Luther – Lehrmeister des Widerstands
Uwe Siemon-Netto
Luther – Lehrmeister des Widerstands
– Zur Geschichte eines Vorurteils –
– Ein Auszug, mit dem Schwerpunkt der Obrigkeitsfrage. Eingestellt wegen der Gehorsamsfrage für Christen anlässlich der Versammlungseinschränkungen bei Gottesdiensten, die zukünftig überhandnehmen können. – (H. Koch, 10/2020)
Inhalt
I. Oktober 1989: Das Ende eines Klischees
Klischees, Zeitgeist und Moderne
II. Luther – der Schurke
Die Quellen des Klischees
III. Luther – doch kein Schurke ?
Die beiden Reiche
Wann bewaffneter Widerstand erlaubt ist
Bonhoeffer verneigt sich vor Flacius
IV. Luther gerechtfertigt: Der Fall Goerdeler
Das Klischee vom deutschen Militarismus
Klischeedenken im Weißen Haus
Ein Opfer des Zeitgeistes
V. Luther gerechtfertigt: Leipzig 1989
Luthers Erben bewähren sich
War Gorbatschow ein «Wundermann»?
Ein Gott, zwei Reiche: das lutherische Paradoxon
– Hier ein Auszug aus dem hervorragenden Buch “Luther – Lehrmeister des Widerstands“, mit dem Schwerpunkt der 2. Reiche-Lehre Luthers. Letztlich die Obrigkeitsfrage nach Römer 13. Alles stark gekürzt. Die Heraushebungen sind von mir. Horst Koch, im Oktober 2020 –
Einführung von Prof. P.L. Berger, Heidelberg.
Auszug: . . . unsere Gesellschaft wird stärker von Klischees beherrscht als in früheren Zeiten. Durch die modernen Medien werden sie schneller und effektiver verbreitet. Ist ein Klischee erst einmal in den Köpfen verankert, so wird es zur nicht mehr hinterfragten Wahrheit uns ist auch durch empirische Gegenbeweise kaum noch zu erschüttern. Die Menschen werden nicht gern mit >kognitiver Dissonanz< konfrontiert, wie die Psychologen es nennen. Zudem sind das Denken und das Nocheinmal-Überdenken recht beschwerliche Prozesse. . . .
Als Gegenmittel gegen gefährliche Utopien ist nüchterner Realismus des lutherischen Denkens daher auch heute noch mehr als notwendig. . . . Wie bereits gesagt, werden Überzeugungen (Klischees) normalerweise auf empirische Belege hin weder übernommen noch aufgegeben. Stirbt der Mythos des Sozialismus, treten andere Utopien auf den Plan. Ob von links oder rechts, ob feministisch oder ökologisch ausgerichtet, alle stehen der 2-Reiche Lehre Luthers entgegen. Mir scheint, wie Uwe Siemon-Netto sagt, dass die 2-Reiche-Lehre verkündigt werden muß, um der Gefahr eines erneuten Massenmordes entgegenzutreten. . . .
P. L. Berger, 1993.
Einführung von U. Siemon-Netto
. . . Ich hatte den Entwurf für die englische Fassung meines Buches bereits geschrieben, da brach am 9. Oktober 1989 in Leipzig die Revolution aus, die dem kommunistischen Regime in der DDR ein Ende setzte und mir nach vielen Jahren die Heimkehr ermöglichte. Was ich in Leipzig in zahllosen Gesprächen mit evangelischen und katholischen Christen, mit Agnostikern und Atheisten erfuhr, passte nahtlos zu meinem Thema: Dies war eine spezifisch lutherische, will sagen: gewaltlose Revolution. Nur weil sie geordnet und friedlich verlief, gelang sie.
Die erste Auflage dieses Buches war im Gütersloher Verlagshaus unter dem Titel Luther als Wegbereiter Hitlers? – Zur Geschichte eines Vorurteils – erschienen. Ich war über diesen Titel nicht sehr glücklich, weil er – wenngleich mit einem Fragezeichen versehen – beim flüchtigen Hinsehen den Eindruck erwecken könnte, dass auch ich den Bogen von einer der überragenden Figuren der deutschen Geschichte zu Hitler spannte, in dem Dietrich Bonhoeffer den Antichristen sah.
Ich nenne diesen Band nun in der Neuauflage Luther, der Lehrmeister des Widerstands, weil er als ein Abgesang auf einen gröblich missbrauchten Luther gedacht ist, auf den Martin Luther des Journalisten und Schriftstellers William L. Shirer, der gewiss manches über den Reformator gelesen hat, sich aber – dessen bin ich mir sicher – nie mit seiner vielschichtigen Theologie im Original beschäftigt haben kann.
Dieses Buch ist andererseits ein Versuch, einen nach wie vor bedeutsamen Aspekt des authentischen Martin Luthers wiederzuentdecken: jenes Luthers nämlich, dessen Lehre von den beiden Handlungsweisen Gottes in der Welt den Christen zum Dienst in dieser Welt befreit hat. Goerdeler und die friedlichen Revolutionäre von Leipzig, aber auch Dietrich Bonhoeffer und der mutige Bischof Eivind Berggrav von Oslo sind meine Zeugen dafür, dass dieser echte Luther unserer Zeit ungemein viel zu sagen hat, vor allem weil er Christen deutlich machte, wie und wann sie einer tyrannischen Obrigkeit die Stirn zu bieten und sie gegebenenfalls zu stürzen haben.
Mir geht es darum, einen Schatz freizulegen, der teils durch Unwissenheit, teils durch Verleumdung verschüttet worden ist. . . Dieser Schatz ist Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die uns Nüchternheit bescheren sollte, weil sie uns immer wieder daran erinnert, dass wir aus eigener Kraft nicht alles in dieser Welt zurechtbiegen können. Sie hat Hitler nicht den Weg geebnet, wie Shirer behauptete; im Gegenteil: Sie könnte uns von Hitler kurieren, wie Englands großer methodistischer Theologe Gordon Rupp bereits 1945 schrieb, zu einem Zeitpunkt, an dem die Ruinen des Zweiten Weltkriegs buchstäblich noch qualmten.
Da die Zwei-Reiche-Lehre und insbesondere lutherisches Obrigkeits- und Widerstandsdenken mein eigentliches Thema sind, bitte ich meine Leser um Nachsicht, wenn ich eine zweite Anklage gegen Luther nur knapp in Kapitel 2 berühre: den Vorwurf, dass die antijüdische Polemik des alternden Reformators die Saat des Völkermordes an Millionen Juden in unserem blutigen Zeitalter gewesen sei. Wie die Bewunderer des Reformators noch zu seinen Lebzeiten, so bin auch ich entsetzt über seine Ausfälle, von denen ich aber auch weiß, dass die evangelische Kirche sie über drei Jahrhunderte lang schamhaft unterdrückt hatte. Für sie galt vielmehr die ganz andere Ermahnung des jungen Luthers, «dass Jesus Christus ein geborener Jude sei» (1523).
Über das Thema «Luther und die Juden», um das sich – wie über die Zwei-Reiche-Lehre – viel stereotypes Denken rankt, ist anderweitig ausführlich geschrieben worden. Dass ich dies hier nicht tue, möge mir bitte nicht als ein Mangel an Sensibilität für diese Frage angelastet werden. Der Grund ist lediglich, dass diese Studie sich auf ein anderes Klischee konzentriert, das viele davon abhält, die wohl wichtigste Stimme in unserer Geistes-, Kultur- und Religionsgeschichte in ihrer ganzen Genialität wahrzunehmen.
Uwe Siemon-Netto, Warren, Rhode Island, 1993
I. Oktober 1989: Das Ende eines Klischees
“Deutschland wird nie wiedervereinigt werden…”.
Jahrzehntelang verkündigten kommunistische Staatsmänner diesen Satz als eine unverrückbare Wahrheit. Viele ihrer westlichen Kollegen dachten nicht anders… Sogar Willy Brandt nannte es einmal “Lebenslüge der Nation” . . . Aber dann fiel Herbst 1989 die Mauer… Im Nachhinein hat sich eine vermeintliche Wahrheit als ein Klischee decouvriert.
Was ist ein Klischee? . . . Die technische Vokabel “Klischee” steht weltweit als eine Metapher für eine Denkweise, die der Soziologe A. Zijderveld so definiert: “Klischees umgehen die Reflexion und bearbeiten somit den Verstand im Unterbewußtsein . . . ”
Zijderveld hat eine enge Verwandschaft zwischen Klischees und der Moderne ausgemacht. Ich nenne es: “Klischeedenken ist ein Zwilling des Zeitgeistes, der keine Relativierungen zuläßt” . . . Nun war am 9. 11. 89 ein Klischee an ihr Ende gekommen. Luther hat über Lenin gesiegt. . . .
Klischees, Zeitgeist und Moderne
Was ist diese moderne Gesellschaft? Laut dem Philosophen, Anthropologen und Soziologen Arnold Franz Gehlen (1904–1976) trägt sie folgende Merkmale: Industrialisierung, Säkularisierung, Urbanisierung, Bürokratisierung, rapide Fortschritte in der Wissenschaft und kapitalistische Produktionsweisen. Diese Aspekte der Moderne haben traditionelle Institutionen wie Familie, Kirche und Gemeinschaft destabilisiert; Institutionen, die Gehlen als «vorgeformte und sozial eingewöhnte Entscheidungen» definiert.
«Der Mangel an stabilen Institutionen», schrieb Gehlen 1957, «überbeansprucht die Entschlussfähigkeit, aber auch Entschlusswilligkeit des Menschen und macht ihn, die Bastionen der Gewohnheiten schleifend, schutzlos vor den zufälligen nächsten Reizen.»
Zijderveld meinte dazu: Jetzt ersetzen Klischees diese Institutionen, deren Stabilität von der Moderne unterminiert wurden; die Moderne schafft und nährt Klischees. Das Ergebnis: eine «clichegene Gesellschaft».
Dies ist eine Gesellschaft, deren Menschen von den Traditionen abgeschnitten sind. Die Traditionen gaben früheren Generationen Richtlinien zur Deutung ihrer Umwelt. Heute, da sich in dieser Welt Sinn und Werte ständig wandeln, fallen die Traditionen als Anhaltspunkte aus. Und so gerieten die Menschen in die Abhängigkeit des Haupterzeugers von Klischees: der Massenmedien. Selbst die besten Fernsehberichte oder Zeitungsartikel müssen relativierende Faktoren auslassen. Zum einen machen die knappen Platzverhältnisse eine wirklich umfassende Berichterstattung unmöglich, zum anderen sind ja auch die Journalisten Teil der «clichegenen Gesellschaft» und somit deren Unzulänglichkeiten unterworfen.
Noch nie zuvor war der sprichwörtliche Mann auf der Straße einer solch verwirrenden Vielfalt oft widersprüchlicher Fakten ausgesetzt. Er erfährt plötzlich, dass nicht nur ehemalige Sowjetrepubliken mit unaussprechlichen Namen miteinander im Konflikt liegen, sondern auch innerhalb dieser Republiken Gebiete mit noch exotischeren Namen gewaltsam ihre Unabhängigkeit durchzusetzen versuchen, usw.
Der «Mann auf der Straße» hat weder die Zeit, sich ausgiebig über diese Phänomene zu informieren, noch hat er den Zugang zur relevanten Literatur. Wohl oder übel müssen Journalisten und aus dem Boden gestampfte «Experten» die Bildungslücken des Publikums füllen. . . .
Der Massenblatt- oder Fernsehstar als stets auskunftsbereiter Experte für alles Neue ist ein weiteres Charakteristikum der Moderne. An die Stelle des oft unter Lebensgefahr vor Ort recherchierenden Reporters von früher sind Alleswisser getreten . . .
Um sich der lästigen und zeitraubenden Pflicht zu entledigen, rätselhafte Ereignisse zu erklären, greift der zeitgenössische Medienstar in seinen Vorrat an Klischees und fördert eine passende Phrase zutage, die dann sofort von seinen Kollegen übernommen wird. Und siehe, diese Phrase wird dann schnell Allgemeingut; es gehört zum Wesen des Klischees, dass es ständig wiederholt wird. . . .
Vielleicht werden künftige Historiker einmal die Auswirkung dieses Klischees auf die weiteren Ereignisse erforschen. . . .
Wenn es wirklich, wie Zijderveld sagt, eine Wahlverwandtschaft zwischen Klischees und der Moderne gibt, dann besteht eine ähnliche Affinität auch zwischen der Moderne und dem Begriff «Zeitgeist». . . . Und wie das Klischee dient er als Leuchtfeuer in der Verschwommenheit und Unsicherheit der modernen Gesellschaft; er gibt den Menschen, die auf dem Ozean der Instabilität schippern, die «korrekte» Position an, eine Position, nach der er sich orientieren kann – für den Augenblick.
. . . In dieser modernen Welt, schreibt Gehlen, würden Kunst, Recht und Religion subjektiviert und aufgeweicht, und die unsichtbaren Stützen ihrer eigenen seelischen Identität wurden zerstört. Der neue Bezugspunkt heißt Zeitgeist, und er tritt an die Stelle des unendlichen Bezugspunktes der prämodernen Gesellschaft: Gott.
Der Theologe Walter Künneth sagt: „Die heutige geschichtsnegative Grundhaltung ist bestrebt, an der Vergangenheit vorbei einen Neuanfang in der Menschheit zu wagen. An die Stelle der geschichtlichen Dimension soll eine völlig andere Lebenserwartung treten, nämlich die Vision einer geschichtsfreien Zukunft der Menschheit“. Künneth sieht in dieser Flucht aus der Geschichte >zugleich eine Flucht vor Gott<.
Joachim Fest formuliert es so: „Seit die christliche Botschaft ihre Macht eingebüßt hat, läuft die Suche auf nichts geringeres als einen Ersatz für Gott hinaus sowie auf ein Jenseits, das die Utopien in diese Welt verlegten“. . . .
So eng sind die Beziehungen zwischen Klischeedenken und dem Zeitgeist, das sie einander unaufhörlich befruchten. Der Zeitgeist zeugt ein Klischee, das dann wiederum den Zeitgeist fortpflanzt. . . .
II. Ein Klischee – Luther der Schurke
Das Klischee vom «Fürstenknecht» Luther ist so alt wie der Protestantismus. Das Copyright gehört Thomas Müntzer, Luthers großem Widersacher. Er erfand diese Vokabel während der Bauernkriege 1524–1526. Der Begriff «Fürstenknecht» stellt Luther als Prediger des Quietismus im Angesicht einer allmächtigen Obrigkeit hin. Luther wird unterstellt, er habe dem Herrscher das Recht zugesprochen, das Schwert mit brutaler Gewalt zu schwingen. . . .
Wie schrieb noch der britische Methodist Gordon Rupp, einer der bedeutendsten Luther-Kenner unserer Zeit? «Seit der Aufklärung gibt es in linken und liberalen Kreisen eine Tradition, die Luther … stets verabscheut hat.»
Zum Beispiel: Einer der beiden Urväter der modernen Linken, der deutsche Philosoph Friedrich Engels, hatte Müntzers «Fürstenknecht»-Etikett 1850 neu aufgelegt, und zwar in seiner Schrift Der deutsche Bauernkrieg. Im Zweiten Weltkrieg und danach gehörten solche Sprüche zum Repertoire eingefleischter Progressiver und solcher, die es schick fanden, eine Weile in ihrem Windschatten zu segeln, zum Beispiel Thomas Mann. . . .
Es war jedoch William L. Shirer, dessen Attacke auf den Reformator vor allem die angelsächsische Luther-Rezeption am nachhaltigsten beeinflußt hat. Er schrieb: „Dieser wilde Antisemit, in dessen ungestümem Wesen sich so viele der besten und schlimmsten Eigenschaften der deutschen Eigenschaften mischen – Grobheit, Hesftigkeit, Fanatismus, Intoleranz Gewaltsamkeit, aber auch Ehrlichkeit und Schlichtheit . . . – der das Leben der Deutschen im Guten wie im Schlechten schicksalhafter prägte, als irgendein einzelner Mensch vorher oder nachher. . .“
Shirer hat Thomas Mann sehr beeinflusst . . .
Mann: „. . .Luther ist der Begründer des modernen Nationalismus . . .“ – Dies ist ein Klischee mit üblen Folgen. . .
Bonhoeffer schrieb: „…der moderne Nationalismus ist ein Produkt der französischen Revolution…“ Die ja immerhin 250 Jahre nach Luther stattfand. . .
Auch Luthers angeblicher Antisemitismus ist ein Klischee. Ihm Rassismus vorzuwerfen ist ein Unding. Der junge Luther ermahnte die Christen, die Juden brüderlich zu behandeln . . . Wenn bei Luther im Alter eine Judenfeindlichkeit durchbrach, war dies rein theologisch begründet. Kurz vor seinem Tod verfasste er die schreckliche Schrift >Von den Juden und ihren Lügen<. . . . Dieses Traktat hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder große Betretenheit ausgelöst. Und ein überzeugter Lutheraner kann sich hier nur Gordon Rupp anschließen:
„Ich gestehe, dass ich mich schäme, . . , und ich muß sagen, dass deren Autoren dies bei Christus nicht gelernt haben, und dies, Gott Sei Dank, nicht der Hauptteil dessen ist, was sie uns mitzuteilen haben.“
Die Quellen des Klischees
. . . (Thomas Müntzer, Ernst Troeltsch, Reinhold Niebuhr, Paul Tillich, Th. Mann, Shirer, Wiener, Vansittard und ander mehr.) . . .
