Auferstehung Jesu (Wilckens)
Ulrich Wilckens
Die Bedeutung der Auferstehung Jesu Christi für das christliche Leben heute
Die Auferstehung des gekreuzigten Christus ist die Mitte aller christlichen Verkündigung und alles christlichen Glaubens im Neuen Testament. In allen Evangelien sind die Osterberichte der Schluss- und Höhepunkt der Geschichte Jesu. Paulus zitiert in 1.Korinther 15,1-5 den Wortlaut des ältesten christlichen Glaubensbekenntnisses:
»gestorben für unsere Sünden, begraben, auferweckt am dritten Tage, erschienen Petrus und den Zwölf«. Und so ist in den Apostelbriefen überall an den zentralen Stellen, wo es um die Wirklichkeit unseres Heils durch Christus geht, von der Auferweckung Jesu Christi die Rede. Die Offenbarung des Johannes schließlich beginnt mit dem Wort des Auferstandenen: »Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige; ich war tot, und siehe: Ich lebe in alle Ewigkeit« (1,18); und mit den gleichen Worten schließt auch das Buch (22,12).
Wenn dies auch heute für alle Christen gilt, dann kann die Auferstehung auch für uns nur die gleiche zentrale Bedeutung haben. Paulus sagt es negativ: »Wenn Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist folglich unsere Verkündigung sinnlos [>leer<], sinnlos auch euer Glaube« (l.Korinther 15,14).
Wir wollen versuchen, diese Botschaft so zu verstehen, wie sie im Neuen Testament gemeint ist; und herauszustellen, was es für das christliche Leben heute bedeutet, an den auferstandenen Christus zu glauben – in unserem Land, in dem eine wachsende Mehrheit unserer Zeitgenossen nichts mehr vom Christentum weiß und wissen will.
Auferstehung im Neuen Testament
In einem ersten Teil müssen wir genau bestimmen, was im Neuen Testament mit der Auferstehung Jesu gemeint – und nicht gemeint ist. Nicht gemeint ist, dass Jesus drei Tage nach seinem Tod wieder in sein Leben zurückgekehrt wäre, so wie er selbst zuvor in seinen Wundertaten Gestorbene wieder in ihr Leben zurückgerufen hat. Denken wir an die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus in Johannes 11, wo ebenso bestürzend-plastisch wie tiefsinnig-symbolisch erzählt wird, wie Maria und Martha Zeugen dessen werden, dass auf Jesu Anruf ihr Bruder aus seinem Grab zum Leben auferweckt heraustritt.
Von diesen Wundern sollen wir lernen, dass der Gott, dessen Herrschaft Jesus verkündigt, Macht hat auch über den Tod. Aber es sind nur wenige solche Auferweckungs-wunder, die in den Evangelien von Jesus berichtet werden; überall ist dort vorausgesetzt, dass solche von Jesus in ihr Leben zurückgerufenen Menschen hernach einmal sterben, wie alle Menschen.
Für mich verbindet sich mit den Geschichten das eigene Erleben, wie ich nach einer Operation der von Krebs befallenen Bauchspeicheldrüse, entgegen allen Prognosen mir befreundeter Arzte, wunderbar gesund geworden bin. Nachdem ich durch die Operation dem buchstäblich-akut nahen Tode entrissen worden war, bin ich nicht nur für kurze Zeit, sondern bis heute, über 20 Jahre danach, am Leben geblieben – nein: neu zum Leben gekommen, mit neuem Leben beschenkt.
Was das heißt: mein Leben ganz und gar der wunderbaren Gabe Gottes zu danken, davon kann ich nur immer wieder begeistert reden.
Aber: Solche Erfahrungen des lebendigen Gottes, der uns tatsächlich dem mors media in vita [mitten wir im Leben sind, von dem Tod umfangen] zu entreißen vermag, können uns zwar Zeichen sein für die Hoffnung auf die zukünftige Auferstehung zum ewigen Leben, zu der wir uns im dritten Artikel des Credos bekennen: »exspecto resurrectionem mortuorum et vitam aeternam venturi seaculi« [ich erwarte die Auferstehung der Toten und das ewige Leben].
Jedoch, die Auferstehung Jesu Christi, ist etwas ganz anderes: Nicht Rückkehr in sein Leben, sondern eben jene Auferstehung zu ewigem, vollkommenem Leben selbst, die wir im Glauben als eine uns gänzlich verborgene Zukunft der Endzeit erhoffen. In der Auferweckung des am Kreuz gestorbenen Jesus ist es eben diese zukünftig-eschatologische Auferweckung selbst, die an ihm, der endzeitlichen Zukunft vorweg, geschehen ist.
Paulus kann es so sagen: Christus ist der Erste, der von den Toten zum ewigen Leben auferstanden ist, der Einzige, dem dieses letzte und größte Wunder Gottes bereits vor jenem Ende widerfahren ist (1.Korinther 15, 20).
Seine Auferstehung ist mehr als ein Zeichen für die Zukunft, die wir zu erwarten haben – sie ist ein Vorweg-Ereignis der Wirklichkeit der endzeitlichen Auferstehung der Toten selbst! Das Leben Christi ist Auferstehungsleben. Als seine Jünger ihn in seinen Erscheinungen gesehen haben, haben sie in ihm zwar ihren Meister Jesus erkannt – er trug die Wunde seiner Kreuzigung an seinem Leibe. Aber er war zugleich doch ganz anders als zuvor. Sein Leib, in dem er ihnen erschien, war gleichsam durchlichtet von der Herrlichkeit Gottes. Als Paulus ihn sah, fiel er geblendet von dem Licht, das vom Auferstandenen ausstrahlte, zu Boden.
