Christentum + Toleranz (Beyerh.)
Die Christus-Wahrheit im Spannungsfeld zwischen
Toleranz und Fundamentalismus
Vortrag auf dem 11. Gemeindetag am 30. Mai 2002 in Stuttgart
von Peter Beyerhaus
In seinem Verhör vor Pontius Pilatus gab der gefesselte Jesus seinem heidnischen Richter auf dessen Frage: „Bist Du dennoch ein König?“ die bedeutungsvolle Antwort: „Du sagst es, ich bin ein König.
Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“ (Joh 18,37).
Ja, dazu also ist der Sohn Gottes als Mensch zu uns Menschen gekommen, damit er uns die volle Wahrheit über Gott und das Woher und Wozu unseres Lebens offenbare. Diese uns durch Jesus Christus authentisch mitgeteilte Wahrheit allein kann den Nebel unserer Orientierungslosigkeit lichten; sie allein vermag unserer Gebundenheit durch die dämonischen Mächte der Lüge und Selbsttäuschung zu sprengen kann, damit wir in Jesu Nachfolge wahrhaft frei werden (Joh 8,31f).
Ebenso wie Jesus selbst wesentlich dazu in die Welt gekommen war, um kraft seines prophetischen Amtes den Menschen die Wahrheit zu verkünden, so sandte er nach seiner Auferstehung auch seine Apostel als seine Zeugen zu allen Völkern. Sie sollten unter diesen das Evangelium von der Erlösung durch Christi Kreuz und Auferstehung predigen und die gläubig Gewordenen lehren, alles zu halten, worin er seine Jünger zuvor unterwiesen hatte. Darum nennt der Apostel Paulus (1Tim 3,15) die Gemeinde des lebendigen Gottes einen „Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit“. Denn ihr ist es aufgegeben, die rettende und erhaltende Wahrheit, an der sich Leben oder Tod entscheiden, anzusagen und bis ans Ende dieser Weltzeit zuverlässig zu bewahren. In der Wahrheit zu bleiben heißt ja nichts geringeres, als in das uns in Christus enthüllte Antlitz Gottes zu schauen und mit ihm als seine Kinder Gemeinschaft zu pflegen.
Darum scheut sich die Kirche auch nicht, für die ihr aufgetragene Botschaft einen universalen Wahrheitsanspruch zu erheben. Sie erhebt ihn nicht für sich selbst, sondern im Namen dessen, der gesagt hat: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh 14,6).
Über diesen Wahrheitsanspruch ist nun aber schon seit den Erdentagen Jesu ein gewaltiges Ringen ausgebrochen; denn an seiner Kühnheit scheiden sich – heute ganz besonders – die Geister. Denn die Menschheit ist in der Vielheit und Unterschiedenheit ihrer Kulturen und Religionen in dem zunehmend engeren Raum der einen Welt zusammengerückt. Überall begegnen sich im Miteinander der Menschen vielfältige Wahrheitsbegriffe; es sind solche wissenschaftlicher, philosophischer, ideologischer und – nicht zuletzt! – religiöser Art. Je tiefer nun die Anhänger der jeweiligen Richtung von ihrer Wahrheit überzeugt sind, um so leidenschaftlicher erheben sie den Anspruch auf deren Gültigkeit und versuchen, ihn allgemein zu Anerkennung zu bringen. Das kann auf verschiedene Weise geschehen: mit werbenden Worten, mit dem beglaubigenden Vorbild oder unter Umständen auch gewaltsam. Über solchem Durchsetzungsbemühen kann es dann zu gefährlichen gesellschaftlichen Konflikten kommen, ja – wie gegenwärtig die Beispiele Palästina, Kaschmir und auch Nordirland zeigen – sogar zu blutigen Auseinandersetzungen.
Vor diesem explosiven Hintergrund wird deutlich, warum heute von vielen Seiten her eindringlich die Forderung nach Toleranz erhoben, ja zum wichtigsten Gebot der Stunde erklärt wird. Was versteht man allgemein darunter?
Tolerant sein heiße, so sagt man, für Versöhnung, Koexistenz und Zusammenarbeit eintreten; denn nur so könne der bedrohte Frieden bewahrt werden. Wer dagegen nicht „tolerant“ in diesem Sinne ist, sondern auf der Gültigkeit seines weltanschaulichen und moralischen Standpunktes besteht, wird alsbald als sog. „Fundamentalist“ verpönt. Das aber ist angesichts der Relativierung der klassischen Tugendbegriffe einer der schlimmsten Vorwürfe, die man heute einem Menschen oder einer Gruppierung machen kann. Häufig wird nun dieses Etikett gerade den sich als „bibeltreu“ bezeichnenden Christen angeheftet, und hier wird unser Thema gerade für uns hier Versammelte hochbrisant! Darum ist es unverzichtbar, und deshalb sind Sie, liebe Brüder und Schwestern, ja hierher gekommen, um einmal Klarheit darüber zu gewinnen, wie das mit der Toleranz eigentlich ist.