Luther – doch kein Schurke?
Es gehört zu den seltsamsten Aspekten des Luther-Klischees, dass sich seine Propagandisten so wenig darum scheren, wie viele potenzielle Relativierungen es auslässt. Der Vorwurf, Luther habe die Deutschen zur Duckmäuserei erzogen, übersieht seine unermüdlichen Ermahnungen an alle Christen, bei obrigkeitlichem Unrecht «das Maul aufzureißen». Der Vorwurf, er sei ein Kriegshetzer gewesen, übersieht, dass er alle Angriffskriege verurteilte und die Soldaten zum Ungehorsam aufforderte, wenn ihnen Befehle erteilt werden, die gegen die Gebote Gottes verstoßen.
Es ist wenig einleuchtend, dass Luther an den deutschen Misssetaten des Zweiten Weltkriegs mitschuldig sein soll, da doch die übelsten Missetäter des Dritten Reiches ursprünglich katholisch waren: Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Goebbels, Julius Streicher, Arthur Seyß-Inquart, Ernst Kaltenbrunner, Auschwitz- Kommandant Rudolf Höß, KZ-Arzt Josef Mengele!
Und apropos Quietismus: Haben sich nicht die Norweger oder Dänen, die viel einheitlicher lutherisch sind als die Deutschen, bei ihrem Widerstand gegen die Tyrannei gerade auf die Theologie Luthers berufen? Hat nicht andererseits das katholische Österreich, laut Nazi-Jäger Simon Wiesenthal, drei Viertel aller Kommandanten von Vernichtungslagern gestellt?
Fern liege es mir – dies sei hier mit größtem Nachdruck betont – die Verantwortung für den Holocaust vom Luthertum auf den Katholizismus abzuwälzen und damit ein neues Klischee in die Welt zu setzen. Mir geht es lediglich darum, auf eine Absurdität aufmerksam zu machen – die Absurdität des Vorwurfs, dass die Theologie einer christlichen Denomination einem Genozid den Weg geebnet habe.
Allein im 20. Jahrhundert sind Völkermorde von nominellen Protestanten, Katholiken, Orthodoxen, Muslimen und Buddhisten in Deutschland, der Türkei, Russland, China, Kambodscha, dem Irak und dem ehemaligen Jugoslawien verübt worden. Bisher ist noch niemand auf den Gedanken gekommen, diese Verbrechen mit den Lehren der Katholiken, Orthodoxen, nichtlutherischen Protestanten, Muslime oder der Buddhisten Südostasiens in Zusammenhang zu bringen.
Auf die Frage, wieso Menschen mit solch unterschiedlichen religiösen Traditionen mitunter so identisch blutrünstig sind, kann hier nicht einmal versuchsweise geantwortet werden; diese Frage ist auch nicht Gegenstand dieses Buches. Nur so viel sei dazu gesagt: Ich verneige mich vor Helmut Thielickes theologischer Erkenntnis, die wohl alle christlichen Konfessionen akzeptieren können, dass nämlich «ein Schuldverängnis über der Welt brütet, über ihren Kontinenten und Meeren».
Zurück zu Luther: Wer das Fürstenknecht-Klischee zerpflücken will, muss fairerweise zunächst das Selbstverständnis dieses Mannes zur Kenntnis nehmen. Carter Lindberg kommentierte: «Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts … sahen sich nicht als … Ethiker, Soziologen, Politiker oder Ökonomen, wenngleich sich ihre Tätigkeit häufig auf alle diese Gebiete erstreckte … Die Reformatoren waren … Pastoren und Theologen. Punkt! Und das trifft ganz besonders auf Luther zu.»
Das theologische Gewicht der Ordnung
Heinz-Eduard Tödt bezichtigt Luthers moderne Kritiker «fundamentaler Mängel in der Frageweise», wenn sie sich mit seinen Ansichten über die Obrigkeit auseinandersetzen: Sie interpretierten seine Schriften, oft unbewusst, «mit heutigen anthropologisch orientierten Begriffen und Sichtweisen». Dabei sei ihnen nicht hinreichend klar, wie entschieden theozentrisch (gottbezogen) Luther in dieser Frage dachte. Luther gab seinen Zeitgenossen «biblisch begründeten Rechtsunterricht».
Die Frage nach Gerechtigkeit löste zu Luthers Zeiten nicht weniger Verwirrung aus, als sie es heute tut. «Aber Luther konnte die Probleme seiner Zeit nur behandeln, indem er für seine Mitmenschen die Heilige Schrift, bezogen auf die konkreten Lebensfragen, auslegte», erläutert Tödt und macht zugleich darauf aufmerksam, dass «Luthers theologische Aussagen … bekanntlich nicht den Charakter scholastischer ‹Lehre›» haben.
Der Leipziger Theologe Franz Lau, dessen Lehre posthum die spezifisch lutherische Form des christlichen Widerstands in der DDR ganz entscheidend beeinflussen sollte, hat sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass denn auch «die lutherische Kirche … keinen unfehlbaren Luther kennt. Ein wenn auch nicht förmlich programmiertes Dogma von der Unfehlbarkeit Luthers wäre noch schlimmer als das von der Unfehlbarkeit des Papstes. Luthers Theologie neben oder gar über die Schrift stellen, bedeutete allerschlimmste Verleugnung Luthers».
Das soll natürlich nicht heißen, dass zum Beispiel Luthers Lehre von den beiden Reichen und Regimenten, von der gleich die Rede sein wird, nicht Teil jenes Bekenntnisses wäre, auf das alle lutherischen und die meisten anderen evangelischen Geistlichen in Deutschland ordiniert sind: der Augsburgischen Konfession. Aber sie hat nicht die Kraft einer Glaubensregel. Luther kommt es darauf an, seinen Mitchristen dabei zu helfen, ihre Lebensprobleme zu meistern; er berät sie; er gibt ihnen Richtlinien, während sie sich darum bemühen, richtig zu entscheiden, aber er macht niemandem die Auflage, ihm, dem Theologen, zu folgen. Er sagt ganz einfach, was in der Bibel steht.
Deshalb betont Luthers britischer Verteidiger Gordon Rupp: «Luthers Obrigkeitslehre kann nur verstehen, wer mit dem Studium des Römerbriefs, Kapitel 13, beginnt.» Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Wenn wir Luther verstehen wollen, müssen wir die erste Seite der Bibel aufschlagen, den Anfang der Schöpfungsgeschichte. Luther war ein Alttestamentler. Für ihn war die Heilige Schrift nicht nur eine Sammlung historischer Dokumente, sondern «Gottes Zeugnis von sich selbst». Sie ist die Geschichte der Transformation des Universums von Chaos in eine geordnete Welt. Folglich entspricht Ordnung dem Willen Gottes, und der Teufel will die Ordnung zerstören.
Das Resultat ist ein kosmischer Kampf, in dem der Mensch eine Art Schachfigur ist. In einem Akt unbegreiflicher Gnade hat Gott den Menschen «zu seinem Bilde» (imago Dei) geschaffen und ihm damit einen Sonderplatz in der Schöpfungsordnung zugewiesen. Aber wie die Geschichte des Sündenfalls zeigt, kann diese Gottähnlichkeit verlorengehen. «Der Mensch, der der Gefangene des Teufels ist, besitzt weder das imago Dei noch irgendeine Anlage hierfür», schreibt der schwedische Theologe Gunnar Hillerdal. «Es gibt keinen Teil seines Ichs, der höheren Ursprungs wäre, und durch den er sich von der übrigen Schöpfung unterschiede. Es verhält sich vielmehr so, dass er, in des Teufels Gewalt geraten, nunmehr dessen Bild trägt.»
Luther betont, dass der Mensch unfähig sei, sein eigenes Bild anzunehmen; dies ist ein Punkt, der nichtübersehen werden darf, wenn wir Luthers theozentrischer Stoßrichtung den Anthropozentrismus entgegenstellen, der bei seinen modernen Gegnern so weit verbreitet ist. «Der Mensch muss ein Bild sein entweder Gottes oder des Teufels. Denn nach welchem er sich richtet, dem ist er ähnlich», sagte Luther. «So ist’s nun hier so viel gesagt, das der Mensch am Anfang geschaffen ist ein Bild, das Gott ähnlich war, voll Weisheit, Tugend und Liebe … Nun ist er also nicht blieben, und das Bild ist umgekommen, und wir sind dem Teufel ähnlich geworden.»
Gott hat den Menschen als seinen «Cooperator» geschaffen, wie Luther sich ausdrückte, zu seinem Mitarbeiter. Moderne lutherische Theologen wie der Amerikaner Philip J. Hefner führen diesen Gedanken noch weiter: die gottgewollte Aufgabe des Menschen sei die des «Co-Creators», er sei also Gottes Partner im Schöpfungsprozess, der ja weiterlaufe. Durch diesen Mitarbeiter oder Mitschöpfer handelt Gott in der Welt. Damit der Mensch aber als Gottes «Cooperator» funktionieren kann, hat der Schöpfer eine Reihe von Ordnungsformen eingerichtet. Eine davon ist die Ehe, die dafür sorgt, dass das menschliche Leben fortgepflanzt wird. Eine weitere Ordnungsform ist die weltliche Obrigkeit. Sie ist ein Wall wider die destruktiven Kräfte des Teufels; sie verhindert Chaos und somit eine Rückkehr zu dem Zustand, aus dem Gottes Schöpferakt die Welt gerettet hat.
Dazu Hillerdal: «Um das weltliche Regiment aufzulösen oder ganz zu zerstören, werden von ihm [dem Teufel] Aufruhr und Krieg angestiftet, ja sogar die Kräfte der Natur angewandt. Vor allem aber sucht er, die Fürsten und weltlichen Herren zum Missbrauch ihrer Ämter zu verleiten. Denn die Ordnung, die Gott geschaffen hat, dient – auch wenn ihre Verwalter keine Christen sind – der Herrschaft Gottes auf Erden.»
Deshalb schreibt der Apostel Paulus in Römer 13,1: «Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.»
Um die Wichtigkeit der Regierenden hervorzuheben, weist Paulus ihnen einen Titel zu, den er für sich selbst in Anspruch nimmt: Sie sind leitourgoi gar Theou, Gottes Diener. Mit anderen Worten: Paulus und heidnische Politiker – er bezog sich auf die Regierung des Römischen Reiches – sind Kollegen.
Römer 13,1–7 und die entsprechende Perikope im 1. Petrusbrief (1. Petrus 2,13–17) sind die einzigen Passagen des Neuen Testaments, in denen mit einiger Ausführlichkeit auf die politische Ordnung eingegangen wird. Deshalb sind sie nicht nur die Grundlage für Luthers politische Vorstellungen; sie haben bereits im hohen Mittelalter die Ansichten der Theologen über weltliche Gewalt geprägt: Sie kommt von Gott, dem rex regum et dominus dominantinum (König der Könige und Herr der Herrschenden), was nicht ausschließt, dass Macht häufig genug missbraucht wird.
Aber die Erkenntnis, dass weltliche Macht von Gott verliehen wird, war kein originärer Gedanke des Apostels Paulus. Er bezog sich aufs Alte Testament und die Apokryphen, in denen immer wieder betont wird, dass Gott für sein Volk die Führer bestimmt (Psalm 2,6; 1. Samuel 13,14; 16,1.12; 2. Samuel 5,1–3).
In den Sprüchen Salomos (8,15) heißt es: «Durch mich regieren die Könige und setzen die Ratsherren das Recht.»
Und in Weisheit 6,3 steht: «Denn vom Herrn ist euch die Macht gegeben und Gewalt vom Höchsten, der fragen wird, wie ihr handelt, und erforschen, was ihr plant.»
Schließlich wies Jesus selbst auf die Quelle aller weltlichen Macht hin, als er zu Pontius Pilatus sagte: «Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben her gegeben wäre» (Johannes 19,11).
Die beiden Reiche
Die biblische Aussage, dass Gott derjenige sei, dem weltliche Herrscher ihre Macht verdanken, ist der Kern von Luthers Lehre von den beiden Reichen und Regimenten (oder: von den beiden Regierungsweisen Gottes). Diese Lehre wurde später auf elende Weise von den «Deutschen Christen» pervertiert und von Luthers Feinden böswillig verzerrt, so dass sogar einige lutherische Theologen sie verleugneten, weil ihnen der Missbrauch dieser Doktrin peinlich war.
Laut Luther führen alle Christen ein Doppeldasein; sie sind Bürger zweier Reiche: des geistlichen und des weltlichen.
Luther ist keineswegs der einzige namhafte Theologe, der zwischen den beiden Reichen unterscheidet. In De civitate Dei grenzt der Kirchenvater Augustinus den Staat Gottes und den Staat der Welt voneinander ab. Seit Kain koexistiert das Gottesvolk mit der civitas terrena, dem weltlichen Reich. Dort herrschen Ungerechtigkeit, Selbstsucht und exzessive Selbstliebe.
Die civitas Dei hingegen ist Gottes Welt: die Kirche, in der Christus regiert. Ihr Gesetz ist die Nächstenliebe bis hin zur Selbstverleugnung.
Der ehemalige Augustinermönch Luther hat bei Augustinus wesentliche Anleihen gemacht, als er seine Zwei-Reiche-Lehre formulierte, aber er hat dessen Konzept auch entscheidend verändert. In der mittelalterlichen Interpretation der augustinischen Lehre ist die civitas Dei einerseits die sichtbare, organisierte katholische Kirche und andererseits das endzeitliche Reich.
In Luthers Doktrin hingegen wird das geistliche Reich durch den Glauben eine Realität für den Christen. Es ist ein hörbares Reich, weil es durch das Wort zum Gläubigen gelangt; sichtbar wird es nur im Sakrament, dem sichtbaren Wort.
Luther geht von den Diskrepanzen zwischen den radikalen Forderungen der Bergpredigt und den Strukturen dieser Welt aus und schreibt folglich den beiden Reichen diese Eigenschaften zu:
1. Das geistliche Reich ist unendlich. Es ist das Reich des Deus revelatus, das Reich des in Christus offenbarten Gottes; es ist das Reich des Evangeliums, der Gnade, des Glaubens und der Liebe, ein Reich, in dem Gott und Christus herrschen und alle Menschen gleich sind. Dieses Reich ist eine Realität in dieser sündigen Welt. Es wird dort Wirklichkeit, wo das Wort verkündigt wird, die Sakramente gereicht werden und Christus den Gläubigen die Sünden vergibt.
Dieses geistliche Reich, das Reich der Kirche, wird nicht untergehen, sondern im eschaton glorreich vollendet werden. Bis dahin, sagt Luther, verhalten sich die beiden Reiche so zueinander: «… wie das geistliche Regiment die Leute nach oben weisen soll, wie sie Gott recht tun und selig werden, so soll das weltliche Regiment nach unten die Leute regieren und bewirken, dass Leib, Gut, Ehr, Weib, Kind, Haus, Hof und allerlei Güter in Frieden und Sicherheit bleiben und auf Erden selig sein können.»
2. Das weltliche Reich ist endlich. Es ist das Reich des Deus absconditus, des verborgenen Gottes. Hier wird er sich nie offenbaren, was aber nicht bedeutet, dass dies nicht auch Gottes Schöpfung wäre; das Reich der Welt darf nicht mit dem Reich des Bösen verwechselt werden; der Teufel ist des weltlichen Reiches bitterer Feind.
Franz Lau: «Dass dies eine Welt ist, in der Gott einen sehr seltsamen Mummenschanz treibt, ist deutlich; aber das ist ein echt lutherischer Gedanke. Luther hat uns deutlich genug gemacht, dass Gott reichlich Mittel weiß und braucht, damit seine Herrschaft in der irdischen Welt ihm nicht entgleite.»
Das bedeutet, dass Gott sich aus diesem Reich nicht zurückgezogen, sondern das «Schwert» der Obrigkeit übertragen hat. Unter dem Begriff «Schwert» versteht Luther «alles, was zum weltlichen Regiment gehört, als weltliche Rechte und Gesetze, Sitten und Gewohnheiten, Gebärden, Stände, unterschiedliche Ämter, Personen, Kleider, etc.».
In seinen Tischgesprächen bezeichnete Luther weltliche Obrigkeit als «ein Zeichen göttlicher Gnade, weil Gott barmherzig ist und sich nicht am Töten erfreut».
Im Reich der Welt sind nicht alle gleich. Hier, wo der Mensch sein zeitliches, biologisches Leben fristet, gibt es Vorgesetzte und Untergebene. Hier herrscht das Gesetz, das aber vom verborgenen Gott kommt. Hier regiert die Vernunft, von der Luther sagt, Gott habe sie zusammen mit Weisheit, Ehre und Glauben für diesen Zweck gestiftet.
Im Reich der Welt lebt der Mensch – in Dietrich Bonhoeffers Terminologie – etsi Deus non daretur, als ob es keinen Gott gäbe. Bonhoeffer schrieb: «Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertigwerden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)!
Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns, und hilft uns. Es ist (Matthäus 8,17) ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!»
Im Reich der Welt mögen die Machthaber gottlos sein; gleichwohl tun sie Gottes Werk, indem sie das Böse eindämmen, Chaos und Unordnung verhindern. Gewiss, dies ist ein sündiges Reich, gleichwohl wurde es als Bastion gegen die Sünde geschaffen. Hier werden Missetaten nicht vergeben, sondern bestraft.
