Gotteserlebnisse im Schnellverfahren? (K.G.Rey)
Karl Guido Rey
GOTTESERLEBNISSE IM SCHNELLVERFAHREN
– Suggestion als Gefahr und Charisma –
1 Zu diesem Buch
2 Schwachstellen in der charismatischen Erneuerung
Zungenreden
Geistlicher Stolz
Verlust der Stille
3 Zur Psychologie des Sprachengebetes
Seelischer Automatismus
Regression in die Kindheit
Projektion oder Offenbarung
4 Erschlagen im Geist
Ein neues Phänomen
Zeichen und Wunder
Erlebnis und Früchte
Seelische Beeinflussung
5 Vor dem Palast des Königs
Teresa von Avila
Johannes Tauler
Kathrin Kuhlman
6 Warnung vor der Lust an Lust
7 Die erschlagenen Melonen
Kathrin Kuhlman
Heilungen
Umgeworfene
Welche Kraft
8 Vorstellung schafft Wirklichkeit
Wesen und Wirkung der Suggestion
Faktoren der Suggestion
Die Rolle der Masse
9 Heilung durch Hypnose
Einengung und Absenkung des Bewußtseins
Regression in die Kindheit
Technik der Hypnose
Veränderung und Heilung durch Hypnose
10 Ruhen im Geist als Gefahr
Gefahr der Vermassung
Gefahr der Manipulation
Gefahr der Bindung an Menschen
Gefahr der Selbsttäuschung
11 Suggestion als Charisma
Mystik oder Pseudomystik
Kinder des Lichtes
Autogenes Training
Entspannung durch Gebet
1 Zu diesem Buch
Immer mehr Menschen erfaßt heute eine Sehnsucht, Gott zu erfahren. Gott läßt sich wirklich und auf vielfache Weise erfahren. Vielleicht so vielfach wie es Menschen gibt. Gotteserfahrungen sind aber ein Geschenk. Es wird den meisten, wie die Mystiker aller Zeiten bezeugen, erst am Ende eines langen und oft schmerzlichen Weges der geistlichen und menschlichen Reifung zuteil. Manchen ist dieser Weg zu mühsam. Sie entwerfen Techniken und Methoden, Gotteserlebnisse im Schnellverfahren und zu Tiefstpreisen zu erlangen. Gibt es billige Abkürzungen auf dem Weg zu Gott? Dieser Frage möchte ich in diesem Buch nachgehen, indem ich mich religionspsychologisch mit einem Phänomen auseinandersetze, das seit einiger Zeit in der charismatischen Erneuerung auftritt und meines Erachtens deren Glaubwürdigkeit in Frage stellt. Das ist mir nicht gleichgültig, denn ich betrachte eine charismatische Erneuerung als Hoffnung für Kirche und Gesellschaft in unserer Zeit, die doch durch soviel Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist.
Ich selber habe die elementare Kraft der Erneuerungsbewegung im Heiligen Geist erfahren. Sie hat mich aufgewühlt und verändert. Sie hat mich vom Gewohnten losgerissen und mein Lebensschiff dem Meer des Glaubens und seinen oft sturmgepeitschten Wellen preisgegeben. Ich fühle mich bald durchnäßt und durchfroren, bald hoffnungsvoll und freudig, in Angst und Furcht, in dichtem Nebel, an praller Sonne, in der Weite und Unendlichkeit geborgen – und verloren. Ich entdecke neue Welten, andere Dimensionen, unter denen mein eigenes Ich verschwindend klein geworden ist. Ein neuer Mensch, wenn auch auf schrecklich schwachen Füßen. Aber es ist eines der Paradoxe des christlichen Lebensversuchs, daß wir gerade in der Schwäche Gottes Gegenwart und Kraft am deutlichsten erfahren. Wenn ich in meinem letzten Buch (Neuer Mensch auf schwachen Füßen, München 1984) noch schrieb, daß ich in ihren Reihen genug Selbstkritik feststelle, als daß ich fürchten müßte, sie stolpere über ihre eigenen Gefahren, und daß sie zu sehr auf dem Boden des zweiten Vatikanischen Konzils stehe, um Gefahr zu laufen, zu einer Sekte zu entarten, so bin ich mir dessen heute nicht mehr ganz so sicher. An dem Phänomen, das ich besprechen möchte, wird dies besonders deutlich.
2 Schwachstellen in der charismatischen Erneuerung
Zunächst möchte ich das Umfeld des Phänomens abstecken, einige Schwachstellen der charismatischen Erneuerung – weiter auch kurz »Erneuerung« genannt – freilegen; erst in Verbindung mit diesen können wir das Phänomen als Gefahr erkennen.
Von Begeisterung erfüllte Erweckungsbewegungen bergen den Keim der Zerstörung in sich selbst. Begeisterung macht blind und verführt dazu, Grenzen zu überschreiten, die schützen sollten. Begeisterte sind einseitig. Sie übertreiben. Einseitigkeiten und Übertreibungen haben schon manche hoffnungsvolle Quelle zugeschüttet. Man sagt nicht umsonst, daß der Teufel übertreibt, was er nicht verhindern kann. Auch in der Erneuerung wird übertrieben. Ich will als Beispiel das Zungenreden nennen, das meiner Meinung nach als Randerscheinung zum Nachteil des ganzen zu sehr gewichtet wird. Herders Theologisches Taschenlexikon definiert das Zungenreden unter dem Stichwort »Charisma« als ein ekstatisches, für die Zuhörer unverständliches Reden, das an Gott gerichtet ist und nur dem Sprechenden, nicht dem Hörenden dient (Glossolalie) und der Deutung bedarf.
Zungenreden
Die Gemeinde in Korinth scheint diese Art des Gebetes ebenfalls übermäßig gebraucht zu haben, so daß sich Paulus dazu kritisch äußerte. Er rief die Christen auf, nach Liebe zu streben, und vor allem aus erleuchtetem Geist, das heißt, erweckend und erbauend, zu reden. »Denn wer nur in entrückter Sprache redet, spricht nicht zu Menschen, sondern zu Gott; es versteht ihn ja niemand, sondern im Geist redet er Geheimnisvolles, wer dagegen aus der Erleuchtung des Geistes redet, redet zu Menschen, was sie fördert, ermahnt, ermuntert. Wer in entrückter Sprache redet, hat nur Förderung für sich selbst, wer aber aus erleuchtetem Geist redet, fördert die Gemeinde« (1 Kor 14, 2- 5. – Die Bibelzitate sind der Übersetzung von Otto Karrer entnommen).
»Wenn ihr in entrückter Sprache redet und kein wohlverständliches Wort verlauten laßt, wie soll man dann den Gehalt der Rede verstehen? Ihr werdet in die Luft reden! … In der Gemeinde will ich lieber fünf Worte mit meinem Verständnis reden, um auch anderen etwas zu bieten, als zahllose Worte in entrückter Sprache reden« (1 Kor 14,9.19). Nach diesem Exkurs über das Zungenreden ermahnt Paulus die Korinther nochmals, eifrig die Rede aus erleuchtetem Geist zu pflegen, um schließlich einzuräumen, daß man jene, die in Zungen reden wollen, nicht hindern soll; aber »alles geschehe in rechtem Anstand und in Ordnung« (1 Kor 14,39). Ein sehr ernüchterndes Zugeständnis Paulus‘ an die Zungenredner.
Ich persönlich betrachte die Glossolalie aus meinem psychologischen Standpunkt als eine Art psychischer Lockerung oder Entspannung. In diesem Sinne kann sie ein Charisma sein. Ich anerkenne sie als nonverbale Ausdrucksform unserer Gefühle gegenüber Gott. Als einen Akt der Demut, vor ihm wie ein Kind zu sein, den intellektuellen Stolz loszulassen und den Zwang, in geistlichem Imponiergebaren mit schönen Worten vor ihn zu treten. Das gemeinschaftliche Singen in Sprachen kann tiefe emotionale Schichten aufbrechen und an das Licht der Gnade bringen.
Sobald das Zungenreden eines Einzelnen jedoch als persönliche Botschaft Gottes aufgefaßt wird, bewegen wir uns an einer Grenze, deren wir uns bewußt sein sollten. Es ist außerordentlich schwer, Jenseitiges von Diesseitigem, allgemein gültige Aussagen von der bloß persönlichen Meinung des Beters zu unterscheiden. Wir stehen da zwischen Bewußt und Unbewußt, Eingebung und Manipulation. Ist ein solches »Gebet« Ausdruck der Hingabe an Gott oder versteckter Geltungsdrang? Hysterie und Mystik liegen nahe beieinander. Was ist Wahrheit und was ist Lüge? Um zu verstehen, ob es sich um dieses oder jenes handelt, bedarf es der Klarheit über das Wesen und die Komplexität seelischer Zustände ebenso wie über die Vielfalt und die Funktion der Mechanismen des Unbewußten. Es bedarf grundlegender Menschenkenntnis und der Erfahrung auf dem Grenzgebiet zwischen Psychologie, Parapsychologie und Theologie. Darauf gründet die Gabe der Unterscheidung als natürlichem Fundament, die noch lange nicht jeder hat, der sie für sich in Anspruch nimmt. Daß diese Voraussetzungen zur Beurteilung eines Sprachengebetes nicht immer und sogar nur in sehr seltenen Fällen vorhanden ist, erhöht die Gefahr, in der Begeisterung einen Vorgang für etwas zu halten, was er nicht ist, nämlich eine persönliche Botschaft Gottes. Hier mischen sich Halbwahrheiten, Unwahrheiten und Irrtümer. Das Zungenreden überhaupt und im Besonderen als Form der Übermittlung göttlicher Botschaften, wie in der Erneuerung praktiziert, bringt diese bei vielen Christen in ein Zwielicht und damit in den Geruch der Sekte.
Führungsschwäche
Das übertriebene Zungenreden muß im Zusammenhang mit anderen Schwächen gesehen werden, worüber die Erneuerung stolpern könnte. Da entgegnet man mir, daß sie nicht stolpern werde, weil es der Heilige Geist sei, der sie sicher führe. Ein typischer Einwand von »Charismatikern«, die sich mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen der Führung des Geistes verlassen, ohne zu irgend etwas auch nur das Geringste beizutragen. Man zwingt Gott so zum Handeln. Und da ist man sehr erstaunt, wenn er nicht handelt.
Ist es da nicht ähnlich wie in der Psychotherapie, wo der Therapeut nur jemandem helfen kann, der selber etwas tut, mitarbeitet, seine Fähigkeit und seine Kräfte in Bewegung setzt? Wer nur abwartet, der wird nicht geheilt. Jeder heilt sich zunächst selbst. Es ist nicht diese Form der Kindlichkeit, die unser Glaube fordert. Das ist nicht gemeint, daß wir uns untätig in den Kinderwagen legen, weil uns der Mut fehlt, groß zu werden und uns dem Leben zu stellen. So blockieren wir Initiative ab und klammern Verantwortung aus. Da gibt es niemand, der führt, weil sich alle führen lassen wollen. Niemand, der geht, weil alle stehen bleiben. Da erwarten alle Zuwendung und niemand ist da, der fähig ist, sich wirklich zuzuwenden. Da wird nicht Erneuerung, sondern ein geistlicher Konsumverein, der sich darin erschöpft, abzuwarten, was andere ihm schenken und was Gott für Wunder tut. Ich stelle diese ungute Passivität im Heiligen Geist bis in Leitungsgremien hinauf fest, wo sie Führungsschwäche bewirkt. Gruppen werden sich selbst überlassen ebenso wie die Menschen den Gruppen, weil ja der Heilige Geist für alle sorgt. Die menschlichen Qualitäten zählen nicht, auf die Gott setzen möchte. Die menschliche und geistliche Entwicklung wird nicht zielbewußt und ihren Gesetzmäßigkeiten gemäß verfolgt. Die Gruppen entbehren der kritischen Korrektur, geraten nicht selten auf Holzwege, von wo sie sehr schwer zurückgeholt werden können, wenn überhaupt jemand da ist, der sie zurückzuholen imstande wäre.
Geistlicher Stolz
Die naive Passivität ist eine Form des Infantilismus, eine Unfähigkeit, die Minderwertigkeitsgefühle züchtet, welche einerseits unter der Etikette der Demut versteckt und anderseits mit einer fatalen Selbstüberschätzung bei der Beurteilung religiöser Fragen »ausgeglichen« werden. Man fühlt sich im Besitz Gottes und fähig, über ihn zu verfügen, ihn sozusagen in seiner Gewalt zu haben, daß er Eingebungen, Prophetien und Offenbarungen schenkt, die als objektive und für andere verbindliche Wahrheit ausgegeben werden: »Gott hat mir gesagt … Der Herr will, daß ihr euch so und so verhaltet …«
Geistliche Überheblichkeit führt manche dazu, sich der eigenen Anschauung mehr zu verpflichten als dem Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität, so daß einzelne Gruppen den »Offenbarungen« einzelner Mitglieder mehr Glauben schenken als den Weisungen von Gottes Wort. So wurden mir beispielsweise Bitten um Mitarbeit an einer wichtigen Aufgabe oder um Hilfe für andere mit der Begründung abgelehnt, keinen Ruf zu verspüren, was heißt, keine direkte Weisung von Gott empfangen zu haben. Das sind Vorwände. Niemand sollte auf den direkten Telefonanruf Gottes warten und dabei den Hilferuf des Bruders überhören, durch den sich Gott zwar indirekt, aber nicht weniger deutlich mitteilt. Oft ist deshalb die Berufung auf die direkte Verbindung mit Gott weniger Überheblichkeit als bequeme Ausrede. Manchmal vielleicht beides.
Spirituelle Individualisten oder Egoisten gibt es überall. Mir scheint, es gebe in der charismatischen Erneuerung zu viele. In der Überzahl könnten sie gefährlich für sie werden. Zu viele sind auf die Erfüllung ihrer eigenen Wünsche und Vorstellungen fixiert. Zu viele jagen im Glauben nach dem eigenen Glück. Abgeschnitten von den großen Anliegen der Kirche, trachten sie zu ausschließlich nach der Lösung ihrer eigenen Probleme. Der Run nach Heilung von Kopfschmerzen und Schnupfen in Heilungsgottesdiensten ist oft peinlich. Selten denkt jemand daran, daß man Krankheiten, die oft der körperliche Ausdruck seelischer Unter- oder Fehlentwicklungen sind, nicht einfach wegblasen kann, sondern sie vielmehr hinterfragen sollte. Es wäre gut, nach ihrem Sinn zu forschen, statt sie durch Wunder sofort wegzaubern lassen zu wollen. Gott heilt uns von Krankheiten, möchte aber auch, daß wir deren Sprache verstehen.
Verlust der Stille
Dieser fast vorgeburtlichen Haltung des sich bloß Tragen- und Führenlassens steht in gewissen Gebetskreisen und liturgischen Feiern ein verdächtiger religiöser Aktivismus gegenüber. Die an sich zu begrüßende Spontaneität im Gebet wird oftmals zu einem Gerangel um Redezeit, was eine große Unruhe verursacht und stille Minuten verunmöglicht. Äußerung reiht sich an Äußerung, Gebet an Gebet, Lied an Lied. Positive Ansatzpunkte für eine persönliche und lebendige Feier der Liturgie werden so gefährdet. Es besteht eine Art Zwang, Gott herbeizusingen- oder zu beten, wobei die Offenbarung der Stille verkannt wird. Nur wenn wir schweigen, können wir hören. Und Glauben kommt vom Hören und nicht vom Reden. Ohne Stille verflacht der Glaube, und dessen Ausdruck in der Liturgie oder im Gebet wird in oberflächliche Routine ausleiern. Die Kreativität versiegt. So fällt mir auf, daß in gewissen Regionen die kirchenmusikalischen Ansatzpunkte in einem anfänglich übernommenen Amerikanismus stecken bleiben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil man sich vom Reichtum der traditionellen Kirchenmusik gelöst hat. In Frankreich stellte ich erfreuliche Ausnahmen fest. Jede Liturgie bedarf der Kreativität, wenn sie nicht zum hohlen Ritual entarten soll. Stille ist der Ort geistlicher Kreativität und Regeneration, der Raum der Erkenntnis, die Werkstatt des richtigen Maßes, die Geburtsstätte der Innerlichkeit, Voraussetzung für die Begegnung mit Gott.
Halbherzige Psychologie
Viele Leiter der Erneuerung haben ein zwiespältiges Verhältnis zur Psychologie. Ein Erbstück pfingstlerischer Herkunft, nach der dieses Fach unter den okkulten und daher abzulehnenden Wissenschaften eingereiht wird. Deshalb werden tiefenseelische Zustände und Vorgänge nicht selten mangels psychologischer Kenntnisse kurzerhand, da sie eben unerklärbar sind, entweder als Wunder des Heiligen Geistes oder aber als Wirkung dämonischer Kräfte gedeutet. Sogar führende Theologen der Erneuerung verheimlichen ihre Haßliebe zur Psychologie nicht. So saß ich schon bei Vorträgen wie ein begossener Pudel da, wenn plötzlich Angriffe gegen Psychologie und Psychotherapeuten gestartet wurden, nachdem man vorher lange psychologische Erörterungen ausgebreitet hatte. Offenbar liebt man die Psychologie solange, als sie theoretische Überlegungen erlaubt. Sobald sie persönlich trifft, unangenehme Erkenntnisse vermittelt und persönliche Konsequenzen fordert, verwandelt sich die Liebe in Ablehnung, die bis in die Basis deutlich spürbar ist.
Ich kenne die Grenzen der Psychologie sehr wohl und verpasse keine Gelegenheit, auf diese hinzuweisen. Aber man sage nicht: Wir brauchen keine Psychologie; wir haben den Heiligen Geist. Auch die Psychologie kann eine Gabe des Heiligen Geistes und psychologisches Fingerspitzengefühl ein ganz besonderes Charisma sein, das ich der Erneuerung in reichem Maße wünsche. Die Psychologie ist eine Wegbereiterin und Wegbegleiterin des Glaubens. Sie ist ein vorzügliches Mittel der Selbsterkenntnis. Sie hilft uns, Mängel aufzuspüren, Trugschlüsse zu entdecken, Vorwände abzubauen, Irrwege zu korrigieren. Ich hoffe, daß sie von den Verantwortlichen uneingeschränkt anerkannt, und auch praktisch angewandt wird, in Anerkennung ihrer Grenzen, aber auch offen für ihre unbequemen Konsequenzen.
Unsicherheit gegenüber Gefühlen
Die Unsicherheit gegenüber der Psychologie gründet in der Angst dem eigenen Innern, besonders dem Unbewußten gegenüber. In diesem stecken bekanntlich Verdrängungen, kollektive Bilder und Verhaltensmuster unserer primitiven Vergangenheit. Da liegen unberechenbare und unkontrollierbare, unbekannte Kräfte, von denen man zwar weiß, daß wir sie auch dem Licht des Heiligen Geistes aussetzen sollten. Man weckt sie. Sie äußern sich in vielerlei Gefühlen. Etwa beim Friedensgruß während der Eucharistiefeier, wenn die Umarmungen nicht mehr enden wollen, weil einige endlich die Möglichkeit entdecken, was sie fühlen auch körperlich auszudrücken, oder wenn einzelne in der Freude am Herrn zu tanzen beginnen und eine Gemeinschaft auf einmal in Bewegung und Rhythmus ausbricht. Das wird, wie mir scheint. allerdings immer spärlicher, weil man, was man früher weckte, aus Angst, es könnte sich unkontrollierbar entfesseln, immer mehr zu bremsen und abzublocken beginnt. Das ist schade, weil so von neuem alles »verkopft« und das soeben entdeckte Herz wieder lahmgelegt wird. Verantwortliche überwinden diese Angst, wenn sie selber zu ihren eigenen Gefühlen stehen und mit ihnen aus eigener Erfahrung umzugehen lernen. Sie müßten konsequent die Mittel der Bewußtwerdung der unbewußten Seiten an sich, die ihnen die Psychologie anbietet, anwenden, um mit bewußtem Kopf die Gefühle der anderen kanalisieren, ausrichten und auffangen zu können. Nur so ermöglichen sie allen die Freiheit einer ganzheitlichen geistlich-menschlichen Entwicklung.
3 Zur Psychologie des Sprachengebetes
Ich will sogleich ein Beispiel angewandter Psychologie geben, indem ich nochmals auf das Zungenreden zurückgreife und es nach psychologischen Kriterien zu beurteilen versuche. Wir werden sehen, daß es dann seine Unerklärlichkeit verliert, sich nicht mehr einfach dem direkten Eingreifen Gottes zuschreiben, sondern als Form eines seelischen Automatismus auffassen läßt. Es wird ihm der Schleier des Geheimnisvollen genommen. Es stellt sich als natürlicher Vorgang dar. Es ist sicher für manche ernüchternd, aber ebenso für viele heilsam, zu erkennen, daß wir gar nicht soviel Außergewöhnliches brauchen wie wir meinen. Auch ohne das »Wunder« der Zungenrede ist noch so viel Wunderbares um Jesus Christus, selbst wenn er die Regeln der Natur nicht fortwährend durchbricht. Ich komme auch deshalb nochmals auf die Glossolalie zurück, weil uns deren psychologische Durchleuchtung vorzüglich auf die Analyse unseres Hauptphänomens vorbereitet.
Seelischer Automatismus
Neben dem Zungenreden ist das automatische Schreiben der bekannteste Automatismus. Es ist erstaunlich, daß eine komplizierte Handlung wie das Schreiben als Ausdruck einer intelligenten, kombinierenden, oft sehr phantasievollen Tätigkeit automatisch erfolgen kann, ohne vom Willen geleitet zu sein und anscheinend ohne jede Verbindung mit dem gewöhnlichen Bewußtsein. Verhältnismäßig viele völlig gesunde Menschen können automatisch schreiben. Der Schreibende läßt die rechte Hand, die einen Bleistift hält, auf einem Schreibblock ruhen, während er zum Beispiel ein Buch liest oder mit einem Freund spricht. Nach einer Weile bewegt sich die Hand und kritzelt auf das Papier. Dieses Kritzeln kann bisweilen gleich von Anfang an Worte und Sätze formen. Im allgemeinen läßt es sich beim ersten Versuch kaum entziffern. Mit zunehmender Übung nimmt das Gekritzel entschiedener die Form einer Schrift an: Wörter, Sätze oder lange zusammenhängende Abschnitte werden niedergeschrieben. Der Schreibende ist, obwohl er sich mehr oder weniger darüber im klaren sein kann, daß seine Hand sich bewegt, völlig in Unkenntnis der Worte oder Sätze, die geschrieben werden.
Wer oder was teilt sich in diesem automatischen Schreiben mit? Sind diese Mitteilungen Ausdruck unbekannter Kräfte im Menschen selbst? Einige halten sie für Mitteilungen von Dämonen, andere von Geistern. Handelt es sich hier um mentalen Mediumismus? Mediumismus ist die Bezeichnung für die Tatsache, daß es Menschen gibt – eben Medien -, die in ausgeprägtem Grad psychologisch nicht erklärbare, das heißt parapsychologische Phänomene manifestieren. Automatisches Schreiben fällt unter die Bezeichnung mentalen Mediumismus im Gegensatz zu physischen Erscheinungen wie etwa die Telekinese, die unter den Sammelbegriff des physischen Mediumismus fallen.
Wir werden in einem späteren Zusammenhang auf parapsychische Probleme zurückkommen, die wir hier nicht weiter erörtern wollen. Es bedurfte jedoch dieser Ausführungen, um das Zungenreden, das nach der Praxis der Erneuerung als Ausdruck oder Mitteilung des Heiligen Geistes interpretiert wird, ins richtige Licht zu stellen.
Regression in die Kindheit
Harald Schjelderup referiert in seinem Buch »Das Verborgene in uns« über seine Arbeit »Psychologische Analyse eines Falles von Zungenreden«, die er 1931 in der »Zeitschrift für Psychologie« veröffentlicht hatte. Er schreibt: »Scheinbar war die Zungenrede, die ich analysierte, vollständig sinnlos:
bosche, bosche, meino,
Veine bine momo
lana lana meina,
bischta butta Taina!
dutta kaaaada!
usw. usw.
Als Untersuchungstechnik benutzte ich die psychoanalytische Assoziationsmethode. In einem soweit wie möglich passiven Zustand wurde die Aufmerksamkeit der Zungenrednerin sukzessiv den verschiedenen Lauten zugewandt mit der Aufforderung, sämtliche Einfälle mitzuteilen, die sich spontan einstellen würden. Während die Analyse erfolgte, traten eigentümliche Bewußtseinsänderungen ein. Die Zungenrednerin schildert den Zustand während der analytischen Deutungsarbeit folgendermaßen: >Wenn ich anfange von den Lauten zu reden, so ist es, als ob ich mich in ein dunkles Zimmer einschließen muß, um mit ihnen in Berührung zu kommen – ich muß das Bewußtsein ausschalten – ich habe das Gefühl, als ob ich durch Hunderte von Jahren gehe – ich muß gleichsam vergessen, daß ich erwachsen bin.<
Ein anderes Mal beschreibt sie es in folgender Weise: >Es ist als ob ich in die ganz frühe Kindheit hinabtauchte und diese als etwas noch Gegenwärtiges und Wirksames erlebte. …<
Erst in diesem Zustand kamen die Assoziationen, welche die Zungenrede aufklärten. Es wurde möglich, zu verstehen, wie die einzelnen Zungenredelaute entstanden waren und was sie bedeuteten, und wie sie einem Strom ganz früher Kindheitserlebnisse und Kindheitsphantasien Ausdruck gaben, die normalerweise völlig vergessen waren, die aber infolge besonderer Umstände in der aktuellen Lebenssituation der Zungenrednerin zu einer unbewußten Tätigkeit erweckt wurde« (H. Schjelderup, Das Verborgene in uns).
Wenn wir also die Psychologie nicht ausschalten, sondern in unser Urteil klugerweise mit einbeziehen, erkennen wir, daß das Zungenreden mindestens auch Ausdruck des Unbewußten sein kann, Ausdruck einer Regression in die Kindheit, in der Kindheitserlebnisse und- phantasien abreagiert und gereinigt werden. Ich kann mir gut vorstellen, daß das Zungenreden ähnlich wie der Traum oder die therapeutische Malerei ein Selbstheilungs und Reinigungsprozeß der Seele ist.
Projektion oder Offenbarung
Das Vorgehen in der therapeutischen Gruppenmalerei kann uns den Vorgang der Interpretation von Sprachengebeten erhellen. Da spricht jemand in Sprachen. Jemand anderer interpretiert das Sprachengebet. In meinen Maltherapien fordere ich nach dem Malen eines Bildes die Teilnehmer auf, sich über das Bild eines Einzelnen zu äußern, es also zu interpretieren. Bei gegenständlichen Bildern fällt die Interpretation entsprechend objektiv aus: »Das ist ein Fisch.« Den Fisch sehen alle. Dann fügt der Betreffende bei: »Er hat gerade etwas gefressen. Er macht so einen gesättigten Eindruck.« Das sehen die anderen nicht. Das ist eine Projektion eines eigenen seelischen Inhaltes, der entweder eigenen Hunger, eigene Sattheit, eine gewisse Aggressivität als Tendenz zur Einverleibung ausdrücken kann. Was es dann wirklich ist, wird sich aus anderen Interpretationen anderer Bilder oder desselben Bildes herausstellen.
