Der Sohn Gottes (O.Rodenberg)
Otto Rodenberg
DER SOHN
– Beiträge zum theologischen Gespräch der Gegenwart –
1.Teil: Geboren von der Jungfrau Maria
I. Die Problematik der autonomen Dogmenkritik
II. Die Wurzeln der Problematik im neuzeitlichen Einbruch phil. Denkens
III. Das Nachbekennen des Dogmas als Anbetung der Geheimnisse Gottes
2. Teil: Die Erkenntnis des Sohnes
I. Unsere Lage und unser Auftrag
II. Unser geistliches Handeln in doppeltem Bezug
III. Die Gefährdung unseres geistlichen Handelns
Vorwort
Das Ringen der Geister um Recht oder Unrecht der existentialen Interpretation hat den leidenschaftlichen Widerhall weiter Kreise gefunden. Dabei ist es nicht verwunderlich, daß in Entsprechung zu der Grundsätzlichkeit, in der die Vertreter der Existenztheologie heute die historisch-kritische Forschung aus einer methodischen Hilfsfunktion zu erkenntnis-theoretischer Verbindlichkeit ausbauen, die ursprüngliche Frage um Für und Wider im Programm der existentialen Interpretation sich zur grundsätzlichen Frage nach Recht und Grenzen der Theologie als Wissenschaft erweitert hat. … Wie kann heute in Verantwortung gegenüber der Kirche und ihren Bekenntnissen, aber auch gegenüber der Fragestellungen unserer Zeit theologisch gearbeitet und die Botschaft recht ausgerichtet werden? Wer dem in solcher Verantwortung verwurzelten Unternehmen der existenzialen Interpretation kritisch gegenübersteht, muß sich die Frage nach der eigenen, in gleicher Verantwortlichkeit gründenden Position gefallen lassen. Um die Klärung dieser Position bemüht sich dieses Buch. Es setzt damit frühere Veröffentlichungen (zusammengefaßt in dem Aufsatzband »Um die Wahrheit der Heiligen Schrift«) fort.
Dabei sind es zwei verpflichtende Anliegen, in denen ich mich mit den Bemühungen der heutigen Theologie einig weiß: das Ringen um den heutigen Menschen, auf den letzten Endes alle theologische Arbeit ausgerichtet sein muß, und das Erbe der reformatorischen Theologie, das es für unsere Zeit und ihre Aufgaben neu fruchtbar werden zu lassen gilt.
Das Thema des ersten Teiles nimmt denjenigen Teil des christlichen Bekenntnisses auf, den man wohl mit Recht als ein »heißes Eisen« für die Verstehensproblematik des modernen Menschen bezeichnen kann: die jungfräuliche Geburt Jesu Christi. An diesem Punkt des christologischen Fundamentes der Kirche klaffen historisch-kritische Theologie und Gemeindeglaube am weitesten auseinander. Läßt sich bei anderen christologischen Aussagen, etwa der Auferstehung Jesu, beobachten, daß auch die extremsten Richtungen in irgendeiner Weise die Auferstehung Jesu Christi in ihre Theologie einbeziehen, so wird man bei dem Bekenntnissatz von der Jungfrauengeburt angesichts der hier vorliegenden Diskrepanz zwischen Theologie und Gemeinde die Beibehaltung des Status quo nicht mehr für eine vertretbare Lösung ansehen können. Entweder es muß an diesem Punkte unter Anerkennung der Ergebnisse theologischer Forschung eine Korrektur des Glaubensbekenntnisses, d. h. aber auch der Liturgie, des Katechismus, des Gesangbuches (man denke nur an Luthers Weihnachtslied »…von einer Jungfrau, das ist wahr«) erfolgen, oder es ist der tiefsitzende Fehler einer theologischen Wissenschaft anzugehen und zur Sprache zu bringen, die an diesem Punkte offensichtlich der Aufgabe theologischer Erkenntnis nicht gewachsen ist, weil ihr eine ganze Dimension der Wirklichkeit verlorenging, ohne die hier nicht erkannt und verstanden werden kann.
Wer hier vom Standort theologischer Wissenschaft aus siegesgewiß weiter entmythologisieren will, soll die Konsequenzen ins Auge fassen und der Gemeinde sagen, was er tut. Sonst wird er schuldig an einem Zwiespalt, der dem denkenden Teil der Gemeinde schon genug Last auferlegt hat. …
In engstem Zusammenhang zu der Frage nach dem Recht der modernen Theologie, sich als legitime Erbin der zentralen reformatorischen Erkenntnisse Luthers zu verstehen, steht auch im 2. Teil des Buches die Frage nach der Wirklichkeit des heutigen Menschen, nach der letzten und eigentlichen Not, in der und aus der ihm geholfen werden muß. Ist er wirklich der »mündige« Mensch? Trifft der Ausruf des Paulus »Ich elender Mensch! wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?« (Röm. 7, 24) auf die Lage dieses Menschen von heute überhaupt noch zu, und in welcher Weise? Oder sollte der »mündige« Mensch in Wahrheit der »sündige«, verlorene, dahingegebene, gefangene Mensch sein, auch und gerade dort, wo er um diese seine Verlorenheit gar nicht weiß? Rechte Theologie kann es nicht unterlassen, sondern muß es wagen, den »verzweifelt bösen Schaden« des Menschen in seiner ganzen Tiefe aufzuzeigen, auch auf das Risiko hin, daß die eigene Erkenntnis sich tiefer als man dachte in diesen Schaden hineinverflochten erweist und am Ende nicht der Triumph eines gesicherten Denksystems steht, sondern »nur« das sich bescheidende Wissen um den Arzt, der allen Schaden heilen kann und will.
Otto Rodenberg Rengshausen, am 3. August 1963
1. Teil: GEBOREN VON DER JUNGFRAU MARIA (Zur Frage der Christologie)
» … et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine et homo factus est…« (Nicänum)
Wenn wir die Worte des apostolischen Glaubensbekenntnisses » …empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria …« nachsprechen, dann ist dies eine Aussage über Jesus als den Christus, eine Aussage der Christologie. Wenn wir diese Bekenntnis aussage zum Thema einer Abhandlung machen, dann stehen wir damit unter der Fragestellung der Christologie überhaupt, unter der Frage »Wer bist du?« »«
Wir müssen uns darüber klar sein, daß diese Frage, die Bonhoeffer die Wer-Frage genannt hat, im Gegensatz steht zum Fragen des menschlichen Denkens schlechthin. Das Fragen des menschlichen Denkens ist bestimmt von den Begriffen der Einordnung, des Sinnzusammenhanges, der Möglichkeiten dessen, was man denkt und was den Gegenstand, über den man denkt, betrifft. Das Fragen des menschlichen Denkens ist das Fragen nach dem Wie. Dieser Wie-Frage steht die Wer-Frage gegenüber. Wenn der Logos, der Sohn, Mensch wird, dann haben wir kraft unseres eigenen Denkens keine Möglichkeit mehr, einzuordnen und durch Sinnzusammenhang und Analogieschluss zu schlüssigen Ergebnissen zu kommen, sondern es bleibt uns nur die Frage, die Saulus vor Damaskus stellte: »Herr, wer bist du?«
Bonhoeffer sagt: »Die Frage >Wer bist du?< ist die Frage der entthronten, der entsetzten Vernunft… Der Mensch kann die Wer-Frage nicht selbst beantworten. Die Existenz kann nicht aus sich selbst heraustreten, sie bleibt auf sich bezogen und spiegelt sich nur in sich. Gefesselt in ihre eigene Autorität fragt sie doch immer wieder nach dem Wie … Wenn wir fragen: >Wer bist du?<, dann reden wir wohl in der Sprache des gehorsamen Adam, aber wir denken in der Sprache des gefallenen Adam, im >Wie bist du?< Diese hat die erste Sprache verwüstet.
Können wir überhaupt die strenge Frage nach dem >Wer< stellen? Können wir, nach dem Wer fragend, etwas anderes meinen als das Wie? Wir können es nicht. Das Geheimnis des Wer bleibt verhüllt. Die letzte Frage des kritischen Denkens steht in dem Zwiespalt, daß es nach dem Wer fragen muss, und doch nicht kann. Nach dem Wer kann nur legitim gefragt werden, wo sich der Gefragte vorher selbst offenbart hat. Das bedeutet weiter: Die christologische Frage kann wissenschaftlich nur im Raum der Kirche gestellt werden.« – Soweit Bonhoeffer.
Wir werden also dieses Thema »Geboren von der Jungfrau Maria« nicht anders behandeln können denn als solche, denen sich der, um den es geht, selbst offenbaren muß.
Die beiden genannten Fragen, die Wer- und die Wie-Frage, werden wir bei unseren Überlegungen immer wieder antreffen. Sie liegen im Kampf miteinander. Das sei gleich zu Beginn an zwei Begebenheiten erläutert:
Die eine ist dem Deutschen Pfarrerblatt (Nr. 7/1963) entnommen. Da heißt es, daß ein Pfarrer bei Dienstantritt in einer Gemeinde noch vor der Begrüßung mit der Frage »Glauben Sie an die Jungfrauengeburt?« attackiert wird. So etwas soll vorkommen, daß in der Art gefragt wird. Wenn dann die Antwort nicht wie aus der Pistole geschossen im bejahenden Sinne kommt, dann ist — in der Sicht des Fragestellers — etwas faul. Das wäre die eine Seite, von der aus heute unser Thema aktuell wird.
Die andere Begebenheit ist ein persönliches Erlebnis. Als mir die Behandlung unseres Themas in einem Vortrag angetragen worden war, hörte ich von einer Äußerung zu diesem bevorstehenden Auftrag: »Nun, da wird er wohl entmythologisieren müssen.« Das ist die andere Seite, die andere Aktualität unseres Themas, daß gedacht wird, bei diesem >heißen Eisen< werde gar nichts anderes übrig bleiben als zu entmythologisieren.
Beide Begebenheiten sind gleich notvoll, und zwar aus dem gleichen Grunde. Bei beiden Begebenheiten wird die Wer-Frage von der Wie-Frage bedrängt. Bei beiden Begebenheiten geht es um ein Fürwahrhalten. Bei der ersten, der Frage an den neuen Pfarrer einer Gemeinde »Glauben Sie an die Jungfrauengeburt?«, wird das Fürwahrhalten gefordert. Bei der anderen Begebenheit, der Äußerung »Da wird er wohl entmythologisieren müssen«, wird das Fürwahrhalten abgelehnt. Bei beiden Begebenheiten wird der gleiche Mangel offenbar. Es fehlt bei beiden das Zittern der entsetzten Vernunft. Die Wer-Frage, so sagte Bonhoeffer, ist die Frage der entthronten Vernunft. Wo gefragt wird »Glauben Sie an die Jungfrauengeburt?«, da habe ich den Verdacht, daß die Wer-Frage nicht mehr die Rolle spielt und den Platz einnimmt, den sie einnehmen muß. Bei der anderen Äußerung »Da wird er wohl entmythologisieren müssen«, könnte es sein, daß die Wer-Frage noch nicht an den Platz getreten ist, den sie einnehmen muß. Fürwahrhalten kann weder gefordert, noch darf es abgelehnt werden. Die Anbetung, zu der uns das Dogma, das Bekenntnis der Kirche anleitet, schließt Fürwahrhalten ein, aber im Staunen, im Zittern, im Überwältigtsein von der Frage »Wer bist du?«
»Gelobet seist du, Jesus Christ,
daß du Mensch geboren bist,
von einer Jungfrau, das ist wahr…«
»Wenn ich dies Wunder fassen will,
so steht mein Geist vor Ehrfurcht still; er betet an…«
Wir werden auf die angeschnittenen Fragen zurückkommen. Zunächst gehen wir dem Werdegang des Dogmas der Jungfrauengeburt und seiner dogmengeschichtlichen Einordnung nach.
I. Die Problematik der autonomen Dogmenkritik
1. Exegetische Fragen
a) Ist das Dogma ausreichend bezeugt?
Das biblische Zeugnis zu dem Bekenntnissatz »Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria« findet sich bekanntlich nur Matth. 1 und Luk. 1. Dieser Sachverhalt führt gelegentlich zu dem Urteil: »Also, nur schwach bezeugt!«
Man könnte mit Corrie ten Boom fragen, wie oft etwas in der Bibel bezeugt sein muß, um wahr zu sein. Aber damit hätten wir die quantitative Betrachtung, die auch in dem Begriff »ausreichend« liegt, noch nicht überwunden. Wir fragen deshalb weiter: Muß denn jedes, insbesondere jedes wichtige Moment der Existenz Jesu ausdrücklich, regelmäßig, überall erwähnt werden? Ist es überhaupt geeignet dazu? Das Dogma ist ja nicht Offenbarungsinhalt, sondern als Bekenntnis der Gemeinde anbetende Antwort auf die Offenbarung im Ringen um das Bewahren des Wesentlichen, im Kampf um den Text. Es ist nicht Text, sondern Kommentar zum Text. Auch andere wichtige Bekenntnisaussagen, etwa das »wahrer Mensch und wahrer Gott« oder die Dreieinigkeitslehre, sind nicht im Text des Neuen Testamentes direkt ablesbar. Karl Barth sagt dazu: Das Bekenntnis »will offenkundig in der Regel zwischen den Zeilen gefunden, vom Leser oder Hörer aus dem, was von und zu dem Namen Jesus Christus sonst gesagt wird, erraten werden. Es wartet gleichsam auf des Lesers oder Hörers eigenes Bekenntnis.«
b) Lukas 1, 26—38
Wir wenden uns nun dem einen der genannten Texte speziell zu, der Darstellung des Lukas. Wie Martin Dibelius gezeigt hat, ist es wahrscheinlich, daß Lukas andere Überlieferungsstücke verwendet, die von der Jungfrauengeburt nicht sprechen. Er verweist auf Luk. 2. Bekanntlich ist in der Weihnachtsgeschichte von der Jungfrauengeburt nicht die Rede. Aber auch in Luk. 1 kann – wieder nach der Analyse von Martin Dibelius – vermutet werden, daß der Satz in V. 27 »… die vertraut war einem Manne mit Namen Joseph aus dem Hause Davids …« ein Einschub ist, daß also ursprünglich in der Verkündigungsperikope von Joseph nicht die Rede gewesen sei, sondern nur von Maria. Daran schließt sich die Überlegung, daß die Josephstradition erst später der Tradition der Jungfrau Maria zugeordnet worden sei. Ich halte das für durchaus erwägenswert und denkbar.
Martin Dibelius weist weiter darauf hin, daß sich in Luk. 1, 31 eine wortwörtliche Anlehnung an den griechischen (Septuaginta-) Text von Jes. 7,14 findet, an das Wort, das Luther übersetzt: »Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären…«, und weist von daher die Meinung anderer Forscher zurück, als sei die wunderbare Empfängnis der Jungfrau Maria selber ein erst später hinzugekommener Einschub aus hellenistischer Denkweise.
Daß es also verschiedene Überlieferungen und Ausprägungen in der Heiligen Schrift gibt, daß die Schriftsteller solche Überlieferungen zueinandergefügt haben, da sich darin die denkende Verarbeitung des empfangenen Glaubensgutes ausdrückt, all das wird ernsthafte theologische Arbeit nicht bestreiten, sondern vielmehr darin gerade die geschichtlich-wachstümliche Art rechten Erkennens und Bekennens niedergelegt finden. Das Bekenntnis ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist in anbetender Liebe gewachsen, je mehr und mehr in allerlei Erkenntnis und Erfahrung. Bis heute ist das so geblieben. Wenn immer ein Bekenntnis nötig wurde, wuchs es in leidensbereiter Liebe und seelsorgerlicher Verantwortung dort, wo eine Verkürzung der in Jesus Christus gegebenen unaussprechlichen Gabe drohte. Nicht anders ist die in Luk. 1 vorliegende Botschaft zu verstehen. Sie wurde zuerst gepredigt und geglaubt, dann literarisch niedergelegt und mit anderen Überlieferungen verbunden. In ihr begegnet uns eine der Ausprägungen, in denen das Geheimnis der Person Jesu unter der Frage »Wer bist du?« zutiefst erfaßt und glaubend bekannt wurde: Er ist in unvergleichlicher Weise ganz von Gott gekommen als der Sohn des Höchsten. Das >Wie< der göttlichen Erzeugung bleibt völlig beiseite. Wer es ist, der hier handelt, nicht als dunkles Rätsel, sondern durch sein helles, lebenschaffendes Wort, das steht im Mittelpunkt. Gott ist am Werk. Als sein Werk empfängt Maria das Kind, dessen rettender Name hier — erstmals bei Lukas — in kaum zu überhörendem Jubel genannt wird. Der diesen Namen trägt, ist nicht nur ein in besonderer Weise von Gott begabter oder entflammter Mensch oder etwa einer, in dem Gottes Allgegenwart sich besonders klar kundtut — wie fern sind solche Vorstellungen der neutestamentlichen Botschaft — nein, in Jesus geschieht, was der Dichter sagt: »Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht…« Guardini sagt:» Denken allein kommt hier nicht weiter; ein Freund hat mir aber einmal ein Wort gesagt, durch das ich mehr verstanden habe, als durch alles bloße >Denken<. Wir sprachen über Fragen dieser Art, da meinte er: >Die Liebe tut solche Dinge< … Keins der großen Dinge im Menschenleben ist aus bloßem Denken entsprungen; alle aus dem Herzen und seiner Liebe. Die Liebe aber hat ihr eigenes Warum und Wozu — freilich muß man dafür offen sein, sonst versteht man nichts.«
Über den Ort und die Richtung, in der dieses Bekenntnis der Gemeinde das Geheimnis der Person Jesu wahrte und bezeugte, wird im Folgenden die Rede sein.
c) Matthäus 1, 18—25
Matthäussetzt die in Luk. 1 enthaltene Botschaft bereits als bekannt voraus. Ihr wird, so kann man zwischen den Zeilen lesen, offenbar widersprochen. Zweifel und Kritik haben diese Botschaft also nicht erst von seiten des modernen Menschen umgeben. Der Widerspruch der Vernunft gehört von Anfang an dazu. Er begleitet die Bekenntnisbildung gerade an diesem Punkt von Anbeginn an. Auf solchen Widerspruch nimmt Matthäus Bezug. »Nicht das Wunder steht im Mittelpunkt, sondern seine Rechtfertigung gegenüber entstellender Mißdeutung.«Eine solche apologetische Linie gehört von jeher wesenhaft zur Dogmenbildung hinzu, einfach deshalb, weil diese von jener auf Widerspruch stieß. Diese Apologetik sollte man nicht von vornherein verdächtigen oder ablehnen. Sie will nichts beweisen — auch nicht durch die meist irreführend >Schriftbeweis< genannten Zitate aus dem Alten Testament, wie hier Jes. 7, 14 —, sondern sie will gegenüber der unerleuchteten Vernunft bezeugen, was Gott tut, und zwar in Erfüllung der Schrift. Wichtiger als die Frage nach dem Für und Wider der Apologetik ist die Frage, gegen wen sie sich im jeweiligen Falle richten. Dazu werden wir hernach weitere Erwägungen anstellen.
Für Matthäus ist die Josephstradition bereits unlösbar mit der Überlieferung von Maria verbunden. Warum wurde diese Tradition — vorausgesetzt, daß sie, wie oben erwogen, eine zunächst selbständige war — überhaupt der anderen von der Jungfrau Maria derart zugeordnet, daß von einer regelrechten Verschmelzung gesprochen werden kann? Hier wird behauptet, die Josephstradition wisse nicht oder noch nicht von der jungfräulichen Geburt Jesu. Von daher schließt man darauf, daß sie älter sei, die andere also, die uns in Luk. 1, 26 ff. begegnet, eine erst später hinzugekommene Bildung der Gemeinde sei«. Dann, stünde also am Anfang der Überlieferung das Elternpaar Joseph und Maria, und erst hernach sei aus Joseph der Pflegevater gemacht worden. Wenn dem so wäre, könnten wir unsere Untersuchung hier abbrechen. Nur ist zu sagen, daß dann nicht weniger leichte Fragen unbeantwortet bleiben.
Zunächst die allgemeine Frage: Genügt denn das Verschweigen einer bestimmten Begebenheit, um schlüssig zu behaupten, diese sei nicht bekannt? Das sogenannte >argumentum e silentio< widerspricht bereits allen Gesetzen der Logik und kann infolgedessen keineswegs als brauchbar bei den hier zur Untersuchung stehenden Sachverhalten angesehen werden.
Sodann die Frage: Warum wird denn die so anstößige Botschaft von der göttlichen Erzeugung Jesu, wenn dieser Anstoß ein erst hinzugekommener ist, nicht irgendwo in den Schriften des Neuen Testaments ausdrücklich als nicht unbedingt zugehörig genannt? Das Schweigen anderer Schriftsteller des N. T. — von Paulus und Johannes wäre noch zu reden sein —, so z. B. des Markus, ist doch als angebliches Zeugnis dafür, daß er dieses Dogma nicht gekannt habe, einfach zu wenig.
Warum ferner die auffallende Erwähnung Marias und die ebenso auffallende Nichterwähnung Josephs in den Evangelien?Wenn dieselben mit frühem Tod des Joseph zusammenhängen sollten, warum wird dieses dann verschwiegen?