Sind bibeltreue Christen wirklich so verbohrt, eng und verständnislos andern gegenüber, wie man uns vielfach vorwirft?
Darum wollen wir uns erst einmal bewußt machen, was diese meist gedankenlos gebrauchten und zu Schlagwörtern verkommenen Vokabeln eigentlich meinen. So fragen wir also:
I. Was heißt Toleranz?
II. Was ist Fundamentalismus?
III. Wie sollen sich bekennende Christen zur Forderung nach Toleranz und
zum Vorwurf des Fundamentalismus stellen?
I. Was heißt Toleranz?
Das Fremdwort Toleranz leitet sich ab von dem lateinischen Verbum tolerare, das zu deutsch „tragen“, „ertragen“, „erdulden“ bedeutet. Ein toleranter Mensch ist also jemand, der bereit ist, eine Last auf sich zu nehmen, was er natürlicherweise nicht mag. Schon diese semantische Herleitung zeigt an, daß Toleranz kein charmantes Vergnügen ist, wie aus gewissen zweideutigen Zeitungsannoncen wie „Lebensbejahender Er sucht tolerante Sie“ hervorzugehen scheint. Nein, echte Toleranz ist stets mit einem Opfer verbunden, zumindest einem Verzicht.
Wichtig ist es nun, zu unterscheiden zwischen zwei Formen oder Verständnissen von Toleranz, nämlich der persönlichen und der sachlichen Toleranz. Die eine bezieht sich auf unser Verhalten gegenüber den Menschen, die eine uns fremde Überzeugung vertreten; die andere auf unsere geistige Beurteilung der Wahrheit solcher anderer Überzeugungen.
A. Beginnen wir mit der persönlichen Toleranz. Sie urteilt nicht über die Überzeugung eines anderen, sondern sie gilt seiner Person. Die Menschen in unserer Umgebung vertreten alle irgend eine ihr Empfinden und Handeln bestimmende Wertvorstellung. Solche können vom künstlerischen Ideal bis
zur Weltmeisterschaft im Fußball variieren. So lange eine Person das als ihre Privatangelegenheit für sich und ihre Gesinnungsfreunde behält, aber nur gelegentlich darüber spricht, wird uns das nicht stören. Wir werden sie ausreden lassen und es wird uns nichts kosten, „tolerant“ zu sein.
Problematisch dagegen wird es, wenn der betreffende Mitmensch seine Meinung – besonders wenn sie unseren eigenen Wertvorstellungen total zuwiderläuft – ständig penetrant in Wort und Verhalten zur Darstellung bringt. Eine solche Person – wie z.B. ein Werber für eine bestimmte Sekte! – kann uns bald schwer erträglich werden. Denn es kostet ein Maß innerer Selbstüberwindung, ihre Gegenwart auszuhalten, statt sie uns – falls möglich – vom Leibe zu schaffen. Man denke an einen Menschen, der auch in der Nähe anderer ständig Knoblauch kaut, vielleicht aus lebensreformerischen Grundsätzen!
Vielleicht kann uns dieses harmlose, aber drastische Beispiel einen Hinweis geben sowohl auf die Berechtigung als auch die Grenzen der Forderung nach persönlicher Toleranz. Menschen sind nun einmal sowohl aufgrund ihrer genetischen Konstitution als auch ihrer kulturellen Prägung und ihres
Lebensschicksals verschieden. Unsere pluralistische Gesellschaft läßt uns jedoch keine andere Wahl, als mit unseren uns zu Nachbarn gewordenen fremden Mitmenschen zusammenzuleben und uns zu bemühen, mit ihnen gemeinsam das Wohl unserer Gesellschaft zu suchen. Wir können unsere Bereitschaft zur Koexistenz nicht davon abhängig machen, daß die anderen zunächst so werden wie wir, daß sie also unsere Kultur, unseren Lebensstil und unsere Religion übernehmen.
