katechismus vergleicht, erkennt schlagartig die Oberflächlichkeit und Hohlheit des islamischen Glaubens. Luther hat uns gelehrt zu bekennen:

„Ich glaube, dass Jesus Christus … sei mein Herr,

der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tod und von der Gewalt des Teufels

nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben,

auf dass ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe

und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden vom Tod, lebt und regiert in Ewigkeit.

Das ist gewisslich wahr.”

Hört ein Muslim dieses Bekenntnis, dann sträuben sich ihm die Nackenhaare vor Entsetzen. Wenn er den Mut hätte, würde er antworten:
* „Dieses Bekenntnis ist reiner Unglaube und enthält eine ununterbrochene Gotteslästerung.
* ‘Isa ist nicht der Herr, sondern ein Sklave Allahs.
* Ich bin kein verlorener und verdammter Mensch, sondern ein Muslim.
* ‘Isa hat mich nicht durch sein Blut erlöst! Er ist überhaupt nicht gestorben! Er ist auch nicht gekreuzigt worden.
* Ich bin nicht sein Eigentum, denn ich habe mich allein Allah ausgeliefert.
* ‘Isa regiert nicht als Gott-König im Reich der Himmel, denn Allah ist der Herrscher.
* Wir verehren ‘Isa als Propheten, lehnen jedoch den Glauben an seine Göttlichkeit und seine Erlösung konsequent ab.”

Die meisten Muslime haben ihre eigene Verdorbenheit und Sündhaftigkeit nicht erkannt und sind überzeugt, dass sie sich mit ihrem islamischen Glauben und ihren guten Werken selbst rechtfertigen können. Hier liegt der Kern ihres Irrtums.

b) Nicht nur der zweite Artikel des christlichen Glaubens fehlt komplett im islamischen Glaubenssystem, sondern auch der dritte Artikel vom Heiligen Geist. Der Qur’an redet zwar 29- mal vom Geist Allahs, meint aber damit meistens Djibril (den Engel Gabriel), der mit verschiedenen Titeln und Namen des Geistes von Allah belegt wird. Dieser ist in jedem Fall ein geschaffener Geist und ein Sklave Allahs. Der Geist Allahs ist nie heilig in sich selbst, noch göttlicher Natur. Er bleibt ein Besitz des Heiligen, ist ein Geschöpf und kein Schöpfer.

Der Geist Allahs im Qur’an erscheint im Zusammenhang mit der Schöpfung des ersten Menschen (Suren 15,29; 32,9; 38,72), mit der Erschaffung ‘Isas in der Jungfrau Maria (Suren 19,17; 21,91; 66,12), mit den Wundern ‘Isas (Suren 2,253; 4,171; 5,110), mit dem Leben Muhammads (Suren 2,97; 16,102; 17,85; 26,193-194; 42,52), mit seiner islamischen Gemeinde (Suren 58,22) und dem Jüngsten Gericht (Suren 40,15; 70,4; 78,38).

Wir müssen die nüchterne Feststellung treffen, dass es im Islam keinen Heiligen Geist im Sinne der 29 Bibel gibt. Wer seelsorgerlich denken kann, der hat damit den Islam durchschaut:

Im Islam kann es keine Erkenntnis des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes geben, denn der Geist ist’s, der „Abba, lieber Vater”, ruft und Zeugnis unserem Geist gibt, dass wir Gottes Kinder sind (Röm 8,15-16). Niemand kann Jesus den Herrn nennen ohne durch den Heiligen Geist (1. Kor 12,3). Der Geist allein erforscht die Tiefen der Gottheit (1. Kor 2,10-11).

Es gibt keine Einwohnung des Heiligen Geistes in einem Muslim oder in der Gemeinde des Islams. Ein Muslim ist kein Tempel des Heiligen Geistes – weder als einzelner noch als Gemeinde. Der Glaube im Islam hat weder eine Wiedergeburt noch eine Kindschaft in Bezug auf Gott zur Folge. Es gibt kein ewiges Leben in den Muslimen, da es keinen Heiligen Geist im Islam gibt.

• Im Islam gibt es keine Frucht des Heiligen Geistes, nur Fruchte des Fleisches. Alle Religiosität, Gebet, Glaube, Gesetz und Frömmigkeit ist innerweltlich (immanent) im Islam und keine Wirkung des Heiligen Geistes (Gal 5,19-26).

• Es gibt keine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens in den Muslimen, denn sie kennen keinen göttlichen Tröstergeist. Sie behaupten, Muhammad selbst sei dieser Tröster. Sie haben Angst vor den Plagen im Grab, vor Gericht und Hölle, denn sie sind noch nicht aus der Finsternis zum Licht und nicht vom Tod ins Leben durchgedrungen.
Auch beim dritten Artikel unseres Glaubens ist die Erklärung Martin Luthers in der Beurteilung des Islams wegweisend. Indem wir seine Worte nachsprechen, zeigen wir, was dem Islam fehlt:

„Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann,
sondern der Heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten,
gleichwie er die ganze Christenheit beruft, sammelt und erhält im rechten einigen Glauben.
Das ist gewisslich wahr.”

Im Islam kann es keinen Heiligen Geist geben, weil Allah nur Einer ist und keine andere Person neben ihm existieren kann. Damit ist der Islam von jedem geistlichen Leben und von der Liebe Gottes geschieden. Der Islam ist geistlich tot!
Ohne Jesu Tod am Kreuz wäre der Heilige Geist nicht in die Gemeinde Jesu Christi gekommen. Ohne Glauben an den Sohn Gottes hätten wir kein ewiges Leben.
„Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm” (Joh 3,36).

Jesus spricht:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen” (Joh 5,24).

Da die Muslime weder an Jesus noch an den Heiligen Geist glauben, scheiden sie sich willentlich und bewußt mit allen Konsequenzen vom ewigen Leben.

c) Auch der erste Artikel des christlichen Glaubens verliert in der islamischen Glaubensordnung seinen Glanz. Ein Muslim kann zwar bekennen: „Ich glaube an Allah, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde.” Er kann jedoch nicht bekennen, dass der Allmächtige sein Vater ist. Da der Islam den Sohn Gottes ablehnt, lehnt er auch den Vater ab (1. Joh 2,23). Kein Muslim hat eine persönliche Beziehung zu Allah, welcher letztlich der ferne, große und unbekannte Gott bleibt, den keiner kennt und den dennoch alle anbeten müssen. Der Evangelist Johannes bestätigt diese Tatsache, indem er sagt:

„Niemand hat Gott je gesehen. Der einzig geborene Sohn, der in des Vaters Schoß sitzt, der hat ihn uns verkündigt” (Joh. 1,18).

Jesus hat uns den Vater geoffenbart, den nahen, den persönlichen Gott, der sich an uns, seine verlorenen Söhne und Töchter, auf ewig gebunden hat. 186-mal redet Jesus nach den vier Evangelien vom Vater und lehrte uns, nicht zu „Gott”, sondern zum „Vater” zu beten.
Die Realität Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes bleibt einem Muslim verborgen und verschlossen. Damit zeigt sich der islamische Glaube als ein Irrgarten, als ein Tappen im Nebel ohne die Erkenntnis der Sonne Jesus Christus.
Vielleicht sagt jemand: „Die Muslime zeigen aber in ihrem Glauben eine große Leidensfähigkeit und Geduld, von der wir Christen nur lernen können!” Auf einen solchen Einwand kann geantwortet werden: „Vielleicht ist diese Ergebenheit in den Willen Allahs letztlich lähmender Fatalismus.” Wir sollten bedenken, dass der islamische Glaube gleichzeitig einen Muslim zu glühendem Fanatismus und sogar in den Heiligen Krieg treiben kann. Wie sagte doch Hasan al- Banna, der Begründer der Muslimbrüder: „Erst derjenige Muslim ist ein ganzer Muslim, der sich selbst verleugnet, seine innere Hemmung überwindet und bereit ist, die Feinde des Islams zu töten!”

Der islamische Glaube ist kein rettender und erlösender Glaube, sondern bindet die Nachfolger Muhammads in eine dämonische Gottesferne. Sie kennen ihren Allah nicht, fürchten ihn jedoch. Sie verteidigen seine Einheit und Einzigartigkeit, kennen jedoch die Frage des Jakobus und seine Antwort nicht:

„Du glaubst, dass nur einer Gott ist?

Die Dämonen glauben es auch – und zittern!” (Jak 2,19). 


4. Kann ein Muslim verloren gehen?
Im Qur’an steht in Sure 19,71+72 die schreckliche Offenbarung, die an jeden Muslim gerichtet ist:
„Es gibt keinen von euch, der nicht in sie (die Hölle) hinein kommen wird.
Das lag auf deinem Herrn als eine unausweichliche Vorherbestimmung.
Anschließend retten wir die Gottesfürchtigen und lassen die Ungerechten in ihr auf ihren Knien liegen.”

Was ist das für eine Religion, die ihre Anhänger in die Hölle befördert und anschließend nur die Superfrommen herausholt!?
Diese Verse entstammen keiner christlichen Apologetik, sondern stellen einen zornigen Ausruf Muhammads über seine Muslime dar, die sich im heißen Sommer nicht an einem Rachefeldzug gegen die byzantinischen Christen im Norden beteiligen wollten. Als Abdullah, ein Verwandter Muhammads, diese „Offenbarung Allahs” hörte, sagte er „Wenn ich einmal in der Hölle bin, komme ich nie mehr heraus, denn meine Sünden gehen mir über den Kopf.” Er stürzte sich in den Kampf und kämpfte, bis er getötet wurde, denn die Märtyrer im Heiligen Krieg erwarten von dieser Vorherbestimmung befreit zu werden. Sie hoffen, um ihrer Ganzhingabe willen nach ihrem Tod sofort in die Gärten ewiger Wonnen entrückt zu werden (Sure 3,157-158+169-170+195).

Diese Verse bestätigen aufs neue die Werkgerechtigkeit des Islams, denn nur diejenigen Muslime, die viel beten, fasten und reichlich von ihrem Besitz spenden haben Aussicht, nach einer unbestimmten Dauer aus den Flammen des islamischen Fegefeuers errettet zu werden. Es ist nur eine Auswahl von Muslimen, die nicht auf ewig in der Glut des Zornes Allahs schmoren muß. Die Mehrzahl von ihnen, sowie alle Juden, Christen und Animisten, die nicht an Allah, Muhammad und den Qur’an glauben, werden auf ewig in der Hölle gegrillt werden. Jedesmal wenn ihre Haut aufplatzt, wird ihnen eine neue Haut gegeben, damit sie ewige Pein erleiden (Sure 4,56)!
Ein weiteres Argument, das der Apostel Paulus lehrte, bestätigt die Voraussage Muhammads, dass alle Muslime in die Hölle kommen.
Paulus schreibt:
„Kein Mensch kann durch die Werke des Gesetzes vor Gott gerecht werden” (Röm 3,20; Gal 2,16).
„Alle, die aus den Werken des Gesetzes leben, sind unter dem Fluch, denn verflucht ist jeder, der nicht bleibt bei allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben steht und es tut” (Gal 3,10; 5. Mose 27,26).

Jakobus fügt dem hinzu:
„Wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig geworden” (Jak 2,10).

Paulus bestätigt:
„Das Gesetz führt nur Gottes Zorn herbei” (Röm 4,15).

Solange die Muslime ihre Religion auf Gesetz und eigene Leistung bauen, leben sie unter Gottes Zorn.

Muhammad verstand sich selbst als Warner, nicht als Retter (Suren 13,7; 38,4+65; 50,2; 79,45). Er warnte die Menschen in etwa einem Drittel seiner Suren vor dem kommenden Gericht. Sein Heilsmechanismus jedoch, mit dem er die Muslime vor dem kommenden Gericht retten wollte, war die Erfüllung des islamischen Gesetzes. Muhammad steht mit der Peitsche seines Gesetzes hinter den Muslimen in aller Welt und treibt sie zur Einhaltung der Schari’a an, die alle Lebensgebiete umfaßt, damit sie im Jüngsten Gericht genügend gute Taten aufweisen können, um als ihren Lohn Wonne und Lust in den ewigen Gärten zu empfangen. Hier liegt der große Irrtum Muhammads und die entscheidende Schwäche des Islams. Kein Muslim betet zu allen vorgeschriebenen Gebetszeiten. Keiner kann das Fasten (solange die Sonne scheint) einen Monat lang fehlerlos erfüllen. Viele berechnen ihre Religions- steuer zu ihren eigenen Gunsten. Und in den Bereichen „Sex”, „Stolz” und „Betrug” bleibt kein Mensch gerecht – auch kein Muslim! Zwar stellt Muhammad seinen Muslimen eine große Waage in Aussicht, die im Jüngsten Gericht die guten gegen die bösen Taten aufwiegen soll. Er hat jedoch nicht erkannt, dass vor dem heiligen Gott alle unsere sogenannten guten Taten mangelhaft und ungenügend sind. Kein Mensch kann aufgrund seiner eigenen Werke gerecht werden.

Allah ist jedoch im Islam so weit vom Menschen entfernt, dass seine Heiligkeit und Liebe für Muhammad nicht zum Maßstab seines Gesetzes wurden. Er war sich nicht voll bewusst, dass jeder Mensch nur Zorn verdient hat. Er ahnte vielleicht, dass jedermann verloren und verdammt ist, denn er sprach offen davon, dass alle Muslime in die Hölle kommen. Er hat trotzdem die Gnade Christi nicht erkannt geschweige denn angenommen, vielmehr alle Muslime vor ihr gewarnt (Sure 1.5-6)1. So begriff er auch nicht, dass „Christus des Gesetzes Ende ist. Wer an den glaubt, der ist gerecht” (Röm 10,4).

Das Gesetz des Islams, auf das viele Muslime ihre Hoffnung setzen, wird sie am Ende alle verurteilen. Denn „das Gesetz bringt uns nicht mehr als Gottes Zorn ein” (Röm 4,15). Um ihres Gesetzes willen sind alle Muslime verlorene und verdammte – und wissen es nicht. Viele ahnen es jedoch. Wer in ihre hoffnungslosen, traurigen Augen blickt, kann spüren, dass sie keinen Frieden mit Gott im Herzen tragen.

Vielleicht wendet jemand ein und sagt: „Aber Jesus Christus wird im Jüngsten Gericht die Menschen nach ihren Taten der Liebe richten” (Mt 25,31-46). Dem antworten wir: Ja! Aber sind die Gesegneten seines Vaters, die dem Richter zur Rechten stehen, nur gut und fehlerlos? Und sind die Ungerechten, die mit Satan und seinen Engeln ins ewige Feuer verdammt werden, nur böse, kalt und herzlos? Haben die Guten nicht auch gesündigt und die Bösen nicht auch Gutes getan? Gewiß, aber die Auserwählten haben ihre Sünden erkannt, bekannt und sie unter die Vergebung des Blutes Jesu gebracht. So blieb von ihrem Leben nichts übrig, außer dem, was der Heilige Geist in ihnen an Taten der Liebe gewirkt hatte.

Die Ungerechten aber haben ihre Sünde weder erkannt noch bekannt. Sie haben die Gnade der Reinigung durch das Blut Christi nicht in Anspruch genommen, wenn nicht gar mit Willen oder Spott verworfen. Sie müssen alle ihre Sünden und auch die Strafe allein tragen. Jesus nennt sie Verfluchte, die mit dem Teufel und seinen Engeln ins ewige Feuer gehen müssen.

Glauben wir noch an die Realität dieser Gerichtsrede Jesu Christi? Leiden wir mit den Muslimen, die ihren Retter verworfen haben und die Macht seines Blutes leugnen? Kann das Erbarmen Christi uns noch zur Mission unter den Nachkommen Ismaels treiben, oder sind unsere Herzen bereits kalt und hart geworden? Lasst uns um die Gnade des Mitleidens mit den Muslimen beten, damit wir aus unserem Gemeindekarussell aufgeschreckt werden und den Herrn der Mission um Kontakte mit suchenden Muslimen bitten.

5. Wie stellen sich Muslime das ewige Leben vor?

Der Islam hat vom Christentum etliche spezifische Merkmale seiner Eschatologie übernommen, sie jedoch nach Inhalt und Form „islamisch” verändert. „Das Kommen Allahs zum Gericht” stellt eines der Hauptthemen des Qur’ans dar und war nach Frantz Buhl ein Hauptmotiv für das Prophetentum Muhammads. Der Islam ist eine eschatologisch ausgerichtete Religion. Ein Drittel aller Suren enthält widersprüchliche oder sich ergänzende Fragmente der islamischen Endzeiterwartung. Sie kann in sechs Abschnitte eingeteilt werden.

a) Die Zeichen der nahenden Auferstehung
Neben Naturkatastrophen erwarten Muslime vor allem das Kommen des einäugigen Verführers (al- dadjdjal), der die Muslime zum Abfall verführt, so dass kaum noch ein Muslim Muslim bleiben wird.

Auch Gog aus Magog gehören als Unheilbringer in die Zeit vor der Auferstehung, nur dass es im Qur’an Alexander der Große (der Zweigehörnte) ist, der vergeblich versuchen wird, durch einen hohen eisernen Wall ihr Eindringen zu verhindern (Sure 18,83-98).

Das Kommen und die Herrschaft des islamischen Antichristen wird als Auslöser der Wiederkunft ‘Isas verstanden, der heute noch bei Allah lebt (Suren 3,55; 4,157-158). Dieser hatte ’Isa leiblich zu sich entrückt, um ihn vor dem Kreuzestod zu bewahren. Der kommende ‘Isa wird den großen Verführer mit dem Hauch seines Mundes töten, alle Kreuze auf Kirchen und Gräbern zerschlagen, alle Schweine töten, heiraten und Kinder zeugen, um dann als Reformator des Islams die abgefallene Menschheit zur Hingabe an Allah im Sinne des Qur’ans zu führen. Wenn er seine Reformation vollendet hat, wird er sterben und neben Muhammad in Medina begraben werden. So ist die Wiederkunft ‘Isas nach der Auffassung vieler Muslime die direkte Überleitung zum Jüngsten Gericht. Aus diesem Grund wird ‘Isa im Qur’an als „das Zeichen der Stunde” (Sure 43,61) bezeichnet.

b) Die erste und die zweite Posaune
Engel werden mit lautem Getöse die erste Posaune blasen. Daraufhin werden alle Lebewesen im Himmel und auf der Erde wie vom Blitz getroffen in eine tiefe Ohnmacht fallen oder sterben, außer jenen, die Allah lebendig erhalten will.

Dann folgt eine große Stille im Himmel und auf Erden, deren Dauer unbekannt ist.
Danach blasen die Engel die zweite Posaune mit lautem Dröhnen (Suren 6,73; 18,99; 20,102; 23,101; 27,87; 36,51; 39,68; 69,13; 74,8; 78,18). Da werden sich die Himmel spalten und die Erde wird zerbrechen (Sure 82,1-5), Sterne werden erlöschen und Berge wie zerzauste Wolle davonfliegen (Sure 101,4-7). Alle Toten werden auf den Befehl Allahs auferstehen und zum Gericht versammelt werden. Sie stehen stumm in langen Reihen und haben zu schweigen, bis sie gefragt werden. Nun beginnt ihr Nachdenken und ihre Erinnerung an vollbrachtes Unrecht. Ihre aufkommende Reue setzt jedoch zu spät ein (Sure 78,38).

Der Gerichtstag in der islamischen Ewigkeit hat eine Dauer von 50.000 Erdenjahren (Sure 70,4). Dieser schreckliche Tag hat im Qur’an verschiedene Namen. Am häufigsten wird er der Tag der Auferstehung genannt (yawm al-qiyaamat, 90-mal). 40-mal wird er als die Stunde {ai-saa’af) oder als die klopfende Katastrophe (al-qaari’at, Suren 13,31; 69,4) bezeichnet. Er wird als die alles Einhüllende oder Zudeckende (al-ghaashiyat, Suren 12,107; 43 88,1) dargestellt. Er wird die ohrenbetäubende Stunde des Gerichts (al-sakhkhat, Sure 80,33) oder Tag der Scheidung (yawm al-fasl, Suren 37,21; 44,40; 78,17) genannt. Er ist die unausweichlich hereinbrechende (Katastrophe) (al-waaqi’at, Suren 56,1; 69,15), die wahre, reale Stunde (al-haqqat, Sure 69,1), der Tag der Abrechnung (yawm al- hisaab, Suren 38,16+53; 40,27), der Tag der Auferstehung der Toten oder ihrer Sendung aus dem Grab (yawm al-ba’th, Sure 30,56), der alle und alles umfassende Tag (yawm al-muhiyt, Sure 11,84) und der Tag der Religion oder der Tag des Gerichts (yawm al-diyn, Suren 1,4; 83,11). Dieser Tag ist für die Muslime der wichtigste Tag der Weltgeschichte, ihr Ziel und ihre Zusammenfassung. Er liegt wie ein schwarzer Tag vor ihnen, denn sie tragen keine Heilsgewissheit in sich.

c) Das Weltgericht im Islam
Unter der Aufsicht und Herrschaft Allahs (Sure 1,2-4), dessen Thron acht Engel tragen (Sure 69,17), wird jeder einzelne Mensch persönlich gefragt und beurteilt werden. Bücher werden aufgetan, in denen jede Tat aufgeschrieben ist (Suren 17,13-14; 18,49; 69,19+25; 84,7-12). Eine große Waage mit zwei Waagschalen wird aufgestellt, auf welcher die guten gegen die bösen Taten aufgewogen werden (Suren 7,8-9; 44 23,102-103; 42,17). Alles Unrecht zwischen Menschen und zwischen Völkern wird bis zur letzten Ursache aufgeklärt, alle Heuchelei und Lüge enthüllt und gerichtet. Das Gerichtsurteil wird jedem schriftlich in die Hand gedrückt, den Gerechtfertigten in die rechte, den Schuldigen in die linke Hand (Sure 69,19+36).

d) Die Brücke über die Hölle
Nach der Verurteilung folgt in der islamischen Tradition eine Frage der Hoffnung: Wird Muhammad von Allah die Erlaubnis zur Fürbitte für die Verurteilten seiner Gemeinde bekommen? Diese Fürbitte wurde von Muhammad im Qur’an nicht bestätigt, höchstens angedeutet (Suren 2,255; 19.87). Einige Kommentatoren sprechen von 70.000 Verdammten, die auf seine Fürbitte hin gerettet werden. Andere behaupten, dass für jeden, der bekennt „Allah habe einen Partner (Sohn und Heiliger Geist)” keine Fürbitte mehr möglich sei. Einmal steht im Qur’an geschrieben, dass selbst Engel für die Muslime Fürbitte einlegen (Sure 40,7).

Zum Schluss muß jeder den Gang über den „geraden Weg” (al-siraat al-mustaqiym), der über den Schlund der brodelnden Hölle führt, antreten. Einige beschreiben den Pfad, als sei er so dünn wie ein Haar oder so scharf wie die Schneide eines Schwertes; andere sehen in ihm ein Drahtseil über dem röhrenden Feuer oder einen vibrierenden Schwebebalken. Die Verdammten fallen kopfüber in das brüllende Flammenmeer. Die Gerechtfertigten aber gehen mit leichten Füßen über die „höllische Brücke” ins Paradies (Sure 37,23).

e) Die Hölle
Das häufigste Wort für Hölle ist Djahannam und kommt 77-mal im Qur’an vor. Dabei schienen Muhammad zwei Grundkonzepte vor Augen zu stehen:

Einmal ein überdimensionales Biest, das nach al- Ghazali (al-durra al-faakhira) sich auf vier mächtigen Beinen bewegt. An jedem seiner Beine seien 70.000 eiserne Ringe angebracht, die von 70.000 Dämonen mit Seilen festgehalten und gebremst würden, damit das Monster nicht alle Menschen und Dämonen fressen könne. Immer wenn es gefragt werde, ob es noch in der Lage sei, weitere Verdammte zu vertilgen, stöhne es hungrig: „Mehr!” (Sure 50,30).

Dieses frühe Konzept der Hölle wurde später von Muhammad fallen gelassen und durch das Bild eines unüberschaubar großen Kraters ersetzt. Dieser fällt in sechs terrassenartigen Stufen steil zum röhrenden Feuersee ab, in dem glühende Lava koche und brodle. Von Zeit zu Zeit steige und explodiere diese glühende Masse, überflute alle Terrassen und fülle den ganzen Krater, der auf allen Stufen mit Verdammten aus Menschen und Dämonen vollgepackt sei.

Allah habe grobe Folterknechte und erbarmungs- lose Wächter über die Hölle gesetzt (Sure 66,6). Sie lehnen alle Fürbitte ab (Sure 40,49-50), fesseln die schuldiggesprochenen Neuankömmlinge (Suren 34,33; 40,71) und schleifen sie auf ihren Gesichtern an ihren Bestimmungsort (Sure 25,34). Manche werden in Fesseln aneinandergebunden (Sure 25,13). Etliche bekommen Kleider aus Feuer übergestülpt (Sure 22,19). Andere stehen in siedend heißem Wasser, werden mit heißem Wasser übergossen und trinken heißes Wasser gierig wie Kamele, die am unstillbaren Saufdurst leiden (Sure 22,19-20).

Selbst der Onkel Muhammads, Abu Lahab und dessen Frau, wurden von ihrem Neffen in die Hölle befördert, weil sie sich geweigert hatten, Muhammad weiterhin bei dem wachsenden Boykott ihrer Sippe solidarisch zu beschützen: Abu Lahab werde in züngelnden Flammen gebraten und geröstet! Seine Frau müsse ständig gebückt schwere Holzscheite zum Verbrennen ihres Mannes herbeischleppen. Um ihren Hals liege eine Hanfschlinge, an der die Höllenwächter immer wieder ziehen, so dass sie beinahe ersticke und einen tausendfachen Tod sterbe (Sure 111,3-5).

Am tiefsten Punkt der Hölle, direkt am brodelnden Lavasee, stehe der Zaqqum-Baum, dessen Blätter als Speise für die Verdammten wie geschmolzenes Metall in ihren Därmen koche. Sie krümmten sich unter permanenten Magenkrämpfen am stinkenden Höllenschlund (Suren 44,43-46; 37,62-68).

Die unterste Stufe im Höllenkrater wird als djahiym 26-mal im Qur’an genannt. Dorthin werden vor allem jene verfrachtet, die die Offenbarungsverse Muhammads nicht akzeptiert und sie als Lüge bezeichnet haben (Suren 5,29+86; 22,51; 57,19). Ihre Qualen seien unbeschreiblich groß.

Wer sind die Verurteilten, die auf eine der sechs Terrassenstufen verdammt werden? Es sind vor allem die Ungläubigen (Suren 8,36; 9,49+68+73; 17,8; 18,100+102+106; 29,54+68; 35,36; 39,32+71; 50,24; 67,6; 98,6), und solche, die Allah einen Partner zur Seite stellen (Suren 17,39; 21,29+98), alle, die die Hölle leugneten (Sure 55,43) und alle, die sich unterstanden, Allah und Muhammad verbal zu widerstehen und anzugreifen (Suren 9,63; 72,23). Dazu gehören auch Juden und Christen, die nicht an Muhammads Offenbarungen glaubten, und sich seinem Islam nicht unterwarfen (Sure 98,6) und besonders jene, die versuchten Muslime und Musliminnen von ihrem Glauben abzubringen (Sure 85,10). Sie werden ewiglich in ihren Qualen leiden (12-mal).