Er musste fragen: »Wer bist du, Herr?« Doch die Stimme des Auferstandenen hörte er in klar verständlicher menschlicher Sprache: »Ich bin Jesus, den du verfolgst!« (Apostelgeschichte 9,5)
Um das angemessen auszudrücken, hat Paulus später in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth von einem total »verwandelten« Leib gesprochen, in dem zwar die Person Jesu in ihrer Identität präsent ist, der jedoch ganz und gar aus dem Geist Gottes besteht; oder mit Paulus anders gesagt:
Anstelle der »Seele«, die den irdischen Menschen belebt und ihm seine persönliche Lebendigkeit gibt, ist im Auferstandenen der Geist Gottes die Kraft, die ihm ewiges Leben gibt (l.Korinther 15,44).
Diese Verwandlung ist für das Verständnis der Auferstehung Jesu entscheidend wichtig. Durch Gottes Machttat aus dem Tode zu ewigem Leben auferweckt, lebt Christus von nun an so, und dieses Leben besteht ganz und gar aus der Auferweckungsmacht Gottes, Gottes Geist. Man kann geradezu sagen:
Das Leben des Auferstandenen ist total wunderbar, ein einziges Wunder; denn es ist durchwirkt von Gottes leben-schaffender Kraft.
Für die Auferweckung Jesu gibt es nur eine Entsprechung: die Schöpfung am Anfang, wie das hymnische Lehrgedicht in l.Mose 1 ihren Vorgang beschreibt: »Und Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht.«
Aus totalem Nichts erschafft Gott seine Geschöpfe – »creatio ex nihilo«. Paulus kann daher den auferstandenen Christus mit dem ersten Menschen Adam vergleichen; aber er betont zugleich: Christus ist nicht der wiederhergestellte Adam – er ist »der zweite Adam« (1.Korinther 15,20), Neuschöpfung Gottes, von Gott geschaffen nicht aus dem Nichts, sondern vielmehr aus der Leben zunichtemachenden Wirklichkeit des Todes, oder wie Paulus sich ausdrückt: »Wie in Adam alle Menschen sterben, so werden sie, die Toten, in Christus alle zum Leben geschaffen« (l.Kor.15,21f).
Ich will damit sagen: Von der Auferstehung Christi reden, heißt entscheidend: von Gott reden. An den auferstandenen Christus zu glauben, heißt an den zu glauben, den Gott auferweckt hat.
»Auferstehung« also ist »Auferweckung«. Jesus ist nicht die mythische Figur eines Menschen, der aus eigener Kraft seinen Tod wie überhaupt alle Widrigkeiten dieser Welt zu überwinden vermag – nein, es ist der am Kreuz gestorbene Mensch Jesus, den Gott zu neuem Leben auferweckt hat.
Er war zwar zeitlebens bereits der Messias, der in Gottes Vollmacht gewirkt hat, aber jetzt an Ostern ist er es als Auferstandener, der durch Gottes Machttat ganz und gar Gottes Sohn geworden ist (Römer 1,4), mit Gott eines.
Dieses Wunder ist zwar für Menschen unbegreiflich, aber im Neuen Testament sagen alle Zeugen: Dieses unbegreifliche Wunder ist wirklich geschehen, und diese Wirklichkeit allein ist es, der wir als glaubende Christen unser ganzes Heil verdanken, die Rettung unseres Lebens. Wer von der Wirklichkeit dieses Wunders nichts weiß oder nichts wissen will, weil sie durch die Naturgesetzlichkeit gänzlich ausgeschlossen sei, der kann auch von Gott nichts wissen.
Nach biblischem Denken ist Gott das Wunderbare, das er tut.
Aber vielleicht gibt es im Gespräch zwischen Glaube und Naturwissenschaft eine ähnliche Analogie, wie Paulus sie zwischen Adam und Christus geltend macht: Man kann zwar heute vernünftigerweise nicht bestreiten, dass alles, was im gesamten Kosmos geschieht, sich nach zugrundeliegenden Gesetzen vollzieht, die jedermann nachprüfen kann. Aber man kann auch nicht bestreiten, dass alles, was je und neu geschieht, zwar nach Voraussetzungen geschieht, die als solche wiederum den Naturgesetzen entsprechen. Aber die Tatsache, dass je und je Neues geschieht, ist als solches »kontingent«, nicht in eine Regel zu fassen. Man übersetzt dieses Wort »Kontingenz« zumeist mit »Zufall« – im Gegensatz zur »Notwendigkeit« gesetzmäßiger Regelhaftigkeit aller Verläufe, die zwar durch Zufall entstehen, sich aber nach dem Anfangszufall ganz gesetzmäßig weiter vollziehen.
Aber was ist eigentlich Kontingenz, worin besteht das Wesen des »Zufalls«? Darauf lässt sich aus naturwissenschaftlicher Sicht nur negativ antworten: Zufälliges ist eben regellos. Hier gibt der Glaube eine andere Antwort:
Gottes Schöpferhandeln ist kontingent. Und von daher ergibt sich dann auch ein anders geartetes Verhältnis zwischen dem kontingenten Schöpferhandeln Gottes und der dadurch bewirkten Kontinuität seiner Geschichte mit den Menschen.