Das, was uns eint, ist unser gemeinsames Menschsein und unser gesellschaftliches Zusammenleben. Das müssen wir so gut wie möglich gemeinsam zu bewältigen suchen. Im Übrigen soll ein jeder das Recht und die Freiheit genießen, nach seinen persönlichen Überzeugungen zu leben, solange er damit nicht verletzend oder grob störend in die Sphäre anderer eingreift. Dieses Toleranzverständnis entspricht jedenfalls unserer neuzeitlichen Rechtsordnung, die auf den Grundwerten des Gewissensschutzes und der demokratischen Freiheiten aufgebaut ist. Es kann sich zugleich wenigstens teilweise auch auf das Vorbild Jesu berufen. Nahm er seine Umwelt doch zunächst einmal so, wie sie war, ohne sie in allen Stücken verändern zu wollen. Vor allem aber verzichtete er bewußt darauf, den Menschen sein Evangelium mit Gewalt aufzuzwingen, obwohl manche seiner Jünger in zelotischem Eifer dies gelegentlich gern getan hätten (Lk 9, 54-56). Vielmehr begegnete er auch Heiden, wie dem Hauptmann von Kapernaum, oder den Samaritern mit menschlichem Respekt, den er sogar den Zöllnern und Dirnen nicht versagte. Jesus konnte deswegen menschlich tolerant sein, weil er ganz auf die geistliche Wirkung seines seelsorgerlich-evangelistischen Bemühens vertraute.
Andererseits entband er die Ungläubigen nicht von ihrer eigenen Verantwortung für die zeitlichen und ewigen Folgen ihrer Ablehnung seiner Botschaft. Er appellierte an ihr Gewissen: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“ (Joh 18,37).
Im Bezug auf diese erstgenannte menschliche Toleranz gegenüber Anhängern anderer Lebensanschauungen und Religionen können wir uns sicher auch mit der eher humanistisch als christlich geprägten Mehrheit unserer Zeitgenossen einigen, – jedenfalls bisher. Christen und Kirchen sollten solche den Angehörigen einer anderen Religion erwiesene Toleranz nicht mehr prinzipiell in Frage stellen. Leider ist das nämlich in der Geschichte der Kreuzzüge, Konfessionskriege und auch Judenpogrome lange Zeit geschehen. Denn wir sollten nicht vergessen, daß ja auch das Ende der altkirchlichen Christenverfolgungen einem Toleranz-Edikt, nämlich dem 312 n.Chr. in Mailand von Kaisers Konstantin erlassenen, zu verdanken war. Ebenso mußten später Protestanten in katholischen Ländern lange Zeit unter staatlichen und kirchlichen Bedrängnissen warten, bis ihnen endlich – leider erst im Gefolge der religionskritischen Aufklärung – eine zumindest eingeschränkte Religionsfreiheit gewährt wurde.
Deswegen können wir heute das Recht der von unsern eigenen Regierungen als Gastarbeiter ins Land gerufenen muslimischen Mitbürgern nicht bestreiten, ihre Freitagsgebete in ihren vielerorts erbauten Moscheen zu verrichten. Hier ist die Forderung nach persönlicher Toleranz gegenüber sowohl einzelnen als auch Gemeinschaften berechtigt. Begründeten Einspruch sollten wir allerdings dagegen erheben, wenn von den Minaretten wie in islamischen Ländern nun auch inmitten unserer Städte fünf mal am Tage – durch Lautsprecher verstärkt – die Muezzime in Ohren. betäubendem Ton ihre Shahadah verkünden, in denen mit deutlich antichristlicher Spitze der Eingott Allah zum einzigen Gott und Mohammed als sein Prophet proklamiert wird. Denn hier ist die Grenze der persönlichen Toleranz eindeutig überschritten Mit dem harmonischen Geläut unserer Glocken, das als solches keine Glaubensaussage enthält, läßt sich das nicht auf eine Stufe stellen!
B. Nun stehe ich – und nicht nur ich – unter dem Eindruck, daß viele Leute beim Einfordern von „Toleranz“ nicht mehr allein deren soeben behandelte persönliche Gestalt im Auge haben. Vielmehr denken sie zunehmend eher an die zweite, d.h. sachliche Toleranz, die man besser auch als „inhaltliche Toleranz“ bezeichnen kann. Damit verbindet sich vielfach die Vorstellung, daß alle Religionen und sich moralisch begründenden Lebensstile gleichberechtigt nebeneinander bestehen können; denn – so meint man – ihre Inhalte seien doch alle in gleichem Maße wahr, bzw. ethisch verantwortbar. Ja, auch ihre verschiedenen Gottesvorstellungen und Namen meinten doch letztlich ein und dieselbe übermenschliche Macht.