Viel einleuchtender erscheint als Begründung für die genannte Verschmelzung der Marien- mit der Josephstradition Schlatters Deutung: »Das Wunder sollte in der Stille bleiben und dadurch gegen die ungläubigen Lästerungen der Menschen geschützt…« Die Verlobung der Maria mit Joseph geschah, damit Gottes Wunder in der Stille bliebe. Die Verborgenheit Jesu, die Verborgenheit aber auch der Wunder Gottes ist ein in den evangelischen Berichten immer wiederkehrender Zug. »Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen« (Jes. 42, 2). Der Verborgenste aller Verborgenen war der Erlöser. Im überdeutlichen Unterschied zu anderen religiösen Berichten und Legenden wird in den Erzählungen der Evangelisten diese Verborgenheit Jesu festgehalten. Sie widerspricht unserem menschlichen Begehren. Wir wollen blenden, anstatt still zu leuchten. Er ging in die Niedrigkeit und Unscheinbarkeit eines gewöhnlichen Menschenlebens hinein; darin liegt seine Erniedrigung, daß Er selbst, dessen Anfang bei Gott ist und der sein irdisches Leben durch den Geist empfangen hat, ganz bei uns ist. »Matthäus schließt das Evangelium mit der Zusage Jesu >Ich bin alle Tage bei euch<. Wir sollen die Gabe der göttlichen Gnade darin erkennen, daß Jesus bei uns ist. Diesem Ende entspricht der Anfang: Schon die Weise seiner Geburt macht offenbar, daß er nicht erst im Verlauf seines Lebens einzelne Gaben von oben empfing, sondern selbst die eine große Gabe Gottes ist, durch die seine Gnade zu uns kommt.«
Man kann diese Gabe Gottes, die Er selbst ist, nicht bewahren und bezeugen, sondern man setzt sie aufs Spiel, wenn man um der Niedrigkeit, Um der ganzen Menschheit willen, im Widerspruch jedenfalls zu Lukas a und Matthäus 1, Jesus als das Kind irdischer Eltern wie andere auch ansehen will. Es ist auch nicht nötig, auf diese Weise die wahre Menschheit Jesu sichern zu wollen. »Damit, daß Jesus schon den Anfang seines Lebens durch den Geist empfangen hat, ist von seiner Menschheit nichts abgebrochen. Ein menschliches Kindlein wurde im Schoß der Maria erzeugt; erzeugt wurde es aber durch den Geist. Deshalb war es freilich ein neuer Mensch, vom Bösen geschieden, frei von Befleckung, mit Gott geeint.« Daß Er, der vom Vater kam, nun in die Verborgenheit und Unscheinbarkeit eines Menschen geht, der gehalten wird für den Sohn Josephs, liegt im Vollzug seines Auftrages begründet, hinabzusteigen, sich zu erniedrigen und so der Erlöser der Welt zu werden. Die Verborgenheit der Wunder Gottes entspricht diesem Weg der Erniedrigung zuinnerst. Das hat die Vernunft, die hoch hinaus will, nie verstanden und rätselt deshalb darüber, warum von dem Wunder am Anfang des Lebens Jesu forthin im Neuen Testament geschwiegen werde.
d) Die Stammbäume — Matth. 1, 1 ff. und Luk. 3,23 ff.
Die Stammbäume Jesu sind, wie jeder unbefangene und nachdenkliche Leser auch ohne gelehrsames Rüstzeug feststellen kann, auf Joseph bezogen (Matth. 1,16 und Luk. 3, 23). Die Beziehung zu Maria fehlt bei Lukas überhaupt und ist bei Matthäus offensichtlich und leicht erkennbar nachträglich hergestellt. Man sollte keine Mühe darauf verwenden, das irgendwie bestreiten oder widerlegen zu wollen. Das ist so. Man kann es aus den Textvariariten außerdem noch besonders deutlich erschließen. Der syrische Text enthält zu Matth. 1, 16 offenkundig die ursprüngliche Lesart, aus der hervorgeht, daß hier der Stammbaum Josephs gegeben wird. Aber man darf dann, wenn man den syrischen Text zum Vergleich hinzuzieht, nicht übersehen, daß gerade auch er in ganz unbefangener Weise im weiteren (Matth. 1, 18. 20.23) von der Jungfrauengeburt spricht, obwohl er in V. 16 den Stammbaum auf Joseph bezogen hatte.
Hier taucht das Problem auf, was diese Stammbäume überhaupt sollen, wenn sie auf Joseph bezogen sind. Sie leisten dann doch gerade das nicht, was sie eigentlich leisten müßten, nämlich die Abstammung des Messias darzutun, wenn denn der Messias von Maria geboren, nicht aber Kind des Joseph ist.
Nun darf man wohl annehmen, daß dies den neutestamentlichen Schriftstellern auch nicht entgangen sein wird. Trotzdem bringen Matthäus und Lukas, jeder auf seine Weise, diesen Josephs-Stammbaum. Warum? Versteht man ihn als Aufweis biologischer Abstammung, dann müßte man freilich in der Bezeugung und Gestalt desselben ein Zeugnis natürlicher Abstammung Jesu von Joseph erblicken. Die zugefügte Beziehung zu Maria wäre dann ein Versuch der Angleichung an die nachträglich hinzugekommene — also fremde — Anschauung, daß Jesus nicht von Joseph abstamme. Ob die Evangelisten dann nicht einfacher und überzeugender die Stammbäume gleich weggelassen hätten?
Wichtiger als solche Mutmaßung erscheint allerdings die Frage, ob dem Neuen Testament das biologische Verständnis der Abstammung überhaupt naheliegt. Dagegen spricht zunächst die merkwürdig verschiedene Gestalt der Glieder beider Stammbäume. Dagegen spricht, daß der Begriff der Abstammung nach alttestamentlicher Anschauung durchaus nicht im modernen biologischen Sinne verstanden worden sein dürfte. K. Barthstellt hier m. E. mit Recht die Frage: »Könnten die Evangelisten… nicht dies sagen wollen: Jesus ist zwar nicht der leibliche, wohl aber der eheliche, d. h. der auf Grund von Adoption in das Geschlechtsregister eingetragene Sohn Josephs und also Davids? Die sonstigen Probleme dieser Stammbäume zeigen, daß ihre Verfasser den Begriff der Deszendenz, alttestamentlicher Anschauung entsprechend, unter anderen Gesichtspunkten verstanden haben als wir…«
Dagegen wendet sich v. Campenhausenmit der Bemerkung: »Die nachträgliche Erklärung, die Stammbäume hätten nur eine >rechtliche< und nicht die physische Abkunft Jesu sichern und beweisen sollen, hilft nicht weiter. Sie ist eine reine Notauskunft, die durch gar nichts nahegelegt wird.«
Es mag dem Leser überlassen bleiben, hier diese beiden einander widersprechenden Aussagen, nämlich die Frage Karl Barths und die Beurteilung v. Campenhausens, vergleichend zu bewerten.
M. E. dürfte es schwer halten, dem Neuen Testament hier und anderswo moderne biologische, d. h. doch aber vorrangig an der Wie-Frage interessierte Denkweise nachzuweisen. Ist das aber so, dann bleibt doch gar nichts anderes übrig, als unter Absehen von moderner biologischer Denkweise zu fragen, was sich die Evangelisten bei ihrer Einarbeitung der Josephsstammbäume wohl gedacht haben.
Schlatterüberschreibt seine Erklärung der Stelle Matth. 1, 18—25: »Die Einpflanzung Jesu in das Geschlecht Davids« und bringt darin eben das zum Ausdruck, was sowohl die Zusammenschau der Marien- und Josephsüberlieferung, als auch was die Stammbäume sagen wollen. »So hatte nun das Kindlein (sc. im Urteil der Umwelt) Vater und Mutter und war in das Haus Davids eingepflanzt.«
e) Paulus
Paulus spricht nirgends ausdrücklich von der Jungfrauengeburt. Daß solches Schweigen nicht bedeuten muß, daß er die Jungfrauengeburt nicht kennt oder gar bestreitet, wurde bereits oben gesagt. Im einzelnen sind folgende beiden Stellen zu bedenken:
Römer 1, 3 f. spricht von dein »Sohn, geworden aus dem Samen Davids nach dem Fleisch«. Durch seine Geburt wurde der Sohn Gottes in das vergängliche Menschsein mit hineingestellt, wurde er der >Sohn Gottes in Schwachheit<, um an unserer Statt zu leiden. Von der Jungfrauengeburt ist nicht die Rede. Das ist auch nicht nötig. Genug, daß es hier heißt: es ist der Sohn, der kam. Und dies sagt Paulus an vielen Stellen immer wieder.
In Vers 4 wird nicht gesagt, daß Jesus zum Sohn Gottes erst durch die Auferstehung von den Toten gemacht, eingesetzt worden sei. Durch die Auferstehung wurde er vielmehr zum >Sohn Gottes in Kraft<. Ein Gegensatz zum Bekenntnis des Lukas wird aus dieser Aussage nicht konstruiert werden können.
Gal. 4, 4 f.ist erheblich umstrittener. Man sagt, hier habe Paulus ausdrücklich nicht von einer >Jungfrau<, sondern von einem >Weibe< geredet. Indessen muß sogar v. Campenhausen gegenüber dem nicht | seltenen Argument, darin sei eine eindeutige Absage an die Jungfrauengeburt zu sehen, sagen: »Sicher stellt der vielgequälte Text von Gal. 4, 4, allein für sich genommen, kein eindeutiges Zeugnis gegen die Jungfrauengeburt dar… Das >Weib< bedeutet in solchem Zusammenhang nicht den Gegensatz zur >Jungfrau<, sondern ganz allgemein das Geschlechtswesen, von dem zu stammen das Kennzeichen aller Menschen ist.«
Daß Jesus den Menschen in jeder Hinsicht wirklich gleich sei, so argumentiert v. Campenhausen allerdings dann weiter, sei die Aussage, auf die es dem Paulus mit dem >geboren von einem Weibe< vor allem ankomme. Ähnlich sagt Martin Dibelius: »Die Stelle setzt deutlich voraus, daß Christus im selben Sinn und im selben Maß ein Weibgeborener ist wie alle Menschen.«
Man kann diese Meinung heute oft hören: Christus sei eben völlig und gänzlich Mensch, nur Mensch gewesen, und dies sei Inhalt der Botschaft, die Niedrigkeit eines Menschen ganz wie wir, darum >natürlich< auch von irdischen Eltern geboren. Diese Niedrigkeit Jesu sei das Ärgernis, das es zu überwinden gelte. Hier ist jedoch in aller Entschiedenheit zu widersprechen. Zwar sagt zweifellos Paulus und mit ihm das ganze Neue Testament, daß Jesus wahrer Mensch und darin unser Bruder wurde, >arm um unsertwillen<, aber eben, daß er es wurde, nicht einfach war wie wir. Nicht seine Niedrigkeit, sondern seine Erniedrigung ist das Ärgernis! Nicht das bloße Menschsein Jesu, sondern die Menschwerdung Jesu wird, wie an vielen anderen Stellen des N. T., so auch von Paulus — Gal. 4, 4 f. — verkündet. »Als die Fülle der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geworden aus einer Frau, geworden unter das Gesetz, damit er die unter dem Gesetz Stehenden loskaufte...«
Dieser Loskauf, diese Befreiung von der Knechtschaft des Gesetzes, um die es dem Paulus hier entscheidend zu tun ist, wird aber gerade nicht dadurch ermöglicht, daß Jesus >nur Mensch<, nichts als ein Mensch ist, sondern daß er als der Sohn Mensch wurde. Nicht durch ein in allen Stücken ganz menschliches Dasein geschah Erlösung, nicht durch das Verhalten Jesu, sondern durch das Opfer seiner selbst, den der Vater nicht verschonte, sondern dahingab zum teuren Lösegeld. Diese Botschaft des Paulus, die ihn in Gal. 4 wie ansonsten bestimmt, bedeutet keinerlei Gegensatz zur Botschaft von der göttlichen Erzeugung Jesu. Will man einen solchen behaupten, müßte man hier (und an vielen anderen Stellen) das »sandte Gott seinen Sohn« streichen. Man nähme dem Evangelium des Paulus damit seinen Inhalt.
f) Johannes
Die johanneische Theologiekann auf Grund ihrer nicht ausdrücklichen Erwähnung der Jungfrauengeburt ebensowenig wie Paulus zur Ablehnung des Dogmas herangezogen werden. Die Aussage des Philippus in Joh. 1, 45 »Jesus, Josephs Sohn von Nazareth« ist nicht als Aussage des Evangelisten gegen die göttliche Sohnschaft, sondern als Ausdruck für die Verborgenheit Jesu als des Sohnes — nicht Josephs, sondern Gottes — zu werten. Als Sohn Josephs galt er natürlich seinen Zeitgenossen (vgl. Joh. 6, 42). Auch für Johannes ist, ebenso wie für Paulus, die Verborgenheit Jesu (so wohl zutreffender ausgedrückt als mit dem Begriff >Niedrigkeit<) als des fleischgewordenen Wortes nicht Ausgangspunkt, Herkunft, sondern vielmehr Weg, Etappe, Durchgangsstation auf dem Leidensweg seiner Erniedrigung. Und diese Erniedrigung liegt nicht in dem kleinen Stück Wegs des Mannes von Nazareth zum Tod am Galgen. Die Erniedrigung ist der Weg von der ewigen Herrlichkeit beim Vater zu uns »ins Fleisch«. Für diesen Weg in die Tiefe hat Johannes immer wieder die Ausdrücke »gekommen«, »vom Vater gesandt«. »Ihr seid von untenher, ich bin von obenher« (Joh. 8, 23). Wenn v. Campenhausen meint, Johannes habe die niedere Wirklichkeit der Herkunft Jesu (im Gegensatz zu Matthäus und Lukas) nicht fahrengelassen, sondern ihr gerade theologische Bedeutung gegeben. so ist dem entgegenzuhalten, daß es Johannes nicht um Jesu irdische Herkunft, um seine Biographie oder Biologie geht, sondern um seinen Ursprung. Er hat seinen Ursprung beim Vater. D. h. weder seine Taufe noch seine Auferstehung machen ihn erst zu dem, der er ist. Beide zeigen auf den Ursprung Jesu hin. Und der Ursprung Jesu ist Gottes schöpferische Tat. Das Johannesevangelium steht darin in keinem inhaltlichen Gegensatz zu Matthäus oder Lukas. Es nötigt in keiner Weise zur Bestreitung des Dogmas von der göttlichen Erzeugung Jesu und seiner Geburt von der Jungfrau, auch wenn es diese nicht, wie Lukas und Matthäus, selber bezeugt.
g) Zusammenfassung
Die Texte des Neuen Testamentes enthalten keine in sich geschlossene, systematisch abgerundete Dogmatik. Sie geben, jeder auf seine Art, Zeugnis von dem einen Namen, der über alle Namen ist. Sie nehmen uns die Frage nach dem in ihnen enthaltenen Bekenntnis nicht ab, sondern sie geben sie uns auf. Sie sind deshalb auch nicht richtig verstanden, wenn man ihnen ein bekenntnisloses, »undogmatisches Christentum« entnehmen will. Nicht religiöse Gedanken werden in ihnen bezeugt, sondern Gottes rettende Tat. Bei dieser aber geht es auf Leben und Tod, um Himmel und Hölle, nicht um unverbindliche Ideen oder Gefühle. Darum ist das Bekenntnis, zu dem die Botschaft anleitet, für den Weg der Gemeinde unerläßlich.
Die exegetischen Überlegungen an Hand der in Frage kommenden Texte haben gezeigt, daß die Bekenntnisbildung ein in den Einzelheiten oft von Fragen umgebener Prozeß ist. Das ist nicht nur bei dem uns beschäftigenden Thema so, sondern mutatis mutandis auch bei anderen Bekenntnisaussagen, zu denen die Kirche im Laufe der Zeiten gekommen ist. Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass die exegetische Begründung der Lehraussage von der Jungfrauengeburt nicht so einhellig ist, wie man wohl wünschen möchte. Immerhin, an der eindeutigen Bezeugung in Luk. 1 und Matth. 1 wird man nicht zweifeln können. Und im übrigen haben die exegetischen Überlegungen zumindest das gezeigt, daß die Bestreitung des Dogmas von der Exegese her ebenso unmöglich ist, wie eine problemlose Bejahung. Die Entscheidung wird hier nicht auf dem Felde der Exegese allein fallen können. Sie müßte sonst in der Schwebe bleiben.
Indessen stellen uns die z. T. großen Differenzen in der Beurteilung einzelner Texte grundsätzlich vor die Frage nach dem Maßstab, der die Exegese zu bestimmen hat. Hier drängen sich Fragen auf, die nicht nur bei unserem Thema von Bedeutung sind:
Ist die Forderung nach einhelliger Bezeugung einer Lehraussage dem Wesen und Wollen der neutestamentlichen Texte angemessen? Bedeutet Schweigen gleich viel wie Nicht-Kennen? Ist das der Vernunft Unanstößigere im Falle der in der Bibel bezeugten Offenbarung Gottes so ohne weiteres als das Frühere oder gar Ursprüngliche anzunehmen? Grundsätzlich gefragt: Sind die Kategorien der Priorität, der Analogie, der Kausalität, die aus modernem wissenschaftlichen Denken gebräuchlich sind, in der Beurteilung biblischer Texte angemessen, ausreichend? — oder womöglich auch irreführend? Ist bei ihrer Anwendung in der biblischen Exegese nicht zumindest Vorsicht geboten, und zwar aus wissenschaftlicher Verantwortung, die uns nötigt, den Zusammenhang von Methode und Gegenstand, ihre gegenseitige Beeinflussung zu beachten? Und schließlich: Es muß ernstlich darauf hingewiesen und erkannt werden, daß vorwissenschaftliche Entscheidungen eine tief in die theologische Arbeit hineinreichende Rolle spielen. Das »reine« Denken, diese die Wissenschaft seit Descartes faszinierende und zu unerhörten Fortschritten treibende Forderung, ist eine Illusion. Wir sind, um ein Wort Eugen Rosenstock-Huessys aufzunehmen, »unreine Denker«. Nicht innerhalb wissenschaftlicher Arbeit, sondern ihr vorausgehend werden die entscheidenden Weichen gestellt, wird sich die Art und Weise entscheiden, in der wissenschaftliche Arbeit getrieben wird und sich auswirkt.
Wo die Vernunft noch nicht ent-setzt, entthront ist, wird sich die Wie-Frage bei aller sachlichen Korrektheit doch immer in den Vordergrund spielen und die Wer-Frage verdrängen, die erst die erschrockene Vernunft zu stellen imstande ist. Nicht abgesetzt, ausgeschaltet, sondern gefangengenommen zu werden unter den Gehorsam Christi, das ist es, was der Vernunft nottut. So ist hier zu fragen, ob die Geringachtung der »bloßen Apologetik«, ob die vom bloßen Menschsein Jesu ausgehende und überzeugte Kritik des Dogmas nicht einer »Pathologie des-theologischen Denkens« gleichkommt, einer Krankheitserscheinung, deren Unheimlichkeit darin besteht, daß sie dem Erkrankten nicht bewußt wird, weil er von seinen in sich geschlossenen Denkvoraussetzungen eingeschlossen ist wie in einer Taucherglocke. Nicht diese Denkvoraussetzungen sind das Gefährliche — sie könnten in dienender Rolle ihre Bedeutung haben und behalten! —, sondern der Glaube an sie, der selbst dogmatischen Charakter hat. So steht bei einer scheinbar voraussetzungslosen Dogmenanalyse in Wahrheit nicht Dogmenkritik gegen Dogma, sondern vielmehr Dogma gegen Dogma.»Theologie ist mehr als Wissenschaft« (Paul Schütz).
2. Dogmengeschichtliche Fragen
a) Die Hypothese v. Harnacks
In dem großen dogmengeschichtlichen Werk Adolf v. Harnacks (Lehrbuch der Dogmengeschichte,1931)wird das Dogma von der Jungfrauengeburt damit erklärt, daß »der Glaube, daß Jesus von einer Jungfrau geboren sei, aus Jes. 7, 14 entstanden sei.« Weil dort die Jungfrauengeburt geweissagt worden ist, habe man geglaubt, Jesus müsse von einer Jungfrau geboren worden sein. So wäre die Dogmenbildung an dieser Stelle zu begreifen als ein Postulat: Es muß so gewesen sein, denn es ist ja geweissagt. Eine solche Theorie trägt freilich die Kritik am Dogma bereits in sich.
Verbreiteter und schwerwiegender ist eine andere Erklärung des Dogmas von der Jungfrauengeburt: die seiner Herkunft aus religions-geschichtlichen Parallelen.
b) Wie sind die religionsgeschichtlichen Parallelen zu deuten?
Es ist ein bekanntes Ergebnis historischer Forschung, daß es im hellenistischen Judentum, bei Griechen, Ägyptern, kurz: in der Antike überhaupt ganz ähnliche Vorstellungen gegeben hat. Lietzmannsagt: »Jedenfalls ist der Gedanke der gottgewirkten Geburt von einer Jungfrau der heidnischen Welt jener Tage wohl vertraut.« M. Dibelius nimmt an, daß auf dem Wege über das hellenistische Judentum, verbunden mit Berichten über Heilungen unfruchtbarer Frauen, solche Gedanken sogar bei Paulus eine Rolle spielten (Gal. 4, 22—30). Paulus habe in Analogie zum hellenistischen Judentum die Geburt Isaaks von der Sara, aber auch die Mutterschaft der Lea, der Rebekka und der Zippora unter Ausschaltung des menschlichen Vaters verstanden. …
Bei dieser Art, die religionsgeschichtlichen Parallelen zu behandeln, bleibt die Berücksichtigung derjenigen Wirklichkeit völlig außer Betracht, die allerdings nicht allein mit den Erkenntnismitteln menschlichen Denkens zu erfassen ist, deren Spuren indessen diesem Denken wohl auffallen könnten: der Wirklichkeit Satans.
Was hat der Satan mit religionsgeschichtlichen Parallelen zu tun?
Zur Erhellung dieser Frage möchte ich zunächst auf einige bemerkenswerte Äußerungen hinweisen, die sich in dem bekannt gewordenen Buch Eduard Nordens»Die Geburt des Kindes« finden. In diesem Buch, das der berühmten 4. Ekloge Vergils mit ihrer fast christlich erscheinenden Weissagung der Geburt des Weltherrschers als eines göttlichen Kindes aus dem Jahre 41 oder 40 vor Christus nachgeht, weist Norden des öfteren hin auf astrologische Einflüsse innerhalb des religiösen Quellgebietes des Orients, dem diese Weissagung zuzuordnen ist. Vergil insbesondere sei mit der Lektüre astrologischer Schriften vertraut gewesen. Die Datierung der Ekloge habe astrologischen Hintergrund gehabt. Auch Norden sieht die Wurzel des Gedankens göttlicher Erzeugung in Ägypten. Daß es sich bei astrologisch fundierten Weissagungen bis hin zu denen der Sybillen im Rom vor der Zeitenwende — biblisch gesprochen — um falsche Prophetie handeln könne, darauf kommt E. Norden nicht, da ihm die Betrachtungsweise von der Bibel her fernliegt.