Anders als in dem Modell von »Zufall und Notwendigkeit« gehören im Handeln des biblischen Gottes Kontingenz und Kontinuität zusammen. Wo immer Gott schöpferisch handelt, da will er auch das, was daraus entsteht: und so gehört es zum Wesen des biblischen Gottes, dass sich in der Wirklichkeit all seines Handelns das Schöpferisch-Neue mit der »Treue« verbindet, in der Gott das durch ihn Entstandene nach seinem Willen zu seinem Ziel führt. So könnte man sagen:
Das total Neue der Auferweckung Christi ist zwar absolut wunderbar. Aber in diesem Wunder wirkt Gottes Wille, die ganze vorhergehende Geschichte seines Handelns mit Israel, die im Alten Testament berichtet und bezeugt wird, zu ihrem endgültigen Ziel zu führen: die Rettung aller Menschen – über Israel hinaus – aus der Todeswirklichkeit ihres irdischen Lebens zu neuem, vollkommenem, ewigem Leben, einem Leben, das in völliger Übereinstimmung mit Gottes Willen besteht.
In diesem Sinne kann man dann sehr wohl sagen: In der Auferstehung Christi als einem Ereignis der Geschichte Jesu können und dürfen wir Christen die Wirklichkeit unseres künftigen Heils erblicken, und zwar nicht nur als Zeichen, sondern als Voraus-Ereignis. Im auferstandenen Christus tritt uns die Wirklichkeit des ewigen Lebens entgegen, das nach Gottes Heilsratschluss einmal unser Leben werden soll.
Aber damit stehen wir bereits an der Schwelle zum zweiten Schritt unseres Gedankengangs, der sich nun Christus zuwenden muss.
Doch zuvor noch eine kurze Bemerkung über die Weise des Umgangs mit den Ostergeschichten, wie sie in der Wissenschaft neutestamentlicher Exegese weithin üblich geworden ist. Man sagt, das seien Aussagen des Glaubens über etwas, was »historisch-kritisch« gesehen, kein wirkliches Ereignis der Geschichte sei. . . . – übereinstimmend wird erklärt:
Diesen verschiedenen mythischen oder visionären Bildern entspricht keine geschichtliche Wirklichkeit. Jesus ist nicht auferstanden, sondern der christliche Glaube sagt dies, um auszudrücken: Was Jesus über Gott verkündigt und gelehrt hat, und was seine Jünger mit ganzem Herzen angenommen und als letzte Wahrheit bejaht hatten, das kann doch durch seinen Tod nicht ein so schrecklich-desillusionierendes Ende gefunden haben! Zu solchem Ergebnis, so wird behauptet, gelange man notwendig auch durch eine genaue historisch-kritische Untersuchung der Ostergeschichten der Evangelien.
Dabei zeige sich eine Fülle von Gegensätzlichkeiten, dass man als geschichtliche Tatsache hinter den Texten nichts anderes zu finden imstande sei als den Glauben der Jünger an ihn, der bald nach seinem schmählichen Tod in ihnen sich neu Bahn gebrochen habe. Glaubensfantasien also seien all diese Erzählungen, historisch nicht ernst zu nehmen, wohl aber als Dokumente der Gewissheit einer religiösen Wahrheit von Ewigkeitswerten.
Unterzieht man nun aber diese >Ergebnisse< historisch-exegetischer Kritik ihrerseits einer gründlichen Kritik, so stellt sich heraus:
Was hier als historischer Beweis behauptet wird, beruht entscheidend auf dem >weltanschaulichen< Grundurteil: eine Auferstehung des am Kreuz gestorbenen Jesus könne aus naturwissenschaftlichen Gründen überhaupt nicht stattgefunden haben. Geht man von vornherein von diesem Generalurteil aus, dann allerdings findet man natürlich auch bei der Auslegung der Texte nur lauter Widersprüchlichkeit. Klammert man jedoch dieses Generalurteil bei der Textuntersuchung zuerst einmal ein und untersucht allein nach den Grundsätzen historischer Auslegung von Zeugnissen aus vergangener Zeit das, was in diesen Texten als Geschehen bezeugt wird, dann kann sich sehr wohl ein historisch stimmiger Geschehenszusammenhang herausstellen. Dessen geschichtliche Wirkung zu bestreiten ist dann nur noch aufgrund des >sachkritischen< Urteils möglich:
Auferstehung von den Toten könne es nun einmal nicht geben, und also könne es auch die Auferstehung Jesu nicht gegeben haben. Darüber jedoch ist auf einer anderen Ebene als der historischen Textuntersuchung zu verhandeln. Öffentlich vertreten aber pflegt nun überall das Urteil zu werden, es handle sich um >das Ergebnis< historisch-kritischer Exegese, dem redlicherweise nicht zu widersprechen sei. Dieses Argument kann nur als selbst unredlich gelten!
Christen, die selbst nicht Theologen sind, müssen sich keinesfalls von dieser mit der Miene wissenschaftlicher Unwidersprechlichkeit vorgetragenen Behauptung beeindrucken lassen. Es gibt sehr wohl historisch gewonnene, redlich erarbeitete Bilder der Geschichte der Erfahrung der Auferstehung Jesu, die historisch durchaus plausibel sind.