Oder aber man bezweifelt wie Pilatus relativistisch, daß es überhaupt eine objektive und deswegen universal gültige Wahrheit gibt. Man hat nämlich seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert den Glauben an eine von Gott der Menschheit gegebene Offenbarung preisgegeben. Deswegen ersetzt man mit G. Ephraim Lessing (1729-81) die Wahrheit als solche mit der beständigen Suche nach ihr. Das Maß der dabei gefundenen Wahrheit solle – wie Nathan der Weise in seiner Ringparabel lehrt – sich daran erweisen, inwieweit eine bestimmte Religion – heiße sie Christentum, Judentum oder Islam – dem einzelnen Wahrheitssucher zu einem tugendhaften und sinnvollen Leben verhilft. Praktisch solle dann jeder nach der Religion leben, die ihm am meisten gibt. Welche dies ist, könne letztlich nur jeder für sich persönlich beantworten. Oder man bemißt wird mit F. D. E. Schleiermacher (1768-1834), dem Vater der neuprotestantischen Theologie, den Wert einer partikularen Religion daran, wie sie dem, der sie ausübt, das Gefühl der Verbindung mit dem Göttlichen vermittelt bzw. – um es modern auszudrücken – das menschliche Verlangen nach „Spiritualität“ stillt.
Da schließlich, wo über diesen privaten, innerseelischen Bereich hinaus nach Maßstäben für eine von allen Bürgern verbindliche sittliche Ordnung gesucht wird, gelte es, im Dialog zwischen den Vertretern möglichst vieler repräsentativer Religionen und Weltanschauungen einen Konsensus
darüber zu finden, wozu jeder von seinen unterschiedlichen Voraussetzungen her ja sagen kann. Das Ergebnis sind dann so allgemein akzeptable Maximen wie: Freiheit, Humanität, Friedensbereitschaft, Menschenwürde, Gleichberechtigung, Solidarität, die man schließlich mit dem Tübinger Theologen Hans Küng wohlformuliert in einem universal zu akzeptierenden „Weltethos“ zusammenfassen kann.
Verborgen bleibt dabei allerdings, daß diese Parolen in unterschiedlichen Situationen und von unterschiedlich geprägten Voraussetzungen her sowie je nach Interessenlage ganz widersprüchlich gefüllt werden können. Um nur zwei heute umstrittene Prüfsteine für solches Weltethos zu nennen: Wie steht es z.B. mit dem heute von vielen postulierten Recht auf Abtreibung unerwünschten menschlichen Lebens und um dessen Tötung auf Verlangen, d.h. der kürzlich in Holland und Belgien legalisierten Euthanasie? Was heißt in diesem Falle „sachliche Toleranz“? Bedeutet es etwa, daß jede Mutter autonom entscheiden darf, ob und bis zu welchem Wachstumsstadium sie das Kind in ihrem Leibe töten lassen darf? Bedeutet es, daß der unheilbar Kranke selber oder sein Arzt oder seine Angehörigen stellvertretend entscheiden dürfen, ob ihm die sogenannte Sterbehilfe zu gewähren sei?
Was sagt hierzu das viel berufene Weltethos? Was sagte es unter dem traditionellen Einfluß der Religionen bislang, was sagt es in unserer pluralistischen Gesellschaft heute, was wird es z. B. angesichts der unlösbaren Rentenproblematik morgen sagen, wenn alle bisher gültigen Maßstäbe ins
Rutschen geraten sind?
Es ist deutlich, daß bekennende Christen eine so relativ verstandene „sachliche Toleranz“ von ihren dogmatischen Voraussetzungen her nicht akzeptieren. Sie dürfen es weder auf religiösem noch auf moralischem Gebiet. Religiös werden in der Nachfolge Jesu stehende Jünger niemals anerkennen, daß die ihnen in Seinem Wort geschenkte Offenbarung nur eine rein subjektive Wahrheitserkenntnis neben ganz anders gearteten sei. Für sie ist es also nicht letztlich egal, ob man durch die Gabe der Versöhnung durch Jesus Christus zu einer ewigen Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott kommt, oder aber ob man durch die buddhistische Erleuchtung über die Wesenlosigkeit der sichtbaren Welt und sogar des eigenen Ichs sich am Ende von tausend Reinkarnationen auflöse, um in das leere Nichts, das Nirvana einzugehen.
Auch dürfen gläubige Christen aufgrund ihrer Beauftragung durch Jesus und angesichts ihrer persönlichen Heilserfahrung nicht darauf verzichten, unter den Angehörigen anderer Religionen zu missionieren – wohl wissend, daß genau das von vielen Zeitgenossen als Ausdruck unerträglicher Kultur-Arroganz betrachtet wird. Gilt es doch, die dämonische Trugbilder zu entlarven und zur Bekehrung zu dem lebendigen Gott aufzurufen Das heißt also: Sachliche Toleranz hat es, wenn es um den Glauben geht, unüberschreitbare Grenzen.