Ein sachlich wie seelsorgerlich gleichermaßen orientierter Kenner dieser Dinge, Kurt E. Koch,sagt: »Vom biblischen Denken aus sind gewichtigere Argumente zur Frage der Astrologie beizubringen als vom Ideengut der Aufklärung, das mit seiner Negation der magischen Wirklichkeit das Anliegen der Astrologie total verzeichnet…« (Seelsorge u. Okkultismus, S.76). Vom biblischen Denken aus wird man jedoch bei aus Ägypten kommenden religionsgeschichtlichen Parallelen schwerlich an jener in 2. Mose 7 berichteten Begebenheit vorübergehen können, wo die Weisen und Zauberer vor Pharao gefordert werden, und »sie taten auch also« wie Mose und Aaron, d. h. sie ahmten das Tun der Boten Gottes nach. Das ist die erste »religionsgeschichtliche Parallele«, die uns ausdrücklich in der Bibel bezeugt wird: Eine Nachahmung des göttlichen Tuns aus widergöttlichem Ursprung. Der Satan ist der Affe Gottes von jeher.
Auf der Grundlage dieser Überlegungen gewinnen die Zeugnisse frühchristlicher Literatur in ihrer Sicht der religionsgeschichtlichen Parallelen besonderes Gewicht.
Justin,der bekannteste der griechischen Apologeten gibt um 150 in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon, als dieser auf die Parallelen zur Jungfrauengeburt in heidnischer Religiosität hinweist folgende bemerkenswerte Antwort: »Wisse nun wohl, Tryphon, durch das, was der Teufel in trügerischer Nachahmung unter den Griechen erzählen ließ, durch das, was er in gleicher Weise durch die ägyptischen Zauberer und durch diefalschen Propheten zur Zeit des Elias tat, istmein aus der Schrift geschöpftes Wissen und mein Vertrauen auf die Schrift befestigt worden.« Damit wird in gut biblischer Weise die Wirklichkeit gottfeindlicher Mächte gesehen und ihr Wirken darin erkannt, daß sie durch vorweggenommene Nachahmung in Gestalt heidnischer Mythen die Wirklichkeit der göttlichen Erlösungstat in Mißkredit bringen wollen.
Der gleiche Gedanke findet sich wenige Jahrzehnte später – um 197 – bei dem bedeutendsten lateinischen Apologeten, Tertullian,der gleichfalls dem Wirken der Dämonen zuschreibt, daß Zweifel an Gottes Heilstaten überhandnehmen. »Welche Weise könnte ihnen mehr am Herzen liegen, als daß sie den Menschen vom Gedanken an die wahre Gottheit abbringen durch falsche Gaukeleien.« … »Auch die Ratschlüsse Gottes haben sie damals aufgefangen, als die Propheten sie allem Volk verkündeten; … und suchen es der göttlichen Weisheit gleichzutun, indem sie die Weissagung stehlen« … »Alle Mittel gegen die Wahrheit sind auf der Wahrheit selbst aufgebaut, und diese Rivalität bewirken die Geister des Irrtums. Von ihnen sind derartige Verfälschungen der Heilslehre aufgebracht worden, von ihnen auch manche dichterischen Mythen eingegeben, die durch ihre Ähnlichkeit den Glauben an die Wahrheit erschüttern oder vielmehr ihn sich selber verschaffen sollten, so daß man deshalb den Christen nicht glauben zu müssen meint.«
Diese Zeugnisse mögen für sich selber sprechen. Daß sie für eine die Wirklichkeit des Satan übersehende dogmengeschichtliche Forschung seltsamen Hirngespinsten gleichen, ist nicht sehr verwunderlich. …
Paul Schützschreibt in »Parusia«: »Wenn es wirklich eine Macht der Finsternis gibt, sollte dann nicht die Theologie der Ort ihres Angriffes sein, hinter dem ihre sehr durchsichtigen Umtriebe im politischen Raum harmlos erscheinen? Ein wie großer Theologe der Versucher ist, hat er vor Christus selbst auf dem Berge der Versuchung bewiesen. …Die Frage nach der Mitwirkung des Teufels in der Theologie gehört zu den fatalen Grundfragen, die im Tor der Theologie auf Wache zu stehen haben …«
Man wird deshalb die Frage der religionsgeschichtlichen Parallelen im Blick auf die Dogmenbildung nicht befriedigend lösen, wenn man nicht diese Wirklichkeit in den Blick bekommt, den alt bösen Feind.
c) Die Dogmenbildung geographisch gesehen
Zwischen den Schriften des N. T. und Justin steht als weiterer ausdrücklicher Zeuge der Jungfrauengeburt in der frühen Christenheit Ignatius, der Bischof von Antiochien (um 110). Die Jungfrauengeburt gehört ins Zentrum seiner Überzeugungen. Sie ist recht eigentlich das Heilszeichen des Christusglaubens.
Auch er sieht die Lehre von der Jungfrauengeburt in bezug auf den Feind, zu dessen Überwindung der Herr Jesus Christus gekommen ist. Ignatius sagt: »Verborgen blieb dem Fürsten dieser Welt die Jungfrauschaft der Maria und ihr Gebären, gleichwie auch der Tod des Herrn: drei schreiende Geheimnisse, die in Gottes Stille vollbracht wurden.« …
Unter der eingangs bedachten Voraussetzung, daß die Lehrbildung nicht in griechischem Verständnis ein vollständiges Lehrsystem zum Ziel hatte, stellt sich uns damit die Frage, was es bedeutet, daß alle maßgeblichen Aussagen über die göttliche Erzeugung Jesu und seiner jungfräulichen Geburt von Lukas bis Justin auf judenchristlichem Gebiet, also höchstwahrscheinlich in der Auseinandersetzung mit dem Judenchristentum gebildet wurden. Die Judenchristen haben bis weit in das zweite Jahrhundert hinein die natürliche Geburt Jesu behauptet. Daß das Judentum selber mit der Botschaft einer göttlichen Erzeugung nichts anfangen konnte, ja daran den leidenschaftlichen Vorwurf der Gotteslästerung knüpft, bedarf keiner besonderen Begründung, wenn man an das Grundbekenntnis des Judentums denkt, wie es in 5. Mose 6, 4 formuliert ist. Von daher ist es erklärlich, daß sich in judenchristlichen Gemeinden der Widerspruch gegen die Botschaft, Jesus sei der Sohn des Höchsten, am hartnäckigsten gehalten hat. Und in dieser Richtung ist es höchstwahrscheinlich zuerst bekennend gesagt worden: Er ist der Sohn des lebendigen Gottes, nicht allgemein in der Weise, wie jeder Jude sich als Sohn Gottes verstehen konnte (vgl. 5. Mose 14, 1), sondern in einzigartiger, einmaliger Weise, wofür die Geburt aus der Jungfrau göttliches Zeichen ist. Und nur als der Sohn Gottes konnte er das tun, was keinem Menschen möglich ist. »Kann doch einen Bruder niemand erlösen noch ihn Gott versöhnen (denn es kostet zuviel, ihre Seele zu erlösen; man muß es anstehen lassen ewiglich)« (Ps. 49, 8 f.). Nur als der Sohn konnte er sein Volk retten von ihren Sünden (Matth. 1,21), uns loskaufen vom Fluch des Gesetzes (Gal. 3,13; 4,5). Diese Erlösung steht, in Richtung zu dem am Gesetz hängenden Judenchristen gesagt, aufs engste in Verbindung mit dem Bekenntnis von der Jungfrauengeburt. Von dem darin bezeugten Geheimnis her, das dem Paulus offenbart wurde, so daß ihm die Wer-Frage aufbrach »Wer bist du?«, von der Offenbarung des Sohnes Gottes her zerbricht das alttestamentlich-jüdische Verständnis des Gesetzes. Hier ist der Angelpunkt der gesamten Christologie, aber auch der paulinischen Rechtfertigungslehre, und damit der Theologie überhaupt. Beide haben ihre Wurzel in der Wer-Frage.
d) Der Bedeutungswandel in der weiteren Geschichte
Die weitere Geschichte des Lehrbegriffs von der Jungfrauengeburt in der alten Kirche nimmt nun eine Entwicklung, die zu tiefgehendem Wandel im Verständnis dieses Dogmas führt. Gleichsam als Katalysator dieser Entwicklung wirkt die Gnosis.
Antignostische Systematik bestimmt die theologische Gedankenbildung des Irenäus (um 185). Innerhalb seiner von enger Zueinanderordnung von A. T. und N. T. bestimmten sog. Rekapitulationstheorie, nach welcher Christus als der zweite Adam die durch den Sündenfall verdorbene Menschheit in seiner Person erneuert (vgl. Eph. 1, 10), gewinnt die Jungfrauengeburt besondere Bedeutung als das »Zeichen« für die Realität der Gegenwart Gottes im Menschen Jesus von Nazareth. An der Wirklichkeit dieser Vereinigung Gottes und des Menschen hängt die Erlösung. Nur dadurch konnte der Satan besiegt werden. Denn darum wurde der Logos Mensch und der Gottessohn Menschensohn, damit der Mensch, der sich dem Logos verband, die Kindschaft empfinge und Gottes Sohn würde.
Oder wie sonst sollte der Mensch sich Gott verbinden, wenn sich Gott nicht dem Menschen verbunden hätte? Es liegt dem Irenäus in Abwehr des gnostischen Doketismus wesentlich daran, die reale Geburt zu betonen.Jesus war >wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren<. Darin hat sich eine Schwerpunktverlagerung gegenüber der ursprünglichen Aussage begeben. In der Gesprächssituation mit dem Judenchristentum betrifft die Aussage von der göttlichen Erzeugung Jesu die Frage, wer dieser Jesus sei, nämlich der Sohn des Vaters, von obenher gekommen, im Unterschied zu uns, anders als wir. Nun, in der Abwehr der tödlichen Bedrohung durch gnostische >Vergeistigung<, wonach der Erlöser gar kein wirklicher Mensch gewesen sei, muß die andere Seite betont werden: er war ganz Mensch, in vollem Sinne menschlich geboren. Es mag damit zusammenhängen, daß die >Geburt< gegenüber der >Erzeugung<, von der allein in den biblischen Zeugnissen die Rede ist, nunmehr stärkeres Interesse findet. Damit kommt aber unvermeidlich die Wie-Frage stärker ins Spiel. Dies ist bei Irenäus bereits zu erkennen. Der typologische Vergleich der Erschaffung des ersten und des letzten Adam, beide aus >jungfräulicher< Substanz, dort der jungfräulichen Erde, hier des jungfräulichen Menschen, zeigt uns deutlich, wie die an sich ja bestimmende Wer-Frage von der Wie-Frage bedrängt und gefährdet wird.
Gnostische Denkweise ist es gleichfalls, die in der weiteren Entwicklung zu einem Eingang des Dogmas von der Jungfrauengeburt bei den judenchristlich geprägten Ebionitenführt (Ende des 2. Jahrhunderts). Hatten alle unmittelbar vom Judentum herkommenden Richtungen zu der Botschaft von einem Sohn des Höchsten in Opposition gestanden, so wird dieses an entscheidender Stelle zum christlichen Lehrgut gehörende Bekenntnis nun unter gnostischem Einfluß für judenchristliche Ohren annehmbar. Das dem Judentum so ärgerliche Paradox »Gott in einem Menschen« wird — wenn es doketisch interpretiert wird, praktisch aufgelöst. Christus ist danach durch Maria hindurchgefahren wie Wasser durch einen Kanal, ohne wirkliche Anzeichen des Menschseins an sich genommen zu haben. …
Indessen ist damit noch nicht die letzte Ausprägung des Dogmas von der Jungfrauengeburt erreicht. Mit dem Abklingen des Kampfes gegen die Gnosis bekommen asketisch-moralische Tendenzen mehr und mehr Gewicht. Hellenistische Anschauungen, wonach das leibliche Leben gegenüber dem geistigen als geringer angesehen wurde, haben sich im Ringen der Geister zunächst vorwiegend in gnostischen Bereichen angesiedelt. Das alttestamentlich-biblische Erbe, dem eine solche Disqualifizierung des Geschöpflichen fremd ist, wurde im Abwehrkampf gegen die Gnosis zwar gewahrt. Trotzdem ist — wie es oft in der Geschichte gegangen ist — der Sieg über die Gnosis begleitet gewesen von einer Überfremdung seitens des siegreich überwundenen Feindes. Diese Überfremdung tritt eben da ein, wo der Kampf abflaut. Nun dringen parallel zur Ausbreitung der christlichen Botschaft in alle Bereiche der alten Welt die negative Wertung der Geschlechtlichkeit ebenso wie das Ideal der Jungfräulichkeit ein in das Denken der alten Kirche und gewinnen zunehmender Einfluß auf das Verständnis und die weitere Ausprägung der christlichen Lehre. Aus der Christologie entfaltet sich, nicht nach der ihr eigenen, von der Wer-Frage bestimmten Aufgabe, sondern im Unterschied zu ihr, die Mariologie, an deren Anfang die Wie-Frage steht. Die Jungfräulichkeit der Maria, nicht die Person der Maria als solche, findet das erste Interesse. Dabei geht es natürlich weiterhin — dogmatisch ausgedrückt — um die Christologie, um die Person des Erlösers. Aber nun wird unter dem Einfluß der Wie-Frage um diese Person herum und an ihr vorbei der Blick auf Maria gerichtet. Das sogen. Protevangelium des Jakobus, die älteste uns überlieferte Marienlegende, um 300 aus älteren gnostischen Quellen geschrieben, beschäftigt sich in peinlicher Ausführlichkeit mit der Frage der Jungfräulichkeit der Maria, nicht nur vor, sondern auch während und nach der Geburt. Das sind gegenüber den biblischen Zeugnissen völlig neue, und der Sicht der Bibel widersprechende Gedankengänge.
In den Kämpfen um das christologische Dogma dagegen wird das Bekenntnis der Jungfrauengeburt gegenüber den Arianern nun wieder als Zeichen der wahren Gottheit Christi geltend gemacht. Es bekommt damit wieder eine der ursprünglichen Konzeption sehr nahestehende Deutung. Es bleibt hier, in der Entfaltung der Christologie des Konzils von Chalcedon, Werkzeug der Wer-Frage, wie überhaupt die Formeln des Chalcedonense mit ihren Aussagen das Geheimnis der Person Jesu Christi zwar mit griechisch-philosophischen Begriffen beschrieben, aber darin gerade die Wer-Frage als Frage der entsetzten Vernunft festgehalten haben, daß sie alles rationalistische In-den-Griff-Bekommen durch letzte Schärfe der Paradoxien grundsätzlich abschnitten.
Man könnte noch die Frage aufwerfen, ob die seit Ambrosius(Ende des 4. Jhdts.) im Abendland vorfindliche Verbindung des Dogmas von der Jungfrauengeburt mit dem Problem der Erbsünde nicht ganz wesentlich von dem Versuch bestimmt gewesen ist, die Wer-Frage gegenüber anderen wuchernden Themen wieder in den Vordergrund zu spielen, (was allerdings nicht hinreichend gelungen ist, sondern wohl erst in der Reformation des 16. Jahrhunderts wieder zu vollem Durchbruch kam). Geht es doch Ambrosius zwar nicht nur, aber doch hauptsächlich in der Bezeugung des Dogmas von der göttlichen Erzeugung und jungfräulichen Geburt Christi darum, daß Christus nicht >in Sünden empfangen<, vielmehr ganz sündlos sei. … Der Zusammenhang der Sündlosigkeit Christi zum Dogma von der Jungfrauengeburt liegt begründet im »Wer« des von Gott Erzeugten, nicht aber im »Wie« dieser Erzeugung und der jungfräulichen Geburt.
e) Zusammenfassung
Die Betrachtung der für unser Thema vorliegenden dogmengeschichtlichen Fragen führte uns zu dem Ergebnis, daß die Beurteilung der altkirchlichen Bekenntnisbildung als Hellenisierungsprozeß, als Abfall vom einfachen Evangelium, so pauschal nicht zu halten ist. Zweifellos spielen in diesem Prozeß je länger je mehr griechisch-hellenistische Denkformen und Begriffe eine Rolle. Aber nicht erst sie haben die Bekenntnisbildung ausgelöst. Vielmehr geschieht diese zuerst und an entscheidenden Punkten an der judenchristlichen Front. Da mußte bekennend formuliert werden. Da standen die ersten tödlichen Bedrohungen für die junge christliche Kirche auf, die zu lehrmäßiger Wegweisung zwangen. Hier begann die Entfaltung der Christologie, unter hartem Ringen und harten Scheidungen. In der Verwandtschaft ist die Rivalität oft die stärkste. Die Verwandtschaft zwischen Juden- und Christentum hat die erbittertsten Kämpfe gekostet in den ersten Jahrhunderten. …
Die altkirchliche Bekenntnisbildung behielt ihre Mitte, weil sie Anbetung der göttlichen Geheimnisse blieb. Sie behielt darin auch ihre tragende und bezeugende Kraft, weil sie, zwar begleitet von ungezähltem menschlichen Versagen, nie aber von dem Primatsanspruch eigenmächtiger menschlicher Erkenntnis bestimmt war. In ihr setzte sich göttliche Wahrheit mitten in der Stückwerkhaftigkeit menschlichen Nachdenkens durch. Dies gilt insbesondere für die Abschirmung gegen die in den sogen. religionsgeschichtlichen Parallelen heranbrandende Gewalt des widergöttlichen Heidentums. Hier bewies sich vollends der Glaube als der Sieg, der die Welt überwunden hat.
II. Die Wurzeln der Problematik im neuzeitlichen Einbruch philosophischen Denkens
1. Grundsätzliche Standortbestimmung
Es hat sich im Verlauf der von der wissenschaftlich-theologischen Forschung der letzten Jahrhunderte betriebenen Dogmenkritik in weiten Kreisen eingebürgert, die Bekenntnisbildung der Alten Kirche als eine Abfallbewegung zu kennzeichnen, die, von fremden philosophischen Kategorien bestimmt, das Evangelium zu einer christlichen Philosophie umgeformt und damit verfälscht habe. Das Wort des großen Dichters von dem Gemisch von >Irrtum und Gewalt<, das sich in der Kirchen- und Dogmengeschichte begeben habe, hat sich tief in die Gedankenwelt unseres Geschlechtes eingenistet. So wird die sich in der sogen. Zweinaturenlehre ausprägende altkirchliche Christologie, zu deren Entfaltung das Dogma von der Jungfrauengeburt wesentlich beigetragen hat, gar zu leicht als nicht mehr nachvollziehbar bezeichnet, als >historische Abnormität< als >allergrößtes Hindernis des Glaubens<. Hier liegen die Wurzeln einer Dogmenkritik, die sich durch ihren Ausgangspunkt das Verständnis des Dogmas selbst verbaut hat und deshalb im Dogma eine Verfälschung sehen zu müssen glaubt, anstatt die Verfälschung in der veränderten eigenen Sehweise zu erkennen. …
Auch in den Gefahren und Fehlern der altkirchlichen Christologie kann man esnoch erkennen: Sie hatte es mit dem Christus des Neuen Testamentes zu tun. Sie redete von ihm als von dem höchsten Herrn. Sie meinte Gott selber, den Schöpfer Himmels und der Erden. Sie war trotz ihrer Gefahren und Fehler gesund. Und darum ist der Vorwurf des Intellektualismus ihr gegenüber nicht angebracht. Weder Gott noch der Mensch, weder Christus noch das durch ihn geschaffte Heil, waren ihr in dem Sinn natürliche Größen, als daß sie ihr tatsächlich bloß der Gegenstand eines theoretischen Glaubens hätten sein können. Ihr Glaube ruhte ganz auf der Erkenntnis seines Gegenstandes. Sein Gegenstand hatte ja Sein. Er war also ein realistischer Glaube. Welchen Irrtümern immer diese Christologie zur Rechten und zur Linken ausgesetzt sein mochte, sie hat doch zweifellos das Geheimnis der Offenbarung gesehen und respektiert.
Es erscheint deshalb an der Zeit, daß deutlich gesagt wird: Der eigentliche Großangriff auf die christliche Botschaft, die eigentliche >Hellenisierung< des Evangeliums geschieht nicht in der alten Kirche, sondern sie geschieht in dem Einbruch des philosophischen Denkens in die Christenheit, der seit dreihundert Jahren im Gange ist. Hier ging die Mitte verloren, weil die Anbetung der göttlichen Geheimnisse als Ausgangspunkt theologischer Arbeit abgelöst wurde vom Anspruch der menschlichen Vernunft, in >eigenem Urteilsvermögen< das Kriterium für das christliche Dogma zu finden. Die daraus erwachsende Dogmenkritik stellt ihr eigenes Dogma der Kirche entgegen: das Dogma der autonomen Vernunft. Daß dieses Dogma religiösen Charakter hat gerade dort, wo es sich seiner alle religiösen Bindungen abwerfenden Mündigkeit freut, hätte eine christliche Theologie durchschauen und vollmächtig beantworten müssen. Es hat auch zu keiner Zeit an solchen Theologen gefehlt, die — wie Kähler die >Goethereligion< oder Schlatterdie Rolle Kants im theologischen Denken ihrer Gegenwart — prophetisch die Strömung ihrer Zeit durchschauten.