Zu den Verdammten gehören auch die Stolzen, die Muhammad verachteten und verspotteten (Suren 16,27; 39,59; 40,60+76; 72,23), die Heuchler, die so taten, als wären sie Muslime (Sure 9,68+73), die Hinterlistigen (Sure 8,36-37) und alle Verbrecher und Frevler (Suren 19,86; 20,74; 43,74; 55,43-44). Sie können weder sterben noch leben (Sure 20,74).

Aber auch schuldig gewordene Muslime finden sich in der ewigen Qual, etwa wenn ein Muslim einen anderen Muslim vorsätzlich tötete (Sure 4,93), wenn seine Waagschale zu wenig mit guten Werken beladen war und hochschnellte (Sure 23,103), oder wenn er vom rechten Weg abwich und nur kleinlich in Raten spendete (Sure 72,14-15). Aber nicht nur Menschen, sondern auch Dämonen gehören zu den Bewohnern der Hölle, falls sie sich nicht dem Geist des Islams unterworfen hatten (Suren 11,119; 19,68; 32,13).

Man kann sich beim Lesen dieser Offenbarungen an Muhammad des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mehrzahl der Verdammten in der Hölle Muhammads Feinde waren, die seinen Islam nicht angenommen hatten. Er haßte sie und weidete sich an der detaillierten Beschreibung ihrer Qualen. Er nahm auf diese Weise Rache an ihnen, so wie er seinen toten Feinden, die er nach der Schlacht von Badr in einen alten Brunnen werfen ließ, noch Flüche in die Tiefe hinein nachrief.

Erschütternd ist auch die Aussage Allahs, dass er persönlich unbeugsame Christen, die den Islam Muhammads nicht annahmen, mit einer fürchterlichen Plage in dieser Welt und in der nächsten quälen werde (Sure 3,56). Das gilt auch allen Animisten, die sich dem Islam nicht öffnen. Der Zorn Allahs und sein Fluch bleiben über ihnen (Sure 48,6).

Wer die islamischen Darstellungen von der Auferstehung der Toten und dem Jüngsten Gericht liest, und sie mit den Berichten des Neuen Testaments vergleicht, findet neben scheinbaren Gemeinsamkeiten unüberbrückbare Unterschiede, von denen wir sechs herausstellen wollen:

• Im Islam erscheint nicht Jesus als Richterkönig, sondern Allah! Nicht der Retter der Menschen ist im Islam der Weltenrichter, sondern ein eiskalter Willkürherrscher, der verführt, welche er will und leitet, welche er will.

• Muslime stolpern ohne biblische Sündenerkenntnis ins Gericht, sie denken, sie seien gut genug, um ihr Sündenkonto mit guten Taten ausgleichen zu können. Sie wissen nicht, dass alle Menschen, ohne Ausnahme, verloren und verdammt sind, weil sie nicht barmherzig, heilig und vollkommen wie Gott sind und seiner Herrlichkeit ermangeln (3. Mose 11,44-45; + 19,2; Mt 5,48; Luk 6,36; Röm 3,23). Muslime sagen nicht wie Martin Luther:

„Da war kein Gut’s am Leben mein,
zur Hölle mußt ich sinken.”

• Sie kennen weder das Ausmaß ihrer Sünde, noch haben sie alle ihre bewussten Sünden bekannt und sich nicht vom heiligen Gott der Liebe im Voraus richten lassen. Im Islam gibt es kein vorgezogenes Selbstgericht, das sie vom eigentlichen Gericht befreit hätte (1. Joh 1,8-10). Die Muslime haben vielmehr Angst vor einer islamischen Vorstufe des Gerichts, die mit den Plagen im Grab eines jeden Verstorbenen beginnen. Der Engel des Lichts kämpft dort mit dem Engel der Finsternis um die Seele des Toten. Deshalb fürchten sich viele Muslime nicht nur vor dem Gericht, sondern auch vor ihrem Grab.

• Muslime kennen keinen Mittler und wissen nichts vom Lamm Gottes, das ihre Sünde wegtrug (Joh 1,29; Jes 53,4-12). Muhammad ist nicht an ihrer Stelle gestorben, was auch nutzlos gewesen wäre. Deshalb schlittern sie ohne die Vergebung ihrer Sünden und ohne Frieden mit Gott ins Jüngste Gericht und tragen eine unterschwellige Angst in sich. Sie lehnen eine Rechtfertigung allein aus Gnaden ab und kennen keine Reinigung ihrer Herzen (Ps 51,7-11; Hes 36,25-27; Mt 5,8). 52

• Sie werden entsetzt und überaus schuldig vor dem wahren Richter stehen. Sie haben keine Ahnung von dem befreienden Wort Jesu:

„Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt,
dass er die Welt richte,

sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.

Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet.

Wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet,

denn er glaubt nicht an den Namen des einziggeborenen Sohnes Gottes”
(Joh 3,17-18; 5,24).

• Muslime lehnen den gekreuzigten Gottessohn und sein auch für sie vollendetes Heil bewußt oder unbewußt ab. Sie scheiden sich damit willentlich von ihrer Umsonst-Rechtfertigung und der Reinigung ihrer Herzen, die auch für sie vorbereitet ist. Der Haß gegen den gekreuzigten Heiland steigert sich bisweilen zum offenen Fluch (Suren 3,59-61; 9,29).

Jesus redete mehrere Male von der Realität der Hölle, jedoch sehr zurückhaltend:


„Da wird sein Heulen und Zähneklappern” (Mt8,12; 13,40-42+49-50; 22,13; 24,51; 25,30; Luk 13,28),

„wo ihr Feuer nicht erlöscht und ihr Wurm nicht stirbt” (Mk 9,42-49).


In Lukas 16,19-31 hat Jesus den Vorhang vor der Hölle weggezogen und uns einen Einblick in das Leiden der Verdammten gegeben. Er wollte sich mit dieser Offenbarung nicht an ihnen rächen, sondern alle Unbußfertigen und insbesondere die Reichen erschüttern und zur Umkehr bewegen.

f) Wie stellen sich Muslime das Paradies vor?
Der Qur’an redet 62-mal von einem Garten (al- djannaf), dreimal von zwei Gärten (al-djannataan) (Suren 55,44-62, und 57-mal von mehreren Gärten (al-djannaat). Nur zweimal wird vom Paradies (al-firdaws) geredet (Suren 18,107; 23,11)8. Diese verschiedenen Paradiesgärten werden zusammen 124-mal erwähnt, während die Hölle {djahannam 77-mal und djahiym 26-mal) zusammen nur 103-mal im Qur’an genannt werden.

Für die obengenannten Gärten gibt es noch weitere Bezeichnungen:
Die Gärten der Annehmlichkeit und der Wonne (djannaat al-naiym) werden 13-mal genannt (Suren 10,9; 22,56; 26,85; 31,8; 37,43; 52,17; 56,12[-40]+89; 68,34; 70,38).
Der Garten Eden (djannat adan) wird 11-mal genannt (Suren 9,72; 13,23; 16,31; 18,31; 19,61; 20,76; 35,33; 38,50; 40,8; 61,12; 98,8).
Der Garten der Unsterblichkeit djannat al- khuld) wird nur einmal in Sure 25,15 genannt.
Die Länge und Breite der Gärten sei so weit wie die Erde und der Himmel reichen (Suren 3,133; 55 57,21). Es gibt Andeutungen, dass Gärten an einem Bergabhang als „höher gelegene Gärten” liegen sollen (Suren 69,22; 88,10). Sufiausleger erklären im Anschluß an die Vision Muhammads, dass der Lotusbaum am höchsten Punkt des Berges stehe und mit seinem Schatten das ganze Paradies abdecke. (Sure 53,14+16). Die verschiedenen Gärten seien von Wächtern bewacht (Sure 39,73), welche die Schätze des Islams bewachten: das Buch, in dem alle Taten der Menschen aufgeschrieben stehen (Sure 10,61) und das Urbuch, aus dem alle Offenbarungen stammen (Sure 85,21-22).

Über diesen Paradiesgärten breiten sich die Himmel aus, die von den Gärten durch das Reich (malakuut) und die Kraft (jabaruut) getrennt sind. Die Herrlichkeit Allahs schwebt über diesen sie- ben Himmeln (Suren 2,29; 17,44; 23,86; 41,12; 65,12; 67,3; 71,15), die den Muslimen nicht offen stehen (Sure 72,8). Adam lebe im untersten Bereich des Himmels, dann folgen ‘Isa (Jesus) und Yahya (Johannes der Täufer), Jeremia, Abraham und Mose in den höheren Himmeln. Über ihnen wird der Thron Allahs von acht Engeln getragen (Suren 69,17-18).
Das Interesse des Qur’ans konzentriert sich nicht so sehr auf den Ort, wo Allah wohnt, sondern auf die Gärten, die wie eine überdimenionale Oase die gerechtgesprochenen Muslime aufnehmen sollen.

Am Häufigsten (48-mal) werden im Blick auf diese Gärten sprudelnde Quellen, Bäche und Flüsse in Niederungen genannt, wobei die Salsabil- Quelle (Sure 76,18) und der Phantasiefluß (kaw- thai) (Sure 108.1)10 speziell erwähnt werden. Außerdem gibt es Flüsse, in denen Milch oder Honig, Wein oder Wasser fließen sollen (Sure 47,15).
Die Folge dieser frischen Wasser und Flüsse sind unzählige Fruchtbäume, die einen dichten Schatten spenden (Suren 4,57; 13,35; 55,68; 56,28-32; 76,14), unter denen bequeme Couchen, Betten und Liegen stehen (Suren 36,56; 37,44; 38,51; 44,53; 55,54; 56,34; 76,13; 88,13).
Für die Nahegebrachten (al-muqarrabuwn) wurden golddurchwirkte Couchen vorbereitet (Sure 56,15) und mit kostbaren Kissen und Teppichen belegt (Sure 88,15-16).
Die gerechtgesprochenen Muslime tragen glänzende Kleider aus Sundus- und Istabraq- Brokat (Suren 18,31; 22,23; 35,33; 44,53; 76,12+21). Sie schmücken sich mit Armringen aus Gold (Suren 18,31; 22,23; 35,33) und kostbaren Perlen (Suren 22,23; 35,33).
Silberne Becher werden aus silbernen Kannen immer wieder von ewig jungen Knaben nachgefüllt (Suren 52,24; 56,17-19; 76,19).
Von den Fruchtbäumen hängen Zweige mit köstlichen Früchten tief herunter (Sure 2,25; 55,54). Granatapfel- und Palmbäume sowie Traubenlauben stehen zur Verfügung (Suren 55,52+68). Die einladenden Fruchtbäume werden 17-mal genannt (Suren 13,35; 36,67; 37,42; 38,5; 44,55; 47,15; 56,20+32-33; 69,23; 76,14).
Verschiedene Fleischsorten werden den Ruhenden immer wieder zur Auswahl angeboten (Suren 56,21).
Spezielle berauschende Getränke, die nicht trunken machen, werden auf Wunsch von verführerisch schönen Jungen nachgefüllt (Suren 37,45-47; 52,23-24; 56,17-19; 76,5-6+15-19; 88,12+14). Die Gerechtfertigten werden immer wieder aufgefordert: „Eßt und trinkt! Wohl bekomms!” (Suren 52,19; 69,24).

In detaillierter Weise werden 17-mal großäugige Paradiesjungfrauen beschrieben, die den Muslimen als Gattinnen zur Verfügung gestellt werden (Suren 44,54; 52,20). Sie seien strahlend schön wie Hyazinth und Korallen (Sure 55,58). 58 Sie gehören zu den Guten (Sure 55,70) und bleiben geschützt wie wohlverwahrte Perlen (Suren 55,72; 56,22-23). Sie leben abgeschirmt in Zelten oder Pavillons und ruhen auf grünen Decken und aäqany-Teppichen (Sure 55,76). Sie halten ihre großen Augen niedergeschlagen (Sure 37,48) und sind gleichaltrig wie die einzelnen Muslime. Ihre Jungfräulichkeit ist garantiert. Sie blieben unberührt, wie wohlverwahrte Eier (Sure 37,49) und sind weder von Menschen noch Dämonen entjungfert worden (Suren 55,56+74). Sie wurden extra als Jungfrauen für die gerechtgesprochenen Muslime geschaffen und warten mit großen Busen (Sure 78.33)12 heißliebend auf die Gerechtgesprochenen (Sure 56,35-37). Bisweilen seien die Muslime im Paradies nicht ansprechbar, wenn sie mit ihren Gattinnen auf Couchen beschäftigt seien (Sure 36,55-58).

Muhammad fragt im Qur’an in einem Kehrreim herausfordernd: „Welche dieser Gnadengaben Allahs nennt ihr Lügen?” (Suren 55,56-57+70- 75). Er antwortet selbst darauf: „Der Name deines Herrn ist voller Segen!” (Sure 55,78).

Weder Hitze noch Kälte wird die Paradiesbewohner stören (Sure 76,13). Sie haben in den Gärten alles, was sie wollen und wünschen (Suren 59 16,31; 25,16; 41,31; 42,22; 50,35; 52,22; 65,11)! Sie werden ohne Rechnung morgens und abends mit allem versorgt (Sure 19,62).

Muhammad hat die unterbewußten und bewußten Wünsche seiner Beduinen genau gekannt, die in der erbarmungslosen Hitze oder Kälte der Wüste ein karges Dasein fristeten. Sie träumten von einem bequemen Leben in einer reichen Oasenstadt mit allen möglichen Wonnen und Genüssen. Muhammad transponierte diese weltlichen Träume, phantasievoll gesteigert, ins Paradies, um seine Muslime während der Verfolgungen in Mekka zu trösten und seine Kämpfer in Medina im Heiligen Krieg anzufeuern.

Es wäre falsch, Muhammad nur materielle und fleischliche Genüsse im Blick aufs Paradies zuzuschreiben. Er hat auch religiöse Sehnsüchte und Hoffnung auf Segen in die Gärten der Wonne hineinprojeziert. Den Muslimen wurden bleibende Behausungen im Paradies entsprechend ihrer Einsätze und Opfer für den Islam bereitgestellt: Vornehme Zimmer (Suren 25,75; 29,58; 34,37; 39,20), Absteigequartiere (Suren 3,198; 18,107; 32,19; 38,49; 41,32), gute Wohnungen (Suren 9,72; 61,12), Häuser (Sure 66,11), letzte Behausungen mit friedvollen großräumigen Hallen (Suren 2,94; 6,32+127; 10,25; 12,109; 13,22+24+42; 60 16,30 (2-mal]; 28,37-38+77+83; 29,64; 33,29; 35,35; 40.39)14 und Schlösser (Sure 25,10). Für jeden ist dies der beste und schönste Ruheplatz (Suren 18,31; 25,24; 32,19; 79,41).

In den Gärten der Wonne und in ihren Wohnungen hören sie kein leeres Geschwätz, keine Lüge und sehen keine Sünde (Suren 19,62; 36,58; 56,25; 78,35; 88,11). Sie hören allenthalben nur den Friedensgruß: „Salaam” (Suren 6,127; 7,46; 16,32; 19,62; 39,73; 50,34), der ihnen auch von Engeln (Sure 16,32) und selbst von ihrem Herrn entboten wird (Sure 36,58).

Sie leben in Wonne und im Glück (Suren 9,21; 10,10; 11,108; 13,24; 14,23; 15,46; 52,17; 56,26; 83,24; 76,20) und genießen nur Bequemlichkeit, Reichtum und Besitz (Sure 76.20). Sie erleiden keine Traurigkeit noch haben sie Angst vor Vertreibung, sie werden nicht erniedrigt und müssen sich um nichts bemühen (Suren 7,49; 10,26; 15,48; 35,34-35). Ihnen wird Vergebung ihrer Untaten zuteil (Suren 3,133+136+[157- 158]; 4,95-96; 35,33-34; 48,5; 57,21; 64,9). Ihr Haß wird aus ihren Herzen genommen (Suren 7,43+ 15,47).

Ihr Bleiben im Garten der Wonne stellt ihren Lohn für ihren Glauben, ihre guten Taten und ihre Opfer dar (Suren 3,136; 18,30-31; 20,76; 39,74; 46,14; 76,12). Der Paradiesgarten ist ihr Erbe geworden (Suren 7,43; 19,63; 26,85; 39,74; 43,72). Sie sind Besitzer dieser Gärten (Suren 2,82; 25,24; 46,14+16; 59,20; 68,17). Die Verheißung, dass sie ewig in den Gärten der Wonne verweilen, wird ihnen 30-mal im Qur’an zugesprochen.

Sie können mit den Höllenbewohnern reden, über sie lachen und sie verspotten (Suren 7,44; 37,50-61; 74,42-47 83,34-35), wie auch die Höllenbewohner sie um kühles Wasser aus dem Paradies bitten (Sure 7,50), aber nicht bekommen können, weil eine Trennwand (barzach, Suren 23,100; 25,53; 55,20) oder ein Vorhang (hidjaab, Sure 7,46) zwischen ihnen besteht.

Das Lob Allahs durch die Muslime wird jedoch nur viermal in den 124 Versen über die Gärten erwähnt (Suren 7,43; 10,10; 35,34; 39,74). Das Lob der Engel, die Allahs Thron tragen, wird nur einmal verzeichnet (Sure 39,75).16 Ausdrücklich wird jedoch geschrieben, dass Allah mit den Muslimen im Paradies zufrieden sei, wie auch sie mit ihm und seinen Wohltaten zufrieden seien (Suren 3,15; 5,119; 9,72+100; 98,8). Diese Zufriedenheit Allahs wird besonders seiner Spezialpartei, der Hisbullah mit ihren Selbstmordeinsätzen zugesprochen (Sure 58,22).

Im Qur’an wird an keiner Stelle deutlich oder konkret von der Anwesenheit Allahs in den Gärten gesprochen. Allah ist größer als das Paradies. Auch in der Ewigkeit gibt es keine Gemeinschaft zwischen Allah und seinen Muslimen. Das hat viele Mystiker und Islamtheologen beunruhigt. Sie suchten in den Versen des Qur’ans nach Worten, die andeutungsweise oder verhüllt die Gegenwart Allahs im Paradies bezeugen (Suren 10,26; 42,22; 50,34; 54,54-55; 75,22-23). Andere muslimische Gelehrte stellen jedoch diese Hineinlesungen der eigenen Wünsche in den Qur’an in Frage.

Eigenartig berührt eine andere Formulierung im Buch der Muslime, dass der Eintritt in die Paradiesgärten einen großen Erfolg und einen gewaltigen Sieg (fawz aziym) für die gerechtfertigten Muslime darstelle. Auch hier zeigt sich wieder die Ablehnung der unverdienten Umsonstgnade und die Herausstellung des eigenen Verdienstes! (Suren 3,185; 9,71-72+88-89+99-100; 48,5; 57,11-12; 61,12; 64,9; 85,11 u.a.)

Die entscheidende Frage jedoch bleibt: „Wer sind die Bevorzugten, die ins Paradies kommen?” Das sind zuerst die Gottesfürchtigen, die Buße taten, die sich vor Allah demütigten, um Vergebung baten und Muslime wurden. 27-mal wird ihre Gottesfurcht betont. In den Versen, die sich auf die Gärten der Wonne beziehen, steht nicht ein einziges Mal, dass Muslime Allah lieben. Ein Satz, wie: „Die Gott lieben, werden sein wie die Sonne, die aufgeht in ihrer Pracht”, kann nicht im Qur’an stehen. Allah bleibt auch im Paradies der zu Fürchtende und Erhabene.

Als nächstes werden jene Muslime genannt, die an die Verse Muhammads glaubten und gute Taten vollbrachten (30-mal). Ihr Glaube erscheint als ein Verdienst, weil sie Allah und Muhammad vertrauten und gehorchten (Suren 48,18; 56,10- 12; 58,22). Dann werden Muslime genannt, die etwas für den Islam taten und nicht nur redeten (Suren 3,134-136+195; 13,23; 16,32; 32,19; 39,74; 43,72; 46,14). Besonders die gottesfürchtigen Spender haben eine große Chance einen guten Platz im Paradies zu bekommen (Suren 3,16+134; 5,85; 9,18-19; 10,26; 13,22; 16,30; 51,15-19). Wer auf der Erde eine Moschee baut, dem wird im Paradies ein Schloß bereitgestellt.

Eine bevorzugte Stelle nehmen jene Muslime ein, die im Heiligen Krieg mit der Waffe in der Hand kämpfen (Suren 3,142; 9,19+88-89+111; 47,4-6; 48,17; 61,10-12). Wer als Märtyrer für Allah in einer Schlacht fällt, bekommt völlige Vergebung (Sure 3,157+158+195) und wird sofort, noch vor dem Tag der Auferstehung, ins Paradies entrückt (Sure 3,169-170). Das ist einer der Gründe, weshalb immer wieder islamischen Schwerverbrechern angeboten wird, bei Überfällen und in Kämpfen ein Himmelfahrtskommando zu übernehmen. Ihr Märtyrertod bietet ihnen die einmalige Chance für ihre umfassende Rechtfertigung und ihren Eintritt ins Paradies. Auch die Mekkapilger, die jährlich bei den Wallfahrten umkommen, werden als Märtyrer bezeichnet, die direkt ins Paradies entrückt werden.

Allen von Mekka nach Medina ausgewanderten Flüchtlingen wird eine hohe Stufe in der Ewigkeit zugesprochen, aber auch ihre medinesischen Helfer (ansaar) wurden nicht vergessen (Suren 3,195; 9,20-21+100; 13,22; 29.58-59).

Grundsätzlich werden alle Anbeter wie auch die regelmäßigen Beter als Kandidaten für die ewigen Gärten angesehen (Suren 2,3; 2,45-46; 2,2777; 7,170; 8,3-4; 9,71; 13,22; 31,4-5; 51,17- 18; 70,34-35). Insbesondere werden verschiedene Geläuterte erwähnt: Die Wahrhaftigen (Sure 5,119), die Guten aus ihren Sippen (Sure 40,8), die vom Geist Allah gestärkten Mitglieder der Hisbullah (Sure 58,22) und alle die Allah und Mu- hammad gehorsam waren (Sure 48,17).

Nicht nur die Männer, auch Frauen können zu den prädestinierten Auserwählten gehören, die ins Paradies kommen (Suren 4,124; 9,72; 13,23; 36,56; 40,8+40; 43,70; 48,5). Gute Väter hoffen auf Grund eines Engelgebetes im Qur’an mit den Guten unter ihren Vorfahren, ihren Frauen und ihren Nachkommen wiedervereint zu werden (Suren 40,7-8; 43,70; 48,5).

Nicht nur Muslime aus der Zeit Muhammads können ins Paradies kommen. Wir lesen auch von den Patriarchen der Heilsgeschichte und ihrem Verhältnis zu den ewigen Gärten: Adam lebte dort vor seiner Vertreibung aus dem Garten Eden (Suren 2,35; 7,19+22; 20,117- 121). Abraham bat um ein Erbteil im Paradies (Sure 26,85). Zu den „Nahegebrachten” gehören mehr Gläubige aus den früheren Generationen als von den Muslimen zur Zeit Muhammads (Sure 56,13). Zahlreiche Nachfolger Muhammads gehören dann zu denen, die „zur Rechten stehen”, wie auch eine große Zahl von den Gläubigen aus den früheren Generationen (Sure 56,39).
Letztlich bleibt es ein großes Vorrecht, in die Gärten der Wonne einzutreten (Suren 35,32; 42,22; 44,57). Von Dank und Lob für dieses Vorrecht steht jedoch wenig im Qur’an.

Muhammad redet sehr deutlich von denen, die niemals ins Paradies eintreten können: Das sind vor allem diejenigen, die Allah einen Teilhaber zur Seite stellen (Sure 5,72). Damit sind alle Christen, Hindus und Götzenanbeter gemeint. Eine weitere Gruppe der Ausgeschlossenen aus dem Paradies sind jene, die die Verse Muhammads als Lüge erklärten. Sie können nicht in die Gärten eintreten, bis ein Kamel durchs Nadelöhr geht (Sure 7,40). Wenn Juden und Christen an Allah und Muhammad glaubten, hätten sie die Chance, dass eines der sieben Tore zu den Gärten sich auch ihnen öffnete (Suren 2,111-112; 5,65-66). Da sie aber den Islam verstockt ablehnen, müssen sie draussen bleiben.

Aus diesen islamischen Ewigkeitsvorstellungen sollen zwei Schwerpunkte speziell betrachtet werden:

• Wenn die zweite Posaune ertönen wird, und alle Ohnmächtigen oder Toten auferweckt werden, erfolgt keine geistliche Neuschöpfung, auch keine geistliche Erneuerung des alten Menschen, vielmehr werden sie genauso auferweckt oder erschaffen, wie sie zuvor auf Erden lebten. Die Rillen ihres Daumens werden genau dieselben sein, wie zuvor im irdischen Leben. Alle ihre früheren Bedürfnisse, Gedanken und Motive bleiben erhalten. In einem kürzlich erschienen arabischen Buch über Sex im Islam ist ein Kapitel des Buches dem Sex nach dem Tod gewidmet. (Ibrahim Mahmud, al-Djins fi al-Qur’an, London, 1994) Dabei werden die entsprechenden Qur’anstellen durch Traditionen Muhammads ausgelegt. Spätestens hier können auch die bestgesonnensten Sympathisanten der Muslime erkennen, dass der Islam ein unreiner Geist ist, der das Gegenteil des Heiligen Geistes in der Bibel darstellt.

Die Antwort, die Jesus den liberalen Sadduzäern gab, richtet auch den Islam. Die Kritiker der Auferstehung hatten damals einen spitzfindigen Fall diskutiert und fragten Jesus, welchem der sieben verstorbenen Gatten die noch lebende Witwe im Jenseits gehören werde. Jesus antwortet ihnen:
„Ihr irrt, weil ihr weder die Schrift kennt, noch die Kraft Gottes. Denn in der Auferstehung werden sie weder freien noch sich freien lassen, sondern sie sind wie die Engel im Himmel” (Mt 22,23-33; Luk 20,27-38).

Mit dieser Klarstellung des Sohnes Gottes fällt auch die islamische Zukunftshoffnung wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Ewige Wonnegärten wie der Qur’an sie beschreibt, gibt es nicht. Muhammad kannte weder die echte Offenbarung Gottes in den Schriften des Alten und des Neuen Testaments noch hatte er eine Ahnung von der Kraft Gottes. Er meinte zwar dem wahren Gott zu dienen, war aber letztlich ein falscher Prophet.

• Nach verschiedenen Traditionen erklärt Muhammad, er habe das Paradies gesehen. Seine Bewohner seien zu 90 Prozent Männer und nur 10 Prozent seien Frauen. Deshalb habe Allah für jeden Muslim Paradiesjungfrauen geschaffen. Muhammad behauptete, auch die Hölle gesehen zu haben. Dort seien 90 Prozent der Insassen Frauen und nur 10 Prozent Männer. Als er gefragt wurde, woher ein solches Mißverhältnis zwischen Männern und Frauen in der Ewigkeit komme, meinte er, dass die meisten Frauen aufsässig, unehrerbietig und selten ihren Männern untertan seien. Nur für jene Frauen bestünde Aussicht, ins Paradies einzutreten, die von ihren Männern im Gericht bescheinigt bekämen, dass sie immer demütige, willfährige, gehorsame, sparsame und gläubige Musliminnen gewesen seien (Sure 66,4).

Muhammad litt unter wachsenden Schwierigkeiten in seinem eigenen Harem, der in zwei Lager gespalten war. In Sure 66,3 rief er Allah, Djibril und die Guten unter den Muslimen, samt allen Engeln an, ihm gegen seine beiden Teenager-Frauen Aisha und Hafza beizustehen.