Ebenso dürfen Christen in der öffentlichen Debatte um die Zulässigkeit unterschiedlicher Formen des Sexualverhaltens oder alternativer Partnerschaften nicht verschweigen, daß Gott uns für unser
Zusammenleben klare Weisungen in Gestalt von Gebot und Verbot erteilt hat. Über deren heutige Gültigkeit und Anwendbarkeit hat deswegen nicht etwa ein vom Bundeskanzler einberufener „Ethikrat“ und auch kein Parlament demokratisch gewählter Volksvertreter zu entscheiden. Vielmehr müssen die Kirchen und Gemeinden vor Ort unbeirrbar für die bleibende Verbindlichkeit des biblisch geoffenbarten Willen Gottes eintreten, notfalls im öffentlichen Protest, d.h. im Zeugnis für die unaufgebbare Wahrheit. Die Konferenz Bekennender Gemeinschaften hat dies erst kürzlich getan, indem sie eine ethische Orientierungshilfe erarbeitete und nun verbreitet unter dem Titel: „Die Zehn Gebote – Gottes Wegweisung in unserer Zeit“.
Was aber passiert, wenn wir weiterhin konsequent Gottes Wort als Maßstab sowohl zur Beurteilung religiöser Wahrheit als auch für die sittliche Gesetzgebung herausstellen? Als bekennende Christen, ob Protestanten oder Katholiken, werden wir alsbald erfahren, daß uns der Zeitgeist wie ein Sturmwind ins Gesicht bläst. Dann wird uns der Vorwurf entgegengeschleudert, wir verstießen mit unserer unbeugsamen Haltung im Insistieren auf der Gültigkeit unserer biblischen Überzeugungen gegen das Grundgebot der Toleranz. Man empört sich darüber, daß wir in der Begegnung mit den von uns Differierenden die Gleichberechtigung ihres Verständnisses von Wahrheit abstreiten und folgert daraus, daß wir ihnen letztlich das Existenzrecht aberkennen. Aus unserer biblisch begründeten Ablehnung praktizierter Homosexualität schließt man auf einen angeblichen Haß („Homophobie“) gegen homosexuell geneigte Mitmenschen, aus dem heraus wir ihnen letztlich (nach braunem Vorbild) den Tod wünschten. Ungeachtet unseres freundlichen Verhaltens anders Denkenden gegenüber werden hier inhaltliche und persönliche Toleranz flugs in eins gesetzt.
Und nun entdecken wir die überraschend, daß die Anwälte der inhaltlichen Toleranz gegenüber denen, die ihren Relativismus nicht anerkennen, plötzlich sehr intolerant auftreten können. Man schließt sie aus der Gemeinschaft der an der öffentlichen Meinungsbildung Beteiligten, z.B. im Lehrberuf oder in der Medienarbeit aus. Man schneidet ihnen das Wort ab oder betreibt ein existenzbedrohendes Mobbing gegen sie. Aus der im modernen Sinne gedeuteten sachlichen Toleranz, die der amerikanische Autor Josh McDowell als die „neue Toleranz“ bezeichnet und beschrieben hat, wird also im Umschlag in ihr eigenes Gegenteil eine totalitäre Ideologie. Diese sucht allen Menschen das Bürgerrecht zu entziehen, die sich aufgrund ihrer unwandelbaren ethisch-religiösen Überzeugungen nicht ihrem Grundgebot fügen, auch andere Denk- und Verhaltensweisen als gleich wahr und gleich berechtigt anzuerkennen, die ihnen widersprechen. So veranstaltet z.B. an der amerikanischen Universität Stanford die „Schwulen- und Lesbenallianz“ jedes Frühjahr einen „Shorts-Tag“, an dem alle Dozenten und Studenten ihre Solidarität mit ihren homosexuellen Kommilitonen öffentlich demonstrieren sollen, und zwar dadurch daß sie in Shorts zu den Vorlesungen kommen. Und Schande über den, der hier aus der Reihe tanzt! Wie aber soll in einer solchen Situation ein gewissenhafter Christ sich verhalten, der seinen homosexuell geneigten Kommilitonen zwar Mitgefühl und Hilfsbereitschaft erweisen will, der sich aber doch nicht darüber hinwegsetzen kann, daß in der Heiligen Schrift sowohl im Alten wie im Neuen Testament der homosexuelle Verkehr als eine schwere Sünde vor Gott gebrandmarkt wird, die vom Reich Gottes ausschließt (3. Mose 18,22; Röm 1,26f. 1. Kor. 6,9) ?
Es ist überhaupt erstaunlich und bestürzend, wie heute in aller Welt und in allen Institutionen, – einschließlich der Kirchen – die Anerkennung der praktizierten Homosexualität – geradezu ein Schibboleth geworden ist, an dem sich die Tugend der „neuen Toleranz“ zu erweisen hat! Sie scheint fast zur brisanten Entsprechung des antiken Kaiserkultes zu werden, an dem das religiös sonst so tolerante Römische Reich die innere Loyalität seiner Bürger erprobte. Und daran entzündeten sich bekanntlich aufgrund christlicher Gewissensverweigerung die großen Verfolgungen zur Zeit der Alten Kirche! Könnte es sein, daß der altböse Feind sich jenen neuen Punkt als das infame Mittel ausgeklügelt hat, mit dem er einzelnen Christen und ganzen Kirchen das geistliche Rückgrat zu brechen sucht, um sie für die kommende antichristliche Herrschaft moralisch gefügig zu machen?