Die Auferstehung Christi als des »für unsere Sünden« gestorbenen Gottessohnes
Es gibt im Neuen Testament viele Zeugnisse, in denen von der Auferweckung Jesu als von dem Wunder Gottes die Rede ist, durch das das Ergebnis des Handelns der Gegner Jesu, seine Ermordung, aufgehoben worden ist. Zwei Textbeispiele:
Markus 10,33f. sagt Jesus seinen Jüngern voraus:
»Siehe, wir gehen nach Jerusalem, und der Menschsohn [Jesus] wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert werden; die werden ihn zum Tode verurteilen und den Heiden übergeben [gemeint ist Pilatus als Befehlshaber der römischen Besatzung]; man wird ihn schlagen und ins Gesicht spucken, ihn auspeitschen und töten, und drei Tage danach wird er auferstehen.«
In gleicher Weise der Entgegensetzung des Handelns der Menschen an Jesus und der siegreichen Reaktion Gottes darauf lauten auch die Predigten des Apostels Petrus und Paulus, die Lukas in seiner Apostelgeschichte im Wortlaut berichtet (vgl. zuerst in der Pfingstpredigt Apostelgeschichte 2,22-24 mit dem Hinweis auf die Voraussage im alttestamentlichen Psalm 16) und dem zusammenfassenden Schlusssatz Vers 36: »Als sicher erkenne also das Haus Israel: Gott hat ihn [durch seine Auferweckung] zum Herrn und Christus gemacht – diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt!« Von einer Heilsbedeutung der Auferweckung Jesu ist hier nur indirekt die Rede: Die Erhebung zum Herrn (das ist der alttestamentliche Gottesname!) und zum Christus (dem erwarteten Messias) bedeutet natürlich, dass der Auferstandene als Gottessohn und Messias Gottes Heil verwirklichen werde. Aber der Ton der Aussage liegt ganz darauf, dass Gott das Handeln der Menschen an Jesus aufgehoben hat, indem er den von Menschen Ermordeten zum Leben auferweckt hat. Auf diese Predigt hin – so berichtet Lukas – haben sich über 3000 Menschen taufen lassen »auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung ihrer Sünden«, der der Empfang des Heiligen Geistes folgt (Apostelgeschichte 2,8).
Mit dem Stichwort »Vergebung der Sünden« ist die Heilswirkung der Auferweckung Jesu ausdrücklich genannt: Vergebung der Sünden und Empfang der Gabe des Geistes Gottes, der die Kraft Gottes ist, durch die er Jesus vom Tod auferweckt hat. Verbindet man beides, so geschieht in der Vergebung der Sünden ein totales Neuwerden des Lebens, in dem der Getaufte selbst einbezogen wird in das Auferstehungsleben Christi.
So ist die Auferstehung Christi nicht ein Geschehen zwischen Gott und Christus für sich allein, sondern ein Heilsgeschehen, in das die Christen selbst mit einbezogen werden.
So lautet das älteste Glaubensbekenntnis der Urkirche, das der Apostel Paulus in 1 .Korinther 15,5ff. im Wortlaut zitiert folgendermaßen: »Christus ist gestorben für unsere Sünden nach den Schriften [des Alten Testaments]; er ist begraben worden; er ist zum Leben auferweckt worden am dritten Tag nach den Schriften; und er ist Kephas erschienen, dann den Zwölfen.«
Hier ist es die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Christi: die Befreiung »von unseren Sünden«, die durch das Auferweckungshandeln Gottes am Gekreuzigten in Kraft gesetzt worden ist. Es geht also nicht nur um den Erweis der Macht Gottes über den Tod und über die Macht der Menschen, sondern es geht um die Macht Gottes zum Heil der Menschen, die Gottes Vergebung aufgrund des Kreuzestodes Christi im Glauben annehmen.
Paulus deutet dann diese Heilswirklichkeit der Auferstehung Christi, indem er betont: Wäre diese nicht geschehen, so wäre christlicher Glaube »wirklichkeitsleer«; es gäbe dann keine Vergebung der Sünden als die Heilswirkung der Auferstehung Christi, »ihr wäret dann noch euren Sünden verhaftet« (1.Korinther 15,14.17f.).
Deswegen wären wir dann »die Elendesten von allen Menschen«, weil wir den Glauben zu besitzen meinten, unser Leben sei von der Macht der Sünde über uns frei geworden; ja wir hätten am Auferstehungsleben Christi teil, – dieser Glaube jedoch in sich zusammengebrochen sei, weil Gott den gekreuzigten Christus nicht auferweckt hätte.
Vor diesem schrecklichen Elend des Zusammenbruchs letzter Rettung ist der Philosoph Hegel zutiefst erschreckt worden. Er sprach mit Schaudern von dem »spekulativen Karfreitag«. Doch von Paulus hat Hegel aufgenommen: dieser letzten Katastrophe sind wir Christen tatsächlich entronnen:
»Nun aber ist Christus auferweckt worden« (1.Korinther 15,20).
Wer das leugnet, ist gottlos im doppelten Sinn: Er sündigt mit dieser Behauptung als Gottloser gegen Gott, und damit ist er selbst gottlos geworden, vom Heil Gottes ausgeschlossen (1. Korinther 15,34). Das heißt: An der Wirklichkeit des Auferweckungshandelns Gottes am gekreuzigten Jesus hängt zugleich die Wirklichkeit des letzten Geschicks der Menschen – entweder die der Teilhabe am Heil Gottes im Glauben, oder aber die des Verfalls an die tödliche Macht der Sünde über das Leben.
