Jugendsexualität (Huntemann)
Georg Huntemann
Jugendsexualität
Sexuelle Revolution unter der Jugend?
Es gibt keinen umfassenden und lückenlosen Bericht über das sexuelle Verhalten der Jugend. Wollte man genau informiert sein, dann müßte die sogenannte „Verhaltensforschung“ noch sehr gründliche und fleißige Arbeit leisten. Die „Reports“, die gegenwärtig zur Verfügung stehen, lassen uns höchstens ahnen, wie es im Sexualverhalten des Jugendlichen (etwa zwischen 13 und 17 Jahren) in unserer westlichen Welt aussieht.
Der Schulmädchenreport von Günther Hunald („Schulmädchen-Report“ 1970), der die sexuellen Verhaltensweisen von Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren untersucht, kommt zu Ergebnissen, die ich wie folgt charakterisieren möchte:
1. Wie bereits Kinsey in seinen Mammutdarstellungen der fünfziger Jahre über das sexuelle Verhalten von Mann und Frau festgestellt hat, nehmen Masturbation (Selbstbefriedigung) und Petting (Liebesspiele, in denen mit Ausnahme des Coitus alles „erlaubt“ ist) an Häufigkeit zu. Bei dieser Gelegenheit möchte ich gleich folgende grundsätzliche Feststellung einblenden: Die sexuellen Verhaltensweisen sogenannter „höherer Kreise“, deren „Sexualkultur“ mit allen Zerfallserscheinungen, breiten sich auf alle Bevölkerungsschichten aus. Wir haben hier sozusagen ‑ soziologisch gesehen ‑ eine „Revolution von oben“. (Man bedenke, daß z. B. die Pornographie eine uralte Sache ist und daß pornographisches Material seit je ‑ wenn auch zu hohen Preisen ‑ in „kleinen Kreisen“ gehandelt und gezeigt wurde.) Was heimlich geschah, wird heute „veröffentlicht“.
2. Petting wird aber auch insofern intensiviert , als immer mehr Jugendliche Fellatio und Cunnilingus (d. h. durch orale, also mit dem Mund bewirkte Erregung des Geschlechtsorgans des jeweiligen Partners) in ihr Petting als „normal“ einbeziehen.
3. Unter den befragten Jugendlichen soll es keine positive Wertung der Jungfräulichkeit mehr geben. Vorehelicher Geschlechtsverkehr ‑ so meint z. B. der Hunald-Report ‑ ist die Regel. (Seymour L. Halleck stellte allerdings noch 1967 in einer Untersuchung fest, daß von dreihundert befragten Studenten der University of Wisconsin nur 22 % vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten. Allerdings gilt dieses Gebiet der USA als besonders „stabil“. Ich bringe dieses Beispiel deswegen, um zu zeigen, wie sehr man sich vor Verallgemeinerungen von Sex‑Reports hüten muß.)
Wir werden also im Blick auf den „Trend“ annehmen müssen, daß Jugendliche immer mehr sexuell aktiv werden. Dabei steht zu erwarten, daß Eltern nur zu oft keine Ahnung von den sexuellen Gepflogenheiten ihrer Kinder haben, daß sie vielleicht auch schon deswegen nichts wissen wollen, weil sie vor dem, was sie nun wissen müßten, Angst haben. Es gibt viele Eltern , die mehr oder weniger bewußt vor den Herausforderungen des Jugendsexualismus auf der Flucht sind! Sie wissen nicht, wie sie sich dieser Jugend stellen sollen. In einem Bericht von Rolv Heuer in der Wochenzeitschrift „Stern“ (1970, Nr. 15) heißt es: „Sex, finden die Mädchen, ist zu schön, um schlecht zu sein. Treu sind sie, weil auch Treue Spaß machen kann. Von der lebenslänglichen Ehe halten sie wenig. . .“ Und das anschließende Urteil der Reportage über das Thema „Mit 15 sind die Mädchen reif“ lautet: „Unsere Mädchen nützen die Chance, endlich zwischen Es und Über-Ich Frieden zu schließen. Bei der Entscheidung zwischen Pflicht und Neigung verlassen sie sich auf sich selbst: Mit gutem Gewissen ignorieren sie die kindischen Verbote der Erwachsenen, ob es sich nun um Sex, Haschisch, zu kurze Minis oder zu lange Maxis handelt. Viele dieser fünfzehnjährigen Kinder sind schon jetzt kritischer als es die meisten Erwachsenen je sein werden.