Handelt es sich um ein diffuses Bild mit lauter undefinierbaren Formen und Farbkompositionen, ist sozusagen eine objektive Interpretation unmöglich. Das Diffuse provoziert Projektionen subjektiver Inhalte besonders stark. So betrachte ich ein Sprachengebet als diffuses Buchstaben und Wortbild, das die Projektionen des Interpreten herausfordert. So sind, psychologisch gesehen, nicht nur manche Sprachengebete Ausdruck des Unbewußten des Zungenredners, sondern die Interpretation des Sprachengebetes ist vielmehr auch Ausdruck psychischer Inhalte des Interpreten. Wenn man das weiß, geht man vorsichtig um mit der Behauptung, das seien unmittelbare Weisungen und Hinweise des Heiligen Geistes. Ich bestreite nicht, daß solche Sprachengebete oder Interpretationen von Sprachengebeten auch Mitteilungen Gottes sein können. Gott braucht die Natur, um sich zu äußern, indem er etwa die erfolgte Projektion so steuert und benützt, daß sie seine Absicht kundtut oder so, daß eine Interpretation etwas Wahres im weitesten Sinne aussagt und somit auch Gott offenbart, der die Wahrheit ist. Aber es ist mir nicht erklärlich, warum er sich gerade in dieser Form äußern soll, wo doch die Unterscheidung zwischen dem geistlichen Inhalt und dem bloß persönlichen Aussagewert so schwer, ja oftmals geradezu unmöglich ist. Man bewegt sich hier auf einem Parkett, das man um der Wahrheit willen besser nicht betreten würde.
Ich meine, um es nochmals zu sagen, daß Gott uns in sehr seltenen Fällen durch eine Glossolalie etwas sagen will. Wie denn bei ebenso seltenen Fällen ein Traum als Blitzlicht in eine dunkle Lebensgeschichte eine Botschaft Gottes sein kann, die Umkehr und Verwandlung bewirkt. Auch ein Bild oder die Interpretation eines Bildes durch den Therapeuten, durch ein Mitglied der Malgruppe oder den Maler selber kann dermaßen verändernd sein, daß mir die Annahme des unmittelbaren Wirkens des Heiligen Geistes unbestreitbar erscheint. Freilich bedarf es bei der Deutung eines Traumes oder bei der Gewichtung einer Bildinterpretation der großen Erfahrung eines Kenners.
In charismatischen Gruppen, wo das Sprachengebet geübt und interpretiert wird, fehlen weitgehend Fachkundige, und jedermann darf seine eigenen Konflikte oder Anschauungen ungehindert in eine Prophetie verpacken und als Mitteilung des Heiligen Geistes verkaufen. Die einzelnen Gruppen und die Einzelnen in den Gruppen sind da überfordert. Man sollte deshalb von dieser Praxis des Zungenredens Abstand nehmen. Man sollte diese Praxis in öffentlichen Gottesdiensten nicht zulassen, da sie andere Christen, die mit der ganzen Problematik nicht vertraut sind, irritiert, abstößt, ihnen vielleicht sogar Ärgernis gibt. Auch wenn ich akzeptiere, daß bei öffentlichen Feiern und innerhalb der Gebetskreise in Sprachen gemeinsam gesungen wird, weil sich in dieser Form des spontanen Lobpreises die Seele des Einzelnen oder eine ganze Gemeinde tatsächlich in großer Offenheit dem Höchsten nähern kann, habe ich bei Liturgiefeiern erfahren, daß die Teilnehmer Gott ebenso spontan in der eigenen Muttersprache priesen und dabei dieselbe Intensität und Tiefendichte der Anbetung erlebten.
4 Erschlagen im Geist
Ein neues Phänomen
In diese geistlich psychologische Landschaft der Erneuerung platzt ein neues Phänomen, das die amerikanische Heilerin Kim Collins seit einiger Zeit nach Europa exportiert. Während sie bei Heilungs- und Segnungsgottesdiensten Menschen die Hände auflegt oder sie berührt, fallen diese zu Boden. Bereits Kathrin Kuhlman praktizierte diese Methode in den sechziger Jahren bei ihren Heilungsversammlungen in Amerika, in denen Menschen reihenweise umfielen, ohne daß sie sie zu berühren brauchte. Ihre Anwesenheit genügte. Es wird berichtet, daß sogar Leute, die sich einen Film anschauten, in dem sie auftrat, zu Boden stürzten.
Man nennt diese Erscheinung »Fallen unter der Kraft«, »hingestreckt werden im Geist« (slain in the Spirit) oder »Ruhen im Geist«. Sie tritt nicht nur bei Versammlungen auf, sondern auch in der Einzelseelsorge, mit oder ohne Handauflegung. Sie vollzieht sich oft sogar an solchen, die sich ihr ausdrücklich widersetzen möchten. Wer sie übrigens einmal erlebt hat, soll sie auch bei anderen hervorrufen können. Die Dauer des »Ruhens« kann sich über Sekunden oder Stunden erstrecken. Das »Ruhen« kann nach Aussagen Beteiligter sowohl ein bloß vorübergehendes Glücksgefühl als auch eine bleibende lebensverändernde Wirkung erzeugen.
Auch in der Kirchengeschichte soll man immer wieder der Erscheinung äußerer Ohnmacht bei starken inneren Erfahrungen begegnen. Man erwähnt Teresa von Avila, Brigitta von Schweden und den deutschen Mystiker Johannes Tauler.
Ich selber hörte erstmals vor wenigen Jahren anläßlich eines Referates von Kardinal Suenens von solchen Vorgängen. Er warnte eindringlich davor, ihnen in der Erneuerung Raum zu geben, weil er der Meinung war, es handle sich dabei um ein parapsychologisches Phänomen.
Dann wurde ich als Mitglied des Leitungsteams der charismatischen Erneuerung in der katholischen Kirche der deutschsprachigen Schweiz mit dem »Ruhen im Geist« konfrontiert, als mich ein Priester von dessen Wichtigkeit und Richtigkeit überzeugen und mich dazu veranlassen wollte, unser Team dazu zu bewegen, Frau Collins in die Schweiz einzuladen. Als ich mich zurückhielt und nicht ohne weiteres einlenken wollte, gab er mir zu verstehen, daß Frau Collins mit und ohne Erlaubnis Eingang in die charismatische Erneuerung der Schweiz finden werde, um dort das »Ruhen im Geist« einzuführen, damit endlich ein längst fälliger und durch zu große Zurückhaltung gebremster Aufbruch des Heiligen Geistes stattfinden könne.
Ich schlug dem Team vor, Frau Collins in eine unserer Sitzungen einzuladen, uns dem Phänomen persönlich zu stellen und zu prüfen, welche Wirkungen es bei uns auslöse. Das Auftreten Kim Collins teilte jedoch die Meinungen innerhalb des Teams und im bisher äußerst einigen Verhältnis begannen sich unterschwellige Spannungen und Animositäten zu entwickeln. Hinter unserem Rücken wurde eine Heilungsveranstaltung mit Frau Collins organisiert, die wir am Tage zuvor zu einem Gespräch eingeladen hatten. Der früher erwähnte Priester begleitete sie und beantwortete die an sie gestellten Fragen. Auf meine kritische Bemerkung, ob wohl das »Ruhen im Geist« nicht doch auch unter anderem auf Suggestion zurückgeführt werden könnte, reagierte er sehr heftig und aggressiv und bezeichnete meinen Hinweis als lächerliche psychologische Spitzfindigkeit. Nach dem Gespräch begaben wir uns zum Gebet und ließen uns von Frau Collins die Hände auflegen, wobei prompt einer meiner Kollegen zu Boden stürzte.
Zeichen und Wunder
Anderntags nahm ich am angekündigten Heilungsgottesdienst teil, wo sich etwa 600 Menschen, besonders aus der Erneuerung, einfanden. Scharen von Nonnen strömten herbei, aber auch Ordensmänner und Weltpriester. Und das auf eine Einladung hin, die nichts über diese Frau aussagte, als daß sie Amerikanerin, vom Herrn in den Dienst berufen worden sei und in den Fußstapfen der berühmten Kathrin Kuhlman gehe. Daß so viele trotz mangelnder Information der Einladung folgten, erschreckte mich und bestätigte zugleich deutlich meine Ahnung von der Naivität, von der ich weiter oben gesprochen habe.
Vorerst begrüßte ein Sprecher die Anwesenden: »Ich hoffe, daß Sie mit großen Erwartungen hierher gekommen sind. Das ist der Tag des Herrn. Auch Jesus ging ein Ruf voraus, der auf Zeichen und Wunder gründete, die er tat. Er heilte Kranke, machte Blinde sehend und Lahme gehend. Er sättigte über 5000 Hungrige. Die Menschen brauchten nur den Saum seines Gewandes zu berühren … «
Tatsächlich hatte sich die Erwartung der Menschen spürbar gesteigert, als Frau Kim Collins und ihr Begleiter, der schon früher erwähnte katholische Priester, mit dreiviertelstündiger Verspätung den vollbesetzten Saal betraten. Zunächst wandte sich der Priester an die Versammlung und sagte: »Einige von euch werden umfallen. Erschrecken Sie nicht! Im Mittelalter sind in Klöstern ganze Reihen von Nonnen umgefallen. Auch die Soldaten in Gethsemane und Paulus in Damaskus. Und zwar nicht, weil ihre Nervenzentren hypnotisch ausgeschaltet wurden. . » [Gelächter im Saal]. Sie wurden von Gott getroffen. Er wird auch bei Ihnen dafür sorgen, daß Sie sich beim Fallen nicht verletzen … aber«, fügte er hinzu: »Vielleicht fallen Sie gar nicht.« Dieser Nachsatz ist, wie wir später sehen werden, nicht unbedeutend.
Frau Kim Collins berichtete von ihren persönlichen Gesprächen mit Gott und daß er sie berufen habe, Menschen zu heilen und für die Einheit der Christen auf der ganzen Welt zu wirken. Sie erzählte von Visionen und Heilerfolgen, um schließlich mit geschlossenen Augen festzustellen: »Jetzt, in diesem Augenblick, werden auch unter Ihnen einige geheilt. Der Herr rührt auch Sie jetzt an. Einige sind schon geheilt. Jetzt wird ein Krebs angerührt. Jetzt sind es Herzkranzgefäße, wieder ein Krebs. Er rnuß nicht operiert werden. Der Heilige Geist operiert. Nierensteine werden jetzt durch das Blut Christi aufgelöst … «
Schließlich wurden die Heilungssuchenden zur Handauflegung nach vorn gerufen. Ich konnte im Gedränge nicht erkennen, was geschah. Ich hörte schreien. Nachträglich vernahm ich, daß es Heilungen gegeben habe, was ich nicht nachprüfen konnte, da niemand die Namen der Geheilten kannte.
Nach einigen Monaten besuchte ich in Zürich eine zweite Veranstaltung dieser Art. Sie verlief deutlich geordneter und überschaubarer. Die Einstimmung dauerte über zwei Stunden. Die Folge immer wiederkehrender Melodien und Rhythmen wurde durch Heilungsberichte aus der Bibel unterbrochen. Erzählungen persönlicher »Heilungserfolge« durch Frau Collins wechselten mit offenen oder versteckten Anspielungen über das richtige Verhalten beim Umfallen, das zwar nicht unbedingt zur Heilung gehöre, wenn es auch so könnte man schließen deren Chance erhöhe. Die Luftqualität nahm spürbar ab. Im Saal griff zunehmende Müdigkeit um sich. Ein rückengeschädigter Mann trat vor und zeigte seine Krücken, die er nicht mehr brauche, weil er soeben geheilt worden sei. Eine Frau trat auf die Bühne, die ebenfalls soeben von einem Rückenleiden erlöst worden war, und eine andere, die sich plötzlich von Hämorrhoiden befreit fühlte. Sie alle erzählten von ihren Erlebnissen, die mit Jubelrufen und Liedern verdankt wurden.
Endlich traten einige zur Handauflegung vor. Es bildete sich bald eine lange Warteschlange. Zehn Personen wurden jeweils vorgelassen. Sie stellten sich in eine Reihe, die Frau Collins, Hände auflegend, abschritt. Sie war von einem Stab von Mitarbeitern umgeben, die sie teils begleiteten, teils ihr vorauseilten, um die Anliegen der Wartenden entgegenzunehmen und der Heilerin mitzuteilen. Einzelne waren damit beschäftigt, die Fallenden aufzufangen und auf den Boden zu legen. Wieder andere nahmen sich der Erwachenden an, halfen ihnen, sich zu erheben oder begleiteten sie ein Stück weit an ihren Platz. Durchschnittlich fielen vier von zehn um. Sie blieben etwa eine Viertelstunde liegen. Wer an den Platz zurückkehrte, mußte vorsichtig über die Herumliegenden hinwegsteigen.
Eine Frau aus dem Publikum in unmittelbarer Nähe von Frau Collins erlitt einen Herzanfall. Frau Collins bemerkte den Vorfall, kümmerte sich aber merkwürdigerweise nicht um die Kranke, die von anderen schließlich hinausgetragen wurde.
Ich selber wollte mich für mögliche Gnaden bereithalten und stellte mich ebenfalls in die Reihe. Ich versuchte, mich selbst zu beobachten. Die über zweistündige ununterbrochene Einstimmung und das zusätzliche Warten hatten mich ermüdet. Ich war irgendwie abgestumpft. Meine geistige Wachheit erlahmte. Ich konnte mich schlecht konzentrieren und stellte einige unkontrollierte Erwartungen und Gefühlsschwankungen fest, eine Art Spannung, die ich gar nicht wollte. Ich spürte ein Kribbeln in den Beinen und Armen, verbunden mit einem Wärmegefühl, wie es mir aus dem autogenen Training bekannt ist. Hier gab es eine deutliche Entscheidungsmöglichkeit, mich von der Atmosphäre überwältigen zu lassen oder mich aufzuraffen und Haltung zu bewahren. Ich entschloß mich zu letzterem. Bei der Handauflegung empfand ich nichts Besonderes. Ich fiel nicht um und wurde auch von nichts geheilt.
Meine Frau und unsere Tochter, die sich ebenfalls die Hände auflegen ließen, verspürten Müdigkeit und leichte Schwindelgefühle. Zudem glaubten sie, mehrmals leicht gestoßen worden zu sein. Die Stoßversuche wurden aber nach wiederholtem Widerstand plötzlich abgebrochen. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Druckversuchen nachzugeben und umzufallen, erzählten sie.
Begegnung
Ich hatte mich entschlossen, das Phänomen nicht weiter zu verfolgen. Dies um so mehr, als die meisten Kollegen aus unserem Team es nicht verstanden, daß ich mir über eine solche Randerscheinung soviel Sorgen machte und mich mahnten, dem Wirken des Heiligen Geistes keine Grenzen zu setzen wer könnte sie ihm setzen? und in meiner Kritik nicht lieblos zu werden. Es ist übrigens eine typische »charismatische« Reaktion auf Versuche, Menschen und ihre Verhaltensweisen zu hinterfragen, sofort auf die Gefahr drohender Lieblosigkeit hinzuweisen.
Eines Tages erhielt ich einen Brief von Kardinal Suenens, der mich zu sich nach Bruxelles einlud. Er hatte mein letztes Buch gelesen und wollte mich deshalb kennenlernen. Die Einladung freute mich. Die Begegnung mit dieser großen Persönlichkeit und führenden Gestalt des zweiten Vatikanischen Konzils wird mir unvergeßlich bleiben. Groß und asketisch. Zurückhaltend, überaus liebenswürdig, von echtem Adel. Ein kritischer Beobachter und Menschenkenner. Einer, der zuhören kann und das herauszulocken versteht, was ihn interessiert. Ein Mann voll Geist und Geistlichkeit, geprägt vom Umgang mit der Kirche, von der er mit Liebe und tiefer Ehrfurcht spricht. Unser Gespräch war äußerst angeregt, trotz meiner Lücken in der französischen Sprache, die er lächelnd überhörte. Wir sprachen über Persönliches und solches, was von allgemeinem Interesse ist, unter anderem über die Erneuerung und das Phänomen des »Ruhens im Geist«. Er erzählte mir, daß er sich zusammen mit Mitarbeitern aus verschiedenen Disziplinen intensiv mit diesen Vorgängen befasse und um eine richtige Beurteilung ringe. Er bat mich, dem Problem von meinem Standpunkt aus nachzugehen und zu versuchen, die psychologischen Hintergründe und Zusammenhänge zu erhellen, um der Wahrheit auch von der psychologischen Seite her näher zu kommen. Er empfahl mir, meine Ergebnisse zu veröffentlichen. Dieser liebenswürdigen Bitte, hinter der ich das bedrängende Anliegen spürte, fühlte ich mich verpflichtet und begann, mich von neuem dem Thema zuzuwenden. Das Ergebnis meiner Arbeit liegt hier vor. Es beansprucht in keiner Weise nur im Geringsten vollständig zu sein. Ich bin mir voll bewußt, daß vieles unberücksichtigt bleiben muß. Es ist mir auch klar, daß der Kardinal einige Gedankengänge nicht unterschreiben wird. Dennoch hoffe ich, einen kleinen religionspsychologischen Beitrag zur Klärung dieses Problems zu leisten.
Erlebnis und Früchte
Zunächst wollte ich erfahren, was solche, die gefallen waren, erlebten. Ich las Bücher und machte eine Umfrage. Ich schrieb an etwa vierzig Personen, deren Adresse ich mir von einem der Organisatoren von Heilungsveranstaltungen geben ließ. Dreißig davon antworteten nicht. Die Bereitschaft ist gering, die Vorgänge aufzuklären. Einige begründeten ihre Zurückhaltung damit, daß Psychologie hier nichts zu suchen habe, weil Gottes Geist sich glücklicherweise ohnehin nicht analysieren lasse. Einige brauchbare Antworten will ich nun zitieren. Zunächst zwei Schilderungen, die ich in der Literatur gefunden habe.
Francis Mac Nutt (Beauftragt zu heilen, Graz 1973) schreibt: »Ich stand also da, entschlossen, nicht dagegen anzukämpfen. Ein Helfer, der mich auffangen sollte, stand hinter mir, und tausende Leute schauten gespannt zu. Die Hand des Evangelisten drückte sich mir leicht auf die Stirne. Ich mußte mich entscheiden. Ging ich nicht rückwärts, würde mich der leichte Druck umwerfen. Ich sagte mir, wenn das von Gott kommt, will ich nicht widerstehen. So fiel ich der Länge nach rückwärts. Die Menge war überrascht und entzückt: Ein Priester mit dem römischen Kragen sank unter der Kraft Gottes dahin. Ich kam sehr schnell wieder auf die Beine nicht sicher, ob ich nicht einfach umgestoßen worden war. Der Evangelist betete ein zweites Mal, wieder fühlte ich den leichten Druck auf der Stirne, dem ich nicht widerstand. Und wieder fiel ich um. Es war verwirrend. Andere hatten etwas Gutes erlebt, meiner Erfahrung nach aber war nichts Besonderes daran. Vielleicht hatte man mich einfach aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte.«
Ergänzend berichtet Mac Nutt später, daß er nachher auch selber imstande war, das »Ruhen« in anderen auszulösen: »Zuerst geschah es nur, wenn ich jemand anderem beten half. Ich denke, es war 1971, als ich mit Tommy Tyson für einen älteren Mann betete, der auf einem Stuhl saß. Er benahm sich, als wäre er eingeschlafen und fiel vom Stuhl. Ich war erstaunt, daß Tommy nicht überrascht war, daß er keine Angst hatte, der Mann hätte einen Herzanfall. Ungefähr ein Jahr später erlebten es einige wenige Leute, für die ich betete, auf eine sehr sanfte Art. Weil die Menschen gewöhnlich nicht stehen, sondern sitzen, wenn ich für sie bete, brauche ich nur aufzuhören, um damit das Hinabsinken aufzuhalten . . . «
Ein Hochschulstudent schilderte mir sein Erlebnis mit diesen Worten: »Collins kam auf mich zu und berührte meine Hände. Ich fiel einfach um. Als ob jemand die Kontrolle über meine Muskeln übernommen hätte. Ich spürte, wie man mich auf den Boden legte, hörte singen und merkte, wie die Frau neben mir umfiel. Ich konnte klar denken und hatte das Gefühl, den Zustand jederzeit unterbrechen zu können. Ich betete ständig und dankte Gott. Ich fragte mich, ob ich mich dagegen hätte wehren können, umzufallen. Ich glaube nicht, weil ich mich sonst nicht ganz hätte hingeben können.«
Eine Theologiestudentin: »Auf einmal wurden meine Beine schwach. Ich kippte, was ich als Erleichterung empfand. Ich genoß das Fallen ins Ungewisse. Es war mir unglaublich wohl. Innerlich jubelte, betete und sang ich. Eigentlich wäre ich sehr gerne noch lange so liegen geblieben. Ich war so richtig happy. Nachher war ich etwas enttäuscht, denn meine Grippe war nicht geheilt und meine Diplomarbeit machte keine schnelleren Fortschritte. . .«
Eine Klosterschwester schreibt: »Als Kim Collins mir die Hände auflegte – das heißt, sie legte sie mir nicht auf, sie näherte sie bloß meiner Stirne fühlte ich eine gewaltige Mauer von Kraft auf mich zukommen, die mich umwerfen wollte. Ich kämpfte dagegen an. Wellenweise spürte ich die Kraft, der ich schließlich zu widerstehen vermochte. Hätte ich keinen Widerstand geleistet, wäre ich hingefallen.«
Ein Pfarrer, der regelmäßig an Gottesdiensten mit Kim Collins teilnimmt, stellt rückblickend fest: »Eine deutliche Mehrzahl der Teilnehmer kam nach vom. Die Berührten bestätigten mir, daß sie ihre Willensfreiheit, sich sinken zu lassen, oder sich dagegen zu wehren, das heißt stehen zu bleiben, völlig bewahrten. Wer sich sinken ließ, erfuhr ein Durchflutetwerden von Licht und Frieden, war aber auch so frei, sich zu erheben, wann er wollte. Am liebsten wären etliche recht lange liegen geblieben, standen aber aus Rücksicht auf andere verhältnismäßig rasch wieder auf und verharrten in irgendeiner Ecke des Raumes auf ihrem Platz noch eine Zeitlang in friedvoller Ruhe. Sie hatten alles wahrgenommen, waren also nicht bewußtlos.«
Die Erfahrung des vollen Wachseins wird nicht von allen geteilt: »Ich war bereit, mich wirklich loszulassen und mich dem Heiligen Geist zu überlassen. Schon bald schwankte ich. Selber habe ich mich nochmals zurückgeholt. Dann aber spürte ich, wie ich nach hinten >wegging<, außer meiner Kontrolle. Von da weg habe ich keine Erinnerung mehr. Überhaupt keine Erinnerung. Ich spürte nicht, wie die Leute mich auffingen, erst den Boden, als ich zum Liegen kam.«
Das »Ruhen im Geist« ist offenbar nicht an die Handauflegung durch eine Person gebunden. Eine Klosterfrau berichtet: »In den Exerzitien, während der stillen Anbetung vor dem Allerheiligsten, erfuhr ich das >Ruhen im Geist< erstmals. Ohne Handauflegung und persönliches Gebet durch eine Drittperson. Voraus gingen intensive Tage der Besinnung und Anbetung. Ich saß auf einem kleinen Gebetsschemel. Plötzlich war es, als würde ich in ein Magnetfeld hineingenommen. Durch tiefe Atemzüge versuchte ich dem entgegenzuwirken. Aber es half nichts. Von dieser gewaltigen Kraft überwältigt, sackte ich kraftlos zusammen. Eine Mitschwester hielt mich, daß ich nicht auf den Boden fiel … Und dann war es, als ob ich mit dem Körper an einer Starkstromleitung angeschlossen wäre. Tiefer Friede breitete sich in mir aus. Und für ein paar Augenblicke konnte ich wie in eine andere Welt schauen. Immer wieder mußte ich beten: Abba, Vater.« Dieses spontane Erlebnis erfolgte, das muß man wohl anfügen, nach Exerzitien, die von einem Priester geleitet wurden, der »Ruhen im Geist« als Thema in seine geistlichen Ausführungen eingebaut hatte.
Eine 48jährige Frau, Erzieherin und Mutter von zwei Kindern, beschreibt ihre Erlebnisse in einem Brief: »Mein erstes >Ruhen im Geist< erfuhr ich bei der Handauflegung eines Priesters bei einem Heilungsgottesdienst. Das zweite Erlebnis wurde mir während einer Eucharistiefeier bei Exerzitien geschenkt, einige Monate später. Nach der Wandlung schien mir, daß der Priester einen besonderen Akzent auf das Gebet für die ganze Kirche setzte. Jedes seiner Worte durchdrang mich. Ich sah einen Strom von Menschen aller Zeiten und aller Orte, der sich langsam bewegte. Ein Gesang begleitete sie. Ich fragte mich, was ich tun sollte, da ganz klar eine Bewegung in mir entstand. Dann hörte ich: >Du kannst da hineintauchen.< Ich war perplex, weil ich mit den anderen vor dem Altar stand und nicht wußte, wie das geschehen sollte. Es war mir klar, daß mir der Herr eine Gnade schenkte; ich fühlte mich frei, sie anzunehmen oder abzulehnen, ohne genau zu wissen, was das wirklich war. In diesem Moment habe ich mich entschlossen, mich loszulassen, was auch geschehen mochte, da ich wußte, daß die Bewegung vom Herrn kam. Ich fiel der ganzen Länge nach nach vorne, ohne mich irgendwie zu schützen und ohne mir wehzutun. Nach einem Moment der Überraschung, verursacht durch den Lärm meines Sturzes, beschäftigte sich niemand mit mir außer meinem Mann, der mir die Hand auf den Kopf legte und feststellte, daß ich vollkommen ruhig war, im Frieden und bei vollem Bewußtsein. Nach einigen Minuten habe ich mich niedergekniet, um mit den anderen zu kommunizieren.
Beim ersten Erlebnis waren die Früchte dieser Ausgießung ein konkretes Engagement in der Erneuerung. Jetzt vertiefte sich der Einsatz als bewußte Zeugin des Evangeliums. Ich spreche vom Glauben, den ich lebe, mit großer Freude. Oft wird mir ein Wort geschenkt, das die Situation erhellt.
Nach der dritten Erfahrung des >Ruhens< bei Frau Collins ist mein geistliches Leben noch intensiver geworden. Ich sehe meine Sünden besser, aber auch die Güte des Herrn. Einige Schleier sind mir von meinen Augen gefallen, und ich habe den langen Weg der Heiligung der Kinder Gottes wahrgenommen, der sich vor mir öffnet.«
Wenn wir diese Berichte lesen, ist wohl kaum zu bezweifeln, daß sie echtem und tiefem Erlebnis entspringen, deren Früchte durchaus glaubhaft sind: mehr Kraft, Lebendigkeit, Bekehrung zum Guten, intensivere Liebe zu Gott und Menschen, Frieden, Erkenntnis, Heilung seelischer und körperlicher Gebrechen, wachsendes Vertrauen, Sehnsucht nach Gebet, Bewußtwerdung der Heils- und Erlösungsbedürftigkeit usw. Man erkennt ja bekanntlich einen Baum an seinen Früchten. Allerdings müßte man verfolgen können, ob es sich nur um Eintagsfrüchte handelt, die bald abfallen, oder ob sie über lange Zeit wirklich Bestand haben. Eigene subjektive Urteile, sich verändert zu haben, lauten oft weit günstiger als Urteile anderer, wo die Idealisierung oft an Grenzen stößt. Zudem möchte ich bemerken, was wir später eingehender zu besprechen haben, daß es psychologische Methoden gibt, die ähnlich positive Veränderungen und Empfindungen auf rein natürliche Weise auslösen. Schließlich soll nicht verschwiegen werden, daß ab und zu auch von faulen Früchten berichtet wird. In dem oben genannten Manuskript ist zum Beispiel zu lesen: »Ich kenne eine Person, die mit großer Zurückhaltung an einer Abendzusammenkunft mit Kim Collins mitgemacht hat. In der darauffolgenden Nacht wurde sie von Ängsten und schrecklichen Alpträumen geplagt. Sie wurde krank und litt mehrere Tage an so heftigen Versuchungen, daß sie zwei Freunde der Erneuerung um ihr Gebet bat, um davon befreit zu werden.« Es wird dort auch von einem Heilungsgottesdienst in Mexiko berichtet, in dem sich beim »Ruhen im Geist« Geschrei und Panik ausbreiteten.