Wir stehen heute in der gleichen Aufgabe wie diese unsere theologischen Väter, freilich in einer Zeit, in der die Zersetzung eines seiner göttlichen Maßstäbe beraubten theologischen Denkens weiter fortgeschritten ist. Was vor Jahrzehnten noch nicht der Fall war, ist heute eingetreten: Die Wissenschaft steht allenthalben in einer bis an die tiefsten Fundamente reichenden Krise. Es fehlt der Maßstab, es fehlt der Auftraggeber. Wo aber diese fehlen, treten nach dem auch im geistigen Bereich geltenden Gesetz des leeren Raumes andere Mächte, freilich wie es deren Art ist: anonym und unerkannt. …
2. Einzelne Symptome
Es ist nun auf einige bezeichnende Erscheinungen am Wege der theologischen Wissenschaft und ihrer Einstellung zum Dogma der Kirche hinzuweisen.
a) Man findet in der theologischen Wissenschaft im allgemeinen eine fast ungebrochene Zuversicht in die Fähigkeit menschlichen Denkens, die vorliegende Aufgabe zu bewältigen, die uns in Verständnis, Bewahrung und Neubildung der christlichen Lehre gegeben ist. Daß solche Zuversicht eine Illusion ist, wie bereits 1. Kor. 12, 3 sagt und hernach Luthers Erklärung zum dritten Artikel bezeugt, scheint praktisch vergessen zu sein.
b) Die Stellung zum christlichen Dogma wird immer wieder unter dem dem christlichen Dogma fremden Gesichtspunkt systematischer Vollständigkeit gesehen. Das Dogma als Lehrbegriff, die Summe der Lehrbegriffe als Lehrsystem, das Lehrsystem als geschlossenes Ganzes — das alles sind griechische Denkformen, deren Übernahme eine weit einschneidendere Hellenisierung bedeutet als die Verwendung griechischer Begriffe im einzelnen, wie es in der altkirchlichen Bekenntnisbildung geschehen ist. So unbefriedigend es für logisch interessiertes Denken auch sein mag: Das Dogma gibt uns kein lücken- und widerspruchsloses System in die Hand, es kann es auch nicht und darf es nicht, gerade um deswillen, daß es Zeugnis gibt von dem, der uns von den griffigen, verfügbaren Systemen und Theorien erlöst zur Ganzheit gehorsamen Lebens. Es ist darum weder Text noch Fundament, sondern Kommentar zum Text, Wegweisung und Hinweis auf den Einen, der das Fundament ist (1. Kor. 3,11).
c) Seltsamerweise geht Hand in Hand mit den beiden genannten Erscheinungen eine wachsende Problematik in der Verstehensfrage. Die Verstehensschwierigkeiten wachsen in eben dem Maße, als die Zügel >dogmatischer< Bevormundung abgeworfen werden. Der ohne dogmatische Belastung lebende Mensch hat es erstaunlicherweise keineswegs leichter zu glauben und befriedet seines Glaubens zu leben. (Ob vielleicht deshalb ein so bemerkenswerter Zug des >modernen< Menschen zur katholischen Kirche mit ihrer dogmatischen Armatur geht?)
d) Die humanistische Idee einer stetigen Aufwärtsentwicklung des Menschen von >primitiven< Anfängen zu >höherstehenden< Erkenntnissen, eine für das Arbeiten der liberalen Theologie zutiefst einflußreiche Anschauung, ist keineswegs mit der oft behaupteten Überwindung des Liberalismus in der Theologie zugleich überwunden worden. Sie hat durch lange Zeiten unsere Schulbildung in allen Fächern bestimmt. Wir haben sie sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Sie wirkt höchst einflußreich als Ursache zahlreicher seelischer und geistiger Verklemmungen und Verkrampfungen. Man kann nicht von der Tatsache überzeugt sein daß wir Sünder sind, und gleichzeitig dem Fortschrittsglauben menschlichen Denkens huldigen. Wo dies versucht wird, kommt es zu Spannungen, die sich auf allen Gebieten menschlichen Lebens auswirken können. Wir fanden diesen Mangel an Wirklichkeitserfassung in jener Ignoranz der Macht des Bösen im Vollzug theologischen Arbeitens, als ob der Feind nicht gerade auf dem Gebiet, wo es um die Reinheit der Lehre und Vollmacht der Botschaft geht, sein ureigenstes Interesse hätte, zu verwirren, zu blenden, Zweifel und Mißtrauen zu säen.
e) Im Namen der autonomen Vernunft kommt es zu einer Abwertung des Für-wahr-Haltens.Sie entspricht der Abwertung des Dogmas überhaupt. Denn wo immer Lehrbildung geschieht, da gibt es notwendig auch ein Für-wahr-Halten. Jede Bekenntnisbildung schließt Für-wahr-Halten ein. Darum war es eine gute Ordnung der orthodoxen Dogmatiker, daß sie vor aller Beschäftigung mit speziellen Glaubensfragen notitia verlangten, d. h. das Ernstnehmen des überlieferten Glaubensgutes. Nun aber wird gegen das >bloße Für-wahr-Halten< polemisiert.
Wir lassen dazu einen christlichen Arzt (H. Gödan ) zu Worte kommen, der aus ärztlich-seelsorgerlicher Erfahrung sagt: »Es ist eine weitverbreitete Ansicht, daß zwischen dem religiösen Gefühl und dem seelischen Erleben der Andacht einerseits und dem >trocknen< Dogma andererseits ein Gegensatz bestehe. Doch beides gehört zusammen: das seelische Erfassen des religiösen Inhaltes und seine geistige Durchdringung und Verarbeitung. An einem eindrucksvollen Beispiel macht das C. S. Lewis (>Beyond Personality. The Christian Idea of God<, London 1944) klar. Er führt aus, welch gewaltiger Unterschied es ist, ob jemand den atlantischen Ozean vom Strand aus wirklich erlebt, oder ob er nur auf eine Karte des Atlantik schaut. Im ersten Fall erlebt er wirkliche Wogen, und im zweiten Fall sieht er nur ein Stück buntes Papier. Und doch müsse man hierbei an zwei Dinge denken. Einmal ist das bunte Papier, das wir Seekarte nennen, aus der Erfahrung von Hunderten und Tausenden von Leuten entstanden, die den wirklichen Atlantik befahren haben; und so steckenhinter dem Blatt Papier der Seekarte Unmengen von Erfahrung, die ebenso wirklich sind wie die, die man vom Strand des Atlantik aus hat. Ferner ist die Seekarte unbedingt notwendig, wenn man den Atlantik befahren oder überqueren will. Von Spaziergängen am Strand des Atlantik hat man keinerlei Nutzen, sobald man nach Amerika segeln will. Ähnlich verhalte es sich auch mit den Dogmen, betont C. S. Lewis. Sie seien nicht Gott, sie seien vielmehr eine Art Seekarte. Auch diese >Karte< beruhe auf der Erfahrung von Hunderten von Leuten, solchen, die wirklich in Berührung mit Gott gewesen sind.
Die Frage ist berechtigt, ob wir in unserem religiösen Leben nicht eigene seelische Reaktionen zu stark bewerten und so Strandspaziergängern gleichen, denen die Möglichkeit fehlt, auf das Meer hinauszufahren. Wir müssen, um ans andere Ufer zu gelangen, das zu benutzen verstehen, was Generationen vor uns geistig erarbeitet haben. Diese Kartenlesekunst im Bereich des Geistigen muß erlernt werden. … Analoges gilt von den Dogmen im Hinblick auf die Welt des Geistes. Sie entheben uns der Notwendigkeit, nur bei uns selbst zu Hause zu sein. Nicht die Überwindung des Dogmas dient dem modernen Menschen, sondern die Erforschung seiner Geheimnisse...«
f) Eng verbunden mit einer Disqualifizierung des Für-wahr-Haltens erscheint die Anschauung, die Bejahung eines christlichen Dogmas sei ins Belieben des einzelnen gestellt. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß diese Haltung im Blick auf das Dogma der Jungfrauengeburt in weiten Kreisen als die gegebene beansprucht wird. …
Die populär-theologische Frage, ob >man< denn, um wirklich christlich zu glauben, durchaus an das Dogma, speziell an das von der Jungfrauengeburt glauben müsse, beantwortet K. Barth in einer sehr zu bedenkenden Weise:
»Es ist gewiß nicht ausgeschlossen, daß jemand auch ohne Bejahung der Lehre von der Jungfrauengeburt das Geheimnis der Person Jesu Christus erkennen und also wirklich christlich glauben kann. Es steht in Gottes Rat und Willen, dies möglich zu machen, wie es ihm ja überhaupt nicht unmöglich sein kann, jemand auch außerhalb des Raumes der uns sichtbaren Kirche zur Erkenntnis seiner selbst zu führen. Aber damit ist nicht gesagt, daß die Kirche die Freiheit habe, die Lehre von der Jungfrauengeburt zu einem Fakultativum für besonders starke oder auch für besonders schwache Gemüter zu machen. Die Kirche weiß wohl, was sie getan hat, indem sie dieses Dogma sozusagen als Wache vor die Tür zu dem Geheimnis der Weihnacht stellte. Sie wird es niemals gutheißen können, wenn jemand an dieser Wache vorbeieilen zu können meint. Sie wird ihn darauf aufmerksam machen, daß er damit einen Privatweg betritt auf eigene Rechnung und Gefahr. Sie wird ihn warnen davor, dies zu tun, Sie wird als kirchliche Ordnung verkündigen: es gehört zum wirklichen christlichen Glauben auch die Bejahung der Lehre von der Jungfrauengeburt. Sie wird jedenfalls von ihren Dienern, falls auch unter ihnen solche sein sollten, die diese Ordnung persönlich nicht verstünden, mindestens dies verlangen, daß sie ihren Privatweg als Privatweg behandeln und also nicht etwa ihrerseits zum Gegenstand von Verkündigung machen, daß sie das Dogma, wenn sie es persönlich nicht bejahen können und also (leider!) auch ihren Gemeinsinn vorenthalten müssen, wenigstens durch Schweigen respektieren.«
Als Ergänzung K. Barths Äußerung zu E. Brunners Bestreitung der Jungfrauengeburt: »Brunners Bestreitung der Jungfrauengeburt ist kein gutes Unternehmen. Sie verbreitet … Zwielicht über seine ganze Christologie. Der Seufzer von N. Berdjajew ist auch mein Seufzer: >Ich habe das Buch Brunners (Der Mittler) mit ungeheurem Interesse gelesen, weil ich die Schärfe des Gedankens, das religiöse Pathos in ihm fühlte. Als ich jedoch bis zu der Stelle kam, in der Brunner bekennt, daß er nicht an die Geburt Jesu Christi von der Jungfrau glaubt, wurde mir traurig zumute…<.«
Mit der Meinung, das Dogma sei in das Belieben des einzelnen gestellt, wird ein sehr gefährlicher Weg beschritten. Aus der ganzen Kette des Glaubensbekenntnisses kann man nicht einzelne Stücke verlieren, ohne das Ganze zu verlieren. …
III. Das Nachbekennen des Dogmas als Anbetung der Geheimnisse Gottes
1. An dieser Stelle ist ein persönliches Wortunumgänglich. Zwar ist in theologischen Untersuchungen das persönliche Zeugnis nicht üblich. Indessen wird wohl kaum einmal ein theologisches Gespräch über derartige Fragen, wie wir sie untersuchen, ohne persönliches Zeugnis auskommen können.
Mir ist der intellektuelle Zweifel an dem Dogma der Jungfrauengeburt wohl bekannt. Ich kam aus dem letzten Krieg, vollgepackt mit Zweifeln an allem, was der Verstand überhaupt nur bezweifeln kann. Insbesondere aber über das Dogma der Jungfrauengeburt fühlte ich mich hoch erhaben. Hier »muß doch entmythologisiert werden«, das war meine Überzeugung. … Bei meinem intellektuellen Zweifel habe ich aber, ganz schlicht gesagt, übersehen, was 1. Kor. 1 und 2. steht. »Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes. Es ist ihm eine Torheit...« Ich habe allerdings nicht geahnt, welch eine Folge diese meine kritische Meisterung der Geheimnisse Gottes für mein Leben hatte. Das eigene Tun, das eigene Denken und Erkennen, das eigene Wollen waren bestimmend. Darin war ich, ohne es zu wissen, vom Feind gesteuert. Ich hielt mein Denken für autonom gerade dort, wo ich es ablehnte, die Dogmen der Kirche für mich als verbindlich anzusehen. Das war für mich eine Forderung der intellektuellen Redlichkeit, gestellt vom Verstand, der seine eigene Kompetenz für ausreichend hielt und deshalb nicht darauf kam, sich zunächst gebeugt und anbetend dem anzuvertrauen, der ihn gegeben hat. Darin lagen zwei Selbsttäuschungen vor:
Zunächst sah ich nicht, daß es gar keine Autonomie gibt. Wo das Bekenntnis als angeblich ungeeignete Fessel für freie Forschung beiseitegeschoben wird, wird nur zu leicht auch der beiseitegeschoben, den das Bekenntnis meint, und ohne den auch der Theologe nichts tun kann. Autonomie ist aber dann eine Illusion. Luther wußte das und kannte nur entweder die vom Teufel getriebene oder die vom Heiligen Geist erleuchtete Vernunft.
Sodann hielt ich die intellektuelle Redlichkeit für eine selbstverständliche, befreiende Verpflichtung, und zwar weil ich als Alternative lediglich intellektuelle Unredlichkeit für möglich hielt. Diese kam natürlich nicht in Frage. Daß es außer dieser undiskutablen Alternative jedoch noch eine andere Alternative gibt, nämlich die Wahrheit, die frei macht (Joh. 8, 31 ff.; 2. Kor. 4, 3 ff.), daß diese Wahrheit nicht einfach identisch ist mit intellektueller Redlichkeit, sondern sogar zu ihr in Spannung steht, das sah ich nicht, und konnte es auch nicht sehen. Es war ein Stück Unerlöstheit, Gefangenschaft auch des Intellektes, gerade dort, wo ich frei zu sein meinte.
Als mir diese Zusammenhänge deutlich wurden, habe ich zunächst, noch ohne zu wissen, welche Folgen sich ergeben würden, einfach im Gehorsam gegenüber 1. Kor. 1 und 2, dieser meiner kritischen Meisterung der Geheimnisse Gottes abgesagt. Vom eigenen Denken ausgehende Theologie ist nicht nur falsch, sie ist Sünde. Sünde aber muß vergeben werden, und es ist Scheidung von erkannter Sünde nötig. Darauf liegt Gottes Segen.
Und was ich zuvor nicht wußte, geschah als Folge: Die Anbetung der Geheimnisse Gottes erschloß sich als eine Quelle der Kraft und der Ruhe und Gelassenheit, gerade in die Gebiete hinein, die leicht außerhalb der Sichtweite theologischer Arbeit bleiben: in das unerlöste Wollen, Rennen und Laufen des natürlichen Menschen, der sich zerarbeitet in der Menge seiner Wege. Welch befreiende Kraft liegt in der Anbetung: Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit.
2. Drei biblische Grunderkenntnisse
Wenn nun im folgenden eine zusammenfassende Deutung des eigenen Verständnisses des Dogmas von der Jungfrauengeburt gegeben werden soll, dann ist daran zu erinnern, daß Martin Kähler vor Jahrzehnten unter anderen Grundsätzen theologischer Arbeit den folgenden prägte: »Die klar in der Bibel ausgesprochenen Grunderkenntnisse von Gottes offenbarendem Tun treten für die theologische Auffassung an die Stelle des Hilfsmittels, welches die Wissenschaft sonst für das zusammenfassende Verständnis der geschichtlichen Entwicklungen anwendet, nämlich der Hypothesen.«
Demzufolge sind es im Unterschied zu den verschiedenen Hypothesen, unter welchen wir die Kritik und Destruktion des Dogmas von der Jungfrauengeburt vonstatten gehen sahen, drei >biblische Grunderkenntnisse von Gottes offenbarendem Tun<, die zur Interpretation des Dogmas von der Jungfrauengeburt dienen:
Das fehllose Opfer
Wort und Zeichen
Der Sohn
a) Das fehllose Opfer
Daß die Rede vom sühnenden Opfer eine biblische Grunderkenntnis ist, wird man bei allen Differenzierungen der Opfervorstellungen im einzelnen schwer bestreiten können. Sie beginnt bereits 1. Mose 3,21, dann l. Mose 4,4, und geht hinein bis in die Lobgesänge der Offb. Joh., die dem erwürgten Lamm gelten.
Auch einer historisch-kritischen Betrachtung der biblischen Literatur wird die Aussage vom Sühnopfer weder im Alten noch im Neuen Testament als eine vereinzelte Nebenlinie erscheinen können, wenn man nicht wesentlichste Teile der Schrift in ungerechtfertigter Weise disqualifizieren will.
Es ist nun beim zu bringenden Sühnopfer immer wieder auffällig, daß nicht irgendein Opfertier, nicht irgendein Lamm, sondern in auffallender Dringlichkeit ein besonders qualifiziertes, und zwar fehlloses Opfer gefordert wird. Dies ist nicht nur in allgemeinem Sinne gemeint, daß nur >reines< Getier zum Opfer in Frage kommt (1. Mo. 7,2 u. 8,20), sondern auch im speziellen Sinne eines untadeligen Exemplares (2.Mo. 12,5). Nach Mal.1,6 wird dem aus dem Exil heimgekehrten Volk gerade das zum Vorwurf gemacht, daß es Fehlerhaftes, Unreines, Lahmes und Krankes zum Opfer bringt.
Man wird alle diese Stellen nicht in ihrer letzten Intention verstehen, wenn man hier lediglich kultische Vorschriften sieht. Wo immer im Alten Testament vom sühnenden Opfer die Rede ist, begegnet uns nicht das Gesetz, sondern das Evangelium, Abschattung und Hinweis auf den einen, der mit einem Opfer in Ewigkeit vollendet, die ihm gehorsam werden. Dementsprechend gehört zur biblischen Grundlinie vom Sühnopfer die Wer-Frage. Wer ist tauglich zu diesem Opfer? Dabei weiß das Alte Testament sehr wohl, daß alle die Opfer nicht letztlich genügen. Und wo dieses Wissen unter kultischer Korrektheit verschwindet, tritt jüdische Gesetzesfrömmigkeit in Gegensatz zu Gottes offenbarendem Tun.
Von daher wird im Neuen Testament alle Christologie entworfen von der Person des Christus her. Der Gekreuzigte, der am Kreuz Geopferte, ist nicht irgendwer. Daß wir um seinetwillen das Heil empfangen, hat seine inhaltliche Begründung in seiner Person, nicht zuerst in seinem Werk. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Soteriologie ohne Christologie. Einer heute oft vertretenen Auffassung muß von der Sicht des Neuen Testamentes her widersprochen werden, als sei Jesus der Christus, weil er gekreuzigt wurde und auferstand. Dann erschlösse sich dieses, wer er ist, aus dem, was er tat. Seine Person würde erschlossen aus seinem Werk. Nein, es ist gerade umgekehrt: Weil Jesus der Christus war, deshalb wurde er gekreuzigt, deshalb ist er auferstanden. Sein Kreuzestod war nicht einer unter vielen anderen, sondern das Opfer des Einen, Einzigen, Unvergleichlichen. Weil er dieser eine war, wurde er gekreuzigt. Nicht anders wird sein Kreuzestod im N. T. begründet. Und daß das eine Kreuz auf Golgatha entscheidend wurde, lag an der Person dessen, der daran starb.
Unter diesen Überlegungen wollen wir etliche Zeugnisse des N. T. zu uns sprechen lassen:
Hebr. 7,26 »Einen solchen Hohenpriester sollten wir haben, der da wäre heilig, unschuldig, unbefleckt, von den Sündern abgesondert und höher, denn der Himmel ist; dem nicht täglich not wäre, wie jenen Hohenpriestern, zuerst für eigene Sünden Opfer zu tun…«
Hebr. 9,14 »… wieviel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst ohne allen Fehl durch den ewigen Geist Gott geopfert hat, unser Gewissen reinigen …«
Hebr. 10, 5 »Darum, da er in die Welt kommt, spricht er: >Opfer und Gaben hast du nicht gewollt; den Leib aber hast du mir bereitet< … Siehe, ich komme (im Buch steht von mir geschrieben), daß ich tue, Gott, deinen Willen…«
Hebr. 10,10 »In diesem Willen sind wir geheiligt auf einmal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi.« – Mit Absicht haben wir das Zeugnis des Hebräerbriefes als hier besonders sprechend vorangestellt. Aber auch andere Stellen gehören hierher:
1. Petr. 1,18 » ,.. wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber und Gold erlöst seid von eurem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes …«
2. Kor. 5,19 »Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber … denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht …«
1. Kor. 5,7 » … wir haben auch ein Passahlamm, das ist Christus, für uns geopfert«
Joh. 1,29 »Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt«
Es würde in unserem Rahmen zu weit führen, hier auch nur einigermaßen vollständige Angaben über die alle Teile des N.T. durchziehenden Aussagen vom stellvertretenden Opfer Jesu Christi zu machen. Sie haben sich von den frühesten Anfängen der Gemeinde an ausgeprägt in den Worten »für uns« — pro nobis — und stehen an zahlreichen Stellen inhaltlich in Verbindung mit speziellen Ausdrücken, die auf die Sühnopfervorstellungen des Alten Bundes hinweisen. Was uns jedoch in unserem Zusammenhang besonders interessiert, ist die als wesentliche Begründung für die sühnende Kraft des Kreuzestodes Jesu mitlaufende Überzeugung der ersten Zeugen, daß dieser Jesus nicht >irgendwer< war, sondern der Reine unter lauter Unreinen. Man vergleiche damit einmal ein Wort wie Hiob 14, 4: »Kann wohl ein Reiner kommen von den Unreinen? Auch nicht einer«.
Daß der am Kreuz für uns Geopferte nicht irgendein Anonymus war, an dessen Person die Gemeinde keine Erinnerungen geknüpft habe, weil sie angeblich nicht an der Person, sondern nur an seinem Werk interessiert gewesen sei, wird schließlich durch die Tatsache der vier Evangelien selbst höchst eindrucksvoll bezeugt. Und es ist das allen Evangelisten gleichermaßen zu entnehmende Zeugnis: Dieser Jesus war anders als wir. …
Das Gebet, das er seine Jünger lehrte, insbesondere die Bitte um Vergebung, hat er nie selbst gebetet. Vielmehr sagt er: »Wenn ihr betet, so sprecht…« (Luk. 11,2.) Er braucht für sich selber kein Lösegeld, vielmehr bringt er es durch sich selber. Er braucht für sich selber kein Erbarmen, vielmehr übt er es aus der Fülle dessen, der es hat. Er wußte und sprach wie kein anderer von dem ungeheuren Abstand des Menschen in seiner Verschuldung vor Gott. Aber für sich selbst war ihm solch Abstand fremd. Was jeder bei sich und anderen sehen und erfahren kann: daß das Schlechte ansteckt und haften bleibt, für ihn gilt auch das nicht. Es ist nicht eine Theorie, sondern die harte Wirklichkeit unseres Lebens, daß der Hang zur Sünde unsere Mitgift ist vom ersten Atemzuge an. Das wird jeder, der sich selbst im Lichte Gottes zu erkennen begonnen hat, für sich bezeugen müssen. Und das ist nun das Erstaunliche bei diesem Jesus, wie ihn uns die Schrift zeigt: Er hat diesen Hang zur Sünde nicht. Wer aber ist er dann?