Also ‑ Aufstand der Fünfzehnjährigen gegen die „kindischen Gebote“ der Erwachsenen. Also – die lustbetonte Haltung: gut ist, was Lust bringt und Spaß macht. Die Jugend gebraucht Sex ‑ so wie sie Hasch oder Textilien gebraucht. Es ist eine undramatische Revolution einer undramatischen Jugend, die im Grunde genommen nichts anderes tut, als sich die lustbetonten Zivilisationspraktiken der Alten anzueignen. Das Revolutionäre an der Jugend besteht ‑ paradoxerweise ‑ darin, daß sie das, was die Alten noch mit Hemmungen tun ‑ ohne Hemmungen macht. Es ist die sachliche, nach dem Modell der „Lebemänner“, vollzogene Art und Weise, ein lustbetontes Leben zu führen.
Sind alle Jugendlichen so? – Natürlich nicht!
Aber es gibt diesen Stil. Und dieser Stil setzt für ungezählte Jugendliche nachahmenswerte Verhaltensmodelle. Die sachliche Sexualität ist ein Propagandaartikel, der mit Vehemenz und geschäftlichem Erfolg unters Volk ‑ vor allem unter die Jugend ‑ gebracht wird. Denn Jugendliche sind zahlungsfähige und damit interessante Konsumenten geworden.
Es ist albern zu behaupten, daß die in Massenmedien propagierte Sex‑ und Pornowelle Jugendliche in ihrem sexuellen Grundverhalten nicht beeinflusse. Die Reports widersprechen dem doch selbst! Woher haben die Jugendlichen denn ihre „variationsreiche Sexualkultur“? Wenn es heute noch „Reservate“ nicht versexualisierter Jugendlicher gibt, dann doch nur deswegen, weil hier noch Gebot und Ordnung überzeugend vorgelebt worden und die so verlästerte „Tradition“ den totalen Sieg der sexuellen Revolution verhindert hat.
Wer hat Schuld, daß es sexuelle Revolution unter der Jugend gibt? – Etwa die Jugend? – Wer setzt ihr die Leitmodelle „sachlicher Lust“ vor Augen? – Wie wird Jugend „aufgeklärt“?
Kann Aufklärung helfen?
In dem Wort „Aufklärung“ liegt ein Programm. Aufklärung heißt: Geheimnisse „entschleiern“ oder „enthüllen“, auf natürliche Ursachen „zurückführen“, die Phänomene „begreifen“ und „einsichtig“ machen.
So soll nun auch Sexualität „begriffen“ (in ihren Funktionen) und „einsichtig“ gemacht werden. Das Geheimnis der Geschlechtlichkeit wird „entlüftet“, „entschleiert“ und „zurückgeführt auf“! Man fragt sich:
Welche Unterschiede bestehen zwischen der Erklärung eines Münzfernsprecherautomaten und einer „Geschlechtshandlung“? Es gibt Bücher und Atlanten mit Groß‑ und Kleinaufnahmen über „Äußeres“ und „Inneres“, „Oberes“ und „Unteres“ der „Geschlechtsglieder“. Es gibt also ‑ so erfährt es der junge Mensch ‑ diese Apparatur der Geschlechtlichkeit ‑ also lerne man, wie sie funktioniert. Dabei gibt es dann noch ‑ wenn überhaupt ‑ sehr allgemeines Gerede von Partnerschaft, Mitmenschlichkeit und Verantwortung. So einfach ist das alles.
Moderne Aufklärung kann aber noch weiter gehen. Dann beschränkt sie sich nicht nur darauf, wie Geschlechtlichkeit funktioniert, sondern auch zu welchem Zweck sie funktionieren soll. Der Zweck ist dann die Lustbefriedigung. Ohne Hemmungen sollen Jugendliche den „Gebrauch“ der Geschlechtlichkeit zur praktischen Lusterfüllung lernen.
In der „Sexualinformation für Jugendliche“ des Dänen Bernd H. Claesson werden unter anderen auch diese Wege „zweckmäßigen Gebrauchs“ empfohlen und bedacht:
1. Wenn man ein Tier nicht mißhandelt, dann kann auch mit einem Tier Geschlechtsverkehr geübt werden.
2. Die Technik der Masturbation wird erklärt. Dabei wird männlichen Jugendlichen geraten, bei der Selbstbefriedigung das Überziehen von Verhütungsmitteln zu üben.