Geistlicher Kurzschluß
Wer oder was wirft nun diese Menschen eigentlich um? Was schenkt ihnen diese Erlebnisse beseligenden Glücks und inneren Friedens, diese Früchte am Lebensbaum? Manche behaupten, es sei der Heilige Geist, der unmittelbar in das Leben dieser Menschen eingreife, also Gott selber, der sich in einem Kraftakt auf diese Weise erfahren läßt.
Der Biograph Kathrin Kuhlmans Jamie Buckingham schreibt: »Wodurch Umfallen eigentlich bewirkt wird, scheint niemand genau zu wissen. Es ist, als ob die Kraft des Heiligen Geistes durch den Körper strömt und dadurch einen Augenblick alle körperlichen Funktionen kurzschließt. Muskeln und Nerven, die gewöhnlich durch elektrische Ströme vom Gehirn aus gesteuert werden, werden einfach überwältigt, ungefähr so, als würde ein Blitz von einer Million Volt Stärke in das elektrische Leitungssystem eines Hauses einschlagen, das für 220 Volt ausgelegt ist. In einem solchen Fall würden alle Leitungen durch Kurzschluß unterbrochen. Diese Energie würde alle vorhandenen Sicherungen und Relais überspringen und jedes ans Stromnetz angeschlossene Gerät außer Betrieb setzen. Genau so bewirkt die Kraft des Heiligen Geistes, wenn sie den menschlichen Körper durchströmt, daß der geistlich >angeschlossene< Mensch zu Boden geworfen wird.« (Jamie Buckingham, Kathrin Kuhlman. Leben und Wirken, Schorndorf, 1971).
Francis MacNutt erklärt: »Soweit ich es sehe, ist es die Kraft des Heiligen Geistes, die einen Menschen mit einem derart gesteigerten inneren Bewußtsein erfüllt, daß die körperlichen Energien nachlassen, bis sie schließlich völlig ausfallen … Ein gewisses >Ruhen im Geist< scheint tatsächlich etwas vorwiegend Körperliches, ein Kraftphänomen zu sein. Aber viele Menschen erleben dabei eine Ekstase, aus der sich das Körperphänomen erst ergibt.«
Dennis Bennet ergänzt, er glaube, »daß der Herr seine Kinder nicht zu Boden schlägt«, aber der menschliche Körper und auch die Seele manchmal auf das Wirken des Heiligen Geistes in dieser Weise reagieren, daß ihm plötzlich die Muskeln versagen und die Glieder die Kraft verlieren, so daß er auf den Boden fällt. (Dennis Bennett, Wachstum durch Fülle im Heiligen Geist, Erzhausen, 1983)
Kardinal Suenens ist anderer Ansicht. Er spricht von »pseudomystischen Erfahrungen«, von »Geist Ohnmacht« und stuft das Phänomen »parapsychologisch« ein. (Léon Joseph Suenens, Gemeinschaft im Geist, Salzburg, 1979)
Schriftgemäß
Die Verfechter des unmittelbaren Eingreifens des Heiligen Geistes verweisen auf Parallelen in der Bibel, etwa auf das Erlebnis des Paulus auf dem Weg nach Damaskus (Apg 9,3 ff.; vgl. auch 2 Kor 12,2 4). Sie erwähnen die Jünger auf dem Berg der Verklärung (Mt 17,6f.), die Knechte des Hohen Priesters im Garten Gethsemane (Joh 18,6) und die Hüter am Grab (Mt 28,4). Sie berufen sich auch auf Daniel 10,8, der berichtet, daß er in seiner Schauung Gottes »völlig kraftlos« wurde, oder auf die Offenbarung (1,17), wo Johannes im Angesicht Gottes »wie tot« vor dessen Füße niederfiel usw.
Der evangelische Theologe Wolfram Kopferman (W. Kopfermann, Umfallen im Gebet. Ein Wort der Verständigung über ein umstrittenes Phänomen. Interner Rundbrief der charismatischen Erneuerung der evangelischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Juni 1983) ist der Meinung, Geisterfahrung sei nach dem Neuen Testament unter anderem auch Krafterfahrung, die sich körperlich manifestieren könne. Er weist auf die Kraft hin, die von Jesus auf jene ausging, die ihn berührten (Mk 3, 10 und 5,25 34). Er betont den Zusammenhang zwischen Geisterfahrung, Kraft und Leib in den Lukanischen Schriften, weshalb ihm das Phänomen schließlich als »schriftgemäß« erscheint, »solange bei der Erfahrung des Umfallens die personale Verantwortlichkeit des Menschen nicht beeinträchtigt wird … «
Er zitiert den Theologen Eduard Schweizer, »daß der Geist die Leiblichkeit des Menschen Gott unterstellen will und daß seine Wirkung bis in diese Dinge hineinreicht.« Damit hält es Kopfermann offenbar für möglich, daß der Heilige Geist in der Art und Weise des »Ruhens im Geist« psychosomatische Veränderungen hervorruft. Freilich betont er, daß man sich dabei nicht vorstellen dürfe, »als werfe der Heilige Geist Menschen zu Boden, als handle es sich also um ein Umgestoßenwerden durch den Geist.«
Seelische Beeinflussung
Von wem oder von was werden dann aber die Menschen umgestoßen, wenn nicht vom Heiligen Geist? Wie wird diese psychosomatische Veränderung bewirkt? Ich habe in der Literatur zwei Hinweise darauf gefunden, wodurch sie sicher nicht bewirkt werden sollen.
Michael Marsch (M. Marsch, Heilen. Biblische Grundlagen des Heilungsauftrages der Kirche, Salzburg 1983) gesteht ein, »daß der psychologische Faktor beim Zustandekommen des >Ruhens im Geist< nicht übersehen werden darf«.
»Andererseits«, schreibt er, scheint es aber zu einfach, von einer bloßen seelischen Beeinflussung, etwa von Suggestion oder Hypnose zu sprechen.« Er meint, daß auch dort, wo das Phänomen in einer stark emotional geladenen Atmosphäre geschehe, zu viele tiefgreifende und dauerhafte geistliche Bekehrungen stattfinden, als daß man von oberflächlicher und vorübergehender seelischer Beeinflussung sprechen könnte«. Es handelt sich also nach Marsch beim »Ruhen im Geist« nicht um oberflächliche Formen der Beeinflus¬sung durch Suggestion und Hypnose.
Philippe Madre bestreitet in einer differential diagnostischen Analyse ebenfalls, daß es sich beim Ruhen im Geist »um irgendwelche psychologische Manipulation oder um ein parapsychologisches Phänomen« handle. Es handle sich auch nicht um magnetische Wirkungen; ebensowenig um ein hypnotisches Phänomen, weil die Hypnose durch eine Suggestion des Hypnotisators eine Art von mehr oder weniger tiefem Schlaf und zweifellos eine Schwächung des Willens des Hypnotisierten erzeuge, der vorübergehend in einen Zustand der Unterwerfung und der Auslieferung an den Willen des Hypnotisators gerate. Eine solche Abhängigkeit geschehe nie bei einer Person, die im Geist ruhe. Ihr Wille sei gewahrt und meistens gestärkt von der inneren Gnade, die sie erhalte. Dennoch räumt er ein, könne dieser in sich selbst gefährliche hypnotische Aspekt die Erfahrung des »Ruhens im Geist« überlagern, was außerordentlich wäre und sich in Frankreich in katholischer Umgebung nicht gezeigt habe.
Madre und Marsch lehnen es also ab, das »Fallen im Geist« mindestens auch als Folge suggestiver Einflüsse zu betrachten.
Marsch warnt auch im Zusammenhang mit Heilungen in sogenannten Heilungsveranstaltungen: »man sage nicht, hier handle es sich um Autosuggestion.« Aber warum eigentlich nicht?
Ich bin gegenteiliger Meinung. Könnte Gott nicht auch durch suggestive zwischenmenschliche Einflüsse wirken, denen wir doch täglich ausgesetzt sind? Ich bin der Meinung, daß das »Fallen im Geist« und die damit oft verbundenen Heilungen durchaus Folgen von Suggestionen sein können, von denen wir wissen, daß sie tiefgreifende psychosomatische Veränderungen hervorrufen. Bevor wir uns aber eingehend mit Suggestion und suggestiven Methoden auseinandersetzen, möchte ich mich zunächst, soweit es in diesem Rahmen möglich ist, Wirken und Wesen dreier Persönlichkeiten zuwenden, die uns immer wieder als klassische Beispiele und Kronzeugen für den göttlichen Ursprung des »Ruhens im Geist« vor Augen geführt werden. Es sind dies die heilige Teresa von Avila, der deutsche Dominikaner Johannes Tauler und die amerikanische Heilerin Kathrin Kuhlman.
5 Vor dem Palast des Königs
Erneuerung der Kirche Spaniens im 16. Jahrhundert
Das 16. Jahrhundert war eine kirchliche Krisenzeit. Alles erstarrte in Routine. Das stundenlange Gebet der Mönche und Nonnen brachte keine Früchte der Heiligkeit. Äußerlicher Formalismus erstickte das geistliche Leben im Keim. Es fehlte an der persönlichen Beziehung der Christen zu Jesus Christus und an der konsequenten Nachfolge im Alltag.
Lange vor dem Konzil von Trient erwachte in Spanien ein fieberhafter Drang, die Kirche und das ganze christliche Leben zu erneuern. Geschichtliche Zeugnisse berichten von einer Fülle von Reformplänen. Neben gesunden Impulsen gab es auch gefährliche Einseitigkeiten und verhängnisvolle Irrwege, so daß sich die Inquisition zu einer strengen Kontrolle gezwungen sah, die sie, wie wir wissen, nicht immer nach den Richtlinien des Evangeliums ausübte. Die spanischen Erneuerungsbewegungen trugen stark mystische Züge. Phänomene wie Stigmatisation, Ekstasen, Visionen, innere Worte und Offenbarungen wurden geschätzt und gesucht. Man suchte nach Methoden inneren Betens, die in möglichst kurzer Zeit zu mystischer Erfahrung verhelfen sollten. Inneres Leerwerden und totale Hinwendung zu Gott sollten den Empfang mystischer Gnaden begünstigen. Entgleisungen blieben nicht aus. Es gab zum Beispiel die sogenannten »Erleuchteten«, die nur auf mystische Erleuchtung bauten und Sakramente, Liturgie und mündliches Gebet für übertlüssig hielten. Ein übertriebener Spiritualismus, der alles Körperliche ablehnte, verband sich mit quietistischen Tendenzen, welche jede Selbsttätigkeit des Menschen im geistlichen Leben durch eine völlige Passivität gegenüber Gott ersetzen wollten. Diese Übertreibungen auf der einen riefen solche auf der anderen Seite hervor. So entstand ein großes Mißtrauen gegenüber allem Mystischen, so daß eine wahre Jagd nach falschen Mystikern entfesselt wurde, um sie dem Feuertod preiszugeben. – (In diesem Kapitel stütze ich mich auf: Camillus Lapauw, Teresa von Avila. Wege nach innen, Erfahrung und Führung, Innsbruck 1981; Texte zum Nachdenken: Teresa von Avila, hrsg. von Gertrud und Thomas Sartory, Freiburg 1982; Teresa von Avila, Innere Burg, hrsg. Von Fritz Vogelsang, Zürich 1979).
Teresa von Avila
Gerade in jenen Jahren erweckte Gott in Spanien eine große Schar von Heiligen, unter denen Teresa von Avila (1515-1582) einen besonders bedeutsamen Platz einnimmt.
Ihr Leben ist geprägt durch die Glut der mystischen Christusliebe. Sie kannte kein größeres Verlangen, als Christus zu lieben, als daß Christus geliebt werde und sein Reich komme. Das war der Kern, aus dem der dynamische Schwung ihres Lebens und ihre vollkommene Synthese von Innerlichkeit und unversiegbarer Aktivität stammte.
Sie erlebte an sich selber, wie sehr Wachstum geistlicher Innerlichkeit mit menschlicher Reifung verbunden ist. Schritt für Schritt, Stufe um Stufe, durch Sterben und Auferstehen, durch Prüfungen, Akte der Demut, der Selbstverleugnung und durch williges Tragen des Kreuzes näherte sie sich der Mitte, dem »Palast, wo der König wohnt«. So lehrt sie ihre Schwestern: »Allein durch Gebet und Beschauung könnt ihr euer Fundament nicht legen. Wenn ihr nicht nach Tugenden trachtet und euch nicht tätig darin übt, werdet ihr immer Zwerge bleiben.«
Nicht die mystische Erfahrung, sondern die Umgestaltung in Jesus Christus sei Höhepunkt und Ziel christlichen Lebens. Innerlichkeit bedeutet für sie nicht Flucht vor der Welt in einen geistlichen Abwarte oder Totstellreflex. Sie ist vielmehr der Ort der Begegnung mit Jesus Christus. Dort lernen wir ihn kennen und lieben. Niemand aber dürfe in der Innerlichkeit stecken bleiben, um ihrer selbst willen, und sie als Vorwand benützen, um nicht nach außen tätig zu werden. Sie zeigt Wege zur Verbindung geistlicher Introversion und Extraversion auf, weil sie die Klippe wohl kannte, über die viele Christen aller Zeiten immer wieder stolpern. Deshalb sollen der »geistlichen Ehe mit dem Herrn immerfort Werke entsprießen«. Was die Werke betrifft, ging sie selber mit gutem Beispiel voran. Ich denke an ihre schriftstellerische Tätigkeit, die sie im Jahre 1560 mit ihrem Buch »Leben« begann, in dem sie mit hinreißender Spontaneität und unbefangener Offenheit die inneren und äußeren Ereignisse ihres Lebens beschrieb. Ihr Hauptwerk ist die »Innere Burg«. Neben ihrer schrifstellerischen Arbeit gründete sie das erste reformierte Kloster, in dem sie mit wenigen Schwestern begann, in absoluter Klausurstrenge, in Stillschweigen und Kreuzesliebe ein beschauliches Leben nach der ursprünglichen Regel des Karmel zu leben.Von 1567 bis 1575 veranlaßte sie die Gründung von 10 Frauen- und 2 Männerklöstern ihres Ordens, denen später noch weitere folgten. So entsprossen ihrem innerlich tiefen Verhältnis zu Gott immerzu die entsprechenden Werke. Die Liebe, sagt sie, bestehe »nicht in dem größeren Genuß, sondern in der größeren Entschlossenheit, Gott in allem erfreuen zu wollen … und ihn darum zu bitten, daß die Ehre und der Ruhm seines Sohnes sowie das Wachstum der katholischen Kirche stets Vorrang vor allem anderen habe.«
Wenn sich die charismatische Erneuerung bei der Verteidigung des neu entdeckten Phänomens auf Teresa von Avila beruft, tut sie gut daran, auch die vielen anderen Hinweise der Heiligen, von denen wir hier nur eine ganz spärliche Auswahl treffen können, zu beherzigen und ihre Psychologie der Spiritualität in die Tat umzusetzen.
Innere Burg
Ihr Hauptwerk die »Innere Burg« zeigt, wie das geistliche Leben nicht einfach von einem Augenblick auf den anderen entsteht oder gar geschenkt wird, sondern wie alles Menschliche den Gesetzmäßigkeiten organischen Wachstums unterworfen ist. Teresa wählt die Burg als Bild unserer geistlichen Entfaltung. Diese weist sieben Wohnungen auf, die wir zu durchschreiten haben.
Mit der ersten bewußten Hinwendung zu Gott gelangt der Christ in das Eingangstor zur ersten Wohnung und erlebt ein erstes religiöses Erwachen. Er kann allmählich ablegen, was an ihm oberflächlich und im Gebet Routine ist. Er ist noch taub, weil er für die Einsprechungen des Heiligen Geistes noch kein inneres Organ hat. Am Eingangstor läßt er Gewohnheiten und Äußerlichkeiten zurück, wirft materiellen Ballast ab und befreit sich von Verstrickungen in Süchte und Triebe; jeder nach seiner individuellen Lebensgeschichte. Hier übt er das meditative Gebet mit Ausdauer, erfährt manche Tröstung. muß aber auch hart kämpfen und manche Niederlage verkraften.
In der zweiten Wohnung legen wir den Egoismus ab. Das bedeutet Härte mit uns selbst. Das ist eine Schule des Verzichts. Hier beginnen wir zu erfahren, daß »die Liebe Gottes nicht in Vergießung von Tränen, nicht in jenen Süßigkeiten und zärtlichen Andachtsgefühlen besteht, nach denen wir meistens verlangen und worüber wir uns freuen, sondern darin, daß wir ihm dienen in Gerechtigkeit, mit Seelenstärke und in Demut«. Wir erfahren, wie sie sich ihren Mitschwestern gegenüber ausdrückt, die sie zugleich tröstet, daß der Herr mehr auf ihr Ringen als das Gelingen setze, und Heiligkeit darin bestehe, den Mut und die Demut zu haben, stets neu zu beginnen. Anderseits ist sie jedoch der Auffassung, »es wäre töricht zu glauben, Gott nehme Weichlinge und solche in eine vertraute Freundschaft auf, die nichts leiden wollen.
In der dritten Wohnung beginnt sich das geistliche Leben des Christen zu stabilisieren. Treue, aufrichtiges Bemühen, der Mut zur Ganzhingabe kennzeichnen diesen Bereich. Aber niemand kann auf höhere mystische Gnaden Anspruch erheben. Noch immer lauert die Gefahr der Versuchung zu Selbstgerechtigkeit und Mutlosigkeit. Der Christ muß deshalb fest entschlossen sein, radikale Lösungen zu treffen, wenn es notwendig ist, und demütig in Trockenheiten ausharren.
Erst auf der nächsten Stufe des geistlichen Weges, in der vierten Wohnung, nehmen jene mystischen Erfahrungen und Erlebnisse ihren Anfang, die Teresa als »übernatürlich« bezeichnet. »Übernatürlich nenne ich das«, schreibt sie, »was man durch eigene Anstrengung zu leisten nicht imstande ist, wenn man sich auch dafür zubereiten kann und diese Zubereitung viel dazu beiträgt«. Aber und das sollten wir uns in unserem Zusammenhang gut merken fährt sie fort, »meistens, ja fast immer verleiht Gott so erhabene Gunstbezeugungen und solche seltene Gnaden nur Seelen, die schon viele Opfer im Dienste des Herrn gebracht, sehnsüchtig nach seiner Liebe gestrebt und unter Mühseligkeiten sich eine solche Verfassung erworben haben, um in allem der göttlichen Majestät zu gefallen; er verleiht sie nur Seelen, die sich jahrelang der Übung der Betrachtung hingegeben und in opfervoller Weise den Bräutigam gesucht haben … «
Das Gebet der Ruhe
Erst die vierte Wohnung bildet also die Schwelle zur mystischen Erfahrung, in der sich der König erstmals in einer von ihm geschenkten »passiven« Sammlung und im »Gebet der Ruhe« auf das offenbar das »Ruhen im Geist« bezogen wird, fühlen läßt. Teresa schildert den Zustand im Gebet der Ruhe so: »Während also die Seele Gott sucht, fühlt sie, wie sie in übergroßer, süßer Wonne fast ganz dahinschmachtet und in eine Art Ohnmacht versinkt. Der Atem stockt, und alle Körperkräfte schwinden, so daß sie nicht imstande sind, auch nur die Hände zu rühren, außer nur mit großer Pein. Die Augen schließen sich, ohne daß sie es will; und hält sie diese offen, so sieht sie fast nichts. Will sie lesen, so kann sie keinen Buchstaben recht aussprechen; und kaum kennt sie noch die Buchstaben, die sie vor sich sieht.
Ihre Sinne nützen ihr also nichts, weil sie ihr zum Hindernisse sind, vollkommen in ihrer Ruhe zu bleiben. Vergebens würde sie sich zu sprechen bemühen; denn sie kann weder ein Wort gehörig bilden, noch hat sie zum Sprechen desselben die Kraft. Es schwindet nämlich alle äußere Kraft, indes die Kräfte der Seele zunehmen, damit diese ihre innere Seligkeit um so besser genießen könne. Aber auch die äußere Wonne, die man empfindet, ist sehr groß und ganz unverkennbar…
Dieses Gebet verursacht keinen gesundheitlichen Schaden, wenn es auch noch so lange dauern sollte. Mir wenigstens hat es noch nie geschadet, und ich kann mich nicht erinnern, daß ich auch nur ein einziges Mal, wenn mir der Herr diese Gnade verlieh, ein Unwohlsein gefühlt hätte, so krank ich auch gewesen sein mochte; im Gegenteil, ich befand mich danach weit besser.
Die äußeren Wirkungen dieses Gebetes sind so unverkennbar, daß man an dem Walten einer außerordentlichen Ursache nicht zweifeln kann; denn auf solche Weise benimmt es dem Körper unter so großem Wonnegenusse die Kräfte, daß es ihm diese gestärkter wieder zurückgibt.
Anfangs geht dieses Gebet, wie es wenigstens bei mir der Fall war, in so kurzer Zeit vorüber, daß man bei dieser kurzen Dauer von den genannten äußeren Zeichen und dem Schwinden der Sinne nicht so viel wahrnimmt; aus den zurückgebliebenen Gnaden aber ist deutlich zu erkennen, wie glühend hier die Sonne der göttlichen Liebe gestrahlt hat, da die Seele so von ihr zerschmolzen war. Indessen ist überhaupt zu bemerken, daß die Zeit, während der alle Vermögen der Seele zugleich aufgehoben sind, auch in ihrer längsten Dauer meines Erachtens nur sehr kurz ist. Hält es eine halbe Stunde an, so ist dies schon sehr viel; bei mir hat es, wie mich dünkt, nie so lange gedauert.
Man kann zwar die Zeit nicht wohl bemessen, weil man davon kein Bewußtsein hat, dennoch sage ich, daß es in einem fort gar nicht lange währt, bis eine oder die andere Kraft wieder zu sich kommt. Der Wille hält sich hier am besten. Die anderen zwei Kräfte werden bald wieder unruhig und lästig. Weil aber der Wille in seiner Ruhe verharrt, so hebt er eben dadurch jene Kräfte wieder auf, bis sie bald darauf abermals zum Leben zurückkehren. Auf solche Weise können, wie dies auch wirklich geschieht, allerdings mehrere Stunden des Gebetes vergehen; denn sobald die beiden Vermögen, Verstand und Gedächtnis, von jenem köstlichen Weine zu kosten und trunken zu werden beginnen, gehen sie leicht wieder sich selbst verloren, um ein weit größeres Gut zu gewinnen. Da gesellen sie sich alsdann dem Willen bei, und ergötzen sich alle drei zugleich. Von diesem gänzlichen Verlorensein sämtlicher Seelenvermögen zugleich also sage ich, daß es nur eine kurze Zeit anhält; dabei stellt auch die Einbildungskraft, die sich meines Wissens gleichfalls gänzlich verliert, jegliche Tätigkeit ein. Es kehren jedoch jene Vermögen nicht so vollständig zurück, daß nicht ein gewisser, mehrere Stunden lang andauemder Betäubungszustand bei ihnen möglich wäre, wobei sie Gott in kurzen Zwischenräumen immer wieder an sich fesselt.
Wir kommen jetzt auf das, was die Seele innerlich empfindet. Wer es vermag, der spreche es aus; denn man kann es nicht verstehen, und viel weniger aussprechen. Als ich mich nach der Kommunion in dem hier besprochenen Gebete befunden hatte und nun über diesen Punkt schreiben wollte, dachte ich darüber nach, was die Seele in dieser Zeit tue. Da sprach der Herr die Worte zu mir: >Tochter! Die Seele wird völlig zunichte, damit sie besser in mich eindringe; nicht mehr sie ist es, die da lebt, sondern ich bin es.<
Wer es selbst erfahren hat, der wird dies einigermaßen verstehen; denn was bei dieser Vereinigung in der Seele vorgeht, ist so dunkel, daß es nicht klarer gesagt werden kann. Ich könnte nur das eine noch beifügen: die Seele nimmt wahr, daß sie mit Gott vereint ist; und davon bleibt ihr eine solche Gewißheit, daß sie von diesem Glauben durchaus nicht lassen kann.
Anfangs war ich in einer gewissen Unwissenheit befangen. Ich wußte nämlich nicht, daß Gott in allen Dingen ist, und es schien mir unmöglich, daß er mir so innig gegenwärtig sei, wie es mir vorkam; doch konnte ich mich des Glaubens nicht entschlagen, daß Gott mir wirklich gegenwärtig war, da ich meinte, seine persönliche Gegenwart fast klar in mir erkannt zu haben. Ungelehrte sagten mir zwar, Gott sei uns bloß durch seine Gnade gegenwärtig; aber ich konnte es nicht glauben, weil mir schien, er selbst sei in mir gegenwärtig. Diese Ungewißheit war mir peinlich. Da half mir aber ein sehr gelehrter Mann aus dem Orden des glorreichen heiligen Patriarchen Dominikus aus meinem Zweifel. Dieser sagte mir, daß Gott wesentlich in allen Dingen gegenwärtig sei, und erklärte mir zugleich, in welcher Weise Gott sich uns mitteile. Dadurch ward ich ungemein getröstet.« (Das Leben der heiligen Teresa von Avila, Sämtliche Schriften von Theresia von Jesu, Bd.1, München 1952, 166-168).
Ohne Tricks
Es gibt nach Teresa keine Möglichkeit, den Gebetszustand der Ruhe durch ein Schnellverfahren oder irgendwelche Tricks zu erlangen. Teresa betont vielmehr, daß jene Menschen, denen die Gebetsweise der Ruhe geschenkt werde, vorher einige Zeit in den Räumen der vorausgehenden Wohnungen gewesen sein müssen, auch wenn sie gesteht, daß es keine starre Regel gibt. Aber alles spricht dagegen, wenn man Teresas Leben betrachtet, daß solche mystische Phänomene auf einem geistlichen Supermarkt zum Erwerb feilgeboten werden. Wir können sie auch nicht selber erzeugen. Übrigens mahnt Teresa eindringlich zu großer Vorsicht bei der Beurteilung dieser Zustände, »wo das Natürliche und das Übernatürliche dicht beieinander sind und wo der Satan mehr Schaden stiften kann als in den nächsten, noch nicht geschilderten Wohnungen. Selbst wenn man wiederholt in Versenkung gerät«, schreibt sie, »so kommt es bei dieser Gebetsart doch nicht so weit, daß der Körper zu Boden stürzte oder daß äußerlich irgend etwas zu fühlen wäre. Darum sei man auf der Hut, und wenn jemand etwas Derartiges an sich verspürt, so sage er es der Oberin und lenke sich ab, so gut er kann. Auch sollte man diese Menschen veranlassen, sich nicht stundenlang dem Gebet zu widmen, sondern nur ganz kurz und sollte dafürsorgen, daß sie genügend schlafen und essen, bis sie wieder ordentlich zu Kräften kommen.« (Innere Burg, S.80).
Teresa läßt keine Zweifel daran: Das Gebet der Ruhe führt nicht zum Sturz. Und: Sollte man derartige Tendenzen bemerken, soll man deren Verwirklichung verhüten. Man sollte es vermeiden, solche Gefahren durch zu langes Beten zu provozieren. Sie erklärt auch warum: »Manche befinden sich nämlich wegen häufiger Bußübungen, Gebete und Nachtwachen und auch schon von Natur aus in einem Zustand körperlicher Schwäche. Haben sie nun ein innerliches Geschenk erhalten, so können sie ihrer Natur nicht länger widerstehen, und da sie im Innern eine gewisse Befriedigung empfinden und zugleich äußerlich einen Zusammenbruch erleiden, sich matt fühlen, so meinen sie, daß das eine gleich dem anderen sei, lassen die Besinnung fahren und versinken in ein ohnmächtiges, dumpfes Staunen. Und je mehr sie ihr Bewußtsein aufgeben, desto mehr geraten sie außer sich weil ihr Körper immer kraftloser wird, und das erscheint ihnen in ihrem Hirn als Verzückung. Ich nenne es Verdummung, denn man verliert nur Zeit und vergeudet seine Gesundheit« (Innere Burg,. a.a.O. 79).