Umm Salamah, eine kluge Frau, welche die andere Gruppe im Harem Muhammads anführte, wagte es, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass fast alle seine Offenbarungen nur Verheissungen und Ordnungen für Männer enthielten. Seit ihrer Kritik hat Muhammad in seinen Versen auch Frauen eingeschlossen und ihnen Hoffnung gemacht, in die ewigen Gärten einzutreten. Er redete dabei von gereinigten Gattinnen und von Gattinnen im allgemeinen, legte sich jedoch nicht fest, ob er damit die Paradiesjungfrauen oder die irdischen Gattinnen der Muslime meinte (Suren 2,25; 4,57; 36,55- 56). Auf alle Fälle garantierte er den muslimischen Männern Sex in alle Ewigkeit mit oder ohne ihre irdischen Gattinnen.

Wer diese islamische Ewigkeitshoffnung mit dem christlichen Zeugnis vom ewigen Leben vergleicht, findet kaum noch einen gemeinsamen Nenner. Der Islam und das Christentum liegen auf zwei völlig verschiedenen Ebenen. Die Kraft des Heiligen Geistes im Neuen Testament ist den Muslimen unbekannt und weitgehend verschlossen.

g) Wie sieht das ewige Leben bei den Christen aus?
Als Christus geboren wurde, ist das ewige Leben in Menschengestalt erschienen (Joh 1,4; 1. Joh 1,2). In ihm ist die Ewigkeit in die Zeit und das Heilige in das Unheilige hereingebrochen (Mk 1,24, 5,7). Muslime jedoch lehnen die Gottheit und Ewigkeit ‘Isas als Lästerung ab. Christus aber bleibt unser Leben (Phil 2,21; Gal 2,20). Er ist die Quelle unserer geistlichen Kraft, Liebe, Demut und Sanftmut (Joh 14,19+27; 15,11; 16,13-15, Apg 1,8). Er ist unser Friede (Eph 2,14)!

Durch den Glauben an ihn empfangen wir heute schon ewiges Leben (Joh 17,3; Gal 2,20; Eph 2,1-6) und nicht erst nach dem Tod oder nach der Auferstehung. Sein Geist ist das ewige Leben in uns (Joh 6,63; Röm 8,10-11; Hes 36, 26-27).
Dieser Geist treibt uns an und gestaltet uns um in das Bild Jesu Christi (Röm 8,14; 2. Kor 3,17-18;). Er heiligt uns durch und durch und richtet alle unsere Sünde und unseren Hochmut (1. Thess 4,3; Hebr 4,12). Er befestigt uns in Jesus. Wir sind berufene Glieder an seinem geistlichen Leib (Röm 12,4- 5; 1. Kor 12,12-27; Eph 4,11-16). Jesus Christus wohnt durch den Glauben in unseren Herzen (Joh 75 15,5; Eph 3,17; Kol 2,6-7). In ihm werden wir mit seinen Gnadengaben erfüllt ( Eph 1,3; 3,19; Kol 1,9- 10) und leben als eine geistgeborene, neue Kreatur (2. Kor 5,17; Röm 8,10; Gal 6,15; Offb 21,5).

Den Muslimen bleibt die geistliche Existenz der Gemeinde Jesu verborgen. Muhammad erkannte zwar, dass die Christen nicht stolz, sondern barmherzig sind. Er sah darin eine spezielle Gabe Allahs für die Nachfolger ‘Isas (Suren 3,55; 5,46+82; 57,27). Das Geheimnis des Heiligen Geistes blieb ihm jedoch verborgen. Ohne Glaubensverbindung mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen gibt es kein ewiges Leben. Wer nicht von oben geboren ist, kann das Reich Gottes nicht sehen (Joh 3,3).

„Christus in uns ist die Hoffnung der Herrlichkeit!” (Kol 1,27). Wenn er wiederkommen wird in seiner Herrlichkeit, wird auch das geistliche Leben, das er uns geschenkt hat, offenbar werden (Kol 3,1-4). Keiner von uns trägt ewiges Leben in sich selbst. Nur in, mit und durch Jesus Christus ist uns dieses Vorrecht gewährt. Er versichert uns:

„Ich bin die Auferstehung und das Leben.
Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.
Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.
Glaubst du das?” (Joh 11,25-26).

Die Auferstehung Jesu von den Toten hat unsere Auferstehung vorausgeschattet (1. Kor 15,20). Sein Geistleib enthält unsere zukünftige Existenz. Er war berührbar und kein formloser Geist. Trotzdem ging er durch Mauern und verschlossene Türen hindurch. Er aß aus Liebe zu seinen Jüngern, aber bedurfte keiner Speise (Lk 24,36- 43; Joh 20,19-29; 21,9-14). Sein ewiges Leben in uns wird bei seiner Wiederkunft sichtbar werden.

Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich;
es wird gesät in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit;

es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft;

es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib” (1. Kor 15,42-44).

Muslime denken in dieser Frage anders. Sie sagen: Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird wieder auferstehen ein natürlicher Leib. Die geistliche Dimension des ewigen Lebens bleibt ihnen verborgen.

Christus hat uns den Vater im Himmel geoffenbart. Durch die Glaubensverbindung mit dem Sohn wurden wir adoptiert und als Kinder Gottes neu geboren. Wir sind seine Geliebten und gehören zu seiner Familie. Muhammad sah in diesem Zeugnis eine Lästerung (Sure 5,17-18) und verspottete die Christen. Wir aber haben nur ein Ziel und eine Hoffnung für die Zukunft: Wir wollen nach Hause gehen und unseren Vater sehen, vor ihm niederfallen und stammeln:

“Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner.”

Er aber wird den Mantel seiner Gerechtigkeit um uns legen und sagen:
“Freuet euch mit mir; denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden” (Lk 15,20-24).

“Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen; und wir sind es auch! Noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wenn er aber erscheinen wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist” (1. Joh 3,1-2).

Wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern durch den Herrn, der der Geist ist” (2. Kor 3,18).

Christus lebt! Muhammad ist tot!
Wer Christus nachfolgt, lebt ewig. Wer Muhammad folgt, folgt der Religion des Todes. Allein durch den Glauben an Christus empfangen wir ewiges Leben. Ein anderes ewiges Leben gibt es nicht. Da Muslime den gekreuzigten Gottessohn beharrlich ablehnen, bleiben sie im geistlichen Tod und in der Hoffnungslosigkeit. Wer aber durch Christus lebendig geworden ist, gehört zu der Zahl, die niemand zählen kann.

“Diese sind aus großer Trübsal und Verfolgung gekommen und haben ihre Kleider gewaschen und hell gemacht im Blut des Lammes. Darum stehen sie heute schon vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht Sie werden nicht mehr hungern und dürsten, die Sonne wird sie nicht mehr stechen noch irgend eine Hitze sie plagen. Das Lamm mitten im Thron wird sie zu lebendigen Wasserquellen führen, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen” (Offb 7,9+14-17).

Gottes Gegenwart bei seinen Kindern ist der Glanz und das Geheimnis des ewigen Lebens.
“Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst wird mit ihnen sein” (Offb 21,3).

Im Islam gibt es keinen Vater, keinen Sohn und keinen Heiligen Geist. Deshalb gibt es auch keine Rechtfertigung aus Gnaden als Voraussetzung für das ewige Leben. Der Heilige Geist wurde ausgegossen, weil Christus am Kreuz gestorben ist. Ohne Kreuz kein Geist, ohne Geist kein ewiges Leben, keine Erneuerung und keine Heiligung.

Muslime haben keine Ahnung von der geistlichen Existenz und Erneuerung der Gemeinde Jesu.

“Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Wehen des Geistes Gottes. Es ist ihm eine Torheit oder ein Ärgernis” (1. Kor 2,14).

Er denkt nur an Essen, Trinken und Sex, sogar nach dem Tod. Wir aber leben auf einer anderen Ebene, in einer anderen Welt, in Jesus Christus, unserem Herrn (Joh 17,3; Phil 2,5-11).

II. Der Prüfbericht

Nachdem wir die fünf Satzteile von Johannes 3,16 wie Elektroden an den Qur’an anlegten und Fragen wie Stromstösse durch den Islam sandten, wollen wir versuchen, die Quersumme der Prüfungsergebnisse vorzulegen. Dabei ergeben sich drei Aspekte:

1. Der Islam ist ein antibiblischer Geist
Pfarrer Eberhard Troeger hat in einem seiner Vorträge unter der Leitung des Heiligen Geistes die Formulierung vom „antibiblischen Geist des Islams” geprägt. Wir schließen uns seiner Aussage voll an.

Muslime bezeugen zunächst, dass alle drei Bücher, die Thora, das Evangelium und der Qur’an, verbal inspirierte, fehlerlose Offenbarungen Allahs darstellten (Sure 5,44-50 u.a.), behaupten jedoch im gleichen Atemzug, die Juden hätten einzelne Worte ihrer Schrift verborgen, verdreht oder verfälscht (Suren 2,40-42+75+79+140-141; 3,71+78; 4,46; 5,13).
Den Christen lastet der Qur’an an, sie hätten die Worte der Offenbarung vergessen (Sure 5,14). Insonderheit wird Juden und Christen vorgeworfen, sie hätten alle Verheißungen auf Muhammad, den größten aller Propheten, aus ihren Büchern gestrichen. Im übrigen müsse alles, was in der Thora und im Evangelium anders als im Qur’an laute, eine nachträgliche Fälschung der ursprünglich richtigen Offenbarung sein. Aus diesem Grund traut kaum ein Muslim unserer Bibel. Er fürchtet, durch die Fälschungen in den verschiedenen Büchern irregeleitet zu werden. Er bedauert zuweilen die Juden und Christen, weil sie gutgläubig Fälschungen und Fabeln aufsitzen.

Die Infragestellung der Bibel durch die Muslime zeigt, wie der Irrtum zum Maßstab für die Wahrheit gemacht wird und die Lüge als Richterin über die wahre Offenbarung eingesetzt wurde. Die Muslime haben meistens keine Ahnung von der gewissenhaften wissenschaftlichen Arbeit, die Generationen von gläubigen Männern geleistet haben (Lk 1,1-4), um einen genauen und vollständigen Bibeltext zu erstellen. Über 1.500 Originale – Fragmente oder ganze Bücher – liegen wohlverwahrt in Museen oder Bibliotheken, während alle neun Original-Qur’ane zur Zeit des Kalifen Uthman (651-652 n. Chr.) verbrannt wurden, da unüberbrückbare Differenzen zwischen zahlreichen Qur’anversen bestanden, die bereits zu Spaltungen zwischen den Muslimen geführt hatten. Der Qur’an, der heute existiert, ist der Qur’an, den der Kalif Uthman herausgegeben hat, und nicht mehr der Qur’an Muhammads!

Im Islam gibt es keinen Geist der Wahrheit wie im Evangelium (Joh 14,17; 15,26; 16,13). Die Lüge ist nach der Schari’a in vier Fällen erlaubt:
Im Heiligen Krieg,
bei der Versöhnung zweier Feinde,
ein Mann seinen Frauen gegenüber und die
Frau ihrem Mann gegenüber.

Deshalb herrscht oft großes Mißtrauen zwischen den Muslimen. Keiner ist sicher, ob der andere ihn nicht übers Ohr haut.

Besonders im Umgang mit Nichtmuslimen kommt dieser Geist der List und des Betrugs zum Tragen. Muhammad hat mehrere Male bekräftigt, dass der Heilige Krieg nichts anderes als List und Betrug den Feinden des Islams gegenüber bedeute. Wer in einen Dialog mit Muslimen treten möchte, sollte im Voraus wissen, was sie denken. Was sie sagen, kann ganz anders klingen als was sie beabsichtigen. Einzelne Islamtheologen haben längst begriffen, was Europäer und Amerikaner hören wollen und stellen den Islam als Religion des Friedens dar, obwohl die Hälfte aller Unruhen und Kriege in den letzten 25 Jahren ursächlich mit islamischen Ländern zu tun hatte. Darüber hinaus hat die Schari’a die Welt in ein “Haus des Islams” und ein “Haus des Krieges” eingeteilt. Wo der Islam regiert, soll ein islamischer Friede herrschen. Wo die Schari’a nicht regiert, soll das Land „befriedet” werden.

Neuerdings hört man von muslimischen Sprechern, dass der Islam die soziale Gerechtigkeit predige. Tatsache ist aber, dass die ölfördernden Länder zu den reichsten der Erde gehören, während gleichzeitig über zehn islamische Staaten zu den ärmsten Ländern der Erde zählen. Selbst in Saudi-Arabien gibt es Einheimische, die sich nur selten Fleisch leisten können.

Wir müssen lernen, die Aussagen der Muslime zu hinterfragen, sonst werden wir am laufenden Band hereingelegt. Jesus forderte uns auf, klug zu sein wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben (Mt 10,16).

Allah wird im Qur’an zweimal “der Listigste von allen” genannt (Suren 3,54; 8,30). Können dann seine Nachfolger anders handeln als er? Muhammad hatte seinen beiden Teenager-Frauen, Aischa und Hafsa, gegenüber voreilig geschworen, nicht mehr mit Maria, seiner koptischen Sklavin, zu schlafen. Er bereute diesen voreiligen Schwur später und ließ sich durch eine Offenbarung in Sure 66,1-2 von ihm entbinden. Nicht einmal ein Schwur ist im Islam bindend, da selbst sein Stifter ihn gebrochen hat.

Im Islam herrscht kein Geist der Wahrheit. Das eigentliche Ziel ist der Religionsstaat mit der Hoffnung auf Machtergreifung und Unterwerfung der Feinde. Jede List, die dem Erreichen dieses Zieles dient, ist legal.

Zu diesem Zweck wurde selbst der Qur’an, die Quelle des islamischen Rechts, manipuliert. Dort gibt es abrogierende und abrogierte Verse. Muhammad sagte mehrere Male, dass Allah früher offenbarte Verse aufhebe und durch bessere und zeitgemäßere ersetze, wenn das für das Wohl der Islamgemeinde nötig sei. Es gibt etwa 240 aufgehobene, das heißt ungültige Verse im Qur’an, die jedoch noch nicht gestrichen wurden, weil sie echte frühere Offenbarungen darstellen. Nicht alle Islamtheologen stimmen der Zahl von 240 abrogierten Versen zu. Dieses Problem könnte als eine innerislamische Frage betrachtet werden, wenn nicht über 60 Verse im Qur’an, die zu Toleranz und Gleichberechtigung zwischen den Religionen aufrufen, nach Auffassung der meisten Islamtheologen, durch den Schwertvers und den Bußvers aufgehoben wären (Suren 2,191+193; 8,39; 9,3-4+28-29).

Die vielen Aufrufe zur Toleranz stehen noch immer im Qur’an und werden von den Muslimen, die als Minderheit in christlichen und nichtislamischen Ländern leben, fleißig benutzt. Nicht wenige Humanisten und Christen spielen ihre Ouvertüren auf dem gleichen Klavier, ohne zu merken, dass sie in eine Falle der Muslime getappt sind. Diese Verse sind nicht mehr gültig! Das bekommen die Christen, die als Minderheit in mehrheitlich islamischen Ländern leben, zu spüren. Seit 25 Jahren gehen immer wieder blutige Verfolgungen über diese christlichen Minderheiten hinweg, weil der Islam dort, wo er die Macht besitzt, seinen Schafspelz abgeworfen hat und sein wahres Gesicht zeigt. Im Islam wirkt nicht der Geist der Wahrheit, sondern jener Geist, der mit „groß Macht und viel List” beschrieben werden kann.

Natürlich stimmen nicht alle Muslime dieser Schlangenstrategie zu. Dazu gehören viele muslimische Mystiker und liberale ehrenvolle Muslime. Der Geist des Qur’ans jedoch reformiert sie immer wieder und macht sie zu fanatischen Fundamentalisten, die mit diesem „Geist Allahs” in besonderer Weise ausgerüstet werden (Sure 58,22).

2. Der Islam ist ein antichristlicher Geist
Ausgerechnet Johannes, der Apostel, der die Liebe Gottes erkannte und bekannte, hat mit großer Klarheit auch die Wahrheit präzisiert. Wahrheit und Liebe schließen sich nicht gegenseitig aus, denn Liebe ohne Wahrheit wäre eine Lüge, während Wahrheit ohne Liebe wie Totschlag wirken kann. Das Geheimnis der Seelsorge heißt nicht Liebe oder Wahrheit, sondern Wahrheit in Liebe und Liebe aus der Wahrheit. Das ist der Weg zu einer biblischen Evangelisation der Muslime.

In seinem ersten Brief gibt Johannes uns das Instrument zur Unterscheidung der Geister in die Hand. Er schreibt in Kapitel 2, Vers 21-23:

„Ich habe euch nicht geschrieben, als wüßtet ihr die Wahrheit nicht; sondern ihr wißt sie und wißt, dass keine Lüge aus der Wahrheit kommt. Wer ist ein Lügner, wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist?


Das ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet. Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, der hat auch den Vater” (1. Joh 2,21-23)!

Johannes vertieft diese Worte im vierten Kapitel und schreibt:

„Ihr Lieben, glaubt nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten in die Welt ausgegangen. Daran sollt ihr Gottes Geist erkennen: Ein jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist von Gott; und ein jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, der ist nicht von Gott, und das ist der Geist des Antichrists, von dem ihr gehört habt, dass er kommen wird, und ist jetzt schon in der Welt. Kindiein, ihr seid von Gott und habt jene überwunden; denn der in euch ist, ist größer als der in der Welt ist” 1. Joh 4,1-4).

Diese beiden Abschnitte aus dem ersten Johannesbrief sollte jeder, der missionarisch unter Muslimen wirken will, auswendig lernen. Hier liegt der Schlüssel zum seelsorgerlichen Verständnis der Muslime. Der Islam ist eine nachchristliche Religion und deshalb notwendigerweise eine antichristliche Religion geworden. Hätte Muhammad den gekreuzigten Gottessohn toleriert und als Geschichtstatsache angenommen, gäbe es überhaupt keinen Islam.

Muhammad hat sich jedoch durch seine Ablehnung der Wahrheit profilieren wollen und verstockte sein Herz gegen das Evangelium in zunehmender Weise. Er benützte Splitter des Neuen Testaments trickreich und verdreht, um Christen für den Islam zu gewinnen. Niemals aber hat er sich Jesus ergeben, untergeordnet oder als seinen Retter akzeptiert. So verhärtete er sich und seine Nachfolger gegen den Geist Jesu. Der Islam wurde zu einer antichristlichen Großmacht, die zwar gottesfürchtig und zeitweise beinahe christlich erscheint, aber Jesus, den gekreuzigten Gottessohn, vehement ablehnt.

Muslime sind Gefangene einer kollektiven Gebundenheit. Sie beten täglich in ihrem Hauptgebet, der Fatiha, Sure 1,5-6:

Führe uns den rechten Weg (den Weg der Schari’a),
den Weg derer, die du begnadet hast (mit Reichtum und vielen Söhnen),
nicht den Weg derer, auf denen dein Zorn ruht (den Weg der Juden mit ihren Zehn Geboten)
und nicht den Weg der Verirrten (den Weg der Christen mit ihrem Glauben an die Heilige Dreieinigkeit).

Die Fatiha ist ein Gebet der Selbstverstockung; sie bindet alle Muslime in kollektiver Besessenheit an den antichristlichen Geist.
Hier liegt die Ursache, dass viele Muslime gegen das Evangelium immun sind, und dass manche nicht recht frei werden, weil sie ihre tiefe Bindung nicht erkennen, und ihre Verbindung zu Sippe und Kultur nicht lösen wollen. Wer nicht bekennt: „Der Herr ist gerecht, ich aber und mein Volk sind schuldig” (2. Mose 9,27), wird nie wirklich frei.


Erst im Schrei eines Jesaja:
„Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, mit meinen Augen gesehen!” (Jes 6,5),

werden sie recht frei. Die Vollmacht Jesu Christi in der Kraft seines Heiligen Geistes vermag jeden Muslim zu retten.

Wir müssen uns von dem Herrn Jesus wie Paulus sagen lassen:

“Siehe, ich sende dich jetzt,

damit du ihnen die Augen öffnest,
dass sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht

und von der Gewalt Satans zu Gott,
damit sie durch den Glauben an mich Vergebung der Sünden

und ein Erbteil mit den Geheiligten empfangen” (Apg 26,17-18).

Wir lesen im Missionsbefehl des auferstandenen Herrn an Paulus, dass die Vergebung oft nach der Bekehrung kommt und eine Lösung von der Gewalt Satans bei vielen Menschen nötig wird. Genau hier liegt der seelsorgerliche Schwerpunkt in der Mission unter Muslimen. Sie alle brauchen Jesus als ihren Erlöser, der sie von ihrer kollektiven Gebundenheit frei macht. Wir aber sind berufen, den Sieg Jesu Christi über den Islam zu proklamieren und zu glauben, dass der Gekreuzigte und Auferstandene auch heute viele aus dieser antichristlichen Großmacht befreit.

3. Der Islam ist ein antigemeindlicher Geist
Muhammad hat noch auf seinem Sterbebett verfügt, dass auf der Arabischen Halbinsel keine andere Religion als der Islam existieren könne. Obwohl die Christen im Wadi Nadjran, im Nord- jemen, einen früheren, von Muhammad unterschriebenen Vertrag, besaßen, dass sie als christliche Minderheit von den Muslimen beschützt würden, solange sie die Minderheitensteuer {djizjat) zahlten, wurden sie vom zweiten Kalifen, ‘Umar b. al-Khattab, aus Haus und Hof nach Jordanien vertrieben.

Der islamische Missionsbefehl, der zweimal im Qur’an steht, sagt deutlich:
Kämpfet gegen sie (mit Waffen), bis es keine Versuchung mehr zum Abfall (vom Islam) gibt und die Religion Allahs überall herrscht (Suren 2,193; 8,39).

Diese Verse werden von den Sympathisanten der Muslime meistens nicht geglaubt, weil sie zeigen, dass der Islam letztlich die Weltherrschaft anstrebt.

Muhammad hatte erkannt, dass Juden und Christen eine höhere Bildung und eine bessere Kultur besaßen, als die Muslime damals erreicht hatten (Suren 3,55; 57,27). Sie lebten vor Gott und richteten ihr Verhalten nach ihren Büchern. Sie logen und stahlen nicht, blieben mit einer Frau verheiratet, lebten sauber, waren oft gut gekleidet, zuverlässig und aktiv. Muhammad begriff, dass die Anhänger der Buchreligionen eine Versuchung zum Abfall für seine Muslime darstellten. Deshalb befahl er in Sure 9,28-30 ihre Unterjochung und Degradierung mit der Begründung, dass sie nicht an denselben Allah wie die Muslime glaubten, eine andere Hoffnung als die Muslime im Blick auf die Auferstehung und das Paradies pflegten, nicht mit der Schari’a, dem islamischen Gesetz, seinen Speisevorschriften oder Verstümmelungsstrafen einig waren, nicht im Heiligen Krieg mitkämpften und endlich nicht der richtigen Religion, dem Islam, angehörten. Sie mußten unterworfen werden und als Menschen zweiter Klasse mit eigener Hand ihre Minderheitensteuer entrichten. In den Kernländern des Islams werden die christlichen Minderheiten seit 52 Generationen verachtet und unterdrückt.

Aus dieser intoleranten und feindlichen Haltung des Qur’ans und der Schari’a entwickelte sich im Zeitalter der Renaissance des Islams eine dreifache Strategie zur Abwehr christlicher Einflüsse mit dem Endziel der Dezimierung oder Ausmerzung des Christentums in den islamischen Ländern:

• Das Verbot von christlicher Mission durch ausländische Missionen in mehrheitlich islamischen Ländern wird immer straffer gehandhabt. Mission wird als ein schwereres Verbrechen als Totschlag bewertet (Sure 2,217), weil dadurch die Substanz der islamischen Volksgemeinschaft angegriffen und geschmälert wird. Missionare oder Evangelisten bekommen selten oder nie ein offizielles Einreisevisum. Wenn sie unter dem Deckmantel eines Facharbeiters oder Spezialisten einreisen, müssen sie in einigen Ländern vorher unterschreiben, nicht missionarisch tätig zu werden. Sie können solange vorsichtig wirken, bis sich sichtbare Erfolge zeigen. Sobald Übertritte von Muslimen oder Taufen bekannt werden, müssen Missionare und Missionierte festgenommen, bestraft oder ausgewiesen werden. Meistens werden ausländische Missionare nach einigen Tagen oder Wochen von ihren Botschaften aus den Gefängnissen herausgeholt und in ihre Heimat abgeschoben. Unabkömmliche Spezialisten, die missionarisch tätig bleiben, müssen mit Drohbriefen rechnen, in denen ihre Ermordung angekündigt wird.

• Die Existenz lebendiger einheimischer Kirchen ist dem Islam ein Ärgernis. Christen haben theoretisch das Recht, innerhalb ihrer Kirchenmauern als Christen zusammenzukommen. Sie können nach dem Qur’an nicht gezwungen werden, den Islam anzunehmen (Sure 5,47-48). Die Steuerschraube und die gesellschaftliche Verachtung jedoch zwangen 90 bis 99 Prozent der Christen in den islamisierten Mittelmeerländern (von der Türkei bis Marokko), den Islam anzunehmen. Nur Minderheiten, von einem halben bis zehn Prozent der Bevölkerung, blieben ihrem Glauben trotz verschiedener Verfolgungswellen in den vergangenen 1365 Jahren treu.

Ihnen ist es nicht erlaubt, Muslime zu missionieren. Falls auch nur ein Glied einer Gemeinde Muslime missioniert, muß die ganze Gemeinde bestraft werden. Dies ist einer der Gründe, weshalb manche Kirchenführer in islamischen Ländern sich gezwungen sehen, überaktive Evangelisten oder Missionare dem Geheimdienst zu melden oder eigene Priester zu maßregeln, abzusetzen oder ins Ausland abzuschieben.

Da aber die modernen Medien keine Grenzen kennen und viele Muslime ins gottlose Ausland reisen, mehrt sich die Zahl der Muslime, die anfangen, das Evangelium zu lesen. Nach wie vor erhalten einheimische Kirchen so gut wie keine Baugenehmigung, um ihre kirchlichen Gebäude zu reparieren oder neue zu errichten.

Die Bedrückung und Verfolgung der Christen in Nord-Nigeria, im Süd-Sudan, in Ägypten, im Libanon, im Iran, in Pakistan und Indonesien scheint kaum in das Bewußtsein der Gemeinde Jesu Christi in Europa, den USA und Korea eingedrungen zu sein.

In Indonesien wurde in den letzten zwei Jahren systematisch das Mobiliar und die Fenster in 1.500 Kirchengebäuden zerschlagen. Mehrere hundert kirchliche Gebäude wurden verbrannt.
Im Norden Nigerias sind in den vergangenen zehn Jahren bei 13 Verfolgungswellen mindestens 50.000 Christen getötet, 200 Kirchengebäude verbrannt und etwa 20 Pfarrer und Evangelisten umgebracht worden. Wer von der Toleranz der Muslime schwärmt, sollte in diese islamischen Länder reisen und einige Monate lang mit den einheimischen Christen leben, dann würden ihm die Illusionen schnell vergehen. Der Geist des Islams kämpft immer gegen den Geist Jesu Christi in seinen Gemeinden, so lange die Muslime in der Mehrheit sind.