Um dies zu verstehen, bedarf es einer kurzen Erklärung, was im Sinn der Bibel Sünde bedeutet. Am deutlichsten wird das in der Geschichte von der Sünde Adams in l.Mose 3. Adam – so wird erzählt – ließ sich von der Schlange einreden, er könne »sein wie Gott« und selbst bestimmen, was gut und böse ist.
Diese Versuchung war so verlockend, dass er den Gehorsam zu Gott brach, der bislang das Zusammenleben der Geschöpfe mit ihrem Schöpfer bestimmte zum Guten für alle. Adam und Eva setzten sich über das Verbot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, hinweg; sie rissen eine Frucht davon ab und aßen – mit der Absicht, sich diese Erkenntnis, diese Fähigkeit zu entscheiden, was gut ist und was böse, selbst anzueignen.
Gott aber ließ ihren Ungehorsam so zur Wirkung kommen, dass er sie aus dem Paradies entfernte: In der Wüste >draußen< waren sie tatsächlich so allein ihre eigenen Herren, wie es der Wille ihrer Sünde zu sein wünschte.
So entsteht draußen eine Welt des Bösen: Der Bruder erschlägt den Bruder aus Neid, der Frucht des Egoismus der Sünde. Sünde ist Egoismus, weil sie sich von Gott lossagt, der allein das Leben im Guten gedeihen lassen kann. Menschen mit dem Willen des Egoismus gegen Gott können nur egoistisch handeln gegeneinander. In der Wüste, da die Sünde herrscht, ist es mit dem Frieden des Paradieses vorbei. Die Sünde schädigt nicht Gott, wohl aber das Leben der Sünder fern von Gott.
Im ersten Buch Mose wird dann erzählt, wie Gott seinerseits die Geschichte des Bösen durch die Sintflut unterbricht und durch die Bewahrung Noahs mit seinem ganzen Haus einen neuen Anfang in der Geschichte der Menschen setzt – nunmehr zum Guten.
Doch auch diese Geschichte wird durch das Handeln der Menschen zu einer Geschichte der Sünde und des Unrechts. Daraufhin beginnt Gott nochmals eine neue Geschichte mit Abraham, den er beruft zu einem Wanderleben des Gehorsams im Glauben allein zum Wort der Verheißung Gottes.
Diese Geschichte wird zur Geschichte Gottes mit Israel, dem Volk, das er sich erwählt hat als Beispiel für alle Völker. Er offenbart Mose seinen Namen als das Geheimnis seines ureigenen Wesens. Der Name lautet zuerst »Ich bin, der ich bin«: Gott ist absolut ICH (2.Mose 3,14).
Das könnte, sozusagen mit Adams Ohren gehört, als Verabsolutierung des egoistischen Willens der Sünde missverstanden werden – als ob sich Gott mit seinem exklusiven ICH dem Gott-losen Ich des Sünders entgegensetzte. Doch alsbald wird in den zwei weiteren Offenbarungen seines ICH-Namens deutlich, dass dieser ICH-Gott nicht gegen Menschen exklusiv ist und sie von sich fernhalten will, sondern nur gegen andere Götter.
Israel sagt er zu: ICH bin dein Gott (2.Mose 20,2). Sein ICH ist ICH für, nicht in einem göttlichen Egoismus für sich selbst, sondern ganz für seine Erwählten. Er schließt geradezu einen Bund mit Israel:
Er will sein Volk aus dem Gefängnis der Sklaverei in Ägypten erretten, er will es da herausführen in die Freiheit des Glaubens, in dem sie ihrem Gott durch das Meer hindurch vertrauensvoll folgen und in der Wüste ganz allein von den Gaben ihres Gottes leben sollen. So ernst Gott seinen Willen nimmt, Israel zu retten, zu befreien und in ein eigenes Land zu führen, so ernst nimmt er den Willen seiner Erwählten.
Der Bund ist darum ein Bund gegenseitiger Treue. Gott sagt Israel zu, dass er ganz und gar sein Gott sein und bleiben will, Israel gehorcht ihm als seinem Gott allein. Die Zehn Gebote sind das Dokument dieses Bundes.
Aber was geschieht, während Mose die beiden Tafeln des Bundes auf dem Berg Sinai empfängt und zum Volk herabbringt? Bundesbruch geschieht: Die Erwählten Gottes machen sich eigene Götter und beten diese im Begeisterungstaumel als ihre Götter an (2.Mose 32). Da zerbricht Mose die beiden Steintafeln – der Bund, von Gott her soeben auf ewig geschlossen, ist von dem Volk des Bundes zerbrochen.
Nimmt nun Gott die Gegenseitigkeit seines Bundes ernst, so muss er ihn als von seinen Bundespartnern zerbrochen auch seinerseits kündigen. Doch – o Wunder! Gott lässt sich von Mose erbitten, seinen Bund mit diesem bundbrüchigen Volk dennoch zu erneuern.
