Das Geheimnis Israels (Sauer)

Erich Sauer

DAS MORGENROT DER WELTERLÖSUNG

– Auszug, ab Seite 124 bis 135 –

B. Das Geheimnis des Volkes Israel

3. Kapitel: Israels Berufung und Dienstauftrag

In Abraham – das gnädige, schöpferische Walten des Gottes, der das Nichtseiende ruft, als sei es schon da (Röm. 4,17),
in Isaak – Leben aus den Toten (Hebr. 11,19).
in Jakob – unverdiente Gnade und herrlicher Ausgang; der Mann Gottes erscheint, der aus dem Ränkeschmied (Jakob) den Gotteshelden (Israel)  macht,  –  das ist Israels Entstehen.

Auf Israels Berufung ist alles bei diesem Volk eingestellt:

I. Israels Aufgabe

Israels Aufgabe war eine doppelte. Es sollte der Empfänger der Gottesoffenbarung und das Absteigequartier für den Welterlöser werden und dadurch die Geburtsstätte für die christliche Gemeinde (Joh. 4,22 vgl. Röm. 11,16-24). Es sollte aber auch die Wege bahnen in die Völkerwelt und als Zeuge und Missionar Gottes an die Nationen der Kanal für die Heilsoffenbarung sein zum Zweck der Vorbereitung des Weltevangeliums.

Beide Aufgaben widersprechen einander auf den ersten Blick und setzen scheinbar Unvereinbares voraus; und doch sind sie beide in Israel durchaus vereinigt. Um die Heimat des Messias und die Geburtsstätte des Christentums zu werden, mußte Israel ein in sich abgeschlossenes Volk sein, abgesondert von allen Heiden, als das Volk der Offenbarung, das allein den lebendigen Gott kennt, weil er ihm seinen Willen im Gesetz kundgetan hat.
Andererseits mußte es unter den Heiden verbreitet sein, mitten unter ihnen wohnend, um dem Christentum die Wege zu bahnen.

Erst diese Erkenntnis des zwei-einheitlichen Gegensatzes von Absonderung und Weltweite ist der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte Israels. Ohne sie bleibt alles unklar.

Am schärfsten zeigt sich diese Spannung auf dem Höhepunkt seiner Berufung: in der Erlöserverheißung.

II. Israels Messiaserwartung

Hier ist absolute Ausdehnung, Durchbrechung aller Begrenztheit: der Messias ist Heiland der Welt (Mal. 1,11; Joh. 4,42). Die Menschheit ist eine Familie mit nur einem Ursprung und einem Ziel. Alle Völker der Erde sind, mit Israel, Teilhaber der Erlösung. Und wie Israel, offenbarungsgeschichtlich, Gottes erstgeborener Sohn ist (2. Mose 4,22), so werden auch sie dereinst alle Söhne Gottes werden (Jes. 25,6). Mit diesen Gedanken umspannt die israelitische Prophetie den weltweitesten Rahmen, den überhaupt das Altertum kennt.

Und doch! Gerade hier zeigt sich die absoluteste Konzentration. Denn dieser Erlöser der Welt ist ein Mann (1. Tim. 2,5), ein Nachkomme Davids, ein Heiland! (Apg. 4,12.) Und das Gewaltigste ist, daß die Weltgeschichte ihr Ja zu dieser Erwartung gesprochen hat!

Jesus von Nazareth, der Eine, der Sohn Gottes, wird von Millionen von Menschen als HErr und Erlöser gepriesen, und sein Geistesgut wird gerade von führenden Völkern der Menschheitskultur als das sie führende Ideal für Charakter und Sittlichkeit anerkannt! Warum aber findet sich diese Erwartung nicht auch bei den Römern oder Griechen, sondern nur in der Offenbarung an das „geringste“ der Völker? (5. Mose 7,7.) War sie Vielleicht etwa reines Erzeugnis politischen Hochgefühls oder gar krankhaft gesteigerter Nationalismus? Warum aber ist er dann gerade als Erfüllung dieser Weissagung auch tatsächlich erschienen und wirklich, als der Heiland der Welt, das „Panier der Völker“ geworden?! (Jes. 11,10; Röm. 15,12.) Etwa aus Zufall? Nein, hier gibt es nur eine vernunftgemäße Antwort:
Die Bibel ist Wahrheit! Die Weltgeschichte ist ihr Zeuge! Die Erfüllung ist der Beweis der Prophetie!