Luther hat immer wieder betont, dass dieses Reich, obgleich eine ordinatio divina, also von Gott gefügt, nicht das Reich Gottes, Christi oder des Evangeliums sei; weltliche Herrscher müssen keine Heiligen sein. Luther betonte: «Es ist für den Kaiser ausreichend, wenn er Vernunft besitzt.»
Dies trifft auf alle Ebenen der Obrigkeit zu, wie Franz Lau klarstellt: «Das Amt bindet im Gehorsam nicht nur an den Vorgeordneten, sondern an Gott. Ein Familienvater, der treu seine Pflicht erfüllt, steht damit in Gottes Dienst. Sein Stand hat Gottes Wort, sogar wenn der Mann nichts glaubt und nichts von Gott wissen will. Ein Fürst, der sein Amt (redlich) verwaltet und (gerecht) seine Untertanen regiert, ist Gottes Willensvollstrecker, auch dann, wenn er ungläubig ist, katholisch ist oder epikuräisch lebt. Der Untertan, der gehorsam seine Pflicht erfüllt, gehorcht äußerlich einem Menschen . . . letztlich aber Gott, der heimlich hinter den irdischen Machthabern steht.»
Beide Reiche, obwohl getrennt, bestehen füreinander und dienen einander. Noch einmal Lau: «Das geistliche Reich schützt und stützt durch die Predigt des Evangeliums das weltliche Reich. Das Evangelium mahnt zum Gehorsam und preist ‹klärlich› das weltliche Regiment. Luther fühlt sich als Prediger verpflichtet und legt allen Predigern die Pflicht auf, das irdische Reich zu stützen. Das Predigtamt darf irdische Autorität nicht untergraben, sondern muss sie befestigen. […] Die weltliche Ordnung dient dem Predigtamt, der Verkündigung und damit dem Werden und Wachsen des Gottesreiches. Sie schafft dem Evangelium die Möglichkeit, gepredigt zu werden. Im wilden Chaos könnte das Wort nicht seinen Lauf machen.»
Aber Luther besteht darauf, dass die beiden Reiche peinlich voneinander getrennt werden; Artikel 28 des Augsburger Bekenntnisses verlangt dies ebenfalls. Dies ist ein Punkt, der in diesem Jahrhundert gar zu häufig übersehen wurde. Ein Beispiel dafür ist die Bereitschaft der «Deutschen Christen», sich der nationalsozialistischen Blut- und Rassenideologie zu unterwerfen. Ein weiteres Beispiel ist der auch nach dem Untergang des Dritten Reiches anhaltende Wildwuchs anthropozentrischer Ideologien in der Kirche, etwa des Feminismus, der geistlichen Überhöhung homoerotischer Praktiken, der marxistisch gefärbten Formen von Befreiungstheologie, der political correctness des gänzlich unlutherischen Pazifismus selbst dann, wenn es gilt, einem Völkermord Einhalt zu gebieten.
«Wir wollen aber lernen, das geistliche und weltliche Regiment so weit voneinander zu scheiden als Himmel und Erden», fordert Luther. Der sich ständig wiederholende Versuch, die beiden Reiche zu fusionieren, ist für ihn nichts anderes, als dem Teufel Tür und Tor zu öffnen:
«Solchen Unterschied dieser beiden Reiche muss ich immer neu einbläuen und einkäuen, eintreiben und einkeilen, obwohl so oft davon geschrieben und gesagt ist, dass es verdrießlich ist. Denn der leidige Teufel hört auch nicht auf, diese beiden Reiche ineinanderzukochen und zu brauen. Die weltlichen Herren wollen … immer Christus lehren und meistern. Ebenso wollen die falschen Pfaffen … immer lehren und meistern, wie man das weltliche Regiment ordnen soll. So ist der Teufel auf beiden Seiten sehr fleißig und hat viel zu tun. Gott möge ihm wehren, wenn wir’s wert sind. Amen.»
Eivind Berggrav, der als Bischof von Oslo den Widerstand der lutherischen Staatskirche in Norwegen gegen das faschistische Quisling-Regime anführte, hat dies in einen modernen Kontext gebracht:
«Wenn von Gott die scharfe Grenze zwischen dem Regiment, das mit der Ordnung zu tun hat, und dem Regiment, das mit den Seelen zu tun hat, gezogen worden ist, so nicht nur um der klaren Linien willen. Das hat einen tieferen Grund: Wenn diese Grenze nicht innegehalten wird, so hat Satan den Nutzen davon. Dann schleicht er sich ein und herrscht in beiden Reichen. Maßt sich die Obrigkeit Macht über die Seelen an, so vergreift sie sich an Gottes Angelegenheiten. Will die Kirche weltliche Macht haben, so gerät sie in die Gewalt des Bösen. Die Gefahr ist gleich groß für beide. Sowohl der Papst wie der Kaiser, der Staat wie die Kirche können dahin kommen, dem Teufel zu dienen.»
«Macht über die Seelen», «sich an Gottes Angelegenheiten vergreifen»: Dies sind hier die Kernaussagen. Es ist das Hauptanliegen der vielgeschmähten Zwei-Reiche-Lehre, den Christen von der weltlichen Einmischung in sein Verhältnis zu Gott zu befreien. Gleichzeitig will die Lehre aber Katholiken, Schismatiker, Häretiker und Nichtchristen vor der Verfolgung durch die weltliche Obrigkeit schützen. Luther: «Aber der Seele Gedanken und Sinne können niemandem außer Gott offenbar sein. Darum ist es umsonst und unmöglich, jemandem mit Gewalt zu gebieten, so oder so zu glauben.»
Selbst Ketzer, sagt Luther, sollen ungehindert predigen dürfen, solange sie keinen Aufruhr anstiften: «Ketzerei ist ein geistliches Ding, das man mit keinem Eisen hauen, mit keinem Feuer verbrennen, in keinem Wasser ertränken kann. Es gilt aber allein das Wort Gottes, dass … wie Paulus sagt (2. Korinther 10), ‹unsere Waffen sind nicht fleischlich, sondern mächtig im Dienste Gottes, Festungen zu zerstören›.»
Luther verulkte Machthaber, die mit Gewalt die reine Lehre durchzusetzen versuchten und damit genau das Gegenteil erreichten: «Darum sieh, wie kluge Junker mir das sind! Sie wollen Ketzerei vertreiben und greifen das in keiner andern Weise an, als dass sie den Gegner nur bestärken, sich selber in Verdacht bringen und jene rechtfertigen.» Luther betonte: «Ketzer verbrennen ist wider den Willen des Heiligen Geistes.»
Hier stellt sich nun die Frage, wer denn eigentlich der Reaktionär unter den Theologen der Reformationszeit ist: Luther, wie seine Gegner behaupten? Oder Müntzer?
Der Amerikaner Carter Lindberg entwickelt zu diesem Thema eine interessante Gedankenkette: Luther hat alle Ausdrucksformen des corpus Christianum, des Leibs Christi abgelehnt, und zwar die des mittelalterlichen Papsttums ebenso wie jene der radikalen Reformatoren Andreas Karlstadt und Thomas Müntzer – oder der Täufer. Luther tat dies aufgrund seiner eigenen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben. Ob nun Papsttum, ob Müntzer oder die Täufer: Sie alle behaupten, dass für die Entscheidung darüber, was Kirche ist und was nicht, politische Kriterien relevant sind. Sie unterstellen sogar, dass politische Programme mit dem Willen Gottes identifiziert werden können. Luther hat die Bauernkriege gerade deshalb abgelehnt, schreibt Lindberg, weil «aus seiner theologischen Perspektive das Evangelium allen ‹heiligen Kriegen› entgegensteht – und allen Versuchen, die Politik zu ‹taufen›».
Lindberg zog daraus dieses Fazit: Indem Müntzer versuchte, eine religiöse Legitimation politischer Handlungen wiederherzustellen, wurde er zum Reaktionär der Reformationszeit; er versuchte einen vorreformatorischen Zustand wieder herbeizuführen, in dem der Trennstrich zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Reich verschwommen und damit unzulänglich war. In Wirklichkeit ist in Lindbergs Augen nicht Müntzer, sondern Luther der Revolutionär. Denn Luther «hoffte den Christen freizumachen für den Dienst in einer Welt … voller politischer und ethischer Vieldeutigkeiten». Deshalb habe Luther scharf unterschieden zwischen menschlicher Gerechtigkeit, die sich nach Recht und fairen Gesetzen messen lasse, und der Gerechtigkeit vor Gott, die ein unverdientes Geschenk sei.
Somit ist die Lehre von den beiden Reichen eng mit Luthers Gnadenlehre verknüpft, mit dem sola gratia (allein aus Gnade), das die «Politik entideologisiert» (Lindberg) und den Staat entgötzt. Damit wird der Staat «in einem redlichen Sinne des Wortes ‹weltlich›», wie Franz Lau schrieb:
«Es wäre die größte Verkehrung von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, wenn der totale Machtstaat, der macchiavellistische Staat, der Staat Hitlers, der sich selbst vergötzende Staat als der ideale Staat nach Luther angesehen würde . . . Vergötzung der politischen Welt von Luther her zu begründen, ist nur möglich unter seltsamem Missverstehen Luthers. Auf das Gegenteil will Luther hinaus.»
Bischof Berggrav, der Widerständler, dachte genauso. Im Jahre 1941, als Hitlers Marionette Vidkun Quisling in Norwegen regierte, sagte Berggrav auf Pfarrerkonventen und Gemeindetagen: «Will der Staat total sein, das heißt, will er selbst Lebensanschauung sein und eine Lebensauffassung erzwingen, dann ist nach Luther der Teufel los. Dann fordert der Staat für sich den Glanz des Heiligen, dann setzt sich der Staat an Gottes Stelle, dann ist er Antichrist. Nur solange die Obrigkeit selbst Gott zu ihrer Obrigkeit hat, ist sie Obrigkeit nach Gottes Ordnung.»
Wie wir sehen, ist Luther also genau das Gegenteil von dem, was Ernst Troeltsch und Thomas Mann aus ihm machen: Er ist keineswegs im Mittelalter stecken geblieben, sondern hat vielmehr auf revolutionäre Weise die Kirche und den Staat von den Ketten befreit, die sie aneinander gefesselt hatten. Thomas Müntzer wollte ihnen diese Ketten wieder anlegen.
Shirer irrte, als er Luther «Fanatismus und Intoleranz» unterstellte; tatsächlich wollte Luther den Staat von der Ideologie und Menschen anderen Glaubens von der Angst vor dem «Meister Hans» befreien – dem Henker. Müntzer hingegen sprach ihnen das Lebensrecht ab, und ein buntes Gemisch von Utopisten folgte in seinen Fußstapfen; die Nationalsozialisten und die Kommunisten waren dafür das jüngste Beispiel.
Luther war entsetzt, als Kaiser Karl V. das Evangelium mit Hilfe des Schwertes verbreiten wollte. Für Luther war dies ein Rückfall ins Mittelalter. Er riet den Christen, die Heere der kaiserlichen Kreuzzügler wie den Teufel zu meiden, empfahl den Soldaten, zu desertieren, und machte einen Vorschlag, der modernen Ohren vertraut vorkommt: Die für die Kreuzzüge gegen die Türken vorgesehenen Mittel wären besser für den Bau von Schulen und die Bildung der Kinder angelegt. Müntzer war hingegen durchaus zum Blutvergießen bereit, um dem Gottesreich den Weg zu ebnen.
Der friedensbewegte Historiker Richard Marius, von dem im letzten Kapitel die Rede war, der Mann, der bei seinen Fahrten durch Tennessee «Tag und Nacht mit nachgerade devoter Intensität auf Luther blickte» und keine passenden Worte zum Vietnam-Krieg hörte – nun, dieser Richard Marius hat nicht scharf genug geguckt. Manches von dem, was der Reformator gesagt hat, hätte sich durchaus im Sinne dieses Kriegsgegners auslegen lassen. Andererseits hätten auch Befürworter des amerikanischen Engagements in Indochina in Luthers Schriften über Krieg und Frieden Trost gefunden. Denn Luther war ja nur gegen Aggressionskriege. Es kommt also ganz darauf an, wen der Betrachter für den Aggressor in Vietnam hält; aber dies steht hier nicht zur Debatte.
Gleichwohl hat Luther sogar für dieses Dilemma eine Antwort, die gerade in unserer postfaschistischen und postkommunistischen Ära hochaktuell ist. Auf die Frage, ob ein Christ Befehlen gehorchen muss, von denen er weiß, dass sie gegen Gottes Gebot verstoßen, erwidert Luther: Absolut nicht!
Der Christ schuldet Gott mehr Gehorsam als dem Menschen und muss deshalb verbrecherische Befehle verweigern, selbst wenn er damit sein Leben und seine weltliche Habe verwirken sollte. Andererseits sündigt der Christ auch nicht, wenn er im guten Glauben an einem Krieg teilnimmt, der sich hernach als ungerecht erweist.
Widerstand a la Luther
Warum eignet sich Luthers Lehre so famos, zu Klischees reduziert zu werden? Weil sie reich an relativierenden Faktoren ist, die von Klischeeschöpfern und -krämern ausgelassen werden können. Mit anderen Worten: Zwar ist die Lehre ungemein komplex, aber jede ihrer Komponenten klingt plausibel genug, ein Stereotyp abzugeben. Wer aber fair mit Luther verfahren will, merkt sehr schnell, wie wenig seine Lehre so «atomisiert» werden kann, dass aus dem «Einzelsatz . . . weittragende Folgerungen gezogen werden», schreibt Lau, denn «Luthers Rede ist immer dialektisch». Andererseits ist aber Luthers Sprache, das hyperbolische sächsische Idiom des 16. Jahrhunderts, klar genug, sowohl von Bauern als auch von Patriziern und Adeligen verstanden zu werden; schließlich ist er zuallererst ein Prediger.
Dies wird insbesondere deutlich, wenn wir uns mit Luthers Ansichten darüber auseinandersetzen, ob, wann und wie sich ein Christ den Machthabern widersetzen darf oder gar muss. War er wirklich ein Prediger «widerspruchslosen Gehorsams», wie der «düstere Dekan» Inge behauptete?
War er ein «Erzieher seines Volkes zur Untertänigkeit», wie Thomas Mann sagte? War er wirklich der «Quietist», den Troeltsch und Niebuhr aus ihm machten?
Wer mit dem üppigen Verbosität des 16. Jahrhunderts, namentlich der Sachsen, nicht vertraut ist und ohne Wenn und Aber Luthers Aufruf an die Fürsten liest, die Bauern zu «stechen, schlagen, würgen», dem muss es in der Tat scheinen, dass alle diese Vorwürfe richtig sind. Aber wenn wir verhindern wollen, dass dies zu einem Klischee degeneriert, müssen wir eine Reihe relativierender Faktoren bedenken:
1. Die Sprache: Die Sachsen, zu denen auch ich mich zähle, ergötzen sich gern an der Kunst des Overstatements, und vor 400 Jahren taten sie es noch mehr als heute. In ihrer unnachahmlichen Selbstironie beschreiben Sachsen ihre Art, sich zu artikulieren, wie folgt: «Ginnlade ausfahrn, ’nauslaufn lassen.» Sie machen aus ihren Herzen keine Mördergrube und gehen davon aus, dass ihre derben Sprüche verstanden und cum grano salis (mit einem Korn Salz) aufgenommen werden.
Ein gutes Beispiel dafür ist Luthers vielzitierter, womöglich aber apokrypher Ausspruch, ein guter Prediger müsse die «Zitzen über die Kanzel hängen lassen, auf dass die Gemeinde daran sauge». In den empfindlichen angelsächsischen Ohren des 20. und 21. Jahrhunderts – aber gewiss nicht des 16. – mag dies «grob und unflätig» klingen; aber Sachsen verstehen und lieben solche urigen Reden, wie sie übrigens nicht nur Luther meisterlich beherrschte, sondern auch seine Todfeinde Müntzer und Tetzel, der Ablasskrämer; beide waren Sachsen.
Das will nicht heißen, dass Luther nicht wirklich der Ansicht gewesen wäre, die Rebellen hätten die Todesstrafe verdient. Aus seiner theologischen und juristischen Sicht waren sie schlimmer als Mörder. Denn im Gegensatz zum gewöhnlichen Mörder greift «ein Aufrührer aber . . . nach dem Schwert, um es zu missbrauchen, anders denn es Gott eingesetzt und verordnet hat …» Will heißen: Anders als ein ordinärer Gewaltverbrecher greift der Rebell nach weltlicher Macht. Aber wie Luther es auch immer formuliert haben mag: Letztlich forderte er nicht mehr, als dass das Recht seinen Lauf nehme, um die Anarchie zu verhindern beziehungsweise zu stoppen.
2. Luthers gleichermaßen hartes Urteil gegen die Fürsten: Unmittelbar vor seinem Aufruf zur blutigen Unterdrückung des Bauernaufstandes hatte er die Fürsten angeklagt, diese Insurrektion durch ihr hochmütiges Verhalten ausgelöst zu haben:
«… denn ihr schindet und schröpft, eure Pracht und Hochmut zu führen, bis der arme gemeine Mann es nicht ertragen kann oder mag. Das Schwert ist euch auf dem Halse; noch meint ihr so fest im Sattel zu sitzen, dass man euch nicht ausheben könne. Solche Sicherheit und Vermessenheit wird euch den Hals brechen, das werdet ihr sehen. Ich hab’s euch zuvor vielmal verkündigt: Ihr soll euch hüten vor dem Spruch in Psalm 107,40: «… Er schüttet Verachtung auf die Fürsten.»