3. Beim Petting wird oraler Verkehr, also die mit dem Mund zu vollziehende Erregung (und ggf. auch Befriedigung) des Geschlechtsorgans des Partners empfohlen.
Die „kalte Aufklärung“ bewirkt die „kalte Sexualität“. Sexualität ohne Scham, Liebe, Freude ‑das heißt doch Sexualität ohne Engagement der Person. Ein Beispiel für diese so reprimitivierte Sexualität gibt die Untersuchung „Sozialistische Projektarbeit im Berliner Schülerladen rote Freiheit“ (1970). In diesem Schülerladen wurde kalte Aufklärung praktiziert. Das Ergebnis ist ‑ so muß man nun zugeben ‑ daß z. B. die Frau bei männlichen Jugendlichen nur noch als Lustobjekt Bedeutung hat, mit dem man sich, wenn man Lust hat, um jeden Preis befriedigen darf. Unverhohlene Grausamkeit wurde festgestellt, weil einige Jugendliche hemmungslos bekannten, auch dann den sexuellen Akt an einer Frau zu vollziehen, wenn sie es selbst nicht wolle. Man müsse sie dann eben fesseln ‑ meinte ein befragter Jugendlicher.
1970 erschien im März‑Verlag Frankfurt ein Buch, das nach dem Vorwort ‑ „zu allererst in die Hand des jugendlichen Lesers gehört“. Die 160 Seiten starke und mit vielen Abbildungen versehene Broschüre, von Günther Amendt und anderen Mitarbeitern herausgegeben, heißt „Sexfront“. Dieses „Aufklärungsbuch“ distanziert sich zunächst einmal von katholischen und protestantischen Aufklärungsschriften mit dem Vorwurf des Sexualverbrechens: „Mir ist beim Studium der katholischen und teilweise auch der protestantischen Sexualaufklärungsschriften erstmals klar geworden, was der Begriff Sexualverbrechen eigentlich meint und auf wen die Bezeichnung Sexualverbrecher zutrifft: auf die Verfasser dieser Schriften“ (S.13). Totale Liberalisierung der Sexualität versteht sich in dieser Broschüre von selbst. Über die Onanie heißt es: „Es gibt keine Onanierichtlinien. Onaniere so oft wie du willst und solange es dir Spaß macht.“ Das überrascht im Vergleich zu anderen progressiven Aufklärungsbüchern genauso wenig wie die Tatsache, daß im Text ‑ und auch in den Abbildungen ‑ Anleitungen für die Technik von Onanie und Petting gegeben werden. Zum Beispiel (S.18): „Man muß nämlich oft seinem Partner oder seiner Partnerin sagen oder zeigen, was man gerne hat und wie man’s gerne hat. Im Falle des Zögerns also kann der junge die Hand des Mädchens führen und natürlich auch umgekehrt das Mädchen dem Jungen zeigen, wo sie es besonders schön findet, wenn er sie mit seiner Hand streichelt.“ Überraschend allerdings ist für dieses Aufklärungsbuch, daß in den eben zitierten Text eine Notenzeile mit den Worten des bekannten Kirchenliedes eingeblendet ist: „So nimm denn meine Hände und führe mich.“ Religiöse Aussagen werden also Gegenstand der Revolution des Obszönen.
Damit kommen wir zu der Frontstellung dieses Jugendaufklärungsbuches: Es will ganz eindeutig und unmißverständlich den jugendlichen Menschen zur Ablehnung der Ehe und zum Aufstand gegen die Familie führen. Über die Ehe heißt es (S. 78) : „Soviel muß man von der Ehe verstanden haben. Sie beschreibt einen unauflösbaren Teufelskreis sexueller Verelendung. Nur Menschen, die in ihrer Kindheit bis zu einem gewissen Grad kaputtgemacht wurden, sind überhaupt bereit und fähig, eine Ehe einzugehen. In der Ehe aber gehen sie endgültig kaputt.“
Was soll man nun nach Ansicht der Verfasser tun?