Eine schon eingangs erwähnte Waffe, die man gegen solche Christen anwendet, welche unbeirrt an der bleibenden Gültigkeit der geoffenbarten Wahrheit in Gesetz und Evangelium festhalten, ist, daß man sie hämisch als „Fundamentalisten“ brandmarkt. Das bringt uns zu unserer zweiten Leitfrage:
II. Was ist Fundamentalismus?
„Fundamentalismus“ wird allgemein als Synonym gebraucht für Engstirnigkeit, intellektuelle Rückständigkeit, geistige Unbeweglichkeit, mangelnde Sensibilität für die Erfordernisse unserer zur Einen Welt zusammenrückenden Menschheit. In schlimmen Fällen steckt man seit der Revolution des Ayatollah Khomeini im Jahre 1979 die christlichen „Fundamentalisten“ – ganz gleich ob diese sich selber so bezeichnen oder nicht – in die gleiche Kategorie wie auch zur Gewalttätigkeit greifende reaktionäre Fanatiker anderer Religionen. Man verdächtigt sie des Rassismus, Sexismus und Rechtsextremismus und läßt sie so als Gefahr für den Weltfrieden erscheinen. Es gibt schon mehrere manipulierte Dokumentationen darüber. In einer solchen, 1983 als Buch erschienen, habe ich auch mich entdeckt, obwohl die Herausgeber nie Kontakt mit mir aufgenommen hatten!
Weil es aber gleichzeitig immer noch – besonders in Amerika – konservative Kirchen und Theologen gibt, die sich selber unbeirrt als „Fundamentalisten“ bezeichnen, ist es wichtig, sich auch hier um eine Klärung des Begriffs zu bemühen. Das Wort hat seinen geschichtlichen Ursprung in einer in den
Jahren 1910-15 auftretenden Bewegung angesehener evangelikaler Theologen in den USA. Aus Besorgnis über den in die Kirchen eindringenden Liberalismus veröffentlichten sie unter dem übergreifenden Titel „The Fundamentals“ eine Reihe von zwölf Bänden. Hierin stellten sie jene zentralen biblischen Wahrheiten heraus, welche nach allgemeiner evangelischer Überzeugung die unaufgebbaren Grundlagen des christlichen Glaubens überhaupt bilden:
Die Autorität der Bibel,
die göttliche Dreieinigkeit,
die Göttlichkeit Christi,
sein Sühneopfer am Kreuz,
seine leibliche Auferstehung und
Wiederkunft zum Jüngsten Gericht.
Diese Bewegung trug wesentlich dazu bei, die evangelikalen Christen in Amerika in ihren bibeltheologischen Überzeugungen zu festigen. Das war etwas sehr Gutes.
Wie ist es dann aber dazu gekommen, daß das Wort „Fundamentalismus“ später einen so negativen Beigeschmack bekam? Leider versäumte man es später an den konservativ-evangelikalen Bibelschulen, sich ernsthaft mit den geistigen Herausforderungen durch den Fortschritt der Naturwissenschaften und die philosophischen Zeitströmungen auseinanderzusetzen. Deswegen gerieten die Evangelikalen bei ihren modernistischen Gegnern weithin in den Verruf mangelnder akademischer Kompetenz. – Hier ist allerdings nach dem II. Weltkrieg durch die Gründung neuer theologischer Seminare und durch eine beachtliche Forschungstätigkeit eine bemerkenswerte Wandlung eingetreten.
Noch verhängnisvoller wurde für die bibeltreue Bewegung die Tendenz, ihre theologisch konservative Haltung eng zu verbinden mit sozial-politischem Konservatismus. Auch beharrten sie vielfach auf traditionellen Formen der Gemeindeordnung sowie des persönlichen Lebensstiles. Am fatalsten wirkte der Hang gerade auch kleinerer Geister, sich selber als alleinige Repräsentanten der unverfälschten protestantischen Kirche auszugeben, während sie bei ihren Mitchristen schon die leiseste Abweichung von ihrer eigenen Position unter den Verdacht des Glaubensverrats stellten. So griff man solche deswegen an, die in ihrem Streben nach umfassender evangelikaler Gemeinschaft und Zusammenarbeit eine etwas großzügigere Haltung einnahmen, indem sie z.B. gelegentlich bei Evangelisationen unter kirchlich entfremdeten Bevölkerungsschichten zusammen mit erwecklich gesonnenen Katholiken auftraten. Davon blieb sogar ein Billy Graham nicht verschont.