• Besonders hart sind Konvertiten betroffen, die vom Islam zum Christentum übertreten. Nach der Schari’a müßten sie durch die Organe des islamischen Staates getötet werden. Falls der Staat dies nicht tut, müßte die eigene Familie sich von der Schande ihres abgefallenen Gliedes reinigen. Gott sei Dank geschieht dies selten!
60 bis 70 Prozent der Muslime denken und leben heute liberal und töten ihre abgefallenen Angehörigen nicht. Aber das Leiden dieser Familien und der Konvertiten ist größer als wir wissen und ahnen.

Nur wenige Kirchen und Gemeinden in den islamischen Ländern sind bereit, die Ausgestoßenen aufzunehmen, für sie wie für ein Familienmitglied zu sorgen und sie im Fall von Gefangennahme und Folter durchzutragen und treu für sie zu beten. Manche Kirchenleitungen und Bibelschulen verweigern die Aufnahme von Konvertiten, die Muslime waren, um keine Schwierigkeiten mit den Behörden zu bekommen.

Leider werden in einigen islamischen Ländern Konvertiten immer wieder in unbegründeter Weise verdächtigt, Haschisch zu schmuggeln, für Feindstaaten zu spionieren oder sich unmoralisch zu benehmen, so dass die Sicherheitsbehörden eingreifen müssen. Diese versuchen, die gottlosen Subjekte mit den verschiedensten Mitteln der Folter zu Geständnissen zu zwingen. In mehreren Fällen wurden die Angeklagten sogar vergewaltigt, um ihre Selbstachtung zu zerstören. Muhammad verlangt nämlich für alle vom Islam Abgefallenen eine sie verächtlich machende Strafe (Sure58,16).

König Hassan II. von Marokko sagte zu einer Abordnung von Amnesty International, die ihm Vorhaltungen wegen der Verfolgung der 400 Konvertiten in Marokko machte: “In unserem Land herrscht das Gesetz: Allah, der König und das Vaterland. Wenn nun einer kommt und sagt, es gebe eine bessere Religion als den Islam, müssen wir ihn einem Team von Ärzten übergeben, die nachprüfen, ob er noch bei Sinnen ist. Wenn dies nicht der Fall ist und er weiterhin auf seiner Meinung beharrt, muß er nach unserem Gesetz bestraft werden.”

Es ist ein Wunder Jesu Christi, dass trotz der wachsenden Verfolgungen und Bedrückungen von Konvertiten in den letzten 20 Jahren Tausende von Muslimen in Indonesien, Bangladesch, Kirgisistan, Aserbaidschan, Syrien, Ägypten, Ghana und Marokko Christen geworden sind. Sie haben sich bisweilen zu Konvertitengemeinden zusammengeschlossen, wo noch keine Gemeinden oder Gemeinschaften vorhanden waren, und wo örtliche Gemeinden sich nicht in der Lage sahen, die Konvertiten aufzunehmen.

Im Zeitalter der Medien mit der überall wachsenden Schulbildung entsteht eine neue Missionssituation, auf die viele traditionelle Kirchen, Gemeinschaften und Missionen noch nicht vorbereitet sind. Wenn heute evangelistische Sachbücher den Muslimen im Internet angeboten werden, schalten sich monatlich mehr als 5000 Interessierte aus vielen islamischen Ländern ein. Der Hunger nach dem Heiligem Geist, nach Leben im Frieden ist groß. Doch wenige sind der Arbeiter, die Muslimen hilfreiche Antworten geben können. Darum bittet heute den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende (Mt 9,38). Wir sollten diesen Befehl Jesu Christi neu hören und ihm gehorchen, trotz der Drohungen, Bedrückungen und Verfolgungen durch muslimische Fanatikern.

III. Die Konsequenzen aus dem Prüfbericht

Wer sein altersschwaches Auto auf den Prüfstand einer modernen Werkstatt fährt und wenig später den Prüfbericht in Händen hält, muß sich zu einem Entschluß durchringen: Entweder er stößt das Auto zum Schrottpreis ab, oder er zahlt eine hohe Reparaturrechnung und läßt die Karosse seines Wagens nochmals polieren; oder er fährt weiter, bis der Wagen stehen bleibt und auseinander fällt.
Wir schlagen aufgrund unserer Vergleiche von Evangelium und Qur’an vor, das alte Religionsmodell der Aufklärung zu verlassen und zu einer biblischen Form der Mission durchzubrechen.

1. Ist der Islam die einzig gültige Religion? (Sure 3,19)

• Der Islam ist keine vom wahren Gott inspirierte Religion, denn der Qur’an ist ein Sammelsurium von verdrehten Texten aus dem Alten Testament, christlichen Splittern aus dem Neuen Testament und lokalen Ordnungen und Sitten aus Mekka und Medina. Muhammad war ein Gottsucher, aber kein Prophet! Er konnte weder Hebräisch noch Griechisch lesen. Die Bibel war zu seiner Zeit noch nicht ins Arabische übersetzt. Deshalb hatte er keinen direkten Zugang zum Wort Gottes. Er hörte nur mündliche Berichte aus dem Talmud und der Mischna, oder christliche Märchen von neutestamentlichen Apokryphen durch christliche Sklaven aus Syrien oder Ägypten. Die Quellen, aus denen Muhammad schöpfte, lassen sich häufig nachweisen.

• Wir sollten uns von dem synkretistischen Annäherungsversuch der Theologen der Aufklärung lösen, der die jüdische Religion, das Christentum und den Islam als drei monotheistische Religionen definierte. Weder Juden noch Muslime sind bereit, das Christentum als „monotheistische Religion” zu akzeptieren, solange wir an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist glauben. Wenn wir ihnen die geistliche Einheit der drei Personen bezeugen, lächeln sie erhaben über diese für sie durchsichtige Anbiederung.

Der Islam ist dem ersten Teil seines Zeugnisses entsprechend eine monotheistische Religion. In der Praxis jedoch wird Muhammad beinahe wie Allah verehrt. Sein Name wird täglich 40-mal von hunderttausenden Minaretten ausgerufen, da er den entscheidenden Inhalt im zweiten Teil des islamischen Zeugnisses darstellt. In einigen islamischen Ländern wird eine Beleidigung Allahs nicht sofort geahndet, weil Allah sich selber rächen könne. Eine Beleidigung Muhammads jedoch wird sofort bestraft, weil Muhammad tot sei. Die übermäßige Verehrung Muhammads stellt von der Praxis her den Monotheismus des Islams in Frage. Wir sollten das Märchen von den drei monotheistischen Religionen endgültig begraben.

• Ein weiterer Irrtum ist die Behauptung Allah und der Vater Jesu Christi seien identisch. Es gibt Theologen wie Hans Küng oder Cannon Kenneth Cragg, die lehren, dass alle Religionen dasselbe höhere Wesen verehren, ihm jedoch verschiedene Namen geben: Die einen sagen „Jahwe”, die anderen „Allah” und wieder andere „Vater Jesu Christi”. Hinter diesen verschiedenen Namen stehe immer derselbe Schöpfer, Herr und Richter. Diese Behauptung ist eine Irreführung! Einen allgemeinen interreligiösen Gott gibt es nicht! Was existiert, ist der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Außer ihm gibt es keinen Gott.

Die Muslime sind freilich der Meinung den wahren und einzigen Gott anzubeten. Doch der Allah des Qur’ans, hat mit dem Vater Jesu Christi nichts zu tun. Welcher Christ könnte akzeptieren, dass unser Vater im Himmel der „Listigste von allen” ist und nach dem Tod den Seligen im Paradies Sex garantiert? Jesus sagt deutlich:

„Niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will” (Mt 11,27).

Der Evangelist Johannes bezeugt:
„Niemand hat Gott je gesehen; der einzig geborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat uns Kunde von ihm gebracht” (Joh 1,18).

Wer um des allgemeinen Konsenses willen behauptet, Allah im Islam sei Gott der Vater, scheidet sich vom Inhalt des christlichen Glaubens. Allah im Islam hat keinen Sohn. Dieser „Gott” leugnet die Kreuzigung Christi. Der Geist von Allah im Islam ist nur ein Geschöpf, nicht ewig und nicht heilig. Allah ist nicht Gott, denn außer der Heiligen Dreieinigkeit gibt es keinen Gott.

Der Gott der 15 Millionen arabischen Christen muß jedoch in der arabischen Bibel mit dem Wort „Allah” übersetzt werden, weil es kein besseres arabisches Wort für Gott gibt. Schon die Verfasser der neutestamentlichen Briefe standen vor 106 demselben Problem, als sie das Wort „theos” für den Namen des biblischen Gottes verwandten. Sie füllten den unbekannten Namen mit neuem Inhalt und schrieben: Gelobt sei Theos, der Vater Jesu Christi. Im selben Sinn wird auch der Name „Allah” in der arabischen Bibel eingesetzt: Gelobt sei Allah, der Vater unseres Herrn Jesus Christus (2. Kor 1,3; Eph 1,3; Kol 1,3; 1. Petr 1,3).
In dieser Formulierung ist der Allah der Christen nicht mehr der Allah der Muslime.
Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, den Gott der arabischen Christen mit dem Allah der Muslime zu verwechseln.

Wer jedoch unbedingt bestätigt haben will, dass Allah ein Gott ist, der sollte mit den Worten des Apostels Paulus sagen:
“Der Gott dieser Welt, Allah, hat den Sinn der Muslime verblendet, dass sie nicht sehen das helle Licht des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi, welcher ist das Ebenbild des heiligen Gottes” (2. Kor 4,4; Joh 16,8-12).

• Die Muslime nehmen für sich in Anspruch, Djibril (der Engel Gabriel) habe Muhammad die Verse des Qur’ans ins Herz graviert. Muhammad bestätigte selbst, dass er Stimmen gehört habe. Wir müssen jedoch betonen, dass der Geist, der Muhammad besuchte, nicht der echte Engel Gabriel war. Der Vater Jesu Christi schickte seinen Erzengel nicht zu Muhammad nach Mekka, um diesem 17-mal zu bezeugen, dass er keinen Sohn habe. Er schickte ihn einst nach Nazareth, um der Jungfrau Maria zu offenbaren, dass der von ihr Geborene „Sohn des Höchsten” genannt werde und „Gottes Sohn” sei (Lk 1,32+35).
Der Geist, der Muhammad inspirierte, war also nicht Gabriel. Dieser Geist hat sich laut Qur’an nie mit seinem Namen persönlich vorgestellt. Muhammad wußte in Mekka nicht, welcher Geist ihn wirklich inspirierte und gab ihm 26 verschiedene Titel und Namen. Erst in Medina hörte er von den Juden, der Offenbarungsengel im Alten Testament heiße Djibril (Gabriel). So adoptierte Muhammad diesen Namen für den unbekannten Geist, der ihm erschien (Sure 53,1-18).

Dazu müssen wir bezeugen, dass der Vater Jesu Christi Muhammad nie inspiriert hat, dass sein Sohn Jesus nicht am Kreuz gestorben sei, wenn er, Gott, “in Christus” war und die Welt mit sich selbst versöhnte (2. Kor 5,18-21). Nicht der wahre Gott hat zu Muhammad geredet, sondern ein unreiner Geist, der sich als Allah ausgab, aber nie Gott war.

Während Muslime daran festhalten, dass Muhammad ein Prophet des wahren Gottes ist, müssen wir bezeugen, dass er das Medium eines unreinen Geistes war und einer Verführung zum Opfer fiel. Derselbe Verdacht wurde von den Bewohnern Mekkas öfters ausgesprochen, bevor sie dem Islam unterworfen wurden (Suren 10,2; 15,15; 17,49; 25,8; 37,36; 38,4; 44,15; 52,29-30; 68,2; 69,42-43; 81,22+25).
Die “Satanischen Verse”, die nicht von Salman Rushdi erfunden wurden, stehen von Anfang an im Qur’an (Sure 53,10-22). Sie erscheinen seltsamerweise direkt nach dem Bericht von der Erscheinung des Offenbarungsgeistes, der Muhammad inspirierte. Diese Verse waren nach Muhammads eigener Aussage eine Einflüsterung Satans, die er später ablehnte (Sure 22,52-53). Er behauptete, alle Propheten würden von Satan versucht. Allah lösche jedoch später diese dämonischen Einflüsterungen durch bessere Offenbarungen seinerseits wieder aus. Nach den Geboten des Alten Testaments hätte Muhammad nach dieser Fehloffenbarung sterben müssen (3. Mose 20,27; 5. Mose 18,9-13+20, Jer 14,13- 15). Er war nicht in der Lage, die Stimme Satans von der Stimme Gottes zu unterscheiden. Wenn aber Muhammad einmal nicht in der Lage war, Gottes Offenbarung von den Einflüsterungen Satans zu unterscheiden, dann gibt es möglicherweise noch viele Verse im Qur’an, die satanischen Ursprungs sind. Die Sure der Dämonen (djinn), 72,1-15, stellt eine solche Predigt der Geister dar, die den Islam angenommen hatten und Muslime geworden waren. Nach der Lehrmeinung des Islams sind nicht nur Menschen, sondern auch Geister Muslime. Nach Sure 46,29- 32 beeinflußten sie die Menschen in ihrem Hoheitsgebiet, sich dem Islam Muhammads nicht zu widersetzen.

Wer in der Mission unter Muslimen mitarbeiten will, muß lernen, was der Apostel Paulus schon vor 1950 Jahren der Gemeinde in Ephesus schrieb:

„Seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke … Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel” (Eph 6,10+12).

Wer meint, er brauche diese Mahnung des Apostels nicht zu beherzigen, darf nicht erstaunt sein, wenn er und sein Team im Dienst Schaden an Leib, Seele und Geist nehmen.

Wir bezeugen, dass das humanistische Märchen der Aufklärung, dass der Islam eine Religion Gottes sei, ein Irrtum ist. Vielmehr stellt der Islam eine Verführung dar und ist eine satanische Großmacht ersten Ranges, die weder rationalistisch noch organisatorisch überwunden werden kann. Wir müssen in Europa Buße tun und das Gedankengut der Aufklärung ablegen und zu den biblischen Realitäten und Kräften zurückkehren.

Vielleicht wendet jetzt jemand ein: Aber der Islam ist eine Weltreligion und enthält eine große Kraft, der 1,2 Milliarden Menschen nachfolgen. Dem entgegnen wir: Eine Lüge wird umso stärker je mehr Wahrheitssplitter sie enthält. Ihre Grundrichtung aber bleibt destruktiv. So enthält der Islam viele gute Gedanken aus dem Alten und Neuen Testament, die etwa zwei Drittel der Texte des Qur’ans ausmachen. Die Grundrichtung des Islams bleibt jedoch die permanente Ablehnung des Vater, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Damit fällt der Geist, der den Islam offenbarte, unter das Verdikt, das Paulus an die Galater schrieb:

„Wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium predigten als das, welches wir euch gepredigt haben, der sei verflucht” (Gal 1,8).

Der Geist, der Muhammad 600 Jahre nach dem Tod Christi inspirierte, bestätigte nicht das Evangelium und war nicht bereit, sich der Herrschaft des Auferstandenen zu unterwerfen. Er brachte den Rückfall in eine Gesetzesreligion, die auf Werkgerechtigkeit aufgebaut ist und fällt deshalb unter das Gericht Gottes. Dabei muß deutlich gesagt werden, dass nicht die Muslime von Paulus verflucht worden sind, sondern der Geist, der den Islam offenbart hat.

2. Wie können wir heute Muslime missionieren?

• Wer erkannt hat, dass der Islam eine okkulte Großmacht ist, wird als erstes sich, seine Familie und sein Team unter die Bedeckung des Blutes Jesu Christi stellen.

Das bedeutet, dass keiner würdig oder fähig ist, von sich aus die Muslime zu missionieren. Wir sind nicht besser als sie, wenn wir auf unsere eigene Natur blicken. Wir sollten uns mit den Muslimen auf eine Ebene stellen und sie nicht von oben herab missionieren wollen. Was wir haben, ist nicht unsere Leistung, sondern allein Gottes Gnade. Nur aus der Beugung und Buße heraus empfangen wir das Recht und die Kraft zur Mission.

Männer wie Johannes Seitz, Johannes Busch und Billy Graham sagten, wenn sie vor einer unüberwindlichen Herausforderung standen: Brüder, laßt uns zuerst Buße tun und alle uns bewußten Sünden und Fehler dem Herrn bekennen und wiedergutmachen, soweit dies möglich ist. Dann kommen wir täglich – oder sooft wie möglich – zum gemeinsamen Gebet zusammen und bitten im Namen Jesu um Sieg und Kraft und Frucht. Zu dieser Beugung der Verantwortlichen gehört auch die Vergebung unter Brüdern, dass wir zuerst um Vergebung bitten, wenn in einer Mission oder Gemeinschaft Streit und Haß herrschen, und wir alles uns Mögliche mit Jesu Hilfe tun, um Frieden im Team, in der Familie und in der Mission zu schaffen. Wenn wir nicht darum ringen, dass der Geist Gottes uns zerbrechen, reinigen und heiligen kann, sollten wir nicht anfangen, unter Muslimen zu missionieren. Die These Martin Luthers, dass das Leben eines Christen eine fortgesetzte Buße sein soll, kommt besonders in der Mission unter Muslimen zum Tragen. Nur nach unserem Zerbruch kann der Herr wirken.

• Wenn wir zum anhaltenden Gebet zusammenkommen, haben wir das Vorrecht, um die Leitung des Heiligen Geistes für unsere Gedanken, Pläne und Taten zu bitten (Röm 8,14-15). Die Bitte um Geistesleitung in jedem Detail ist wichtiger als alles Planen, Ausstellen von Bankschecks oder das Schreiben von Büchern. Mission kann nicht unsere Leistung sein, sondern bleibt des Herrn Werk. Wir sind im besten Fall seine Lehrlinge und Gehilfen.

• Wir fanden es hilfreich, um Kontakte mit Muslimen zu bitten, deren Herz fürs Evangelium offen ist. Etwa fünf Prozent aller Muslime sind vom Islam frustriert, weil sie die Kluft zwischen Wort und Tat in ihrer Kultur sehen. Manche haben den Qur’an mit seinen Widersprüchen und Unmenschlichkeiten studiert und haben begonnen, sich von diesem Geist zu lösen. Zahlreiche Muslime sagten: „Wenn der Islam so aussieht, wie ihn Khomeini propagiert, wollen wir keine Muslime mehr sein!”
Dabei war Khomeini vielleicht der Ehrlichste von allen Muslimen, denn er lebte, was der Qur’an wörtlich lehrt. In und außerhalb des Irans sind tausende Muslime als Reaktion auf den Fundamentalismus Khomeinis Christen geworden. Bittet deshalb um offene Augen, dass ihr solche Muslime erkennt, die suchend und fragend geworden sind.

• Es ist selbstverständlich, dass wir nicht wie ein Wasserfall auf die Interessierten einreden. Wir sollten nicht versuchen, sie schnell zu bekehren. Wir müssen zuhören lernen und unsere Freunde fragen, woher sie kommen und was sie denken und fühlen. Es ist nicht schwierig, mit ihnen über Himmel und Hölle, Abraham und Mose, Gott und Christus zu reden, solange wir ihnen nicht die Gottheit Christi und seine Kreuzigung beweisen wollen. Wir müssen zuerst ihre Gedanken und das Niveau ihrer geistlichen Erkenntnis ausloten. Wir sollten unser Ohr ans Herz der Muslime drücken, um ihren Herzschlag zu hören.

• Wenn wir den inneren Standort der einzelnen Muslime etwas erkannt haben, sollten wir nicht anfangen, ihnen unsere vorgefertigten Glaubensschablonen überzustülpen, sondern Gott um das rechte Wort für den Einzelnen bitten. Das innere Hören auf den Vater Jesu Christi ist in seelsorgerlichen Gesprächen entscheidend, und das Gebet um das rechte Wort gibt Vollmacht, Kraft und Weisheit.

Oft ist ein sachliches Zeugnis von dem, was Jesus an uns tat, die Basis für weitere Gespräche. Manchmal kann auch Psalm 51 zur Erkenntnis der Sünde im Leben eines Muslims führen.
Jesaja 53,4-12 hilft die Möglichkeit der Stellvertretung Christi zu erhellen, ohne dass vom Gottessohn und vom Kreuz schon bei Beginn des Gesprächs die Rede ist.
Johannes 1,29 kann das Lamm Gottes vor Augen stellen, das in Sure 37,103-107 in der Opfervereitelung des Sohnes Abrahams als Ersatzopfer vorgeschattet ist.
Joh 17,3 ermöglicht eine Annäherung der Muslime an das Geheimnis des ewigen Lebens, während die Erscheinung auf Patmos die Herrlichkeit des Auferstandenen bezeugt (Offb 1,12- 18). Da der Muslim häufig in den Bahnen des Gesetzes denkt, ist die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 8,1-11) für manchen schon ein Anstoß zur Umkehr geworden. Feindesliebe statt Rache sprengt das Rechtsdenken der Muslime (Mt 5,44), während die Seligpreisungen Hoffnung in ihnen aufkeimen lassen (Mt 5,3-12).

Wichtig ist, dass diese Versblöcke auswendig gelernt werden, denn bei vielen Muslimen geht das Denken vom Herzen in den Kopf, und nicht umgekehrt.

• Martin Luther hat mit seiner Erklärung zum dritten Glaubensartikel gleichzeitig auch den Schlüssel zur Mission unter Muslimen geliefert. Wir sehen die Realität des göttlichen Durchbruchs in seinen Worten:
„Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten…”

Alles Drängen hilft nichts! Wie jedoch der Geist Gottes am Anfang der Schöpfung über dem Tohuwabohu brütete, bis Gott: Es werde Licht! sagen konnte, so müssen wir um die vorbereitende embryonale Wirkung des Heiligen Geistes bei den einzelnen Muslimen bitten, bis der Herr Jesus sagen kann: Es werde Licht! Und es ward Licht (1. Mose 1,2+3; Joh 1,12; 8,34+36; 10,27-30).

• Es ist ein alter Erfahrungswert, dass jeder Missionar unter Muslimen lernen muß, drei Hauptprobleme seelsorgerlich zu beantworten:

1. Die Ablehnung der Heiligen Dreieinigkeit mit dem Ärgernis, dass Gott ein Vater sein soll und einen Sohn habe.
2. Die Kreuzigung Christi wird im Qur’an als historische Tatsache geleugnet. Jeder Evangelist unter Muslimen muß um Wege beten, dieses zentrale Thema aus den Büchern des Alten Testaments oder säkularen Quellen zu erhellen.
3. Der Vorwurf der gefälschten Bibel raubt den Muslimen das Vertrauen in alles, was Christen vom Evangelium her sagen. Wir müssen ihr Vertrauen in die Bücher der Bibel wecken, wenn wir wollen, dass sie uns Glauben schenken.
4. Im Grunde genommen geht es nicht nur um Dreieinigkeit, Kreuz und Bibelfälschung, sondern um die Änderung des Gottesbildes. Ein Muslim muß begreifen: Gott ist Liebe, der Allmächtige liebt mich, er kennt mich. Gott ist mein Vater. Er will mich von dem Gericht und der Hölle retten. Er ist kein Despot, sondern kümmert sich um mich persönlich. Ein neues Gottesverständnis muß seinen Sinn umformen.

• Wer mit Muslimen ins Gespräch kommt, erkennt schnell unseren eigenen Nachholbedarf an Verständnis und Wissen über ihre Kultur und Religion. Es wäre falsch, einen Muslim wie einen Atheisten oder Namenschristen zu evangelisieren. Er hat andere Denkschablonen, andere Wertmaßstäbe und andere Glaubensbrücken. Bei ihm heißt es oft: “Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist!” (Psalm 34,9), was soviel heißt wie Gastfreundschaft, Einladung zu Mahlzeiten und Gemeinschaft mit ihnen zu pflegen. Wer auf die Dauer als Einzelner oder als Gemeinde Muslime mit dem Evangelium bekannt machen will, sollte sich eine Auswahl an Büchern, Kassetten und Video-Kassetten anlegen, möglichst in verschiedenen Sprachen, so dass die Muslime in ihrer Muttersprache das Evangelium und hilfreiche Bücher lesen können. Das Angebot dazu ist groß und gut.

• Wo ein Gemeinschaftsverband oder ein Kirchenbezirk den Ruf Jesu zur Mission unter Muslimen gehört hat und befolgen will, sollten sie einen erfahrenen Konvertiten als Evangelisten, als Seelsorge- und Gemeindeberater vollzeitlich oder teilzeitlich anstellen, oder auf die Bibelschule zur Ausbildung schicken. Wir Europäer werden die Muslime nie ganz verstehen, auch wenn wir jahrelang mit ihnen zusammenleben, sie achten und lieben.
Gemeindeverbände sollten ein Budget für Mission unter Muslimen in der eigenen Umgebung einrichten. Dieses Geld zahlt sich durch eine geistliche Belebung der Gemeinden bald wieder aus. Eine Gemeinde in Süddeutschland gibt 60 Prozent ihrer Einnahmen für Mission aus, nicht für Missionsgesellschaften, sondern für eigene Missionare, die sie aussendet, trägt und umbetet. Diese Gemeinde ist voller Leben und Bewegung. Vielleicht müssen wir auch an diesem Punkt umkehren.

3. Wollen wir Muslime wirklich missionieren?
Emotionen kühlen schnell ab; Begeisterung hilft nicht lange. Wo eine Berufung durch Jesus da ist, beginnt der Heilige Geist, Herz und Willen zu mobilisieren. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Deshalb fragen wir nochmals: Wollen wir wirklich Muslime missionieren? Legen sie diesen Entschluß in Jesu Hände, dass er Frucht daraus wirkt, dass er sie von Anfang bis Ende leitet, so dass Rückschläge, Enttäuschungen, Fehler und Widerstände zweitrangig erscheinen. Allein der Befehl Jesu gilt: Gehe zu deinem muslimischen Nachbarn, Kollegen oder Schulfreund, bete für ihn, grüße ihn, bitte Jesus um Kontakte und um Weisheit. Tausche dich mit Gleichgesinnten aus und erbitte dir von Jesus vor allem eine Gebetsgruppe, die dir den Rücken stärkt. Derjenige Missionar im In- oder Ausland, dem der Herr treue Beter schenkt, hat die längste Ausdauer, die meiste Frucht und die so dringend nötige Weisheit und Phantasie.

Wenn wir die Muslime nicht missionieren, werden sie uns missionieren! Längst haben die Verantwortlichen in den islamischen Zentren der Bundesrepublik erkannt, dass die vielen muslimischen Gastarbeiter und Studenten ein Potential zur islamischen Missionierung von liberalen und evangelikalen Christen darstellt. Schriftliche Anleitungen in deutscher Sprache, wie man am besten Christen knacken kann, werden von München, Köln und Hamburg aus versandt. Die Mischehe hat sich dabei als wirksamste isla- mische Missionsmethode erwiesen. Über zwei Drittel der deutschen Konvertiten zum Islam sind ehemalige christliche Ehepartner, die aus Liebe zu ihrem Partner den Islam angenommen haben. Insgesamt rechnet man mit mindestens 100.000 Deutschen, die Muslime geworden sind. Die Zahl der Muslime, die in der Bundesrepublik Christen geworden sind, beläuft sich nicht einmal auf zehn Prozent dieser Zahl. Stellt das keinen Bußruf für uns, die Verantwortlichen in den Gemeinden, dar?