Auf die Frage, wie man denn derartige Gebetsgnaden, wie jene im Gebet der Ruhe geschenkten, erlangen könne, schreibt sie unmißverständlich: »Darauf antworte ich, daß es kein besseres Verhalten gibt als das, … nämlich nicht danach zu trachten«, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil wir sie »zu unserer Erlösung nicht brauchen«. (Innere Burg,. a.a.O. 71).
Aus diesen Prämissen ziehe ich für das »Ruhen im Geist« einige Schlüsse. Teresa schildert einen Zustand, der dem des »Ruhens im Geist« ähnlich ist. Es ist aber kaum anzunehmen, daß es sich um denselben mystischen Zustand handelt, der in der Regel das Ergebnis einer langen Entwicklung, nämlich durch die drei ersten Wohnungen, darstellt. Ist ernstlich anzunehmen, daß die vielen Menschen, die sich des Zustandes des »Ruhens im Geist« erfreuen, wirklich alle schon bei der vierten Wohnung der inneren Burg angelangt sind? Sollten die beiden Gnadenzustände trotzdem dieselben sein, darf man nicht danach trachten, kann man sie nicht erwerben und dürfen sie nicht mit dem körperlichen Ausdruck des Umfallens verbunden sein.
Die Kirchenlehrerin
Ich möchte nun gerade im Hinblick auf Kathrin Kuhlman, mit der wir uns nachher befassen werden, einige weitere kennzeichnende Charakterzüge der heiligen Teresa darstellen.
Wir haben bereits früher ihre Liebe zum Gebet, die gelebte Verbindung zwischen Gottes und Nächstenliebe, von Innerlichkeit und Arbeit im Reich Gottes, von Selbstwert und Demut kennengelernt. Ebenso wichtig scheint mir ihre Bereitschaft zum Gehorsam, in der sie sich in allem vorbehaltlos der Autorität der Kirche unterstellte.
Nach Lapauw war Teresa genial begabt mit durchdringendem Verstand und reichem Gemüt, mit einmaliger schriftstellerischer Fähigkeit, mit der sie die subtilsten seelischen Vorgänge anschaulich beschrieb. Sie schöpfte aus umfassender Erfahrung und scharfer Beobachtungsgabe. Sie bildete fortwährend ihr Denken und Fühlen durch reichhaltige Lektüre weiter, wobei sie durch den Kontakt mit Seelenführern und Theologen stets mit der Tradition kirchlicher Spiritualität verbunden war. Die harmonische Synthese dieser Quellen gab ihr jene innere Sicherheit, die für eine Führungsaufgabe wie sie Teresa erfüllte, erforderlich ist.
Teresa von Avila ist eine im ursprünglichsten Sinn charismatische Persönlichkeit. Sie ist ein leuchtendes Beispiel für alle Christen, besonders für uns in der charismatischen Erneuerung, der ich wünschen möchte, daß sie sich auf ihrem Weg immer mehr in allen Fragen des geistlichen Lebens an ihr orientiert.
6 Warnung vor der Lust an Lust
Legende
Francis Mac Nutt berichtet, in dem er sich auf eine Ausgabe der Predigten von Johannes Tauler aus dem Jahr 1841, und zwar auf die einleitende »Lebenshistorie« stützt, daß nach einer Predigt Taulers wohl 40 Menschen auf dem Kirchhof sitzen, sogar dort liegen blieben, als ob sie tot wären. Sie seien, damit sie sich nicht erkälteten, in den Kreuzgang des nahen Klosters gebracht worden, wobei die Nonnen erzählt hätten, daß auch eine ihrer Schwestern im Bett läge, als ob sie tot wäre. Mac Nutt schließt daraus, daß diese alle im »Geist geruht« haben, nachdem er vorher Stellen angeführt hatte, die Hinweise darauf liefern, daß auch Tauler im Geist geruht haben soll, ohne freilich die üblichen körperlichen Symptome zu zeigen. Auch Michael Marsch schreibt, daß »bei den Predigten des Dominikaners Tauler im 14. Jahrhundert die Menschen von den Kirchenbänken stürzten und zum Teil während der ganzen anschließenden Eucharistiefeier regungslos dort liegen bleiben «. Da Marsch keine Literatur für diesen Hinweis anführt, nehme ich an, daß er sich auf dieselbe Quelle stützt wie Mac Nutt.
In der Einführung zur Neuausgabe der Predigten Taulers bezeichnet Alois M. Haas den allen Taulerdrucken seit 1521 mitgegebenen Anhang, die »Historie des ehrwürdigen Doktors Johannes Tauleri«, auf den sich Mac Nutt stützt, als »phantastisch«, an dem bloß der Hinweis auf Taulers ausschließliche Tätigkeit, die seelsorgliche Predigt, und die Rolle der Lebensmitte, als biologischem Moment der Bekehrung wichtig sei. Er weist auf seinen Grabstein hin, wo der Dominikaner ein Buch trägt, auf dem das Lamm Gottes mit dem Auferstehungsbanner stehe. Er meint, diese Gestik ganz auf die Verkündigungspflicht ausgerichtet die, Dominikus seinen Jüngern abverlange. »Das scheint denn auch das absolut Wesentliche dieser Existenz gewesen zu sein«, schreibt Haas,von deren genaueren Verlauf wir im übrigen recht wenig Sicheres wissen und die nichts Spektakuläres an gehabt haben dürfte. Gerade deshalb konnte sich die Lege ihrer bemächtigen.«
Wir sollten uns also bei der Beurteilung oder Begründung »Ruhens im Geist« nicht auf Legenden stützen, die sich Johannes Tauler im Lauf der Zeit gebildet haben. Es wäre ratsamer, auf das zu achten, was er uns gerade im Hinblick auf dieses Thema in seinen Predigten hinterlassen hat.
Falsche Süßigkeit
»Wer dem ehrwürdigen Vorbild unseres Herrn Jesus Christus in aller Geduld und Sanftmut und Demut nachfolgt, in dem wird der Friede geboren, der alle Sinne übertrifft, der hienieden beginnt und ewig währen wird. Und dieser Friede wird des Menschen Leben und Sein verklären.« Diese Bemerkung im Kontext mit anderen läßt darauf schließen, daß auch Tauler das Gebet der Ruhe gekannt hat. Er berichtet jedoch nicht davon, daß er umgefallen wäre oder andere sich gegenseitig zu Fall gebracht hätten. Offenbar aber muß er tatsächlich solche Erscheinungen festgestellt haben, daß er sich zu kritischen Hinweisen veranlaßt sieht. Er bemerkt, daß der Heilige Geist zwar, wenn er in Menschen komme, große Liebe, Licht, Lust und Trost mitbringe. Es gebe nun aber Unbesonnene, die an der Lust kleben blieben, die Lust liebten und damit des wahren Grundes, Gott, verlustig gingen. Der Weise jedoch verstehe es, mit diesen Gaben umzugehen, dringe durch sie hindurch zu verklärter Läuterung, blicke weder auf dies noch das, sondern schaue nur auf Gott ohne dessen zu achten, was dazukomme. Wörtlich schreibt er: »Sobald jene diesen ungewöhnlichen Trost in sich finden, möchten sie sich gerne ganz darein versenken, darin entschlafen, darin ruhen und im Genießen verharren. Sankt Peter wollte drei Hütten bauen, als er einen Tropfen dieses Wohlgeschmackes verkostete, und gerne da verweilen, aber das wahrlich wollte unser Herr nicht; denn es war noch weit zu dem Ziel, dahin er ihn führen und bringen wollte. So wie Sankt Peter sprach: >Es ist gut hier verweilen<, so wollen solche Leute auch tun; sobald sie jener Wonne inne werden, glauben sie die Sonne ganz zu besitzen, und möchten gerne in ihrem Schein rasten und sich niederlegen; die das tun, die verharren allesamt (am gleichen Ort); aus diesen Leuten wird nichts, sie kommen nicht voran …
Und sobald der Feind sieht, daß der Mensch sich solcher Art ausruht, kommt er und gießt falsche Süßigkeit darein, damit der Mensch (auf seinem Platz) verharre und in unrechter Ruhe verbleibe.« »Vor diesem Schaden warnt uns Sankt Peter«, schreibt Tauler später, »und spricht, daß wir nüchtern sein sollen und wachsam; und er warnt uns, nicht im Gefühl dieses Trostes einzuschlafen; denn wer schläft, ist gleichsam halb tot und vermag von sich aus nichts zu tun.« Anderswo betont er, daß diese Süßigkeit wie eine Gefangenschaft sei in die Menschen geraten, die ihr zuweit folgten und sich ihr in ungeordneter Weise überließen, sie zuviel suchten und dabei blieben, wie wenn es ein großes Gut schiene, sich ihr zu überlassen und sie mit Lust zu besitzen. Sie ergriffen Lust, wo sie Gott ergreifen sollten. Denn Gottes Gaben sind nicht Gott selbst. Und Lust soll man nur an Gott haben und nicht an seinen Gaben.«
Mystik ist keine geistliche Selbstbefriedigung. Wir erneuern die Kirche nicht, wenn wir umfallen. Es wäre schon besser, so verstehe ich die Botschaften Teresas von Avila und Johannes Taulers, mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit des Alltags die Kernforderungen des Evangeliums zu erfüllen.
7 Die erschlagenen Melonen
Kathrin Kuhlmans Wirken als Evangelistin in der Öffentlichkeit Amerikas war eine Sensation. (Dieses Kapitel stützt sich auf: Jamie Buckingham, Kathrin Kuhlman. Ihr Leben und Wirken, Schorndorf, 1979). Wo sie auftrat, sammelten sich die Menschen um sie. Die Massen brachen in Beifallstürme aus, wenn sie von Gott sprach. Teilnehmer an ihren Heilungsveranstaltungen fielen reihenweise um. Es geschahen spektakuläre Heilungswunder: Lahme gingen und Blinde wurden sehend.
Heilungen
Ein Mann mit ärztlich diagnostiziertem Lungenkrebs spürte während eines Gottesdienstes etwas, als ob jemand in seiner Brust ein Stück Papier verbrannte. Er war ab sofort geheilt, wurde vom Arzt gesund geschrieben und konnte seine Arbeit wieder aufnehmen (Seite 120). Einem gewissen McCutscheon war durch einen Unfall das Kugelgelenk seiner Hüfte zerquetscht worden. Nach fünf ergebnislosen Operationen kam er am 5. November 1949 zur Heilungsversammlung Kuhlmans in die Carnegie Halle in Pittsburgh. »Seine Tochter, die neben ihm saß und die Hand auf seinem Knie liegen hatte, sagte später, etwas wie elektrischer Strom sei von seinem Bein in ihren Arm übergegangen, als Miß Kuhlman gepredigt hatte. Er stand anschließend von seinem Platz auf und ging ohne Krücken hinaus, augenblicklich geheilt (S.120).
Charles Loesch ebenfalls das Opfer eines Unfalls, hatte ein verkalktes Kreuzbein, weshalb er nur in gebeugter Haltung gehen konnte, von der Hüfte an war sein Körper in grotesker Weise nach vom gebeugt. Ein Bein war fast 10 Zentimeter kürzer als das andere. Er hatte ständig Schmerzen. »Als er dann eines Nachmittags mit anderen Männern im Glaubenstempel auf dem Podium saß, geschah es während der Predigt von Miß Kuhlman, daß plötzlich sein Bein heftig zu vibrieren begann. Durch das Vibrieren schlug sein Absatz wie ein Preßlufthammer auf den Fußboden auf. Miß Kuhlman unterbrach ihre Predigt und wandte sich um. >Was ist das?< fragte sie laut … >Sie werden geheilt, mein Herr,< rief sie aus. Dann wandte sie sich den Zuhörern zu und sagte: >Die Kraft Gottes ist auf diesem Mann.< Nach dem Gottesdienst stellte Loesch fest, daß nicht nur sein kürzeres Bein länger, sondern auch sein Rücken frei und elastisch geworden war« (S.122).
Eine merkwürdige Geschichte, nun im Zusammenhang mit »Ruhen im Geist«, wird von einem gewissen Georg Davis berichtet, der an einem schweren Herzleiden litt, das von einem Spezialisten als Folge eines Myokardininfarktes diagnostiziert wurde. Nach mehreren Herzanfällen wurde ihm ein Herzschrittmacher eingesetzt. Eines Tages nahm er an einem Heilungsgottesdienst Kathrin Kuhlmans teil: »Gegen Schluß des Gottesdienstes kam Miß Kuhlman den Gang hinunter und betete über die Menschen. Als sie zu George Davis kam, legte sie ihm kurz die Hand auf und ging weiter. Davis fiel vom Stuhl und lag dann auf dem Boden, unfähig, sich zu bewegen. Während er so >unter der Kraft< war, verspürte er ein fürchterliches Brennen in seiner Brust« (S.188). Am selben Abend stellte er fest, daß die Narbe auf seiner Brust, wo der Herzschrittmacher eingesetzt worden war, fehlte. Eine kurz danach gemachte Röntgenaufnahme bestätigte, daß der Herzschrittmacher fehlte. Dies erinnert jedoch sehr an einen Apport, den spiritistischen Vorgang des Verschwindens von Gegenständen auch durch geschlossene Räume.
Umgeworfene
Ich möchte jetzt unabhängig von Heilungen einige besonders anschauliche Schilderungen des »Erschlagen Werdens im Geist« anführen.
»Bei der ersten Weltkonferenz über den Heiligen Geist 1974 beobachtete ich einen Trappistenmönch in seiner Kutte, wie er viermal >unter die Kraft< kam. Er saß auf dem Podium hinter Miß Kuhlman … Als sie auf ihn zuging, hielt sie inne … Langsam begannen seine Beine zu wanken. und dann fiel er rückwärts in die Arme eines Saalordners. Kathrin bewegte sich nicht. Wie erstarrt stand sie da, mit dem Finger himmelwärts weisend, die andere Hand auf den still am Boden liegenden Mann ausgestreckt, das Gesicht nach oben gerichtet. Verklärt. Die Saalordner halfen ihm wieder auf die Füße. Langsam sank der Mann wieder zu Boden … Und so geschah es noch zweimal. Kathrin berührte ihn nicht ein einziges Mal und sagte kein Wort. Sie stand nur still da, in überirdisches Licht getaucht. Man hörte nur die zarten Klänge der Orgel und das kaum hörbare Raunen der Menge, sooft der Mönch unter der Kraft zu Boden sank« (S.226).
»Es war, als wäre sie von einer Aura von Kraft umgeben. Und jeder, der in den Umkreis dieser Aura kam, konnte kaum stehen bleiben … Manchmal, wenn diese Aura stärker war und Kathrin sich in Richtung Publikum oder in Richtung Chor bewegte, fielen ganze Reihen von Leuten um. In der Carnegie-Halle in Pittsburgh geschah einmal folgendes. Auf einem Seitenbalkon hatte sich eine Frau erhoben, um ihre Heilung im Glauben zu ergreifen. Viele andere um sie her, die sie kannten und für sie gebetet hatten, erhoben sich voll Freude, als sie nun eine Beinschiene abnahm und diese hochhielt. Kathrin ging bis zum Rand des Podiums und sagte: >Die Kraft Gottes ist über dem ganzen Balkon.< Im gleichen Augenblick fielen fast 30 Personen rückwärts auf ihre Sitzplätze. Ich hielt den Atem an, denn ich meinte, es müßte jeden Augenblick jemand über das Balkongeländer in den Saal hinabstürzen. Aber es geschah nichts« (S.227).
»Eines Sonntagnachmittags rief Kathrin alle Geistlichen aufs Podium. Fast 75 Personen kamen ihrer Aufforderung nach und stellen sich zu ihr aufs Podium. Zweimal streckte sie die Hand aus, einmal rechts und einmal links, und alle diese Männer fielen zu Boden, übereinander gestapelt wie ein Stoß Holz. In Miami Florida ging sie einmal mitten durch den Chor, um mit denen zu beten, die sie berühren konnte, und fast 400 Menschen sanken zu Boden« (S.230).
Frau Kuhlman wurde 1966 als Rednerin zu einem Damenlunch beim Nationalkongreß der Geschäftsleute des vollen Evangeliums nach Miami Beach eingeladen. Der Lunch fand im Parterre des Deanville Hotels neben dem Hallenbad statt. Der Saal war mit über 1000 Frauen überfüllt. Als sie sich zur Ansprache erhob, fingen einige Frauen ganz im Hintergrund an zu lachen und zu schreien. Frau Kuhlman rief sie nach vorn, betete mit ihnen, wobei alle »unter der Kraft« zu Boden fielen. Mit einem Mal fielen auch die Frauen, die bisher im Saal gestanden und zugeschaut hatten, zu Boden oder sanken auf ihre Stühle. »Seit mehreren Tagen«, berichtet Buckingham, »war die Klimaanlage des Hotels ausgefallen. Und als andere Hotelgäste vom Hallenbad durch die großen Glastüren des Ballsaals hindurch die Frauen zu Boden fallen sahen, dachten sie, diese hätten einen Hitzekollaps erlitten, und eilten herein, um erste Hilfe zu leisten. Aber auch manche dieser Hilfsbereiten wurden von der Kraft des Geistes zu Boden geschleudert im Badeanzug, wie sie gerade waren« (S.224).
Diese Beispiele sollen genügen, um die Art und Weise des »Erschlagen Werdens im Geist« darzustellen und eine Ahnung der darin ausgedrückter Kraft und spektakulären Wirkung zu vermitteln.
Allerdings fielen auch Menschen außerhalb solcher Gemeinschaftsanlässe zu Boden. Eines Tages besuchte Frau Kuhlman beispielsweise ein presbyterianischer Geistlicher, der seinen Freund, einen Theologieprofessor mitbrachte. Sie nahm diesen, für diesmal nicht zu Heilungszwecken, sondern schon eher zur eigenen Belustigung und zur Demonstration ihrer nicht zu widerstehenden Überlegenheit, unter die Kraft. Buckingham schreibt: »Als sie sich beim Abschied unter der Tür noch etwas unterhielten, bot Kathrin dem Professor an, mit ihm zu beten. Dieser wußte, was das für ihn bedeuten konnte, und straffte seinen athletischen Körper, um jeden Versuch Kathrins, ihn umzuwerfen, abwehren zu können. Sie streckte die Hand aus und sagte: >Lieber Jesus!< Im selben Augenblick lag der Professor am Boden. Sein Freund half ihm wieder auf die Füße. Erstaunt fragte der Professor: >Was ist geschehen?< Noch ehe der Freund ihm eine Antwort geben konnte, fiel er aufs neue zu Boden. Lachend trat Kathrin einen Schritt zurück und bat den Pastor, mit seinem Freund nun nach Hause zu gehen, bevor dieser so betrunken sei, daß er nicht mehr gehen könne. Sie fuhren daraufhin mit dem Fahrstuhl nach unten, während der immer noch wankende Professor vor sich hin murmelte: Ich begreife das nicht. Das ist mir unverständlich.«
Es ist an diesem Beispiel bemerkenswert, daß der Widerstand zu fallen, den Sturz geradezu herausfordert. Der Betroffene wird einfach überfahren, und seine freie persönliche Entscheidung wird in erschreckender Weise mißachtet. Zu welch grotesken, ja lächerlichen Situationen solcher Mißbrauch in aller Öffentlichkeit führen kann, schildert unser Biograph aus eigener Erfahrung: »Es war im Shrine Auditorium in Los Angeles. Der Heilungsgottesdienst nahte sich dem Ende, und die Leute waren schon alle aufgestanden und sangen noch. Ich stand auf der Bühne bei einigen Männern, meist Predigern, aus der Umgebung von Los Angeles, als ich auf einmal sah, daß Kathrin geradewegs auf uns zukam und die einzelnen Leute unserer Gruppe berührte. Wäh¬rend Kathrin mit den einzelnen redete, fiel jeder dieser Männer nach hinten und wurde von den Armen eines Saalordners aufgefangen. Die Saalordner mußten sich beeilen, daß sie mit ihr Schritt hielten und verhinderten, daß die Männer auf ihre Stühle fielen. Ich war beeindruckt, doch nicht so beeindruckt, daß ich von ihr ebenfalls hätte berührt werden wollen. Ich trat zurück, aus der Reihe heraus. Kathrin bahnte sich einen Weg durch die Menge und berührte im Gehen die Leute auf beiden Seiten. Ich verzog mich immer mehr nach hinten, zur Bühnenseite hin. Doch plötzlich stellte ich fest, daß ich bei dem 2 m langen Konzertflügel gelandet war, von wo es keinen Ausweg mehr gab. Nun war ich eingeschlossen. Ich sah Kathrin kommen und nahm mir fest vor, daß ich nicht auch hinfallen würde, nur weil alle anderen hinfielen. Soviel ich weiß, berührte sie mich auch gar nicht. Ich erinnere mich nur noch, daß ich auf einmal die Augen öffnete und über mir die Unterseite des Flügels sah. Ich dachte, wie albern muß es doch aussehen, daß ich da mit meinem guten grauen Straßenanzug, schwarzen Schuhen und gestreiftem Schlips vor 7000 Leuten unter dem Flügel auf dem Boden liege« (S.230).
Geistliche Marktatmosphäre
Buckingham schreibt, daß in den Heilungsversammlungen K. Kuhlmans ein bestimmtes Klima geschaffen wurde, »in dem Wunder die Norm und nicht die Ausnahme bildeten« und daß sie »ein brauchbares Paket zusammengestellt hatte, durch das der Heilige Geist sein Produkt die Wunder auf den Mark bringen konnte«. Betrachten wir nun einzelne Elemente dieses Paketes genauer.
Die Musik spielte eine große Rolle. Wenn es auch schien, als ob musikalisch alles spontan geschehen würde, war doch das kleinste Detail das Ergebnis peinlich genauer Planung. K. Kuhlman gab sich nur mit besten Musikern zufrieden. Ein einwandfreier Pianist, den Musikkritiker als einen der Besten bezeichneten, begleitete sie bei ihren Anlässen. Der Chor war auf Perfektion erzogen worden, und ein Stück mußte so lange geprobt werden, bis es fehlerlos klang und mit vollendeter Schönheit vorgetragen werden konnte. Besonders wichtig war der Organist, Charles Beebee, »der sich voll in die Stimmung Kathrins versetzen und mit vollendeter Harmonie Gottes Gegenwart im Raum reflektieren« konnte.
»Beebee hatte das Gefühl für die Intensität eines Zeugnisses und ließ die Orgel zu einem mächtigen Crescendo anschwellen, wenn die Leute Beifall spendeten, oder aber ließ ein zartes Pianissimo erklingen, wenn Menschen ans Mikrofon traten, um mit Tränen in den Augen das tiefste Verlangen ihres Herzens auszusprechen … Ein Heilungsgottesdienst ohne Beebee war einfach undenkbar. Die Musik und die dadurch hervorgerufene Stimmung waren für die Schaffung einer Atmosphäre, in der der Heilige Geist frei wirken konnte, unerläßlich« (S.218).
Eine perfekte Organisation war ebenfalls notwendig, um die richtige Atmosphäre zu sichern. »Nichts blieb dem Zufall überlassen«. Die Saalordner waren mit Funkgeräten ausgerüstet. »Das Einsammeln der Kollekte, das stets den Charakter der Spontaneität trug, wurde solange geprobt, bis es reibungslos ablief. Die Männer, etwa 300 an der Zahl, wurden Tage zuvor darauf gedrillt, wie man mit schwierigen Leuten umgeht … Jeder Mann hatte seinen Standort.«
K. Kuhlman wollte eine eindrückliche Kulisse um sich haben. Da war der riesige Männerchor, der aus frei gewordenen Alkoholikern bestand. Der Gesamtchor zählte manchmal bis zu 1000 Sänger und Sängerinnen. Wichtig war ihr die Anwesenheit bekannter Persönlichkeiten und Geistlicher. Sie wollte Eindruck machen, indem sie Namen berühmter Leute aufzählte, die ihre Heilungsversammlungen hinter dichten Sonnenbrillen aufsuchten. »Es war ein fest eingeführtes Ritual, daß die Saalordner vor jedem Gottesdienst berühmte Persönlichkeiten ausfindig machten und Kathrin im Garderoberaum entsprechend verständigten. Sie mußte wissen, daß sie da waren, und wie Könige und Prinzessinnen vor ihrer Tür saßen und warteten bis sie hineindurften.« »Ihre besondere Liebe galt Ärzten; es war deshalb ihr Wunsch, daß sie entweder auf der Bühne oder in den vorderen Reihen saßen. Dasselbe traf auch für Priester und Nonnen zu, besonders wenn sie in >Uniform< waren. Für Kuhlman gab es keine größere Freude, als wenn dreißig oder vierzig katholische Geistliche während ihres Dienstes hinter ihr saßen, besonders, wenn sie den Priesterkragen trugen. Irgendwie schien dies ihrem Dienst Glaubwürdigkeit zu verleihen und das richtige Klima von Vertrauen und Verständnis zu schaffen, das für einen Heilungsgottesdienst so sehr nötig war.«
»Das größte Geheimnis war Kathrin selbst: Sie bestand darauf, daß sie im Mittelpunkt stand. Sie setzte sich nicht einmal … immer ein wenig in Bewegung, um die Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu halten … Nach außen erschien sie als Mensch, der ständig im Rampenlicht zu stehen suchte, erschien als Inbegriff der Selbstgefälligkeit. Doch wer tiefer blickte, erkannte in ihr diesen Zug als Klugheit. Sie wußte etwas von der Notwendigkeit eines geistlichen Mittelpunktes…« Deshalb duldete sie keine geistlichen Aktivitäten aus dem Publikum: »Wenn jemand aufstand, um zu weissagen oder in Zungen zu reden, brachte sie diese Person zum Schweigen… >Der Heilige Geist unterbricht sich nicht selbst< pflegte sie mit Nachdruck zu sagen« (S.220). Leute, die den Anweisungen nicht gehorchten, ließ sie durch Saalordner wegschaffen.
Kathrin wollte ein vollbesetztes Haus. »Sie war ganz versessen große Menschenmassen. Es war rein psychologisch von Vorteil für sie, wenn ihre Versammlungssäle vollbesetzt waren, doch brauchte sie zu ihrer inneren Befriedigung außerdem das Wissen, daß Tausende weggeschickt werden mußten, weil sie keinen Platz fanden.« Sie lehnte deshalb zu große Häuser ab. Aber auch deshalb, daß immer noch die Möglichkeit bestand, auf der Bühne von den Menschen gesehen zu werden. Sie war davon abhängig, daß sie die Gesichter der Leute sah, wie diese auch davon abhängig waren, ihr Gesicht zu sehen. Ihr Dienst war ein Dienst des engen Kontakts. Sie zog es vor, in kleineren Räumen zu bleiben, wo der Blickkontakt garantiert war.
Es wären noch weit mehr Details, die Frau Kuhlman raffiniert abgewogen und an den richtigen Stellen klug einzusetzen wußte. Sie war ein psychologisches Naturtalent, das erspürte, was wann und wo und wie am Wirkungsvollsten zu tun war.
Eine Kindheitserinnerung
Was wir bisher über Kathrin Kuhlman schrieben. läßt bereits einige Schlüsse zu. Wir sollten, um ihre Art der Wirksamkeit noch besser zu verstehen, auch einige Kindheitserlebnisse erwähnen.