Dies ist ebensowenig die Sprache eines Duckmäusers wie sein Appell an die Fürsten, mit kapitulierenden Bauern gnädig zu verfahren oder wie seine Standpauke an die Adresse der Obrigkeit: Er prangerte «die wütenden, rasenden und unsinnigen Tyrannen» an, die «auch nach der Schlacht des Blutes nicht satt werden können». Zwar sei er schon zuvor besorgt gewesen, was geschehe, wenn die Bauern die Macht an sich rissen: Dann würde der «Teufel Abt werden». Aber wenn solche Tyrannen die Herrschaft übernähmen, mache sich des Teufels Mutter zur Äbtissin. Er fuhr fort: «Deshalb hätte ich beides gern, die Bauern zur Ruhe gebracht und die fromme Obrigkeit unterrichtet. Nun aber wollten die Bauern nicht hören. Wohlan, sie werden ihren Lohn auch haben … Höllisches Feuer, Zittern, Zähneklappern in der Hölle werden ihr ewiger Lohn sein, sofern sie nicht Buße tun.»
3. Das biblische Verbot des Aufruhrs: Luther hatte viele Forderungen der Bauern unterstützt. Aber als sie gewalttätig wurden, als sie auszogen, die Junker zu ermorden und ihre Burgen zu brandschatzen, empörten sie sich gegen die von Gott gestiftete Ordnung, wie sie seit dem Anfang dieser Welt besteht. Sie verstießen gegen Christi Befehl: «So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist» (Matthäus 22,21) und gegen die Anweisung des Apostels Paulus: «Jedermann sei untertan der Obrigkeit» (Römer 13,1). Indem sie mordeten und plünderten, brachen sie Gottes Gebot auf die abscheulichste Weise: Sie erhoben das Schwert gegen Gottes Wort. Obendrein verschlimmerten sie ihre Verbrechen noch dadurch, dass sie diesen Frevel «im Namen des Evangeliums» begingen und sich selbst «christliche Brüder» nannten. In Luthers Augen war das Blasphemie.
Verlangt Luther also von uns, dass wir uns der Regierung in allem fügen, nur weil die Obrigkeit von Gott eingesetzt worden ist? Keineswegs, sagt Franz Lau: «Luther ist nicht der Lehrer eines stummen Untertanengehorsams, sondern einer fast tollkühnen Opposition gegen alles obrigkeitliche Unrecht . . .
Er erhebt seine Stimme gegen alle Vergewaltigung des Rechts und gegen alle Gottlosigkeit . . . Er greift den Politikern wohl ins Maul, pfuscht ihnen jedoch nicht ins Handwerk.» Berggrav denkt ebenso: «Wer schweigt, macht sich mitschuldig. Er täuscht Gott. Wenn sie die Machtüber uns haben, darf uns das nicht hindern.»
In der deutschen Besatzungszeit erinnerte Berggrav die norwegischen Pfarrer an Luthers Auftrag an alle Christen, die gegen ihre Obrigkeit opponierten: «Ihr Mund sei Christi Mund.» Luther predigte keinen Quietismus; im Gegenteil: Mit saftiger Wortwahl schalt er quietistische Prediger ungläubige Schweine. «Denn es sind jetzt gar viele Bischöfe und Prediger im Predigtamt, die aber nicht stehen und Gott nicht treulich dienen, sondern lügen und sonst ihren Scherz damit treiben. Das sind die faulen und unnützen Prediger, die den Fürsten und Herren ihre Laster nicht sagen. Etliche, weil sie es gar nicht achten; solche schnarchen im Amt, tun nichts, das zu ihrem Amt gehört, nur dass sie wie die Säue den Raum füllen, an dem sonst gute Prediger stehen sollten.»
Aber nicht nur die Geistlichkeit hat die Pflicht, ungerechte und gnadenlose Herrscher anzuprangern; auch der einfache Bürger ist gehalten, dies zu tun, wenngleich in aller Demut. Gott verlangt von uns, sagt Luther, dass wir für Gerechtigkeit, Wahrheit und unsere Überzeugungen mutig eintreten; Zivilcourage ist unverzichtbare Christenpflicht.
Deshalb machte Dietrich Bonhoeffer eine eminent lutherische Aussage, als er in seinen Gefängnisbriefen den Mangel an Zivilcourage im Dritten Reich beklagte und fortfuhr: «Civilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Mannes erwachsen. […] Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.»
Allerdings darf der Christ, laut Luther, nicht weiter gehen, als frei seine Meinung zu sagen. Er muss es dann Gott überlassen, in Aktion zu treten. Luther begründet seine Forderung nach verbalem, aber friedlichem Widerstand mit dem Jesus-Wort in Johannes 18,23: «Dass er aber zum Knecht spricht: ‹Habe ich übel geredet, so beweise es›, das sollst du also verstehen, dass ein großer Unterschied sei zwischen diesen zweien: den anderen Backen herhalten, und mit Worten strafen den, der uns schlägt. Christus soll leiden, gleichwohl ist ihm das Wort in den Mund gelegt, dass er rede und strafe, was unrecht ist. So mir jemand vor Gericht einen Backenstreich gäbe, soll ich die Wahrheit bekennen. Und ob ich gleich zehn Backenstreiche empfinge, sollte ich dennoch nicht von der Wahrheit weichen … Darum soll ich den Mund und die Hand voneinander scheiden. Das Maul soll ich nicht hingeben, dass ich das Unrecht billige; die Hand aber soll stille halten und sich nicht selber rächen.»
Dies führt uns zu einem Aspekt in Luthers Widerstandslehre, den Troeltsch für besonders verwerflich hält: Während der Christ für den Nächsten eintreten muss, darf er für seine eigene Sache nicht kämpfen. Troeltsch sieht darin einen Beweis für Luthers «doppelte Moral». Aber in Wirklichkeit bezieht sich Luther auch hier auf die Bibel: Er zieht aus Christi Beispiel und der Bergpredigt den Schluss, dass der Gläubige aufgerufen ist, nicht zu richten, sondern zu leiden. So ist die Welt nun einmal geordnet, dass der Mensch sich nicht gleichzeitig richten und freisprechen kann. Aufruhr verstößt gegen diese Grundordnung: Jeder wird dann Richter und Henker zugleich. Damit aber, sagt Luther, sei die Welt in ihren Grundfesten bedroht.
Dies entspricht denn auch Luthers Kreuzestheologie, wie Gunnar Hillerdal betont: «Indem der Christ in der Übernahme von Leiden und Kreuz seinem Herrn nachfolgt, wird er auch dessen Herrlichkeit schauen. Deshalb streitet der Christ niemals für sich selbst und seine eigene Sache, sondern erleidet Unrecht, Schmach und Pein, wie sein Herr am Kreuz. Wo Christus für einen Menschen eintritt, da bedeutet es wenig oder gar nichts, wenn ihn Unglück und Ungerechtigkeit treffen. Die Freiheit und Freude eines solchen Menschen sind dann in Christus begründet und weder von dem irdischen Erfolg abhängig noch von der Achtung und Ehre, die andere Menschen ihm zollen oder verweigern.»
Da Luther die meisten Machthaber ohnehin für Toren und Schurken hielt, ging er davon aus, dass der freiwillige Gewaltverzicht des Christen ihm höchstwahrscheinlich Leid und Unterdrückung bescheren wird. Aber dies, sagt Luther, ist ganz einfach eine Konsequenz des Eintretens für Gerechtigkeit und Wahrheit; der Gläubige hat diese Konsequenz zu akzeptieren. Und obgleich Christen nicht verpflichtet sind, ungerechte Aktionen ihrer Machthaber mitzumachen, müssen sie passiven Widerstand leisten; sie dürfen nicht rebellieren.
Dies ist übrigens eine goldene Regel, in der Luther, Calvin und die anglikanische Doktrin des 17. Jahrhunderts übereinstimmen. Was anglikanische Theologen wie Temple und Inge bei ihrer Kritik an Luther übersehen, ist der Kanon ihrer eigenen Kirche aus dem Jahr 1640. Dort heißt es: «Gegen den König die Waffe zu erheben, ist Widerstand gegen Gottes Ordnung, ganz gleich, unter welchem Vorwand das geschieht.»
Luther macht in seiner Opposition gegen bewaffneten Widerstand auch Ausnahmen; von ihnen wird gleich noch die Rede sein. Aber Aufruhr kann nie geduldet werden, weil er gegen das Naturgesetz verstößt. Hillerdal schrieb dazu: «Luthers Lehre von der lex naturae (dem Naturrecht) will vor allem dem Gedanken Ausdruck verleihen, dass Gott sein Gesetz in aller Menschen Herzen geschrieben hat und dass ihm deshalb niemand entfliehen kann. Wer gegen Gottes Willen verstößt, wird von dem natürlichen Gesetz angeklagt. Das natürliche Gesetz dient ferner als Erkenntnisquelle. Aus ihm kann zwar nicht direkte Gotteserkenntnis gewonnen werden, wohl aber eine Art moralischer Vernunft, die den Menschen anweist, wie er sich in bestimmten Situationen zu verhalten hat.»
Lord Vansittarts Behauptung, dass Luther die Vernunft hasse und folglich alle Deutschen unvernünftig seien, ist also Unsinn.
Das Gewicht der Vernunft in Luthers Theologie kann gar nicht hoch genug eingestuft werden. Gewiss, die Vernunft unterliegt wie alles im weltlichen Leben der Sünde. Die Vernunft ist «das Haupt aller Dinge … und – gemessen an den übrigen Dingen des Lebens – das Allerbeste, ja etwas Göttliches».
Die Vernunft ist eine Kraft, welche die von Gott am Anfang aller Zeiten geschaffene Ordnung aufrechterhält. «Gott hat das weltliche Regiment der Vernunft unterworfen», schreibt Luther, «weil es … leibliche und irdische Güter regieren soll, welche Gott nach 1. Mose 2,8ff. den Menschen unterwirft».
Selbst die Machthaber der Heiden lassen sich von Vernunft leiten. «Die Vernunft und der natürliche Verstand sind das Herz und die Kaiserin der Gesetze, die Brunnquelle, daraus alle Rechte kommen und fließen.»
Die Vernunft ermöglicht es dem Menschen, in dieser Welt, wie Bonhoeffer es formulierte, etsi Deus non daretur (als ob es Gott nicht gäbe) zu leben. Hier ist sie «schön und herrlich», sagt Luther, und doch gehört sie «in das Weltreich alleine».
«In zeitlichen Dingen und Dingen … die den Menschen angehen», sagte Luther, «da ist der Mensch vernünftig genug, da bedarf er keines anderen Lichtes denn der Vernunft. Darum lehrt auch Gott in der Schrift nicht, wie man Häuser bauen, Kleider machen, heiraten, Krieg führen oder dergleichen tun soll, denn da genügt das natürliche Licht [die Vernunft]».
Alles, was der Vernunft widerspricht, richtet sich aber «mit noch größerer Kraft gegen Gott»; denn «wie könnte etwas nicht gegen die himmlische Wahrheit sein, wenn es … schon gegen die irdische Wahrheit ist?»
Daraus folgt: «Aufruhr hat keine Vernunft und geht gemeiniglich mehr über die Unschuldigen denn über die Schuldigen. Darum ist auch kein Aufruhr recht, wie rechte Sache er immer haben mag … Und folgt allzeit mehr Schaden denn Besserung daraus.»
Aufruhr sei die Herrschaft des Pöbels, der die von Gott gestiftete Ordnung aufzulösen versucht und folglich «nicht christlich» ist.
«Der Pöbel hat und weiß kein Maß, und in einem jeden stecken fünf Tyrannen. Nun ist’s besser, von einem Tyrannen, das heißt von der Obrigkeit, als von unzähligen Tyrannen, das heißt vom Pöbel, Unrecht zu erleiden.»
Es gibt allerdings eine Ausnahme von der Regel, dass der Christ der Obrigkeit gehorchen muss: «Das ist wohl billig … wo etwa ein Fürst, König oder Herr wahnsinnig würde, dass man denselbigen absetze und verwahrete; denn er ist nun fortmehr nicht mehr für einen Menschen zu halten, weil die Vernunft dahin ist.»
Aber auch die Aufgabe, einen wahnsinnig gewordenen Machthaber gewaltsam abzusetzen, darf nicht dem Pöbel zufallen. Für diesen Akt gibt es eine unverzichtbare Voraussetzung, wie Walter Künneth erläutert:
«Den Weg gewaltsamer Mittel zu bedenken und zu realisieren ist nur eine Möglichkeit für Persönlichkeiten, die sich in einer verantwortlichen Position im Staatsgefüge befinden oder als einstige Amtsträger daran teilhatten … Auch der einfache Staatsbürger kann, bedingt durch den Umstand der Verhältnisse, in eine solche Amtsstellung hineinwachsen. Wesentlich aber ist die Erkenntnis einer gegliederten, abgestuften Verantwortung.»
Ähnliches riet Bischof Berggrav dem Grafen Helmuth James von Moltke, als dieser ihn fragte, ob Tyrannenmord theologisch gerechtfertigt sei. Dem deutsch-amerikanischen Historiker Klemens von Klemperer (1916–2012) zufolge antwortete der Bischof:
Die Attentäter müssten «imstande sein … Hitler zu töten und zugleich eine neue Regierung zu bilden, die Frieden schließen könne». Er fügte allerdings hinzu, zum gegebenen Zeitpunkt, im Frühjahr 1942, sei es dafür zu spät gewesen.
Gottes «Wundermänner» und des Teufels Gäuche
Künneth und Berggrav verweisen damit auf einen der wichtigsten Aspekte in Luthers Obrigkeitsdenken: Einerseits müssen Gottes Kinder «ihre Tyrannen nicht allein ertragen, sondern auch für sie beten und ihnen alles Gute gönnen und tun»
Andererseits ist Luther davonüberzeugt, dass eine unerträgliche Tyrannei nicht von Bestand ist. Dazu Franz Lau: «Darum kümmert sich Gott selber. Er hat eine heimliche Weise, solche gräuliche Verheerung seiner Ordnung wieder zurechtzubringen. Er straft einen Buben mit dem anderen. Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen. Das ist Gottes heimliche Ordnung, die Ordnung des Magnifikat.»
Vernachlässigen Tyrannen ihre Pflicht, den Gerechten zu schützen und den Bösewicht zu strafen, dann schickt ihnen Gott Feuer oder plötzlichen Tod. Oder er schickt einen «Wundermann», wie Luther in seiner Auslegung des 101. Psalms ausführlich darlegt. Der Begriff «Wundermann» bedeutet nicht, dass dieser Gesandte Gottes Wunder vollbringt; der Ausdruck bezieht sich vielmehr auf das göttliche Wunder der Erscheinung eines solchen begnadeten Menschen. Der «Wundermann» hat einen afflatus, einen Hauch vom Heiligen Geist; er ist im weltlichen Reich das, was der Prophet im geistlichen Bereich ist: ein besonderes Geschenk Gottes.
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hatte unter manchen lutherischen Theologen in der früheren DDR und im Baltikum eine Debatte darüber ausgelöst, ob Luthers Definition eines Wundermannes womöglich auf Gorbatschow zutreffe: «Es ist eine hohe Gabe, wo Gott einen Wundermann gibt, den er selbst regiert.»
Aus aktuellem Anlass ist es also nützlich, noch einmal bei Luther nachzulesen, was er mit dieser Vokabel meint:
«Etliche, die Gott selbst lehrt und erweckt, haben einen besonderen Stern vor Gott. Dieselben haben alsdann auch guten Wind auf Erden und, wie man’s nennt, Glück und Sieg. Was sie anfangen, das geht fort; und wenn alle Welt widerstreben sollte, so muss es doch ungehindert hinausgehen. Denn Gott, der’s ihnen ins Herz gibt, ihren Sinn und Mut treibt, der gibt’s ihnen auch in die Hände, dass es geschehen und ausgerichtet werden muss. So Simson, David, Jojoda und dergleichen. Und nicht allein unter seinem Volk gibt es zuweilen solche Leute, sondern auch unter den Gottlosen und Heiden, und nicht allein in Fürstenständen, sondern auch in Bürger-, Bauern- und Handwerksständen. So im Perserreich den König Cyrus, in Griechenland den Fürsten Themistokles und Alexander den Großen, bei den Römern die Kaiser Augustus, Vespasian und dergleichen … Solche Leute heiße ich nicht gezogene und gemachte, sondern von Gott geschaffene und von Gott getriebene Fürsten und Herren.»
In Luthers Augen war auch sein Beschützer, «Herzog Friedrich selig, Kurfürst zu Sachsen . . . dafür geschaffen, als ein weiser Fürst im Frieden zu regieren». Ein Wundermann muss kein Heiliger sein, wie die Geschichte Davids zeigt: «Er … fiel selbst in Ehebruch, Mord und große Sünde gegen Gott.»
Nein, das Merkmal eines Wundermannes ist ganz einfach die ungewöhnliche Natur seines göttlichen Auftrages.