Das Wachstum des Islams in aller Welt vollzieht sich in erster Linie durch Geburtenüberschuß. Nachdem Muhammad in der Schlacht bei Uhud 70 Muslime verloren hatte, mußte er einen Weg finden, die Witwen und Waisen zu versorgen. So sagte er zu seinen Kriegern: “Heiratet zwei, drei oder vier Frauen. Falls ihr jedoch fürchtet, dass ihr sie nicht gerecht behandeln könnt, dann nur eine” (Sure 4,3). Die Muslime gingen begeistert auf seine „Offenbarung” ein und halten an ihrem Vorrecht zäh fest.

Da Hygiene und medizinische Versorgung seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts auch in die islamischen Länder eingedrungen sind, wuchs der Geburtenüberschuß proportional, so dass sich die Muslime heute in 27 Jahren verdoppeln. Die Christen dagegen verdoppeln sich trotz beachtlicher missionarischer Erweckungen in China, Indonesien, Ost- und Westafrika nur in 54 Jahren, weil sie nur wenige Kinder pro Familie haben.
Die Türkei wird laut Fischers Welt-Almanach 1997 im Jahre 2000 etwa 68 Millionen Einwohner haben, im Jahre 2025 sollen es bereits 90 Millionen Einwohner sein, während die Bundes republik stagniert und im gleichen Jahr auf unter 76 Millionen absinken soll.

Heute gibt es weltweit 1,3 Milliarden Muslime. Wenn Jesus nicht vorher kommt, wird sich diese Zahl in 27 Jahren verdoppeln. Jährlich werden 30 Millionen Muslime oder mehr dazugehören. Die Probleme mit Gastarbeitern und Ausländern in Europa sind nur Vorboten einer wachsenden Welle von Einwanderern, die auf uns zurollt. Es ist eine Frage der Weisheit und des Selbstschutzes, dass sich die Gemeinden der Bundesrepublik auf die theologische, gesellschaftliche und missionarische Auseinandersetzung mit dem Islam vorbereiten. Die Zeit drängt. Pfarrer Otto Riecker von Adelshofen schrieb ein Buch mit dem Titel: „Mission oder Tod”. Der Titel erscheint radikal, enthält aber eine tiefe Weisheit und Wahrheit.

Im Braunschweiger Dom steht im Altarraum ein überdimensionaler siebenarmiger eiserner Leuchter aus der Zeit der ersten deutschen Kaiser vor über 1000 Jahren. Dieser Leuchter hat viele Kriege, Segenszeiten, Gottlosigkeiten und Erweckungen überdauert. Die Reformation und der Pietismus sind unter seinen dicken Kerzen hindurchgegangen. Dieser Leuchter ist ein Zeichen der Geduld Jesu Christi mit dem deutschen Volk. Er hat uns den Leuchter noch nicht weggestoßen (Offb 2,4+5). Der Herr aber hatte der aktiven Gemeinde in Ephesus gedroht, dass er ihren Leuchter wegstoßen werde, falls sie nicht Buße täten und zu den Werken der ersten Liebe zurückkehrten.

Das Missionsfeld ist in unsere Heimat gekommen. Die Muslime leben vor unserer Haustür. Hören wir den Ruf Jesu Christi zur Umkehr oder leben wir in unserem Gemeindekarussell weiter?

Bereitet den Weg des Herrn – auch unter den Muslimen in Europa.

Mehr zu Thema Islam auf meiner Webseite:

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Paavo – Gottes Bote in Finnland

Burkard Krug

Paavo Ruotsalainen – Ein Zeuge der Erweckung in Finnland

 

Einbandtext:

PAAVO RUOTSALAINEN (1777 – 1852), ein schlichter finnischer Bauer, war von Gott dazu ausersehen, der gesegnete Träger einer Erweckungs-bewegung in seiner Heimat zu werden. Gleich nach seiner eigenen Bekehrung begann er seine Tätigkeit als Laienseelsorger, die nicht nur auf seine Heimatgemeinde beschränkt blieb. Auf ausgedehnten Reisen durchquerte er ganz Finnland mit der Botschaft des Evangeliums.
Bald erhob sich auch der Widerstand seitens der Pfarrerschaft und der Behörden gegen die sich ausbreitende Erweckungsbewegung. Paavo und seine Anhänger wurden in Kämpfe und Prozesse verwickelt, die aber den Siegeszug der Erweckung nicht aufhalten konnten. Als Paavo mit zunehmendem Alter selbst nicht mehr reisen konnte, betätigte er sich vornehmlich durch seelsorgerlichen Briefwechsel mit seinen Freunden und Mitarbeitern und vielen Ratsuchenden. Nach seinem Tode erlebte die Erweckungsbewegung zunächst mancherlei Rückschläge, wurde aber in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts neu belebt, so daß heute etwa ein Drittel der finnischen Pfarrerschaft und die Hälfte der Bischöfe zu den Erweckten gehören.
Der treue Dienst des „Rufers in der Wildmark” Paavo Ruotsalainen ist nicht vergeblich gewesen.

Eingestellt von Horst Koch, Herborn, im Herbst 2023

INHALT
Wenn Gottes Winde wehen

Paavos Jugend

Die Hochschule der “Kiefernfabrik”

Reisender im Auftrag Gottes

Mitarbeiter und Freunde

Kämpfe und Prozesse

Der große Seelsorger

Glaube und Humor

Wie es weiterging


Vorwort
Finnland, das Land der tausend Seen und der unermeßlichen Wälder, der Mitternachtssonne und des Nordlichts, hat in den letzten Jahren schon viele Reisende aus Deutschland angelockt. Aber nur wenige von ihnen wissen etwas über das Glaubensleben der finnischen Kirche und die in ihr so lebendige Erweckungsbewegung, die nun schon über 170 Jahre wirksam ist.
Um eine geistige Bewegung recht verstehen zu können, ist es nötig, auch etwas über ihren geographischen Hintergrund zu wissen. Darum sei dieser Arbeit ein Gedicht von dem finnischen Dichter Eino Leino über Finnland vorangestellt:


Finnland
Einst zog der Heiland auch nach Norden weit,

wo Finnland liegt in seiner Einsamkeit.

Nur zögernd folgte Petrus seinem Herrn;

Wacholderpfade wandelt er nicht gern.

“Ach Herr, in welches Land sind wir gelangt!

Welch Volk, das ohne Kraft und Willen schwankt!

Das Moor verhöhnt den Pflug, Schutt deckt die Felder,

Frucht tragen hierzulande nur die Wälder.”

Doch mild und leise redete Herr Christ:

“Daß dieses Land ein wenig ärmlich ist

und allzu karge Ernten trägt, macht Sorgen;

doch Zukunft ist in dieser Art verborgen.”

Es lächelte der Herr, indem er sprach.

Und sieh! Ein Schimmer überm Wasser lag,
der Urwald wich, der Frost ward endlich müde,

der Sumpf vertrocknete, die Wildmark blühte.

Der Herr und Petrus zogen ihren Weg.

Gehst du am Strande deinen Birkensteg

in unsrer Sommernacht, so siehst du weh’n

des Herren Lächeln um die stillen Seen.

Nachdem meine Doktorarbeit über Paavo Ruotsalainen und seine Rechtfertigungslehre schon seit einigen Jahren vergriffen ist, wurde ich wiederholt aufgefordert, doch einmal ein kurzes Lebensbild über diesen Zeugen Gottes im hohen Norden zu schreiben.
Bad Hersfeld, 1969,  Burkard Krug

Wenn Gottes Winde wehen

Es war im Sommer des Jahres 1796, demselben Jahr, in dem der Bauernsohn Hans Nielsen Hauge, der Erwecker Norwegens, mit seiner segensreichen Tätigkeit begann. An einem schönen, heißen Julitag befanden sich viel Leute des Dorfes Savojärvi im Kirchspiel Iisalmi auf einer großen Wiese, um das Heu zu bergen.
Plötzlich wurden sie von einer unsichtbaren, übernatürlichen Kraft zu Boden geworfen. Ein wunderbares Gefühl bemächtigte sich ihrer. Einige sahen Gesichte, andere sprachen in Zungen, wieder andere hatten ein starkes Sündenbewußtsein und Schuldgefühl.
Dies war der Anfang der Erweckung in Nordsavo, einer Gegend Mittelfinnlands, die man wegen ihrer großen Wälder, ihrer vielen Seen und Sümpfe als „die Wildnis” bezeichnet. Der erste Leiter der Erweckten Nordsavos war Johan Martikainen, der von Zeit zu Zeit in Ekstase versank und dann wie tot zu Boden stürzte. Er konnte gut predigen und eindringlich Gottes Gericht verkündigen. Aber es fehlte ihm das nötige Wissen und Können für eine Führerstellung.
So trat er bald die Leitung der Versammlungen an den Stellmacher Johan Puustijärvi ab, der seit seiner Soldatenzeit Lustig genannt wurde. Lustig stammte aus Ylitomio und kam 1787 mit siebzehn Jahren nach Nordsavo. Als die Erweckung begann, war er also etwa 26 Jahre alt. Er war in seiner Heimat, dem Torniotal nahe der schwedischen Grenze, Brüdern aus Herrnhut begegnet und auch mit anderen Erweckungskreisen in Berührung gekommen. Er war ein guter Redner und in der Bibel sehr bewandert.

1734 waren zum ersten Male drei Brüder aus Herrnhut nach Finnland gekommen. Ihr eigentliches Ziel war Lappland, wo sie missionieren sollten. Doch als sie sahen, daß die Arbeit dort zu schwer für sie war, blieben sie in Oulu und im Torniotal.
Lustig machte seinem Namen alle Ehre. Er dämpfte in keiner Weise die ekstatischen Elemente unter den Erweckten, sondern förderte sie vielmehr. Nach den Versammlungen spielte er auf seiner Violine zum Tanze auf, was er mit dem Psalmwort begründete:
„Lobet ihn mit Pauken und Reigen;
lobet ihn mit Saiten und Pfeifen !” (Psalm 150, 4.)
Leider war daher auch Lustig nicht der richtige Führer für die Erweckten. Er wurde immer hochmütiger, während das geistliche Leben in vielen Erweckten erlosch.
Unter den Besuchern der Versammlungen fiel seit einiger Zeit ein junger Mann auf, der sich still und bescheiden in den Hintergrund setzte, aber den Worten Lustigs aufmerksam zuhörte. Es war Paavo Ruotsalainen, der wegen seiner vielen Grübeleien „verrückt” oder „töricht” genannt wurde.
Sein Vater, der Bauer Vilppu Ruotsalainen, sah es nicht gern, wenn sein Sohn zu den Versammlungen der Erweckten ging. Er rief ihm dann nach: „Na, beginnt der Wolf schon wieder zu laufen, nachdem seine Krallen einmal geschliffen sind?”

Eines Tages – es war im Jahre 1809 – trat dieser so still wirkende Paavo Ruotsalainen in einer Versammlung der Erweckten öffentlich auf und hielt eine gewaltige Ansprache gegen Lustigs Lehre, die mit den Worten schloß:

„Wenn wir nicht auf das schnellste zum Herrn zurückkehren, bringt uns Lustigs Lehre in die Hölle. Amen.”

Die Wirkung dieser Rede war groß. Alle Zuhörer, außer zwei Frauen, schlossen sich Paavo an und folgten seiner Lehre. Eine Einigung mit Lustig war nicht mehr möglich. Doch hielt auch Lustig weiterhin noch da und dort Versammlungen ab.
Wer war dieser Paavo, der so mit Vollmacht sprechen, eine Irrlehre erkennen und die Menschen an sich ziehen konnte?


Paavos Jugend
Paavo (Paulus) Ruotsalainen wurde am 9. Juli 1777 in Tölvänniemi im Kirchspiel Iisalmi geboren. Seine Eltern entstammten einfachen Bauernfamilien, wenn auch einige Vorfahren einmal der führenden Bevölkerungsschicht angehört hatten. Routsalainen heißt auf deutsch: „der Schwede”. Paavo war das älteste Kind einer großen Kinderschar, und so fiel ihm oft die Aufgabe zu, seine jüngeren Geschwister zu hüten.
Er war ein aufgeweckter Junge, der mit einem sehrguten Gedächtnis begabt war. Schon früh zeigte sich bei ihm eine tiefe Frömmigkeit. Einen unvergeßlichen Eindruck übte eine Karfreitagspredigt auf ihn aus, die er als Sechsjähriger hörte. Sein Onkel hatte ihn zum ersten Mal mit in die Kirche genommen. Als der Pfarrer über das Leiden und Sterben Christi sprach, fragte Paavo ganz laut und vernehmbar seinen Nachbarn in der Kirchenbank: „Wer ist ermordet worden?“
Sein Onkel, der seine Frömmigkeit und seinen Eifer bemerkte, brachte ihm das Lesen bei und schenkte dem Sechsjährigen eine Bibel, die 1776 gedruckt war. Diese Bibel kann noch heute auf der Insel Aholansaari, dem letzten Wohnort Paavos, eingesehen werden. Sie trägt die folgende Inschrift:
„Paavali Ruotsalainen von Tahkomäki im Kirchspiel Nilsiä ist der rechtmäßige Besitzer dieses Buches. In diesem Buch steht das ganze Geheimnis darin und der Inhalt des Weges zum Leben. Und dieses große und teure Geheimnis dürfen keine anderen wissen noch verstehen als die, deren Augen geöffnet wurden, ihre eigene Schlechtigkeit zu sehen, aber nicht die Guten, auch nicht die Weisen.
Ehe Paavo das sechzehnte Lebensjahr vollendete, hatte er seine Bibel schon dreimal durchgelesen. Welchen Eindruck der Konfirmandenunterricht auf ihn gemacht hat, ist leider unbekannt. Doch bat er den Pfarrer, seinen zweiten Taufnamen „Henrik“ (Heinrich) zu streichen. Er wollte nur Paavo heißen im Andenken an den großen Heidenapostel Paulus.
Das Lesen der geliebten Bibel brachte ihm aber keinen rechten Frieden, sondern führte ihn in mancherlei innere Nöte und Schwierigkeiten. Oft ging er für viele Stunden allein in den Wald, um dort in der Stille über Glaubensfragen nachzudenken.

“Eins aber fehlt dir!”
Da hörte er eines Tages von dem Schmied Jakob Högman in Jyväskylä, der als Laienseelsorger großes Ansehen und Vertrauen genoß. Häufig kamen Menschen zu ihm, um sich bei ihm seelsorgerlichen Rat zu holen. Sein Auftreten war ruhig und still. Er wollte nicht die Neugier der Menschen wecken, wohl aber ihr Sehnen nach ewigem Leben. Seine Lieblingslektüre war das Büchlein „Ein köstlicher Honigtropfen aus dem Felsen Christus” von dem Puritaner Thomas Wilcox (geb.1522). Die Kunde von diesem begnadeten Schmied Högman drang auch an Paavos Ohr. So brach er im Winter 1799 ohne Wissen seiner Eltern auf, um nach Jyväskylä zu gehen. Diese lange Reise von über zweihundert Kilometern legte er zu Fuß und ohne genügend Wegzehrung zurück. Nur etwas Rindenbrot war in seinem Rucksack. So mußte er unterwegs oft betteln.
Der Schmied fuhr ihn zunächst hart und barsch an. Als er aber erfuhr, warum Paavo gekommen war, nahm er ihn freundlich auf, bewirtete ihn und sagte zu ihm die entscheidenden Worte: „Eins aber fehlt dir und mit diesem einen alles: Du hast Christus noch nicht in deinem Inneren erfahren.” Högman wies ihn dann hin auf die Gnade Gottes in Christus, auf die er in aller Sündhaftigkeit vertrauen sollte. Er erinnerte an die Worte Jesu: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken” (Matth. 11, 28) und „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen” (Joh. 6,37).
Auch sprach er zu Paavo über die enge Pforte, die Notwendigkeit der Bekehrung und der täglichen Buße. Als Lektüre empfahl er ihm neben der Bibel den „Köstlichen Honigtropfen” von Thomas Wilcox. Wer heute nach Jyväskylä kommt, kann auf dem Friedhof der Landgemeinde einen Gedenkstein sehen, auf dem die Worte des Schmiedes verzeichnet sind: Eins aber fehlt dir und mit diesem einen alles: Du hast Christus noch nicht in deinem Inneren erfahren.
Befreit und froh machte sich Paavo auf den Heimweg. Ihm war die Sonne der Gnade aufgegangen. Selber sagte er später von diesem Ereignis: „ Als ich mich danach anschickte, das Wort Gottes zu lesen, da war alles wie eine neue Auflage. Auch brauchte ich von da ab niemanden mehr um Rat zu fragen, sondern habe selber dem einen und anderen einen Rat erteilt.”
Schon auf dem Rückweg wies er einen alten Bauern, in dessen Haus er übernachtete, auf den Heilsweg hin und begann damit seine Tätigkeit als Laienseelsorger.
Ehe es jedoch zu der oben erwähnten Auseinandersetzung mit Lustig kam, war er noch ein oder zweimal in Jyväskylä bei dem Schmied Jakob Högman, um sich Rat zu holen. Högman erkannte Paavos große Gaben und ermahnte ihn, die Erweckten in ihren geistlichen Fragen zu betreuen. Er machte ihm den Unterschied klar zwischen einem wahren und einem Scheinchristen und betonte, daß wir durch viel Trübsal und Kampf in das Reich Gottes eingehen müßten.

Die Hochschule der „Kiefernfabrik“
Wie schon erwähnt, lernte Paavo mit sechs Jahren von seinem Onkel das Lesen. Ob er jemals schreiben gelernt hat, wissen wir nicht genau. Seine vielen seelsorgerlichen Briefe, die er im Laufe seines Lebens schrieb, hat er in der Regel seinen Freunden und Mitarbeitern diktiert. Die einzige Hochschule, die er besucht hat, so pflegte er zu sagen, war die „Hochschule der Kiefernfabrik”.
In Zeiten der Hungersnot, wenn Hagel und Nachtfröste die Ernte vernichtet hatten, waren die Menschen gezwungen, Rinde ins Brot zu backen. Es war das eine gewisse Schicht der Kiefernrinde zwischen dem inneren Baumstamm und der äußeren Borkenrinde, die gemahlen wurde und dann ein feines, weißes Mehl ergab. Es hatte zwar keinen großen Nährwert, sättigte aber. Diese Notzeiten mit Rindenbrot meinte Paavo, wenn er von der „Hochschule der Kiefernfabrik” sprach.
Der finnische Nationaldichter Johan Ludwig Runeberg hat darüber ein schönes Gedicht geschrieben, das vermutlich sogar Paavo selber meint, wenn auch sein Name in der deutschen Übersetzung nicht erwähnt wird. Im schwedischen Original lautet die Überschrift: „Bonden Paavo” („Bauer Paavo” ).

Die Prüfung
Hoch im Norden zwischen Finnlands Mooren
lag das Gütchen eines alten Bauern.
Fleißig brach sein Arm den kargen Boden.
Doch zum Himmel flehte er um Wachstum.
Gräben zog er, pflügte und besäte.
Als der Lenz vom Schnee das Feld befreite,
schwemmte er die Hälfte von der Saat mit.
Als der Sommer kam mit Hagelschauern,
lagen viele Halme auf dem Boden.
Als der Herbst kam, nahm den Rest die Kälte.
Und die Frau des Alten rief verzweifelt:
„O wir armen, ganz verlaßnen Menschen!
Not ist bitter, doch Verhungern schlimmer.”
Aber er nahm ihre Hand und sagte:
„Prüfen will der Herr uns, nicht verstoßen.
Misch zur Hälfte Rinde in das Brotmehl!
Ich will doppelt fleißig Gräben ziehen.
Doch zum Himmel flehe ich um Wachstum.”
Rinde buk die Frau ins Brot zur Hälfte.
Doppelt fleißig zog der Alte Gräben,
tauschte Schafe gegen Korn und säte. -
Als der Lenz das Feld vom Schnee befreite,
schwemmte diesmal nichts er von der Saat mit.
Als der Sommer kam mit Hagelschauern,
lag jedoch das halbe Feld zerschmettert.
Als der Herbst kam, nahm den Rest die Kälte.
Seine Frau schlug sich die Brust und klagte:
„O wir armen, ganz verlaßnen Menschen!
Laß uns sterben! Gott hat uns verstoßen.
Tod ist bitter, schwerer noch, zu leben!”
Doch er nahm der Hausfrau Hand und sagte:
„Prüfen will der Herr uns, nicht verstoßen.
Mische doppelt Rinde in das Brotmehl!
Ich will doppelt längre Gräben ziehen,
und zum Himmel will ich flehn um Wachstum.”
Rinde buk die Frau ins Brot nun doppelt,
doppelt längre Gräben grub der Alte.
Als der Lenz das Feld vom Schnee befreite,
schwemmte er auch diesmal keine Saat mit.
Als der Sommer kam mit Hagelschauern,
schlug er keinen einz’gen Halm zu Boden,
und im Herbst verschont’ der Frost den Acker,
ließ ihn stehn in Gold bis auf die Ernte.
Da fiel er auf seine Knie und sagte:
„Prüfen wollte Gott uns, nicht verstoßen.”
Und die Frau sank auf die Knie und sagte:
„Prüfen wollte Gott uns, nicht verstoßen.”
Doch voll Freude bat sie dann den Alten:
„Ach, nun greife stark und froh zur Sense!
Frohe Tage sind nunmehr gekommen.
Jetzt ist’s Zeit, die Rinde wegzuwerfen
und das Brot aus reinem Korn zu backen.”
Da nahm er die Hand der Frau und mahnte:
„Weib, o Weib, nur die bestehn die Prüfung,
die den armen Bruder nicht vergessen!
Misch zur Hälfte Rinde in das Brotmehl!
Denn erfroren ist des Nachbarn Ernte.”

Runeberg schildert uns hier die Not eines Bauern Paavo, der sich eine Neusiedlerstelle angelegt hatte und dessen Felder besonders durch den Nachtfrost gefährdet wurden. Das alles hat Paavo Routsalainen zur Genüge kennengelernt.
Im Jahre 1800 heiratete er die Kleinbauerntochter Riitta Ollikainen, die ziemlich unduldsam und streitsüchtig war und seinen Bemühungen um die Erweckungsbewegung verständnislos gegenüberstand. Sein Vater verschaffte ihm eine Neubauernstelle in der Nähe seiner Heimat. Aber dieses Leben als Neusiedler war eben sehr hart und schwierig. Oft vernichtete der Frost die gesamte Ernte, und es mußte Rindenbrot gebacken werden. Seine Nachbarn waren häufig nicht gewillt, ihm mit Getreide auszuhelfen.
So ging Paavo wieder einmal zu einem reichen Nachbarn, um sich Weizen zu leihen. „Keinen Eimer voll für den Ketzer!” antwortete dieser barsch. Doch Paavo setzte sich vor die Scheunentür und sagte: „Von hier gehe ich nicht fort, ohne Hilfe empfangen zu haben. Du hast immerhin die Mühe, meinen Körper beiseite zu schaffen.“ Dieses Mal öffnete sich der Weizenspeicher, und Paavo bekam das erbetene Brotgetreide.
Eines Tages verkaufte er die Neubauernstelle, die zu sehr der Frostgefahr ausgesetzt war. Dann versuchte er, den Hof des Schwiegervaters zu bewirtschaften. Aber auch das gelang nicht recht.
Die Familie wuchs und die Armut auch. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen ihn, den Hof des Sd1wieger16vaters an seinen Schwager zu verkaufen. Schließlich unternahm Paavo eine Tat der Verzweiflung. Gerüchte besagten, daß in Polen für finnische Neusiedler kostenlos Land abgegeben werde. Paavo lud seine wenigen Sachen auf den Wagen und zog mit seiner Familie nach Süden. Doch in Viipuri (Wiborg) fand die Reise ihr schnelles Ende. Der Gouverneur gab den Auswanderern keinen Paß. Paavo selbst erkrankte schwer. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als nach Nordsavo zurückzukehren. Paavo kam sich vor wie vorzeiten der Prophet Jona, der sich auf die Flucht begeben hatte, auch ohne Befehl und Erlaubnis Gottes.
Zunächst bewohnte Paavo jetzt die Häuslerstelle Soukka im Kirchspiel Nilsiä. Seit 1820 bewirtschaftete er einen Teil des Hofes Tahkomäki im selben Kirchspiel. 1830 kaufte er mit seinem Schwiegersohn einen Hof auf der Insel Aholansaari im Syväri- See, wo er bis an sein Lebensende blieb. 1833 starb seine Frau. Einige Zeit später heiratete er Anna Lovisa Savolainen, eine Anhängerin der Erweckungsbewegung. Die zweite Ehe blieb ohne Kinder.

Reisender im Auftrag Gottes
Paavos Einfluß als Leiter der Erweckten blieb nicht auf seine Heimatgemeinde beschränkt. Bald rief man ihn in andere Gegenden. Gottes Winde begannen zuwehen über diese unfruchtbaren Einödsgemeinden. Von verschiedenen Seiten, sogar von Nordkarelien, kam ehe Kunde von Erweckungen.
So machte er 1816 seine erste längere Reise nach dem Osten Finnlands, nach Nordkarelien. Die Erweckung dort war etwas anderer Art. Der Bauer Paavo Kuosmanen aus der Gegend von Nurmes hatte, als er im See fischen wollte, die Vision eines Engels mit einem glühenden Span in der Hand. Der Engel, der am Ufer stand, ermahnte ihn, selbst Buße zu tun und dann auch anderen Umkehr von ihrem bösen Wege zu predigen. Diese verschiedenen Bewegungen lenkte nun Paavo Ruotsalainen durch seine vielen Reisen und Besuche in nüchterne und gesunde Bahnen. Paavo ist während seines ganzen Lebens sehr vielgereist: zu Fuß, zu Pferde, auf Skiern, im Schlitten und im Boot. Er hat dabei im ganzen etwa 40.000 Kilometer zurückgelegt, was bei den damaligen sehr schlechten Wegeverhältnissen in Finnland eine erstaunliche Leistung war. Der Heidenapostel Paulus – sein großes Vorbild – hat auf den drei Missionsreisen und der Fahrt als Gefangener nach Rom rund 20 000 Kilometer zurückgelegt.
Oft reiste Paavo nach Karelien, später auch nach Pohjanmaa in Westfinnland nahe dem Bottnischen Meerbusen, in die Gemeinden der beiden erweckten Pfarrer Jonas Lagus und Nils Gustav Malmberg. Dies geschah besonders nach dem Jahre 1834. Sogar nach Südfinnland fuhr er. Dreimal besuchte er die Hauptstadt Helsinki, um im Kreis der dortigen erweckten Studenten zu sprechen.
Überall, wohin Paavo als Gast und als Seelsorger kam, herrschte Feststimmung. Von weit her strömten die Erweckten herbei, um an der Versammlung teilzunehmen, ob alt oder jung, Mann oder Frau, reich oder arm. Schon Säuglinge sieht man unter ihnen, ebenso auch Greise. Als einmal gefragt wurde: „Warum nehmt ihr denn schon die kleinen Kinder mit in die Versammlung? Sie schlafen dort doch nur!” antwortete ein Laienführer der Erweckten: „Nun, wenn sie schlafen, so schlafen sie nicht an einem schlechten Ort.”
Bei den Zusammenkünften wird aus dem Kirchengesangbuch und aus den „Zions-Gesängen”, dem Liederbuch der Erweckten, gesungen. Die „Zions-Gesänge” enthielten in den ersten Auflagen auch viele Lieder von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Heute sind es fast ausschließlich typisch finnische geistliche Lieder. Zwischen den Liedern werden kurze Ansprachen gehalten, die nicht länger als fünf bis zehn Minuten dauern. So können bei einer Versammlung drei bis sechs Ansprachen gehalten werden, ohne daß sie länger als eine Stunde dauert. Die Versammlung findet auf dem Lande in der „tupa”, der sog. „Rauchstube”, dem größten Raum im finnischen Bauernhause, statt.
Einmal war Paavo wieder auf einer Reise durch Nordkarelien. Mitten in die Versammlung stürzte ein Mann hinein, der mitteilte, daß Paavos einziger Sohn Juhani von den Feinden der Erweckung im Walde ermordet wurde. Paavo hat dieses Ereignis später oft als Warnung für die Gläubigen erwähnt: „Hängt euer Herz nicht an die Welt! Ich tat es, aber Gott nahm mir meinen Sohn fort.” Und noch etwas pflegte Paavo in diesem Zusammenhang zu sagen: „Gott hat mich Hund mein ganzes Leben lang mit Eisenpeitschen geschlagen, und das war notwendig für mich.”
Um Paavo die vielen Reisen zu erleichtern, schenkten ihm seine Freunde ein Pferd. Er nahm das Geschenk zwar gern und dankbar an, befürchtete aber, daß er dadurch hochmütig und stolz werden könnte. Wenn später einmal die Erweckten sich zu sehr mit ihren Heilserfahrungen brüsteten, dann sagte er zu ihnen: „ Nun, auch mein Wallach wiehert, wenn er Hafer bekommt.”
Als Paavo eines Sonntagmorgens mit seinem stattlichen schwarzen Hengst zur Kirche fuhr, ertappte er sich dabei, wie er dessen stolzen Lauf auf dem Eis des Syväri-Sees bewunderte. Daraufhin wendete ersein Pferd nach Hause zurück und rief bei seiner Ankunft seinen Familienmitgliedern zu: „Kommt nun Hausgenossen, um euch anzuschauen, wie mein Gott aus sieht! Ich habe meinen Gottesdienst schon auf dem Syväri-See gehalten.