Frau Kuhlman wurde am 9. Mai 1907 auf einer Farm südlich von Concordia in Missouri geboren. Sie war der Augapfel ihres Vaters und das Ärgernis ihrer Mutter. »Ich konnte mich nie erinnern, daß mir meine Mutter als Kind je Liebe gezeigt hätte … Sie war die perfekte Zuchtmeisterin. Nie sagte sie mir, daß sie auf mich stolz sei oder daß ich meine Sache gut gemacht hatte . . . « (S.25).
Die Vergötterung des Vaters und der Haß gegenüber der Mutter prägten einige ihrer hervorragendsten Charakterzüge: Die Sucht nach Anerkennung als Form des Liebesersatzes, die Ablehnung ihrer weiblichen Rolle, der Haß gegenüber Frauen, der Neid gegenüber Männern, das Mißtrauen gegenüber jedermann ohne Unterschied des Geschlechtes, Aggressivität, ein alles übergreifendes Minderwertigkeitsgefühl, das sie mit überdimensionierten Machtansprüchen kompensierte.
In diesem Zusammenhang möchte ich ein symbolträchtiges Kindheitserlebnis anführen: »Als sie einmal Opa Walkenhorst auf dessen Farm besuchte, zeigte er ihr ein Wassermelonenfeld und erklärte ihr, daß die Wassermelonen auf der Außenseite zwar grün aussehen, innen aber immer rot seien … Als Opa Walkenhorst ins Haus zurückgekehrt war, nahm die neunjährige Kathrin ein Fleischermesser und stach damit in jede Wassermelone auf dem ganzen Feld – über hundert -, nur um sicher zu sein, daß sie inwendig alle rot waren« (S.24).
Es gibt eine merkwürdige, ja geradezu hellseherische Anspielung einer Reporterin, die von diesem Erlebnis mit großer Wahrscheinlichkeit nichts gewußt haben dürfte: sie bestätigt meine psychologische Deutung dieser Geschichte. Die Reporterin und Fernsehkomikerin Ruth Buzzi brachte in einer Sendung »Laugh in« (Lach mit) eine ausgefallene Kuhlman-Imitation, indem sie den Wintermelonen im Supermarkt die Hände auflegte. (S.172).
Ruth Buzzi setzt also Melonen gleich Menschen; daß sie die Veranstaltungen Kuhlmans mit dem Supermarkt vergleicht, ist, obwohl treffend, für uns jetzt weniger wichtig. Frappanter ist der Zusammenhang zwischen den aufgeschlitzten Melonen und den umfallenden Menschen. Aufschlitzen und umwerfen. Beiden liegt ein ungeheures Mißtrauen und ein ebensolcher aggressiver Machtdrang zugrunde. Im ersten Fall ist es Mißtrauen gegen den Großvater, das sie mit dem Öffnen der Melonen beseitigt, und sich so das Wissen verschafft, ob das, was er sagte, bei allen wirklich stimmt oder nicht – und Wissen ist Macht.
Im zweiten Fall handelt es sich um das Mißtrauen gegenüber den Menschen, das sie so beseitigt, indem sie sich Klarheit verschafft, ob sie sich ihr unterwerfen oder nicht. Sie wirft sie um, und wenn sie fallen, ist sie sich ihres Vertrauens »gewiß«. Die erzwungene Hingabe der Umgeworfenen ist zugleich ein Beweis ihrer Macht. Der Zwang, Menschen umzuwerfen, kann zugleich ein Ausdruck ihres Mißtrauens und Anerkennungsdranges gegenüber Gott sein. Jedesmal, wenn es ihr gelingt, einen Menschen umzuwerfen, ist sie sowohl des Vertrauens als auch der Anerkennung durch Gott gewiß, der ja durch sie den Fall bewirkt. Daß sie dabei bloß eigene Macht befriedigt, ist zweitrangig. Soweit die Deutung dieses Kindheitserlebnisses, das auch ein Licht auf andere Züge der Evangelistin wirft, die wir später noch darstellen wollen.
Ich vermute, daß viele unverarbeitete Kindheitskonflikte Frau Kuhlman an der menschlichen und geistlichen Reifung hinderten und sie auf ihre egozentrischen Bedürfnisse beschränkten. So blieben fundamentalste christliche Forderungen unbeachtet auf der Strecke.
Mitmenschen
Während sie es in ihren Gottesdiensten meisterhaft verstand, mit Menschen umzugehen, deren Gemütsverfassung zu erspüren und entsprechend zu reagieren, »wußte, wenn sie barsch sein oder als kluge Geschäftsfrau auftreten mußte …, wenn es galt, sich sanft und weiblich zu geben oder wenn es besser war, die Hilflose zu spielen«, behandelte sie ihre Angestellten wie Roboter. Einer ihrer Angestellten bemerkte: »Hier ist jeder ein Roboter. Wir brauchen nicht zu denken, wir brauchen nur zu tun, was uns gesagt wird. Miß Kuhlman drückt auf den Knopf, und schon funktionieren wir« (S.140). Jemand anderer berichtet: »Es sind alles Roboter in den Büros. Sie reden wie Miß Kuhlman, sie lachen wie Miß Kuhlman. Sie dürfen keine persönlichen Probleme, ja nicht einmal ein Privatleben haben. Sie sind vorprogrammiert . . . Sie brauchen nicht zu denken, sie brauchen nur dem Verhaltensmuster zu folgen, das Miß Kuhlman in sie hineinprogramiert hat.« »Selbst jene, die Verantwortung trugen, hatten keine mehr, wenn sie anwesend war.« »Kathrin sagte mir einmal«, schreibt Buckingham, »sie halte es mit ihrem Bureau wie mit ihrer Theologie: >Ich habe etwas gefunden, was funktioniert, und werde nie davon abgehen<« S.142.
Kathrin Kuhlman lehnte es ab, sich mit den persönlichen Problemen ihrer Angestellten zu befassen. Eheprobleme oder finanzielle Probleme die Kuhlmanstiftung war bekannt für niedrige Gehälter durften nicht erwähnt werden. »Ich habe keine Zeit, mich um die Privatangelegenheiten meiner Angestellten zu kümmern.«
»Am Ende wurde sie zu einer Einzelgängerin, die zwar in der Öffentlichkeit noch ihren Dienst tat und sich darin verlor, die sich aber schließlich von allen Menschen zurückzog und nur noch ein oder zwei Personen in ihrer Nähe duldete. Ganz zum Schluß verschmähte sie auch sogar ihre engsten Freunde und begab sich in die Hände von Menschen, die sie kaum kannte. Es war ein trauriger Abgang« S.152.
Zu Männern hatte sie ein spezielles Verhältnis. Sie flirtete schon früh. Helen Gulliford, ihre Pianistin, ermahnte sie schon in jungen Jahren, den männlichen Verehrern gegenüber, die in Scharen zum Gebet kamen und noch wenig zwischen der Liebe zum himmlischen Vater und dem Sex Appeal einer jungen Frau unterscheiden konnten, keinen zu freundlichen Ton anzuschlagen. Dies um so mehr, als einige Kritiker ihr vorhielten, sie biete ihnen bloß ein Gemisch von »Seelenheil und Sex« an (S.45).
Gehorsam
Sosehr sie die Verehrung der Männerwelt genoß, sosehr lehnte sie es ab, von ihnen beraten oder geführt zu werden. »Sie lehnte jeglichen Rat der Freunde ab, Unterordnung war ihr etwas Fremdes, besonders wenn es sich um einen Mann handelte oder um eine Gruppe von Männern, denen sie sich unterordnen sollte. >Jeder Christ sollte von Gott direkt hören<, sagte sie. Religion führt den Menschen in die Knechtschaft, aber das Christentum macht ihn frei. Unterordnung Männern gegenüber ist Knechtschaft. Ich möchte frei sein, und Gott direkt zu mir reden lassen.« »Wenn Kathrin irgendeine große Schwäche in ihrer langen und fruchtbaren Karriere hatte, dann war es die, daß sie sich den gläubigen Menschen, die mit ihr zu tun hatten, nicht unterordnen wollte … aus irgendeinem Grunde fühlte sie sich von einer solchen Forderung bedroht … Sie konnte sich nie zu der Einsicht durchringen, daß sie durch das Hören auf einen anderen nicht ihrer Rechte vor Gott beraubt und auch nicht zu einer Marionettenfigur wurde, die sich nur bewegt, wenn ein anderer am Faden zieht« (S.85).
Sie kannte also die Tugend des Gehorsams nicht. Im Gegenteil, sie ertrug es nicht, jemandem oder etwas gegenüber gehorsam zu sein. Deshalb gehörte sie keiner institutionellen Kirche an. Sie solidarisierte sich vielmehr mit all »jenen, die in bezug auf organisierte Religion desillusioniert waren, aber ein Verlangen nach Gott hatten«. Sie hielt nichts von der Kirche und von Menschen, »die verblendet waren durch die kirchlichen Traditionen einer falschen, toten Religion«. Sie widersetzte sich jeglicher Tradition, der sie sich im Gehorsam ein- oder unterzuordnen gehabt hätte.
Theologische Kenntnisse
Ihre theologischen Kenntnisse waren mehr als bloß dürftig, und ihr geistliches Leben wurde im Lauf der Jahre immer nachlässiger. »>lch wußte nicht einmal, was das Wort Theologie bedeutet<, sagte K. Kuhlman. >Ich war froh, daß ich einfältig war, einfältig genug, um zu glauben, daß ich nur das Wort zu predigen brauche, und Gott sich dann schon um meine Theologie kümmern würde!« Es gab in ihren späteren Jahren wenige Hinweise, daß sie auch persönliches Bibelstudium betrieb, schreibt Buckingham und vermutet, »daß sie ihre Bibel fast ausschließlich nur in der Öffentlichkeit las« (S.145).
Geistliches Leben
»Nicht nur schien Kathrin in den letzten Jahren ihr persönliches Bibelstudium vernachlässigt zu haben, sondern auch ihr Gebetsleben«, schreibt Buckingham und bemerkt, daß sie auf diesbezügliche Fragen beschwichtigend geantwortet habe, daß ja ihr ganzes Leben ein Gebet sei. »Am schwersten zu verstehen war es, daß sie sich nicht mehr mit den Gebetsanliegen befaßte, die zu Tausenden jede Woche in ihrem Bureau eintrafen.« Daß es trotzdem Gebetserhörungen gab, schrieb man schließlich dem Glauben der Briefschreiber zu. Andere meinten, daß viele andere für die Anliegen gebetet hatten, andere stellten die Frage, ob das Gebet bei den Heilungen überhaupt eine Rolle gespielt habe. Buckingham meint selber, daß Kathrin Kuhlman »nur die Rolle eines Katalysators spielte, durch den den Menschen Gebete entlockt wurden; und auf Grund dieser Gebetsrufe schickte Gott – nicht Kathrin dann die Antwort«
Aus der Dürftigkeit ihres geistlichen Lebens dürfte sich auch erklären, warum ihr öffentliches Auftreten als Evangelistin und Heilerin so verschieden war von ihrem persönlichen Verhalten im Alltag wie etwa zu ihren Mitarbeitern und anderen Mitmenschen. Wir dürfen wohl sagen, daß Frau Kuhlman die mystische Tiefe einer Teresa von Avila abging, deren Heiligkeit mit zunehmendem Alter immer strahlender wurde. Es fehlt deshalb die Grundlage, die beiden Gestalten immer wieder miteinander zu vergleichen. Und es scheint mir auf Grund der bisherigen Erkenntnisse, die ich mir beim Studium der Persönlichkeit Kathrin Kuhlmans aneignete, klar, daß ihre öffentlichen Erfolge nicht in ihrem mystischen Verhältnis zu Jesus Christus begründet sind. Wie hätte sie sich sonst bis in ihre letzten Tage dermaßen in ihre Eitelkeit, ihre Selbstüberschätzung, ihre Geltungssucht und an ihren materiellen Reichtum klammern können? Ihr Haus glich einem Museum. Ihre Schränke waren zum Bersten mit Pelzen und Modellkleidern aus besten Modehäusern vollgestopft. Ihr Hang zum Materiellen wäre wohl nicht so ausschließlich gewesen, hätte sie sich auch um geistige Bildung und kulturelle Werte interessiert. »Ihr Verständnis aber für das, was um sie her in der Welt vor sich ging«, schreibt ihr Biograph, »war sehr begrenzt«.
Welche Kraft
Welche Kraft war es nun, um die Frage nochmals zu stellen, mit der Kathrin Kuhlman Menschen heilte und zu Boden warf? Ist es ihre »Perfekte Kombination von Sex, Showtalent, Geistlichkeit und mütterlicher Dominanz«, von der Buckingham spricht, die sie in dieser außerordentlichen Weise befähigte, die Massen zu elektrisieren und Menschen in ihre Gewalt zu bringen? Was sonst war imstand, solch sensationelle Reaktionen auszulösen! »War es Glaube«, wie sich Buckingham fragt, »wenn ja, was war dieser Glaube? War es etwas, was man selbst erzeugen, selbst entwickeln konnte? War es etwas, was man durch eigene gute Werke oder ein gutes moralisches Leben erhielt? War es etwas, was man dafür bekam, daß man dem Herrn diente, oder etwas, was man durch wohltätiges Handeln erlangte? Und in wem wohnte dieser Glaube? In der Person, die krank war? Oder in der Person, die den Heilungsdienst leitete? Oder in der Masse der Menschen, die die Kranken umgaben? Oder in allen dreien zugleich?« (S.103).
Buckingham stellt hier ein Bündel wesentlichster Fragen, die das ganze Geschehen um das »Ruhen im Geist« und die oft damit verbundenen Heilungen in den Zusammenhang des Glaubens bringen. Wir wollen in den folgenden Kapiteln versuchen, einige Antworten zu finden, indem wir auf das früher aufgeworfene Thema der Suggestion zurückkommen.
8 Vorstellung schafft Wirklichkeit
Wesen und Wirkung der Suggestion
Um die Frage zu beantworten, ob es sich beim »Ruhen im Geist« und den oft damit verbundenen Heilungen um Suggestion handeln könnte, müssen wir uns zunächst fragen, was Suggestion überhaupt ist.
Betrachten wir die Suggestion sozialpsychologisch, dann können wir sie als Übernahme einer Überzeugung definieren, ohne daß deren Wahrheitsgehalt nachgeprüft worden wäre. Kinder übernehmen fast alle ihre Überzeugungen oder Anschauungen auf diesem Wege. Aber auch Erwachsene verhalten sich oft Autoritäten, Parteien, angesehenen Institutionen und neuestens den Massenmedien gegenüber wie Kinder. Die Empfänglichkeit gegenüber solchen Einflüssen nennen wir Suggestibilität. Das Vermögen, auf andere in diesem Sinne einzuwirken, bezeichnen wir als Suggestivität.
Aus tiefenpsychologischer Sicht ist die Suggestion die unbewußte Verwandlung eines Gedankens oder eines Vorstellungsbildes in die entsprechende Wirklichkeit. Mit Suggestion ist zunächst der Vorgang dieser Verwandlung gemeint. Die in die Wirklichkeit zu verwandelnden Gedanken oder Vorstellungsbilder bezeichnen wir als Suggestionen.
Wir sind fortwährend Suggestionen ausgesetzt. Viele unserer Handlungen und Verhaltensweisen sind das Ergebnis einer Verwandlung von Gedanken oder Vorstellungsbildern in ihre Wirklichkeit. Wenn ein Unglücklicher auf einmal in einer Krise zur Flasche greift, versucht er die Vorstellung, daß Alkohol glücklicher macht, was ihm eine Fernsehreklame gezeigt hat, in die Wirklichkeit umzuwandeln. Er wird allerdings dabei frustriert, weil dieses Versprechen nicht der Wahrheit entspricht und nur dazu dient, mehr Alkohol zu verkaufen. Er hat sozialpsychologisch das suggerierte Vorstellungsbild aufgenommen, ohne es nach seinem Wahrheitsgehalt geprüft zu haben.
Wenn ich im Supermarkt eines Tages ganz unmotiviert nach Lindt Schokolade greife, ist das wahrscheinlich die Folge einer Reklame in einer Zeitung, an einer Litfaßsäule oder eines Fernsehspots, welche ich unterschwellig aufgenommen habe. In diesem Fall ist nicht nur die Verwandlung des Gedankens, sondern auch der Auslöser des Gedankens unbewußt. Die moderne Verkaufspsychologie kennt die Wirkweise und kraft der Suggestionen, die sie dermaßen raffiniert einsetzt, daß wir gar nicht merken, daß wir zwanghaft aus fremden und nicht frei aus eigenen Impulsen handeln. Sie stellt uns Lust vor, wodurch sie uns Lust schafft, Vorstellung von Lust schafft Lust. Wir könnten es allgemein sagen: Vorstellung schafft Wirklichkeit.
Nicht jeder Gedanke, nicht jedes Bild wirkt sofort suggestiv auf uns. Unser Unbewußtes ist voll von Bildern. Es nimmt sie von überall her auf und stapelt sie in seinen weiten Räumen. Es birgt selbst in seinen tiefsten Schichten einen unübersehbaren Schatz kollektiver Bilder, die, je nach äußeren Einflüssen und inneren Konstellationen, auf einmal aktiviert, uns zu beeinflussen beginnen. So wissen wir, daß neurotische Konflikte bestimmte Bilder n uns wecken, die sich als Suggestionen in die Wirklichkeit psychischer Symptome oder sogar psychosomatischer Krankheiten verwandeln, denen wir bewußt willentlich nichts Wirksames entgegenzusetzen haben. Andererseits kann sich eine unbewußte Vorstellung von Gesundheit in die Wirklichkeit einer solchen Kraft verwandeln, daß ihr gegenüber eine organische Krankheit eine »Chance« hat.
In solchen Verwandlungen handelt es sich meistens nicht nur um die Verwandlung äußerer Einflüsse in die entsprechende Wirklichkeit. sondern auch um innere Bilder, die sich aus persönlichen und kollektiven Elementen zu einer geballten positiven oder negativen Kraft umsetzen, der wir ausgeliefert werden. Wir fassen uns jetzt mehr mit den von außen an uns herangetragen Suggestionen, wobei wir bemerken, daß wir immer wieder von Beeinflussung und Einflüssen statt von Suggestion und Suggestionen sprechen. In der Tat können wir den Vorgang der Suggestion im weitesten Sinn als Beeinflussung und die Suggestionen als Einflüsse definieren.
Und so müssen wir gestehen, daß alles beeinflußt ist. Es gibt keine Philosophie, keine Ideologie, keine Weltanschauung, keine Religion, keinen Krieg und kein Friede, die nicht durch Suggestion entstanden, aufrechterhalten oder weiterentwickelt worden wären. Jedes Gespräch, jedes Konzert, jedes Theater, jede Predigt, jedes Gemälde, jede Liturgie wirkt suggestiv, beeinflussend auf mich. Die leuchtende Sonne oder auch bloß deren Erscheinungsbild suggeriert mir Fröhlichkeit. Regenwetter beeinflußt mich, zu Hause am Kaminteuer zu bleiben. Bereits sein Anblick durchrieselt mich mit Wärme, selbst wenn ich noch viel zu weit von ihm entfernt bin, um es zu spüren, weil ich sein Bild in mich aufnehme, es zur eigenen Vorstellung mache, die sich in mir in die Wirklichkeit einer Wärmeempfindung verwandelt. Ein solcher Einfluß von außen kann erst suggestiv, das heißt, verwandelnd in mir wirken, wenn ich ihn in mir aufgenommen, ihn mir vorgestellt und mich mit dieser Vorstellung identifiziert habe. Eine Suggestion wirkt erst in mir, wenn ich sie mir zu eigen, das heißt zur Autosuggestion gemacht habe. Jede wirksame Suggestion ist eine Autosuggestion – wenn sie eben wirksam sein soll. Es ist deshalb außerordentlich wichtig, uns der Suggestionen bewußt zu sein, denen wir täglich ausgesetzt sind, daß wir jene auswählen können, die wir uns zu eigen machen und in uns wirksam werden lassen wollen, und jenen, von denen wir uns nicht beeinflussen lassen möchten. Es ist erschreckend, wie viele von uns zum Spielball von Einflüssen geworden und völlig in die Hände von Industriekonzernen und ganzen Gesellschaftszweigen geraten sind, die ihnen ihre eigenen Moralvorstellungen, ihr Sex , Kleidungs- und Umweltverhaltensmuster aufzwingen und sie so jeglicher Freiheit berauben.
Der Laienpsychologe Emil Coué hat uns auf die Kraft der Autosuggestion aufmerksam gemacht. Er hat uns aufgezeigt, wie gute Gedanken gute Früchte, und schlechte Gedanken schlechte Früchte hervorbringen und daß sowohl das Wunder des guten Lebens als auch das Verhängnis eines unglücklichen von jenen Suggestionen bestimmt wird, von denen wir uns beeinflussen lassen.
Louis Rénon schildert ein Experiment mit chronisch Tuberkulosekranken, denen eine einfache subkutane Injektion von Kochsalzlösung verabreicht wurde, die allerdings als großartige Entdeckung und als Medikament von enormer Heilkraft unter dem Namen Antiphimose suggeriert wurde. Dieser suggerierte Heilungsgedanke wurde von den Patienten aufgenommen und so autosuggestiv wirksam. Die Wirkung der Spritzen, die während mehrerer Wochen alle 5 6 Tage verabreicht wurden, übertrafen alle Erwartungen. Im Laufe einiger Tage kehrte der Appetit zurück. Die Hustenanfälle ließen nach, ebenso die nächtlichen Schweißausbrüche und die Symptome auf der Brust. Dazu kam eine Gewichtszunahme von 1,5 3 kg. Alle früheren Symptome traten freilich wieder auf nach Beendigung der Spritzenkur.
Noch demonstrativer und in der Wirkung beständiger ist die Placebo Behandlung von Warzen, die man mit einer unwirksamen Farbe bestrich und dem Patienten erklärte, die Warze werde verschwinden, sobald die Farbe sich abgenutzt habe. Und die Warze verschwand. Das mutet an wie ein Wunder. Aber nicht so sehr die Heilung ist hier das Wunder, als vielmehr die Fähigkeit des Unbewußten, auf eine Suggestion hin außerordentlich komplexe und noch wenig verstandene physiologische Prozesse zu leiten und planvoll in sie einzugreifen. »Die unbewußte Intelligenz« muß ziemlich komplizierte und recht präzise Operationen durchführen, nachdem sie die Suggestion empfangen hat. Falls immunologische Mechanismen im Spiel sind, müßten verschiedene Zellen in der richtigen Reihenfolge eingesetzt werden, um Gewebe abzustoßen, falls es sich um ein Unterbinden der lokalen Blutzufuhr handelt, so daß die Warze abstirbt, bedarf es eines selektiven Ausschaltens der präkapillaren Arteriolen. Beide Prozesse sind außerordentlich komplex, und wir wissen noch wenig über sie.
Eröffnet der Vollzug solcher unbewußter Operationen als Reaktion auf »bloße« Suggestion nicht erstaunliche Möglichkeiten auch im Hinblick auf das »Ruhen im Geist«?
Wie weit Suggestion nicht nur heilt, sondern sogar tödlich werden kann, soll uns ein Beispiel demonstrieren, das wir aus Freuds Buch »Totem und Tabu« entnehmen und auf welches er beim Studium sozialer und religiöser Bräuche bei Primitiven gestoßen ist. Er erfuhr, daß bei gewissen Stämmen der Glaube herrscht, daß, wer einen »unantastbaren« Gegenstand (Tabu) berührt, wegen dieses Verbrechens zu sterben hat, und dieser Glaube erweist sich als wahr. »Von der fürchterlichen Wirkung der Berührung, in welcher man, ob auch unabsichtlich, gegen den König oder das, was zu ihm gehört, aktiv wird, mag folgender Bericht Zeugnis ablegen. Ein Häuptling von hohem Rang und großer Heiligkeit auf Neuseeland hatte einst die Reste seiner Mahlzeit am Wege stehen lassen. Da kam ein Sklave daher, ein junger, kräftiger, hungriger Gesell, sah das Zurückgelassene und machte sich darüber, um es aufzuessen. Kaum war er fertig geworden, da teilte ihm ein entsetzter Zuschauer mit, daß es die Mahlzeit des Häuptlings gewesen sei, an welcher er sich vergangen habe. Er war ein starker, mutiger Krieger gewesen, aber sobald er diese Auskunft vernommen hatte, stürzte er zusammen, wurde von gräßlichen Zuckungen befallen und starb gegen Sonnenuntergang des nächsten Tages.« (Sigmund Freud, Totem und Tabu, Hamburg 1984)
Faktoren der Suggestion
Die Verwandlung von Suggestionen in ihre Wirklichkeit wird durch verschiedene Faktoren ermöglicht und unterstützt. Zunächst muß die Aufmerksamkeit geweckt werden. Ich meine nicht die willentliche Aufmerksamkeit. Im Gegenteil, je mehr wir uns auf einen Gedanken konzentrieren, um ihn suggestiv wirksam zu machen, um so unwirksamer wird er. Ein guter Suggestor geht umgekehrt vor, etwa wie ein Feldherr, der seinen Feind mit List angreift. Er wirft an einer oder mehreren Stellen Soldaten an die Front, um dort die feindlichen Kräfte zu binden, während er anderswo ein gezieltes Kräftevakuum schafft, in das er den eigentlichen Angriff führt. Die Entscheidung spielt sich also nicht dort ab, wo sich die Kräfte sammeln, sondern wo sie sich zerstreuen. So wird der Suggestor versuchen, die Aufmerksamkeit blitzartig auf eher unbedeutende Punkte zu lenken, damit es ihm gelingt, die Suggestion, auf die es ihm ankommt, in den leer gewordenen Raum der Seele hineinzuschieben.
Die Suggestion wird so in einen geistigen Leerraum hineingeworfen, wo sie als einzelner Gedanke in ihrer Ausschließlichkeit bedeutsam, ja beherrschend wird, wie ein Laut, der in absoluter Stille ertönt. Dieser einzelne Gedanke vermag nun die Aufmerksamkeit unbewußter Kraftfelder auf sich zu lenken, die nun dessen Verwandlung vollziehen. So wirkt etwa eine gute Zigarettenreklame durch eine spannende Geschichte, die mit der Zigarette vorerst gar nichts zu tun hat, um die Aufmerksamkeit zu binden. Auf einmal erscheint ein Zigarettenbild, ein Zigarettensatz, raffiniert eingeschoben, der geradewegs im richtigen Augenblick durch eine Lücke in den Freiraum des Unbewußten fällt, wo er verwandelt wird, und der Zuschauer nach der entsprechenden Zigarette greift, sofort, oder erst morgen oder doch aber in einigen Tagen.
Es gibt eine andere Art von Gesetzmäßigkeit in der Verwandlung der Suggestionen, nämlich jene der umgewandelten Anstrengung.
Versuchen wir nämlich eine einmal in Verwandlung geratene Suggestion daran zu hindern, ihren Prozeß fortzusetzen, bestärken oder fördern wir ihn. Die Anstrengung, gegen die Suggestion anzukämpfen, vertieft oder beschleunigt diese. Erinnern wir uns an die Zeit, da wir Radfahren lernten. Es genügte bereits, ein Hindernis auf der Straße zu sehen und ihm ausweichen zu wollen, um es in bewundernswerter Sicherheit anzufahren. Lachanfälle werden um so schlimmer, um so mehr wir sie bekämpfen. Auch das Lampenfieber pflegt sich zu verschlimmern, wenn wir uns dagegen wehren. Hat man bei einer Versuchsperson hypnotisch eine Verkrampfung der Hände erzielt, stellt man fest, daß, wenn man sie bittet, die Hände zu lockern, sich diese noch mehr verkrampfen.