Der Jugendliche wird aufgerufen zum revolutionären Verhalten gegen die Familie. So heißt es wörtlich (S. 75): „Politische Arbeit heißt zunächst einmal, die Fähigkeit einzuüben, Widerstand zu leisten. Dieser Widerstand wird dort praktisch, wo die unterdrückendsten Institutionen uns gegenüberstehen. Das ist die Familie, die Schule, die Ausbildungsstätte in der Fabrik, Büro und Universität. Wer glaubt, davon einfach abhauen zu können, ohne die Voraussetzungen geschaffen zu haben, sich selbständig zu machen von der finanziellen Unterstützung anderer, der hängt seinen persönlichen Bedürfnissen nur ein politisches Mäntelchen um. Widerstand leisten heißt, sich seinen Unterdrückern zu stellen und nicht vor ihnen abzuhauen. Die Familie ist einer der Orte, an dem man Widerstand erlernt und einübt.“ ‑ Aus diesem Buch wurde ausführlich zitiert, weil es ein Beispiel dafür ist, wie sexuelle Aufklärung und politische Revolution zusammengehen und wie dabei ganz unmißverständlich und sogar mit klaren Anweisungen Jugendliche gegen die Familie aufgehetzt werden mit dem Fernziel der Zerstörung von Ehe und Familie.
Welche Konsequenzen aber hat diese „kalte Aufklärungswelle“ für die Jugend?
1. Versachlichung der Sexualität bedeutet „Vergleichgültigung“ der Sexualität. Es ist einfach Unsinn anzunehmen, daß die Geschlechtlichkeit unseres Daseins eine Tatsache unter anderen ist. Für die Jugendlichen ist die sachliche Aufklärung zunächst ein Schock‑Erlebnis. Kalte Aufklärung stößt ab. Nur phantasielose Ehemänner würden zur Zeit und Unzeit die Nacktheit ihrer Frau studieren. Die Aufdringlichkeit des bloß Fleischlichen in der uninteressierten Beobachtung tötet Eros und Sexus, Liebe und Lust! Was Geschlechtlichkeit eigentlich bedeutet, wird nur in der Hingabe, im Begehren, in der engagierten Liebe erfahren.
Auch wenn ich mir den lebenslänglichen Vorwurf der Prüderie einhandle behaupte ich: Um der Lust und Liebe willen möge man auf die kalte Aufklärung in den Sachbüchern der Sexualität verzichten! Was Geschlechtlichkeit bedeutet, kann Jugendlichen nicht an Hand von Schautafeln der Sexualapparaturen beigebracht werden. Es gibt keine wertfreie Betrachtung der Geschlechtlichkeit und es soll sie auch nicht geben. Eine Bedeutung des Schamgefühls lag schon darin, daß es diese kalte Aufklärung verhinderte ‑ denn: Die Geschlechtlichkeit unseres Daseins kann nicht vom Engagement unseres Daseins gelöst werden. Geschlechtlichkeit steht in der Spanne von Begehren und Abscheu ‑ Scham und Schamlosigkeit ‑ Liebe und Ekel. Die kalte Aufklärung lebt von den Denkvoraussetzungen des 18. Jahrhunderts, als Rationalisten und Materialisten ernsthaft meinten und behaupteten, daß der Mensch eine Maschine sei! Unsere kalte Sachaufklärung wurzelt also in der Weltanschauung unserer aufklärungsfanatischen Urgroßväter. Es gibt keine besseren Mittel, um Lust zu vermiesen und Zyniker zu produzieren, als kalte Sexualaufklärung! Für Jugendliche, die ihr Personenwesen nicht verloren haben, besteht die Gefahr, daß sie in ihrer Individtialität auf gespalten werden und den Geschlechtsverkehr gleichsam neben dem persönlichen Engagement vollziehen. Aufspaltung des Personseins ist ein Charakteristikum unserer Zeit.
2. Bei der Aufk1ärung werden gern und leicht Information und Stimulierung (Aufreizung) verwechselt. Jedenfalls gibt es eine Weise der Aufklärung, die sich nicht nur theoretisch über Lustgewinn orientiert, sondern die unverhohlen Lust verlangen erwecken will. Durch diese Art von Aufklärung kommen Jugendliche in eine gezielte Reizüberflutung. Sie müßten Heilige sein, wenn sie dieser (in der Schule der nächsten Zukunft vielleicht zwangsläufig betriebenen) Reizüberflutung widerstehen sollten. Entscheidend für ein Leben ist, in welcher Weise, bei welcher Gelegenheit und in welchem Rahmen zum erstenmal Geschlechtlichkeit des Daseins erlebt wird!