Der Grund für diese Wende liegt allein im innersten Wesen Gottes, das er nun in einer dritten, endgültigen Offenbarung seines Namens in 2.Mose 34,6 so benennt:
»ICH, dein Gott: gnädig und barmherzig, geduldig und reich an Liebe und Treue«. Was Luther mit »geduldig« übersetzt hat, sagt im hebräischen Text: Gott schiebt seinen gerechten Zorn gegen sein bundbrüchiges Volk gleichsam auf und bringt stattdessen seine barmherzige Gnade und Liebe zur Wirkung. Er vergibt Israel die Sünde des Bundesbruches.
Das heißt nicht etwa: Er nimmt diesen nicht ernst – sehr wohl nimmt er ihn ernst: Er wird eine Zeit lang Israel erfahren lassen, wie kraftlos und schwach seine selbstgemachten Gegengötter sind wenn es darum geht, sich in der politischen Völkerwelt gegen Feinde zu behaupten. Sie sollen dessen gewahr werden, dass sie ohne ihren Gott feindlicher Übermacht verfallen. Aber diese Zeit der Gottverlassenheit wird begrenzt sein – begrenzt durch den Heilswillen seiner Gnade – der soll der Wirkung seines Zorns überlegen sein.
Das ganze Alte Testament hat
in diesem Namen Gottes von
2.Mose 34 seine Mitte. Immer
wieder setzt sich der Eigenwille der Sünde Israels gegen
Gott durch; ein Bundesbruch
folgt dem andern. Schließlich
kommt es zur Katastrophe: Jerusalem mitsamt dem Tempel als der Wohnstätte Gottes inmitten seines Volkes wird von der Weltmacht der Babylonier zerstört und das Volk gerät in eine erneute Gefangenschaft im fernen Feindesland.
Ist so der Bund endgültig zerbrochen? Alles spricht dafür. Jedoch: es treten Propheten auf, die dem Volk in diesem Elend aussichtsloser Gefangenschaft seine Heimkehr nach 70 Jahren ankündigen – aber weit darüber hinaus eine Erneuerung des Bundes in wunderbarer Zukunft, in der es – allererst dann – eine völlige und ewig-wirksame Vergebung geben wird (Jeremia 31).
Für die Zwischenzeit bis zum Aufbruch der endzeitlichen Vollendung widerfährt Israel Jahr für Jahr am »Versöhnungstag« Vergebung dadurch, dass Gott im Allerheiligsten des Tempels durch seinen höchsten Repräsentanten, den Hohenpriester, das Blut von Haustieren anstelle des verwirkten Lebens des sündigen Israel annimmt: Das Tier stirbt so – in tiefer Kultsymbolik – »für die Sünden Israels«.
Ein einziges Mal übernimmt diese Funktion der Opfertiere ein Mensch als »Knecht des Herrn«, ein Prophet, dessen Schicksal seine Schüler in dem bewegenden Nachruf-Lied in Jesaja 53 besingen: in Israel selbst war er gehasst, weil er im Namen Gottes zum Volk gesprochen hatte, und am Ende ist er von Israeliten ermordet worden. Diesen Tod seines Knechtes aber wertet Gott als stellvertretende Lebenshingabe für die vielen Sünder – einschließlich derer, die ihn getötet haben. Es ist nicht ein Opfer, das dieser Prophet Gottes darbringt, um ihn zu bewegen, dem verschuldeten Israel zu vergeben, sondern als Repräsentant Gottes, dem Willen Gottes gehorsam, nimmt er dieses Geschick des Todesleides auf sich – Gott will es so, Gott selbst identifiziert sich mit ihm:
»Jahwe ließ ihn unser aller Schuld treffen« – singen seine Schüler. Das tut Jahwe im Sinne seines Namens von 2.Mose 34, um Israel seine Barmherzigkeit zu erweisen statt seines Zorns.
Damit klingt an, was im Tod Christi »für unsere Sünden« voll zur Wirkung gekommen ist: Christus Jesus hat am Kreuz den Tod auf sich genommen, den die Sünder sich durch ihre Sünde zugezogen haben. Dass Gott in seiner allmächtigen Königsherrschaft Sündern vergibt und ihnen buchstäblich das Leben schenkt, das hat Jesus überall verkündigt.
Da Israels Führer darauf ebenso reagierten wie auf die Verkündigung jenes »Knechts« von Jesaja 53, ist es nun Gottes Sohn, der für die, die ihn im Namen Israels abgelehnt und seinen Tod am Kreuz erwirkt haben, im Namen Gottes sein Leben hingegeben hat. Ein Tod am Kreuz gilt in Israel als Widerfahrnis des Fluches Gottes gegen die Sünder, so steht es in der Thora im 5. Buch Mose Kapitel 21. So kann Paulus in Galater 3,13 den Kreuzestod Christi so deuten:
»Christus hat uns freigekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er selbst für uns zum Fluch geworden ist«; und entsprechend in 2.Korinther 5,21: »Den, der nichts mit Sünde zu tun hatte, hat Gott zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit werden in ihm«.
Das gilt deswegen, weil Gott den so für unsere Sünden Gestorbenen, aus diesem Tode auferweckt hat. In der Auferweckung Christi hat Gott seine Liebe und Barmherzigkeit, nach deren Willen Christus sein Leben stellvertretend für das verwirkte Leben aller Sünder hingegeben hat, in einem letzten Machtakt zu endgültiger Wirkung gebracht. Gottes barmherzige Liebe war mit dem Gekreuzigten eines, darum ist in seiner Auferweckung die Allmacht seiner Liebe, um deretwillen Jesus am Kreuz gestorben ist, zu ihrem Sieg gekommen, – und mit diesem Sieg hat Gott die verheißene Heilsvollendung des »Neuen Bundes« anbrechen lassen.