Hillerdal kommentierte: «Ein solcher Auftag kann in der Vernichtung einer ungerechten Obrigkeit bestehen. Weil jedoch der Wundermann nur Werkzeug Gottes ist, darf er aus dem Sieg, den er errungen hat, für sich selbst keinerlei Nutzen ziehen. Er hat zu handeln wie ein Fremdling, der aus einem fremden Land fremden Menschen zu Hilfe eilt.»
Ist denn nun das Werk eines von Gott gesandten und mit viel Vernunft und Weisheit ausgestatteten Wundermannes endgültig? Kann es nie wieder rückgängig gemacht werden? Das wäre im höchsten Maße unlutherisch gedacht. In seiner bildreichen Sprache erläuterte Luther: «Aber so geht es in der Welt zu:
Wo Gott eine Kirche baut, da kommt der Teufel und baut daneben seine Kapelle, ja wohl unzählige Kapellen. Wo er einen Mann [Wundermann] gibt im geistlichen oder weltlichen Stande, da bringt der Teufel seine Affen und Gäuche [Narren] auch zu Markt, die alles nachtun wollen, und wird doch lauter Affenspiel und Gaukelwerk daraus.»
«Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen», schrieb der Lutheraner Dietrich Bonhoeffer in seiner Gefängniszelle. Aber es wäre wiederum unlutherisch gedacht, hielten wir dies für das letzte Wort im Drama von Gottes verborgenem Wirken im Reich der Welt. Hier sei noch einmal Bonhoeffer zitiert: «Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. […] Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind …»
Wann bewaffneter Widerstand erlaubt ist
Dietrich Bonhoeffer war freilich bereit, über passiven Widerstand hinauszugehen, um die Welt von einem verbrecherischen Machthaber zu befreien. Zwar war Bonhoeffer theologisch ein orthodoxer Lutheraner; gleichwohl befürwortete er schon sehr früh die Attentatsversuche gegen Hitler.
Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde er gefragt, was er denn von dem Jesus-Wort halte: «Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen» (Matthäus 26,52).
Bonhoeffer erwiderte, das gelte auch für den Verschwörerkreis: «Wir müssen akzeptieren, dass wir diesem Gericht verfallen.»
Aber jetzt würden Menschen gebraucht, welche die Gültigkeit dieser Aussage auf sich nähmen.
Hatte sich Bonhoeffer damit von Luther entfernt? Keineswegs, sagt Eberhard Bethge, der diesen Vorgang in seiner Bonhoeffer-Biografie schildert. Bethge erzählte mir, Bonhoeffer habe bei dieser Gelegenheit gesagt, jetzt erst habe er das volle Gewicht des lutherischen Imperativs pecca fortiter (sündige mutig!) erfasst.
Dieser Ratschlag, den der Reformator am 1. August 1521 in einem Brief an seinen engen Freund Philipp Melanchthon niederschrieb, wird oft aus dem Zusammenhang gerissen und dann als schreckliches Klischee gegen Luther verwandt, zum Beispiel von Peter F. Wiener.
Er stellte Luther damit nicht als Prediger des Evangeliums, sondern der Sünde dar. Aber natürlich muss auch diese Aussage in ihrem vollen Wortlaut gelesen werden. Dann wird auf einen Nenner gebracht, wie der Christ in dieser Welt leben soll – hier auf Erden, wo er nicht umhin kann, ein Sünder zu sein:
«Sei ein starker Sünder und habe starke Sünden, aber vertraue noch viel stärker und freue dich in Christus, welcher der Sieger ist über die Sünde, den Tod und die Welt. Wir müssen sündigen, solange wir sind, was wir sind; dieses Leben ist kein [Wohn-] Ort der Gerechtigkeit [ontisch verstanden]; wir warten aber, sagt Petrus, auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.»
Indem er dem Christen das Recht zusprach, das Schwert gegen einen bösen Machthaber zu erheben, knüpfte Bonhoeffer an die gnesio-lutherische Tradition an, die auf die Hugenottenkriege gegen Ende des 16. Jahrhunderts einen großen Einfluss hatte. Der Name dieser Tradition geht auf das griechische Wort gnesios zurück, das wahr oder echt bedeutet.
Sie hat ihren Ursprung im Gesinnungswandel des reifen Luthers in der Widerstandsfrage während des Augsburger Reichstags am 30. Juni 1530. Karl V. stellte den lutherischen Ländern ein Ultimatum:
Binnen sechs Monaten müssten sie zur römischen Lehre zurückkehren. In der Zwischenzeit dürften die Lutheraner weder religiöse Schriften publizieren, noch andere zu ihrem Glauben bekehren. Außerdem hätten sie mit den Katholiken gemeinsame Front gegen Sakramentarier und Täufer zu machen.
Luther war während des Reichstages auf der Veste Coburg – und tobte. Er hielt Karls Bedingungen für unannehmbar und rechnete damit, dass der Kaiser versuchen werde, sie nach Ablauf des Ultimatums mit Waffengewalt durchzusetzen. Und so formulierte er seine Warnung an seine «lieben Deutschen», sich um ihres lieben Seelenheils willen auf so etwas nicht einzulassen. Der Kaiser habe keine Gewalt in geistlichen Fragen. Wo es ums Evangelium gehe, habe der Christ Gott und nicht einem Menschen zu gehorchen.
In dieser «Warnung» sanktioniert Luther ausdrücklich den bewaffneten Widerstand gegen den Monarchen und geht damit von einigen seiner früheren Positionen ab:
«Wo es zum Kriege kommt, da Gott vor sei, so will ich das Teil, das sich wider diese mörderischen und blutgierigen Katholiken zur Wehr setzt, nicht aufrührerisch gescholten haben noch schelten lassen, sondern will’s gehen und geschehen lassen, dass sie es eine Notwehr nennen, und will sie dafür aufs weltliche Recht und an die Juristen weisen. Denn in solchem Fall, wenn die Mörder und Bluthunde ja Krieg führen und morden wollen, so ist’s auch in Wahrheit kein Aufruhr, sich gegen sie zu erheben und zu wehren. . . . Ein Christ weiß wohl, was er tun soll, dass er Gott gebe, was Gottes ist, und dem Kaiser auch, was des Kaisers ist [Matthäus 22,21], aber doch nicht den Bluthunden, was nicht ihrer ist. . . . Man muss nicht alles aufrührerisch sein lassen, was die Bluthunde aufrührerisch schelten.»
Damit legte Luther das Fundament für eine Theologie des Widerstands gegen Tyrannen. Nach dem Augsburger Reichstag entwickelte er seine Gedanken zu diesem Thema weiter, und zwar zunächst mit juristischen Argumenten: Im Oktober 1530 unterschrieb er zusammen mit seinen Mitstreitern Philipp Melanchthon, Justus Jonas und Georg Spalatin das «Torgauer Gutachten» wonach ja das Recht auf Widerstand gegen die Obrigkeit von eben dieser Obrigkeit garantiert sei.
Ich paraphrasiere: Als Luther und seine Mitreformatoren früher gelehrt hätten, dass der Obrigkeit kein Widerstand geleistet werden dürfe, sei ihnen nicht klar gewesen, dass das Recht dazu von genau dieser Obrigkeit garantiert werde.
Acht Jahre später erklärte er, wenn der Kaiser einen Krieg gegen die Lutheraner anzettele, dann sei er ein Tyrann, der ihre Religion, ihr geistliches Lehramt und letztlich auch ihr Privatleben bekämpfe. Dann aber gebe es überhaupt keine Frage, ob ein Christ für seinen Glauben kämpfen dürfe; er müsse es sogar tun – seiner Familie und seinen Kindern zuliebe.
Der amerikanische Historiker Richard R. Benert sieht drei Argumentationsebenen, auf denen die Lutheraner seither ihr Widerstandsrecht aufgebaut haben:
Die höchste Ebene: Alle Christen sind aufgerufen, aus Liebe zu Gott gegen Satans Legionen anzutreten; dies kommt allerdings in der Geschichte sehr selten vor.
Die mittlere Ebene: Das Naturrecht verpflichtet jedermann, seine Familien und Nachbarn zu schützen – auch gegen Machthaber, die zu Räubern und Mördern degeneriert sind.
Die untere Ebene: Positives Recht und Verfassung erlauben es den Ständen, sich dem Kaiser zu widersetzen, wenn er seine Abkommen mit ihnen bricht; dies entbindet sie ihrer Verpflichtungen gegenüber dem Machthaber.
Benert fügt hinzu: «Feudales Recht, kombiniert mit römischen, kanonischen und germanischen Gesetzen, ließ Selbstverteidigung gegen die Obrigkeit und öffentliche Bedienstete zu, wenn diese wortbrüchig wurden oder die Schranken ihrer Ämter durchbrachen.» Benert ruft zu einer Korrektur des Klischees auf, dass im Protestantismus nur die Calvinisten einen politischen Aktivismus entwickelt hätten, nicht aber die Lutheraner, deren Beitrag sich auf den geistlichen Bereich beschränke.
Der Historiker weist in diesem Zusammenhang vor allem auf das aus dem 16. Jahrhundert stammende lutherische Konzept der «unteren Obrigkeiten» hin. Zwar ist die Vorstellung weit verbreitet, dass das Recht und die Pflicht der «unteren Obrigkeiten», sich der Tyrannei mit Waffengewalt zu widersetzen, von den Calvinisten erfunden worden sei. Es mangelt jedoch nicht an Beweisen dafür, dass diese Idee zuerst von Lutheranern entwickelt wurde. Dazu betont der Theologe Oliver K. Olson, einer der geistigen Köpfe der in den USA noch sehr lebendigen gnesio- lutherischen Bewegung: «In der Tat: Calvin hat die Pflicht der unteren Obrigkeiten anerkannt, ihre Untertanen vor verantwortungsloser Machtausübung zu schützen – aber mit anderen Mitteln als bewaffnetem Widerstand.»
Es war Luther, der das Recht und die Pflicht, ihre Angehörigen und Nachbarn zu verteidigen, auf alle Familienväter ausdehnte. Wenn sie in Abwesenheit einer verfassungsgerechten Obrigkeit angegriffen werden, dann müsse der Einzelne als «Magistrat» handeln.
Die entscheidende Aussage zu diesem Thema findet sich in eine Expertise, die Luther, Jonas, Bucer und Melanchthon im November 1538 den Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen überreichten:
«Und wie das Evangelium der Obrigkeit Amt bestätigt, so bestätigt es auch natürliche und gesetzte Rechte. Wie auch Paulus spricht: Lex est iniustis posita (das Gesetz ist den Ungerechten gegeben, (1.Timotheus 1,9). Und ist nicht Zweifel, ein jeder Vater ist schuldig (verpflichtet), nach seinem Vermögen Weib und Kind wider öffentlichen Mord zu schützen, und ist kein Unterschied zwischen einem Privatmörder und dem Kaiser, so er außer seinem Amt unrechte Gewalt und besonders öffentlich oder notorisch unrechte Gewalt vornimmt. Denn öffentliche violentia (Gewaltsamkeit) hebt alle Pflichten zwischen dem Untertan und dem Oberherrn iure naturae (nach dem Naturrecht) auf.»
Luther und seine Mitarbeiter formulieren damit ein Konzept, das im 21. Jahrhundert ebenso gültig ist, wie es vor vierhundert Jahren war. Es ist einfach nicht wahr, dass das Konzept einer gottgewollten Pflicht «unterer Obrigkeiten», in gewissen Situationen das Schwert gegen den Machthaber zu heben, von Calvin stammt. Vielmehr war es, schreibt Oliver Olson, «vor den Schmalkaldischen Kriegen in Gesprächen zwischen den Wittenberger Theologen und kursächsischen Juristen artikuliert; es wurde dann genau im richtigen Augenblick von Calvins Nachfolger in Genf, Theodor von Beza, an die Monarchomachen (Bekämpfer des Monarchen) übertragen, die . . . nach dem Bartholomäus-Massaker (23.–24. August 1572) den protestantischen Widerstand gegen den König von Frankreich anführten und einer theoretischen Grundlage für ihre Agitation bedurften».
Das Magdeburger Bekenntnis
Dabei fiel Magdeburg eine entscheidende Rolle zu. Magdeburg war die erste norddeutsche Stadt, die sich zu Luthers Reformation bekannt hatte. In einer der größten Krisen des jungen deutschen Protestantismus war es so ziemlich dessen letzte Bastion. Im Schmalkaldischen Krieg, der kurz nach Luthers Tod 1546 ausbrach und 1547 mit dem Sieg Karls V. endete, unterwarfen sich nur Magdeburg und Bremen nicht den Kaiserlichen. Im Jahr darauf widersetzte sich Magdeburg auch dem Augsburger «Interim», der von Karl befohlenen vorläufigen Kircheneinigung in Deutschland.
Katholische Theologen hatten mit Brandenburgs evangelischem Hofprediger Johannes Agricola das Interimsabkommen ausgehandelt. Es erlaubte den Protestanten zwar die evangelische Verkündigung, verbog aber ihre Rechtfertigungslehre im römischen Sinne und «ersuchte» die Lutheraner, in der Reformation «nicht weiter zu greifen noch zu schreiten». Priesterehe und Laienkelch wurden den Evangelischen belassen – aber nur in ihren, nicht den katholischen Territorien. Den Ständen wurde streng verboten, gegen das Interim zu lehren, zu schreiben oder zu predigen. Der alte Kultus wurde restauriert. Der in Luthers Augen unsinnige Kanon, der das Altarsakrament zu einem neuen Opfer für die Lebenden und die Toten macht, sollte wieder verlesen werden. Heiligendienst, Prozessionen, Feste, Weihen und Messgewänder kehrten zurück.
Vor allem um die Messgewänder entbrannte nun ein Streit. Melanchthon, der sich angstvoll dem «Interim» fügte, sah in ihnen ein adiaphoron, zu Deutsch: ein Mittelding, das weder gut noch böse sei. Hatte nicht Luther selbst gesagt, ihm sei es gleichgültig, was ein Pfarrer am Leibe habe – und wenn’s denn 25 verschiedene Kleidungsstücke wären –, solange er das Evangelium korrekt verkündige?
Ein Zugereister aus Dalmatien sah das ganz anders: Matthias Flacius, Professor für Altes Testament in Wittenberg, erkannte die Verfälschung der evangelischen Lehre; er witterte Gefahr für das Augsburger Bekenntnis und empfand die Rückkehr zum römischen Kultus als ein Ärgernis (skandalon), weil sich die Evangelischen in den Augen der Gemeinde unglaubwürdig machten, wenn sie dem Druck des Gegners wichen und damit die von ihnen selbst gepredigte Wahrheit verrieten. Wo aber das Gemeindeglied dem Verkündiger des Evangeliums nicht mehr trauen kann, drohen Zynismus und blanker Atheismus.
Deshalb prägte Flacius einen Satz, der vierhundert Jahre später von Bonhoeffer wieder aufgegriffen werden sollte:
In casu confessionis et scandalii nihil est adiaphoron, wenn also der Bekenntnisfall eingetreten sei und ein Ärgernis herrsche, sei nichts nebensächlich.
Flacius wurde damit der Kopf des Widerstands; an Flacius, dem Gnesio-Lutheraner par excellence, orientierten sich die Stadtväter und die Geistlichkeit von Magdeburg, wohin unbeugsame protestantische Theologen aus ganz Deutschland geflüchtet waren. Unter Flacius’ Einfluss produzierten Magdeburger Druckereien entgegen dem kaiserlichen Befehl buchstäblich Tonnen von Flugschriften wider das Interim, und diese Schriften wurden überall in Norddeutschland gelesen. Deutschlands Protestanten nannten nun Magdeburg «unseres Herrgotts Kanzlei».
Von 1549 bis 1551 belagerte Herzog Moritz von Sachsen Magdeburg. Er war zum Kaiser übergelaufen und hieß deshalb im Volksmund «Judas von Meißen». Die Magdeburger leisteten einen zähen Widerstand, den Moritz’ Legionen trotz sechsfacher Überlegenheit nicht zu brechen vermochten. Damit begann sich das Blatt zugunsten der Evangelischen zu wenden. Während dieser Belagerung nun formulierten Magdeburgs gnesio-lutherische Theologen unter dem Einfluss von Flacius 1550 die Denkschrift Bekenntnis Unterricht der Prediger der Christlichen Kirchen zu Magdeburg. Sie erklärten, dass dieses Dokument nichts anderes sei als eine Neuauflage von Luthers Gedanken zur Widerstandsfrage – freilich von den Vieldeutigkeiten der Wittenberger Angsthasen befreit.
Das Magdeburger Bekenntnis hatte schwerwiegende internationale Folgen, wie wir gleich sehen werden. Eine seiner radikalsten Aussagen erklärt, dass Untertanen, Diener und Kinder ihren Machthabern, ihren Herrschaften und ihren Eltern keinen Gehorsam schulden, wenn diese die ihnen Anvertrauten «von Gottesfurcht und ehrbarem Leben» wegsteuern wollen. Dann nämlich werden diese Obrigkeiten und Eltern «Ordnungen nicht Gottes, sondern des Teufels», und dagegen könne sich jeder «mit gutem Gewissen wehren».