Mitarbeiter und Freunde
Die Erweckten Finnlands waren sich bewußt, daß sie ihren Glaubenskampf nicht allein auf sich gestellt durchfechten konnten. Darum suchten sie die Gemeinschaft der Brüder. Deshalb strömten sie so zahlreich zu den Versammlungen. Hier war nie die Frage, wer mitgehen sollte. Alle wollten stets gern mit. Die Frage war höchstens, wer unbedingt zu Hause bleiben mußte, etwa wegen der Säuglinge oder des Viehs.
Auch Paavo konnte die Leitung der Erweckten nicht allein tragen. Gar bald gewann er Mitarbeiter und Freunde, die ihm dabei halfen.
Hier ist zunächst einmal Johan Niskanen (geb.1794) zu nennen, der zu den besten Freunden Paavos gehörte. Er hatte bereits als Kind die Bibel und einige Andachtsbücher gelesen. Im Jahre 1817 schloß er sich den Erweckten an, die damals noch unter der Leitung Lustigs standen. 1819 ging er dann zu Paavo über und begleitete ihn seit dieser Zeit oft auf seinen Reisen. Er schrieb auch seine Erinnerungen an Paavo und die Anfänge der Erweckungsbewegung auf unter dem Titel „Erinnerungsbuch über geistliche Angelegenheiten” . Paavo selber war zwar gegen dieses Buch. Er sagte zu Niskanen: „Sollen denn die Erweckten von dem schimmeligen Manna leben, das du ihnen während der Verlobungszeit gesammelt hast?” Paavo blieb mit Niskanen, den er wegen seiner vielen guten Eigenschaften sehr schätzte, bis an sein Lebensende in herzlicher Freundschaft verbunden.
Zu den Pfarrern, die mit Paavo befreundet waren, gehörte zunächst Nils Gustav Malmberg. Er war 1807 als Pfarrerssohn geboren. Sein Vater starb, als er zwei Jahre alt war. Mit zwanzig Jahren wurde er Student. Entscheidend für sein Leben wurde sein Aufenthalt in Petersburg im Jahre 1829. Der schwedische Pfarrer Ehrström von Petersburg hatte nämlich einen Theologiestudenten zu seiner Hilfe angefordert und Malmberg war dazu ausersehen worden. Er kam in Petersburg mit erweckten Deutschen zusammen, die zu dem Goßnerschen Kreis gehörten. Sie kümmerten sich viel um ihn und gaben ihm auch Bücher von Goßner, der 1820-1824 in Petersburg weilte, zu lesen. Hier in Petersburg erlebte Malmberg seine Bekehrung. Er predigte nicht nur in der Stadt selber, sondern auch in der Umgebung. Seine Predigten waren so gewaltig, daß sogar seine deutschen Freunde, die ja die Sprache nicht verstanden, beeindruck waren. Er erregte dadurch jedoch zu viel Aufsehen und mußte nach zehn Monaten Petersburg innerhalb 24 Stunden verlassen.
1830 wurde er ordiniert und kam zunächst nach Kalajoki in Pohjanmaa. 1833 wurde er nach Nivala versetzt, wo er Pfingsten 1834 zum ersten Mal mit Paavo zusammentraf.
Malmberg selber schilderte diese erste Begegnung ausführlich und schrieb u. a. folgendes darüber: „Als ich ihn sah, kam es mir vor, als ob Barnabas von Jerusalem herabgekommen sei, und ich fühlte mich wunderbar belebt allein durch seinen Anblick.” 1838 wurde Malmberg nach Lapua in Südpohjanmaa versetzt, wo heute noch ein Mittelpunkt der Erweckungsbewegung zu finden ist. Auch in Lapua hinterließen Malmbergs Predigten einen tiefen Eindruck und trugen reiche Früchte. Die Kirchen waren, wenn er predigte, stets voll, und auch die sittlichen Zustände im Kirchspiel besserten sich. Malmberg starb 1858 nach einer längeren Krankheit.
Um einen kleinen Eindruck von der Predigtweise Malmbergs zu vermitteln, sei ein Stück einer Beichtansprache über Johannes 14, 6 zitiert, die er in der Kirche zu Nurmo gehalten hat: „Wenn, mein Freund, der Weg deines Lebens einmal sich ganz steil so erhebt, daß du nicht weißt, wohin du gehen sollst, von welchem Ende du vorwärts gelangen kannst, wenn der eine hierhin rät und der andere dorthin und du nicht weißt, welcher von beiden recht rät und welcher falsch – dann denke daran, daß es einen gibt, der da sagt: Ich bin der Weg! Und wenn allerlei verwirrende Gedanken deinen Sinn verfinstern und du nicht weißt, was wahr ist, was Lüge, und nur ungeduldig fragst: Was ist Wahrheit?, dann höre die Stimme des Herrn, der bezeugt: Ich bin die Wahrheit! Und wenn die Schrecken des Todes dich umgeben und du in deinem Herzen seine eisige Kälte spürst, wenn du nach Leben verlangst in dir selbst und in deiner Umgebung und nirgends etwas anderes als nur Tod findest, wenn dein Tag endet und der Abend naht und wenn du nichts vor dir siehst als Dunkelheit, ein stummes Grab – höre, mein Freund, auch dann lebt ER, der gesagt hat: Ich bin das Leben!”
Noch fünfzig Jahre nach seinem Tode erinnerten sich Gemeindeglieder an Teile aus seinen Predigten. Malmbergs Mitstreiter in Pohjanmaa war Jonas Lagus. Lagus war 1798 in Pohjanmaa geboren und wurde bereits mit vierzehn Jahren Student in Turku. Ein Auslandsstudium war ihm, wie auch den meisten anderen Erweckten, aus finanziellen Gründen nicht möglich. Sie studierten daher in Turku, das natürlich viele Einflüsse von Schweden erhielt. Nach dem Brand der dortigen Universität im Jahre 1828 mußten sie an die nach der Hauptstadt Helsinki verlegte Hochschule umziehen. Lagus hatte großes Interesse für Poesie und Philosophie und las viele deutsche, französische und englische Schriftsteller.
Mit neunzehn Jahren wurde er bereits ordiniert und kam als Hilfspfarrer nach Vöra. Entscheidend für seine Erweckung und Bekehrung wurde ein Krankenbesuch, zu dem er aus einer Gesellschaft herausgerufen wurde. Er machte sich aber nicht gleich auf den Weg. Als er dann endlich ins Krankenzimmer trat, war der Todkranke bereits verstorben. Ein älterer Mann sagte darauf zu ihm: „Verflucht sei der, der des Herrn Werk lässig tut!” Lagus führte dann noch ein Gespräch mit dem gottesfürchtigen Bauern, der ihn zu dem Krankenbesuch geholt hatte
1828 wurde Jonas Lagus Pfarrer in Ylivieska. Hier begann seine eigentliche Prüfungszeit; denn er verlor seine Frau, seine Mutter und mehrere Kinder durch den Tod. Doch erlebte er auch manche Freude. In seiner Gemeinde brach 1831/32 die Erweckung aus, und er fand manche Amtsbrüder, die mit ihm den gleichen Weg gingen. Paavo gegenüber verhielt sich Lagus zunächst zurückhaltend. Doch als sie sich 1836 in Pyhäjärvi zum ersten Mal trafen, wurden sie Freunde und blieben es bis an ihr Lebensende. Die Freundschaft mit Paavo bedeutete für Lagus eine innere Erneuerung
1845 war Lagus zum Pfarrer von Pyhäjärvi gewählt worden, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1857 blieb. Auch in Pyhäjärvi mußte er durch eine schwere Leidensschule gehen. Seine zweite Frau und einige seiner Kinder starben ihm. Er selbst war auch oft recht krank. Zu diesen persönlichen Sorgen und Leiden kam die Sorge um das Fortbestehen der Erweckungsbewegung, die sich in verschiedene Richtungen zu spalten drohte. Eines seiner letzten Worte vor seinem Tode war folgendes: „Ich habe zwei leere Hände; aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und er wird mich am Jüngsten Tag auferwecken.”
Zu dem Kreis der erweckten Studenten in Helsinki, den Paavo dreimal besuchte, gehörte auch Lars Stenbäck (geb. 1811). Sein Vater, der ebenfalls Pfarrer war, zog 1823 von Kuortane nach Vörä um. Dadurch kam die Familie Stenbäck in Berührung mit Jonas Lagus und der Erweckungsbewegung. Lars Stenbäck der sehr begabt war, wurde mit sechzehn Jahren Student. Drei Jahre studierte er an der Universität von Uppsala, die übrige Zeit in Finnland. Schon früh zeigte sich seine poetische Begabung. Entscheidend für seine innere Entwicklung war ein Ereignis an der Universität von Helsinki im Jahre 1834. Einige Studenten hatten nämlich bei einem Treffen u. a. gegen einen Universitätslehrer opponiert. Die Folge davon war, daß sechs Studenten, unter ihnen auch Lars Stenbäck, für ein halbes Jahr vom Studium ausgeschlossen wurden. In diesen Monaten der Stille erwachte einneues Leben in ihm.
Ganz verändert kehrte er 1835 nach Helsinki zurück. Er schloß sich jetzt der Erweckungsbewegung an und unterstützte sie. Als er einmal mit Paavo zusammenkam, sagte dieser ihm unter Bezugnahme auf 1. Joh. 2, 20: „Du hast die Salbung und weißt alles.”
Stenbäcks späterer Lebensweg war recht verwickelt. Sein Plan, Pfarrer in Helsinki zu werden, erfüllte sich nicht. Auch die erhoffte Professur erhielt er nicht.1848 bis 1852 war er Rektor in Vasa. Für kurze Zeit war er dann Professor für Pädagogik in Helsinki und zuletzt Pfarrer in Isokyrö, wo er 1870 starb. Er war der Dichter unter den Erweckten. Auch war er der einzige Dichter Finnlands, der die Natur nicht besungen hat, sondern fast ausschließlich geistliche Lieder und Gedichte geschaffen hat. Bekannt ist von ihm u. a. folgendes Kirchenlied:
Jesu Augen
Vor Jesu milde Augen
stell’ ich in meiner Armut mich,
und meine Lasten trag’ ich
vor Jesu milde Augen.
Vor Jesu milden Augen
drückt sich danieder Schuld und Tod.
Mit Sehnsucht seh’ ich in der Not
in Jesu milde Augen.
Vor Jesu milden Augen
hab’ ich verletzt Gottes Gebot.
Nun wart’ ich, welches Urteil droht
vor Jesu milden Augen.
In Jesu milde Augen
seh’ ich allezeit. Und will er mich
verstoßen, sinkend sehe ich
in Jesu milde Augen.
Zu dem Kreis der erweckten Studenten gehörte auch Carl Gustav von Essen (1815-1895). Die Sommer1831 und 1832 verbrachte er bei Jonas Lagus in Ylivieska, durch den er stark beeinflußt wurde. C. G. von Essen war sehr eifrig und wirkte wie ein zündender Funke der Erweckung, wohin er auch immer kam. Aufsehen erregte sein Auftreten im Herbst 1832 bei einer Hochzeit in Malax, wo er sich gegen das Tanzen aussprach und die Hochzeitsgäste ermahnte, „das einzig Notwendige” zu suchen. 1840 wurde er ordiniert. 1849 wurde er zum Pfarrer von Ylihärmä ernannt und 1862 zum Pfarrer von Ilmajoki. Nachdem er 1864 promoviert hatte, wurde er 1867 Professor für praktische Theologie an der Universität in Helsinki.

Kämpfe und Prozesse
Überall, wo Gottes Geist am Wirken ist, ist auch der Feind auf dem Plan. Je mehr sich die Erweckungsbewegung ausbreitete, desto stärker wurden der Widerstand und die Verfolgungsmaßnahmen der Pfarrerschaft und der Behörden, obwohl Paavo und seine Anhänger sich treu zur Kirche hielten und die Gottesdienste eifrig besuchten.
Man wandte gegen sie vor allem das sog. Konventikelplakat an, das 1726 – noch unter schwedischer Herrschaft – erlassen worden war und alle privaten erbaulichen Versammlungen außer den Hausandachten verbot. Das Konventikelplakat blieb auch in Kraft, als Finnland nach 1809 ein Großfürstentum des zaristischen Rußlands wurde.
Wie sah das kirchliche Leben zu Beginn der Erweckungsbewegung aus? Die führenden Männer der Kirche und der Theologie vertraten in der Zeit von etwa1750 bis 1820 die Gedanken der Aufklärung, die vor allem über Schweden nach Finnland gekommen waren. So fand z. B. der große schwedische Naturforscher Linne in Finnland viele Anhänger. Typisch für diese Epoche ist u. a., daß drei Bischöfe von Turku ihre wissenschaftliche Laufbahn als Professor für Physik und Schüler Linnes an der Universität von Turku begannen.
Die Gedanken der Aufklärung verbreiteten sich durch die Universitäten auch unter der Pfarrer und Lehrerschaft des Landes. In den Predigten sprach man von „Vorsehung” und dem „höchsten Wesen”. Man vertrat eine recht flache Moral und eine Tugendlehre, die vom Nützlichkeitsstandpunkt beherrscht war. Neologische Predigtsammlungen wurden von den Pfarrem eifrig benutzt und angewandt. Um die Seelsorge kümmerten sich die Pastoren weniger. Dagegen interessierte sie die praktische Arbeit, vor allem die Landwirtschaft.
Ein gutes Bild dieser Zeit gibt Juhani Aho in seinem historischen Roman „Frühling und Nachwinter”. Propst Martin, ein Vertreter der Neologie, schildert in einer Rede an seine Gäste, womit er sich in der Hauptsache beschäftigte: „Ich verwalte, so gut ich eben kann, mein Amt, ich besorge meine Landwirtschaft, pflüge meinen Acker und mache Sümpfe urbar- ich bitte um Entschuldigung, aber wes das Herz voll ist, des geht der Mund über -, ich kaufe und verkaufe auf dem Markt. So ist mein Leben.”
Das Hauptlaster jener Zeit war die Trunksucht. Der Branntweinverbrauch im Jahre 1815 betrug etwa24 Liter pro Person. Bis zu den zwanziger Jahren war noch eine weitere Steigerung zu beobachten. Die verderbliche Wirkung des Alkohols blieb nicht aus. Laster und Verbrechen nahmen zu. Sogar in die Kirche kamen die Menschen in betrunkenem Zustand. Der Sonntag wurde wenig geheiligt. Zwar ging man am Vormittag noch in die Kirche. Doch war die Aufmerksamkeit und Ruhe während des Gottesdienstes sehr schlecht. Nachmittags und abends wurde getanzt, mit Karten gespielt und getrunken. Daß es im Anschluß an solche Feste und Feiern oft zu Schlägereien kam, ist wohl verständlich.
Leider waren die meisten Pfarrer kein gutes Vorbild für ihre Gemeinden. Im Pfarrhaus herrschte oft dasselbe Treiben wie in den Häusern der Gemeindeglieder. Auch hiervon gibt Juhani Aho in seinem eben erwähnten Roman ein sehr anschauliches Bild: „Im ganzen Kirchspiel war das Mitsommerfest der Pfarrherrschaft berühmt und berüchtigt, dieses Fest, wo man sang und tanzte und wo jeder zu Leckereien und Trinkereien eingeladen wurde und wo man zum Schluß ein munteres Tänzchen machen konnte.”
Es ist erklärlich, daß Pfarrer dieser Art, wie Propst Martin, für die Erweckung wenig Verständnis aufbrachten und versuchten, sie zu bekämpfen. Schon wurde ein Anhänger Paavos, Heikki Martikainen aus Iisalmi, auf Grund des Konventikelplakats zu einer Geldstrafe verurteilt.
Da reiste Paavo mit seinem Freund Niskanen bis nach Petersburg, um die Sache der Erweckung vor den Zaren Alexander I. zu bringen, der ja der Erweckungsbewegung gegenüber wohlgesinnt war und eine liberale Religionspolitik ausübte. Paavo und Niskanen wurden auch vor Bischof Cygnaeus, den Bischof der lutherischen Gemeinden in Rußland, vorgelassen, der ihnen seine Hilfe versprach und die Angelegenheit dem Kaiser vortragen wollte. Die Strafe wurde dann zwar auch aus der kaiserlichen Kasse bezahlt, doch blieb eine durchgreifende Hilfe aus. Bischof Cygnaeus, selber ein Finne, zögerte, die Sache dem Kaiser darzulegen. Er war durch einen Brief des Pfarrers von Iisalmi beeinflußt worden. So kam es nicht zu einer offiziellen Anerkennung der Erweckten durch den kaiserlichen Hof.
Im Gegenteil, bereits im folgenden Jahr erschien ein amtliches Verbot, in dem das Abhalten von Andachten in den Häusern untersagt wurde. In einem Beschwerdebrief der Erweckten heißt es dazu: „ Wir haben die Absicht, eher den Geist aufzugeben, als von unserem lebendigen Glauben zu lassen, den der Herr unter uns gewirkt hat.”
Achtzehn Jahre später begann daher ein zweiter Prozeß, der weitaus größere Bedeutung gewann. Es war der Prozeß von Kalajoki (1838/39), bei dem fünf Pfarrer, unter ihnen Jonas Lagus und Nils Gustav Malmberg, sowie über sechzig Laien, unter ihnen auch Paavo, angeklagt und 144 Zeugen verhört wurden. Paavo war ja seit 1834 mit Nils Gustav Malmberg und seit 1836 mit Jonas Lagus befreundet und besuchte ihre Gemeinden öfter. Da nun in zwei Hauptgegenden Finnlands die Erweckungsbewegung besonders lebendig war, nannte sich Paavo im Scherz „Bischof zweier Bistümer”.
Gegen diese sich immer stärker ausdehnende Bewegung sollte mit dem Prozeß von Kalajoki ein Generalangriff geführt werden. Die politische Lage hatte sich gegenüber 1820 geändert. Der russische Zar Alexander I. war 1825 gestorben. Sein Nachfolger, Nikolaus I., führte ein strenges Regiment und setzte die liberale Religionspolitik seines Bruders nicht fort.
Als Anklagepunkt wurde nicht nur das Abhalten von unerlaubten Zusammenkünften erwähnt, sondern auch das Einsammeln von Geldern für die Heidenmission, was besonders Jonas Lagus mit großem Eifer betrieben hatte. Viele der angeklagten Laien wurden zum Teil zu recht hohen Geldstrafen verurteilt, die jedoch in der nächst höheren Instanz etwas abgemildert wurden. Die Pfarrer traf, außer einem, eine halbjährige Amtsenthebung.
Als am 31. August 1839 das letzte Verhör stattgefunden hatte, versammelten sich die Angeklagten mit ihren Freunden im Hof des Gerichtsgebäudes und stimmten Martin Luthers Schutz- und Trutzlied „Ein’ feste Burg ist unser Gott, ein’ gute Wehr und Waffen” an. Dann fielen Paavo und seine Anhänger auf die Knie, und Paavo pries im Gebet die Gnade Gottes, die sie würdigte, für Christus zu leiden.
Auch literarisch ging man jetzt gegen die Erweckten vor. So veröffentlichte Finnlands Nationaldichter J. L. Runeberg, dessen Gedicht „Die Prüfung” weiter vorne abgedruckt wurde, 1837 im „Helsingforser Morgenblatt” eine Artikelserie unter der Überschrift „Brief des alten Gärtners”. Er schildert in diesen Briefen die Erweckung als eine düstere, freudlose und kulturfeindliche Erscheinung, die das gesunde Leben abtöte. Lars Stenbäck, der Dichter unter den Erweckten, blieb ihm aber die Antwort nicht schuldig. Er veröffentlichte entsprechende Gegenartikel mit dem Titel „Antwort an den alten Gärtner”.
Alle diese Angriffe konnten jedoch die Ausbreitung der Erweckungsbewegung nicht hindern. Im Gegenteil! Die Zahl der Anhänger wuchs ständig. Wegen des Konventikelplakats sah man freilich mehr und mehr von größeren Versammlungen ab. Dafür traf man sich bei Märkten, Hochzeiten, Beerdigungen, Pfarrereinführungen und anderen Gelegenheiten desto zahlreicher. Paavo selber riet sogar von größeren Versammlungen, außer bei solchen Anlässen, ab. Aber er ermahnte die Erweckten ständig, die Gottesdienste zu besuchen, auch wenn ein Pfarrer dort predigte, der tieferes geistliches Leben nicht verstand. Wenn jemand geringschätzig über die Predigt eines solchen Pfarrers sprach, sagte Paavo: „Iß den Kern und überlaß die Schale ihrem Schicksal!”
Im Winter 1842 machten die des Amtes enthobenen Pfarrer eine Reise zu ihrem Freund Paavo nach Aholansaari. Als die Gäste spät am Abend ankamen, war Paavo schon zur Ruhe gegangen, aber er erwachte durch das Klirren des Schlittens. Er erkannte sofort Pfarrer Malmbergs tiefe Stimme, rief aber doch sehr erzürnt: „Was für Zigeuner seid ihr, die ihr solch einen Lärm mitten in der Nacht verursacht?”„Des Amtes enthobene Pfarrer”, erwiderte Jonas Lagus. „Na, noch schlimmer als Zigeuner”, setzte Paavo seine kleine Seherzrede fort, „aber man muß euch wohl trotzdem ein Nachtlager bereiten.” Mit glaubensfrohem Sinn verbrachten diese „Amtsbrüder” ihre gemeinsamen unfreiwilligen „Urlaubstage” dort im Herzen von Nordsavo.
Als Jonas Lagus nach seiner halbjährigen Amtsenthebung zum ersten Mal wieder auf der Kanzel stand, begann er seine Predigt mit den ergreifenden Worten: „Ich bin euer Bruder Joseph, den ihr nach Ägypten verkauft habt; lebt mein Vater noch? O ja, ER lebt, euer Vater, mein Vater und der Vater über alles, was im Himmel und auf Erden Vater genannt wird. Er lebt gerecht, barmherzig, geduldig und sehr gut. Und jetzt, da meine Zunge wieder losgebunden ist, darf ich zusammen mit euch ihm danken und ihn loben.”
Aber nicht nur bei diesen Prozessen spürte Paavo, daß das Glaubensleben ein Kampf sei. Seine ganze Verkündigung wurde von dem Gedanken des Glaubenskampfes beherrscht. Immer wieder ermahnt Paavo seine Hörer und Leser, den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen (1. Tim. 6, 12). Sie sollen gute Streiter Jesu Christi sein (2. Tim. 2, 3). Gerade die Pastoralbriefe, aus denen die Worte vom Glaubenskampf und vom Streiter Christi stammen, wurden von Paavo viel gelesen und den Erweckten sehr empfohlen. Eine weitere Bibelstelle, die diesen Kampf des Christen ausdrückt, fand Paavo in Hiob 7, 1:
„Muß nicht der Mensch immer im Streit sein auf Erden, und sind seine Tage nicht wie eines Tagelöhners ?”