„Fundamentalismus“ kann in der Tat von innen heraus entarten zu einem verknöcherten Strukturkonservativismus, der allen geistlichen Neuaufbrüchen prinzipiell abhold ist. Unbiblischer Separatismus aber lähmt die evangelistische Stoßkraft und gibt die bekennenden Christen schließlich dem öffentlich Gespött preis. Ich möchte aber betonen, daß dies Erscheinungen sind, die man weder den geistigen Vätern dieser Bewegung noch ihren heutigen besonnenen Vertretern anlasten darf. Denn sie vertraten bzw. vertreten ja das durchaus berechtigte Anliegen, die wirklich unaufgebbaren Fundamente des christlichen
Glaubens zu schützen. Und es geht ihnen zugleich darum herauszustellen, daß die Christus-Wahrheit ihre immer aktuelle Bedeutung gerade auch in den Nöten einer zunehmend gottentfremdeten Gesellschaft nicht verloren hat.
Das Bild von der Kirche als geistlichem Haus, das auf dem festen Fundament Jesus Christus und dem apostolischen Bekenntnis zu ihm erbaut ist, stammt ja unmittelbar aus Jesu Mund selber (Mt 16,16-18), und die neutestamentlichen Episteln spielen mehrfach darauf an (1. Kor. 3,10f.; Eph 2,20; 1. Pt 3,4-6). Letztlich gilt ja für jede Kultur, für jede Philosophie und Religion und auch jede
weltanschaulich bestimmte politische Partei, daß sie nur so lange Glaubwürdigkeit und Bestand haben kann, wie sie ihren ursprünglichen Grundlagen treu bleibt. Zerbröckelt jedoch das Fundament, stürzt
schließlich der ganze Bau zusammen. Das könnte sehr wohl das baldige Schicksal unserer europäischer Völker sein – in unserem weitverbreitenden Spandauer Bußwort vom Oktober 2000 haben wir davor gewarnt! – ja, es könnte auch das Schicksal unserer evangelischen Volks- und Freikirchen werden. Ihren Hirten und Lehrern rufen wir deswegen zu: Gebt acht auf die Fundamente!
III. Wie sollen sich bekennende Christen zur Toleranzforderung und zum Fundamentalismusvorwurf verhalten?
Nachdem wir uns bewußt geworden sind, wie vieldeutig die Begriffe „Toleranz“ und „Fundamentalismus“ sind und welch agitatorischer Mißbrauch mit ihnen getrieben wird, kann mein erster Ratschlag nur lauten: Lassen wir uns nicht aus der Fassung bringen, wenn man sie uns schlagwortartig oder gar als Totschlag -Keule vorhält in der Absicht, uns für ein anderes Wahrheitsverständnis gefügig zu machen. Prüfen wir zunächst einmal diakritisch, was überhaupt gemeint ist und welches Ziel die Gesprächspartner verfolgen. Wir haben als Christen keinen Anlaß, uns den Wertmaßstäben des Zeitgeistes blind zu unterwerfen. Wir stehen unter einem höheren Auftraggeber und gewinnen unser Wahrheitsverständnis allein aus seinem heiligen Wort.
Was wahre Toleranz ist, wenn andere uns böswillig der „Intoleranz“ zeihen, lernen wir nirgends besser als bei Jesus, der als Lamm Gottes die Last der Sünde der Welt auf sich genommen und weggetragen hat (Joh 1,29).
Und welches die wahren Fundamente sind, auf die wir unser Vertrauen im Leben und Sterben setzen dürfen, sagt uns Paulus: „Einen anderen Grund
kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus“ (1Kor 3,11).
Mein zweiter Ratschlag lautet: Wenn wir aber spüren, daß unser Gesprächspartner wirklich ein ernstes Anliegen verfolgt und er Anstoß an unserem Reden und Verhalten gegenüber anders Eingestellten nimmt, prüfen wir uns dann, ob in seinem Einwand ein Korn von Wahrheit liegen könnte. Vielleicht sind wir uns nicht immer im Klaren, ob es uns in unserem missionarischen Zeugnis wirklich darum geht, daß Jesus in seiner Rettungsabsicht gewinnend zu Worte kommt, oder aber ob wir in einem
geistigen Überlegenheitskomplex ihm gegenüber die Richtigkeit unseres eigenen Standpunktes demonstrieren wollen. Nur aus einer demütigen Haltung heraus können wir deutlich machen, daß es die Liebe Jesu ist, die uns treibt, sie auch den erfahren zu lassen, der Ihm noch ablehnend gegenüber steht. Paulus ermahnt uns (Eph 4,15), „wahrhaftig zu sein in der Liebe“.