Das Magdeburger Bekenntnis definiert vier Ebenen von Ungerechtigkeit und empfiehlt für jede von ihnen die adäquate Reaktion. Da das Dokument sehr lang und wortreich ist, fasse ich die für unsere Untersuchung relevanten Aussagen knapp zusammen:
1. Wie alles Menschliche habe auch Obrigkeit ihre Sünden und Laster; deshalb sei sie oft in unbedeutenden Angelegenheiten ungerecht. In solchen Fällen «wollen wir nicht, dass sich die minderen Magistrate den höheren Magistraten gewaltsam widersetzen».
2. Wenn eine Obrigkeit einen ungerechten Krieg führe und dabei einem unschuldigen Machthaber «Leib, Leben, Weib, Kind, Freiheiten, Land und Volk nimmt … wollen wir niemandem befehlen, sich im Einklang mit Gottes Gebot zu verteidigen … aber wir wollen auch niemandes Gewissen belasten, wenn er sich verteidigt».
3. Wenn ein Machthaber eine untergeordnete Instanz zur Sünde zwinge und diese Instanz eine Ungerechtigkeit nicht ertragen könne, ohne selbst zu sündigen, dann habe diese «mindere Obrigkeit» sorgfältig darauf zu achten, dass sie bei ihrem bewaffneten Widerstand «kein höheres Gesetz und kein Gebot Gottes bricht und damit den Widerstand zu einer Ungerechtigkeit macht».
4. Wenn aber «Tyrannen so wahnsinnig werden, dass sie mit Waffen und Krieg … die höchsten und notwendigsten Rechte (ihrer Untertanen) und unseren Herrgott selbst angreifen und … neue Gesetze erlassen, die alle erdenklichen Schandtaten … erlauben, dann können wir und andere Christen uns mit ruhiger Zuversicht widersetzen».
Eine Generation später beeinflusste dieses bemerkenswerte Dokument eines der dramatischsten Ereignisse der Reformationszeit, und zwar nicht etwa in Deutschland, sondern in Frankreich: die Hugenottenkriege 4 bis 8, die mit dem Massaker am Bartholomäustag des Jahres 1572 begannen und 1598 mit dem Edikt von Nantes endeten; dieses Edikt garantierte französischen Protestanten, die damals noch Lutheraner genannt wurden, die Glaubensfreiheit.
Nach der «Pariser Bluthochzeit», wie die Bartholomäusnacht von 1572 auch genannt wird, musste Theodor von Beza, Calvins Nachfolger in Genf, Argumente für einen bewaffneten Widerstand formulieren. Beza, vormals Seelsorger der hugenottischen Truppen, versah seine Schrift mit dem Titel: Vom Recht der Magistrate über ihre Untertanen. Ein sehr notwendiges Traktat für diese Zeiten, um die Magistrate und ihre Untertanen über ihre Pflichten aufzuklären: publiziert von jenen in Magdeburg im Jahr 1550 und nunmehr revidiert und ergänzt mit vielen Gründen und Beispielen. . . .
Bonhoeffer verneigt sich vor Flacius
Auf Flacius bezogen sich fast genau vierhundert Jahre später Dietrich Bonhoeffer und sein Kreis in ihrem Kampf gegen Hitler. Gnesio-lutherisch gesehen, erfüllten die Nationalsozialisten eindeutig die Kriterien für einen theologisch legitimen Widerstand. Sie griffen die «höchsten und notwendigen Rechte (ihrer Untertanen) und unseren Herrgott selbst an», und sie erließen «neue Gesetze, die alle erdenklichen Schandtaten erlauben». Sie waren damit Tyrannen scheußlichster Art, solche, gegen die der Christ mit ruhiger Zuversicht gewaltsam kämpfen darf.
Es war kein Zufall, dass in Göttingen 1940, also kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, eine wissenschaftliche Arbeit über Flacius, die Adiaphoron-Frage und Magdeburg verlegt wurde. Dieses bemerkenswerte Werk trägt den Titel
«Die Gestalt der Kirche Luthers. Der casus confessionis im Kampf des Matthias Flacius gegen das Interim von 1548».
Sein Autor war Hans Christoph von Hase, Bonhoeffers Vetter und enger Vertrauter. Wir können davon ausgehen, dass Bonhoeffer mit dem Manuskript schon vor seiner Publikation vertraut war und es wahrscheinlich auch beeinflusst hatte; Bonhoeffer hatte schon früher die Entwicklungen im Dritten Reich mit Ereignissen zu Flacius’ Lebzeiten verglichen, wie wir gleich sehen werden.
Die Tatsache, dass das Buch überhaupt veröffentlicht wurde, war bereits eine Herausforderung. Widersacher totalitärer Regime bedienen sich oft historischer Parallelen, wenn sie auf einen Missstand in ihrer eigenen Zeit hinweisen wollen, einen Missstand, den sie anders gar nicht anprangern könnten. Genau dies tat von Hase, wie er bereits in seinem Vorwort klarmacht:
«Die Verwirrung im evangelischen Lager war groß. Als echter Schüler Luthers aber trat damals Matthias Flacius hervor, der mit unbeugsamem Mut die Freiheit des lutherischen Glaubens von aller päpstlichen Gewalt verfocht und der für die Lage den Begriff des ‹casus confessionis› prägte . . . Wir aber wollen in unserer Zeit erweisen wie damals die tapferen Magdeburger, ‹dass noch alte beständige deutsche Herzen und Gemüter, denen Gottes Wort, ihr Vaterland und Freiheit lieb wäre›»; von Hase zitierte hier einen Augenzeugenbericht «von der Alten Stadt Magdeburg Belagerung».
Wir müssen nicht lange raten, an wen von Hase dachte, als er die folgenden Sätze formulierte:
«Mit einem Blick sieht Flacius, dass der ganze Widerstand Wittenbergs allein am Unglauben krankt. Alles geheime Verhandeln, Schweigen, Nachgeben zeigt ihm klar, dass man Luthers Weg nicht mehr zu gehen vermag. Der stieg, so sagt Flacius, als der dritte Elias, aus dem sicheren Schiff einer Kirche, in der es keine Verfolgung gab; allein aufs Wort schauend eilte erüber die Wellen mit freudigem Gesicht auf Christus zu. Er kam ans Ziel. Nun aber verachten dieübrigen diese ‹fröhliche Art seiner Seefahrt› – und beginnen zu sinken.
Kein Zweifel: von Hase schrieb über Melanchthon und die angstvollen Wittenberger und meinte die angstvollen evangelischen Kirchenführer im Dritten Reich. Er machte keinen Hehl daraus, wie unlutherisch Letztere sich in ihrem Umgang mit Widernissen verhielten; er zitierte Flacius:
«Was hat Petrum anders ins Meer gedruckt / und was ersäuft uns zu unserer Zeit anders / … / denn das er nicht gewollt hat / und wir auch nicht wollen / mit dem Glauben nur allein auf Christum stehen / sondern gaffen um uns her mit menschlicher Weisheit / nach dem Winde / Meer / und Wasserwogen. Dies ist die schöne Weisheit des alten Adams / welcher D. Luther so gram war.»
Selbst in der Wortwahl glichen die «Deutschen Christen» Melanchthon und den Wittenbergern. Auch sie bedienten sich des Begriffs Adiaphoron. Die «Deutschen Christen» meinten damit den «Arierparagraphen», der verlangte, dass evangelische Geistliche jüdischer Abstammung aus dem Pfarramt entfernt wurden. Er betraf zwar nur eine winzige Zahl, nämlich 29 von 18.000 Pastoren in Deutschland, aber Dietrich Bonhoeffer wusste genau, worauf das letztlich hinauslief:
Am Ende würden nicht nur ein paar Geistliche, sondern alle «nichtarischen» Gemeindeglieder aus der Kirche verbannt werden.
Am 6. September 1933 schickte er ein Telegramm folgenden Inhalts an den Generalsekretär des Weltkirchenrates in Genf: «… only Teutonic Christians admitted to National Synod, Aryan paragraph now in action, please work out memorandum against this and inform the press» (nur teutonische Christen zur Nationalsynode zugelassen, Arierparagraph jetzt rechtskräftig, bitte erarbeitet dagegen eine Denkschrift und informiert die Presse).»
Bonhoeffer und seine Familie hatten schon vor Hitlers Machtübernahme den Antisemitismus in Kirche und Gesellschaft bekämpft.
Bonhoeffers Großmutter Julie hatte am 1. April 1933 mit 91 Jahren demonstrativ eine SA-Sperre vor einem jüdischen Geschäft durchbrochen, um dort einzukaufen. Für Dietrich Bonhoeffer war der Gedanke einer «rein deutschen» Kirche, aus der einige Gläubige aus biologischen Gründen ausgeschlossen waren, eine theologische Absurdität.
Als die Nationalsozialisten Juden aus dem Staatsdienst ausschlossen, sagte er in einer Vorlesung:
«Es ist die Aufgabe christlicher Verkündigung zu sagen: hier, wo Juden und Deutsche zusammen unter dem Wort Gottes stehen, ist Kirche, hier bewährt es sich, ob Kirche noch Kirche ist, oder nicht. Es kann keinem, der sich nicht in der Lage fühlt die Gemeinschaft des judenstämmigen Christen zu tragen, verwehrt werden, selbst aus dieser kirchlichen Gemeinschaft auszuscheiden. Es muss ihm aber dann mit letztem Ernst dies klargemacht werden, dass er sich damit von dem Ort lossagt, an dem die Kirche Christi steht.»
Bonhoeffer ließ keinen Zweifel daran, dass sich seine Überzeugungen auf Luthers Theologie gründeten. Er begann seine Vorlesung mit dem Luther-Wort: Wären die Apostel – Juden alle – mit den Heiden umgesprungen wie später die Christen mit den Juden, dann wäre wohl niemals ein Heide Christ geworden. Bonhoeffer endete mit einem Passus aus Luthers großem Kommentar zum 110. Psalm:
«Wer Gottes Volk oder die Kirche Christi sei, ist keine andere Regel noch Probe ohne dies allein, wo ein Häuflein ist derer, so dieses Herrn Wort annehmen, rein lehren und bekennen wider die, so es verfolgen, und darob leiden, wo sie sollen.» . . .
Wie Flacius vierhundert Jahre vor ihm stellte auch Bonhoeffer fest, dass der casus confessionis eingetreten sei und nunmehr nichts mehr weder gut noch schlecht sein könne; jetzt seien Christen zum Widerstand aufgerufen. Genau dies tat Bonhoeffer, als er in die Dienste der Abwehr trat und unter der Ägide dieses Hitler-feindlichen militärischen Nachrichtendienstes Juden aus dem Lande schmuggelte, wofür er letztlich verhaftet und hingerichtet wurde.
Als der NS-Staat dem Kirchenregiment seine Gefolgsleute aufzwang, brach in der «Bekennenden Kirche» eine schwere Krise aus. Lutherische Theologen auch innerhalb der «Bekennenden Kirche» wähnten hinter dem Widerstand gegen diese staatliche Einmischung einen exzessiven «reformierten» Einfluss; dieser Widerstand, sagten sie, verrate eine falsche Lehre.
Bonhoeffer konterte von einem eindeutig gnesio-lutherischen Standpunkt – und mit einem direkten Hinweis auf Flacius –, dass derlei Gerede «dem rechten Luthertum damit einen schlechten Dienst leistet». Er schrieb ein Gutachten mit dem Titel «Irrlehre in der Bekennenden Kirche». In diesem Gutachten, das der Bruderrat der Bekenntnis-Synode Pommern am 24. Juni 1936 aussandte, betonte Bonhoeffer:
«Dass aber die Ordnungen bekenntnisgebunden sein müssen, dass in statu confessionis (Bekenntnispflicht) in der Frage der Ordnungen nun keinen Schritt gewichen werden darf, das ist lutherische und reformatorische Lehre gemeinsam, und darum geht es heute.»
Bonhoeffer fuhr fort: «Es ist lutherische Lehre, dass alle Ämter und Ordnungen der Kirche allein am Bekenntnis der Kirche ausgerichtet sein müssen. An ihrer Bekenntnisgemäßheit entscheidet sich ihr kirchliches Recht. Bekenntnis und Ordnung der Kirche können daher nicht getrennt werden. Es ist lutherische Lehre, dass die Gemeinde frei ist, ihre Ordnung im Dienst der Verkündigung zu gestalten, dass aber in statu confessionis, d.h. beim Angriff auf die Kirche von außen her, auch die Ordnungen der Kirche zum Bekenntnisstande der Kirche gehören, von denen nicht gewichen werden darf, um des Evangeliums willen. Was also innerhalb der Kirche Adiaphoron ist, ist nach außen hin nicht Adiaphoron, sondern gehört zum Bekenntnis. Bekenntnis und Ordnung der Kirche sind in statu confessionis eins.»
Dies ist unverfälschte flacianische Diktion. Aber Bonhoeffer geht in seinem Bekenntnis zu Flacius noch einen Schritt weiter. Unter Hinweis auf die in seiner Konkordienformel angestrichenen Passagen, in denen die Freiheit der Ordnung definitiv am Bekenntnis begrenzt wird, schreibt Bonhoeffer:
«Es ist bezeichnend, dass von dem Lutheraner Flacius hier der ‹volksmissionarische› Gesichtspunkt besonders geltend gemacht wird: ‹Das arme Volk sieht am meisten auf die Zeremonien, denn sie können die Augen füllen, die Lehr ist so wohl aber nicht zu sehen.› . . . Das Volk erkennt den Einbruch der Irrlehre an der Preisgabe der Ordnung.»
Ohne auf die Kirchenordnungen einzugehen, schrieb Bonhoeffers Vetter Hans Christoph von Hase seinen in dieser Frage verwirrten lutherischen Amtsbrüdern eine kernige Flacius-Formulierung ins Stammbuch:
«Der größte Narr muss der sein / der da meinet / man könne von Krieg und Verheerung frei sein / so man sich mit gottlosen Menschen / die Dreck und Koth sind / versühnet / und Gott den allmächtigen und strengen Richter erzürnet.»
Bonhoeffers Kompromisslosigkeit im Umgang mit den Nationalsozialisten hatte einen triftigen Grund: Er sah, so berichtet sein Freund Eberhard Bethge, in Hitler den Antichristen, den Luther in «Ein’ feste Burg» als eine Kraft definierte, die «Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib» nimmt. Deshalb müsse Hitler eliminiert werden, sagte Bonhoeffer.
Deshalb akzeptierte er die ungewöhnliche Doppelrolle eines Abwehr-Agenten und Mitverschwörers gegen das NS-Regime; deshalb sagte er dem Generalsekretär des Weltkirchenrates, W. A. Visser’t Hooft:
«… ich bete für die Niederlage meines Landes, denn ich glaube, dass das die einzige Möglichkeit ist, um für das ganze Leiden zu bezahlen, das mein Land in der Welt verursacht hat»; und deshalb ging er 1942 auch nach Norwegen.
Dies tat er, nachdem deutsche Besatzungsoffiziere, die der hochkirchlichen lutherischen «Michaels-Bruderschaft» angehörten, die Abwehr-Zentrale in Berlin auf die Festnahme des Osloer Bischofs Berggrav aufmerksam gemacht hatten. Die Abwehr entsandte zwei Agenten; einer von ihnen war Bonhoeffer. Bethge: «Die offizielle Rechtfertigung der Reise bestand darin, den Kirchenkampf als eine die Sicherheit der deutschen Besatzungstruppen gefährdende Angelegenheit in Augenschein zu nehmen; die geheime Absicht war, den norwegischen Lutheranern zu raten, dass sie keinen Fußbreit von dem beschrittenen Weg weichen sollten.»
Der Brite Gordon Rupp erinnert an die oft unterschlagene Tatsache, dass sich die norwegischen Lutheraner in ihrem Widerstand gegen Quisling ausdrücklich am deutschen Kirchenkampf orientierten. Und als ihre Pfarrer in einem heldenhaften Akt des Protestes en masse zurücktraten, beriefen sie sich auf den Vater ihrer Kirche – auf Martin Luther, den Müntzer, Engels, Troeltsch, Inge, Wiener, Temple, Shirer und Thomas Mann als Fürstenknecht verunglimpft hatten:
«Wie Luther versuchten wir gegenüber der Obrigkeit loyal zu sein, soweit das Wort und die Gebote dies erlaubten. Wie bei Luther kam auch bei uns der Augenblick, an dem wir unserem Glauben folgen und die Gerechtigkeit der Kirche der Ungerechtigkeit des Staates entgegenstellen mussten. Regierungsformen mögen sich ändern, aber die Kirche weiß – wie der Vater der Kirche –, dass gegen das, was Luther Tyrannei nannte, Gott selbst in seinem Schwert und seinem Heiligen Geist steht. Wehe uns, wenn wir nicht Gott gehorchen, sondern Menschen.»
Zweimal Luther
Ich fasse zusammen: Elemente einer immens komplexen Theologie wurden aus dem Zusammenhang gerissen, um ein Klischee in die Welt zu setzen, das heute noch das Luthertum verfolgt. Die Klischeekrämer übersehen einige der wichtigsten Aspekte der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre:
1. Luther war weder ein Politiker noch ein Soziologe oder Ethiker, sondern ein Theologe, der Ratschläge erteilte, die sich auf der biblischen Aussage gründeten, dass die weltliche Ordnung von Gott gestiftet sei;
2. Luther betonte unermüdlich die Bedeutung der Vernunft im Reich der Welt;
3. Luthers Zwei-Reiche-Lehre war insofern revolutionär, als sie den Christen von religiösen Fesseln befreite, um in einer Welt voller politischer und ethischer Vieldeutigkeiten dienen zu können;
4. Luther war das genaue Gegenteil eines Quietisten, er beschwor die Christen, obrigkeitliche Ungerechtigkeit anzuprangern;
5. im Gegensatz zur römischen Kirche, zu den Schwärmern und Utopisten verdammte Luther die obrigkeitliche Unduldsamkeit gegen Anders- und Ungläubige;
6. die lutherische Kirche kennt keinen unfehlbaren Luther, und Luther selbst hat nie von sich behauptet, unfehlbar zu sein – im Gegenteil: In der Frage des bewaffneten Widerstands gegen Tyrannen hat Luther unerschrocken eine Kehrtwende gemacht.