Heute wird dieses fundamentale Erlebnis nicht im Zusammenhang einer personalen Begegnung ‑ etwa als erste Jugendliebe ‑ erfahren, in der mit plötzlicher Urgewalt (ich gebrauche diesen „altmodischen“ Ausdruck ganz bewußt) die Geschlechtlichkeit „erkannt“ wird! Lust wird vielmehr an anonymen, typischen Lustfiguren, eben nur an durch Bilder dargestellten Geschlechtskörpern, erweckt. Die apersonale, das heißt zutiefst lieblose und unpersönliche Sexualgier oder der Ekel sind direkte Folgen unserer modernen Aufklärung.
Nun aber kommt die entscheidende Frage an uns:
Wie soll man es der Jugend sagen?
Zunächst werden wir uns vor der Illusion bewahren, als ob es eine problemlose Aufklärung gäbe, als ob „Mann“‑ oder „Frau“werden jemals ohne Kämpfe, Leiden und Schmerzen und Gefahren erreicht werden könnte. Der billige Optimismus der Fortschrittsmenschen aller Länder will uns einreden, als ob die Probleme der Welt mit einigen Stunden Aufklärungsunterricht bewältigt werden könnten! Schon die Aufklärungsprotze des 18. Jahrhunderts haben gemeint, wenn die Menschen erst ihre Bücher lesen würden, dann käme die Welt schon in Ordnung. Als ob jemals der Sinn unseres Daseins, die Probleme und Konflikte unseres Lebens, allein durch „Lernprozesse“ lösbar gewesen wären.
Also: Wenn wir „es“ sagen, dann sollen wir „es“ so sagen, daß wir auf das Du kommen. Nichtsachliche, sondern personale Aufklärung! Dabei reden wir so, daß das Geheimnis nicht zerstört wird, daß die Ehrfurcht geweckt und die Möglichkeit der Liebe nicht getötet und die Lust nicht in Ekel abgewiegelt wird.
Ich möchte dazu folgende praktische Ratschläge geben:
1. Man kann nicht sachlich (das heißt im Grunde „schamlos“) über Sexualität sprechen, weil Sexualität keine Sache ist. Der Jugendliche kann und soll ruhig merken, daß wir uns schämen, wenn wir darüber reden. Die Scham zeigt einmal, daß es um etwas ganz Entscheidendes in unserem Leben geht, dem wir Ehrfurcht entgegenbringen, und zum anderen, daß dieser Bereich nicht wertneutral ist, daß er in der Spannung zwischen Gut und Böse steht! Über Sexualität reden heißt nämlich, auch über Lust, Begierde, Liebe, Egoismus, Verantwortung und Verantwortungslosigkeit reden. Es hat also erst dann Sinn, wirklich und ganzheitlich über Geschlechtlichkeit zu sprechen, wenn das Kind oder der Jugendliche anfängt, davon innerlich betroffen zu werden. Wohlgemerkt: Ich meine Geschlechtlichkeit und nicht die Frage nach der „Herkunft des Menschen“, die selbstverständlich auch schon Kindern erklärt werden soll. ‑ Die Aufgabe der Aufklärung ist die Aufgabe der Eltern. Nur sie können (und müssen) wissen, wie es um ihr Kind steht, nur sie sollen die Vertrauensbasis haben, auf der das Gespräch möglich ist. Weil es keine wertfreie Aufklärung gibt, müßte einer Schule, das heißt einem wertfreien „Staat“, der den Grundsatz der abendländisch‑christlichen Sittlichkeit nicht mehr achtet, die Aufgabe der geschlechtlichen Aufklärung entzogen werden.
2. Man kann und wird selbstverständlich „natürlich“ über die Geschlechtlichkeit sprechen und sagen, wie ein Geschlechtsakt verwirklicht wird. Man überwindet dabei eine reprimitivierende Versachlichung, wenn die Geschlechtlichkeit als Schöpfungsgabe Gottes verstanden und ausgesagt wird. Der Schock beim Aufklären und Aufgeklärtwerden liegt nämlich darin, daß der Mensch auf einmal mit dieser Riesenmacht Sexualität allein ist, daß er sich auf diese Gewalt zurückgeworfen fühlt.