Das gilt sowohl für die missionarische Begegnung mit Andersgläubigen und Skeptikern als auch für das theologische Gespräch mit teilweise andersdenkenden Mitchristen. Hier kann es mitunter sogar angebracht sein, nicht nur persönliche, sondern auch inhaltliche Toleranz zu üben. Denn wir sollten immer dessen eingedenk bleiben, daß die in der Heiligen Schrift
geoffenbarte Wahrheit weiter ist, als sie ein einzelner Christ oder auch eine ganze kirchliche Gemeinschaft oder Frömmigkeitsrichtung erschöpfend erfassen kann.
Wenn wir uns in hitzige Streitgesprächen mit unseren Mitchristen verwickeln, seien wir darum vorsichtig mit dem Häresie-Vorwurf. Denken wir vielmehr daran, daß ja auch der Bruder und die Schwester die Bibel lesen und den Heiligen Geist anrufen, sie der Pfingstverheißung entsprechend in alle Wahrheit zu führen (Joh 16,13).
Mein dritter und abschließender Ratschlag lautet: Da, wo man uns im Namen der Toleranz eindeutig dazu drängen sucht, den biblischen Standpunkt zugunsten eines zeitgeistig veränderten Wahrheitsverständnisses preiszugeben, haben wir als bekennende Christen vollmächtig zu widerstehen.
Aktuell gilt das heute zum einen für den Glauben an Jesus Christus als den einzigen der Welt zum Heil gesandten Erlöser. Diesen Glauben dürfen wir unter keinen Umständen zugunsten einer der Welteinheit dienenden Religionsvermischung opfern, selbst wenn Papst und Ökumenische Konzilien
uns dazu ermuntern sollten.
Es gilt zum andern, gerade heute einzutreten für das biblische Ethos besonders im fünften u. sechsten Gebot des Dekalogs. Das fünfte schützt die unaufgebbare Würde des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum Tode, das sechste die von Gott gestiftete Ordnung der Ehe. Als lebenslange Verbindung eines Mannes mit einer Frau zur gegenseitigen Stütze begründet sie auch die
Familie, die Keimzelle des Volks. Niemals dürfen Christen einer „neuen Moral“ zustimmen, welche andersartige geschlechtliche Verbindungen als ebenfalls gottgewollt behauptet. Denn dann gerieten in der Tat die sittlichen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft aus ihren Fugen.
Ich weiß sehr wohl, daß bekennende Christen, die es wagen, hier zu widerstehen, den Verruf der Intoleranz und des Fundamentalismus auf sich ziehen. Ja, die Lage ist bereits eingetreten, daß Christen für diesen Protest mit massiver Verfolgung bedroht werden. So in Schweden, wo der Reichstag am 15.
Mai d.J. in erster Lesung mit hauchdünner Mehrheit ein neues Gesetz unter der Überschrift „Erweiterung des Anti-Hetze-Gesetzes“ erlassen hat. Dieses sieht für mündliche und schriftliche Kritik an einer Bevölkerungsgruppe mit homosexueller Neigung Geldbußen oder Haftstrafen bis zu 2 Jahren vor. Auch Prediger, welche die Gültigkeit der biblischen Sicht zu diesem Punkt auch in der Gegenwart betonen, würden davon betroffen sein. Hier kommt Christen ihr Zeugnis für die Wahrheit im wörtlichen Sinne teuer zu stehen. Das läßt – nicht nur in Schweden – sogar manche Bischöfe zurückschrecken.
Doch das Zeugnis für die Christus-Wahrheit konnte schon immer teuer sein. In manchen Zeiten führte es zum Martyrium. Aber echte Nachfolger bestanden auch diese äußerste Glaubenserprobung im Blick auf ihren Herrn, der als König der Wahrheit vor Pontius Pilatus ein unerschrockenes Zeugnis für die
Wahrheit abgelegt hat. Er mußte dafür durch die Nacht des Todes gehen. Doch nicht einmal der Tod konnte die Wahrheit zum Schweigen bringen. Am dritten Tage erstand Jesus aus dem Grabe; er erschien seinen Jüngern und bevollmächtigte sie durch den Heiligen Geist, die Wahrheit in alle Welt zu tragen. Daß die Wahrheit gegen alle Mächte der Lüge am Ende auch sichtbar triumphieren wird, ist gewiß. Wenn Christus in Macht und Herrlichkeit wiederkehren wird, werden sich alle Knie beugen vor Ihm, der die lebendige Wahrheit in Person ist.
Eingestellt von Horst Koch, Herborn. Auch die Hervorhebungen sind von mir. Im Jahre 2004