Deswegen sprengt dieses Heilsgeschehen in Kreuz und Auferstehung Jesu, des Sohnes Gottes, die Grenze zwischen Israel und den Völkern: Für alle Sünder ist Christus gestorben und auferstanden, hat die Macht der Sünde über ihr verwirktes Leben gebrochen und Schuldigen statt ihres Todes Leben geschaffen. Wer immer in der Welt an diesen Christus glaubt, dem widerfährt Befreiung vom Tod der Sünde und Teilhabe am Auferstehungsleben des auferstandenen Sohnes Gottes.
Ich betone dies: dass es Christus als der für unsere Sünden am Kreuz Gestorbene ist, den Gott auferweckt hat. Denn es gibt heute in Theologie und Kirche viele Christen, bis hinauf zu manchen Führenden, die diese zentrale Aussage des Neuen Testaments als modernen Menschen nicht mehr zumutbar erachten.
Hier gilt es, einen Kampf auszufechten, um diese Bestreiter davon zu überzeugen, dass gerade auch für moderne Menschen gilt, was Paulus den Bestreitern in Korinth ins Stammbuch geschrieben hat: Von der Auferstehung Christi zu reden, verliert dort ihren ganzen Sinn, wo Christi Tod nicht mehr als der alleinige und höchst wunderbare Grund der Vergebung von Sünden erkannt und gepriesen wird:
»Wäre Christus nicht auferstanden, so wäret ihr noch in euren Sünden«; denn von diesen könnt ihr nur frei werden durch die Auferstehung des für uns Sünder am Kreuz gestorbenen Christus.
Wenigstens andeutungsweise möchte ich noch einen Hinweis auf die Bedeutung dieses Zentrums alles neutestamentlichen Christusglaubens für unsere moderne Welt anfügen. Dass es Schuld gibt als Wirkung dessen, was viele sich selbst und anderen leben-zerstörend angetan haben, das liegt vor den Augen aller. Aber wie geht man mit Schuld um, wenn man mit der christlichen Botschaft der Vergebung Gottes durch den Tod seines Sohnes nichts anfangen zu können meint?
Da gibt es nur einen Weg: Man will die Schuld loswerden durch Beschuldigung. Wie oft erleben wir das mit, wie in der Öffentlichkeit Einzelne als Schuldige gebrandmarkt werden, wobei die Ankläger sich als unschuldig, ja, als Wahrer des Rechts herausstellen. Das ist geradezu zu einem Ritual geworden. Aber wie oft erleiden Gleiches auch Ehepartner: einer beschuldigt den anderen, und darüber zerbricht die Gemeinschaft ihrer Partnerschaft; und wenn sie den Mut finden, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, so werden sie dessen gewahr, dass sie im Grund sich selbst beschuldigen und darunter bitter zu leiden haben.
In Wirklichkeit wird man Schuld nur los durch Vergebung. Wie schwer aber ist es, denen von Herzen – und dadurch allererst wirksam – zu vergeben, die uns etwas Schlimmes angetan haben!
Vergebung konkret erfahren
Ich breche hier ab, um noch ganz kurz – viel zu kurz! – darauf zu sprechen zu kommen, wie man als Christ Vergebung Gottes durch Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, konkret erfahren kann. Das geschieht zentral-dicht im Heiligen Abendmahl; da ist ja Christus selbst gegenwärtig und spricht uns das zu, was er damals seinen Jüngern beim Abendmahl zugesprochen hat: »Nimm hin und iss – das ist mein Leib für dich. Nimm hin und trink – das ist mein Blut des Neuen Bundes, für dich vergossen.« In der Kommunion wirkt dieser Christus ganz tief in uns hinein und gibt uns teil an seinem Tod für uns – als der Auferstandene, der uns darin an seinem Auferstehungsleben teil gibt (1.Korinther 10,23f.).
Ganz persönlich möchte ich das so sagen: Bis zu einem Tag am Ende des Krieges hatte ich mit dem Christentum nichts zu tun. Ich war aufgewachsen in einer ganz und gar vom Christentum freien Familie, wie es sie damals (und wohl auch heute) viele in Hamburg gab. Ich war noch im Januar 1945 Soldat geworden. Und an jenem Tag, als die amerikanische Panzerbrigade vom Norden her auf München zufuhr und ich sie in meinem rasch ausgegrabenen Loch immer lauter hörte, tödlich auf mich zu brummend, da zog ich in panischer Angst ein kleines Neues Testament aus meiner Brusttasche heraus, das ich zum Abschied von einer Schulfreundin geschenkt bekommen hatte. Nie hatte ich darin gelesen – nur es zu besitzen als Geschenk von ihr, war mir bisher wichtig. Jetzt las ich: »In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost: ICH habe ich Welt überwunden« (Johannes 16,33).