Deswegen bezeugen wir: Nicht wir haben uns zu Geschlechtswesen ernannt, nicht wir sind die Ursache von Lust und Liebe, sondern Gott selbst hat es gefügt. Wir stehen nicht in unserer, sondern in Gottes Ordnung. So bewegen wir uns in der Darstellung nicht um uns selbst. Das Kind erfährt die Geschlechtlichkeit seines Daseins zugleich mit der Antwort auf die Frage, was der Urgrund unseres Lebens ist. Der junge Mensch ist nun nicht mehr erschrocken darüber, daß er auf nur menschliche Gier und Lust einsam zurückgeworfen ist, sondern daß die geschlechtliche Begegnung in der Ordnung Gottes und in der Verantwortung vor Gott steht.
3. Ich kann nicht über die geschlechtliche Begegnung sprechen, ohne gleichzeitig die Spannung und Entscheidung zwischen Gut und Böse zu sagen. Das Kind weiß, daß es das Böse gibt, weil es das Böse in sich und in der Begegnung mit anderen Menschen schon ‑ ganz abgesehen von der Geschlechtlichkeit seines Daseins ‑ längst erfahren hat.
Diese wenigen Zeilen zu diesem Thema sollen und können kein Aufklärungsbuch ersetzen. Ich beschränkte mich hier auf Grundsätze. Meine Mahnung ist, daß Eltern darauf achten, wie ihr Kind aufgeklärt wird. Wenn in einer Bremer Tageszeitung („Weser‑Kurier“ 3./4. Mai 1969) zu lesen stand: „Im übrigen können die Lehrer Sexualerziehung künftig auch gegen den Einspruch der Eltern unterrichten . . .“, dann ist diese Aussage Einbruch in die elementarsten Rechte der Eltern, besonders dann, wenn es in demselben Aufsatz heißt: „Tabudenken wird künftig in den Schulen abgebaut“, und wenn man weiter liest, daß nach den Bremer Richtlinien der Sexualerziehung auch bei abnormen und negativen Erscheinungen des Geschlechtslebens „vollkommen wertfrei“ und bei dem, was wir Verirrung oder pervers nennen, nur von „Problemen sexueller Minderheiten“ zu lehren sei.
Heute geht es schon nicht mehr um Wachsamkeit ‑ hier geht es um die Selbstbehauptung des christlichen Ethos in unseren Lebensbereichen, denn unter dem Deckmantel der „Wertfreiheit“ werden in Wirklichkeit neue Werte gesetzt ‑ so betreibt man die Revolution einer neuen Moral.
Kann man heute noch Triebverzicht verlangen?
Wer Triebverzicht von sich oder anderen verlangt, verstößt gegen das vornehmste Dogma der sexuellen Revolution, der es ja gerade um Trieberfüllung um jeden Preis geht. Auch die Jugend soll ihre geschlechtlichen Bedürfnisse unbedingt befriedigen. Triebverzicht ist dasselbe wie Repression,das heißt Unterdrückung der Freiheit. Seelische Gesundheit ist ohne Trieberfüllung heute nicht mehr denkbar ‑ so meint die neue Kulturrevolution.
Über seelische Gesundheit wird es nun zwischen Kolle und mir verschiedene Meinungen geben. Der Christ wird darüber anders denken als der Sexualrevolutionär. Aber diese Tatsache ist unbestreitbar: Der Hamburger Psychiater Hans Bürger‑Prinz schrieb 1969 in der „Welt am Sonntag“ angesichts des gerade damals zur Diskussion stehenden Skandals in einem Sommerjugendlager der „Falken“: „Der zu früh an freizügige Erotik gewöhnte Mensch ist später oft unfähig zur echten Hingabe.“ Und zu dem Argument, sexueller Liberalismus überwinde Neurosen, während Triebverzicht Neurosen verursache, schreibt der Hamburger Psychiater: „Das Umgekehrte ist wahr! Die Zahl der Neurosen steigt heute.“ ‑ Nun, diese Tatsache kann niemand bestreiten. Die Neurose ist die Krankheit der Zukunft. Eindeutig läßt sich nachweisen, daß die seelische Stabilität der Jugend von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnimmt. Die große, blasphemische Illusion, durch Sexkonsum ins Paradies marschieren zu können, ist ein katastrophaler Irrtum, den gerade viele Jugendliche mit ihrer seelischen Stabilität bezahlen, denn nur gebrauchte und dann verbrauchte Sexualität nimmt die Fähigkeit zur Liebe.