Ein Gedanke hat um so mehr Chance auf suggestive Verwirklichung, mit je mehr gefühlshafter Erregung er begleitet ist. Wir stellen etwa fest, daß, wenn ein Stotterer ins Stottern gerät, ein Schüchterner rot wird, und wenn beide dagegen anzukämpfen beginnen, sie sich in eine Erregung steigern, die ihre Schwierigkeiten ins Vielfache vergrößert; erstens auf Grund der umgewandelten Anstrengung, aber auch auf Grund der Erregung, die diese zur Folge hat. Manche Suggestoren lassen die Menge warten und steigern sie so in eine Erwartungshaltung, die ihnen hilft, die Suggestionen in den einzelnen besser zu verwirklichen. Der ganze Apparat von Menschen, der Stab von Mitarbeitern, den sie um sich bilden, die prickelnde Atmosphäre von Wundern, die in der Luft liegen, die entsprechende Musik, all das benutzen Heiler und Suggestoren dazu, die Menge in Erregung zu versetzen und so ihr Ziel der Beeinflussung rascher und leichter zu erreichen.
Wenn Mittel der Erregung zugleich auch Mittel der Überzeugung sind, erhöhen sie ihre Wirkung gegenseitig. Das sichere Auftreten des Heilers und seines Stabes, seine demonstrierte Unfehlbarkeit, die Eindrücklichkeit der um ihn versammelten Mitarbeiter, die Glaubwürdigkeit und Sicherheit seines Auftritts und seiner Aussagen und vor allem das Ereignis erster Erfolge der Suggestion: daß jemand in Trance fällt, ein Geheilter zeigt seine Krücken. Solch überzeugende Fakten in einer Atmosphäre der Erregung steigern sowohl die Überzeugung als auch die Erregung, und beides schaukelt sich gegenseitig hoch zu einer für den Suggestionsvorgang günstigen Stimmung. Der einem Heiler oder Suggestor vorauseilende Ruf, den er manchen Zufällen, legendären Berichten seiner Anhänger und eigenem Verhalten verdankt, trägt ebenfalls viel zur Erregung bei. Seltsame Reaktionen, die gerade durch ihre unwirkliche Seltsamkeit den Eindruck des Wunderbaren erwecken, helfen mit, Erregung zu schüren und die autosuggestive Verwirklichung zu begünstigen. Die Verwirklichung eines Gedankens hat also am meisten Aussicht auf Erfolg, wenn sie von Erregung und Überzeugung begleitet ist.
Wir ahmen nicht alle Bewegungen oder Verhaltensweisen anderer nach, nur jene, die für uns einen Wert darstellen. Das heißt, ob wir uns in unserem praktischen Verhalten durch das unserer Mitmenschen bestimmen lassen oder nicht, hängt davon ab, ob dieses unseren Zielen, der Erfüllung unserer Wünsche und Bedürfnisse dient oder nicht. Dabei sind oft unbewußte Wünsche und Bedürfnisse entscheidender als bewußte. Diese zwingen uns in gewissen Situationen geradezu, wider den eigenen Willen Vorbilder nachzuahmen, weil sie unbewußten Wünschen Erfüllung versprechen. In Massenveranstaltungen, wo die Erregung mit all den Faktoren die günstigste suggestive Stimmung erzeugt hat, kann sich je nach Art der Stimmung Freude, Gelächter, Hoffnung und Trauer wie eine Epidemie ausbreiten. So kann in einer entsprechenden Atmosphäre das Gesetz des Beispiels die entsprechende Nachahmung oder sogar die Ansteckung hervorrufen, der sich kaum noch jemand entziehen kann.
Es dürfte allgemein bekannt sein, daß wir durch Übung ein Verhalten verfestigen. Auch unbewußte Tätigkeiten können durch regelmäßige Übung gefördert und vervollkommnet werden. Wir haben in der Psychotherapie Beispiele, daß sich negative Suggestionen durch dauernde Übung zu psychosomatischen Störungen verwirklichen. Es kann das Zusammenwirken verschiedenartiger negativer Suggestionen durch ständiges Wiederholen zu einer schweren Neurose führen. Es kann eine Tätigkeit durch Übung zum Automatismus oder zur Gewohnheit werden. Die Auflösung eines solchen einzelnen Suggestionskomplexes kommt durch Einüben gegenteiliger Suggestionen zustande. Die heilenden Suggestionen werden sich in dem Maße positiv auswirken als sie ebenfalls zur Gewohnheit werden. Übung ist in vielen Fällen die Voraussetzung der Dauerwirkung von Suggestionen. Das autogene Training stützt seinen Erfolg unter anderem auf das langfristige Üben der entsprechenden Suggestionen.
Unser Lebensstil wird von einem uns meistens unbewußten Ziel bestimmt, aus dem unser Verhalten, Denken, Fühlen und Phantasieren zu verstehen ist. Dieses Lebensziel ist eine Suggestion, unsere Hauptsuggestion: Ich will in meinem Leben dieses oder jenes erreichen. Eine Suggestion ist ein Ziel, das es zu erreichen gilt. Sie mobilisiert deshalb die geeigneten bewußten und unbewußten Mittel, um sich zu verwirklichen. Negative Suggestionen suchen Mittel, um eine Krankheit zu erzeugen, positive um Genesung zu schaffen. In einem Menschen mit einer Neurose trauriger Färbung scheint alles darauf angelegt zu sein, Anhaltspunkte zu finden noch trauriger zu werden. Er wird Hiobsbotschaften suchen, in der Zeitung Unglücksfälle, Verbrechen und Todesanzeigen studieren. Die aus irgendwelchen Ursachen entstandene Suggestion, traurig zu sein, sucht ununterbrochen nach Mitteln, Traurigkeit zu erzeugen und zu vertiefen. Ist also eine Suggestion einmal in Gang gebracht, ist sie auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung, wird sie die entferntesten Möglichkeiten, die ihr zur Verwirklichung dienlich sind, wahrnehmen und einbeziehen. Das heißt, sie wird jeden zusätzlichen Suggestionsfaktor sogleich integrieren.
Wenn ich einen traurigen Menschen darauf aufmerksam mache, daß er seine Traurigkeit immerzu verfestige und füttere und daß er damit aufhören sollte, wird er glatt bestreiten, daß er das tut. Er wird mir sagen, daß einem in der Welt soviel Trauriges begegne, daß man automatisch traurig werde. Er suche nicht. Im Gegenteil, er gehe Traurigem aus dem Weg. Die Tendenz, eine Handlung vernunftmäßig zu rechtfertigen, obwohl sie einem unbewußten Ziel entspringt, nennen wir Rationalisierung. Der Mensch will bewußt, vernünftig und begründbar handeln. Sein geistiger Stolz gibt ihm nicht zu, von unbewußten Kräften oder Mechanismen bestimmt zu werden. Katz versteht »unter Rationalisierung die sozial akzeptable Rechtfertigung für eine Handlung, die in Wirklichkeit aus weniger respektablen Motiven begangen worden ist, wobei aber der dahinter liegende seelische Mechanismus dem Träger der Rationalisierung verborgen bleibt«.
Rationalisierung, sagt er, sei aber auch der Wunsch, eine Verhaltensweise, die aus irrationalen Motiven stamme, rational zu begründen, weil man irrtümlicherweise glaube, alle Verhaltensweisen rational begründen zu können.
So wird ein »im Geist Ruhender« kaum zugestehen, daß er einer Suggestion gefolgt sei, im Gegenteil, er wird behaupten, vom Heiligen Geist berührt worden zu sein, wodurch er sein Verhalten mit einer in der Erneuerung nicht nur akzeptablen, sondern hochgeschätzten Erklärung rechtfertigt. Da er zudem die Wirksamkeit unbewußter irrationaler Motive auf Grund seiner zwiespältigen Haltung zur Psychologie ablehnt oder einfach ignoriert, erklärt er seinen »Fall« mit einer passenden rational einsichtigen theologischen Theorie. Das nennt man Rationalisierung.
Suggestionen verwirklichen sich immer in einem bestimmten physischen und psychischen Umfeld. Jemand sagt: »Es zieht hier. Ich erkälte mich.« Und siehe da, er erkältet sich, wahrscheinlich weniger weil es kalt ist, als weil er erwartet, daß er sich erkältet, sich diese Erwartung also als Suggestion in ihre Wirklichkeit verwandelt, Erkältungssymptome erzeugte oder solche wenigstens in ihrer Entstehung unterstützt. Nun sagt er, wie er es ja erlebt hat, immer wenn es zieht: »Ich erkälte mich«. Und er wird sich jedesmal erkälten. Er knüpft seine Suggestion an eine Bedingung. Es handelt sich um eine bedingte Suggestion: »Wenn es zieht und jedesmal wenn es zieht erkälte ich mich«. Andere bedingte Suggestionen können etwa so lauten: »Wenn ich jeden Tag eine Stunde spazieren gehe, wird meine Gesundheit immer besser«. Diese bedingte Suggestion wird automatisiert, vollzieht sich schließlich unbewußt bei jedem Spaziergang und stärkt tatsächlich die Gesundheit. Ebenso kann sich beispielsweise eine bedingte Suggestion in dem Sinne automatisch wirksam machen, wenn ich sage: »Indem ich meine Medizin nehme, werde ich gesund«. Sobald ich dann die Medizinflasche ergreife, die Bedingung sich also erfüllt, beginnt die Suggestion automatisch zu wirken. Baudouin berichtet von einem Beispiel, das ihm Coué persönlich erzählte und bei dem es sich um eine ausgesprochen bedingte Suggestion handelte, die durch eine einzige Gegensuggestion sofort gelöst werden konnte. Ein vierzigjähriger nieren- und herzkranker Mann ist seit mehr als einem Jahr bettlägerig. Eines Tages um 5 Uhr nachmittags wird er von heftiger Atemnot befallen. Er meint zu sterben. Der herbeigerufene Arzt ist hilflos, und der Anfall dauert bis halb zehn Uhr nachts, ohne daß er hätte unterbrochen werden können. Am nächsten Tag gegen fünf Uhr sagte der Patient, er spüre, daß der Anfall wiederkehre. Und wirklich packte es ihn, genau um fünf Uhr erneut. Fünf Monate kam der Anfall ohne Unterbrechung jeden Abend um dieselbe Zeit mit unverminderter Heftigkeit. In einer Kollektivsitzung gab Coué die entsprechende Gegensuggestion, nämlich, daß der Anfall künftig um fünf Uhr ausbleiben werde. Und von da an blieb der Anfall aus. Für immer. Coué schloß daraus, daß nur der erste Anfall echt war, während die 150 weiteren Anfälle unbewußt vom Kranken hervorgerufen wurden, weil er sie zur gewohnten Stunde erwartete: »Wenn es fünf Uhr wird, kommt der Anfall«. Ein sprechendes Beispiel einer Verwandlung einer bedingten Suggestion in ihre Wirklichkeit.
Wenden wir die bedingte Suggestion auf das »Ruhen im Geist« an. Wir stellen fest, und es wurde auch aus früher angeführten Berichten klar, daß, wer einmal fiel, »Gefahr läuft« unter ähnlichen Umständen immer wieder zu fallen. Sei es, daß jemand ähnliche Veranstaltungen bewußt zu demselben Zweck aufsucht. Sei es aber auch, daß bei ganz andern religiösen Anlässen Bedingungen, die damals das Fallen auslösten, erneut unbewußt als Auslöser des Phänomens aktiv werden. Eine ähnliche Atmosphäre, ähnliche Lieder, Gesten oder Handlungen, die an den ersten »Fall« erinnern, können im Sinne der erfüllten Bedingungen das Fallen erneut auslösen. So erzählte mir ein Priester, der vom »Ruhen im Geist« überhaupt nichts wußte, daß bei seinen Exerzitien, die er durchführte, plötzlich jemand bei einer Eucharistiefeier und jemand anderer bei einem Segnungsgottesdienst umgefallen seien, was ihn erschreckte und wofür er keine Erklärung fand, bis ihn die Betreffenden aufklärten, daß es sich um »Ruhen im Geist« handle, das sie anderswo schon mehrmals erlebt hätten.
Zwei treffende Beispiele, wie mir scheint, für bedingte Suggestionen, die zudem zeigen, wie rasch sich ein in Randgruppen praktiziertes Phänomen ins Zentrum rückt und sich unter günstigen psychologischen Umständen durch Ansteckung ausbreiten könnte. Was allerdings hier nicht geschah, weil das entsprechende Klima fehlte.
Die Rolle der Masse
Wie wir früher bereits bemerkten, bildet das Massenklima einen besonders günstigen Nährboden für die Verwirklichung von Suggestionen. Sigmund Freud hat sich eingehend mit der Psychologie der Masse (S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Fischertaschenbuch, Hamburg, 1981) auseinandergesetzt. Seine Theorie ist nur aus dem Begriff des Unbewußten zu verstehen. Das Unbewußte ist das Basiselement der massenpsychologischen Vorgänge. Masse, meint er, fordere ununterbrochen unbewußte Inhalte heraus und aktiviere sie bis in tiefste Primitivschichten der Psyche. Sie lebe von ihnen, lasse sich von ihnen tragen und inspirieren. Die Wirkung der Masse auf das Individuum sei mit der Hypnose zu vergleichen. Er betrachtet die Masse als Wiederaufleben der von einem starken Männchen unumschränkt beherrschten Urhorde. Der Wert der Einzelpersönlichkeit schwindet. Die Gedanken und Gefühle orientieren sich nach gleichen Richtungen. Die Affektivität und das Unbewußte herrschen vor. Insgesamt findet eine Regression in einen seelischen Primitivzustand statt. Die Massenatmosphäre verstärkt nach Freud die Suggestibilität der Einzelnen und schafft ein Idealklima für hypnotische oder hypnoseähnliche Vorgänge und Zustände. Dabei spielt der Ansteckungsmechanismus entscheidend mit. Ein an anderen wahrgenommenes Gefühl löst im Wahrnehmenden automatisch dasselbe Gefühl aus. Es entsteht eine Art automatischen Gefühlszwangs, der um so zwingender wirkt, an je mehr Personen dasselbe Gefühl bemerkbar wird. Der einzelne läßt sich anstecken und erhöht dadurch gleichzeitig die Erregung der anderen. Das Kollektive beginnt zu herrschen. Der Wille zur Selbstbestimmung und zur Selbstverantwortung schwindet. Worte und Argumente erhalten eine magische Kraft, gegen die logisches Denken keine Chance mehr hat. Es findet eine kollektive Affektsteigerung statt und man kann sagen, daß die Affekte des Menschen kaum unter anderen Bedingungen zu solcher Höhe anwachsen, wie es in einer Masse geschehen kann; und zwar ist es eine genußreiche Empfindung für die Beteiligten, sich so schrankenlos ihren Leidenschaften hinzugeben, in der Masse aufzugehen und das Gefühl ihrer individuellen Überzeugung zu verlieren. Diese kollektive Affektsteigerung bewirkt eine kollektive Denkhemmung. Es findet ein intellektueller Abbau statt. Irreales und Illusionäres bekommen Vorrang. Idealisierung und Kritiklosigkeit greifen um sich. Faszination ist Trumpf.
Andererseits fühlt sich das Individuum in der Masse gestärkt. Sie verleiht ihm das Gefühl der Allmacht. Unmögliches und Unwahrscheinliches hören auf zu existieren. Es gibt weder Zweifel noch Ungewißheit. …
Magie der Seele
Suggestion verwandelt unsere Vorstellungen und Gedanken nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten in ihre entsprechende Wirklichkeit. Suggestion ist ein Vorgang unseres Alltags. Sie vollzieht sich unwillkürlich, kann aber auch bewußt zur Erweiterung unseres Zieles eingesetzt werden. Sie ist um so erfolgreicher, je mehr Faktoren gleichzeitig unter möglichst günstigen Klimaverhältnissen zusammenwirken.
Die Wirksamkeit der Suggestion gründet letztlich im Vertrauen in die magischen Schichten unserer Seele. Dort leben wir nicht nach den Gesetzen der Logik. Dort herrscht nicht unser Wille. Dort richten wir uns vielmehr nach der Sehnsucht, uns hinzugeben, zu empfangen und uns führen zu lassen. Wir reagieren auf Zeichen, Bilder, Gesten und Gebärden. Worte sind dort keine verstehbaren Nachweise für geistige Zusammenhänge, sondern Zaubermittel unbewußter Geheimnisse. Wir verdrängen diese Schichten. Sie versuchen über Hintertreppen in unser Leben hineinzuwirken. Auch auf kirchlich religiösen Hintertreppen, weil wir als Christen dazu erzogen worden sind, nur den Verstand zu berücksichtigen, uns auf Willen und Kopf zu beschränken, weil wir Bilderstürme veranstalteten, das Bild aus unserer »Bildung« entfernten, in übertriebene Aktivitäten verfielen und dabei den wohl wichtigsten Resonanzraum für das Göttliche verschütteten.
Sollte die Kirche sich nicht wieder auf diese verschütteten und abgesperrten Räume besinnen? Sollte sie die Zugänge nicht freilegen und die Möglichkeiten, in ihnen zu wirken, neu überdenken, um das, was jetzt außerkirchlich durch Suggestoren und Magier geschieht oder was in kirchlichen Randgruppen Heiler wild und ungeordnet praktizieren, aufzufangen, ordnend und kontrolliert zu integrieren, wodurch sich gleichzeitig ganz neue Möglichkeiten der Verwirklichung des Heilswillens Gottes an den Menschen erschließen würden?
Im Zweifelsfalle nicht
Diese Gedanken über Suggestion und Hypnose im Zusammenhang mit »Ruhen im Geist« lassen Zweifel daran aufkommen, daß es sich bei diesem Phänomen um ein direktes Eingreifen des Heiligen Geistes handelt. Sie bestärken uns vielmehr in der Annahme, »Ruhen im Geist« sei ein Suggestionsvorgang, in dem sich bestimmte Erwartungen und Vorstellungen auf ganz natürliche Weise und nach gewissen psychologischen Gesetzmäßigkeiten in ihre entsprechende Wirklichkeit umwandeln. Um diese Verwandlung zu begünstigen, werden die oben besprochenen Suggestionsfaktoren eingesetzt.
Betrachten wir das Auftreten der Kim Collins unter dem Aspekt dieser Faktoren erkennen wir, daß die Aufmerksamkeit der Versammelten zunächst ganz auf die Heilerin und ihr Erscheinen konzentriert wurde. Obwohl der Saal gefüllt war und Frau Collins und ihre Mitarbeiter sich im Vorraum befanden, wurde deren Auftritt um eine halbe Stunde verzögert, um Erwartung und Aufmerksamkeit zu steigern. Unterdessen wurde Frau Collins durch einen Sprecher mit Jesus Christus verglichen, »dem auch ein Ruf vorausgegangen sei, der auf Zeichen gründete, die er tat.« Als Kim Collins unter Gesang, Gebet und Beifall der Versammlung endlich den Saal betrat, alle Seelenkräfte an dem einen Ort ihrer Person konzentriert waren, fiel die Nebenbemerkung ihrer Mitarbeiter, daß einige fallen werden, sozusagen in den leeren Raum der Seelen, wo sie in den Einzelnen die Aufmerksamkeit unbewußter Kraftfelder auf sich lenkte, die sie in ihre Wirklichkeit umzuwandeln begannen.
Die Bemerkung, »vielleicht fallen sie auch nicht« wirkt im Sinne der umgewandelten Anstrengung suggestionsverstärkend. Der Hinweis: »Ihr braucht nicht zu fallen« verstärkt also die Tendenz zu fallen.
»Ihr könnt auch geheilt werden wenn ihr nicht fallt, Fallen ist nur eine Nebenerscheinung« vereint den Zusammenhang von Fallen und Geheiltwerden und stellt diesen als unabdingbare Verbindung wiederum in den Mittelpunkt, allerdings verneinend, was, wie wir wissen, das Gegenteil bewirkt, das heißt: Es ist besser zu fallen, um sicher geheilt zu werden. Oder unter Einbezug des libidinösen Rapports zur Heilerin würde die unbewußte Formel lauten: »Wenn ihr der Heilerin gefallen wollt, die euch heilen kann, dann ist es besser zu fallen, um geheilt zu werden.«
Diese beiden Faktoren der unwillkürlichen Aufmerksamkeit und der umgewandelten Anstrengung werden begleitet vom Faktor der Erregung, der schon bei der Einladung eingesetzt wurde, und zwar ebenfalls unter der Form umgewandelter Anstrengung, indem die Eingeladenen »Mund zu Mund Propaganda machen sollten, um Zeitungsinserate zu verhindern, die eine Sensation ausgelöst hätten.« Das bedeutet, es wurde der Begriff »Sensation«, die verhindert werden soll, in Umlauf gesetzt, wodurch sie nach dem Gesetz der umgewandelten Energie erst möglich wurde.
Während der Wartezeit wurde die Erregung durch Gesänge, Musik und entsprechende anfeuernde Andeutungen angeheizt. Frau Collins legitimierte sich durch das Erzählen von Heilungserfolgen, Berufungserlebnisse durch Gott und überzeugte so die Anwesenden von der Begabung zu heilen und von der Macht, die ihr aus der Nähe Gottes zufloß. Ihr Mitarbeiter unterstützte ihre Aussagen und überzeugte durch treffende Formulierungen und theologisches Wissen. Das Zeugnis Geheilter steigerte sowohl Überzeugung als Erregung und gab erste Impulse zur Nachahmung der Geheilten, aber auch anderer Vorbilder, zunächst Kim Collins und ihres Mitarbeiterstabes, die mit Verzückung und erhobenen Armen die kommenden Wunder erwarteten. Es wurden so Haltungen, Gesten und Gebärden eingeübt. Stundenlang wurden in immer neuen Kombinationen und Variationen dieselben Lieder mit denselben Worten gesungen: Hingabe, Loslassen, Vertrauen, Friede, Heilung, Freude, Hoffnung, Licht, in Gottes Liebe fallen, Güte, Nähe, Macht usw., die sich dann als Suggestionen im Zustand des »Ruhens im Geiste« im inneren Erlebnis verwirklichten.
Die immer wiederkehrenden Melodien und Rhythmen erzeugten Gleichförmigkeit und Monotonie, die einschläfernd und abstumpfend wirkten und mich an jenes »kosmische Versinken in innere Rhythmen« erinnert, von dem Schultz spricht, und in dem der Mensch »keiner Zweisamkeit mehr bedarf« und in dem er »in ein Halbdämmern von Entrückungszuständen abgleitet«. An diesem Punkt entstand jene »Uterusatmosphäre«, von der Stokvis schreibt. Es bildete sich, wie es Sudhir Kakar erlebte, jener »ungeheure Bauch der Masse«, in dem der Einzelne zu verschwinden droht. An diesem Punkt begann die Masse als Suggestionsfaktor die volle Wirkung zu entfalten. Sie wurde zum eigentlichen Hypnotikum. Das Bewußtsein wurde eingeengt und abgesenkt, und die Zeit war gekommen, wo das Phänomen des »Ruhens im Geist« in der Art und Weise des früher beschriebenen Rückwärtsfalls in Erscheinung trat und sich durch Ansteckung und zähe Zielstrebigkeit zu entwickeln begann.
Wer also wie Kathrin Kuhlman versteht, zur Verwirklichung ihrer Suggestionen neben vielen anderen Faktoren auch die Masse einzusetzen, wird ein leichtes Spiel haben, in den Einzelnen das hervorzurufen, was er will. Denn der Zustand des Individuums in der Masse ist ein hypnotischer (Freud). Es werden sich deshalb »Wunder über Wunder« ereignen. Aber sind es wirklich Wunder? Ich würde sagen, im Zweifelsfalle nicht.
Okkult
Suggestion und Hypnose werden oft mit Okkultismus in Verbindung gebracht. »Okkult« ist für viele gleichbedeutend mit dämonisch. Für sie steckt im Okkulten der Teufel. Was haben wir unter Okkultismus wirklich zu verstehen? Mit dem Begriff Okkultismus bezeichnet man nach Bender »geheime, verborgene, von der offiziellen Wissenschaft noch nicht allgemein anerkannte Erscheinungen des Natur und Seelenlebens und die Beschäftigung mit ihnen. Die Wissenschaft von den »okkulten« Erscheinungen nennt man Parapsychologie.« (Hans Bender, Parapsychologie und ihre Ergebnisse und Probleme. Hamburg, 1980).
Es ist offenkundig, daß wir heute auf einer »okkulten« Welle reiten. Der Hunger nach Außergewöhnlichem, Geheimnisvollem und Unverständlichem verbindet sich mit dem Bedürfnis nach Bewußtseinserweiterung, mit der Neugierde nach dem Sinn der individuellen Existenz und ihrer Begrenzung durch den Tod. Die Enttäuschung am technischen Fortschrittsglauben, die Frustration durch die Konsumgesellschaft, die vielerlei Bedrohungen durch unberechenbare Mächte der Zerstörung, die in vielem antwort und heillose Kirche führen die heutigen Menschen in eine beängstigende Sackgasse, aus der sie durch das geöffnete Tor des »Okkulten« entfliehen möchten. Okkulte Wellen werden durch Krisenzeiten ausgelöst.
Auch Erweckungsbewegungen signalisieren Menschheitskrisen und stellen zugleich das geistliche Mittel dar, sie zu überwinden. Sie sind oftmals durch dieselben Ursachen bewegt wie das Bedürfnis nach dem »Okkulten«. Und es ist oft für sie schwer, nicht einfach zum Steigbügel dieses modernen Religionsersatzes zu werden. Sie wehren sich zum Teil heftig dagegen, indem sie alles »Okkulte« verteufeln und gerade dadurch Gefahr laufen, ihm auf der Rückseite Tür und Tor zu öffnen.
Man kann sich freilich fragen, ob das »Okkulte« im Sinn der oben definierten parapsychologischen Erscheinungen eine echte Gefahr für Erweckungsbewegungen wie die charismatische Gemeindeerneuerung darstellt. Mir scheint, daß unser Glaube oft von parapsychischen Erscheinungen begleitet ist. Man muß sie nur als solche erkennen, sie beim Namen nennen und daraus nicht gleich ein Wunder machen wollen. Da spricht mir Karl Feckes aus dem Herzen, wenn er schreibt: »Die mystische Theologie würde der modernen Wissenschaft sehr dankbar sein, wenn sie bei der Erforschung die außergewöhnlichen mystischen Erscheinungen viel stärker als es bisher geschehen ist, auf natürliche Ursachen zurückführen könnte, weil diese damit der natürlichen Schaulust und Wundersucht der Menschen entrissen wäre. Dann würde der Blick der Gläubigen freier für das Wesentliche des mystischen Gnadenlebens, für das erfahrungsgemäße Innewerden Gottes, das wahrem Vollkommenheitsstreben entspringt und zum Heroismus der Tugenden aufruft.« (K. Feckes, Die Lehre vom christlichen Vollkommenheitsideal, Freiburg, 1949).
Die Gefahr des »Okkulten« für den Glauben ist also nicht so sehr das »Okkulte« als solches, als vielmehr die Versuchung, an ihm hängen zu bleiben, es als das Letzte zu betrachten und damit dem wirklich Letzten, dem Göttlichen, auszuweichen. Deshalb ist es doch recht gefährlich, den christlichen Glauben mit »okkulten« Phänomenen zu vermischen. Man sollte beides klar auseinanderhalten.
Suggestion und Hypnose, so wie wir sie in diesem Kapitel besprochen haben, gehören zu den von der Wissenschaft allgemein anerkannten Erscheinungen des Natur und Seelenlebens und lassen sich deshalb nicht unter den Begriff des oben definierten »Okkultismus« stellen.
Anders verhält es sich freilich mit Mentalsuggestionen, das heißt mit telepathisch auf Distanz erzeugten Hypnosen, wie sie von einer Forschergruppe unter der Leitung des Leningrader Physiologen Wassiliew durchgeführt wurden und die die Existenz psychischer Fernwirkung beweisen. (H. Bender, Parapsychologie und ihre Ergebnisse und Probleme).