Diesem doppelt gespannten Zielpunkt von höchster Zusammenfassung und weltweitester Ausdehnung entgegenzugehen, war der Sinn aller israelitischen Geschichte. Darum ist alles bei diesem Volke darauf angelegt, diesen zwei zusammengehörigen und doch entgegengesetzten Forderungen gerecht zu werden.

III. Israels Anlage

Kein Volk ist so auf Besonderheit und doch zugleich Weltweite angelegt wie der Jude. Keines ist so national und doch zugleich so universalistisch wie er. Keines bewahrt so zähe seine Eigenart und bleibt loch mitten unter anderen Völkern so in sich zusammenhängend; und dennoch versteht keines es wiederum auch so, sich überall anzuschmiegen und den Verhältnissen anzupassen wie der Jude. Der Jude bürgert sich an allen Orten ein, weiß überall Raum für sich zu gewinnen und bleibt doch überall – Jude.

Dieser zwei-einheitlichen Spannung von Weltabsonderung und Weltverbundenheit entsprach auch das Land Palästina.

IV. Israels Land

Palästina ist ein abgeschlossenes Land, inselartig gelegen, einem Garten gleich, eingezäunt durch Gebirge, Wüsten und Wasser (Jes. 5,1). Hafenlos ist seine Küste; kein Fluß führt ins Innere, und wie eine trennende Mauer ist das sonst so völkerverbindende Meer. Feindliche Nachbarn umgeben es, sperren es ab nach allen Seiten, und fern sind die Mittelpunkte der Völkerkultur.

Und dennoch ist es der Mittelpunkt der Erde (Hes. 38,12), die Brücke zwischen den Herrenvölkern der altorientalischen Welt, da gelegen, wo sich drei Erdteile am nächsten berühren, wo die zwei Staatengruppen der alten Geschichte, die des Morgenlandes und des Abend-Landes, sich am meisten nahe kommen. Von hier aus gehen die Wege nach allen Seiten, und leicht sind die Hauptländer der Nationen zu erreichen. Kein Wunder darum, daß die Babylonier-Assyrer und die Ägypter immer wieder um den Besitz dieser Brücke gerungen haben.

Kein Wunder darum auch vor allem, daß gerade diese Lage die günstigste war, als es sich darum handelte, das Evangelium in alle Welt hinauszutragen. „Das ist Jerusalem. Mitten unter die Völker habe ich es gestellt und Länder rings um es her“ (Hes. 5,5). So aber entspricht das Land ganz und gar der Berufung seiner Bewohner. Die Spannung zwischen Absonderung und Weltweite zeigt sich bei ihm als geographische Abgeschlossenheit und zentrale Lage. 

4. Kapitel: Israels Abfall und Krisenweg

Israel ist Gottes Bundesvolk (Amos 3,2), abgesondert zum Zweck der Verbreitung der Heilsbotschaft in der Völkerwelt. Diesem großen, zwei-einheitlichen Ziel seiner Berufung entsprechen auch die Führungen Gottes in seiner Geschichte.

I. Israels Erziehung

  1. Göttliche Erziehung zur Absonderung (1900—586) „Gehe aus deinem Vaterlande und deiner Freundschaft“ – mit diesem Befehl Gottes an Abram beginnt die israelitische Geschichte. Sie beginnt also mit Aussonderung, und jahrhundertelang gehen alle Wege Gottes mit Israel dahin, es auszusondern, es abzuschließen, seinen Volkscharakter zu befestigen.

Der „Zaun“ des Gesetzes (Eph. 2,14), das palästinensische Judentum, das hebräische Alte Testament und der Tempel in Jerusalem – das sind die vier Hauptzeugen dieser Erziehung des Volkes.“

Dann aber, nach anderthalb Jahrtausenden, wendet es sich; und von nun an zielt – wiederum Jahrhunderte hindurch – alles darauf ab, Israel unter die Völker zu zerstreuen. Den Wendepunkt bildet die babylonische Gefangenschaft (606-536).