Diese ICH-Stimme hatte ich noch nie gehört – jetzt sprach sie mir so wunderbar tröstlich zu Herzen, wie es kein Mensch kann. Mit dieser Zusage in mir habe ich dann das ganze schreckliche Kriegsgeschehen erlebt und durchstanden: Ich war am Leben geblieben, wo neben mir viele meiner Stubenkameraden tot am Boden um mich lagen. Als alles vorbei war, machte ich mich zu Fuß auf den weiten Weg nach Hause. Am ersten Abend kam ich in ein Dorf. Die Glocken läuteten. Ich ging hinein in die Kirche. Dann wurde ich im Pfarrhaus selbstverständlich aufgenommen. Keiner fragte mich prüfend, ob ich katholisch sei – ich, dieser fremde Junge, gehörte einfach dazu. Frühmorgens ging ich mit zur Messe. Alles war mir völlig fremd – aber die Stimme Christi sprach in mir, und als ich mit nach vorn zum Altar ging und die Hostie empfing, war es diese mir so vertraute Stimme, die hier im Wort des Pfarrers zu mir sprach: Corpus Christi – iss dieses Brot; darin bin ICH, nimm mich in dich hinein!
Das wiederholte sich dann von einem Tag zum andern in jeder Kirche aufs Neue. Seitdem ist mir die Kommunion zum Ort urpersönlicher Christus-Nähe geworden. Ich brauche sie als immer neue Wiedererfahrung des Wunders, welches ich an jenem Kriegstag erlebt habe: des Wunders, dass ich lebe – lebe mit dem ICH Christi, der mir mein Leben schenkt, immer wieder neu.
Dass dieser Christus von Schuld frei macht, das habe ich während der zehn Jahre meines Bischofsdienstes in besonderer Weise erfahren. Von Beginn an bin ich regelmäßig zu einem Mitbruder zur Beichte gefahren. Denn ich wusste: In diesem Amt wirst du vielmals schuldig werden. Und jedes Mal habe ich es als selig erlebt, wenn er mir die Hand auflegte, das Kreuz auf meine Stirn zeichnete und mir zusprach: »Deine Sünden sind dir vergeben im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
Selig singend bin ich jedes Mal nach Hause gefahren. Und am Sonntag darauf hörte und schmeckte ich immer wie die Worte der Absolution im Wort Christi sich noch einmal verdichteten: »Das ist das Blut, vergossen zur Vergebung der Sünden.« Mit der Befreiung von meinen Sünden war es dann auch immer zugleich ein neuer Mut zum Leben in meinem Amt und in all den oft schwierigen Situationen, die es immer wieder zu bestreiten galt.
Natürlich könnte ich dies auch theologisch erklären, dass der Gottesdienst mit dem Sakrament als seinem Höhepunkt wirkliche Begegnung mit Christus selbst ist und dass darum im christlichen Leben nichts so wichtig ist wie dieses Nahesein des gekreuzigten Auferstandenen in seinem sakramentalen Wort: »Für dich gegeben, für dich vergossen zur Vergebung der Sünden.«
Aber ich denke, in einem persönlichen Erlebnis-Zeugnis ist die Wahrheit konkreter anzuschauen: Das Erstaunliche ist ja, dass das persönliche Erleben so vollständig dem biblischen Gesamtzeugnis entspricht –
■ die Auferstehung Christi als Gottes Auferweckungstat – der auferstandene Christus der erste, an dem Gott seine Leben schaffende Kraft der endzeitlichen Neu-Schöpfung voll und endgültig erwiesen hat;
■ die Auferstehung Christi als Auferweckung des für unsere Sünden am Kreuz gestorbenen Sohnes Gottes, an dessen Auferstehungsleben wir im Glauben an ihn bereits im Voraus teilhaben dürfen;
■ schließlich die konkret-persönliche Begegnung mit diesem auferstandenen Herrn im Heiligen Abendmahl als der Mitte und Quelle christlichen Lebens in dieser modernen Welt.
Ulrich Wilckens, geboren 1928 in Hamburg, war nach seinem Theologiestudium für kurze Zeit im Kirchendienst der badischen Landeskirche im Südschwarzwald, bevor er in Heidelberg Assistent bei Professor Edmund Schlink {Systematische Theologie) wurde. Wilckens promovierte mit einer Arbeit über »Die Missionsreden in der Apostelgeschichte« und habilitierte sich mit einer »exegetischen-religionsgeschichtlichen Untersuchung zu l. Korinther 1 und 2« (Titel: »Weisheit und Torheit«, gedruckt erschienen 1959). Von 1960 bis 1968 war er Professor für Neues Testament in Berlin und von 1968 bis 1981 in Hamburg. Bischof des Sprengels Lübeck der Nordeibischen Evangelisch-Lutherischen Kirche war er von 1981 bis 1991.
Ulrich Wilckens darf als einer der profiliertesten Neutestamentier der vergangenen Jahrzehnte gelten. 1972 hat er eine viel beachtete Übersetzung des Neuen Testaments herausgebracht (GTB Siebenstern, Gütersloher Verlagshaus). Außerdem verfasste er neben vielem anderen einen dreibändigen Kommentar zum Römerbrief, sowie einen zum Johannesevangelium und eine insgesamt mehr als 2100 Seiten umfassende Theologie des Neuen Testaments (sechs Teilbände). Alle drei Veröffentlichungen sind inzwischen in mehreren Auflagen erschienen. Seine Übersetzung des Neuen Testaments, die vergriffen war, hat unlängst der fontis-Verlag (Brunnen, Basel) wieder herausgebracht: »Studienbibel Neues Testament«, sowie einen Studienführer »Altes Testament«, ein »Hilfsbuch« zum Verständnis des Alten Testaments.
Aus: INFORMATIONSBRIEF, APRIL 2016
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