Vorbehaltlose Frühsexualität (die meist noch künstlich forciert wird durch eine fast terroristische Sex‑Propaganda) ist für den Christen nicht zu akzeptieren. Nur wo man Nein sagen kann,ist man auch frei. Wer nicht Nein sagen kann, ist durch sein Begehren fixiert. Der Christ aber kann seine Gier kreuzigen. Der Apostel Paulus schreibt (Gal. 5,24): „Welche aber Christus Jesus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt samt den Lüsten und Begierden.“ So wenig der Apostel damit meint, daß wir unsere Glieder an ein Kreuz nageln, ebensowenig meint er damit, daß wir die geschlechtliche Lust töten sollen. Das paulinische Freiheitsverständnis vermittelt vielmehr die Erkenntnis, daß uns das Gebet die Kraft gibt, Fixierungen zu durchbrechen, das heißt zu allen Bindungen an die Welt, die durch unser Verlangen geweckt werden, auch Nein zu sagen.
Der Jugendliche, der in hemmungsloser Frühsexualität den Triebverzicht nicht lernt, wird willenlos. Er reagiert dann nur noch auf Triebstöße und Anreizungen. Seine Willenhaftigkeit verkümmert,damit die Fähigkeit zur Konzentration bei geistiger Arbeit und bei der Arbeit überhaupt. Er verliert die Fähigkeit, Opfer zu bringen und verantwortlich Aufgaben durchzutragen. Dieser Mensch lebt nur aus Bedürfnisbefriedigungen, die ihn von Verbrauch zu Verbrauch treiben. Jugendliche, die daran gewöhnt sind, nur noch auf Triebstöße zu reagieren, leiden unter Antriebsschwäche und ihr trauriger Blick und ihre müde Haltung zeugen von einem verkümmerten Menschsein. Solche Jugendlichen pendeln zwischen Rausch‑ und Katerstimmung und können schließlich jeden Halt ihres Daseins verlieren.
Triebverzicht gehört zur Menschwerdung.
Aber, so lautet nun die Frage, kann man von einem Jugendlichen, dessen sexuelle Reifung mindestens fünf bis zehn Jahre vor der Zeit einsetzt, da er heiraten kann, einen permanenten Triebverzicht verlangen?
Zunächst gilt: Die Bibel schließt den vorehelichen Geschlechtsverkehr aus. Das 22. Kap. des 5. Mosebuches ist eindeutig. Vorehelicher Geschlechtsverkehr ist nach den sittlichen Regeln des Alten Testamentes und nach den traditionellen sittlichen Verhaltensweisen der Urchristen und der späteren Christenheit undenkbar. Ich kann und möchte hier nicht die Einzelargumentation wiederholen, die ich bereits in meinem Buch „. . . und was die Bibel dazu sagt entwickelt habe.
Aber durch diese Aussage wird die Fragestellung ja nur verschärft:
Also doch Triebverzicht bis zur Ehe? Die Antwort ist ein klares ‑ wenn auch hartes ‑ ja. Ich möchte diese Antwort in folgende Aussagen aufgliedern:
1. Gibt es die Möglichkeit der Masturbation? Selbstbefriedigung wird heute fast ausnahmslos von Sexualforschern als Möglichkeit jugendlicher Sexualbetätigung angesehen. Ich spreche dazu ein klares Nein. Die Selbstbefriedigung als „abgetrennte Sexualität“ (Karl Jaspers) ist nur eine Scheinbefriedigung, in keiner Weise wird das ursprüngliche Verlangen erfüllt. Masturbation ist eine Konsequenz der Versachlichung der Sexualität, eine Reduktion auf bloße Triebreaktionen. Das biblische Verbot der Masturbation ist eindeutig. Die Geschichte von Onan im 38. Kap. des 1. Buches Mose hat gerade im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr viele Deutungen erfahren. Man sagt, Sünde sei hier nicht, daß Onan, der den „Samen auf die Erde fallen läßt“, sich selbst befriedigt, sondern daß er das alttestamentliche Gesetz der Schwagerpflicht nicht erfüllte (blieb die Witwe des verstorbenen Bruders ohne Kinder, dann mußte der noch lebende Bruder durch geschlechtlichen Verkehr mit seiner Schwägerin diesem toten Bruder gleichsam nachträglich an seiner Stelle Nachkommen erzeugen). Oder man sagt: Nicht die Masturbation, sondern der coitus interruptus (das früher übliche Empfängnisverhütungsmittel: Abbruch des Geschlechtsverkehrs in dem Augenblick, da der Mann den Orgasmus erlebte, also Orgasmuserlebnis außerhalb des „Ein‑Leib‑Seins“) sei gemeint. Der Streit ist in insofern müßig, als bei einer ganzheitlichen Betrachtung dieser alttestamentlichen Geschichte die „abgetrennte Sexualität“ in jeder Weise verurteilt wird: Als Empfängnisverhütung, als Masturbation und als coitus interruptus. Sinn der Schöpfungsordnung ist doch, daß der Höhepunkt geschlechtlicher Begegnung in der leiblichen Totalbegegnung erfolgt. Solch eine Begegnung als ganzheitliche Begegnung kann es nur in der Ehe geben.