  1. Göttliche Erziehung zur Weltweite. Von der babylonischen Gefangenschaft an tritt
    – neben das palästinensische Judentum das Judentum der Zerstreuung, die Diaspora (Apg. 2,5-11);
    – neben den Tempel die Synagoge, mehr der Lehre als dem Opferdienst gewidmet, aber in allen Städten und Ländern
    neue Mittelpunkte jüdischen Lebens schaffend;
    – neben das hebräische Alte Testament die griechische Übersetzung, die Septuaginta, dazu bestimmt, nicht nur
    den Juden der Zerstreuung, sondern auch den Heiden Gesetz und Propheten und die Töne davidischer Psalmen zu
      bringen.

Das palästinensische Judentum mit dem Tempel und dem hebräischen Alten Testament war eine im höchsten Maße zentralisierende Macht; dort hatten auch all die unzähligen, in der Heidenwelt lebenden Judengemeinden ihren Schwerpunkt. Die Diaspora dagegen mit der Synagoge und der Septuaginta war eine sich ausdehnende Macht; durch sie wurde Israel ein Bote Gottes und Missionar in der Heidenwelt.

Und doch! Was geschah? In allem ist Israel dem Plan Gottes entgegen.

II. Israels Versagen

  1. Von der Gesetzgebung bis zur babylonischen
Gefangenschaft (1500-586) war Israels Hauptsünde der Götzendienst (2. Mose 32; Richt. 2,17; 2. Kön. 16,3). Das aber heißt: Gerade in der Periode, in der alles göttliche Erziehen auf Absonderung und Trennung von den Weltvölkern
hinausging, betrieb Israel abgöttische Gemeinschaft mit ihnen. Der göttlichen
Abgeschlossenheit setzte es fleischliche Aufgeschlossenheit, der heiligen Liebe die abtrünnige „Hurerei“ entgegen (Hos. 1-3; Jes. 1,21). Darum
lautet Gottes Urteil, nach jahrhundertelanger Geduld, über das sündige
Jerusalem: „Zu meinem Grimm ist mir diese Stadt
gewesen, so
daß ich sie von meinem Angesicht hinwegtun will“ (Jer. 32,31).

Nebukadnezar kam. Jerusalem wurde zerstört und das Reich Juda in die Gefangenschaft weggeführt (586). Doch dann geschah das jüdische Wunder. In Babel wird Israel von Babel geheilt. Gerade Babel, „die Mutter aller Hurerei und Abgötterei“ (Off. 17,5), wird die Heilanstalt für das hurerische Volk. Gerade hier wird das jüdische Volk vom babylonischen Götzenwesen befreit, und mit neuen Zielen kehrte der gläubige Überrest Israels aus der Gefangenschaft zurück.  –  Aber dann ging Israel den umgekehrten Irrweg.

  1. Von der babylonischen Gefangenschaft an
liefen alle Wege Gottes mit Israel darauf hinaus, es für seine weltweite Völkermission vorzubereiten. Aber was tat das Volk jetzt? Es sonderte sich ab, und in hochmütiger Selbstüberhebung verachtete es die Heiden als unreine „Hunde“! Besonders unter der Führung der Pharisäer erreichte diese fleischliche Betonung der Vorrechtstellung ihren Höhepunkt. Jetzt setzte Israel – genau umgekehrt wie vorher – dem göttlichen Universalismus einen selbstgerechten Nationalismus, der Völkermission die Volkszentralisierung entgegen; und wie es vordem, als Gott die Absonderung gewollt hatte, die Verbindung betrieb, so pflegte es nunmehr, als Gott die Verbindung wollte, die Absonderung. So waren sie ein Volk, allezeit halsstarrig und widerstrebend (Apg. 7,51).

Den Höhepunkt seiner Sünde aber erreicht Israel zur Zeit Christi. In dreifacher Steigerung – in der Ablehnung der Botschaft vom Himmelreich (Matth. 23,37), in der Ermordung des Messias auf Golgatha (Apg 7,52) und in der Zurückweisung des Zeugnisses von der Auferstehung Apg. 4,2; 21; Apg. 7,51; 13,46; Apg. 28, 25-28) – begeht Israel die Sünde aller Sünden: die Verwerfung des Sohnes Gottes. Und fortan steht es unter dem göttlichen Gericht.