Man fand drei Versuchspersonen, die »mentalsuggestiv« waren, d. h. durch eine lediglich gedachte Suggestion aus der Ferne in Hypnose versetzt und wieder aus der Hypnose herausgeführt werden konnten. Es wurden, wie Bender berichtet, 260 Experimente mentalen Einschläferns und Aufweckens gemacht. Unter anderem wird von einem gelungenen Versuch berichtet, der sich über eine Entfernung von 1700 km erstreckte. Die Forschungsgruppe spricht dabei von einem unbekannten Faktor, der sich über große Entfernungen ausbreite und beliebige Hindernisse überwinde.
Neben diesen Mentalsuggestionen gibt es zahlreiche andere experimentell gesicherte »okkulte« Phänomene. Die Telepathie, die als Einwirkung einer Seele auf eine andere ohne Vermittlung der Sinne, bezeichnet werden kann. Das Hellsehen als direkte außersinnliche Wahrnehmung von Dingen und Zuständen, von denen jeweils kein Mensch Kenntnis hat. Die unmittelbare Einwirkung der Geistseele auf die Außenwelt durch Geräusche (Teleakustik bzw Hellhören), durch Bewegungen (Telekinese) und durch Materialisationen (Teleplastik), um die Wichtigsten zu nennen.
Ich möchte abschließend als Beispiel der mentalen Beeinflussung den sogenannten Uri Geller-Effekt, ein telekinetisches Phänomen anführen, weil es sich besonders eignet, darzustellen, daß auch im »Ruhen im Geist« unter Umständen paranormale Elemente im Spiel sein könnten.
Uri Geller, der im Deutschen Fernsehen am 17. Januar 1974 seine parapsychischen Fähigkeiten demonstrierte, unterzog sich auch einem parapsychologischen Laboratoriumsuntersuch, von dem Bender folgendes berichtet: »Ein Zylinderschlüssel war zunächst von Uri Geller in der Hand des Grazer Ordinarius für Psychologie, Professor Mittenecker, durch leichtes Streichen verbogen worden und deformierte sich dann, auf dem Tisch liegend, ohne von irgendeiner Person berührt worden zu sein, von selbst um circa 10 Grad weiter, was von wenigstens sechs Zeugen, darunter der Berichterstatter (Helmut Hofmann, Vorstand des Instituts für Grundlagen und Theorie der Elektrotechnik der technischen Hochschule Wien,) und sein Assistent, einwandfrei beobachtet wurde.«
Wie Bender weiter berichtet, hat die damalige ZDF Sendung eine in der Geschichte des »Okkulten« einmalige Massenreaktion ausgelöst. Unter anderem erwähnt er einen »Fall in Karlstadt bei Würzburg, bei dem sich während und im Anschluß an die Sendung mit Uri Geller 56 Besteckteile vorwiegend aus dem sorgsam gehüteten Familiensilber deformierten. Beamte der Landespolizei, die nach der 40. Verformung schließlich alarmiert wurden, berichten als Augenzeugen von weiteren Verformungen von Besteckteilen, die niemand anrührte.«
Bender fährt interpretierend fort: »Bei diesem der Öffentlichkeit durch eine Fernsehsendung bekannt gewordenen Fall, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um einen von den Familiengliedern abhängigen »Spuk« in der Parapsychologie als >spontane Psychokinese< bezeichnet. Nicht Uri Geller bewirkt das Phänomen, sondern er löst es nur aus. Man muß allerdings zugeben, daß diese sicherlich von der »okkulten Welle« getragene Wirkung dieses Stars der Television ein überaus auffälliges, bisher nicht bekanntes Phänomen ist.«
Ohne die spektakulären Wirkungen um das »Ruhen im Geist« wie sie besonders bei Kathrin Kuhlman auftraten, als »großen Familienspuk« bezeichnen zu wollen, erinnert mich die Uri Geller Geschichte doch in gewissen Aspekten an jene Ereignisse. Könnten bei diesen Massenreaktionen nicht doch auch mentale Kräfte der Psychokinese wenigstens teilweise mitgewirkt haben? Könnten diese Menschen nicht auch einem psychokinetischen Anreiz »zum Opfer gefallen sein«?
Wenn Bender zudem an anderer Stelle bemerkt, »daß Uri Geller mit der Wiederingangsetzung von Uhren sollte es sich dabei um echte Psychokinese handeln ein Novum kreiierte, da psychokinetische Phänomene, die in Spuk kumulieren, bisher immer als destruktive Wirkungen beobachtet wurden« und »hier der seltene Fall einer konstruktiven Einwirkung zu vermerken wäre … « stellt sich uns die Frage, ob die in diesen Heilungsversammlungen geschehenen »Wunderheilungen« nicht zum Teil auch psychokinetisch ausgelöst worden sein könnten. Wäre es dann nicht auch möglich, statt Löffel zu verbiegen, Knochen zurechtzurücken und statt defekte Uhren defekte Organe wieder in Gang zu setzen?
10 Ruhen im Geist als Gefahr
Versuch einer Definition
Zusammenfassend läßt sich sagen, das Phänomen »Ruhen im Geist« bilde sich aus der Masse und bilde Masse. Es ist ein Massenphänomen, das die einzelnen der Individualität beraubt und sie einer suggerierten Idee unterwirft, um so in ihnen mystische Erlebnisse zu erzeugen. Wenn wir es positiver ausdrücken, können wir »Ruhen im Geist« als Versuch definieren, sich in einem psychosomatischen Schnellverfahren unter Umgehung stufenweiser geistlicher Entwicklung Gott ganzheitlich hinzugeben, ihn möglichst rasch zu erfahren und von ihm geheilt zu werden. Daß Menschen bei diesem Versuch umfallen, ist nicht die Folge des direkten Eingreifen Gottes durch den Heiligen Geist, sondern das Resultat einer massenpsychologisch unterstützten Suggestivmethode, in der die Übertragung unbewußter infantiler Liebesgefühle auf den Heiler oder auf die Heilerin und die Massenansteckung eine große Rolle spielen. Es ist nicht auszuschließen, daß in diesem Zustand erhöhter Suggestibilität die früher angeführten Heilerinnen, besonders Frau Kuhlman auch als Medien wirken, ohne daß wir in den nonverbalen Phasen des Suggestionsvorganges die Übertragungskanäle einschließlich der mentalsuggestiven, parapsychologischen sicher voneinander trennen können.
Mögliche Kriterien
Es ist nicht zu beweisen, daß Gott in diesem Zustand wirksam wird. Ebenso wenig ist zu beweisen, daß er es nicht wird. Es bleibt uns die Möglichkeit, solche Erfahrungen mit strengen Kriterien zu prüfen. Wirkliche Umkehr mit Langzeitwirkung, selbstkritische Beobachtungsgabe, Fähigkeit und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Leben und dessen Bewältigung, Augenmaß und gesunder Menschenverstand, berufliche Tüchtigkeit, gesellschaftliches Wirken, logisches Urteilsvermögen, Zuverlässigkeit in menschlichen Beziehungen, in denen sich Demut, Liebe und Selbstbeherrschung bewähren, sind für mich wichtige Kriterien. Selbst wenn die erwähnten Kriterien bei einzelnen zutreffen und als Antwort Gottes gewertet werden könnten, bleibt die Frage, ob diese Art und Weise des Versuchs, Gott in den Griff zu bekommen, für alle anderen ebenfalls der richtige Weg ist, ob sie die charismatische Erneuerung als Ganzes in der Erfüllung ihrer Aufgabe stärkt und ob sie der großen Gemeinschaft der Kirche dient. Da sind wohl Zweifel angebracht.
Gefahr der Vermassung
Wenn Freud die Kirche als organisierte Masse betrachtet, die sich um Christus als ihren illusionären Führer schart, ist er nicht imstande die Grenzen der Psychologie zu überschreiten. Für Christen ist Christus keine Illusion, sondern eine Wirklichkeit. Christus hat die Kirche gegründet und ist noch heute ihre lebendige Mitte. Er hat sie von allem Anfang an hierarchisch gegliedert. Paulus schildert sie als den durch und durch strukturierten Leib Christi (1 Kor, 12,12 ff.), in dem jedes Glied seine ihm zugedachte Aufgabe wahrnimmt. Kirche, mag psychologisch gesehen, zwar als organisierte Masse erscheinen, geistlich jedoch gründet sie auf der personalen Beziehung jedes einzelnen Christen zu Jesus Christus und auf der persönlichen Verbindung Jesu Christi zu jedem einzelnen, den er herausruft und anspricht. Gott begegnet jedem auf die ihm entsprechende, einmalige Art und Weise, indem er sogar seine äußeren Umstände und seine innere Verfassung berücksichtigt. An Moses ging Jahwe mit seiner Majestät vorüber (Ex 33,18 23). Mit Jakob rang er bis zu Beginn der Morgenröte (Gen 32,25 32) und zu Elias sprach er im zarten Säuseln des Windes (1 Kön 19,12 13). Dem einen zeigt er sich im ewig verhüllten Angesicht, dem andern in leidenschaftlichem Kampf und Elias gar in einer kaum beschreibbaren Kleinigkeit. Denken wir im NT an die Berufung der Jünger durch Jesus (Mk 1, 16 20), an seine Begegnung mit der Samariterin am Jakobsbrunnen (Joh 4,4 42) mit der Ehebrecherin in der Stunde ihrer größten Not (Joh 8,3 11), oder mit dem Blindgeborenen (Joh 9,1 12). Gottes Gegenwart für jeden im Augenblick der Zeit! Ein Geschenk des Himmels, nicht Resultat einer Manipulation von Menschen.
Eine der schönsten Begegnungen Jesu mit Menschen, in ihrer Einfachheit und Zärtlichkeit besonders aussagekräftig, ist jene mit Maria Magdalena am Ostermorgen. Wenn »Ruhen im Geist« ein mystisches Erlebnis sein soll, tun wir gut daran, es an dieser Begegnung zu messen. Sudbrack schreibt: »Es gibt keinen treffenderen Bibeltext zum Verständnis christlicher Mystik. Alle mystischen Erfahrungen der christlichen Tradition messen sich an den beiden Worten: Jesus sagt zu ihr: Maria.‘ Da wendet sich diese um und sagt zu ihm: Rabbuni! (Joh 20,14 17)« (Josef Sudbrak, Komm in den Garten meiner Seele. Einführung in die christliche Mystik, Gütersloh 1979). Wie fremd und aufdringlich erscheint uns in dieser Gegenüberstellung die spektakuläre Massenunruhe um das »Ruhen im Geist«.
Wir sind also in der Kirche eine Gemeinschaft persönlich Angerufener und Geliebter. Diese persönliche Berufung des einzelnen zu Jesus Christus sprengt die Psychologie der Masse. Mehr noch, sie bewirkt das Gegenteil von Masse. Statt Gemeinschaft in Masse, verwandelt sie Masse in Gemeinschaft, in der der einzelne seine Persönlichkeit nicht verliert, sondern gewinnt. Sie stiftet Individualität, statt sie wie dies Masse tut aufzulösen.
Kirche wird immer wieder der Gefahr der Vermassung ausgesetzt. Sie muß auf der Hut sein. Masse gefährdet die personale Christusbeziehung der Gläubigen. Masse widerspricht deshalb der Ordnung des mystischen Leibes Christi.
Gefahr der Manipulation
Manche behaupten, sie hätten im Erlebnis dieses Phänomens Gott erfahren. Ich halte es für möglich, daß Gott auf einen solchen Zustand der Hingabe, des totalen Loslassens und Vertrauens antwortet. Ich kann mir vorstellen, daß er in diese Leere hineinsprechen, sie in Besitz nehmen und so jemandem persönlich begegnen kann. Ich habe jedoch große Mühe, mir vorzustellen, daß er sich durch die Erfüllung bestimmter Bedingungen massenweise herbeizwingen läßt. Da beginnen sich Gefahren abzuzeichnen. Zum Beispiel die Gefahr eines falschen Gottesbildes. Die Gefahr der Vorstellung eines manipulierbaren Gottes, der uns immer neue Methoden der Manipulation erfinden läßt. Ein Gott, der uns aus dem Gefühl, immer noch zu wenig zu glauben und zu wenig gut zu sein, weil er sich noch immer nicht günstig zeigt, zu immer neuen Anstrengungen veranlaßt. Daraus kann ein geistlicher Leistungsdruck entstehen, der schon vielen die Beziehung zu Gott zerstört und die Seele verheerend neurotisiert hat.
Gefahr der Fixierung
Wir wollen die Reihe der Gefahren fortsetzen. Es ist gefährlich, massenpsychologisch seine geistigen Funktionen so einengen zu lassen, daß unser Urteilsvermögen geschwächt, der Überblick über das Ganze verloren und der Ablauf des logischen Denkens beeinträchtigt wird. Wir verlieren die Kontrolle über uns selber und über das, was in unserer Umgebung geschieht. Wir werden abhängig und liefern uns wehrlos aus. Das Ruhen im Geist und die es begleitenden und vorbereitenden Umstände engen auch unser geistliches Bewußtsein ein, indem wir suggestiv auf Heilungserzählungen und Heilungshinweise und unseren eigenen Heilungswunsch festgelegt werden. Heilung und Krankheit werden so sehr in den Mittelpunkt unseres Denkens und Empfindens gestellt, daß wir aus dem großen Kontext der christlichen Bot¬schaft herausgerissen und auf einen einzigen Aspekt ausschließlich fixiert werden. Die Fixierung auf Einzelaussagen der Botschaft Jesu verstellt uns den Blick für andere, ebenso wichtige Aspekte, auf die wir zur Erfassung des Heilswillens Gottes nicht verzichten können, und die wir notwendigerweise im Auge behalten müssen, um nicht wenn auch kurzfristig vom rechten Weg abzukommen. Deshalb bietet die Herabsetzung geistiger und geistlicher Wachheit die Gefahr von Fixierung, Verwirrung und Verirrung in sich.
Gefahr der Regression
Das Ruhen im Geist gefährdet unsere menschliche und geistliche Reifung. Mit der Einengung und Herabsetzung des geistlichen und geistigen Bewußtseins beginnt der Prozeß der Auflösung der Individualität. Reifung aber heißt Individuation und bedeutet die Entfaltung unserer persönlichen Eigenarten und Anlagen. Wer reifen will, muß sich entwickeln. Reifung heißt progressives Vorwärtsgehen in die Zukunft. Massenpsychologische Einflüsse wirken regressiv. Das heißt, daß sie Reifung nicht nur hindern, sondern Menschen sogar in infantile Phasen zurückkehren lassen. Wenn manche behaupten, im Ruhen im Geist, ihre Individualität nicht verloren, sondern im Gegenteil in einem Zustand des Glücks und des tiefen Wohlbefindens erfahren zu haben, so widersprechen sie dieser These nicht. Sie bestätigen sie vielmehr. Die Regression in die Kindheit und in kindliche Verhaltensweisen bis schließlich in den Mutterschoß, als das die Masse durchaus empfunden werden kann, ist mit Lustgefühlen verbunden. Es handelt sich um eine Art autoerotischer Lustbefriedigung, um Lust an der eigenen Lust, die dann unter dem geschwundenen geistigen und geistlichen Urteilsvermögen religiös interpretiert wird. Es besteht die Gefahr, daß der regressiv Gewordene, sich so fixiert, daß er kaum mehr ganz aus dieser Regression herauskommt. So konnte ich bei Einzelnen, die das Ruhen im Geist erfahren haben, weit über das Erlebnis hinaus und während längerer Zeit regressive Tendenzen feststellen: Passivität, gedämpfter Lebenswille, gepaart mit euphorischen Überlagerungen, geschwächte Realitätsprüfung, Flucht aus Verantwortung und Lebenshärte, ständiges Warten auf neue Gotteserfahrungen, verbunden mit dem Drang den Zustand des Ruhens im Geist immer neu zu erfahren. Bei einigen wandelt sich dieser Drang unter gewissen psychischen Voraussetzungen in den Wunsch um, in anderen das Phänomen des Fallens auszulösen. Ich stellte nämlich fest, daß sich so in kleinem Kreis Menschen, die fallen möchten, mit anderen treffen, die fällen möchten und umgekehrt. Da setzt sich ein »Fortpflanzungsmechanismus« in Gang, mit dem sich Menschen in einen Kreis gegenseitiger Bedürfnisbefriedigung einschließen, zu dem Gott keinen Zugang hat, aus dem sie zu Gott keinen Zugang mehr finden. Allerdings ist zu bemerken, daß Regressionen innerhalb eines psychotherapeutisch ausgelösten und gesteuerten Individuationsprozesses auch positive Erlebnisse sein können. Sie sind ein Atemholen in primitiven Schichten, eine Erneuerung aus der Tiefe. Wir dürfen therapeutische Regressionen jedoch nicht mit Massenregressionen gleichsetzen. Masse überläßt den Einzelnen seiner Regression, macht sie ihm nicht bewußt und ist nicht fähig, ihn wieder daraus herauszuführen, weshalb er Gefahr läuft, dort fixiert zu bleiben. Christlicher Glaube ist aber nicht nach rückwärts orientiert, zum Mutterschoß des Grabes, sondern vorwärts, zur Auferstehung von den Toten, nicht zur Kindheit, sondern zum vollen »Mannesalter«. Die Aufforderung, wie die Kinder zu werden, ist nicht in diesem regressiven Sinn gemeint, sondern will uns dazu führen, anzuerkennen, daß wir letztlich von Gott abhängig sind, wie die Kinder von ihren Eltern, denen sie »absolutes« Vertrauen entgegenbringen.
Gefahr der Egozentrizität
Man muß sich psychologisch ohnehin fragen, welche Menschen aus welchen Impulsen andere zu Fall bringen möchten. Ich vermute, daß mancherorts ein religiös verbrämter Macht und Geltungstrieb am Werk ist, dem auf der anderen Seite masochistische Unterwerfungstendenzen mehr oder weniger provozierend gegenüber stehen, womit sich ein neuer, unheilvoller Kreis von Bedürfnisbefriedigungen schließt, aus dem Gott ausgeschaltet wird. Denn es handelt sich hier um egozentrische Vorgänge, die die eigene Lust und nicht Gott zum Ziel und Mittelpunkt haben. Es handelt sich um Massenegoismus mit gottentfremdenden Elementen, in denen sich statt des Guten Böses einnistet, welches anfänglich gute Absichten ins Schlechte verdrehen kann.
Gefahr der Bindung an Menschen
Wie wir bemerkten, spielt der Heiler als Massenführer und »Hypnotisator« eine wichtige Rolle. Wir nannten die Beziehung des Einzelnen zu ihm libidinös oder erotisch. Wir bezeichnen sie in der Psychotherapie als Übertragung. Ihr richtiger Gebrauch setzt die ganze Kunst des Psychotherapeuten voraus. Damit er sie als Herzstück seiner Arbeit beherrscht, muß er selber durch eine ausführliche Lehrtherapie gegangen sein. Die meisten Heiler lösen zwar massenpsychologische Phänomene aus, ohne sie mit der notwendigen Selbst , Fremd¬- und Sachkenntnis handhaben zu können. Sie rufen Übertragungen hervor, sind aber nicht imstande, die Gefühle weiterzuleiten, zu kanalisieren und in unserem Fall an Gott abzugeben. Im Gegenteil, manche werden wohl die geweckten Energien, ohne es zu wollen, auf Grund der unbewußten, vielleicht verdrängten Machtansprüche, für sich behalten, genießen und sie dann unverarbeitet im Raum stehen lassen. So bleibt die ganze, anfangs bewußt auf Gott gerichtete Hingabe beim Heiler im rein Menschlichen stecken. Die Übertragung bleibt bestehen, möglicherweise eine zeitlang als Wohlgefühl oder sogar als Heilungseffekt, um sich aber schließlich in Enttäuschung und Frustration zu verwandeln, die zuletzt als Mißtrauen auf Gott projiziert wird. Solche Projektionen können die Beziehung zu Gott schwer verletzen.
Gefahr der Selbsttäuschung
Das Ruhen im Geist schließt die Gefahr mehrfacher Täuschung in sich. Man glaubt sich Gott hinzugeben. während man sich einem Menschen ausliefert. Man entfesselt Gefühle für Gott, die aber im Menschlichen stecken bleiben. Man meint, Gott zu erfahren, während man sich in einer seelischen Regression an eigener Lust freut. Man glaubt, vom Heiligen Geist umgeworfen worden zu sein, während man sich massenpsychologischen Mechanismen unterzogen hat. Man glaubt, sich in die sichere Hand Gottes fallen zu lassen, während man Gefahr läuft, sich in den intimsten und empfindsamsten Regungen seines Herzens menschlich mißbrauchen zu lassen.
Gefahr der Aktivierung von Krankheitsherden
Heilungserwartungen gehen nur zum Teil und kurzfristig in Erfüllung, weil es sich bei Suggestivverfahren bloß um eine zudeckende Methode handelt, die die Wurzeln eines Konfliktes nicht erfaßt, sondern durch positive Suggestionen überlagert. Massensuggestive Methoden pfropfen positive Verhaltensweisen auf ein krankhaftes Fundament. Es kann zwar vorübergehend ein Symptom verschwinden, jedoch schon bald aus der Tiefe als anderes anderswo in Erscheinung treten. Es wird Heilung auf kürzestem Weg ohne Berücksichtigung des Krankheitsherdes suggeriert. Der Rest wird Gott überlassen. Was, wenn er sich auf dieses Spiel nicht einläßt? Wenn ein Krankheitsherd auf Suggestionen gegenteilig reagiert und sich explosionsartig ausbreitet‘?
Gefahr geistlicher Bequemlichkeit
Das Ruhen im Geist, hören wir oft, ist vergleichbar mit dem Damaskuserlebnis des Paulus oder mit mystischen Erlebnissen großer Heiliger. Es handelt sich also um ein schmerzloses Kurz¬verfahren zur Erzeugung mystischer Erlebnisse. Es ist sehr gefährlich, Erlebnisse, die großen Heiligen aufgrund eines lebenslangen Ringens geschenkt wurden, mit einer Handbewegung herbeizaubern zu wollen. Aber es entspricht durchaus den regressiven Tendenzen des Phänomens, den harten Weg menschlicher Reifung durch ein angenehmes Erlebnis ersetzen zu wollen. Wir reifen auf einem harten Weg der täglichen Auseinandersetzungen während eines ganzen Lebens. Wer menschlich reift, kann geistlich wachsen. Wer geistlich wächst, wird menschlich reifen. Beides gehört zusammen, geht Hand in Hand, ergänzt und durchdringt sich in einem lebenslangen Prozeß des Werdens, Sterbens und Auferstehens. Menschliche Reife und geistliche Heiligkeit lassen sich nicht herbeimanipulieren. Wer anderes behauptet, täuscht die Menschen und führt sie den Weg gefährlicher Illusionen.
Der Preis, den wir bezahlen, um »im Geist zu ruhen«, selbst wenn sich da und dort positive und bleibende Früchte zeigen sollten, ist zu hoch, wenn wir bedenken, welchen Gefahren und Täuschungen wir dabei ausgesetzt sind.
Gefahr der Ablehnung
Solch illusionäres Glaubenverhalten, verbunden mit dem spektakulären Phänomen des Fallens im Geist, schockiert viele Christen, weckt in ihnen Widerwillen und löst Unverständnis und Ablehnung aus. Es macht vor allem jene kopfscheu, die innerlich schlicht, scheu und ganz im verborgenen Gott suchen. Wäre da nicht Verzicht aus liebevoller Rücksicht angebracht? Die Ausschließlichkeit des Blickwinkels, die einseitige Erwartungshaltung mit all den damit verbundenen infantilen Kennzeichen weckt mit Recht das Mißtrauen kirchlicher Autoritäten und Gemeindevorsteher. Ich habe bei Referaten vor dem Klerus mehrmals schmerzlich feststellen müssen, welche Skepsis dort gegenüber der charismatischen Erneuerung herrscht und wie sich da Mauern auftürmen, die angesichts solcher Phänomene immer unüberwindlicher werden. Man muß sich fragen, ob es wirklich der Heilige Geist ist, der sein eigenes Werk auf diese Weise blockiert.
Schlußfolgerungen
Das »Ruhen im Geist« sollte, solange der Beweis fehlt, nicht als direktes Eingreifen des Heiligen Geistes betrachtet und nicht öffentlich in Gottesdiensten praktiziert werden. Auch nicht in kleinen Kreisen, da es dazu neigt, wo immer es in der Form des Wunderbaren ausgeübt wird, sich unkontrolliert überallhin auszubreiten. Falls es in Gruppen als bloß psychologische Entspannungs oder Vertrauensübung angewendet wird, als das es dann aber auch bezeichnet werden soll, muß dies mit Klugheit, Menschenkenntnis und mit dem nötigen Einfühlungsvermögen geschehen.
Das Phänomen ist als eine Art Notruf von Christen zu verstehen, die fürchten, in ihrer Kirche Gott nicht mehr erfahren zu können. Sie fühlen sich zudem in ihren Ängsten und Krankheiten von ihr allein gelassen und suchen deshalb in seltsamen Veranstaltungen von Randgruppen oder außerhalb des kirchlichen Rahmens Hilfe. Die Bischöfe sollten auf diesen Notruf antworten und entsprechende Fachleute heranziehen, um jene natürlichen Mittel auszubauen und am richtigen Ort zur entsprechenden Zeit einzusetzen, die die ganzheitliche menschliche Erfahrung des Göttlichen begünstigen.
11 Suggestion als Charisma
Mystik oder Pseudomystik
Es mag seltsam erscheinen, wenn ich jetzt, nachdem ich das »Ruhen im Geist« als eine für den Glauben untaugliche Suggestivmethode abgelehnt habe, Suggestion auf einmal zum Charisma erkläre. Das ist jedoch nur scheinbar ein Widerspruch. Sofern Suggestion die persönliche Christusbeziehung ermöglicht oder eine bereits bestehende vertieft, ist sie ein Charisma, eine Gnadengabe des Heiligen Geistes, nicht aber, wenn sie, statt die persönliche Beziehung zu Christus zu fördern, bloß dazu dient, Sekundärphänomene zu erzeugen. Anders ausgedrückt: Mystik ist die Vermählung Gottes mit dem Menschen. Suggestion kann einzelnen Menschen den Weg freibahnen, daß Gott zu ihnen kommen kann, daß sie ihm entgegengehen können. Suggestion ist also eine Hilfe, echte Mystik im Sinne dieser Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch anzubahnen, aus der dann auch mystische Phänomene hervorgehen können. Es ist aber nicht richtig, auf suggestivem Weg mystische Phänomene erzeugen zu wollen, in der Absicht, so ein Mystiker zu werden. Solche künstliche Phänomene sind Oktroate, aufgepfropft, nicht organisch aus dem Kern des Christuserlebnisses gewachsen. Medien oder Suggestoren erzeugen kraft ihrer parapsychischen Fähigkeiten beziehungsweise kraft ihrer suggestiven Techniken ähnliche Erscheinungen wie sie Mystikern kraft ihrer intensiven Christusbeziehung geschenkt werden. Die so geschenkten bezeichnen wir als mystische, die so erzeugten als pseudomystische Phänomene.
Die Suggestion, um es nochmals zu formulieren, ist dann ein Charisma, wenn sie die mystische Beziehung des Einzelnen zu Jesus Christus ermöglicht oder fördert. Das gilt nicht nur für die großen heiligen Mystiker, sondern für jeden Christen. Jeder Christ ist ein Mystiker. Aber die Suggestion ist kein Charisma, wenn sie bloß ein Mittel ist, pseudomystische Erscheinungen hervorzurufen.