Aus der Frage »Wer ist dieser?« erwuchs alle Christologie. Aus dieser Frage erwuchs insbesondere, auf dem Boden der ältesten Gemeinde, die Erkenntnis, daß dieser Jesus von Gott gekommen ist, als das fehllose Opfer, das hinwegnimmt die Sünde der Welt. Man sollte an dieser Stelle nicht mit Begriffen wie >biologisch<, >physisch< o. ä. operieren. In diesen Begriffen liegt eine Wirklichkeitsspaltung, die den neutestamentlichen Zeugen fremd war. Aus der Frage »Wer ist dieser?« erwuchs in der ältesten Gemeinde die anbetende Erkenntnis: gezeugt vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria. Und nur dort, wo gleichermaßen im Zittern und Staunen gefragt wird »Wer bist du?«, wird die Bekenntnisaussage recht nachvollzogen werden können.
b) Wort und Zeichen
Es ist ebenfalls eine biblische Grunderkenntnis, daß Wort und Zeichen zusammengehören. Dies gilt für das Alte wie für das Neue Testament. Zum Wort gibt Gott das Zeichen, und zwar zumeist in der Kampf- oder Grenzsituation. Nur zwei Beispiele aus dem A.T.:
2. Mose 4 bringt Mose unter der Last des Auftrages, Gottes Wort auszurichten, seine Bedenken zur Sprache. »Sie werden mir nicht glauben noch meine Stimme hören…« Da gibt Gott zum Wort das Zeichen. Mit seinem Stab soll Mose Zeichen tun. Und wenn das eine Zeichen nicht genug ist, dann das andere. »Wenn sie dir nun nicht glauben noch deine Stimme hören bei dem einen Zeichen, so werden sie doch glauben deiner Stimme bei dem andern Zeichen« (V. 8).
Oder Jes. 7,10 ff.: Jesaja sagt zu dem gottlosen König Ahas: »Fordere dir ein Zeichen vom Herrn, deinem Gott…« Ahas tut es nicht, und seine Antwort klingt scheinbar fromm: »Ich werde doch Gott nicht versuchen …« Darauf Jesaja: »Ist’s nicht genug, die Leute zu beleidigen? Mußt du auch noch meinen Gott beleidigen? Dann wird der Herr dir ein Zeichen geben …« Wort und Zeichen gehören zusammen.
Dabei ist das Zeichen im A.T. wie im N.T. niemals Bedingung, niemals Begründung, sondern immer nur eben Zeichen, Hinweis. Es gibt keinen Kausalzusammenhang zwischen dem Zeichen und dem Geschehen. Das Zeichen ist nicht in irgendeiner Weise Ermöglichung oder Bewirkung dessen, auf das es hinweist. In der Geschichte vom Gichtbrüchigen ist unzweifelhaft die Hauptsache das Wort Jesu an den Kranken »Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.« Aber dann kommt in dieser Kampfsituation das Zeichen. »Auf daß ihr aber wisset, daß des Menschen Sohn Macht hat, zu vergeben die Sünden auf Erden — stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim!« Vergebung und Heilung sind hier zueinander geordnet. Sie gehören zusammen wie Wort und Zeichen. Dabei ist natürlich die Heilung nicht in irgendeiner Weise Ursache für die Vergebung. Nein, sie ist Zeichen, Hinweis. »Auf daß ihr aber wisset…«! Wort und Zeichen gehören zusammen, und das Zeichen bezeugt die Macht des Wortes.
In ebenderselben Weise ist nun aber die Jungfrauengeburt zum Wort gehörendes Zeichen. Sie ist es am Anfang des Lebens Jesu auf Erden ebenso, wie am Ausgang dieses irdischen Lebens das leere Grab. Beide gehören als Zeichen zum Wort hinzu. Beide stehen in Parallele zueinander. Beide sind Hinweis, nicht aber als Ermöglichung dessen zu verstehen, was bezeugt wird. Jesus ist nicht etwa deshalb auferstanden, weil das Grab leer war, sondern umgekehrt: Weil er auferstanden ist, darum war das Grab leer. Das leere Grab ist Zeichen für seine Auferstehung. Und so ist auch die Jungfrauengeburt nicht etwa begründend für die Sohnschaft Jesu, sondern bezeugend. Jesus Christus ist der neue Adam, der Einzigeine, nicht weil er von der Jungfrau geboren ist, sondern weil er dieser eine Reine unter lauter Unreinen ist, darum wird bezeugt und das wird bezeichnet — »auf daß ihr aber wisset…« — dadurch, daß er von der Jungfrau geboren ist.
Hier können wir uns Karl Barthvoll und ganz anschließen, der diese Zusammengehörigkeit von Wort und Zeichen betont. Er sagt: »Von hier aus wird ersichtlich, warum es nichts ist mit dem von Schleiermacher, R. Seeberg, Brunner, Althaus an dieser Stelle einmütig erhobenen Einwand: Das ex virgine sei ja doch ungenügend, um Jesus als jenen Durchbruch und Neuanfang, als befreit von der Erbsünde, zu verstehen, weil er doch auch abgesehen von Joseph von seiner Mutter Maria her im Zusammenhang mit der sündigen Menschheit gestanden hätte. Dieser Einwand wäre doch nur dann treffend, wenn das von der Schrift bezeugte und vom Dogma verkündigte Wunder den Sinn einer Ermöglichung jenes Durchbruchs und Neuanfangs hätte.«
Die Jungfrauengeburt will gar nicht begründen. Sie will bezeugen. Sie ist das Zeichen. K. Barth sagt dazu: »Der Satz von der Jungfrauengeburt ist gerade in den Symbolen deutlich genug charakterisiert als eine erste Aussage über den, der Gottes Sohn war, istund sein wird. Er ist also nicht eine Aussage darüber, wie er das gewordenist, nicht die Aussage des Grundes und der Bedingung seiner Gottessohnschaft … Die Jungfrauengeburt ist das das Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes begleitende, als Geheimnis gegenüber allen Anfängen anderer menschlicher Existenzen abgrenzende Zeichen.«
Aber die Verachtung des Zeichens bleibt nicht ohne schwerwiegende Folgen. Mit dem Verlust des Zeichens geht auch die Wirklichkeit verloren, und damit die Vollmacht des Wortes. Man betritt deshalb mit der Verachtung des Zeichens einen gefährlichen Weg. »Derjenige unter den Bestreitern dieses Zeichens müßte jedenfalls erst gefunden werden, dem man zugleich unbedenklich zugestehen könnte, daß er ein zuverlässiges Wissen um die durch dieses Zeichen bezeichnete Sache verrate« (K.Barth).
c) Der Sohn
Das ist die dritte biblische Grunderkenntnis: Jesus ist >der< Sohn, nicht >ein< Sohn Gottes. Hier stehen nicht der Sohn und die Söhne in Parallele. Hier besteht eine wurzelhafte Spannung zum Judentum. Im Judentum ist der Sohn, wenn der Messias so tituliert wird (Ps. 89,27; 2. Sam. 7,14), der erste unter einer Schar der Söhne, unter dem Volk Gottes. Jeder fromme Israelit weiß sich als Sohn Gottes (5. Mose 14, 1). Unter dem Geheimnis der Wer-Frage aber geht nun eine damit nicht vergleichbare Botschaft aus: Jesus ist »der Sohn«, der »eingeborene« Sohn vom Vater, vom Vater gekommen, in einzigartiger Weise dem Vater eins. An dieser Botschaft haben sich die Juden geärgert, von den Schriftgelehrten bis zu Saulus von Tarsus. An dieser Botschaft ärgern sie sich bis heute. Als >großen Bruder< kann der Jude ihn gelten lassen (M.Buber in >Zwei Glaubensweisen<,1950). Als menschgewordenen Gottessohn nimmermehr. Es bestünde kein ersichtlicher Grund, warum sich das Judentum in der Weise an der Sohnschaft Jesu von Nazareth hätte ärgern sollen, wenn diese Sohnschaft nichts weiter wäre als ein ihm nachträglich beigelegter hellenistischer Titel. Nein, als »der Sohn« wurde dieser Jesus nicht erst auf dem Boden der hellenistischen Gemeinde in Übernahme hellenistischer Begrifflichkeit bekannt. Dieses Bekenntnis erwuchs in der Auseinandersetzung mit dem Judentum, und dieses Bekenntnis wurde im Verlauf dieser Auseinandersetzung, wie sie von dem Theologen Paulus durchgeführt wurde, tödlich für das Gesetz. Die paulinische Gesetzeslehre, von der der Jude bis heute (Buber)sagt, sie sei eine Verfälschung der alttestamentlichen Gesetzeslehre, war keine willkürliche Spekulation des Paulus. Sie ergab sich zwangsläufig aus seiner Christologie. Paulus hat hier verändern müssen. Besser: Er hat hier unter der Wirklichkeit der Offenbarung tiefer erkannt. Aus der Wirklichkeit, daß Gott seinen Sohn sandte, folgte für die christliche Theologie, daß der Mensch kraft seiner Gesetzeserfüllung nicht selig werden kann. Diese Erkenntnis seiner letzten Verlorenheit ist nicht eine Voraussetzung dafür, Christus zu erkennen. Sie ist vielmehr die Folge der Erkenntnis Christi. So war es bei allen Zeugen des N.T., insbesondere bei Paulus. Darum steht im N.T. die Frage, wer der Mensch ist und was er könne, merkwürdig zurück gegenüber jener anderen Frage »Was dünkt euch um Christus? wes Sohn ist er?« (Matth. 22, 42.) Aus dieser Frage, der Wer-Frage, ergibt sich alles andere, die Anthropologie sowohl wie die Rechtfertigungslehre. Die Wer-Frage ist die Quelle christlicher Theologie. Und sie wurde zuerst gestellt in Antithese zum Judentum.
Daß diese Antithese bei der Entfaltung des Dogmas von der Jungfrauengeburt bestimmend war, wurde oben dargestellt. In diesem Dogma wird — zeichenhaft — bezeugt: Er ist der Sohn!
Zum Beschluß sei die für die Christologie der Urgemeinde so wichtige Antithese zum Judentum, eine Antithese in der Verwandtschaft, in der freilich christlichen Deutung einer bildlichen Darstellung erläutert, die sich auf einer Briefmarke des Staates Israel findet. Da findet sich die Darstellung der beiden Kundschafter, die die Weintraube an einer Stange tragen, die beiden auf den Schultern liegt. Schwer hängt die Traube als Last auf beiden. Das Bild ist von symbolischer Kraft. Israel, das Judentum, die Synagoge geht vornean. So ist es auch gewesen. »Das Heil kommt von den Juden« (Joh. 4, 22). Die Kirche folgt nach. Beide tragen sie die Weintraube, Christus. Sie tragen an ihm. Das Judentum kommt von ihm nicht los, aber es sieht und erkennt ihn nicht. Die Kirche aber sieht ihn, den lebendigen Weinstock, den Sohn.
Diese Antithese ist es, die Pate gestanden hat bei dem geschichtlichen Prozeß, der zur Ausbildung des Dogmas führte » … empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria.« Anbetend dürfen, können und müssen wir das nachbekennen. Wir dürfen es tun im Wissen darum, daß die Wer-Frage, nicht die Wie-Frage, in der Offenbarung des Sohnes Gottes grundlegend ist.
»Ich glaube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr.«
2. Teil
Die Erkenntnis des Sohnes (Zum Gehalt der Rechtfertigungslehre)
»Und Jesus sprach zu ihnen: Welcher ist unter euch, der einen Freund hat und ginge zu ihm zu Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leihe mir drei Brote; denn es ist mein Freund zu mir gekommen von der Straße, und ich habe nicht, was ich ihm vorlege…« Luk. 11,5 f.
I. Unsere Lage und unser Auftrag
Es besteht kein Zweifel daran, daß die Kirche nicht für sich selbst dazusein hat, sondern der Welt das Evangelium schuldig ist. Es ist ihr Auftrag, zu verkündigen. So war es vom Beginn der Kirche an. Der Auftrag bleibt derselbe auch heute und in Zukunft, bis der Herr Jesus Christus wiederkommt. Geändert hat sich die Situation, in der die Kirche diesen ihren Auftrag auszuführen hat. Von der veränderten Lage her wird auch die Frage nach der rechten Ausrichtung des Auftrages immer neu gestellt werden müssen. Wie soll und kann das geschehen? Unsere Lage und unser Auftrag werden beleuchtet durch das vorangestellte Schriftwort.
1. Die gleiche Situation
Unsere Lage gleicht der des Menschen im Gleichnis, der um Mitternacht von draußen, von der Straße, aufgesucht wird und um eine Hilfe gebeten, die er nicht leisten kann, der aber einen Freund hat, zu dem er gehen, den er um alles Nötige bitten kann. Wir stehen in der gleichen Situation >zwischen<. Da ist auf der einen Seite der Freund von der Straße. Er ist in mitternächtlicher Stunde gekommen, bittend, hungernd, bedürftig. Er hat angeklopft in Hoffnung darauf, zu bekommen, was ihm fehlt. Er hat angeklopft bei dem, der selber nicht hat, aber in der Annahme, er müsse doch haben. Er hat angeklopft bei dem, dessen Licht zu Mittemacht noch leuchtet. Der wird Rat wissen. Und vielleicht stehen hinter dem, der anklopfte, andere, die abwarten und draußen bleiben auf der Straße, aber ebenso hoffen und warten. Ja, und hinter diesen die unübersehbare Schar im Dunklen, die vielleicht nicht einmal mehr wartet, geschweige denn kommt, die »verschmachtet und zerstreut sind wie die Schafe ohne Hirten«, die bestenfalls noch um das Licht zu Mitternacht wissen, aber ihm kritisch und mißtrauisch fernbleiben. Auch die Kritik an der Kirche ist ja noch eine Art der Erwartung. Das ist die eine Seite: der Freund draußen von der Straße.
Und auf der anderen Seite ist der Freund, zu dem wir selber gehen können, der Freund drinnen. »Welcher ist unter euch, der einen Freund hat…« Ihn dürfen wir bitten, denn er hat genug. Er gibt, er >verleiht<, er hat auch zu Mitternacht, soviel wir bedürfen. Er ist ja die Quelle des Lebens. Er ist das Wort selber. Jesus Christus, er ist der Freund drinnen.
Diese unsere Situation >zwischen< der verschmachtenden, wartenden oder auch nicht mehr wartenden Welt, und dem Freund, den man bitten darf, ist die unsere. Sie ist gekennzeichnet durch
2. die gleiche Ohnmacht und Verheißung
Die Verlegenheit des Freundes >zwischen< dem draußen und dem drinnen ist auch unsere Ohnmacht. >Ich habe nicht, was ich ihm vorlege…< Das ist unsere Armut. Wir haben nicht. Wer kennt das nicht: angefordert sein von draußen, und doch >nicht haben<? Es ist die Armut des Pfarrers wie des Seelsorgers, des Evangelisten wie des Lehrers, daß er von Erwartungen umgeben ist, und ist doch selber leer. Es reicht nicht, jedenfalls nicht für die draußen. Es reicht eben gerade für die Kinder. Aber kann man darüber ruhig werden, wenn die vielen draußen leer ausgehen?
Man kann sich natürlich über diese unsere Armut hinwegtäuschen. Schließlich haben wir ja doch allerlei. Wir haben Sonntag für Sonntag Tausende von Predigten. Wir haben Abertausende von Ansprachen bei allen denkbaren Gelegenheiten. Wir haben ungezählte Schriften und Blätter, Plakate und Traktate. Wir haben Rundfunk- und Fernsehsendungen, christliche Schallplatten und Tonbänder. Wir haben neue Wege und Methoden. Aber wir haben nicht das Wort, das die Welt durchdringt, das erweckt, das Leben schafft. Das ist unsere Ohnmacht.
Diese unsere Ohnmacht wird in der Theologie unserer Tage sehr deutlich gesehen. Sie weiß etwas von der entsetzlichen Lahmheit und Abgestandenheit der christlichen Verkündigung, von ihrer Schwäche, Verlegenheit, Verkrampftheit, Unverständlichkeit. Sie ist davon umgetrieben, daß da so wenig geschieht, in Bewegung gerät, daß es da so wenig zu wirklichem Verstehen kommt, daß die Predigt meist so fern, so belanglos, so unverbindlich bleibt.
Sie fragt woran es liegt, daß die Redeflut unserer Pastoren nicht einen Sturmwind im Lande auslöst … Das Evangelium hat die gleiche Kraft, Menschen umzuwandeln, zu fällen und aufzurichten wie je. Es muß daran liegen, daß wir es nicht auszurichten wissen.
Aber wir haben auch die gleiche Verheißung, daß wir »einen Freund haben«. Unsere Stärke ist nicht unsere Arbeit und unser Dienst, nicht unsere Theologie, nicht unsere Methode oder unsere Sprache, auch nicht unser Bekenntnis. Unsere Stärke ist Er selbst, der Freund, den man bitten darf, zu dem man immer gehen kann, der immer hat. Ob wir diese Verheißung immer ebenso deutlich sehen wie die Flut der Aufgaben und Nöte?
Wie es auch immer sei, wir stehen in gleicher Ohnmacht und unter gleicher Verheißung, in gleicher Lage zwischen dem Bittenden oder Fordernden draußen und dem Geber drinnen. Diese Situation »zwischen« ist unser Los.
II. Unser geistliches Handeln in doppeltem Bezug
l. Die Beziehung zu Jesus, dem Freund drinnen
In der Situation »zwischen«, die die unsere ist, stellen wir die Beziehung zu Jesus, dem Freund drinnen, bewußt an die erste Stelle. Hier ist die Quelle unseres Lebens und Dienstes. Daran wird grundsätzlich natürlich nirgends gezweifelt. Im praktischen Vollzug unseres Dienstes wird allerdings diese Beziehung leicht übergangen. Sie wird dann zwar nicht weggestrichen, aber leicht für so selbstverständlich gehalten, daß man sich mit dieser Angelegenheit nicht gar zu lange aufhält. Oft, wenn Zusammenkünfte um Fragen unseres geistlichen Handelns stattfinden, bleibt es seltsam farblos und still, solange >nur< davon die Rede ist, was uns persönlich in unserem Leben mit Jesus betrifft. Um so lebhafter wird es dann, wenn die praktische Arbeit an die Reihe kommt. Dann wird oft leidenschaftlich gerungen.
Das ist nicht gut. Die Realität Jesu Christi, des Freundes drinnen, ist für die Arbeit, die wir zu tun haben, für die Lösung der Probleme unserer Zeit, wichtiger als die Solidarität mit den Menschen. Nur von ihm her gibt es wirklich Lösungen. Gerade wenn wir uns den Problemen der Zeit stellen wollen, müssen wir zuerst zu ihm gehen. Es ist eine Versuchung, sich von den Problemen her die Aufgaben stellen zu lassen. Zwar kann das dann so aussehen, als ob man einen sehr nützlichen Dienst tut. Aber in Wirklichkeit ist es kein geistlicher Dienst mehr. Geistlicher Dienst hat nur einen Auftraggeber: Ihn selbst, Jesus, den Herrn. Wer sich die Aufgaben seines Dienstes nicht von Ihm geben läßt, sondern von den Notständen, läuft Gefahr, die Vollmacht seines Dienstes zu verlieren. Die Vollmacht hängt allein an Ihm.
Diese so wichtige Rangordnung finden wir in der Bibel oft. Dafür nur einige Beispiele:
Matth. 9,36f.Die Ernte ist groß. Groß sind auch die Nöte. Es greift ans Herz, sie zu sehen. Groß sind offenbar auch die Möglichkeiten zur Arbeit, groß wie in der Ernte, wo es viel zu tun gibt. Aber nun kommt kein Aufruf zur Arbeit, zur Ernteaktion, zur Soforthilfe, sondern »Bittet den Herrn der Ernte …!« Gerade die Menge der Aufgaben und Möglichkeiten soll nicht unmittelbar zum Auftraggeber werden. Vielmehr will und muß Er, der Herr der Ernte, senden und beauftragen.
Mark. 3,14 f:»Er ordnete die Zwölf, daß sie bei ihm sein sollten und daß er sie aussendete, zu predigen, und daß sie Macht hätten, die Seuchen zu heilen und die Teufel auszutreiben…« Auch hier steht voran das »bei ihm sein«, die scheinbar unnütze persönliche Beziehung zu Jesus, dieses zwecklose Einkehren bei Ihm, ein Leben vor seinem Angesicht, im Gebet als der Jesu Jüngern gegebenen großen Möglichkeit, zu ihm zu gehen. Sieht es bei uns nicht oft ganz anders aus? Viele opfern sich auf in der Arbeit für Jesus Christus — oder werden aufgeopfert, aber sie wandeln nicht mit Ihm. Dann wird aus aufopferungsvoller Arbeit leicht Fruchtlosigkeit und Leerlauf.
Luk. 10,20.Mit Freuden über ihre Erfolge kommen Jesu Jünger zurück. Jesus aber verweist ihnen diese Freude. »Freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind.« Die Freude über erfolgreiches Dienen steht zumeist vornean. Und darum gibt es auch so viel Betrübnis und Resignation über erfolgloses Dienen. Nicht die Arbeit, die wir für ihn tun, ist es, die zählt, sondern die Arbeit, die Er durch uns tut.
Joh. 7,38»Ströme lebendigen Wassers«. Wer hätte nicht das Verlangen, daß sein eigenes Leben solcherart fruchtbar werden möchte? Aber Frucht kann auf keine Weise produziert werden. Sie wächst von der Wurzel her. Auch Ströme lassen sich nicht produzieren. Sie kommen von der Quelle. Darum »wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt…« Wieder werden wir gewiesen an die Quelle. Der Weg geht allein über die Quelle. Wer Jesus sieht, wie die Schrift sagt, der wird Frucht bringen, auch wenn er selber gar nichts davon sieht.
Alles rechte geistliche Handeln beruht auf dem Geheimnis des Stromes von der Quelle. Da geht es nicht in direkter Zielstrebigkeit auf die Arbeit und ihre Möglichkeiten zu, sondern in jener paradoxen Zielstrebigkeit zuerst zu Ihm, dem »Ziel, das ich erstrebe …«, und von Ihm her und mit Ihm wächst die Frucht.