III. Israels Niedergang

Abwärts ging Israels Weg. In drei großen Stufen vollzog sich sein Niedergang. Zuerst hatte das Volk

  1. Die direkte Gottesherrschaft: Von Mose bis Samuel (1500-1100). Am Sinai zum „Volke“ geboren, hatte die Nachkommenschaft Abrahams Gott selbst zum König. „Ihr sollt mir ein Königtum von Priestern und eine heilige Nation sein“ (2. Mose 19,5). Mose, Josua und die vierzehn Richter bis Samuel einschließlich waren nichts anderes als jeweilig Beauftragte des HErrn zur Durchführung bestimmter Einzelaufgaben. Ein irdisches Königtum gab es nicht. Gideon lehnte es ausdrücklich ab, und der einzige, der es aufrichtete – Abimelech, sein Sohn – tat es im Widerspruch zu Gott und ging elend zugrunde (Richter 9).

Die irdischen Organe des himmlischen Königs waren die Propheten (5. Mose 18,15), die Priester (5. Mose 33, 8-11) und die Helden bzw. Richter. Eine ständige, äußere Zentralregierung hatte man nicht, wohl aber einen Zentralaltar; denn die Einheit des Volkes lag in seiner Abstammung und in seinem Glauben; und die Stiftshütte in Silo war der sichtbare Ausdruck dieser Einheit (Jos. 18,1; 10; 19,51; 1. Sam. 1,3; 4,3).

Aber diese ganze Verfassung konnte nur in einem gottergebenen Volke Frucht bringen. Im andern Fall mußte sie sich gleichsam als „königslose“ Zeit auswirken. Und gerade so war es bei Israel (Richt. 18,1; 19,1; 21,25). Daher schließlich der Wunsch nach einem sichtbaren König (1. Sam. 8).

Damit aber begann die zweite Periode:

  1. Die indirekte Gottesherrschaft: Von Saul bis Zedekia (1100—586). Nur widerstrebend gewährte der HErr die Bitte. Denn vom Gesichtspunkt des Königtums Gottes aus war ein irdisches Königtum ein Rückschritt, ja geradezu eine „Verwerfung“ des HErrn (1. Sam. 8,7). Dennoch hielt Gott an seinem Königsrecht fest. Noch Jahrhunderte später wird er von den Propheten und Psalmsängern als der wahre „König“ Israels gepriesen. „Der HErr ist unser Richter, der HErr unser Feldherr, der HErr unser König“ (Jes. 33,22; Jer. 10,10, Ps. 2,6 u. a.).

Daraus  aber ergab sich die eigenartige Stellung des israelitischen „Königs“. Da der eigentliche König der HErr ist, sind die irdischen Könige nur Vizekönige, weshalb auch die Wahl nicht (demokratische) Volkswahl war, sondern allein in Gottes Hand ruhte (5. Mose 17,15), der sie durch Prophetenmund verkünden ließ (1. Kön. 19,16). Dem Volk selbst stand nur das Recht der „Einsetzung“, das heißt, der öffentlichen Anerkennung zu (1. Sam. 11,15). Der König war darum ganz und gar König „von Gottes Gnaden“. Und da ferner das geistliche Amt in Israel dem himmlischen Könige näherstand als das weltliche, standen die Propheten in Israel, reichsgottesgeschichtlich, über den Königen und waren deren Berater, Gewissen, Auge, Ohr, Wächter und Kontrolle.