Das Leben des Christen ist also ein ständiger Kampf, ja sogar ein „geistlicher Krieg”. Darum fragten sich die Erweckten auch, wenn sie sich trafen, zuerst: „Wie ist es jetzt um deinen Krieg bestellt?”
In diesem Kämpfen und Ringen bleibt der Mensch sein Leben lang. Der Glaube ist in ständiger Bewegung. Er ist nie fertig. Er ist nie vollendet. Hierin aber liegt gerade die Gefahr für viele Erweckte. Sie wollen gleich Heilige werden. Sie möchten von einer Rechtfertigung, von einer täglichen Buße nichts wissen. Darum ermahnte sie Paavo:
„Das freiwillige Herantreten zum Gnadenthron, das unter Kampf und Streit geschieht, in beständiger Übung und unaufhörlicher Erneuerung, ist die tägliche Besserung, die alle, auch die liebsten Kinder Gottes, üben müssen, solange sie leben. “
Gerade auch nach der ersten Buße und Bekehrung schickt Gott den Erweckten in die Schule des Kreuzes und in das Trauerhaus. So sagte Paavo zu einem Leiter der nordkarelischen Erweckten:
„Mit Met und Honig bist du auf den Weg geführt worden; aber Pechöl und Teer wirst du als Wegzehrung mitbekommen.“
Das freilich gefällt den Erweckten oft nicht. Sie wollen ein angenehmes, herrschaftliches Leben führen, was Paavo sehr treffend schildert:
„Ihr Herren wollt nur auf dem Sofa sitzen und Leckerbissen essen; ich magerer Hund dagegen muß weite Strecken laufen und meinem Glück danken, wenn ich mit Mühe dann und wann nach vielen Meilen ein kleines, trockenes Brotstückchen bekomme.”
Paavo war im Blick auf seine eigenen Glaubenserfahrungen sehr bescheiden. So sagte er einmal: „ Mögen sich andere Gottes Gnade fertig wie vom Regal nehmen. Ich habe sie stets suchen müssen, wie man eine Nadel in einer Fußbodenritze sucht.“
Der große Seelsorger
Paavo Ruotsalainen war selber, wie bereits geschildert, über zweihundert Kilometer gewandert, um bei dem Schmied Jakob Högman Rat und Hilfe zu suchen. Dieser Schmied war ein begnadeter Laienseelsorger, und in seinem Sinne wollte auch Paavo wirken. So hatte er ja schon auf dem Rückweg von Jyväskylä in seine Heimat einem alten Bauern den Weg zum Heil gewiesen.
Für immer mehr Menschen wurde Paavo dann zum Seelsorger und Ratgeber. Paavo konnte die Menschen ganz persönlich beraten, weil er die Gabe Gottes besaß, die Menschen richtig zu erkennen und zu durchschauen. Er sah bis in die Tiefen des Herzens. Seine Seelsorge trug daher einen prophetischen Zug. Er besaß die Gnadengabe, die Geister zu unterscheiden (1. Kor. 12,10). Es gibt viele Beispiele dafür, wie Paavo – und auch andere Erweckte – durch eine göttliche Eingebung die Seele des anderen völlig durchschauten und dann den richtigen Rat geben konnten.
So kam eines Tages ein junger Mann in voller Verzweiflung und mit Selbstmordgedanken zu Paavo. Noch als er sich der Insel Aholansaari näherte, auf der Paavo ja zuletzt wohnte, sah er sich nach einem Baum um, an dem er sich hätte aufhängen können. Doch dann sagte er sich, daß er das ja noch auf dem Rückweg machen könnte, wenn er keine Hilfe fände. Als Paavo aus der Sauna kam und den Blick des jungen Mannes sah, setzte er sich auf seine Haustreppe, wandte dem Jungen den Rücken zu und sagte: „Wieviel Kiefernäste hast du dir, mein Freund, bei deinem Kommen angeschaut, an denen du dich hast aufhängen wollen?” Nach dem er dann die Klagen und Sorgen des jungen Mannes gehört hatte, sagte er tiefgerührt : „Höre, mein Freund : Glaube an den Herrn Jesus, dann wirst du selig!” Da war für den Jungen die Sache klar, und die schwere Last fiel von ihm ab.
Zu einem anderen jungen Mann dagegen, der bei einer Marktreise auf Paavos Schlittenkufe gesprungen war und von dort seine Klagen und Nöte vorbrachte, sagte er: „Bleibe, mein Junge, unter diesen Schmerzen ; denn in ihnen wird der neue Mensch geboren.“ Durch diese wenigen Worte wurde dem jungen Mann geholfen.
Hatte Paavo es mit angefochtenen und vom Gewissen gequälten Menschen zu tun, so forderte er sie auf, sich sogleich an Christus zu wenden und nur zu denken: „Ich bin ein Sünder, aber Christus ist der Retter der Sünder.” In solchen Fällen stand die Botschaft vom Kreuz im Mittelpunkt seiner Ratschläge.
So erzählte er z. B. einmal, um seine angefochtenen und betrübten Gäste aufzurichten, folgenden Traum:
„Es war, als ob das Jüngste Gericht im Kommen war. Schwermütig, niedergeschlagen und traurig standen große Menschenmengen und warteten, daß etwas Großes geschähe. Da sagten einige aus meiner Umgebung : ,Hier fehlt doch irgend etwas !’ Und in demselben Augenblick ragte inmitten der unzählbaren Menschenmenge ein Kreuz empor, das vor Helligkeit blendete. Die Menschen hoben ihre Häupter empor, wurden fröhlich, und die schwermütigen und niedergeschlagenen Sinne waren sogleich vergangen.”
Aber nicht immer ist es dem Seelsorger gegeben, dem Nächsten bis auf den Grund des Herzens zusehen. Er muß dann versuchen zu erfahren, wie es mit seinem Gegenüber steht. Zu diesem Zweck hat Paavo öfter die sog. „Examina” angewandt. Diese Examina sind nicht nur eine Hilfe für den Seelsorger, sondern auch für den Hilfesuchenden, der dadurch seinen eigenen Zustand besser erkennen kann und dann leichter den Weg zum Heil findet. Oft gebrauchte Paavo hierbei recht scharfe Worte. Sehr bekannt ist etwa ein Examen, daß Paavo mit dem Pfarrer und Doktor der Theologie aus Koupio, Julius Immanuel Bergh, anstellte, das er mit den Worten abschloß: „In deinem Kopf befindet sich, was die Dinge der Buße betrifft, nicht so viel Verstand wie in diesem Pferd.” Bergh aber spürte, was Paavo meinte, und sie wurden gute Freunde.
Solche „Examina” begann Paavo häufig mit folgenden Fragen: „Glaubst du, daß du selig würdest, wenn du in diesem Augenblick stürbest?” oder: „Bist du geboren aus dem Heiligen Geist, von heiligen Eltern oder von Adam?
Eine Frau, die öffentlich über ihre Sünden klagte, fragte Paavo einmal : „Hat die Last deiner Sünde das Gewicht jenes Hauses?” Und als die Frau dann antwortete:
„Mit dieser Sache soll man nicht spaßen”, sagte Paavo: Man paßt nicht in die Hölle mit einer großen Last; denn dort sind die Löcher recht klein.“ Aber noch bei derselben Gelegenheit veränderte Paavo das benutzte Gleichnis ein wenig und sagte: Nun, du paßt schon hinein in die Hölle, die Löcher dort sind doch ziemlich weit.
Paavos Seelsorge konnte auch manchmal recht radikal und mit einer symbolischen Handlung verbunden sein. Klassisch dafür ist folgendes Beispiel: Ein Mann hatte ein Nüchternheitsgelübde abgelegt, das etwa so lautete:
„Wenn ich noch einmal saufe, dann soll mich der Teufel holen!”
Dennoch aber fiel er wieder in die alte Leidenschaft zurück und kam sehr bedrückt zu Paavo. Als dieser ihm nach dem Brauch der Zeit einen Trunk anbot, weigerte sich der Mann und erzählte von seinem Gelübde und seinem Fall. Da wurde Paavo eifrig, seine Augen funkelten, und er rief: „Jetzt kann man endlich einmal mit eigenen Augen sehen, wie der Teufel einen Menschen mit Haut und Haaren nimmt. Das sieht man nicht so oft.” Dann brach Paavo in ein schallendes Gelächter aus und gab weiter keinen Rat. Schließlich wagte der Mann, den angebotenen Trunk zu nehmen. Paavo stand eine Weile, blickte ganz ernst drein und fragte schließlich:
Fährt er nicht schon ab? Fährt er nicht schon ab? Nein, er begibt sich gar nicht fort. Er müßte es doch schon längst tun.” Auf diese merkwürdige Weise wurde dem Manne geholfen. Paavo handelte hier aus der Freiheit Christi heraus, der allein die Gebundenen wirklich befreien kann.
Bezeichnend für die Ratschläge, die Paavo bei solch einem „Examen” oder bei einer anderen Gelegenheit gab, ist, daß es kurze und treffende Worte waren. Nur so blieben sie im Gedächtnis haften und konnten für den Hilfesuchenden zum Segen werden. Diese Worte waren oft recht scharf. Dennoch fehlte ihnen der Hinweis auf den lebendigen Christus und die Frohe Botschaft nicht. Paavo gab mit Absicht solche kurzen Ratschläge und ermahnte auch seine Schüler dazu: „Wenn du anders lehrst, so lehre nicht mit vielen und langen Reden!“ Paavos Seelsorge wurde so mehr und mehr zu einer Seelsorge an den Seelsorgern. Sie galt in erster Linie den Pfarrern und Laienführern der Erweckungsbewegung.
Für die Seelsorge Paavos und seiner Mitarbeiter gab es noch eine besondere Form, nämlich die „Kammergespräche”. Während die Versammlungen im allgemeinen im größten Raum des Hauses, in der sog. Rauchstube („tupa”), stattfanden, wurden die Kammergespräche in der Regel in einem kleineren Raum des Bauernhauses, in einer Kammer („kamari “) abgehalten. So ist die Bezeichnung „Kammergespräche” von dem Ort her, wo sie stattfanden, entstanden. Doch sind sie nicht auf die Kammer beschränkt, sie können auch in der Rauchstube stattfinden oder im Freien, was besonders im Sommer öfter der Fall ist.
In der Regel werden die Kammergespräche im Anschluß an die Versammlungen abgehalten, doch können sie auch schon vor den Versammlungen beginnen. Zu diesen Kammergesprächen hat jeder freien Zutritt. Jeder, der in der Versammlung war und noch etwas auf dem Herzen hat oder sich noch weiter über Glaubensfragen unterhalten will, kann an ihnen teilnehmen. Keiner wird abgewiesen. Darum hat man die Seelsorge, die bei diesen Kammergesprächen geübt wird, eine „Seelsorge bei offenen Türen” genannt. Gerade die Kammergespräche bieten den Erweckten Gelegenheit, das allgemeine Priestertum auszuüben.
Lars Stenbäck gibt eine gute Schilderung seiner ersten Eindrücke von den Kammergesprächen im Kreis der erweckten Studenten von Helsinki. Es heißt dort u.a.: „Selten und dann auch nur ausnahmsweise wurde ein Wort des Trostes einem ganz zerknirschten Gewissen geschenkt, aber auch dann folgten so strenge und ernste Ermahnungen, daß sie beinahe ganz die Wirkung des Trostes wegnahmen. Aber es strahlte doch so klar aus einer entlegenen, vielleicht unerreichbaren Feme die Hoffnung von einem Frieden und einer Seligkeit auf, die wir nicht einmal aus den kühnsten Träumen der Jugend heraus ahnen konnten und gegen die alle Pracht und Herrlichkeit der Erde einem wie lauter Staub und Elend vorkam.”
Der Trost wurde zwar nicht so häufig ausgesprochen, aber er fehlte doch nicht. Und gerade Paavoverstand es sehr gut, die angefochtenen Seelen zutrösten. Solche angefochtenen Menschen redete er etwa mit den Worten an: „Mein Junge”, „Liebes Kind”, „Lieber Freund”.
Gerade die Angefochtenen und die, die im Glaubenskampf schwach und müde zu werden drohten, blieben zu den Kammergesprächen. Sie hofften, daß so wie der von der Reise müde Christus sich dennoch mit der Samariterin am Brunnen von Sichar unterhalten hat, er auch zu ihnen kommen würde, um ihnen lebendiges Wasser zu bringen.
In den Kammergesprächen wurde viel über Sünden und Anfechtungen, über Nöte und Kämpfe gesprochen. Aber eine eigentliche Beichte und Absolution gab es dort nicht. Die Beichte spielte in der Seelsorge der Erweckten – im Gegensatz zu der Seelsorge der Laestadianer – keine so große Rolle. Doch war ja in gewisser Hinsicht alles, was in den Kammergesprächen gesagt wurde, eine Art Beichte.
Lars Stenbäck schrieb in seiner bereits eben zitierten Schilderung des erweckten Studentenkreises in Helsinki noch folgendes: „Schließlich ging man zu einer Art freiwilliger Beichte vor allen Kameraden über. Man legte einfach und, nach meiner vollen Überzeugung und Erfahrung, auch ganz aufrichtig seinen Seelenzustand von der Zeit an dar, die seit der letzten Zusammenkunft verflossen war. Man verglich seine geistliche Erfahrung mit der der Kameraden, gab und nahm Rat entgegen, wobei man sich genau daran erinnerte, daß, nach dem Wort des Apostels, nur der, der sich gern strafen läßt, Hoffnung hegen kann, schließlich eine wahre Besserung und Buße zu tun und das so innerlich ersehnte ,verborgene Leben in Gott’ gewinnen zu können, das4 2ihnen allen so schön vorschwebte und nach dem sie alle so ernst strebten.“
Glaube und Humor
Paavos seelsorgerliche Ratschläge waren oft gewürzt mit Humor. Paavo war, wie auch unser Reformator D. Martin Luther, ein Mann des Humors. Die Landschaft Savo, seine Heimat, ist das gelobte Land des finnischen Volkshumors. 
Während des Marktes in Kuopio gingen einmal zwei fromme Mädchen zusammen mit Paavo in die Stadt. Bei der einen von ihnen glaubte er heimlichen Stolz zu bemerken. Als ihnen einige junge Männer entgegen kamen, die mit Mädchen Arm in Arm gingen, rief Paavo ihnen zu: „Jungens, tauschen wir die Bräute!“ Das nahm ihm die eine der beiden Begleiterinnen sehr übel und lief davon. Die andere aber verstand den wahren Sinn der Worte Paavos.
Als Paavo einmal von zwei Frauen nach seiner Lehre gefragt wurde, klopfte er die Aschenreste aus seiner Pfeife in seine Hand, steckte die Pfeife hinter seine Backe und sagte: „So beschaffen ist meine Lehre“ Ihm kam es nicht so auf die Lehre an, die sich von der Lehre der lutherischen Staatskirche Finnlands nicht unterschied, sondern auf das Glaubensleben im Alltag.
Berühmt und bekannt wurde Paavos Antwort an den Philosophen Johan Wilhelm Snellman, als dieser auf Paavo mit seiner Hegelschen Philosophie einwirken wollte: „Ihr Philosophen behandelt die Bibel wie das Schwein das Kartoffelfeld.“ Der Grundsatz gesunder Natürlichkeit wird auch bei Paavos Einstellung zur Bekleidungsfrage sichtbar.
Nach seiner Ansicht soll jeder bei der seinem Standangemessenen Kleidung bleiben, ohne sich herauszuputzen. Die von den Erweckten noch heute bevorzugte Männerkleidung, der sog. „ Schoßrock” mit hinten dreimal geschlitzten Schoß, ist ursprünglich eine altfinnische Bauerntracht. „ Was zum Teufel bist du denn für ein General?“ fuhr Paavo einmal einen Bauern aus seinem heimatlichen Kirchspiel an, der eines Winters im Pelz und mit einem eleganten roten Gürtel nach der Insel Aholansaari kam.
Paavos Humor spiegelte sich auch in dem wider, wie er über sich selber dachte. So sprach er einmal beim Schwimmen zu sich selber: „Soll vielleicht dieser nackte alte Knacker ein Tempel des Heiligen Geistes sein?“
Vor seinem Tode gab er seiner Tochter den Auftrag, auf seinem Grab einen Nadelbaum zu pflanzen. Er sagte: „Auf mein Grab muß man den allerstachligsten Baum setzen; denn ich bin der allerstachligste Mensch gewesen.” Auch bei den Freunden und Mitarbeitern Paavos fand sich dieser Humor. So hatte sich der recht vermögende Bauer und Laienprediger Juho Malkamäki einen neuen Hof erbaut. Ein Gast aus Savo, der ihn besuchte, sagte: „Von solch einem stattlichen Hof kommt man sicher in die Hölle.“ Daraufhin antwortete Malkamäki: „Baue du einen Hof, von dem aus man direkt in den Himmel kommt, so will ich sofort meinen hier niederbrennen.“
Dieser Juho Malkamäki hat auch einmal zu einem Pfarrer gesagt: „Ich habe gedacht, daß wohl auch der Humor zwischendurch gut ist, wenn er zur rechten Zeit gesagt wird. Dann erfreut er das Gemüt und erquickt.“

Das Boot liegt am Ufer.
Im Jahre 1846 besuchte Paavo zum letzten Mal Pohjanmaa. Dort fand die Hochzeit zweier Pfarrer der Erweckten im Hause von Nils Gustav Malmberg in Lapua statt. Gottes Winde wehten jetzt in den weiten Ebenen von Süd-Pohjanmaa. Paavo hatte seinen Lebensabend erreicht. Das Boot, das so viele Reisen von Aholansaari aus gemacht hatte, wartete jetzt vergeblich auf den Reisenden. Doch kamen noch viele Besucher zur Insel, um bei Paavo Trost, Rat und Hilfe zu suchen.
Während so das Boot am Ufer lag, ruhte doch der Federhalter noch nicht. Paavo stand noch in regem Briefwechsel mit seinen Freunden und Mitarbeitern und vielen Ratsuchenden. Immer wieder diktierte er einem seiner Mitarbeiter, der gerade bei ihm auf der Insel Aholansaari weilte, eine Reihe von seelsorgerlichen Briefen.
Paavo dachte hierin genauso wie sein Mitstreiter Jonas Lagus, der im Jahre 1833 über den Sinn seines Briefwechsels mit den Amtsbrüdern an J. M. Topelius folgendes schrieb: „Wir sind noch dazu Diener bei demselben Herrn, und nichts soll uns lieber sein, als unsere geistlichen Erfahrungen in seinem Dienst einander mitteilen zu können und so wie Wächter in der dunklen Nacht einander zuzurufen, damit wir dadurch viele ermuntern, bis der Morgen anbricht. „
Mit den seelsorgerlichen Briefen von Paavo und Jonas Lagus ist uns ein großer Schatz geschenkt worden. Von Paavo sind uns dreiundachtzig solcher seelsorgerlichen Briefe erhalten. Dagegen hat sich Lagus ausdrücklich gegen eine Verbreitung seiner Zeilen gewandt: „Obwohl ich es für unbegründet halten will, möchte ich jedoch vor jeglicher Verbreitung meiner geringen Zeilen warnen.” So ließ Lagus selbst vor seinem Tode eine große Sammlung Briefe, die er empfangen hatte, verbrennen und sagte, als es geschehen war: „Jetzt ist das Brandopfer verrichtet; jetzt muß das Dankopfer geschehen.”
Auch in den seelsorgerlichen Briefen der Erweckten wurde manches harte und ernste Wort geschrieben. Aber der Briefschreiber hat sich nie für besser gehalten als den Empfänger des Briefes. Auch die Briefschreiber waren sich dessen bewußt, daß sie arm und krank sind und der Hilfe desselben Herrn und Heilandes bedürfen wie die Empfänger. So schreibt Jonas46Lagus im Jahre 1853: „Nicht habe ich mehr, als Ihr habt, aber noch wandern wir draußen und müssen einander zurufen und warnen.” Und Paavo schrieb einige Jahre vorher: „Ich bin ein listigerer Sünder, als Ihr jemals in Eurem Leben gesehen habt, aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt.“
Paavo wußte also, daß er in der gleichen Lage ist wie der Empfänger seines Briefes. Auch ihm fehlte oft der Glaube. So schrieb er einmal: „Ja, lieber Freund im Herrn, ich weiß, daß Euch oft der Glaube fehlt wie auch mir, den man doch für einen Glaubenshelden hält.“
Der Alte, der für Tausende geistlicher Lehrer und Vater sein durfte, geriet am Ende seines Lebens in große innere Anfechtungen. Er hatte viele Kämpfe und Versuchungen zu durchstehen. Oft verbrachte er schlaflose Nächte, weil er sich fragte, ob er denn den Menschen, die zu ihm kamen, eine richtige Antwort gegeben habe. Und gerade in den letzten Jahren seines Lebens wurde er von solchen Fragen gequält: „Was soll ich am Rechenschaftstage antworten, da ich so oft getröstet habe, wo ich hätte warnen sollen, und gewarnt habe, wo ich hätte trösten sollen?”
Die Anfechtung gehört in das Leben eines jeden Christen. Das erfuhr Paavo genauso wie einst Martin Luther. Je mehr Glauben der Christ hat, desto mehr Anfechtungen hat er auch. Die Gefahr der Anfechtung besteht darin, daß in ihr der Unglaube über den Glauben den Sieg erringt. So kann in der „Hitze des Unglaubens” der Angefochtene leicht ermatten. Darum ermahnte Paavo die Angefochtenen: „Halte den Kopf hoch, wenn auch die Füße in der Hölle brennen!“
Das ist die einzige Hilfe, die es für den Angefochtenen gibt. Er muß aufblicken, und zwar aufblicken auf Christus. Auf dem schnellsten Wege soll er zu Christus eilen. Er soll im Neuen Testament von dem Schächer am Kreuz und dem verlorenen Sohn lesen. Dann wird er schon eine Antwort und die rechte Hilfe finden.
Das hat Paavo alles in den letzten Jahren seines Lebens ganz persönlich erfahren. Am 27. Januar 1852 erlöste ihn der Tod von aller Anfechtung und Krankheit. Eins seiner letzten Worte soll gewesen sein: „Ich habe dennoch gesiegt, alles ist verklärt. Jetzt darf ich heimgehen. Ich kann Gott nicht so danken, wie ich es gern möchte. Jesus Christus, sei du mein Dankopfer vor dem himmlischen Vater!”
Paavo Routsalainen wurde unter großer Anteilnahme seines Freundeskreises auf dem Friedhof in Nilsiä begraben, wo man heute noch sein Grab sehen kann. Auf dem Gedenkstein ist Paavos Lieblingslied verzeichnet, das er sich oft vor seinen Ansprachen in den Versammlungen als Eingangslied erbat. Es ist der Choral des Schweden Haquin Spegel mit Gedanken aus Psalm 71. In diesem Kirchenlied heißt es u.a.: „Deine Kraft möchte ich verkündigen und deiner Gnade danken, so daß auch Kindeskinder noch deine Ehre sehen mögen.” Die Erweckungsbewegung, deren Begründer Paavo Ruotsalainen, der „Prophet der Wildnis”, sein durfte, hat tatsächlich dem finnischen Volk immer wieder lebendiges Wasser der Gnade Gottes dargereicht.

Wie es weiterging

Nach dem Tode von Paavo Ruotsalainen erlebte die Erweckungsbewegung mancherlei Rückschläge. Es kam zu Spaltungen und vergeblichen Einigungsversuchen. Schon zu Paavos Lebzeiten gab es einige Differenzen, und die Bildung verschiedener Richtungen bahnte sich an.
Als erstes ist hier die Bewegung der sog. „Beter” zu nennen, deren Führer der Pfarrer Henrik Renqvist war. Renqvist war im Jahre 1817 als Pfarrer nach Liperi in Karelien gekommen, wo er seine Gemeindearbeit mit großem Eifer und Nachdruck betrieb. Erlegte besonderes Gewicht auf das Gebet in kniender Stellung, das wenigstens fünfmal am Tage verrichtet werden sollte. Seine Grundthese lautete: „Bete, dann erwachst du und bekommst Glauben.” Ferner war er ein Kämpfer für die Nüchternheit. Er verbot jeglichen Alkoholgenuß. In seiner Verkündigung herrschte die Gesetzlichkeit vor.
Paavo reiste 1822 nach Liperi, um Henrik Renqvist und seine Arbeit persönlich kennenzulernen. Beiden Zusammenkünften und Andachtsstunden, die in Liperi gehalten wurden, wunderte sich Paavo sehr darüber, daß alle Teilnehmer von Zeit zu Zeit auf die Knie fielen, um zu beten, was sie sogar in der Kirchewährend des Gottesdienstes taten. Paavo, der hierin die Gefahr einer Werkgerechtigkeit sah, hielt eine eindrucksvolle Rede über die Rechtfertigung des Menschen durch den Glauben ohne des Gesetzes Werke (nach Röm. 3, 23-31). So kam es zu einem Bruch zwischen Renqvist, der die Gefahr der Gesetzlichkeit nicht einsehen wollte, und Paavo, die nun gegenseitig die Arbeit und Lehre des andern verwarfen.
Alle Vermittlungsversuche, die später noch gemacht wurden – so traf man sich im Jahre 1824 in Kuopio und 1838 in der Hauptstadt Helsinki scheiterten. Eine Einigung dieser beiden Richtungen gelang leider nicht.
Von noch größerer Bedeutung als der Bruch mit Renqvist war die Spaltung, die 1844 eintrat. Im Jahre 1836 hatte sich nämlich der Pfarrer Fredrik Gabriel Hedberg den Erweckten angeschlossen. Hedberg hatte in Turku und Helsinki studiert und kam 1834 als Hilfspfarrer nach Lohja. Hier kam er mit den Erweckten und besonders mit Jonas Lagus in Berührung. Als seine pietistischen Bestrebungen der Kirchenleitung bekannt wurden, versetzte man ihn 1840 als Gefängnisprediger nach Oulu.
Als er im Jahre 1842 zum ersten Mal mit Paavo zusammen traf, war er zunächst ganz von ihm eingenommen. Er schrieb darüber folgendes: „Gott ließ mich unter dem gebrechlichen Äußeren eine Tiefe der geistlichen Erfahrung und wahres Glaubensleben sehen, das nicht nur mich mit Seele und Herz dem Alten ergeben machte, sondern mir auch ein neues Licht öffnete auf dem verborgenen Weg des Glaubens.“
Aber bald regte sich bei ihm auch die Kritik an der Lehre, die von den „Vätern der Erweckungsbewegung” vorgetragen wurde. In seinem Briefwechsel mit Jonas Lagus und anderen Erweckten brachte er manchmal seine Bedenken vor, etwa gegen die Lehre von der täglichen Reue und Buße. Doch billigten die Erweckten im allgemeinen noch seine Anschauungen. Sein erstes Buch „Glaubenslehre zur Seligkeit” wurde von Jonas Lagus und Paavo Ruotsalainen voll und ganz anerkannt. Erst nach dem Bruch im Jahre 1844 wurde es von ihnen verworfen.
Zu diesem Bruch kam es durch folgende Ereignisse. Zu einem Pietistentreffen anläßlich einer Doppelhochzeit in Esbo im Jahre 1843 war auch der Reichsschwede C.O. Rosenius eingeladen worden, der in Schweden für die Erweckung arbeitete. Paavo aber verstand es nicht recht, mit Rosenius zu verhandeln. Er stieß diesen durch seine vielen Fragen so vor den Kopf, daß er bald wieder enttäuscht nach Schweden abreiste. Hedberg dagegen trat bald darauf mit Rosenius in engere Verbindung.
Im Juni 1843 fand ferner die Einführung von Hedberg in der Gemeinde Pöytis statt, zu der viele erweckte Pfarrer kamen. Am Abend vorher sprach man über den Weg zur Seligkeit. Da legte Hedberg seine Gedanken dar von dem Verdienst Christi und der Rechtfertigung durch den Glauben. Er schrieb darüber später folgendes: „So ging mir deutlich das Licht des Wortes Gottes auf, daß alles dieses mir schon vollkommen von Christus erworben war und daß ich nichts anderes dazu brauchte, als allein im Glauben das Wort des Evangeliums zu umfassen, das Gnade und Rechtfertigung predigt.
Noch zwei weitere Ereignisse führten dann zu dem endgültigen Bruch zwischen Paavo und Hedberg. Leider versuchte Hedberg nicht, die Sache persönlich mit Paavo im Gespräch zu klären. Er reiste nicht selber zu Paavo, sondern schickte nur zwei seiner Anhänger zu ihm nach Nilsiä. Dieses Treffen wurde aber zu einem großen Fiasko und besiegelte dann den endgültigen Bruch.
Paavo schickte an Hedberg eine offizielle „Bannbulle”, in der er ihn als einen Philosophen, Judas Ischarioth und Ananias bezeichnete. Ebenso schrieben Lagus und Malmberg harte Briefe an ihn. Die Antworten Hedbergs darauf sind dann auch nicht gerade milde gehalten. So gingen ihre Wege auseinander.
Hedberg wurde der Führer der „ Evangelischen Bewegung”, die sich 1873 in der „Lutherischen Evangeliumsvereinigung in Finnland” zusammenschloß. Ihr Ziel war es, das Evangelium von Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, lauter und rein zu verkündigen. Das Schwergewicht ihrer Arbeit legten sie darum auf den Gottesdienst und auf die Austeilung der Sakramente. Seelsorge wird bei ihnen weniger geübt. Beim Gebet benutzen sie meistens formulierte Gebete, weniger das freie Gebet.
Als dritte Bewegung seien hier noch die Laestadianer erwähnt. Sie gehen zurück auf den reichsschwedischen Pastor Lars Levi Laestadius (1800-1861). Er war ein sehr begabter Mensch, der auch als Botaniker über die Grenzen Schwedens hinaus bekannt wurde. Im Jahre 1843 wurde er Propst und Visitator der Lappmarksgemeinden. Bei der Visitation in Asele im Januar 1844 fand er durch das einfache Lappenmädchen Maria eine neue Einsicht in die Heilsordnung.
Er selber schildert dieses einschneidende Ereignis seines Lebens sehr anschaulich: „Und jetzt erst dachte ich, jetzt sehe ich den Weg, der zum Leben führt; er ist verborgen gewesen, bis daß ich mit Maria sprechen durfte. Ihr einfältiger Bericht über ihre Wanderungen und Erfahrungen machten so einen tiefen Eindruck auf mein Herz, daß es auch für mich aufleuchtete. Ich durfte an diesem Abend, den ich zusammen mit Maria verbrachte, einen Vorgeschmack der himmlischen Freude spüren.”
Seit dieser Zeit hielt Laestadius gewaltige Bußpredigten und setzte sich mit allen Kräften für eine Erweckung Lapplands ein. Auf sittlichem Gebiet bekämpfte er hauptsächlich die Trunksucht, die dort im hohen Norden sehr verbreitet war. Bald fand er eine Reihe Anhänger – unter ihnen der finnische Lehrer Johan Raattamaa -, die in Lappland umherzogen und seine Lehre verbreiteten. Eine Erweckung, die besonders am Anfang stark ekstatische Züge trug, brach auf und drang auch nach Norwegen und Finnland. Heute gibt es auch in Nordamerika Laestadianer, aber die meisten von ihnen leben in Finnland. Hier ist es eine rein finnischsprachige Bewegung.
Paavo und Laestadius standen zunächst in freundschaftlichem Briefwechsel. Später aber kam es zu einer Auseinandersetzung und Trennung, da Laestadius – ebenso wie Henrik Renqvist – jeglichen Alkoholgenuß verbot. Im Jahre 1854 sagte Laestadius in einer Predigt: „Die Trinker dürfen in der Hölle mehr Feuer und Schwefel trinken, als durch die Gurgel geht ” Paavo dagegen kritisierte Laestadius als einen Gesetzesprediger, dessen Lehre zum Papsttum führe. Leider haben sich beide persönlich nie kennengelernt. Auch Jonas Lagus äußerte sich scharf gegen die Laestadianer. 1855 schrieb er an einen Freund: „Mit den Verrückten des Laestadius laß dich nicht ein! Sie mögen nun rasen, solange sie können!“
Mit diesen Spaltungen und dem Sterben der Führer der Erweckungsbewegung in den fünfziger Jahren:

1852 Paavo Ruotsalainen,
1857 Jonas Lagus und 
1858 Nils Gustav Malmberg
begann für die finnische Erweckungsbewegung die sog. „Zeit der Greise”. Die Leitung der Bewegung lag jetzt in den Händen von älteren Laien.
Jonas Lagus hatte etwas von dem Niedergang der Bewegung in den fünfziger Jahren geahnt. Er sagte wenige Stunden vor seinem Tode u. a. folgendes: „Mit mir stirbt diese Lehre; noch ist der Schatten eine Zeitlang da, aber dann verschwindet auch er.” Doch Lagus sollte nicht recht behalten.
Neues Leben erhielt die Erweckungsbewegung, als in den achtziger Jahren Wilhelm Malmivaara (1854 bis 1921), der Sohn Nils Gustav Malmbergs, die Leitung übernahm. Während er in Kiuruvesi als Pfarrer tätig war, brach dort eine neue Erweckung auf. Von Wilhelmi Malmivaara (Malmivaara ist der finnische Name für Malmberg) stammen viele Lieder in den „Zions-Gesängen”, dem Liederbuch der Erweckten Finnlands. In den ersten Auflagen fanden sich dort auch viele Lieder von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Heute sind es jedoch fast ausschließlich finnische Lieder.
Eines der schönsten geistlichen Lieder von Wilhelmi Malmivaara in den „Zions-Gesängen” ist die Nr. 167, ein Pilgerlied, das übersetzt etwa so lautet:
Ach, Herr, wenn wir am Ende der Erdenreise dich
sehen könnten! Ach, wenn wir einmal den Herrn
in seiner Königsherrlichkeit schauen dürften!
Nach dir sehnt sich mein Herz;
nach dir schreit mein Geist.
Ich bin allein hier in Trauer und Tränen.
Alles andere vergeht, nur du nicht.
Hilfe bekommt mein Herz allein von dir.
Du zählst auch meine Tränen.
Hilf mir, Herr, ich glaube nur,
auch wenn kein Glaube mehr wäre.
Ich laß dich nicht, du segnest mich denn!
Ach, Herr, gewähre mir deine Gnade
und Kraft für die Erdenreise!
Vergib mir, trage mich und führe mich ans Ziel!
Ach, käme im mit der Schar der Erlösten,
auch mit meinen Freunden und Verwandten
einst bei dir droben an, o Herr!
Wenn es doch geschähe!
Um die Predigtweise Malmivaaras zu kennzeichnen, seien einige Sätze aus einer Ansprache zitiert, in der er von einem Kranken berichtet, der sagte, daß er noch am Ende seiner Lebensreise und seines Kampfes am selben Punkte sei wie am Anfang. Malmivaara fuhr dann fort :
„Ach, nach meiner Meinung war auch dieser Kranke in den zwanzig Jahren unerhört vorwärtsgekommen und hatte viel gelernt, war in eine hohe Schule gegangen, obwohl es ihm selbst unbewußt war, und auf eine Weise, die ihm verborgen war! Wenn er nicht diese zwanzig Jahre gekämpft hätte, so hätte er nicht gelernt, daß er am selben Punkt stand, von wo aus er angefangen hatte. Und wenn wir vor dem Herrn meinen, daß wir nicht einen Schritt vorwärtsgekommen sind, wo haben wir wohl dieses gelernt? Das ist keine Aufgabe zum Auswendiglernen, keiner kann es für einen anderen garantieren. Das lernt man in keinem Buch, sondern nur in der Schule des Heiligen Geistes.“
Seit 1888 erscheint die „Geistliche Monatszeitschrift”, die ein Organ der Erweckten Finnlands ist. Dazu erscheinen heute auch noch eine Jugendzeitschrift und andere Blätter.
Mit der „Geistlichen Monatszeitschrift” war ein lang gehegter Wunsch der Erweckten in Erfüllung gegangen. Schon Johan Fredrik Bergh und Henrik Renqvist hatten den Plan der Herausgabe einer christlichen Zeitschrift gehabt.
Jonas Lagus schrieb dazu im Jahre 1834 an seinen Freund J. F. Bergh: „ Dieser Gedanke ist Euch von Gott eingegeben. Von einer solchen Zeitung erwarte ich die gesegnetsten Früchte. In den Gemeinden, in denen das Wort nicht lebendig verkündigt wird, würde dadurch helles Licht verbreitet werden. Viele unkundige und schlafende Lehrer könnten durch Gottes Gnade zur Sorge um ihr Heil erweckt werden. Der liebreiche Erlöser mache uns zu reinen und demütigen Gefäßen, in die er seine Gnade und seinen Geist gießen kann! Will er, ruft er, sendet er uns, so sollen wir durch seine Kraft gegen das Heer der Finsternis kämpfen. Vielleicht wird etwas Saat in gute Erde fallen und Frucht zum ewigen Leben bringen.“
Als Voraussetzung für diesen Zeitungsplan schrieb Lagus in demselben Brief über den geistlichen Zustand im damaligen Finnland folgendes:
„Die Wächter auf den Mauem Zions schlafen; sie sind zum Schweigen gebracht von Weltliebe und Menschenfurcht; Dunkel bedeckt das Volk; das Evangelium wird zur Sicherheit gepredigt ; Jesus ist unbekannt. Gottes Heiliger Geist wird als unwirksam angesehen, und wo er auftritt in Kraft und Stärke, wird er als Hirngespinst, als das Spiel einer entflammten Phantasie angesehen. So ist der allgemeine Zustand in unserem christlichen Finnland. Aber der Teufel weicht nicht vor einer kraftlosen Klage; mit Jammerrufen wird Gottes Tempel nicht erbaut. Laßt uns darum in Jesu Namen und im Vertrauen auf seinen Beistand mit gemeinsamen Kräften ins Feld ziehen gegen die Mächte der Finsternis, die in uns und um uns sind! Laßt uns unser anvertrautes Pfand nichtvergraben, damit wir es mit Zuwachs vorbringen können zu dem Herrn Jesus Christus am Tage seiner großen Ankunft!“
In diesem Sinne trieb Jonas Lagus die Sache eifrig voran, nachdem auch Nils Gustav Malmberg seine Mithilfe zugesagt hatte. J. F. Berg übernahm mit seinem Bruder hauptsächlich die praktischen und technischen Seiten. Im Juli 1 83 5 erhielten sie die Genehmigung des Senats und die des Domkapitels von Porvoo (Borgä) .
Ab 1836 erschien die Zeitschrift unter dem Titel „Zeitung für geistliche Themen“. Die Zensur war jedoch streng, und die Herausgabe der Zeitung brachte mancherlei Schwierigkeiten mit sich. Auch waren die Einnahmen aus dem Verkauf der Zeitung gering. Die finnische Ausgabe erschien bis Mitte 1839 und wurde dann wegen Lesermangels eingestellt. Die schwedische Ausgabe erschien mit verändertem Programm und unter dem Titel „ Evangelisches Wochenblatt” noch bis 1841. Auch Zeitungspläne von Lars Stenbäck aus dem Jahre 1846 gingen nicht in Erfüllung.
1912 wurde die „Erweckungsvereinigung” gegründet, die ihren Sitz in Lapua in Pohjanmaa hat. Dort befindet sich auch der Verlag und die Buchhandlung der Erweckten.
Seit 1893 wird alljährlich in der ersten vollen Juliwoche ein großes Sommerfest der Erweckten abgehalten, an dem etwa 25 000 bis 30 000 Menschen aus fast allen Teilen Finnlands teilnehmen. So fand z.B.1968 das Sommerfest der Erweckten in dem Kirchspiel Ylistaro statt und stand unter dem Gesamtthema aus Jes. 52,12b: „Denn der Herr wird vor euch herziehen.“
Im Jahre 1 965 fand das Sommerfest in dem Städtchen Iisalmi statt unter der Losung aus Psalm 30, 11 : „ Herr, höre und sei mir gnädig ! ” 1962 wurde das Fest in der Stadt Pori in Westfinnland abgehalten.
Einen besonderen Wert legt man auf die Erziehung der Jugend. So wurde 1914 die erste Heimvolkshochschule nach dänischem Vorbild (Pastor N. F. S. Grundtvig) in der Gemeinde Lapua eingeweiht. Es wurden später noch weitere Heimvolkshochschulen gegründet. Die letzte wurde nach dem zweiten Weltkrieg in Valkeala-Selänpää erbaut. Im ganzen gehören den Erweckten heute acht Heimvolkshochschulen, die jeweils von einem Pfarrer geleitet werden.
Etwa ein Drittel der finnischen Pfarrerschaft und die Hälfte der finnischen Bischöfe gehören zu den Erweckten. Die übrigen Pfarrer stehen der Erweckungsbewegung auch wohlwollend gegenüber.
Viele Diakonissen kommen aus erweckten Familien, und so wurde Finnland das Land, in dem es keinen Mangel an Diakonissen und Krankenschwestern gibt. Auch ist die evangelischtheologische Fakultät der Universität von Helsinki die größte der Welt mit übertausend Theologiestudenten, von denen viele aus den erweckten Kreisen stammen.
Möge etwas von dem Geist der finnischen Erweckung auch bei uns in Deutschland lebendig werden!

Anhang
Außer den vielen seelsorgerlichen Briefen (etwa 83), die Paavo Ruotsalainen hinterlassen hat, besitzen wir von ihm nur eine kleine Schrift, die nachfolgend aus ihrer schwedischen Fassung übersetzt und wiedergegeben wird:
Warum werden nicht alle Erweckten selig?
Von einem Finnen, Piteä.
Gedruckt bei Nygren und Johansson, 1847.
Hier folgt eine kurze Ansprache an den geehrten Bauernstand: Was ist die Ursache dafür, daß nicht alle vom Herrn Erweckten selig werden? Diese Ursachen sind nun schon vorher beschrieben und gedruckt worden; aber ihr seid ein hartherziges Volk, ihr meine Mitbrüder! Ihr habt noch nicht die Liebe zur Wahrheit angenommen, wie es in der Bibel geschrieben steht.
Jetzt habe ich in großer Schwachheit in dieser kleinen Schrift zu erkennen gegeben eure, der Bauern, Sorglosigkeit und listige Ränke. Die Betrügereien der Bauern versteht kein anderer besser als ich, der ich der Listigste von allen bin. Aus diesem Grunde schrieb ich einige Zeilen im Namen des Herrn, damit ihr euch nicht verirrt.
Und nun inzwischen, der Herr sei Richter und Zeuge : Wenn diese wenigen Zeilen unrecht geschrieben sind, so bezeugt, daß es unrecht ist und verzeiht meine Beschuldigung ; wenn es aber wahr ist, so tutschnelle Besserung, ehe Gott in seinen gerechten Gerichten euch unter das Gericht der Verhärtung schlägt!
Nun, leb wohl, geliebte Gemeinde, in der Fürsorge des Herrn, der am Kreuze ausrief: „Jetzt ist alles vollbracht!“ Was ist vollbracht? Der allergrößte Sünder, der zu dem Heiland kommt, der am Kreuze hing, soll volle Vergebung für seine Sünden haben. Mit diesen Worten, unser geringer Stand, leb wohl!
Ich komme zu dir, du Bauernstand mit einer kurzen Frage: Was ist die Ursache dafür, daß nicht alle Erweckten selig werden? Im glaube aber wohl, daß die Hauptursache dafür darin liegt, daß sie – obwohl sie gerade erweckt sind -, nicht sofort durch die enge Pforte gegangen sind, die gleich am Anfang des Weges zum Leben liegt.
Jetzt folgt sogleich wieder die nächste Frage :Warum sind sie nicht durch die enge Pforte gekommen, obwohl sie vom Herrn erweckt sind? Die Ursache dafür ist folgende: Dieses Volk ist ein halsstarriges Volk. Es geht ihm so wie dem Volk zur Zeit des Mose, das gegen Gottes Verbot begann, ins Land Kanaan zu ziehen, ohne die Führung des Herrn. Der Bauernstand hat zur Zeit die gleiche Gesinnung.
Jetzt bleibt noch die Frage : Wie mag das wohl unter ihnen zugehen? Es geht dort auf folgende Weise zu : Wenn sie erweckt sind von der Finsternis zum Licht, nämlich zur Erkenntnis ihrer Sünden, so sind sie demütig und bußfertig, so wie Bunyan von ihnen folgendermaßen schreibt : „Wenn die Flammen der Hölle ihnen um die Ohren schlagen, dann sind sie bußfertig.”
Nun ist die nochmalige Frage: Was ist die Ursache dafür, daß es so geht, obwohl sie von Gott erweckt sind? Die Hauptsache liegt darin : Wenn das Gericht des Gesetzes im Gewissen nachläßt, so nehmen sie an – wie es ein jeder gerade braucht -, auf dem Lebensweg der Gerechtigkeit zu sein, der jetzt ihrem eingebildeten Glauben folgen sollte. Aber da nun die Gerechtigkeit des Lebens keinen Fortschritt zeigt nach der Erleuchtung des Gewissens, so fällt ein Teil dieser Menschen in knechtische Furcht, die wiederum Unglauben gebiert. Ein anderer Teil dieser Menschen, die eine weisere Vernunft haben, sind betrübt unter Anfechtungen und Bestrafungen, aber während ihres täglichen Lebens sind sie dennoch leichtsinnig und sicher. Fragst du: Warum sind sie so? Darum, weil sie nicht durch die enge Pforte hineingekommen sind, die am Anfang des Lebensweges liegt, von der Bunyan viel berichtet und von der auch Christus selbst sagt:„ Viele suchen hineinzukommen durch die enge Pforte und werden es nicht können.“
Die Ursache dazu liegt in dem vorher Genannten, daß sie vorzeitig von der Sorge der Buße zu heiligen Übungen übergehen ; und ein Teil mit Gesang, andere mit Gebeten und ähnlichen Mitteln ersticken diese Sorgen nach Gottes Sinn, obwohl sie ihren Taufbundgebrochen haben. Und durch diese Mittel geht nun bei ihnen die rechte Sündenerkenntnis verloren, die Gott in ihnen zu wirken begann.
Nun, es gibt doch jetzt in Finnland erweckte Pfarrer: Können diese sie nicht zum Rechten führen? Nein, die können sie keineswegs zum Rechten führen; denn sie betrügen die Pfarrer und kommen zum Pfarrer wie das Volk, das bereits die Rechtfertigung erlangt hat. Diese fordern vom Pfarrer freudeweckende Seelennahrung.
Der erweckte Pfarrer wiederum ist von Herzen mitleidig. Er bietet sich an, sie aus ihrer knechtischen Betrübnis mit der Milch des Evangeliums zu nähren und zu heilen; was aber nicht auf die Dauer ausreicht. Aus welchem Grunde nicht? Darum, weil sie nicht durch die enge Pforte auf den Weg des Lebens gekommen sind.
Jetzt kommt wieder eine neue Frage : Welches ist die enge Pforte, von der die Schrift so viel spricht? Ist dieses nicht die enge Pforte: Weil der Sünder Gottes Zorn auf sich ruhen sieht und er ein Übertreter des Taufbundes ist, sollte er darum nicht hier gern vordem Herrn stehenbleiben unter allen Bestrafungen, die sich im Gewissen vollziehen, stille stehen vor dem Herrn so lange, bis er inwendig erfahren darf, daß er die fühlbare Gnade rühmen kann?
Nun, warum geben die erweckten Pfarrer ihnen nicht diesen Rat? Die Ursache dazu liegt darin, daß die philosophischen Lehren sie daran hindern. Diese wissen selbst, wie eine große Mühe es kostet, s ich auf dem Weg des Kreuzes zu erniedrigen, welches ja die Beschaffenheit des Reiches Christi so erfordert. Aber mein Ziel ist es nicht, zu Philosophen oder Gelehrten zu reden. Sie wissen am besten selbst, ob ihr Weg gerade oder krumm ist.
Aber jetzt ist hier schon wieder eine neue Frage: Haben diese denn gar keine Gnade mehr, die in die eben erwähnten Irrungen geraten sind? Hierauf mußgeantwortet werden : Sie haben die große Gnade nach der eigenen Verheißung des Herrn, wenn sie sich von ganzem Herzen zum Herrn bekehren. So bezeugt es ja der Herr selbst: An welchem Tag der größte Sünder zu ihm kommt, soll seiner Übertretungen nicht mehr gedacht werden; so wie auch der Heiland selbst seine Güte erwies dem Schächer am Kreuz in letzter Stunde und dem verlorenen Sohn; alle wurden errettet als ein ermutigendes Beispiel.
Jetzt möchtest du gern die einfältige Ordnung zur Seligkeit wissen, du Bauernstand ! Aber ich antworte dir in Kürze: Du mußt in dieser Zeit des großen Lichtes dir eine rechte Kenntnis von Gottes Wort zulegen, in welcher Ordnung Gott auch den allergrößten Sünder gerechtsprechen will. Du mußt erkennen lernen die Ursache der Erlösung Christi; obwohl die Pfarrer viel Aufhebens von dieser Erlösung machen, so sagen sie doch nur selten den rechten Anfang davon für den einfältigen Bauernstand. Nun, wenn wir uns einerechte Kenntnis davon verschaffen wollen, dann müssen wir uns zur Geschichte der Heiligen Schrift wenden, wo das Wort lautet: „Welches Tages du von der Frucht des verbotenen Baumes issest, wirst du des Todes sterben.” Nun, wie ging es? Der Menschbrach das Gebot und fürchtete nicht den berechtigten Zorn Gottes.
Nun, du willst jetzt wiederum von Gott wissen, da geschrieben steht: Er ist barmherzig, konnte er nicht in diesem Zusammenhang Adams Übertretung verzeihen? Nein, das konnte er auf keine Weise, ohne seine eigene Heiligkeit aufzuheben. Aber jetzt erbarmte sich der Herr über Adam, er gab die Verheißung von Christus, der vor dem gerechten Gott Adams Verbrechen bezahlte. Jetzt bleibt noch die Frage: Wie ist denn dieser Christus? Das, lieber Freund, hast du doch schon gewußt von deiner Kindheit an und vom Konfirmandenunterricht. Der allmächtige Gott ließ einen Teil seines Geistes als Mensch geboren werden, der leiden und sterben sollte.
Da taucht jetzt die Frage auf: Warum konnte nicht auch ein heiliger Mensch dieses ausrichten? Die Schuld war zu groß, als das ein bloßer Mensch deren Bezahlung vollbringen konnte, was du ja aus dem Katechismus weißt. Hierin liegt nun die Ursache, warum unsere Gerechtigkeit vor dem Herrn nichts taugt. Da ein bloßer Mensch nicht dazu taugte, Adams Schuld zu bezahlen, so taugt noch viel weniger unsere Gerechtigkeit zu irgend etwas, es sei denn zur Wiedergeburt. Aber diese Kunst siehst du gering an, obwohl die Pfarrer so viel davon predigen und poltern.
Nun, möchtest du wiederum gern wissen wollen, was die neue Geburt ist. Der erste Schritt zur neuen Geburt ist folgendermaßen: Sobald du in deinem Gewissen in größerem oder geringerem Maße spürst, ich kann nicht glückselig werden in diesem Zustand, so wisse, daß dieses Gottes Ruf ist! So gib auch dem Ruf die Ehre! Aber auf welche Weise kannst du ihm Ehre geben, wenn du doch geistlich tot bist? Hier folgt ein kurzer Rat: Stell’ Gottes Allwissenheit vor die Augen deines Verstandes! Du kennst ihn nicht, aber er kennt dich. Und wenn du nicht beten kannst, wie das Wort es fordert, so sehne dich danach, daß der Herr in Gnaden dich ansehen möge ! Wackle hierbei nicht hierin und dorthin, wenn du keine Antwort bekommst! Halte so lange vor dem Herrn aus mit deinem Sehnen, bis du innerlich erfahren kannst: „Jetzt wage ich es, Christus innerlich als meinen Helfer anzueignen, auch wenn ich ein noch so großer Sünder bin.“
Das ist nun das, was in der Heiligen Schrift als Kindschaft bezeichnet wird. Und wenn der Herr es dann für gut befinden sollte, dich länger im „Trauerhaus” bleiben zu lassen, so ist das für dich heilsam und nützlich, damit du schon am Anfang dein Verderben gründlich kennenlernst, wovon der Heiland schon sagt, gerade in bezug auf diese Trübsale. „Selig sind die Trauernden, selig sind die geistlich Armen.“
Aber warum bist du trotzdem so ungeduldig? Wenn du nicht nach deinem Sinn Trost und Erquickung bekommst, so fällst du schnell in sklavische Furcht, die dann in dir Unglauben erzeugt. Und in diesem Zustand läufst du, um Hilfe bei Menschen zusuchen und nicht in aller Einfalt beim Erlöser, obwohl du schon von Anfang an den einfältigen Weg kennengelernt hast.
Doch wie kann es zugehen, daß du Hilfe bei Menschen suchst? Das geschieht auf diese Weise: Du zählst den Gelehrten auf alle Gewissensübertretungen und betrüglichen Ränke in der Absicht, daß du auf diese Weise Seelenruhe und Frieden bekommen würdest. Aber diese brauchen nur dem allwissenden Erlöser und nicht den Menschen aufgezählt zu werden.
Aber ihr habt entgegen Gottes Warnung euer betrügerisches Herz zu einem Abgott für euch selber gemacht. Wie geht das zu? Das geht auf diese Weise zu: Wenn von euren Herzen gute Gedanken aufsteigen sollten, da setzt ihr euer Vertrauen auf den Heiland. Aber wenn daraus böse Gedanken aufkommen, weil das Herz die Wohnung alles Bösen ist, so versteckt ihr euch in diesem Zustand vor dem Herrn wie Adam im Paradiese. In diesem Zustand sucht ihr mehr Hilfe von Menschen als von Gott, wie eben gesagt.
Nun, gewiß raten euch auch die Gelehrten, zu Christus zu gehen . Aber warum hilft dieser Rat euch nicht? Der Rat hilft nicht, und der Grund dafür ist dieser: Wenn du dir Sorgen machst, im Sinne Gottes, zum Unglauben, so erquickt das dich keineswegs, auch wenn Hunderte von Erlösern sich mit dir verloben würden. Lies die Schriften der Apostel, in welchen folgendes geschrieben steht: „Daß ihr betrübt seid nach Gottes Sinn, welche Sorge hat das in euch hervorgerufen! „Und solange du ungeduldig bist über die göttliche Sorge, so bist du gehorsam deinem eigenen betrüglichen Herzen, das allezeit nur aus dir heraus Furcht vor Gott und vollen Unglauben gebiert.
Jetzt wende ich mich, liebe Freunde, in großer Schwachheit an euch. Ich bin von all diesen Versuchungen auch geplagt, die ich euch hier vorhalte, aber ich habe mich nicht als Sklave unter diese Versuchungen begeben. Ich habe auf das Beispiel de alten Heiligen gesetzt, die der Herr züchtigen mußte bis zum Sterben des Fleisches, die sich im Glauben an Gott gerühmt haben : „Wenn auch der Herr töten sollte” ; das ist ihr Zeugnis.
Ich gönne euch Besseres, meine Freunde, daß ihr solltet lieber öffentlich zu der Welt übergehen, nachdem ihr nicht mit dem Weg des Kreuzes zufrieden seid. Und dieses, liebe Freunde, diese wenigen Zeilenhabe ich nicht auf irgendeine Weise euch zur Verärge68rung schreiben wollen, sondern um euch eure angeborene Trägheit zu zeigen, wie wenig ihr geistliche Bücher lieben wollt, aus denen für uns alle der einfaltige Weg vorgeschrieben ist, so wie in den Schriften des verstorbenen Fresenius sich alles findet, was ein Christ braucht.
Und jetzt sage ich zum Schluß zu euch:
„Demütigt euch unter die allmächtige Hand Gottes, daß er euch auch erhöhe zu seiner Zeit”, wie er versprochen hat. Lebt nun wohl, liebe Mitbrüder, im Namen des Herrn, der euch erweckt hat!

PAAVO RUOTSALAINEN (1777 – 1852), ein schlichter finnischer Bauer, war von Gott dazu ausersehen, der gesegnete Träger einer Erweckungsbewegung in seiner Heimat zu werden. Gleich noch seiner eigenen Bekehrung begann er seine Tätigkeit als Laienseelsorger, die nicht nur auf seine Heimatgemeinde beschränkt blieb. Auf ausgedehnten Reisen durchquerte er ganz Finnland mit der Botschaft des Evangeliums. Bald erhob sich auch der Widerstand seitens der Pfarrerschaft und der Behörden gegen die sich ausbreitende Erweckungsbewegung. Paavo und seine Anhänger wurden in Kämpfe und Prozesse verwickelt, die aber den Siegeszug der Erweckung nicht aufhalten konnten. Als Paavo mit zunehmendem Alter selbst nicht mehr reisen konnte, betätigte er sich vornehmlich durch seelsorgerlichen Briefwechsel mit seinen Freunden und Mitarbeitern und vielen Ratsuchenden. Noch seinem Tode erlebte die Erweckungsbewegung zunächst mancherlei Rückschläge, wurde aber in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts neu belebt, so daß heute etwa ein Drittel der finnischen Pfarrerschaft und die Hälfte der Bischöfe zu den Erweckten gehören. Der treue Dienst des „Rufers in der Wildmark” Paavo Ruotsalainen ist nicht vergeblich gewesen.