Im Lukasevangelium (Luk. 12,17) wird uns zwei Seiten weiter ein anderer gezeigt, der auch erkennt »ich habe nicht…«, der aber in eigener Aktivität alsbald weiß, was er in seiner Notlage veranlassen kann. Er wird als Narr bezeichnet und ist es auch, weil er nicht sieht, daß er in seinem Handeln nicht selber der Handelnde ist, weil er die Situation »zwischen« übersieht.
Es wird nun in der Entfaltung unseres geistlichen Handelns in seinem anderen Bezug, dem zum Menschen draußen, ganz wesentlich darauf ankommen, die Beziehung zum Freund drinnen, zu Jesus Christus, im Blick zu behalten.
2. Die Beziehung zum Menschen, dem Freund draußen
Unser geistliches Handeln, in Verkündigung und Seelsorge, gilt dem Menschen, der uns als >Freund< anvertraut ist, dem Menschen draußen. Um diesem Menschen recht dienen zu können, bedarf es der Diagnose, der rechten Erkenntnis dessen, worin dem Menschen Hilfe not ist. Solche Diagnosen, den Menschen von heute und seine Zeit betreffend, werden oft gestellt. In ihnen wird mit großem Ernst und großer Sorgfalt gefragt, was der Mensch von heute braucht. Indessen ist Diagnose ebenso wie Interpretation ein vom »zwischen« gekennzeichnetes Geschehnis. Darum genügen zur rechten Diagnose nicht die Angaben des Menschen, um den es sich handelt. Verstehensprobleme sind oft nur Symptome oder Vorwände für Ungehorsam. Die Diagnose ist Sache des Arztes, obgleich die Angaben des Patienten nicht gleichgültig sind. Und oft wird die ärztliche Diagnose sich durchaus von der Meinung des Patienten über sein Leiden unterscheiden.
Das bedeutet, daß in der für unser geistliches Handeln kennzeichnenden Situation »zwischen« dem Bittsteller draußen und dem Geber drinnen die rechte Beurteilung, was zu geschehen hat, nur in dem doppelten Bezug zum Menschen und zum Herrn des Menschen möglich werden kann. Um letztgültig zu sein, muß sie vom Arzt selber erfragt werden. Diese Beschränkung menschlichen Erkennens gehört ohnehin zum Wesen des Menschen hinzu und ist infolge des generellen Krankheitszustandes des Menschen, den die Schrift Sünde nennt, von noch tieferer Bedeutung. Menschliches Erkennen und Verstehen kommen bestenfalls immer nur bis an eine gewisse Grenze, an der nichts anderes übrig bleibt; als sich fragend an den Arzt selber zu wenden in der Bereitschaft, alles eigene Erkennen gegebenenfalls durchstreichen zu lassen. Es geht nicht darum, daß ein Kranker seine Krankheit versteht, sondern daß er sie sich vom Arzt sagen läßt, und ebenso, daß er sich sagen läßt, wie er geheilt werden kann.« Der Arzt aber ist Jesus. »Er wußte wohl, was im Menschen war…, er kannte sie alle« (Joh. 2,25).
Im Folgenden soll nun an Hand zweier großer Entwürfe, der in der Rechtfertigungslehre des Paulus und Luthers niedergelegten Schau vom Menschen, das geistliche Handeln in der Beziehung zum Menschen entfaltet werden.
a) Paulus
Woher hatte Paulus die Maßstäbe und Grundlinien seines geistlichen Handelns? Er hat sie nicht gewonnen als Ergebnis gründlichen Studiums. Vielmehr sagt er dazu selbst:
»Ich tue euch aber kund, daß das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht nach menschlicher Art ist. Denn ich habe es von keinem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi« (Gal. 1,11). Was war da geschehen? Dem Paulus war offenbart worden wer Jesus Christus ist. Er bezeugt von dieser Wende seines Lebens, daß »es Gott wohlgefiel, daß er seinen Sohn offenbarte in mir…« (Gal. 1,15) In diesem Widerfahrnis enthüllt sich ihm das Geheimnis der Person Jesu, des Sohnes vom Vater, gesandt von Gott in der Fülle der Zeit (Gal. 4,4), des Christus, in welchem Gott selber war und die Welt versöhnte, der für uns zur Sünde gemacht wurde (2. Kor. 5,19). In der lukanischen Darstellung der Bekehrung des Saulus wird dieser Quellort der Theologie des Paulus durchaus zutreffend mit der Frage bezeichnet: »Herr, wer bist du?« (Apg. 9,5; 22, 8; 26, 15). Wer dieser Jesus ist, das war die Erkenntnis, aus der hernach Paulus seine ganze Theologie entfaltete. Die paulinische Theologie ist nicht zu begründen und abzuleiten aus menschlicher Denkarbeit. Solche Denkarbeit hatte einen Saulus nicht zum christlichen Theologen, sondern nur zum schriftgelehrten Pharisäer gemacht. Was Saulus nicht wußte und nicht lernen konnte, das mußte ihm offenbart werden: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes.
Aus dieser Erkenntnis Jesu Christi zerbricht dem Paulus sein bisheriges Verständnis des Gesetzes. Was Saulus in selbsterarbeiteter Diagnose nicht wußte und nicht wissen konnte, das wird ihm nun enthüllt, nämlich wie es in Wahrheit um den Menschen, auch um den frommen Menschen, steht. Die Diagnose des Arztes brachte ans Licht, daß die im alttestamentlich-jüdischen Gesetzesverständnis enthaltene Diagnose falsch war. »Wir wissen, daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird« (Gal. 2,16; Röm. 3, 20). Diese der jüdischen Tradition schroff widersprechende Beurteilung menschlichen Vermögens hat Paulus leidenschaftlich festgehalten.
Nach alttestamentlich-jüdischem Verständnis ist das Gesetz gegeben als Weg zum Leben. »Wer es erfüllt, der wird dadurch leben« (Gal. 3,12; 3. Mose 18, 5). Darin wird vorausgesetzt, daß der Mensch das Gesetz erfüllen kann. Ein anderes Verständnis des Gesetzes als dieses hat das Alte Testament nicht entwickelt. Selbstverständlich lebte Saulus von Tarsus in dieser Tradition und unter der in ihr enthaltenen Diagnose. Das gleiche Gesetzesverständnis hat das Judentum bis heute behalten und hält das paulinische Verständnis in der Rechtfertigungslehre des Paulus für eine Verfälschung.
Martin Buber sagt, indem er Jesus, wie er in der Bergpredigt redet, als Kronzeugen für seine, des Judentums, Auffassung vom Gesetz gegen die des Paulus ausspielt: »Jesus … hält die Thora für erfüllbar, und zwar nicht dem Wortlaut allein nach, sondern in der Urabsicht ihrer Offenbarung … Paulus hingegen bestreitet … die Erfüllbarkeit der Thora überhaupt« … »Das für unser Anliegen Entscheidende ist jedoch nicht, daß Paulus die Thora für unerfüllbar hält, sondern daß er sagt, sie sei gegeben worden, um nicht erfüllt zu werden, vielmehr um durch ihre Unerfüllbarkeit die Sünde hervorzutreiben.« Damit hat Buber das paulinische Gesetzesverständnis voll und ganz erfaßt. Nur — und das ist das Bemerkenswerte — fehlt es ihm an dem Kriterium dafür, zu erkennen, warum Paulus zu solch einem Gesetzesverständnis kommen mußte, warum in solch einem Verständniswandel nicht nur keine Verfälschung, sondern im Gegenteil sogar die zutreffendere Diagnose zum Ausdruck kommt. Das Kriterium ist die Erkenntnis Jesu Christi.Es geht bei ihr um den Vorgang der Offenbarung, der Enthüllung, ohne den die »Decke vor dem Angesicht bleibt, welche in Christo aufhört« (2. Kor. 3,14 ff.), ohne den das gründlichste Erkennen ein »Eifern mit Unverstand« ist. Es geht darum, daß letzten Endes Diagnose (d.h. Anthropologie) keine menschliche Möglichkeit ist, sondern vom Arzt gegeben werden muß.
In der paulinischen Rechtfertigungslehre haben wir solche Diagnose vor uns. Das in ihr enthaltene Menschenverständnis ist ein grundlegend anderes als das, das im alttestamentlichenVerständnis des Gesetzes begriffen ist. Der Mensch kann das Gesetz nicht erfüllen (Röm. 3, 20; Gal. 2,16). Er ist gefangen (Gal. 3, 23), unter die Sünde verkauft (Röm. 7,14), unter dem Fluch (Gal. 3,10). Diese Diagnose des Menschen in seiner Verlorenheit, von Paulus entfaltet, findet sich ebenso in Matth. 12, 29: »Wie kann jemand in eines Starken Haus gehen und ihm seinen Hausrat rauben, es sei denn, daß er zuvor den Starken binde und alsdann ihm sein Haus beraube?« — also auch hier der Mensch gefangen in der Gewalt eines Mächtigen, unfähig, sich selbst zu befreien, angewiesen auf den befreienden Dienst des Stärkeren-, nur, daß hier im Unterschied zu Paulus keine umfassende, allgemein gültige Aussage gemacht wird. Diese Wandlung bei Paulus war die einzig mögliche Konsequenz seiner in Auseinandersetzung mit dem Judentum entfalteten Christologie.
Damit hat Paulus in den Maßstäben seines geistlichen Handelns die Situation zwischen dem Menschen draußen und dem Herrn folgerichtig erfaßt und festgehalten. Daß es ihm in seinem geistlichen Handeln um den Menschen draußen, wo immer er sich befindet, ging, das zeigt sich im leidenschaftlichen Nachgehen, in welchem Paulus dem Juden wie ein Jude, dem Griechen ein Grieche wird und trotz aller Feindschaft und Enttäuschungen immer wieder um seine »Brüder nach dem Fleisch« ringt (Röm. 9,1). Daß es ihm dabei nicht zuerst um Solidarität, sondern um die Realität Jesu Christi ging, das zeigt sich im ebenso leidenschaftlichen Festhalten an dem in der Erkenntnis Jesu Christi gegebenen Evangelium, in welchem er keinen Fußbreit nachzugeben bereit war. »Wenn ich den Menschen noch gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht« (Gal. 1,10). So spricht einer, der um des Menschen draußen willen die Erkenntnis des Freundes drinnen gegen alle anderen, zahlreich vorhandenen Strömungen bezeugt. Darin ist das geistliche Handeln des Paulus bezeichnet.
b) Luther
Es läßt sich unschwer zeigen, daß auch Luthers Theologie in einer ganz ähnlichen Weise wie die des Paulus von der Situation im Doppelbezug zwischen Gott und Mensch bestimmt ist. Luthers reformatorische Entdeckung war nicht die Rechtfertigungslehre. Diese formte sich ihm im Anschluß an die des Paulus auf Grund seiner reformatorischen Entdeckung. Seine Entdeckung war die des in Jesus Christus offenbaren Gottes, seiner schenkenden Gerechtigkeit. An dem Begriff »Gerechtigkeit« geht es ihm auf, als Offenbarung, daß hier nicht von der Erfüllung des Gesetzes durch uns, sondern durch Ihn, Jesus Christus, die Rede ist. Luther wird damit aus den Nöten, die er in kaum vorstellbarer Weise stellvertretend für den Menschen draußen durchkämpft und durchlitten hat, herausgerissen und an den »Freund drinnen« verwiesen, der aus seiner Fülle gibt, was wir nicht haben, auch bei dem besten Leben. Es geht auch bei Luther um eine Veränderung des Subjekts — nicht ich, sondern Er. »Was Gott an uns gewendet hat…«, das ist ihm in Jesus Christus aufgegangen. Es ist für Luther überaus bezeichnend, daß sich ihm, der von der menschlichen Selbstdiagnose herkam, wonach der Mensch das Gesetz halten könne und es deshalb natürlich auch erfüllen müsse, alsbald in seiner reformatorischen Entdeckung der Unterschied von Gesetz und Evangelium als verschiedener göttlicher Funktionen erschloß. Darin lag für Luther ebenso wie bereits für Paulus eine völlig neue Diagnose des Menschen beschlossen. Und auch Luther hat diese Diagnose nicht erarbeitet oder gelernt. Auch ihm ist sie offenbart worden. Darin lag für ihn eine befreiende Erkenntnis, die ihn in seinem geistlichen Handeln zutiefst bestimmte.
Aus dem personalen Bezug zu Jesus Christus formt sich für Luther die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium zur Richtschnur geistlichen Handelns wie auch rechter Schriftauslegung. Man hat diese Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bei Luther oft untersucht. Sie ist gleichsam ein Schlüssel zu seiner Theologie. Wie ist Luther dazu gekommen? In der 1. Psalmenvorlesung (1513-1515) folgt er noch der traditionellen Auffassung, wonach Gesetz und Evangelium sich einfach decken mit Altem und Neuem Testament. Diese einfache und schematische Gleichsetzung, die kaum mehr ist als ein anderes Begriffspaar für die beiden Teile der Bibel, jedenfalls keinerlei theologische Gestaltungskraft hat, wird von dem Reformator entschlossen aufgegeben. Gesetz und Evangelium sind keine zeitlich-heilsgeschichtlich aufeinander folgenden Epochen, wie es noch Paulus hatte ausdrücken können (Gal. 3, 23; Röm. 6,14 — wobei man freilich nur zu leicht dem Paulus unter Mißachtung der Stellen, in denen er von der Aufrichtung des Gesetzes spricht — Gal. 3, 21 u. a. — solche nur epochale Auffassung unterschiebt!). Gesetz und Evangelium sind nun für Luther die überall in der Schrift zu findenden und zu unterscheidenden Redeweisen Gottes.
Darin geht Luther begrifflich und theologisch über Paulus hinaus. Es wird daran deutlich, daß Luther nicht einfach nur Paulus entdeckt hat, wie etwa ein Student der Theologie im 4. oder 6. Semester Paulus entdeckt und sich hinfortin seinen theologischen Äußerungen gleichsam mit Paulus identifiziert. Vielmehr hat Luther die gleiche Erfahrung gemacht wie Paulus. Und von dieser gleichen Erfahrung her rührt die große inhaltliche Ähnlichkeit beider in ihren theologischen Gedankengängen. Die Theologie Luthers kommt aus der gleichen Wurzel wie die des Paulus, aus der Offenbarung Gottes in Jesus Christus.
Gerade deshalb ist sie kein wiederbelebter Paulinismus.Sie kann es auch nicht sein. Für Luther stellt sich im Unterschied zu Paulus die theologische Aufgabe der Schriftauslegung nicht nur für das Alte, sondern gleichermaßen für das Neue Testament. Für Luther ergibt sich im Unterschied zu Paulus damit eine sehr viel umfassendere Aufgabe, das Alte Testament vom Neuen her zu lesen. Die in der Theologie des Paulus sich anbahnende, bei Paulus noch nicht begrifflich durchgeführte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, wird bei Luther unter Entfaltung der an sich selbst erfahrenen unterschiedlichen Handlungsweise Gottes, in Gesetz und Evangelium, zum kritischen Maßstab seiner Schriftauslegung.
Beide Funktionen des göttlichen Wortes, sowohl Gesetz als Evangelium, haben sich Luther erschlossen aus der vom deus revelatus in Jesus Christus erfahrenen Wirklichkeit dessen, wie es um den Menschen steht. Er ist ganz verloren, gerade darin, daß er diese seine Verlorenheit von sich aus nicht zu erkennen vermag. Und die für ihn bereitete Rettung geht ebenfalls über die Möglichkeiten seiner Vernunft und Kraft. Was aber anderes hat sich darin für Luther eröffnet als eine neue Diagnose, bezogen nicht aus eigener Erkenntnis, sondern vom Arzt? Von ihr aus unternimmt es Luther, gegen die Strömung seiner Zeit anzugehen. Die in der mittelalterlichen Kirche vorherrschende Überzeugung, der Mensch müsse tun, was in seinen Kräften steht und dadurch an seinem Heil mitwirken, wird von Luther auf Grund der in ihr enthaltenen falschen Diagnose bekämpft. Der Fehler, den Luther in ihr erkannte, ist die Meinung, der Mensch sei dazu in der Lage.
Damit kommt Luther auch zu einem neuen Verständnis der Bedeutung des Gesetzes im Neuen Testament, insbesondere in der Bergpredigt.Die Frage vor allem des Mönchtums, ob hier nicht doch das Heil aus den Werken begründet sei, deutet Luther als bezeichnenden Ausdruck einer unzureichenden Diagnose. Die Erfüllung des Gesetzes, von der Christus Matth. 5,17 spricht, geschieht nach Luthers im Gegensatz zur Tradition gewonnenen Verständnis nicht durch das, was Christus tut – wenngleich er als einziger in der Lage ist, das Gesetz zu halten! -, und erst recht nicht durch Ergänzung des etwa im Gesetz noch Fehlenden. Erfüllt wird das Gesetz vielmehr durch die Lehre, d. h. dadurch, daß nunmehr sein letzter Sinn enthüllt wird. Erfüllt wird es darin, daß die Illusion beseitigt wird, es sei gegeben, um durch uns erfüllt zu werden. »Jesus predigt hier (sc. in der Bergpredigt) nicht den Hauptartikel, was er selbst ist und gibt, er predigt hier nicht Evangelium, sondern Gesetz, aber so, daß es zum Evangelium treibt … Dann haben wir ihn in falscher Weise als Lehrer des Gesetzes verstanden, wenn wir uns durch ihn zu uns selber statt zu ihm weisen lassen. Darum hat — nach Luther — Franziskus das Evangelium von Grund auf mißverstanden. Mit seinem Verständnis wird Christi Blut geleugnet.
Es liegt auf der Hand, daß Luther in seinem geistlichen Handeln wie in seiner Schriftauslegung einer völlig neuen, persönlich erfahrenen Diagnose über den Menschen folgt. In seiner Theologie wird diese in der Entfaltung seiner Lehre von Gesetz und Evangelium ausgewertet. In der Schrift »Wider Latomus« (1521), einer Vorstufe der Hauptschrift vom unfreien Willen, äußert Luther einmal, der heilsgeschichtliche Sinn des Gesetzes sei erst seit der Verklärung Christi auf dem Tabor enthüllt worden. »Es gibt zweierlei Amt der Predigt, das eine des Buchstabens, das andere des Geistes … Das Gesetz rechtfertigte nicht — vielmehr da es untragbar war für die menschliche Schwachheit, so ist bis auf den heutigen Tag mit ihm die Gnade verhüllt auf dem Berge Tabor. Denn niemand erträgt die Gewalt des Gesetzes, es schütze ihn denn die Gnade; so war Mose gezwungen, sein Angesicht zu verhüllen. Daher verstehen die Juden bis heute das Gesetz nicht, denn sie versuchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und wollen nicht, daß diese zur Sünde werde, und daß sie der Gerechtigkeit Gottes untertan werden. Denn das schafft die Klarheit des Gesetzes, daß alle schuldig werden.«
In Sichtweite des unmittelbar bevorstehenden Opferganges des Sohnes, erst jetzt, konnte die Wahrheit des Gesetzes ans Licht kommen. Was zum Leben gegeben war, enthüllt sich als zum Tode führend (Röm. 7,10). Nach den Gesetzen der Logik bedeutete das eine Aufhebung der bisher gültigen Wahrheit des Gesetzes. Die Frage ist nur, ob die Gesetze der Logik auf die hier zu verhandelnden Sachverhalte anwendbar sind. »Wo die Logik herrscht, kann sie nicht zulassen, daß die Wahrheit in einem anderen Augenblick der Zeit aufhört, Wahrheit zu sein …« »Logik ist diejenige Art geistigen Lebens, in der die Göttlichkeit der Zeit übergangen wird.« So Eugen Rosenstock-Huessyunter Hinweis auf 1.Sam.21,6, das Davidswort »Ist dieser Weg unheilig, so muß er heute heilig genannt werden«. Dieses für griechische Logik unzugängliche Zugeordnetsein der Wahrheit an geschichtliche Offenbarung, an den Zeitpunkt, an den sie gehört, hat Luther intuitiv richtig erfaßt. Deshalb sind bei ihm Mose und Christus nicht Gegenspieler, sondern gleichsam Verbündete. Dies wird am deutlichsten in seiner großen Schrift vom unfreien Willen (1525).