Aber auch innerhalb dieser an sich schon viel niederen Gottesherrschaftsperiode ging es mit Israel bergab, und zwar wieder in drei Unterstufen. Zuerst hatten sie

das Einheitsreich. unter den drei Königen Saul, David und Salomo (1050—950); dann, seit der Reichsteilung

das Doppelreich, das gespaltene Israel-Juda (bis zur assyrischen Gefangenschaft, 722), und schließlich nur noch

das Restreich Juda, die südlichen zwei Stämme (722—586). Mit deren letztem Könige Zedekia zerbrach endlich das sichtbare Königtum überhaupt, und von da an hatte Israel nur noch das letzte:

  1. Die außer Kraft gesetzte Gottesherrschaft: Von 586 v. Chr. bis zur Aufrichtung des Messiasreiches. Mit Nebukadnezar begannen die Zeiten der Heiden (Luk. 21,24). Seit der Zerstörung Jerusalems stand Israel unter der Herrschaft der Weltvölker. … Die Römer waren die Herren des Landes. Zuletzt aber wurde Israel sogar außer Landes verwiesen und irrt seitdem, infolge des Strafgerichts Gottes, nach dem Zeugnis des Alten Testaments selber, als verachteter Fremdling unter den Völkern umher. … Mose weissagte: „Du wirst unter jenen Völkern zu keiner Ruhe kommen, und für deine Fußsohle wird es keine Stätte der Rast geben, sondern der HErr wird dir dort ein immer zitterndes Herz und eine geängstigte Seele geben. … (5. Mose 28, 65). Und der HErr selbst spricht: „Wie ein Feind habe ich dich geschlagen mit grausamer Züchtigung wegen der Größe deiner Schuld. .. Wegen der Menge deiner Sünden habe ich dir dies Leid angetan“ (Jer. 30,14). So aber wird das jüdische Volk zum abschreckenden Beispiel des Unglücks für alle Reiche der Erde.

Und doch! „Gottes Gnadengaben und Berufung sind unbereubar.“ (Röm. 11.29.) Die „Feinde“ bleiben dennoch „Geliebte“. Die „Wurzel“ ist heilig (Röm. 11,16), und um Abrahams willen (Jes. 41,8; 5. Mose 7,8) hält Gott auch im Gericht an seinen Verheißungen fest: „Selbst auch dann, wenn sie in dem Lande ihrer Feinde sind, werde ich sie nicht verwerfen und meinen Bund mit ihnen zu brechen; denn ich bin Jahwe, ihr Gott“ (3. Mose 26,44).

IV. Israels Bewahrung

In drei großen Hauptnotzeiten erlebt Israel Gottes Bewahrung: im ägyptischen, assyrisch-babylonischen und römischen Exil.

  1. Die ägyptische Not (um 1500 v. Chr.) war Schmach Christi (Hebr. 11,26). Was der Pharao tat, war, ohne daß er es wusste, ein Kampf der Schlange gegen den Weibessamen (1. Mose 3,15). Denn mit der Ausrottung der Juden wäre das Kommen des Erlösers unmöglich gemacht worden, da die Verheißung vom Weibessamen und Schlangenzertreter seit Abraham gerade an dies Volk gebunden war (Joh. 4,22; Gal. 3,16). So steht gleich zu Anfang der jüdischen Entwicklung hinter aller Volksgeschichte die Reichsgeschichte. Israel litt in Ägypten um des Messias willen; und der Hebräerbrief bezeugt durch den Ausdruck „Schmach Christi“, daß der Prophet Mose schon damals diesen übergeschichtlichen Hintergrund auch möglicherweise in etwa geahnt hat.

Gott aber führte das Volk mit erhobener Hand aus dem „eisernen Schmelzofen“ Ägyptens heraus (5. Mose 4.20).