Der ewige Gedanke des Vaters
Jedes Wort ist das Ergebnis eines Suggestionsvorganges, eine Suggestion, ein in die Wirklichkeit verwandelter Gedanke. Gott denkt von Ewigkeit her den Gedanken der Liebe. Von Ewigkeit her verwandelt er diesen Gedanken in das Wort. Schon »am Anfang war das Wort, es war bei Gott, und dieses Wort war selber Gott. Und alles ist durch es, nichts ohne es geworden, was geworden ist. Das Leben war in ihm, das Leben war das Licht der Menschen, es leuchtete in der Finsternis, die Finsternis vermag es nicht zu greifen [ … ] Es war das wahre Licht, das jedem Menschen, da es in die Welt kommt, leuchtet. Es war schon in der Welt, sie ist durch es geworden, jedoch die Welt erkannte es nicht. Es kam zum Seinigen, die Seinen nahmen es nicht auf; doch allen, die es aufgenommen haben, verlieh es, daß sie Kinder Gottes wurden [ … ] Das Wort ist Fleisch geworden und hat bei uns gewohnt: wir sahen seinen Glanz, den Glanz, wie ihn der einzige Sohn von seinem Vater hat, voll Gnade und Wahrheit.« (Joh. 1,2 14)
Jesus Christus ist das Wort, der in dieser Welt Wirklichkeit gewordene Gedanke, die Suggestion des ewigen Vaters an die Menschen. Durch ihn teilt er sich mit und tut er uns seinen Willen kund.
Jesus Christus, das Wort Gottes, spricht sich immerzu und in vielfältiger Weise in seinen Worten und Taten aus; in vielgestaltigen Bildern seines Lebens, als Vor Bild, als Sinn Bild, das Millionen in seinen Bann zieht. Er spricht sich heute aus in der Kirche, in den Zeugnissen der Heiligen, die lebten und die mitten unter uns sind. Sie haben ihn in sich aufgenommen, begriffen und weitergegeben. Wer ihn aufnimmt, sich mit ihm identifiziert, sich seinen Suggestionen stellt, verwandelt selbst wieder den Willen, die Weisungen und Verheißungen des Vaters durch Jesus Christus in die Wirklichkeit seines christlichen Alltags. Und wer Christi Licht aufnimmt, wird selber Licht; ein Licht, ein Kind des Lichtes, das in die Finsternis seinerumgebung hinein leuchtet, die anderen an leuchtet, daß auch diese wieder Lichter werden.
Glaube zeigt sich so als immerzu sich erneuernder Vorgang der Suggestion, als Weitergabe des in Jesus Christus menschliche Wirklichkeit gewordenen Gedankens oder Willens des Vaters. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß dieses göttliche Geschehen selbstverständlich den psychologischen Suggestionsbegriff bei weitem sprengt und übersteigt. Was da vom Vater her über den Sohn im Heiligen Geist bis zum einzelnen Menschen geschieht, ist weit mehr als Suggestion. Suggestion ist für diese innergöttlichen Vorgänge nur ein Bild. Als natürliches Gefäß in der Seele des einzelnen Menschen für Christus und dessen Wirken in ihm ist Suggestion jedoch mehr als ein bloßes Bild. Da ist sie Realität, die sich, wie jede Suggestion in zwei Aspekten darstellen läßt: als Empfänglichkeit oder Suggestibilität und als Zeugniskraft oder Suggestivität.
Die Gabe der Abhängigkeit
Bei Sudhir Kakar fand ich eine treffende Charakterisierung des Persönlichkeitsmusters suggestibler Menschen: »überdurchschnittlich intelligent, auf starke Bildvorstellungen ansprechend, vertrauensvoll, emotional offen, aber abhängig«. Gegenüber den positiven Faktoren der Intelligenz, der Ansprechbarkeit auf Bilder, des Vertrauens und der emotionalen Offenheit erscheint in diesem Persönlichkeitsmuster Abhängigkeit als Mangel, der, wie wir früher sahen, der menschlichen Entwicklung nicht zuträglich ist, sie behindert oder gar unmöglich macht. Abhängigkeit in diesem Sinne macht tatsächlich suggestibel. Wer abhängig ist von Geld, wird sich vom Geld bestimmen lassen, Reichtum wird ihn faszinieren. Bilder des Besitzes und des Luxus werden ihn beherrschen. Deshalb ist es so schwer für einen Reichen ins Himmelreich zu kommen. Wir können uns auch von Menschen abhängig machen, von Parteien, Institutionen und Ideologien, denen gegenüber wir dann kritiklos empfänglich oder suggestibel sind. Habgier, Betrug, Konsum sind Ausdruck von Abhängigkeiten, vom Ausgeliefertsein an Götzen, denen wir unsere Intelligenz weihen und denen wir in emotionaler Offenheit voll vertrauen.
Wir sind empfänglich für das, wovon wir abhängig sind. Wir sind abhängig von dem, wofür wir uns empfänglich machen.
Alle Abhängigkeiten sind Mängel und deshalb für uns gefährlich. Es gibt jedoch eine Abhängigkeit, die existentiell zu uns gehört. Die Abhängigkeit von dem, der uns geschaffen hat und unser Leben hütet, daß es nicht erlischt. Wir können sie vergleichen mit der Abhängigkeit einer Lampe vom Elektrizitätswerk oder von der elementaren Kraft des Wassers, die es speist. So sind wir alle, ob wir wollen oder nicht, an das Stromnetz Gottes angeschlossen, an das Wort, durch das alles ist, ohne das nichts geworden ist. Wir können uns von vielem abhängig machen, worauf wir sehr wohl verzichten könnten. Wirklich abhängig aber sind wir alle, ohne Ausnahme, nur von Gott. Das ist die einzige Abhängigkeit, die für uns lebensnotwendig ist. Wir dürfen sie nicht verdrängen. Wir müssen sie uns bewußt machen, sie bejahen und aus ihr sein. Diese Abhängigkeit löst alle Abhängigkeiten auf und macht uns frei, das zu empfangen, was er für uns als das Beste hält.
Das Charisma der Empfänglichkeit
Der Johannesprolog beklagt die Unempfänglichkeit der Finsternis für das Licht und die Ablehnung Jesu durch die Seinen, zu denen er als Retter kam. Jesus selber vergleicht uns Menschen mit dem Weg, auf den das Wort fällt und wo es der Böse raubt; mit dem steinigen Grund der Launen, Drangsale und Verfolgungen, die es ihm verunmöglichen, sich zu verwurzeln. Er spricht von den Dornen zeitlicher Sorgen und materiellen Reichtums, die es ersticken und von der guten Erde, die es faßt und fruchtbar macht. Er zitiert die Verheißung des Jesajas vom verstockten Herzen des Volkes und der Menschen, die ihre Ohren verschließen, ihre Augen zudrücken, damit sie ja nichts sehen, hören, im Herzen fassen, um nicht umkehren zu müssen (Jes 6,9 f.). Er denkt nicht zuletzt an die Pharisäer, die er blinde Wegweiser (Mt 23,16), Blinde (Mt 23,18), Heuchler (Mt 23,23), übertünchte Gräber (Mt 23,27), Schlangen (Mt 23,34) nennt. »Jerusalem, Jerusalem, das du die Propheten mordest und steinigst, die zu dir gesandt sind . . .!« (Mt 23,37).
Das Evangelium ist voll von Menschen, die die gute Erde für Christus bis zur letzten Krume empfänglich pflügen und ihm ihr Herz bis in die Tiefe bereitstellen. Ihr Glaube, der zunächst nichts anderes ist als Empfänglichkeit für das, was er verheißt und fordert, wird hochgepriesen: »Du sollst empfangen und einen Sohn gebären« (Lk 1,31). »Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten dich überschatten« (Lk 1, 35). »Siehe ich bin die Dienerin des Herrn, mir geschehe nach deinem Worte« (Lk 1,38). Maria ist das eindrücklichste Beispiel gläubiger Empfänglichkeit für Gott.
Zwei Möglichkeiten
Es war an einem Winterabend. Die letzten Sonnestrahlen flossen durch das Fenster meines Arbeitszimmers auf die Riesenkerbel, die vor dem Schreibtisch in einer Glasvase stand. »Ist das nicht ein Wunder?« rief ich aus. »Diese Architektur, dieses Ebenmaß, diese Harmonie!« Die Patientin, die mir gegenübersaß, schaute mich an und meinte vorwurfsvoll: »Daß die Vase schmutzig ist, haben Sie wohl nicht gesehen.«
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Dinge zu betrachten. Ich kann das Gute sehen oder das Schlechte, mich auf das Positive konzentrieren oder allem nur das Negative abgewinnen, die Kerbel sehen oder nur den Schmutz. Wofür bin ich empfänglich? Für das Gute oder Schlechte? Ich kann versuchen, mich dem Positiven auszusetzen oder mich entscheiden, dem Negativen Tür und Tor zu öffnen. Wir sind zwischen beides gestellt, mitten in den Widerstreit. Auf diesem Feld entscheidet sich das Leben.
Es ist unverkennbar: Wir alle leiden an einem seltsamen Hang zum Negativen, und wir haben unendlich Mühe, dem Gegenteil zu folgen, obwohl dieses viel schöner wäre, ansprechender, sympathischer. Die meisten hassen leichter, als daß sie lieben, mißtrauen lieber, statt zu trauen. Wir glauben eher Lügen als dem wahren Wort und töten, statt dem Leben Raum zu geben. Wir säen Zwietracht, wo wir Einheit stiften sollten. Wir schüren Krieg, statt daß wir Frieden stiften. Die Sünde liegt uns näher als die Tugend. Wir zwingen lieber, als daß wir Freiheit schenken. Wir verstecken uns im Dunkel und haben Scheu, uns dem Licht auszusetzen. Wir wollen haben und nicht sein. Zu verzweifeln ist uns leichter als zu hoffen. Es ist wie eine Sucht, uns dem zu öffnen, was zerstört und uns oder andere in Ketten legt. Diese Neigung zu Negativem stammt aus jenem Anteil unserer Seele, die die Verletzung oder Krankheit in sich trägt, die wir als Erbsünde zu bezeichnen pflegen.
Die Neigung zum Negativen nutzt unsere Ansprechbarkeit für Bilder aus. Denn Bilder sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Gute Bilder machen uns gut und schlechte Bilder schlecht. Gute Bilder machen uns gesund und schlechte krank. Als Psychotherapeut muß ich versuchen, den Patienten gute Bilder zu vermitteln. Ich muß auf der guten Seite stehen. Das ist auch für mich ein Kampf, als Mensch und Therapeut zu überleben und all die Menschen, die im Schatten ihrer dunklen Bilder sich verirrten, ans helle Tageslicht zu führen. Was soll da ein Therapeut, der auch im Schatten steht?
Kinder des Lichtes
Ein schwer depressiver junger Mann suchte bei mir Hilfe. Ehrlich, ich gab ihm keine Chance. Doch er war so voll Vertrauen, daß ich ihn nicht zurückzuweisen wagte. Er sei allergisch auf Religion und Kirche, sagte er mir gleich zu Beginn. Als ich nicht mehr wußte, wie ich seine Talfahrt bremsen sollte, bat ich ihn auf die Couche. Ich ließ ihn ruhig atmen, stille werden, die Schwere seines Körpers spüren und die Wärme und gab ihm eine Suggestion, die ich einem indischen Meditationsbuch (Pramahansa Yogananda, Wissenschaftliche Heil Meditationen, Weilheim/Oberbayern 1972) entnahm: »Ich bin in ewiges Licht getaucht. Es durchdringt jeden Teil meines Seins. Ich lebe in diesem Licht. Der göttliche Geist durchdringt mich von innen und von außen.« Ein Bild vom Licht. Ich sagte es ihm immer wieder vor. Ich bat ihn, es sich ganz lebendig vorzustellen. Er prägte sich die Sätze ein. Er begab sich mehrmals am Tag an seinen stillen Platz, schloß die Augen, entspannte sich, sprach die Worte, dachte sie und ließ sie tief in seine Seele fallen. Er war überrascht, daß er Erleichterung empfand und endlich weinen konnte. Die depressiven Tiefpunkte wurden spärlicher, seine Klinikaufenthalte seltener und kurz. Und eines Tages träumte er, daß er von einer dicken alten Mauer Mörtel kratzte bis auf einmal die herrlichen Umrisse eines gotischen Portals sichtbar wurden. Er legte das Tor frei, öffnete es und trat in die Kathedrale ein. Weihrauchwolken stiegen ins Gewölbe. Ein heller Sonnenstrahl drang weit oben durch ein Fenster und tauchte ihn in helles Licht. Ehrfurcht und tiefer Friede erfüllten ihn. Er war erschüttert, als er davon erzählte, und es wurde ihm bewußt, daß er für Augenblicke den Bereich des Göttlichen betreten hatte, berührt vom Licht, ganz in es eingetaucht. In der Tat, das Bild des Lichtes hatte sich mit Licht gefüllt. Das Bild war Gefäß geworden für das Licht. Die Suggestion des Lichtes hatte sich in Licht verwandelt. Von da an verschwand sein aggressiver Widerstand gegen Religion und Kirche. Er begann im Evangelium zu lesen. Christus wurde ihm zum Freund. Er erlebte ihn als Quelle eines neuen Lebens.
Man muß etwas tun, daß man empfänglich wird für Gott. Wir müssen uns auf das Gute konzentrieren, auf das was schön ist, wahr und licht. Unsere Tagträume offenbaren das, womit wir uns befassen.
Träumen wir von Stille, Ruhe, Frieden, Liebe, Harmonie! Schöne Vorstellungsbilder sind wie Teppiche, die wir in unserer Seele zum Empfang für Gott ausbreiten. Sie sind wie Kanäle, durch die sein Geist in uns einströmen kann, wie Krüge, die die Gnade fassen, die er uns schenken will.
Die Suggestibilität gegenüber Gott, man kann es nicht genug betonen, beginnt im ganz natürlichen Bereich, wo wir uns täglich den guten, schönen Aspekten unseres Lebens widmen und gute Bilder in uns sammeln, statt uns an Häßlichem in Häßliches zu schaukeln. Es ist wichtig, uns darüber zu freuen, was wir haben, statt uns darüber zu ärgern, was uns fehlt. Wir sollten die Jagd nach Fehlern an uns aufgeben und uns nicht an Kritik festbeißen. Denn wir können nicht erwarten, daß Gott in einem Hause Wohnung nimmt, das ununterbrochen abgerissen wird und daß er durch Wunder an uns blühen läßt, was wir immerzu zerstören.
Autogenes Training
Man fragt mich oft, ob autogenes Training vereinbar sei mit Glauben. Daran ist nicht zu zweifeln. Zunächst lernen wir, uns wahrzunehmen. Wir spüren, daß wir sind, in Ruhe eingebettet und in Stille, daß wir einen Körper haben, schwer und warm durchblutet. Wir lernen, uns zu bejahen und den bergenden Kräften anzuvertrauen, die uns umgeben und erfüllen, uns jenen Mechanismen zu übergeben, die unser Leben sichern: dem Herzschlag und dem Atem, die uns den Schöpfer ahnen lassen, in dessen Hand wir aufgehoben sind, Wir lernen, loszulassen, uns hinzugeben, zu empfangen. J. H. Schultz definiert den Sinn des autogenen Trainings »sich mit genau vorgeschriebenen Übungen immer mehr innerlich zu lösen und zu versenken und so eine vo innen kommende Umschaltung des gesamten Organismus z erreichen, die es erlaubt, Gesundes zu stärken, Ungesundes zu mindern oder abzubauen« (J. H. Schultz, Übungsheft für das Autogene Training, Stuttgart, 1956).
Die Oberstufe trainiert die Ansprechbarkeit auf Bilder, die, wie wir oben zeigten, für das Glaubensleben sehr bedeutsam ist. Durch Bilder erhalten abstrakte Werte lebendige Anschaulichkeit. Symbole fangen an zu leben. So berichtet ein Arzt über die Übung: Ich sehe und erlebe Frieden. »Ich sehe dabei von meinem Weekendhäuschen, das einige hundert Meter über einem Dorf am Rand eines großen Rebberges steht, die friedliche Landschaft vor mir liegen. Ich sehe links am Hang in der Wiese drei bis vier Schafe, höre die Glöcklein, die sie tragen, sehe in der Dämmerung die Wälder. Hin und wieder höre ich auch die Glocken läuten von den Kirchen ringsumher. Ich erlebe dabei intensiv Frieden, ein seliges Dahinträumen.« (Klaus Thomas, Praxis der Selbsthypnose des Autogenen Trainings, Stuttgart, 1970).
Glaube, Hoffnung und Liebe sind Beispiele für geistliche Werte die ebenso intensiv bildhaft erlebt werden können. Der Glaubende gibt durch das Bild dem Glauben Leben und gewinnt dabei so selbst an Tiefe und Lebendigkeit.
Freilich müssen wir betonen, daß das autogene Training keine »religiöse Tätigkeit« im engeren Sinne ist, kein Akt des Glaubens, sondern eine Methode der Selbstentspannung, die aber die Bereitschaft für das Göttliche in uns trefflich vorbereiten kann. »Es will und kann gerade nach dem Willen und der Erkenntnis von J. H. Schultz ein echtes Glaubensleben niemals ersetzen oder gar mit Inhalt füllen«, schreibt Klaus Thomas, »wohl aber kann es krankhafte Störungen, verbreitete Selbsttäuschungen und charakterliche Fehlhaltungen beseitigen, die den religiösen Erfahrungen als sonst unüberwindliche Hindernisse im Weg stehen. Es vermag den Menschen zu entspannen und ihn dadurch zu bereiten für die Erfahrungen des Glaubens, die dann in einer anderen, geistlichen Dimension beheimatet sind. Allenfalls könnten wir uns fragen: Wer nicht in die Tiefe seines eigenen Herzens schauen gelernt hat, wie will der Gott recht erkennen? Wenn schon Calvin (in der Einleitung zu seinen Constitutiones) lehrte, wie Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis einander gegenseitig fördern, der wird gerade auch aus theologischer Sicht die Bedeutung des autogenen Trainings dankbar würdigen, da es die Bahn bereiten hilft zu echtem, besonders auch meditativem religiösen Erleben.«
Auf dem Weg nach Emmaus
Das autogene Training zeigt, wie Ruhe, Stille, Selbstwahrnehmung und- bejahung, die Einstellung auf gute positive Bilder reinigend auf uns wirken können. Diese rein psychologische Umkehr kann bereits in Menschen »Wunder« wirken und sie an Leib und Seele heilen. Wenn wir zudem etwa die Begriffe »Leben« oder »Wahrheit« in uns im Bild Gestalt annehmen lassen, schaffen wir den konkreten Raum für Gott, der von sich sagt, daß er die Wahrheit, der Weg, das Leben ist. Und er wird Besitz ergreifen von dem Raum und darin wohnen. Nicht nur als die Idee des Lebens, sondern als wirkliches lebendiges, kraftvolles Leben. Nicht als Idee der Erlösung, Rettung und Befreiung, sondern als Erlöser, Retter und Befreier, als lebendige Person.
Das heißt nicht, daß nun jeder Christ autogen trainieren muß, im engsten Sinn der Übungen wie sie Schultz empfiehlt, damit er Gott empfangen kann. Autogenes Training ist vielmehr ein Modell für uns, an dem wir erkennen, wie wir uns für Gott bereiten können und wie es wichtig ist, die Bildwelt positiv zu formen, um die natürliche Grundlage zu schaffen, daß sein Geist in uns wirken kann. Es ist unerläßlich, die Bilder, die uns Gott von sich gibt, vor allem das einzig authentische: Jesus Christus, immer wieder neu in uns aufzunehmen. Wir müssen täglich uns die Zeit zur Stille nehmen und das Bild des Herrn in uns eindringen lassen, anhand der Worte, die er spricht, anhand der Szenen aus der Bibel, die wir uns vorstellen.
Entspannung durch Gebet
Jedes Gebet macht uns für Gott empfänglich. Es gibt ein Gebet, in dem das Charisma der Suggestion ganz besonders deutlich wird. Es ist das hesychastische Gebet, auch Herzensgebet genannt. Es entspannt den Beter ganz. Entspannung macht ihn fähig loszulassen, von sich wegzugehen und sich hinzugeben. Nicht an irgendetwas, sondern an Jesus Christus. Es ist entscheidend, daß wir uns nicht an irgendetwas hingeben, bloß für irgendetwas empfänglich werden, sondern ganz gezielt für ihn, um nicht von etwas erfüllt zu werden, von dem wir gar nicht erfüllt sein möchten. Es ist gefährlich, ohne Ziel und einfach so vor sich hinzumeditieren, wie es Ungezählte in vielen Kursen tun. Man könnte Geister rufen, von denen es schwer ist, wieder loszukommen.
In »Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers« von Emmanuel Jungclaussen finden wir die Definition dieses Gebetes und die entsprechende Anleitung dazu. »Wir betraten die Klause, und der Starez sagte folgendes: >Das unablässige innerliche Jesusgebet ist das ununterbrochene, unaufhörliche Anrufen des göttlichen Namens Jesu Christi mit den Lippen, mit dem Geist und mit dem Herzen, wobei man sich seine ständige Anwesenheit vorstellt und ihn um sein Erbarmen bittet bei jeglichem Tun, allerorts, zu jeder Zeit, sogar im Schlaf. Es findet seinen Ausdruck in folgenden Worten: Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner! Wenn sich nun einer an diese Anrufung gewöhnt, so wird er einen großen Trost erfahren und das Bedürfnis haben, immer dieses Gebet zu verrichten.« Es kann hier nicht darum gehen, ausführlich das Herzensgebet zu beschreiben. Wir möchten bloß die Suggestion hervorheben, die in ihm als ein Mittel der Zuwendung zu Gott wirksam ist und, mit viel Geduld und Regelmäßigkeit geübt, den Glauben entfaltet.
Das Jesusgebet eignet sich vielleicht nicht für jedermann. Es ist doch wohl in seiner strengen Form eher für Mönche und Nonnen bestimmt. Es zeigt uns aber, daß es notwendig ist, uns als Christen oft, regelmäßig und in tiefer Stille Christus zuzuwenden. In diesem Zusammenhang gewinnt das Rosenkranzgebet eine ganz neue Aktualität, das die westliche Entsprechung zu dieser östlichen Gebetsform darstellt und in ähnlicher Weise mit rhythmischer Regelmäßigkeit den Blick auf immer neue Aspekte der Person und des Lebens Jesu lenkt. Der ganze Mensch, sein ganzer Lebensprozeß, muß bereit gemacht werden, die >Ruhe der Regelmäßigkeit< und die >Regelmäßigkeit der Ruhe< anzunehmen . . . Nur dann kann Christus innerlich die Herrschaft ausüben.
Erfüllung
Jeder muß als Christ eigene Initiativen ergreifen, um seine Empfänglichkeit für Gott zu wecken oder zu stärken. Theologen und Gemeindevorsteher haben die Aufgabe, uns zu beraten und wegweisend zu führen. Die Kirche antwortet auf unsere Bereitschaft mit dem reichen Schatz ihrer jahrhundertelangen Erfahrungen im Umgang mit dem Göttlichen und mit dem Reichtum ihrer Sakramente. Mit dem Wort, das sie verkündet, mit der Feier der Liturgie, vor allem des Abendmahles, der Eucharistie, weckt und füllt sie unsere Offenheit für Jesus Christus. »Will man die Christen christianisieren«, schreibt Kardinal Leon Joseph Suenens in Erneuerung und die Mächte der Finsternis, »muß man ihnen helfen, daß sie die wirkende Gegenwart Jesu in der Kirche und die sakramentale Kraft, die in Ihm ihren Ursprung hat, neu entdecken … Sein Wirken übersteigt die Jahrhunderte und wird andauern bis ans Ende der Zeiten. Sein Wort und die Sakramente sind es, durch die und in denen Jesus nunmehr unter uns wirkt. … Jedes Sakrament wird uns gespendet, damit Jesus sein Werk in uns vollenden kann, damit er uns die Früchte seines Erlösungsleidens zuwenden und jene neue Menschheit schaffen kann, die er seinem Vater darbringen will. … Hier begegnen wir der heilenden Gnade, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vorrangig und in der größten Tiefe ihrer Wirkung und Ausstrahlung.«
Wenn wir uns so empfänglich machen, werden wir empfangen. Jesus Christus wird zu uns kommen. Er wird in uns, und wir werden in ihm sein. Nicht mehr wir leben, sondern er wird leben in uns (vgl. Gal 2,20). Wir werden in ihm verwurzelt, auf ihm aufgebaut sein, überströmend von Dankbarkeit (vgl. Kol 2,7). Da in ihm die ganze Fülle der Gottheit wohnt, werden wir an seiner Fülle teilhaben (Kol 2,9). Wir werden durch Ihn ablegen: »Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Streit, Mißgunst, Ausbrüche des Zornes, Rechthaberei, Entzweiungen, Spaltungen, Neid, Zechen und Phrasen und dergleichen« (Gal 5,19 21).
Wir werden fähig, den alten Menschen aus- und den neuen anzuziehen, jung an Erkenntnis (Kol 3,10), eine Neuschöpfung, Menschen, nach dem Bild dessen, der uns geschaffen hat (Kol 3, 10), bekleidet mit herzlichem Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut, Geduld, fähig einander zu ertragen, zu verzeihen, und den Weg der Vollendung in der Liebe zu gehen. Der Friede Jesu wird in unseren Herzen herrschen (vgl. Kol 3,12 17). Christus in uns wird unsere Hoffnung für die Herrlichkeit sein (Kol 1,27). Und diese Hoffnung wird sich fortpflanzen unter die Menschen: Wir alle werden mit unverhülltem Antlitz die Herrlichkeit des Herrn widerspiegeln (2 Kor 3,18).
Wir definierten die Suggestion als Verwandlung unserer Gedanken und Vorstellungen in die entsprechende Wirklichkeit. Selbstverständlich können wir Gott nicht mit einer Art Gedanken- oder Vorstellungsmagie gegenwärtig setzen. Aber wir können durch Gedanken und Vorstellungen seine Ankunft vorbereiten. Es geht deshalb darum, schon im Vorfeld des Glaubens gute Gedanken zu denken und gute Bilder zu bilden, um in uns suggestiv eine gute Wirklichkeit zu schaffen, die durch die Gnade Gottes zur Wirklichkeit des Guten werden kann. Wir sollen also den Acker für das Wort bereiten und die Krippe unseres Menschseins für die Geburt Gottes in uns herrichten. Unsere Empfänglichkeit für ihn wird wachsen und unsere Zeugniskraft wird anderen zum Erlebnis werden. Kirchen werden Gottesberge und brennende Dornbüsche, Predigten Verheißungen, die dünnen Lieder mitreißende Lobgesänge. Heilige Scheu, zurückhaltende Begeisterung, Feier der Innerlichkeit, spontane Anbetung des lebendigen Guten, Jesus Christus, werden die Gottesdienste kennzeichnen. Auf diese Dichte der Bereitschaft wird der Heilige mit seiner Gegenwart antworten. Heil wird erfahrbar. Heilungen werden geschehen. Nicht durch Suggestion, sondern durch Gott, der sich des Charismas der Suggestion als einer Form der Begegnung mit den Menschen bedient.
Daß Zeiten der Erweckung auch Zeiten der Gefahren für den Glauben sind, hat die Kirchengeschichte immer wieder gezeigt. Auf solche hinzuweisen, sie zu verstehen und aus ihnen zu lernen, ist die Absicht dieses Buches, das ich als Dienst und aus Dankbarkeit, aber auch aus Sorge schrieb. Ich habe hart um es gerungen und hoffe jetzt, daß es vielen, die mit mir Gott suchen und erleben möchten, eine Hilfe ist. – Karl Guido Rey
Die Hervorhebungen sowie leichte Kürzungen wurden von mir vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im Dezember 2008
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