Was müssen wir daraus schließen? Wenn wir es mit einem Hitler oder einem Stalin zu tun haben, können wir uns auf zweierlei Luther berufen. Keiner von ihnen duldet Aufruhr und die Herrschaft des Pöbels. Der ältere Luther sagt, unter gewissen Umständen müsse der Christ mit Waffengewalt gegen einen bösen Herrscher vorgehen, dabei aber nie für seine eigene Sache kämpfen, sondern nur für seinen Glauben und seine Familie.
Bonhoeffer folgte dem älteren Luther. Der Pfarrer und spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier tat’s auch. Der Jesuitenpater Alfred Delp teilte die Ansicht dieser beiden Lutheraner, dass Hitler physisch beseitigt werden müsse. Im nächsten Kapitel werden wir aber sehen, dass Carl Goerdeler, das zivile Oberhaupt des Widerstands, gegen Hitler in einer Weise gehandelt hat, die den Ansichten des jüngeren Luthers entsprach.
So oder so: In beiden Fällen erwies sich Luther als ein Lehrer größter Zivilcourage und Glaubenskraft.
Luther gerechtfertigt. (I.) Der Fall Goerdeler
Das Klischee vom deutschen Militarismus
. . . Das Militarismus-Klischee war eine fixe Idee, die Vansittart mit Winston Churchill und, wie wir gleich sehen werden, Franklin D. Roosevelt teilte. Es übersieht den zutiefst religiösen Charakter der alten Offiziere, die Goerdelers Freunde waren: die Generalobersten Ludwig Beck und Franz Halder, Oberst Hans Oster sowie Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben.
Aus der Lektüre der «X-Dokumente» und aus seinen eigenen Gesprächen mit Goerdeler musste Vansittart wissen, wie verzweifelt diese Männer über Hitlers Kriegstreiberei waren; er musste wissen, dass sie Aggressionskriege verabscheuten, und er musste ihre Sorge über den Klüngel jüngerer Offiziere gekannt haben, über diese ehemaligen HJ-Führer, denen das alte preußische Soldatenethos wenig bedeutete; sie waren dem «Führer» fanatisch ergeben.
Es lohnt sich, das Militarismus-Klischee genauer unter die Lupe zu nehmen, denn es ist mit daran schuld, dass der Westen den konservativen deutschen Widerstand weder vor noch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ernst genommen hatte. Somit ist dieses Klischee zumindest teilweise für die «Casablanca-Formel» verantwortlich, die von Deutschland die bedingungslose Kapitulation forderte. Wenn es je eine Chance für einen Putsch gegen Hitler vor dem Holocaust gab, so wurde sie durch diese Formel ausgelöscht. Führen wir diesen Gedanken konsequent weiter, so war das Militarismus-Klischee einer der Faktoren, die letztlich zur Teilung nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas führten – und zur Unterjochung seines östlichen Teils durch die Sowjetunion. . . .
Das Militarismus-Klischee war der Eckstein einer rassistischen Interpretation deutschen Verhaltens, wie Frank Owen, der Chefredakteur der Londoner Zeitung «Evening Standard», auf dem Höhepunkt des Krieges konstatierte: «In dieser Frage ist Vansittart ein Nazi mit umgekehrten Vorzeichen.» Vansittarts rassistische These lautete, dass Großbritannien nicht mit Hitler im Krieg liege, sondern mit einer «verfluchten Rasse», von der «80 Prozent der moralische Abschaum der Erde» seien.
Der «Vansittartismus», wie diese Denkweise in England genannt wurde, unterstellte, dass die «deutsche Rasse» seit über tausend Jahren mit Militarismus imprägniert sei. In seinem Pamphlet «Black Record», behauptete der Lord – immerhin der höchste außenpolitische Berater der Regierung Churchill –, dass seine Landsleute gegen ein gesamtes Volk kämpften, das immer blutrünstig gewesen sei. Die Deutschen, eine «schamlose Horde», seien im Herzen Wilde geblieben. . . .
Aber die britische Bevölkerung erwies sich als zunehmend anfällig für Vansittarts Theorien. Sein Biograf Goldman berichtet: «Obwohl die Deutschfeindlichkeit nie so stark war wie nach dem Ersten Weltkrieg, wurden sowohl die Bevölkerung als auch höhere Beamte im Laufe des Zweiten Welt-Krieges immer feindseliger gegenüber dem deutschen Volk. …» . . .
Victor Gollancz verurteilte Vansittarts «wüsten Appell an primitive Blutrunst und seine niederträchtige Hass- und Rache- Propaganda gegen das deutsche Volk». . . .
Vansittarts spätere Hassausbrüche gegen die gesamte deutsche «Rasse», einschließlich der alten Germanen, Karls des Großen, Barbarossas, Luthers und solch tapferer Nazi-Gegner wie Carl Goerdeler, legen allerdings den Verdacht nahe, dass er doch unter einem grundlegenden emotionalen Defekt gelitten haben muss. Denn wir haben es hier nicht mit einem ignoranten Spießbürger zu tun, sondern mit einem Mann, dem die Sprache, Dichtung, Philosophie und Musik des Objektes seines Hasses wohlvertraut waren. . . .
Klischeedenken im Weißen Haus
Auf der anderen Seite des Atlantiks teilte Präsident Franklin D. Roosevelt Vansittarts Ansichten über die Deutschen. Er betrachtete Deutschland als eine «monströse Nation», wie Frank Freidel in seiner großen Roosevelt-Biografie schreibt. In seiner Korrespondenz mit Churchill erklärte FDR, dass «der deutsche Charakter total reformiert werden muss».
Wie Vansittart hatte Roosevelt seine Meinung über Deutschland und die Deutschen in seiner Jugend gebildet. Wie Vansittart sprach er Deutsch; er hatte ein deutsches Kindermädchen namens Fräulein Reinhardt, und in der Schule in Groton im Bundesstaat New York hatte er in Deutsch ein «A», also eine Eins. Fast jedes Jahr nahmen seine Eltern ihn mit nach Deutschland, wo seine Mutter zu kuren pflegte – zuerst in Bad Nauheim, dann in Sankt Blasien im Hochschwarzwald. Einmal besuchte er sogar sechs Wochen lang eine deutsche Volksschule in Bad Nauheim. . . .
Wie Vansittart empfand Roosevelt die Deutschen als unheilbare Militaristen, obwohl er diese angebliche Charaktereigenschaft nicht so weit in der Geschichte zurückverfolgt wie der Brite.
Dazu sagte Roosevelt 1944 auf einer Pressekonferenz: «Ich ging noch unter dem alten Kaiser Wilhelm I. zur Schule. Da trugen die Bahnbeamten keine Uniform. Die Schüler trugen keine Uniform und marschierten auch nicht die ganze Zeit. Dies war damals noch keine militärisch gesinnte Nation. Das war in 1888 … Der junge Kaiser kam 1889. Als ich Deutschland verließ, trugen alle Bahnbeamten Uniform. Die Schulkinder trugen Uniform . . . Ihnen wurde das Marschieren beigebracht. Das Familienleben der Deutschen war ein anständiges Leben. Aber nach und nach wurden sie militaristisch.»
Dies war nun ein eklatantes Klischee. Denn erstens trugen damals Schüler überall in Europa Uniformen; in Großbritannien und an amerikanischen Privatschulen tun sie es heute noch. Zweitens waren Schuluniformen niemals Symbole militärischer Gesinnung, sehen wir einmal von den nach militärischem Vorbild geführten Internaten in den USA ab – den military schools. Schuluniformen haben den guten Zweck, Standesunterschiede zwischen Schülern zu verwischen. Drittens tragen Bahnbeamte in aller Welt Uniformen – zum Nutz und Frommen der Fahrgäste, damit diese auf einen Blick sehen können, an wen sie sich zu wenden haben.
Roosevelt betrachtete es als ein Anzeichen von «Militarismus» an deutschen Schulen unter Wilhelm II., dass den Kindern beigebracht wurde, Landkarten zu lesen. Freidel zufolge wertete Roosevelt dies als ein Indiz dafür, dass die Deutschen damals schon – also um die Jahrhundertwende – einen Angriff planten.
Wie wir oben sahen, kannte Roosevelt die «X-Dokumente»; er kannte die Pläne Goerdelers und seiner Freunde in der Wehrmacht, Hitler zu stürzen, und er wusste, dass Englands Appeasement-Politik diese Pläne durchkreuzt hatte. Roosevelt wusste ferner, dass der deutsche Widerstand auch nach Kriegsausbruch aktiv war. . . .
Vergeblich versuchte Louis P. Lochner, der Leiter der Berliner Redaktion der amerikanischen Nachrichtenagentur «Associated Press», Roosevelt über die deutsche Opposition aufzuklären. Ihre Anführer hatten ihn im November 1941 gebeten, dies zu tun.
Prinz Louis Ferdinand von Preußen beauftragte Lochner, bei seiner Rückkehr nach Washington den Präsidenten aufzusuchen. Roosevelt und Louis Ferdinand, der bei Ford in den USA gearbeitet hatte, waren Freunde. Noch am 23. März 1939 hatte der Präsident dem Prinzen nach Deutschland gekabelt:
«Ich hoffe, Sie können zurückkommen und uns in Washington oder Hyde Park besuchen, wo ein herzliches Willkommen auf Sie wartet.»
Nun aber wollte Roosevelt nichts mehr von dem Kaiser-Enkel hören – auch nicht von Lochner, den der Präsident persönlich kannte.
Hoffmann schrieb über die verzweifelten Versuche des Widerstands, mit dem Weißen Haus Kontakt aufzunehmen:
In jener Novembernacht des Jahres 1941 nun wurde Lochner von den heimlich Versammelten gebeten, sogleich nach seiner bevorstehenden Rückkehr in die Vereinigten Staaten dem Präsidenten in möglichster Ausführlichkeit von der Zusammensetzung, den Zielen und der Tätigkeit der Opposition zu berichten. Ferner sollte er den Präsidenten ersuchen, sich zu der Frage zu äußern, welche Regierungsform Amerika für ein von Hitler befreites Deutschland bevorzugen würde.
Um spätere Verständigungen zu erleichtern, übergaben die Verschwörer Mr. Lochner einen geheimen Radiocode, mit dessen Hilfe sie eine Funkverbindung zwischen dem amerikanischen Präsidenten und der deutschen Opposition herstellen wollten. . . .
. . . Aber alle Versuche, beim Präsidenten vorgelassen zu werden, schlugen fehl . . . De facto bedeutet dies, dass der Präsident den deutschen Widerstand als nichtexistent erklärte. Wie tief diese Einstellung saß, beweist die Tatsache, dass sie selbst Roosevelts Tod und die Kapitulation Deutschlands überdauerte.
Ein erschütterndes Beispiel für diese Attitüde war Eleanor Roosevelts ätzende Reaktion auf den Besuch kurz zuvor des Pfarrers Martin Niemöller . . .
Die prominenteste «Journalistin», die Niemöller mit Gift überschüttete, war Eleanor Roosevelt . . . Knapp drei Wochen später, am 21. Dezember 1946, wies sie den Kirchenratspräsidenten G. Bromley Oxnam zurecht:
Nach dem Ersten Weltkrieg «haben wir als Volk uns vorgemacht, dass Deutschlands Führer die Schuld trügen, nicht aber das Volk, und damit haben wir uns den Zweiten Weltkrieg aufgeladen . . . Wenn Pastor Niemoeller hierherkommt und seine Ansichten vor amerikanischen Zuhörern kundtut, wird er sie abermals einlullen. Ich wünsche, dass wir hellwach die Tatsache ins Auge fassen, dass das deutsche Volk schuldig ist, dass es schreckliche Verbrechen begangen hat. Deshalb finde ich, dass Sie eine unsägliche Dummheit begehen, indem Sie diesen Herrn hierherbringen.» . . .
Aber zurück nach Washington: Die US-Variante des Vansittartismus, der den deutschen Widerstand bagatellisierte, wurde offizielle amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland . . .
. . . In seiner Gefängniszelle legte Goerdeler den Fehlschlag des Attentatsversuches als ein Zeichen dafür aus, dass Gott es sich vorbehalten habe, Hitler selbst zu richten. Goerdlers Biograf Gerhard Ritter sinnierte über «die rätselhafte Fügung des Schicksals, die den Tyrannen bis zuletzt immer vor einem raschen Ende bewahrt hat».
Zu Weihnachten 1944, sechs Wochen vor seinem Galgentod, brachte Goerdeler im Gefängnis seine Zuversicht zu Papier, dass die Opposition richtig gehandelt hatte:
«Gott wird uns rechtfertigen, denn wir wollten eine Regierung stürzen, die den deutschen Schild befleckt hat: 1. mit der brutalen, ja viehischen Ermordung von einer Million Juden; 2. mit Mord, Diebstahl und Korruption in den besetzten Gebieten; 3. mit der unmenschlichen Vertreibung von Hunderttausenden von Hof und Herd in Polen, Slowenien, Balkan; 4. mit Blut- und Spitzelregimen in Deutschland und den besetzten Gebieten …»
Roosevelt wusste nichts von den furchtbaren moralischen und religiösen Skrupeln, die nicht nur Goerdeler und seinen Mitgefangenen Ritter verfolgten, sondern fast den gesamten deutschen Widerstand. Dabei lagen diese Informationen in Washington vor. . . .
In der «Franklin D. Roosevelt-Library» in Hyde Park (New York) sind heute ehemals streng geheime OSS-Unterlagen einzusehen, aus denen hervorgeht, mit welcher erstaunlichen Genauigkeit Washington vor allem über die Christen im Widerstand Bescheid wusste. . . .
Aber Roosevelt war vom Christentum der Widerständler wenig beeindruckt; ihn beeindruckte, wie er kurz vor seinem Tod in einer Kabinettssitzung sagen sollte, vielmehr das internalisierte Christentum Stalins, der in seiner Jugend an einem georgisch-orthodoxen Priesterseminar Theologie studiert hatte.
«Ich glaube», fand Roosevelt, «dass etwas von der Art und Weise, wie sich ein christlicher Gentleman aufführen sollte, in sein Naturell Eingang gefunden hat.»
Um Stalin zu hofieren – berichtet der amerikanische Historiker Robert Nisbet –, formulierte Roosevelt am 23. Januar 1943 während eines Mittagessens mit Churchill in Casablanca eine Forderung, die an Radikalität in der Geschichte keine Parallele kennt: Deutschland müsse bedingungslos kapitulieren. . . .
Robert Nisbet schildert, wie frivol diese Formel in die Welt gesetzt wurde; Nisbet zitiert Roosevelts Sohn Elliott: «Plötzlich sagte er [FDR] laut ‹bedingungslose Kapitulation› und fuhr dann fort: ‹Natürlich, das ist genau das Richtige für die Russen. Sie könnten sich nichts Besseres wünschen.› – ‹Bedingungslose Kapitulation›, wiederholte er … ‹Onkel Joe hätte selbst darauf kommen können›.»
Nisbet nennt die Casablanca-Formel eine monumentale Entmutigung der Widerstandsgruppen, die hinter feindlichen Linien arbeiteten; und Stalin sei auch keineswegs begeistert gewesen: «Stalin mochte die Doktrin nicht, weil sie die Verbündeten daran hindern würde, mit deutschen Staatsmännern über eine frühe Kapitulation zu verhandeln.»
Wie der damalige britische Außenminister Anthony Eden berichtete, hielt Stalin die Casablanca-Formel «für eine schlechte Taktik gegenüber Deutschland und empfahl, dass die Verbündeten Bedingungen (für eine Kapitulation) ausarbeiteten und diese dem deutschen Volk bekannt machten». Er fügte hinzu, auch Churchill finde, «dass dies der bessere Vorschlag ist».
Bald darauf vertauschten die drei alliierten Staatsmänner in der Kapitulationsfrage ihre Rollen. Im Januar und im April 1944 war nun offenbar Roosevelt bereit, eine ermutigende Proklamation ans deutsche Volk zu erlassen. Peter Hoffmann glaubt, dass dies das Resultat der OSS-Kontakte mit dem deutschen Widerstand gewesen sein könnte. Wie aus den OSS-Dokumenten in der Franklin D. Roosevelt Library hervorgeht, hatte der Geheimdienst den Präsidenten beschworen, «die Doktrin von einer bedingungslosen Kapitulation auf ‹Hitler-Deutschland› zu beschränken. So wenig wünschenswert das erscheinen mag, so ist es doch dadurch notwendig geworden, dass Stalin dies bereits getan hat . . . wir müssen verhindern, dass Deutschland sich dem Osten zuwendet».