2. Der voreheliche Geschlechtsverkehr verbietet sich vom Ethos der Bibel her eindeutig. Aber es ist doch möglich, daß zwei Menschen, die so reif sind, daß sie zur Liebe wirklich fähig sind, früh eine Ehe eingehen. Die vielen abschreckenden Beispiele gescheiterter Frühehen zählen dabei nicht. Wenn zwei gläubige Christenmenschen, die um den Sinn des Lebens und um ihre Verantwortung vor Gott wissen, etwa mit achtzehn Jahren heiraten und ihre Liebe im Gebet unter Gottes Erbarmen stellen, warum sollen sie dann an ihrer Ehe zerbrechen? Moderne Ausbildungsfinanzierungen machen wirtschaftliche Probleme überflüssig. Gleichklang geschlechtlicher und persönlicher Reife erlaubt nicht nur, sondern gebietet die Ehe, wenn sie von zwei Menschen verlangt wird.
Christus sagt: Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes, und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. (Matth. 6,33). Das bedeutet doch für unser Problem, wenn wir unsere Kinder so erziehen , daß sie zuerst nach dem Reiche Gottes trachten, daß sie frei sind von allen Fixierungen, daß sie auch Nein sagen können in der Beherrschung ihres geschlechtlichen Triebes, wenn sie also durch Glauben die Mensch‑ und Christwerdung in sich betreiben, wird ihnen auch die Möglichkeit der Frühehe zufallen! Nicht ob man, sondern wer eine Frühehe eingeht, das ist die entscheidende Frage.
Ich wiederhole: Man wird und ist nicht Mensch ohne Schmerzen, man wird und ist nicht Mensch ohne Schuld. Zu den Anklägern einer Sünderin sagte Jesus, wer ohne Sünde sei, der möge den ersten Stein werfen. (Joh. 8). Es flogen damals keine Steine. Wo der Mensch weiß, daß er schuldig geworden ist, darf er um die Vergebung wissen, wenn er an die Vergebung glaubt. Jesus vergibt dem Sünder ‑ aber er hebt die Sünden nicht auf ! Sünde bleibt Sünde, Schuld bleibt Schuld! Verdrängte Schuld macht aggressiv vergebene Schuld macht frei! Sexualaufklärung, die die Sünde „abschafft“, ist im Grunde elender Pharisäismus, weil sie nichts von der Vergebung weiß.
Andererseits wird heute den Jugendlichen, ja überhaupt allen Menschen, fortwährend Absolution zugesprochen. Der Mensch versteht sich nicht mehr als Schuldner Gottes, weil er sich selbst zum Gott ernannt hat. Wenn heute die Botschaft von der Erlösung durch den Glauben an Christus nicht mehr „ankommt“, dann deswegen, weil man weder den Mut noch die Bereitschaft hat, mit dem Menschen ins Gericht zu gehen und die Wahrheit von Gut und Böse, Sünde und Schuld zu verkünden. Christus hat gesagt: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Kein Mensch heute denkt daran, Buße zu tun, weil er von modernen Meinungsmachern permanent zum vollkommenen Menschen ernannt wird. Die Aufklärung von heute lebt in derselben Weltanschauung wie die Aufklärung von damals: Der Mensch ist völlig in Ordnung; es müssen, damit er im Paradiese lebt, nur einige Mißverständnisse und Mißverhältnisse abgeschafft werden.