Hier wird die Lage des Menschen, wie auch das an ihm und für ihn notwendige geistliche Handeln in einer für Luthers Theologie zentralen Weise ausgeführt: »Die Schrift schildert den Menschen als solchen, der nicht nur gebunden, elend, gefangen, krank und tot, sondern der auf Grund des Wirkens des Satans, seines Fürsten, seinem Unglück dieses Elend der Blindheit hinzufügt, daß er glaubt, er sei frei, glücklich, erlöst, mächtig, gesund, lebendig. Satan weiß nämlich, daß, wenn der Mensch sein Elend erkannt hätte, er keinen in seinem Reiche behalten könnte, da Gott des erkannten und schreienden Elends sich sogleich erbarmen und zu Hilfe kommen muß… Demnach ist es das Werk Satans, die Menschen zu binden, damit sie nicht ihr Elend erkennen, sondern voraussetzen, daß sie alles vermögen, was gesagt wird. Des Mose jedoch und des Gesetzgebers Werk ist das Gegenteil davon, nämlich, daß er durch das Gesetz dem Menschen sein Elend enthüllt, so daß es den in der Erkenntnis seiner selbst Zerschlagenen und irre Gemachten zur Gnade bereitet und zu Christum treibt, und er so gerettet werde…«
Nicht Mose und Christus sind demnach Gegenspieler, sondern Mose und Satan. Und wieder: Diese Sicht entspricht der Diagnose, wie sie Luther erfuhr. Danach ist der Mensch immer unter einer Herrschaft, entweder der Herrschaft Gottes oder der Satans. Von einem von beiden wird er immer >geritten<. Aber um diese seine Gefangenschaft weiß derMensch nicht. Er hält sich für frei. Und an dieser seiner Illusion knüpft Gottes Gesetz an, mit dem einen einzigen Zweck, die Illusion der Freiheit zu zerstören. Das Werk des Mose, die Funktion des Gesetzes, steht dem Werk des Satan entgegen, nicht dem Werk Christi. Satan fördert die Illusion vermeintlicher Freiheit, wozu konsequenterweise gehört, daß er selber als gar nicht existent zu erscheinen bemüht ist. Mose deckt die Illusion als solche auf, wobei sein Werk dem Werk Christi darin zugehört, daß sie beide der Wahrheit dienen gegenüber dem Lügner von Anfang an. Christus tritt als der Befreier auf den Plan, der durch sein Opfer das dem Feind durch die Sünde gegebene Recht auf den Menschen genommen und den Schuldbrief zerrissen hat (Kol. 2, 24). Erst dadurch konnte das Gesetz in seiner letzten göttlichen Bestimmung dem Menschen zur Enthüllung seines verzweifelt bösen, unheilbaren Schadens zugemutet werden. Erst unter den Siegesklängen der vollbrachten Befreiung vermag der Mensch das Ausmaß seines Geknechtetseins zu erfassen. Die Wahrheit tötet und macht lebendig, und nur weil sie lebendig macht, ist das Getötetwerden (vom Gesetz) ein Stück des wirklichen, geschehenden Heils. Beide, Gesetz und Evangelium, gehören deshalb zur Heilsbotschaft. Und beide haben es, wenn auch in unterschiedlicher Weise, primär mit dem Feind zu tun. »Das Wort richtet sich nicht nur an das Verstehen oder Nichtverstehen des einzelnen Menschen, sondern seine Macht richtet sich primär gegen den Teufel. Durch das schwache Wort aus Menschenmund wird der Satan vertrieben.«Geistliches Handeln wird somit bei Luther in der Verkündigung vonGesetz und Evangelium gleichermaßen aus der vom Arzt erfahrenen Diagnose abgeleitet und bestimmt. Es ist deshalb auch belanglos, eine feste Reihenfolge von Gesetz und Evangelium aufstellen zu wollen. Das Gesetz in seiner eigentlichen Funktion, den Menschen zu Christus hinzutreiben, kommt wohl vor dem Evangelium. Aber daß das Gesetz diese Funktion hat, wird erst im Evangelium deutlich und durch Christus offenbar. Römer 7 konnte also erst von einem Christen geschrieben werden.
Für Luthers Rechtfertigungslehre haben sich uns damit nicht bloße Begriffe als konstitutiv erwiesen. Sie hätte sonst auch als Ergebnis gründlichen Nachdenkens geformt werden können. Vielmehr sind für diese zentrale lutherische Lehre Namen konstitutiv. Vorab der Name Jesus Christus.Das wesentlich Neue in Luthers Evangelienauslegung läßt sich nicht auf einen Begriff bringen, sondern nur auf einen Namen: Jesus Christus … Der durchgehende Skopus von Luthers Evangelienauslegung ist nicht die Rechtfertigungslehre, sondern Jesus Christus allein. Sodann aber auch die Namen Mose und Satan. Unter diesen Namen entfaltet Luther seine in der Offenbarung Jesu Christi gewonnene Theologie. Im Werk Moses und Satans geht es um den Menschen, den Christus erlöst hat und dem unser geistliches Handeln gilt. Von den Namen her ergibt sich in eindrucksvoller Konzeption Luthers Theologie, seine Anthropologie, sein geistliches Handeln. Sie sind allesamt offenbart von dem einen her, dessen Name über alle Namen ist.
III. Die Gefährdung unseres geistlichen Handelns
1. Luther oder Erasmus? Die Frage der Entscheidungsfreiheit
Der Streit zwischen Luther und Erasmus um die Willensfreiheit war ein Streit um die rechte Diagnose. Dabei ist der Standort des Erasmus der des Menschen, der durch logische Schlüsse und ethische Postulate — das Gesetz habe nur dann Sinn, wenn es erfüllt werden könne — die Diagnose aus dem Eigenen erschließt. Luthers Gegenposition besteht nun nicht einfach darin, dem Optimismus seines Gegners mit Pessimismus zu begegnen. Vielmehr geht es in dieser Auseinandersetzung um den Gegensatz theologischer und philosophischer Argumentation. …
Da sind nicht Begriffe, sondern Namen bestimmend. Da ist der Mensch nicht Subjekt, sondern Gegenüber, Spiegel dessen, dem er gehört. Da wirkt deshalb auch nicht der Mensch in seiner Willensentscheidung sein Heil, sondern Gott gewinnt ihn von aller Sünde, vom Tode und von der Gewalt des Teufels. »Die Entscheidung fällt also nicht beim Menschen, sondern bei Gott, sie wird nicht gefordert, sondern verkündet; sie wird nicht vollzogen, sondern geglaubt (Iwand).« Diese theologische Diagnose hat sich im Abschluß der lutherischen Bekenntnisentwicklung, in der Konkordienformel in die Worte gekleidet: »Zuvor und ehe der Mensch durch den heiligen Geist erleuchtet, bekehrt, wiedergeboren, erneuert und gezogen wird, kann er von sich selbst und aus seinen eigenen natürlichen Kräften in geistlichen Sachen und seiner selbst Bekehrung oder Wiedergeburt etwas anzufangen, wirken oder mitzuwirken gleich so wenig als ein Stein, oder Block oder Ton.« Indessen ist der Kampf zwischen Luther und Erasmus nicht ein für allemal entschieden. Er bleibt als Gegensatz theologischer und philosophischer Argumentation jeder Generation neu aufgegeben.
Erasmus ist nicht tot. Die Parole des Humanismus »Entscheidungsfreiheit« erhebt innerhalb der Theologie die Stimme und beeinflußt ihre Entwicklung wie das geistliche Handeln nachhaltig. Das zeigt sich besonders auffallend in der im Kern veränderten Auffassung der Lehre vom Gesetz. Willensfreiheit und humanistisch-idealistisches Verständnis des Gesetzes stehen in unzertrennlichem Zusammenhang. Über die Verfälschung vom Sinn und Amt des Gesetzes ist die Philosophie ins Christentum eingedrungen und hat aus Glauben, Heil und Erlösung eine sittlich-religiöse Haltung gemacht, deren Herausbildung höchstes Ziel wurde. Die natürliche Diagnose gewinnt auf dem Wege über Kants kategorischen Imperativ »Du kannst, denn du sollst!«, weit getrennt von der göttlichen Diagnose, wie sie Röm. 7 bekundet, tiefgehenden Einfluß auf die evangelische Christenheit. Gesetz und Imperativ werden identifiziert, selbstverständlich in der Voraussetzung ihrer Erfüllbarkeit. Daß in der Schrift zwischen dem Imperativ der Ermahnung, besonders in den Briefen des N. T., und dem »Du sollst« des Gesetzes ein grundsätzlicher Unterschied besteht, wird nur zu leicht übersehen. …
Wir haben in den beiden nächsten Abschnitten dieser Unsicherheit in zwei verschiedenen Richtungen nachzugehen: im Blick auf Unterschiede innerhalb pietistischer Verkündigung, und im Blick auf das Gesetzesverständnis in der heutigen Theologie.
2. Zum Gesetzesverständnis im Pietismus
Es ist für die Beurteilung der Predigt im Pietismus wesentlich, zu unterscheiden zwischen Gesetzespredigt und Bekehrungspredigt. In der Predigt des Gesetzes folgt der frühe Pietismus weithin dem lutherischen Verständnis des Gesetzes als des »Spiegels«, aus welchem Erkenntnis der Sünde kommt. »Beiderlei Wort Gottes — Gesetz und Evangelium — haben ihre sonderliche Kraft. Das Gesetz hat diese Klarheit und Kraft, daß den Menschen darin wird vorgestellt, was der lautere Wille Gottes sei. Denn der Mensch soll aus demselben als einem Spiegel sich und seine Sünden, die er vor Gott getan hat… recht erkennen lernen… Es hat das Gesetz wohl auch seine Kraft, nämlich daß es dem Menschen seine Sünden zu erkennen gibt, damit er also fein bereitet werde, das Evangelium recht sehnsüchtig anzunehmen.« (A. H. Francke.)Das ist gut lutherisch.
Der für pietistische Predigt als kennzeichnend geltende »Ruf zur Bekehrung (Entscheidung)« gehört dagegen nicht zur Predigt des Gesetzes, sondern zur Predigt des Evangeliums. So ist es bei dem biblischen Ruf »Kehrt um!« Er ist aufs engste verbunden mit der frohen Botschaft: »Denn Gottes Herrschaft hat sich genaht.« (Matth. 3, 2.) Bekehrung ist deshalb Freude, und Ruf zur „Bekehrung ist Ruf zur Freude. Man wird von daher die Redeweise von der »Bekehrungspredigt« als der für den Pietismus typischen Verkündigung grundsätzlich überprüfen müssen. Otto Rieckersagt in seiner Untersuchung der Verkündigung der großen Evangelisten »Das evangelistische Wort«: »Die evangelistische Predigt wird im landläufigen Urteil gern als Bekehrungspredigt verstanden, und zwar so, als ob der Ruf zur Bekehrung mit Vorliebe erschalle. Es ist jedoch auffallend, wie selten bei den Führenden der Evangelisation die Forderung der Bekehrung ausdrücklich erhoben wird, wie selten das Wort >Bekehrung< oder >bekehren< überhaupt vorkommt … Die Botschaft wird entfaltet… so daß der Blick einerseits durch das Evangelium auf Christus und Gott, der alles wirkt, andererseits auf den jetzigen Stand des Wegs und das jetzt zu Tuende fällt… «Rechte Bekehrungspredigt erschöpft sich nicht in der Aufforderung, sich zu entscheiden, als ginge es um das Tun des Menschen. Rechte Bekehrungspredigt ruft zur Annahme der im Evangelium verkündigten Rettungstat Gottes. Wo diese wirklichkeitsecht bezeugt wird, geschehen Bekehrungen, nicht weil sie »gefordert» werden, sondern weil Gott als der im Evangelium Handelnde Menschen befreit, daß sie die Kindschaft empfangen. Rechte Bekehrungspredigt ist darum Evangeliums-, nicht Gesetzespredigt.
Um das zu veranschaulichen, seien zwei Beispiele aus verschiedenen Zeiten des Pietismus wiedergegeben. Das erste ist dem genannten Buch Rieckers entnommen und gibt einen Ausschnitt aus einer Predigt Moodys:
»Ich kann mir vorstellen, wie Petrus sagte: >Herr, meinst du wirklich, daß wir das Evangelium aller Kreatur predigen sollen?< — >Ja, Petrus.< — >Sollen wir nach Jerusalem zurückgehen und das Evangelium diesen Sündern predigen, die dich ermordeten?< — >Ja, Petrus, geht wieder hin und bleibt dort, bis ihr mit Kraft aus der Höhe angetan werdet. Ihnen bietet das Evangelium zuerst an. Geh, such den Mann, der mir ins Gesicht gespien hat. Sag ihm, ich vergebe ihm. Es ist nichts in meinem Herzen als Liebe zu ihm. Geh, such den Mann, der mir diese schreckliche Dornenkrone auf die Stirn gesetzt hat. Sage ihm, daß ich ihm eine Krone in meinem Reich bereithalten will, wenn er das Heil annimmt. Kein Dorn soll in ihr sein, und er soll sie für immer und ewig tragen im Reich seines Erlösers. Finde den Mann heraus, der mir das Rohr aus der Hand nahm, und mein Haupt damit schlug und mir so die Dornen tiefer in die Stirn trieb. Wenn er das Heil wie ein Geschenk annehmen will, will ich ihm ein Zepter geben, und er soll es über die Nationen der Erde schwingen. Ja, ich will ihm geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen. Geh, such den Mann, der mich mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hat. Finde ihn und predige ihm das Evangelium. Sage ihm, daß das Blut Christi von aller Sünde reinigt und daß mein Blut für ihn aus freier Gnade vergossen wurde.< Ja, ich kann mir denken, wie er sagte: >Gehe, suche den armen Soldaten auf, der mir den Speer in die Seite stieß. Sage ihm, daß es einen näheren Weg zu meinem Herzen gibt als diesen. Sag ihm, daß ich ihm frei vergebe, und daß ich aus ihm einen Soldaten des Kreuzes machen will, und mein Banner über ihm soll Liebe sein.<«
Das andere Beispiel stammt aus unseren Tagen. Es ist einer Tonbandaufnahme vom Ahldener Jugendtag 1958 entnommen (Schlußansprache Pastor H. Kemner, Text Jes. 52, 1—3, – gekürzt):
»Gott hat etwas getan! Was hat er getan? Er ist herabgestiegen in unseren Kerker, in unsere Illusion, in unsere eingebildete Freiheit. Er ist herabgestiegen auch in deinen Kerker, und Er hat die Kerkertüren gesprengt. Hier steht: >Ohne Entgelt seid ihr hineingekommen, ohne Entgelt werdet ihr wieder losgekauft werden.< Gott hat, will das Wort doch sagen, einen Anspruch auf dich. Du bist hineingeraten in die Sünde nicht nur durch deine Schuld, sondern die Mächte der Tiefe sind da, die dein junges Leben umgeben … Die Macht aus der Tiefe ist stärker als dein Wille, als deine Entscheidung. Und da brauchst du nun einen, der dir da heraushilft aus diesem Kerker. Und sieh, da ist die Botschaft: Es ist einer gekommen, der unserem Leben eine Mitte gibt, es ist einer da, der in die Höllentiefe hinabgestiegen ist. In welcher Tiefe du immer stehst — Jesus ist noch tiefer gewesen. In der Gottverlassenheit am Kreuz, da hat er dem Bösen die Macht genommen, da hat er die Tore des Gefängnisses gesprengt, da hat er erfüllt, was er in seiner ersten Predigt gesagt hat: >Ich bin gekommen, die Gefangenen in dieser Welt zu befreien, Ketten zu sprengen, Leben und volles Genüge zu geben …<«
»… Du kannst nie ganz sein, nie ganz unmittelbar zu Gott sein. Du hast immer Angst im Herzen. Du verlierst sie nur bei dem, der die Kerkertüren aufgeschlossen hat, wenn du aus dem Geheimnis deiner Sünde herauskommst, wenn du an der schwächsten Stelle deines Lebens zu Jesus kommst, dort fängt Gott seine Geschichte an, dort macht er dich frei.
Aber du mußt auch etwas tun: >Werde wach, werde wach!< Unmittelbar nach diesem Kapitel kommt das 53. Jesajakapitel, eines der gewaltigsten der Bibel. >Fürwahr, er trug unsere Krankheit!< Werde wach, werde wach! Komme heraus aus der Illusion! Jesus Christus ist der Durchbruch aus allen Illusionen zur Wirklichkeitserfassung dieser Welt. Hier hast du ewigkeitlichen Boden unter den Füßen. Hier hast du ein >Es ist vollbracht^ Hier hat Gott dich rückversichert für alle Lagen. Hier kannst du frei sein, und wenn du in Ketten liegst. Hier brauchst du keine Angst zu haben, was da kommt. Hier ist Ewigkeit in der Zeit! Deshalb komm zu Jesus! Vielleicht wirst du heute zum letzten Mal gerufen. Komm zu Jesus, fahr nicht wieder so nach Hause! Du kannst in dieser Stunde, wenn Gott es dir schenkt, wenn der Heiland vor deiner Herzenstür steht, die Ganzheit finden, wenn Gott Gnade gibt. Man kann das nicht immer! … Werde wach, werde wach! Komme heraus aus deiner Illusion! Komm jetzt heraus! >Lege deine Prachtgewänder an! Kleide dich in deinen Sieg!< Was ist das? Das ist nicht deine Willenskraft, das ist nicht der kategorische Imperativ Kants >Ich kann, wenn ich will.< Nein, das ist der Sieg, den ein anderer für dich erfochten hat. Du kannst nichts tun in deinen schwächsten Stunden, als fliehen in den Sieg Jesu, unter sein Kreuz, in seine Arme. Und du wirst merken: Flucht ist Sieg. Du wirst erfahren, was ich auch erfahre: Die Versuchungen weichen, und der Sieg wird geschenkt! Das Morgen ist schon überholt. Der Sieg ist schon für Jesus entschieden, seit der Auferstehung. Wir tragen die Fahne. Wir rufen’s im sinkenden Schiff: Komme zum Heiland, ja komme noch heut! Kleide dich in deinen Sieg, der dir gehört, >daß in der Kreuzesritterschaft du werbest um den Sieg. Der Sieg ist nicht mehr weit, halt tapfer aus im Streit! Schon winket dir der Ehrenlohn, des ewigen Lebens Kron‘!< «
Beiden in ihrer Eigenart so verschiedenen Beispielen erwecklicher Verkündigung ist dies gemeinsam, daß sie eine Aufforderung zur Entscheidung nur eingebettet in eine Bezeugung des lebendigen Herrn Jesus Christus und seines erlösenden Tuns bringen, die nicht dem Menschen die Entscheidung aufnötigt, sondern sie ihm als die Errettung aus der Sündenknechtschaft zuteil werden läßt. Darin ist die biblisch-reformatorische Diagnose des Menschen gewahrt, und in solcher Predigt wird nicht der Mensch mit seinem Tun verherrlicht.
Die besondere Versuchung des Pietismus liegt wohl darin, daß der Ruf zur Entscheidung verwechselt oder vermischt wird mit der Predigt des Gesetzes. Alsdann wird der rechte Zweck des Gesetzes, zu überführen, leicht vereitelt, auch wenn in rechter Weise Gesetz gepredigt worden war. Denn wenn nun in ähnlicher Weise, wie das Gesetz fordert, Entscheidung »gefordert« wird im Sinne eines gewöhnlichen Imperativs, wird mit der Verwandlung der Bekehrungspredigt, die doch Evangeliumspredigt sein muß, zur Gesetzespredigt das Gesetz in seiner göttlichen Bedeutung verdorben zur bloßen Anfeuerung menschlichen Wollens. Das Ergebnis ist dann religiöses Leben im alten Menschen, nicht aber neues Leben, das allein Gott erwecken kann, und zwar ohne menschliche Voraussetzungen dazu nötig zu haben. Nicht selten ist heute in pietistisch geprägten Gruppen eine solche von der Diagnose, daß der Mensch nicht verloren ist, sondern sich frei entscheiden könne, bestimmte Verkündigung die Ursache für tiefgehende Nöte und Mißstände. Es ist sehr wichtig, daß das geistliche Handeln in erwecklicher Verkündigung (Evangelisation) nicht an der rechten Diagnose vorbeigeht, sondern sie einschließt und beherzigt. Es liegt ganz wesentlich daran, daß der Unterschied zwischen rechter Gesetzespredigt und Bekehrungspredigt klar erfaßt wird. Und dies hängt wiederum eng zusammen mit der vom Arzt zu gebenden Diagnose.
Die aus humanistischer Diagnose kommende Unsicherheit im Verständnis des Gesetzes ist, wie wir sahen, am Pietismus nicht spurlos vorübergegangen. Sie ist in mancherlei Weise zu spüren auch in der neueren Theologie.
3. Zum Gesetzesverständnis in der modernen Theologie
Für die genannte Unsicherheit im Gesetzesverständnis der modernen Theologie gibt es viele Symptome. Einige seien im folgenden angeführt:
a) Die Aufgabe des Gesetzes wird negativ bewertet.Das Gesetz tritt gegenüber dem Evangelium in einer Weise in den Hintergrund, daß nicht mehr deutlich wird, wozu es überhaupt gegeben ist. Zumeist wird in dieser Anschauung die oben genannte Stelle Röm. 10, 4 so übersetzt, daß Christus das »Ende« des Gesetzes ist. Man kann sich darin zwar auf die paulinische Äonenlehre berufen, die ein zeitliches Nacheinander von Gesetz und Evangelium nahelegt. Indessen wird dann nicht deutlich zu machen sein, inwiefern auch Paulus meint, das Gesetz gerade aufzurichten (Röm. 3, 3a). Diese und ähnliche Stellen treten demzufolge in dieser Interpretation des Gesetzes zumeist merkwürdig in den Hintergrund. Sie passen nicht zur negativen Sicht des Gesetzes.
b) Das Gesetz wird als Menschenwort bezeichnet,im Unterschied zum Gotteswort, das allein Evangelium sei. …
c) Gesetz und Evangelium werden als dialektisches Prinzip verstanden.Gesetz und Evangelium waren bei Luther aus seiner Gotteserfahrung verstanden worden als zwei unterschiedliche Weisen, wie Gott wirkt und hilft. Ihre Unterscheidung ist der eigentliche Prüfstein für einen Theologen. Ihre Vermischung ist der Grundschaden und das Werk des Feindes in der Theologie. …
Hier ist eine Verschiebung zu beobachten. Sie hängt damit zusammen, daß durch die Verknüpfung von Kants Imperativ mit dem Begriff des Gesetzes, Predigt des Gesetzes und >Forderung< des Glaubens zueinanderrücken. Beide werden darin pervertiert, das Gesetz als »erfüllbar«, der Ruf zum Glauben als »Forderung«. Wie mir scheint, ist die begriffliche Verknüpfung zuerst vollzogen worden von Kierkegaard. In seinem folgenschweren Satz, mit dem er in der »Einübung im Christentum« einen wesentlichen Abschnitt überschreibt: »Die direkte Mitteilung verweigern, heißt den >Glauben< fordern …«, ist die Glaubensforderung zugleich als Gesetz und Evangelium verstanden.Es kann bei der »Einübung im Christentum« kaum ein Zweifel daran bestehen, daß es sich in ihr um eine Einübung im Gesetz handelt, unter der Forderung der Idealität, die die Idealität Christi ist. Daß das Gesetz tötet, das erweist sich m. E. in erschütternder Weise in der ganzen Existenz Kierkegaards. Er sieht nur die Glaubensforderung. Diese aber begegnet ihm in der Unerbittlichkeit des Gesetzes. Das Evangelium fehlt. Hat Kierkegaard es überhaupt zu Gesicht bekommen? Es kommt aus Verzweiflung kein Glaube. Es kommt aus ihr nur die Imagination von Glaube. Deshalb wird Kierkegaard dieses seines Glaubens nie ganz froh. Ja, es bleibt zweifelhaft, ob er überhaupt zum Frieden gekommen ist.