Roosevelt war nun klar geworden, dass die Casablanca-Formel die Deutschen in ihrer Entschlossenheit bestärkt habe, weiterzukämpfen. . . .
Goerdeler, aus dem Gefängnis heraus, appelierte an die ausländischen Staatsmänner: „Ich bitte aber meine Freunde im Ausland, die verkündeten Vernichtungspläne nicht zu verwirklichen, . . . bedenkt, welches Unheil aus dem Frieden von Versailles hervorgegangen ist . . . ihr braucht das deutsche Volk nicht zu strafen, . . . das deutsche Volk ist hart bestraft: vier bis fünf Millionen Männer tot, ebenso viele verletzt und verkrüppelt; alle Groß-, viele Mittelstädte zertrümmert. Kostbare Bauwerke aus früheren Jahrhunderten zerstört, fast die Hälfte der Wohnungen und Arbeitsstätten vernichtet oder schwer beschädigt, Hunger und Leid überall! Darum lasst Gott das Gericht, und richtet nicht, dass Ihr nicht gerichtet werdet!“
Ein Opfer des Zeitgeistes
Warum war es Goerdeler und seinen Freuden nicht gelungen, den Westen vor dem Zweiten Weltkrieg zur Härte gegenüber Hitler zu bewegen?
Warum wurden sie ignoriert, verdächtigt, lächerlich gemacht und verunglimpft, als sie ihr Leben riskierten, um die Welt von einem Tyrannen zu befreien, den sie für den Antichristen hielten?
Warum gaben Staatsmänner, die sich Christen nannten, diesen Widerständlern, die alle Christen waren, keine Chance?
In diesem Kapitel hoffe ich klargemacht zu haben, wie die Antwort lauten muss: Klischeedenken und sein Verwandter, der Zeitgeist, haben die Bemühungen der deutschen Opposition durchkreuzt.
Der Geist der Zeit, der endlich ist, lässt keinen Raum für theologische Reflektionen wie diese:
«Wir sind in unserer Zeit viel zu sehr mit dämonischen Mächten in Berührung gekommen, wir haben viel zu deutlich gespürt und gesehen, wie Menschen und ganze Bewegungen verführt und gesteuert wurden von geheimnisvollen, abgründigen Mächten – dorthin, wohin sie selber nicht wollten –;
wir haben allzu oft beobachtet, wie ein fremder Geist in manche Menschen fahren und sie (die vorher vielleicht ganz nett und vernünftig waren) bis in die Substanz hinein verwandeln konnte, wie er sie zu Grausamkeiten, Machträuschen und Wahnsinnsausbrüchen zu bringen vermochte, deren sie vorher niemals fähig zu sein schienen;
wir sahen außerdem, wie sich von Jahr zu Jahr mehr eine Atmosphäre der Vergiftung um unseren Erdball legte». (H.Thielicke)
Diese Gedanken klingen heute im Zeitalter des internationalen Terrorismus und des weltweiten Kriegs gegen den «Islamischen Staat» wieder hochaktuell. Der Theologe Helmut Thielicke (1908–1986) hatte sie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in einem seiner wunderbaren Vorträge über das Vaterunser formuliert. Er wusste, wovon er sprach.
Er hatte Hitler von Anfang an bekämpft. Obwohl Roosevelt mit 49 Theologen engen Kontakt hielt, begriff er nicht, dass das Böse eine sehr reale Macht ist, «die über der Welt brütet, über ihren Kontinenten und Meeren», um Thielicke zu paraphrasieren;
Thielicke sprach hier von einem «Schuldverhängnis».
Die Unfähigkeit, diese weltumspannende Eigenschaft des Bösen zu erkennen, erklärt auch, wieso Roosevelt in «seinem glühenden Bemühen, Stalins Freundschaft zu gewinnen» (Nisbet), die Ähnlichkeit zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion nicht zu sehen vermochte; eine Ähnlichkeit, die Goerdeler in einem Memorandum nach dem anderen hervorgehoben hatte.
Und Roosevelt fand, Stalin benehme sich wie ein «christlicher Gentleman».
Im ersten Kapitel habe ich aufzuzeigen versucht, dass der Zeitgeist, wie das Klischee, als ein Leuchtfeuer in der Verschwommenheit und Unsicherheit der modernen Gesellschaft funktioniert.
Der Zeitgeist gibt dieser Gesellschaft eine vorläufig «korrekte» Position an; nach ihr kann sich die Gesellschaft bis auf weiteres orientieren. Aber vom Zeitgeist inspirierte Klischees, so wissen wir von Walter Künneth, «führen in einen gefahrenreichen Irrgarten, in einen Zustand enthusiastischer Blindheit gegenüber den Realitäten geschichtlicher Wirklichkeit.» In unserem Fall sah die historische Realität so aus: Das Böse hatte sich in einem bislang noch nicht dagewesenen Ausmaß manifestiert, und die Moderne mit ihrem Hang zu schnellen anthropologischen Lösungen für jedes Problem zeigte sich außerstande, damit fertigzuwerden.
Am Anfang dieses Buches war von der engen Wahlverwandtschaft zwischen der Moderne und Klischees die Rede. Klischees aber sind kaskadenartig an den Zeitgeist gekoppelt; sie sind seine Waffen und Werkzeuge. Wie der Zeitgeist sind diese Werkzeuge unfähig, die dämonischen Kräfte, von denen Thielicke spricht, in den Griff zu bekommen, zumal der Zeitgeist immer wieder seine Anfälligkeit für diese dämonischen Kräfte beweist.
In den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts war der Zeitgeist rassistisch. Auf deutscher Seite schloss der rassistische Zeitgeist der Nationalsozialisten das Existenzrecht von Juden, Sinti, Roma und anderen aus; auf alliierter Seite negierte der rassistische Zeitgeist die Existenz eines anderen Deutschlands, dessen Vertreter alles riskierten, um das Böse zu bekämpfen – das Böse, dessen Ausmaß sie rechtzeitig erkannt hatten, ihren britischen und amerikanischen Gesprächspartnern aber nicht zu vermitteln vermochten.
Glaubten die Roosevelts wirklich, dass der Zweite Weltkrieg mit allen seinen Schrecken das Resultat eines ethnischen Defektes bei den Deutschen war?
Glaubten sie ihren eigenen Klischees? Eleanor Roosevelts erschreckende Korrespondenz mit amerikanischen Kirchenführern über Niemöller lässt vermuten, dass dies so war. Und des Präsidenten Blindheit gegenüber Stalins totalitärem Charakter lässt kaum Zweifel aufkommen, dass auch er in Klischees dachte.
Aber Vansittart? War er nicht ein hochkultivierter Mann, der mutmaßlich jede Nuance der europäischen Geschichte und Zivilisation kannte?
War er nicht jahrelang Empfänger eines nicht abreißenden Flusses von Informationen über die Gefahr des Nationalsozialismus?
Waren nicht Deutsche, Goerdeler zumal, die Quellen dieses Flusses?
Was nur hatte diesen Literaten, diesen Kenner und Liebhaber vieler Sprachen, diesen höchsten Karrierediplomaten Großbritanniens zu einem nachgerade primitiven Rassisten reduziert?
Wie kam ausgerechnet er dazu, allen Deutschen, von Karl dem Großen über Luther bis zu Friedrich dem Großen einen Völkermord im 20. Jahrhundert anzulasten?
Warum stieg er damit auf das Niveau der Nationalsozialisten hinab, die mit ähnlicher Rhetorik die Ausrottung von Juden, Sinti, Roma und Polen rechtfertigten?
Grollte er immer noch wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte in seiner Jugend in Bad Homburg?
Versuchte er, wie Goldman andeutet, sein eigenes Versagen in den Vorkriegsjahren zu kompensieren?
Beide Faktoren mögen zu seinem merkwürdigen Verhalten beigetragen haben. Aber Christabel Bielenberg sagt uns noch etwas anderes: «Die Engländer ziehen nicht gern in den Krieg . . . es sei denn, man hätte ihren Hass wirklich entfacht. Im Ersten Weltkrieg war es das Geschäft meines Onkels Northcliffe gewesen, den Hass aufzustacheln, und er hatte gute Arbeit geleistet . . . Ich konnte nicht hassen, weil ich zu viel wusste.»
Hier also liegt die Antwort:
Klischees hatten die Funktion, Hass zu schüren;
Klischees in Form von Demagogie wurden zu einer tödlichen Kriegswaffe. Aber das funktionierte nur dort, wo die Empfänger von Klischees nicht alle Fakten kannten. Es funktionierte nur deshalb, weil die Klischee-Empfänger einem Klischee-Krämer trauten, der ein hoher Beamter einer rechtmäßigen Regierung war – einer Regierung, der sie nota bene trauen mussten. . . .
Vansittart behauptete, dass Deutschland wie Sodom gewesen sei: Die zehn Gerechten, um derentwillen Gott das Land verschont hätte, waren angeblich alle abwesend. Christabel Bielenberg versichert, dass sich dies anders verhalten habe. Hier sind die Namen von zehn Männern, deren Gerechtigkeit sich auf ihrem lutherischen Christenglauben gründete:
Carl Goerdeler, Dietrich Bonhoeffer, Pfarrer und Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, die Diplomaten Hans-Bernd von Haeften und Adam von Trott zu Solz, der Jurist Helmuth James Graf von Moltke, der württembergische Landesbischof Theophil Wurm, der bayerische Landesbischof Hans Meiser, Oberst Hans Oster, Pastor Martin Niemöller; und es gab Tausende von anderen.
«Nach dem Krieg wurde deutlich, dass . . . die Widerstandsbewegung nicht so unbedeutend war wie Vansittart angenommen hatte», schreibt Aaron Goldman.
Ritter bestätigt, dass dies eine weitgehend christliche Bewegung war – evangelisch wie katholisch. Nach Kriegsende setzte sich das Klischee durch, dass ein monumentales Versagen der lutherischen Kirche eines der Merkmale der Nazi-Jahre war, was ja zum Teil auch stimmte.
Dennoch ist es ein Klischee, weil es wichtige relativierende Faktoren übergeht.
Das Klischee ignoriert, dass bereits 1933 rund 6000 evangelische Pastoren – ein Drittel der protestantischen Geistlichkeit in Deutschland – dem oppositionellen «Pfarrernotbund» angehörten; es ignoriert, dass Tausende von Geistlichen wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber Hitler verhaftet, mit Predigtverbot belegt oder eingezogen und vornehmlich an die Ostfront und damit in den Tod geschickt wurden. Das Klischee ignoriert schließlich, in welchem Maße ein spezifisch lutherisches Ethos Männer wie Carl Goerdeler motiviert hat.
Sein internalisiertes Luthertum sagte ihm, dass sich die Deutschen selbst vom Bösen – also von Hitler – befreien müssten; es sagte ihm auch, dass dies ohne Aufruhr zu geschehen habe, weil sonst eine Anarchie wie zu Zeiten der Bauernkriege ausgebrochen wäre. Kompetente Männer müssten bereitstehen, bei Hitlers Festnahme sofort die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
Deshalb stellte Goerdeler nicht nur Kabinettslisten zusammen, sondern Listen mit Namen von hochkarätigen Kandidaten für die obersten Verwaltungsposten in Berlin und in der Provinz. Deshalb entwickelte er ein detailliertes Programm für eine Regierung unter seiner Kanzlerschaft. Wer sich sowohl mit Luther als auch mit Goerdeler beschäftigt hat, erkennt in dem ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Attribute, die Luther einem «Wundermann» zuschreibt. Nur ein Attribut schien zu fehlen:
«guter Wind auf Erden und, wie man’s nennt, Glück und Sieg» (Luther).
Stattdessen musste Goerdeler, der nach Angaben seiner Tochter wohl nichts von Luthers Kreuzestheologie wusste, diese Kreuzestheologie am eigenen Leibe erfahren – bis hin zum Verrat durch einen Menschen, der ihm und seiner Familie nahegestanden hatte, und schließlich bis hin zum verzweifelten Ruf Jesu: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»
V. Luther gerechtfertigt (II) Leipzig 1989
War Gorbatschow ein «Wundermann»?
Allerdings hatten die Christen beim Untergraben des (DDR) Regimes Hilfe, sagte Bischof Leich in einem Interview mit mir: «Ich glaube, dass Gott direkt in die Geschichte eingegriffen hat, um der Diktatur und der Teilung Deutschlands ein Ende zu setzen. Aber Gott veranstaltete hier keinen Hokuspokus. Gott machte sich dabei eine Kombination von Umständen zunutze. Dazu gehörten sowohl unsere Aversion gegen Gewalt, die Treue der Kirche, das wirtschaftliche und ökologische Desaster in Osteuropa als auch das Auftauchen von Michail Gorbatschow.»
Entspricht Gorbatschow also Luthers Vorstellungen vom «Wundermann», vergleichbar mit dem persischen König Kyrus, der die Israeliten nach langem Exil wieder heimkehren ließ, dem griechischen Staatsmann Themistokles, dem Wegbereiter der Demokratie in Griechenland, dem überaus siegreichen Alexander dem Großen, dem römischen Kaiser Vespasian oder Friedrich dem Weisen, der die Reformation unterstützte und Luther vor dem Zugriff des Kaisers bewahrte?
Viele DDR-Pfarrer, denen ich gleich nach der Wende diese Frage stellte, antworteten mit einem uneingeschränkten «Ja».
Wie Luther in seiner Auslegung des 101. Psalms sagte denn auch Bischof Leich: «Gott benutzt auch Heiden als seine Werkzeuge. Es ist möglich, in Gorbatschows Handeln die verborgene Hand Gottes zu sehen – ob Gorbi das passte oder nicht.»
Letztlich erwies sich die friedliche Revolution als ein sehr lutherisches Ereignis, das Laus Interpretation der Zwei-Reiche- Lehre bestätigte:
«Vielleicht ist das die allerwichtigste Aufgabe der Stunde, dass die Kirche ihre kritische Funktion gegenüber der Welt, die sie zweifellos auszuüben hat, ausübt nicht herrschaftlich, sondern als Dienst und Gehorsam, demütig also. Nicht um der Welt willen soll sie es letztlich so tun, sondern um Gottes willen, der beide Reiche regiert und doch ein Gott ist und dem wir auch in der Welt dienen wollen.»
Dies geschah am 9. Oktober 1989 bei dem bedeutendsten aller Friedensgebete in der Geschichte des DDR-Widerstands. In den evangelischen und katholischen Gotteshäusern Leipzigs wurden die Christen zur Sanftmut ermahnt. «Mit Geduld wird ein Fürst überredet, und eine linde Zunge zerbricht Knochen», lautete zum Beispiel die Bibelstelle (Sprüche 25,15), über die Superintendent Johannes Richter in Bachs Thomaskirche predigte.
Dann ging die Gemeinde hinaus ins Freie und schloss sich 70.000 anderen Demonstranten an. Sanft setzten sie einer Tyrannei nach vierzig Jahren ein Ende. Doch nicht nur dies: Sie rissen die moderne Welt aus dem utopischen Traum, dass sich das eschaton durch Menschenkraft ins Jetzt verlagern lasse. Und damit entschieden sie den seit vier Jahrhunderten schwelenden Konflikt zwischen Luther und Müntzer wohl endgültig zugunsten Luthers.
Das Vorurteil, dass Luther mit seiner Zwei-Reiche- Lehre die Deutschen zu Duckmäusern erzogen habe und somit Hitlers Wegbereiter gewesen sei, hat sich nunmehr vor den Augen vieler Millionen Fernsehzuschauer in aller Welt als ein banales Klischee entlarvt.
VI. Der lutherische Kairos
. . . Viel wichtiger ist, dass wir nach dem Zusammenbruch des utopischen Zeitalters einen der größten Schätze wiederentdecken, den uns die Geistesgeschichte beschert hat:
Luthers Zweireichelehre, die es dem Christen erlaubt, im Reich der Welt seiner Vernunft gemäß zu wirken, ohne damit seine Bürgerrechte im geistlichen Bereich aufgeben zu müssen. Im zwanzigsten Jahrhundert hat auch die Kirche Luthers diese befreiende Botschaft wiederholt verraten.
Wenn wir darüber rätseln, wieso unsere Gotteshäuser leerstehen, sollten wir darüber nachdenken, ob das nicht damit zusammenhängt dass >der leidige Teufel . . . nicht aufhört, diese beiden reiche ineinanderzukochen. Die weltlichen Herren wollen . . . immer Christus lehren, ebenso wollen die Pfaffen . . . immer lehren und meistern, wie man das weltliche Regiment ordnen soll< (Luther).
Die Sehnsucht nach Gott lässt sich nicht stillen, wenn wir die Kirche verweltlichen . . .
Die Ideologie, die Utopie, der Zeitgeist und das Klischee sind Phänomene des weltlichen Reiches. . . . Luther lehrt uns: >Das Evangelium befreit, indem es alle Realitäten in dieser Welt relativiert<. Die Kiche ist berufen, das Evangelium zu verkünden, nicht aber den >American Way of Life< zu verteidigen oder den Sozialismus aufzubauen. . . .
Luthers Kirche steht an einem Scheideweg. Sie kann weiter die beiden Reiche >ineinanderkochen<, oder umschwenken. Der Amerikaner Mark Noll sagt:
„…denn Luthers Stimme hat eine ungewöhnliche Bedeutung in der Geschichte der Christenheit: in dieser Stimme hören wir seltene Resonanzen der Stimme Gottes“
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