  1. Die assyrisch-babylonische Not (722 ff. und 606—536) war Schmach der Sünde (2. Kön. 17,7). Die Gefangenschaft kam, weil die Kinder Israel götzendienerisch gehurt (Hos. 1—3; Hes. 16 u. 23), sich mit „Greueln“ beladen (Hes. 8,13), das Land „mit Gewalttat erfüllt“ (Hes. 8.17) und sich also zu „gar nichts mehr tauglich“ gemacht hatten “ Jer. 13,7). Und daß es gerade siebenzig Jahre waren, hing mit der Zahl der in den vorangegangenen Jahrhunderten nicht beachteten Sabbatjahre zusammen (2. Chron. 36,21 vgl. 3. Mose 26,34). Dann aber berief sich Gott gerade in Babel – außer Daniel – den Propheten Hesekiel; und in Kores, dem gewaltigen Kriegshelden, dem Begründer der persischen Weltherrschaft, schenkte er ihnen den lang ersehnten Befreier (Jes. 45,1-7; Esra 1,1-4; 5,13).
  2. Die römische Not war und ist Schmach für die Sünde aller Sünden, die Verwerfung des Messias. Darum ist sie auch die längste (5. Mose 28,49-68). Sie beginnt mit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 und endet erst mit der Aufrichtung des Messiasreiches bei der Wiederkunft Christi. Denn das römische Reich währt, prophetisch, bis an das Ende der Welt (Dan. 2 u. 7). „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“ (Matth. 27, 25.) Dieses von ihnen selbst gesprochene Wort steht wie ein flammendes Wahrzeichen des Gerichts über dieser Jahrtausende langen Geschichte. „Israel muß ja verstummen, wenn man es heute fragt: „Sage mir doch: Wie kann es nur sein, daß der Ewige die Väter nur siebzig Jahre aus ihrem Lande in die Gefangenschaft nach Babel geschickt hat um all der Greuel und Abgötterei willen, womit sie Jahrhunderte hindurch das heilige Land verunreinigt hatten;  – und nun ist Israel schon über 1800 Jahre versprengt unter alle Völker, und Jerusalem, des großen Königs Stadt, ist von den Heiden zertreten bis auf diesen Tag?! Was ist denn die große und schreckliche Blutschuld, die euch immer noch fernhält von den friedlichen Wohnungen im Lande der Väter? – Aber Israel will es ja nicht wissen!“ –

Und doch ist gerade seine Messiasverfehlung die Urwurzel seines Unglücks. Der Kreuzeshaß der jüdischen Seele hat sie zum „quälenden Stachel in der Welt“ gemacht. Fortan steht das jüdische Volk unter dem „Fluch der Kreuzesflucht“. „Daher die Rastlosigkeit und Friedlosigkeit des ewigen Juden, weil er mit der Gestalt Jesu Christi innerlich niemals fertig geworden ist. Die Flucht vor dem Kreuz hat ihn zum heimatlosen Flüchtling in der Welt gemacht. Die Empörung gegen das Kreuz hat ihn zum Anführer aller Empörung gegen Gott auf Erden werden lassen“ (A. Köberle).

Aber auch hier ist gerade der Fortbestand des jüdischen Volkes ein Haupträtsel der Geschichte. Die Gesetze, die das Werden vieler anderer Völker beherrschen, sind zum Teil geschichtsphilosophisch erklärbar.

Aber Israels Entwicklung spottet aller Erklärung. Denn Israel ist, trotz allem, Jahwes Volk, und der HErr, sein Gott, ist ein verborgener Gott (Jes. 45,15). Jeder Jude ist ein wandelndes Geheimnis.

V. Israels Hoffnung

In der Tat, „wenn nach dem Zeugnis der Prophetie (Jes, 53) Jesu Anrecht, der wahre Messias zu sein, erst durch Leiden und Verwerfung besiegelt werden musste, dann kann Israels Anspruch auf eben diesen Messias durch solche Verwerfung nimmermehr aufgehoben werden. Vielmehr wird der HErr alle seine Versprechungen an Abraham und David einlösen; und dann wird der „Jakob“ in einen „Israel“, der „Dornstrauch“ (2. Mose 3,2) in einen fruchtbringenden „Feigenbaum“ (Hos. 9,10) umgewandelt werden (vgl. Jes. 55,13). Und wie Israel jetzt ein gesteigerter Fluch ist, so wird es vereinst noch vielmehr ein gesteigerter Segen sein (Sach. 8,13). „Wo die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden“ (Röm. 5,20). Und wie im Verlauf der Geschichte alle Rassen der Welt an Israels Gericht mitgewirkt haben – die Hamiten im ägyptischen, die Semiten im assyrisch-babylonischen und die Japhetiten im römischen Exil -, so werden sie dereinst im Herrlichkeitsreich alle zusammen, gemeinsam mit Israel, gesegnet werden (Jes. 2,2; 19, 24).

„O Tiefe des Reichtums sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürlich seine Wege! Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen“ (Röm. 11, 35).

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