Gegen die direkte Mitteilung polemisiert Kierkegaard, weil er nur so das verlorengegangene Ärgernis meint wieder einführen zu können. Aber es ist ein anderes Ärgernis als das der Bibel, das nun eingeführt wird. In der Bibel ist das Ärgernis die Erniedrigung des Gottessohnes bis zum Tode am Kreuz, der Weg aus der Herrlichkeit bei Gott in die Tiefe der Gottverlassenheit. Dieses Ärgernis mag immerhin und weiter direkt mitgeteilt werden, es hat seine Anstößigkeit darin, daß es unserem Denken und Wollen widerspricht. Das Ärgernis, das Kierkegaard jetzt herausstellt und das allerdings nicht direkt mitgeteilt werden kann, ist das Inkognito Christi, daß ein gewöhnlicher Mensch, ein Mensch wie wir, Gottes Sohn sein solle. In diesem Paradox liegt zwar bei Kierkegaard das biblische Ärgernis der Erniedrigung beschlossen. Nichtsdestoweniger wird aus dem Ärgernis des Inkognito in der Folge etwas anderes, als es das biblische Ärgernis ist. Es ist nun die Niedrigkeit, Unscheinbarkeit, bloße Menschheit, die an die Stelle der Erniedrigung, Selbstentäußerung, Menschwerdung tritt. Der Glaube hat jetzt keine inhaltliche, persönliche Deckung in einer vollbrachten Tat, in einem zurückgelegten Weg mehr. Vielmehr »muß« jetzt nackt und blind geglaubt werden. Die Predigt vom Glauben wird damit zwangsläufig zur Forderung des Glaubens, nämlich das Ärgernis des Inkognito »glaubend« zu überwinden. Inwiefern Glauben ein »Dürfen«, ein Geschenk ist, bleibt vom Inhaltlichen her offen. Wer glaubt, der erfährt, daß die Forderung — von der anderen Seite gesehen — Gabe ist. Gesetz und Evangelium sind nun zwei Seiten eines und desselben Wortes. Das Wort begegnet als Forderung, der Glaube aber versteht die Forderung als Geschenk. Der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium liegt jetzt nicht mehr in der Verschiedenheit des Wortes Gottes, sondern im Verständnis des Hörers, vor dem Glauben und im Glauben.
Diese »Dialektik« wird von Kierkegaard her weithin einflußreich bis in die Gegenwart. Bereits an dieser Stelle muß gesagt werden, daß die Behauptung, solche Dialektik entspräche der reformatorischen Theologie, insbesondere ihrer Rechtfertigungslehre, ganz unhaltbar ist. Hier sind ja praktisch Gesetz und Evangelium identisch. In welchem Maße diese Veränderung von Kierkegaard her sich ausgewirkt hat, dafür einige Beispiele:
Bultmann,der auch sonst in der Konzeption seiner Theologie wesentliche Einflüsse von Kierkegaard aufnimmt, so etwa den Ärgernisbegriff, sagt, daß die Predigt der Forderung Gottes dem Menschen die Freiheit zumute, und daß der Glaube ihre Zumutung als Gnade verstehe. Und: der Glaubende verstehe das Gesetz als Gnade. Damit entdecke er den eigentlichen Sinn des Gesetzes, das von jeher ein Gebot zum Leben war. Wäre das nur im Hinblick auf den Imperativ der neutestamentlichen Ermahnungen gesagt, könnte man das so gelten lassen, nur daß diese imperative im N. T. den Glaubenden gelten und von diesen kaum als Zumutung, als Forderung verstanden worden sein dürften. Aber Bultmann setzt ja hier den Imperativ der neutestamentlichen Ermahnungen dem »Gesetz zum Leben« gleich. Das läßt sich aber schwerlich halten.
E. Fuchssagt: »Jesu Forderung der Entscheidung ist in Wahrheit immer die Erlaubnis zur Freiheit… so daß uns mit dem Gesetz zugleich der Weg offenbar wird, auf dem Gott zu uns kommt.« Das ist die gleiche Dialektik, die Gesetz und Evangelium identifiziert.
F. Gogartensagt: »Es geht… bei der Lehre von Gesetz und Evangelium darum, daß das Wort Gottes, das Gesetz und Evangelium, Forderung und Gabe in einem zugleich ist…« Auch bei ihm wird die Forderung im Glauben zur Gabe.
Aus dieser Dialektik wird deutlich, warum in der Theologie unserer Zeit so viel von der Entscheidungsforderung zu hören ist. Die Verkündigung ist auf diese Forderung angelegt und geht in ihr auf. Sie ist Anrede (Kerygma), und der für reformatorische Verkündigung entscheidende Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium ist in dieser Anrede eingeebnet. Der Unterschied liegt nur noch in der Art des Hörens und Verstehens. Im Glauben wird aus dem Gesetz das Evangelium.
Diese Begriffsdialektik wurde allerdings nur möglich, weil die hinter den Begriffen stehenden Namen, sowohl der des Mose als des Knechtes und Freundes Gottes, als auch vor allem Jesu Christi und Satans verblaßten und zu Formeln wurden bzw. — im Falle Satans — überhaupt ihre Relevanz verloren. Sie beruht auf dem Verlust des theologischen Gesetzesbegriffes, der einem Verlust der göttlichen Diagnose gleichkommt. Und wo das Gesetz seine Funktion gegenüber der Macht Satans nicht mehr ausüben kann, ist es kein Wunder, daß die Frage nach dem gnädigen Gott verstummt. …
IV. Erwägungen zur Erneuerung unseres geistlichen Handels
1. Die Funktion des Gesetzes heute
Kann nun aber eine Antwort gegeben werden auf die brennende Frage, wie das Gesetz dem heutigen Menschen in rechter Weise ausgerichtet werden könne? In formeller Hinsicht müßte eine solche Antwort die gleiche sein wie in früheren Zeiten: »Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde« (Röm. 3, 20).
Inhaltlich müßte eine Antwort auf die in mancherlei Weise veränderte Situation des heutigen Menschen bezogen sein. Worin hat diese heutige Situation ihre Besonderheit? Hier ist nicht nur allgemein nach besonders »modernen« Fragestellungen zu forschen. Hier geht es um die Frage, an welcher Stelle dem modernen Menschen sein Gefangensein, von dem er von sich aus nicht weiß noch wissen kann, das er vielmehr noch für besondere Freiheit halten mag, enthüllt und aufgedeckt werden müßte. Hier läge alsdann die ureigentliche göttliche Aufgabe des Gesetzes heute.
Als Hinweis, in welcher Richtung hier weitergedacht werden muß, seien an dieser Stelle zwei Stimmen wiedergegeben, die den verborgenen Grundschaden des heutigen Menschen nennen:
Hans Asmussensagt in einer kleinen Studie: »Die Seelsorge muß den Menschen heute als den >Simul Servus et Dominus< ins Auge fassen. Die Seelsorge muß sehen, daß der die Natur beherrschende Mensch gerade >in seinen besten Werken< sich selber knechtet. Es sind keine vordergründigen Irrtümer, wenn der Kommunismus und in anderer Weise der Liberalismus durch die größten Fortschritte in einem menschengefährdenden Irrweg endet…«
Das andere Wort stammt von C. F. v. Weizsäcker:»Der Glaube an die Wissenschaft ist die beherrschende Religion unseres Zeitalters.« Dieses Wort rührt wie auch der Hinweis Asmussens an eine Stelle, die dem Menschen von heute ähnlich wichtig ist wie früheren Zeiten die »guten Werke« (Reformationszeit) oder die »Gerechtigkeit« (Paulus). Es betrifft die Funktion des Verstandes als des Organs, mit welchem der Mensch sich denkend, verstehend, wissenschaftlich forschend der Welt bemächtigt. Vordergründig betrachtet feiert das Denken des Menschen heute Triumphe. Sollte dahinter eine Knechtschaft ebenso großen Ausmaßes verborgen sein?
Es gibt nicht wenige Stimmen die kritisch auf die Bedeutung hinweisen, die der Begriff des Verstehens für christliche Theologie in der Neuzeit bekommen hat. Iwandhat schon 1954 darauf hingewiesen, daß mit der »seit Kant in der Theologie erfolgten Umdeutung des >pro me< zum methodischen Prinzip … die Dogmatik (Glauben und Lehre) zugunsten der Reflexion (Glauben und Verstehen) um ihren Sachgehalt gebracht worden ist«. Paul Schützerklärt: »Mit dem Begriff des Verstehens ist das Evangelium schon im Ansatz verfehlt. Verstehen fragt nach Sinn. Im Evangelium geht es um Sein-Können im Nicht-Sinn.«
Wir stellen deshalb die Frage, ob die Parole von der »autonomen Vernunft«in Analogie steht zur Parole von der Entscheidungsfreiheit. Dann aber ist ebenso in innerster Übereinstimmung mit der reformatorischen Theologie zu sagen, daß diese Parole einer Illusion huldigt, nicht anders als Erasmus mit der behaupteten Freiheit des Willens. …
Das heißt aber nun nicht, daß die Vernunft selber »vom Teufel« ist. Vielmehr sind Gebrauch der Vernunft und Gebrauch des Willens in Parallele zu sehen. Beide bedürfen zur rechten Nutzung der Befreiung. Daß solche Befreiung überhaupt vonnöten, kann der Mensch von sich aus nicht sehen. Da tritt die Rolle des Gesetzes in Funktion. Wie diese göttliche Funktion des Gesetzes im Blick auf die Parole der Neuzeit aussehen könnte, das hat. G. Hamann, der noch viel zu wenig beachtete Bestreiter der Aufklärung, prophetisch gesehen. Als der erste Rezensent Kants setzt er unter die nie veröffentlichte Besprechung der »Kritik der reinen Vernunft« den Satz aus den Satiren des Persius »O quantum est in rebus inane« — »O all dies Treiben ist eitel!« — und fügt das andere Wort aus Vergils Aeneis hinzu »Sunt lacrumae rerum« — »Dinge zum Weinen sinds«. Zerstreut in seinen Briefen finden sich die Äußerungen, in denen er die göttliche Aufgabe des Gesetzes angesichts des Vernunftglaubens der Aufklärung sieht: »… es geht den Philosophen wie den Juden, beide wissen nicht, weder was Vernunft noch was Gesetz ist, wozu sie gegeben: zur Erkenntnis der Sünde und Unwissenheit, nicht der Gnade und Wahrheit, die geschichtlich offenbart werden muß und sich nicht ergrübeln noch ererben noch erwerben läßt.« – »Die Vernunft ist heilig, recht und gut; durch sie kommt aber nichts als Erkenntnis der überaus sündigen Unwissenheit …« – »Unsere Vernunft ist also ebendas, was Paulus das Gesetz nennt – und das Gebot der Vernunft ist heilig, gerecht und gut. Aber ist sie uns gegeben, uns weise zu machen? Ebensowenig als das Gesetz den Juden, sie gerecht zu machen, sondern uns zu überführen von dem Gegenteil, wie unvernünftig unsere Vernunft ist, und daß unsere Irrtümer durch sie zunehmen sollen, wie die Sünde durch das Gesetz zunahm. Man setze allenthalben, wo Paulus vom Gesetz redet – das Gesetz unseres Jahrhunderts und die Losung unserer Klugen und Schriftgelehrten – die Vernunft: so wird Paulus mit unseren Zeitverwandten reden; und seine Briefe werden nicht mehr einer Trompete ähnlich sein, nach deren Schall sich keiner zum Streit rüstet, weil sie unverständlich das Feldzeichen gibt…« (Brief an J. G. Lindner v. 3. 7. 1759).
Die Rolle des Gesetzes im Blick auf die Illusion einer autonomen Vernunft wäre demnach die, diese Illusion als solche zu enthüllen. Auch darin stünde das Gesetz als göttliche Funktion im Dienste der rechten Diagnose. Und gleichwie Christus das Ziel und die Erfüllung des Gesetzes ist, so soll und will Christus der Meister der Vernunft werden, sie durch seinen Geist erfüllen und leiten, sie aus der Gefangenschaft der vermeintlichen Autonomie (die doch in Wahrheit Knechtschaft des Teufels ist) befreien und gefangennehmen unter den Gehorsam Christi (2. Kor. 10,4 f.). Dann wäre das vielgenannte und abgewiesene »sacrificium intellectus« keine unerträgliche Zumutung, sondern ein Teil des durch die Barmherzigkeit Gottes sich begebenden lebendigen, heiligen und Gott wohlgefälligen Opfers, ein Teil jener Umgestaltung in der Erneuerung auch des Denkens und Verstehens zur rechten Beurteilung des Willens Gottes, seiner Diagnose und des notwendigen geistlichen Handelns (Röm. 12,1 f.).
2. Abhängigkeit als Kennzeichen geistlichen Handelns
Wir brechen hier ab und wenden uns nun zum Abschluß abermals der eingangs aufgezeigten, für geistliches Handeln charakteristischen Situation »zwischen« dem Menschen draußen und dem uns zum Freund gegebenen Herrn und Helfer des Menschen drinnen zu. Daß wir dies tun, entspricht einer in diesem »zwischen« begründeten Notwendigkeit. Auch und gerade, wenn unsere Gedankengänge an einen Punkt geraten, an welchem sich konkrete Verhaltensweisen und praktische Folgerungen für unser Handeln abzeichnen, werden uns keine Rezepte gegeben. Auch und gerade wenn wir, wie im vorigen Abschnitt, die Rolle des Gesetzes in der heutigen Situation in den Blick bekommen und damit die Funktion geistlichen Handelns im Dienste der rechten Diagnose erkennbar wird, bekommen wir nichts in die Hand, das uns in uns selbst ermächtigt, selbständig und unabhängig zu handeln. Es liegt im Wesen geistlichen Handelns, daß man es nie in den Griff bekommt.Schritt für Schritt, Augenblick für Augenblick, bleibt auch bei sich klärender Erkenntnis, was zu tun ist, das Angewiesensein auf den Freund drinnen bestehen. Hier versagt das Bild vom Arzt und seiner Diagnose. Ein Arzt gibt, nachdem die Diagnose gestellt ist, dem Patienten Anweisungen, Rezepte, mittels derer der Patient wenigstens zeitweise zu eigenem, selbständigem Handeln ermächtigt und befähigt ist. Dieser unser Arzt und Freund gibt sich selbst. Er selbst ist und bleibt der Herr alles geistlichen Handelns. Wir werden in solchem Handeln, wenn es recht geschehen soll, nie selbständig. Abhängigkeit ist das Kennzeichen geistlichen Handelns.
Das war auch in früheren Zeiten so. Die Rechtfertigungslehre des Paulus war für Paulus kein Prinzip, das sein Handeln hätte bestimmen können, wie es Prinzipien tun können und sollen. Alle Aussagen der paulinischen Theologie werden nicht als Teile eines Systems oder als prinzipielle Erkenntnisse zu fassen sein, sondern einzig und allein als jeweiliger Ausdruck eines in Abhängigkeit von Jesus Christus als dem lebendigen Herrn geprägten und geleiteten Denkens. Die mancherlei Spannungen und logischen Widersprüche in der paulinischen Theologie sind allein daraus hinreichend begründet und erklärt (was natürlich nicht bedeuten soll, daß man ihnen in theologischer Reflexion nicht gründlich nachzudenken hätte). Und ebenso ist Luthers Gebrauch und Verständnis von Gesetz und Evangelium nicht als methodisches oder hermeneutisches Prinzip zu fassen. Schon die seltsam widersprüchlichen Aussagen Luthers dazu haben uns das lehren können. Wenn Luther z. B. in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium den Inbegriff theologischen »Könnens« (wenn man einmal so sagen soll) sieht, andererseits aber sagt, daß »kein Mensch auf Erden lebt, der das Evangelium und Gesetz recht zu unterscheiden weiß…«, dann ist das nicht einfach ein logischer Widerspruch, sondern ein Zeugnis dafür, daß geistliches Handeln nur in Abhängigkeit möglich ist. Da sind und bleiben wir Bettler, gerade als Theologen.
Deshalb ist überall, wo die Rechtfertigungslehre als Prinzip aufgefaßt und angewandt wird, bereits von der Wurzel her eine Fehlentwicklung eingeleitet, die nur auf einem Irrwege enden kann. Daß Gott die Gottlosen rechtfertigt und die geistlich Armen seliggepriesen werden, ist kein Prinzip, das zu rechtem geistlichen Handeln taugt. Beides geschieht ja nicht prinzipiell, sondern »propter Christum«, um Christi willen, und diese Einbeziehung Christi ist nicht zu verstehen als eine Art Initialzündung, als ein einmal gegebener Anstoß, auf Grund dessen nunmehr geistliches Handeln von Ihm gelöst, »absolut« möglich geworden wäre. Die Rechtfertigung der Gottlosen, die Seligkeit der Armen im Geist geschieht vielmehr nur durch Ihn selbst, nicht begrifflich-theoretisch, sondern in der Wirklichkeit Seines Namens.
Deshalb ist auch die Parallelsetzung der radikalen Entmythologisierung mit der Rechtfertigungslehre, wie sie von Bultmann als wohl gewichtigstes Argument für sein Programm ins Feld geführt wird in ihren Konsequenzen ein verhängnisvoller Irrweg. Wäre die Rechtfertigungslehre so etwas wie ein Prinzip, von dem her und durch das theologisches Denken gestaltet werden könnte, dann hätte Bultmann zweifellos recht, dann müßte ein solches »Prinzip« konsequent für das Gebiet des Erkennens durchgeführt werden. Dann gäbe es erst Ruhe in der totalen Ungesichertheit (seltsame Ruhe freilich!), wenn der Mensch gleichsam »in die Luft gestellt ist«. Ist das »sola fide« ein erkenntnistheoretisches Prinzip, dann kann man mit ihm den Anspruch der historisch-kritisch arbeitenden Vernunft theologisch legitimieren. Je radikaler die Kritik, desto »reiner« der Glaube. Je ungesicherter die Ergebnisse, desto eigentlicher der Glaube, entleert von jedem »objektiven« Wissen, ohne alle »Stützen«, ja ohne Fundament, um nur ja unterschieden zu sein vom Werk. Als ob das Wesen des Glaubens allein durch einen Negationsbegriff — »ohne Werke«, »ungesichert« — hinreichend geklärt werden könnte! Nein, hier ist ein in sich konsequenter und in der Verwendung reformatorischer Formeln (eben des >sola fide<), »prinzipiell« und d. h. eigenständig gewordener Prozeß im Ausreifen begriffen, an dessen Ende sich der atemberaubende Vorgang abspielen wird, daß eine sich reformatorisch nennende Theologie sich mit der eigenen Königin schachmattsetzt.
Aber die Rechtfertigungslehre ist ja kein Prinzip. Ihre Quelle ist der princeps selber, der Herr und Meister, der Arzt, der Freund drinnen. Die in der Rechtfertigungslehre zum Ausdruck kommende Ohnmacht des Menschen ist etwas anderes als Ungesichertheit um jeden Preis. Sie ist theologisch-begrifflicher Ausdruck für das »ich habe nicht«, aber vor dem Angesicht dessen, den man bitten, zu dem man gehen darf, der die leeren Hände füllt. In theologischer Formelsprache gesprochen: Dem sola fide entspricht das solus Christus. »Keine der beiden Bestimmungen ist ohne die andere denkbar« … »Nur wenn Christus gegenwärtig ist, rechtfertigt der Glaube, denn Gott sucht >in tali fide mediatorem< (in solchem Glauben den Mittler)«.
Der Ungesichertheit um jeden Preis setzen wir deshalb die Abhängigkeit als Kennzeichen geistlichen Lebens und Handelns entgegen.Auch diese ist keine »securitas«, in der wir träge ausruhen könnten. Aber sie ist auch keine »insecuritas«, vielmehr Geborgenheit, Friede, Gewißheit im Anrufen dessen, den man bitten darf, und vor dem wir unser Herz stillen können. Geistliches Handeln ist deshalb bis hin zu theologischer Lehrbildung Handeln im Gebet und aus dem Gebet. Die Realität dessen, den wir im Gebet anrufen dürfen, der gesagt hat »Ich bin die Tür zu den Schafen« (Joh. 10, 7), der der Mittler ist auch zwischen den Menschen (1. Tim. 2, 5), die Realität Jesu Christi, des Freundes drinnen, ist in all unserem Erkennen und »über Bitten und Verstehen« die Verheißung für den Auftrag, den wir am Menschen, dem Freund draußen, haben.
Wie vielfältig, wie überraschend oft dem in der Abhängigkeit zu Ihm Stehenden die Realität Jesu, des Freundes drinnen, begegnet, das mag abschließend aus den Worten Daniel T. Niles (Ceylon) sprechen, dessen Vortrag in Evanston 1954 ich das eingangs genannte Schriftwort Luk. 11, 5 f. verdanke.
Er erzählt: Ich hatte gehört, daß ein früherer Mitstudent sich vom christlichen Glauben entfernt hatte. Ein sehr schweres Erlebnis in seiner Familie war die Ursache. So war ich darauf bedacht, ihm wieder einen Zeugen des froh machenden Evangeliums zuzuführen. Ich traf ihn oft, aber die Anlässe für unser Zusammentreffen waren nie zufällig genug, nie geeignet für eine Unterhaltung von Herzen zu Herzen. Ich ließ nicht ab, in dieser Sache zu beten. Dann, nach zwei Jahren, kamen wir eines Tages zufällig in einem überfüllten Eisenbahnabteil zusammen — wir saßen nebeneinander, auf einer langen Reise. Die Gelegenheit war gekommen. Der Freund war gekommen, von Jesus gebracht.«
Die geringe Kürzung im Text wurde von mir vorgenommen, ebenso die Hervorhebungen. Horst Koch, im Oktober 2013.
Ergänzende Literatur auf meiner Webseite:
1. Um die Wahrheit der Heiligen Schrift – Aufsätze zur existentialen Interpretation, von Pfr. Otto Rodenberg
2. Jesus – Gott und Mensch – von Walter Rominger
3. Jesus ist Gott, von Michael Kotsch
4. Kennen Religionen den wahren Gott?, von Peter Beyerhaus
5. Der Triumph des Gekreuzigten, von Erich Sauer
6. Der Dreieine Gott, von B. Philberth
7. Die Bibel – Gottes Wort, von Dave Hunt
8. Jesus – Sein Leben und Werk, von Th. Flügge
9. Original oder Fälschung, von Eta Linnemann
10. Die Inspiration der Bibel, von Rene Pache
11. Die Bibel – Das Buch der Heilsgeschichte, von Erich Sauer