Aids – Strafe Gottes? (G.Huntemann)
Georg Huntemann
AIDS – Strafe Gottes für eine lustverfallene Zivilisation?
1. Lust und Last einer lustbetonten Zivilisation
«Was habe ich erreicht?» war die Lebensfrage eines alten Menschen im patriarchalischen Zeitalter. «Wie habe ich mich gefühlt?» ist die Frage im matriarchalischen Zeitalter der lustbetonten Zivilisation. Heute geht es weniger um ein zu erkämpfendes Ziel als um den erfüllten Augenblick eines Wohlgenusses. Emotionale Revolution bedeutet, daß Lebensqualität nicht mehr als sinnhaftes Dasein erkämpft, sondern lustvoll verbraucht werden soll. So treten an die Stelle der alten Werte wie Sinn, Pflicht, Opfer, Entscheidung. Verzicht, Leidensfähigkeit usw. die neuen emotionalen Werte wie Einfühlsamkeit, Zuwendung, Annahme, Wohlfühligkeit, Lust, Spaß, Zärtlichkeit, Anpassung usw. Frauliche Werte lösen männliche ab.
In der emotionalen Revolution sucht eine neue Generation die emotionale Ekstase. Befreiung von der Last des Gewissens und Klarheit des Bewußtseins, vor allem von der fordernden Realität des Alltags wird durch Eintauchen in die Welt der Gefühle wie in eine Rauschkugel ermöglicht. Durch ekstatisch-rhythmische Rock-Pop-Musik im Electronic-Water dröhnender Geräuschfluten mit gleichzeitig visuellen Stimulierungen durch verwirrende Lichtkaskaden wird das Eintauchen in die Gefühlsorgie perfektioniert. Junge Leute geraten in Verzückung – in die Ekstase.
Ek-stasis ist Dasein außerhalb der personalen Ganzheitlichkeit von Dasein, Fühlen und Gewissen. Ekstase depersonalisiert und chaotisiert menschliches Leben. Neben orgiastischer Musik sind Droge und Sexualität die Mittel, um ekstatisches Dasein oder besser ekstatisches Außersichsein zu verwirklichen.
Heute wird Sexualität weitgehend zu einem Instrument des Abtauchens aus der Wirklichkeit in die bergende Schutzhülle einer emotionalen Rauschkugel. Sexualität beschreitet daher nicht mehr den langen und umständlichen Weg der Liebe oder des Verliebtseins, auf dem die eigene Existenz selbst als personales Engagement eingebracht werden muß. Sexualität ist heute im Zeitalter des häufigen Partnerwechsels geradezu die Flucht vor dem Ich und der Wirklichkeit der Welt. Apersonale Sexualitätsmanie zerstört jene Ordnungen, die das biblische Gebot als Schöpfungsordnungen bejaht und beschützt: Die Ehe und die Familie. In der Bundesrepublik Deutschland kommen auf drei Eheschließungen eine Ehescheidung. Dabei sind jene Partner, die voneinander getrennt leben, aber aus wirtschaftlichen bzw. steuerlichen Gründen keine Ehescheidung eingehen, noch unberücksichtigt – sie sind auch gar nicht zählbar. 2,5 Millionen leben unehelich in freien Partnerschaften und zweihundert- bis dreihunderttausend ungeborene Menschenleben werden jährlich abgetrieben.
Die emotionale Revolution ist die grausame und zugleich schleichende Herausforderung des Christentums in dieser zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Kann so etwas gutgehen? Kann solch eine Rebellion gegen Gottes Gebot ohne Folgen bleiben?
Im Höhepunkt dieser emotionalen Revolution brach eine neue, bisher unbekannte Krankheit aus, die man Ende der siebziger Jahre in den USA als AIDS, d. h. als erworbenes Immundefektsyndrom registrierte. Sie wird durch ein Virus ausgelöst, das als HIV Virus (Human Immunodeficiency Virus) das Abwehrsystem des menschlichen Körpers gegen Krankheit zerstört. Dieses Virus wurde in jenen Randgruppen der US Zivilisation entdeckt, in denen die emotionale Revolution in der Szene von Drogen, Homophilie und Prostitution die Grenze zum Extremen überschritten hat.
Mit den sich ausbreitenden Zerstörungsflächen dieser Krankheit aus den Randgruppen heraus bewegt sich die emotionale Revolution dieses Jahrhunderts am Rande einer Katastrophe. Ein amerikanisches Forscherteam (Masters, Johnson, Kolodny – «Das verdrängte Risiko», 1988) geht davon aus, daß die wirkliche Gefahr dieses Virus heute entweder noch gar nicht hinreichend erkannt sei oder bewußt heruntergespielt würde. Statt 1,5 Millionen gäbe es heute in den USA in Wirklichkeit schon 3,0 Millionen – abgesehen von den mindestens 10 Millionen Infizierten in Afrika. Vor allem sei beunruhigend, daß sich das AIDS Virus langsam aber sicher auf die jungen Mitglieder der Bevölkerung zu bewege, vor allem auf die 14- bis 25jährigen, wobei nicht nur die Randgruppen der emotionalen Revolution erfaßt werden, sondern auch die sich nach unseren gegenwärtigen Maßstäben sexuell normal verhaltenden Bürger. Damit wären nicht nur die Homophilen, Prostituierten und Drogensüchtigen, sondern auch jene Gruppen der Bevölkerung von der AIDS Gefahr bedroht, die nach Maßstäben leben, die in diesem emotionalen Zeitalter als völlig normal gelten. Gleichzeitig ist es eine Erfahrung der Menschheit, daß eine Seuche sich solange ungehindert und mit Vehemenz ausbreitet, bis ein wirksames Gegenmittel gefunden ist, wobei die planetarisch verkehrstechnische Vernetzung ein unvergleichlich forcierender Faktor bei dieser Ausbreitung ist. Das HIV-Virus wurde 1984 zwar genetisch entschlüsselt, aber ein Mittel zu seiner Bekämpfung gibt es bis heute nicht. Für das Jahr 1991 rechnet die Weltgesundheitsorganisation darum mit 50 bis 100 Millionen AIDS Infizierten auf dieser Erde.
Man kann mit einem HIV-Virus keine Experimente an Menschen machen, denn das Virus ist tödlich. Aus diesem Grunde herrscht immer noch weitgehend Unklarheit darüber, wie groß die Übertragungsgefahr wirklich ist. So kann z. B. ein Virus im getrockneten Blut bei Zimmertemperaturen drei Tage überleben. Es kann durch Blut und Körperflüssigkeit (Speichel) und im Blut auch außerhalb des Körpers übertragen werden. Auch gilt als sehr wahrscheinlich, daß jeder mit einem HIV Virus Infizierte eines Tages auch wirklich durch AIDS ruiniert wird.
Zweifellos gäbe es ohne die emotionale Revolution diese AIDS Krankheit nicht. Kein AIDS ohne emotionale Revolution, keine emotionale Revolution ohne AIDS. Ist AIDS die Rache Gottes für diese emotionale Revolution einer lustverfallenen Zivilisation?
Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt 1987 konnte der Hamburger Theologe Linder Jubel und Jauchzen ernten, als er meinte, Sexualität müsse Spaß machen und sei nicht an eheliche Partnerschaft gebunden, und die Theorie mit der Strafe Gottes sei theologisch nicht zu rechtfertigen.
Um so eindringlicher stellt sich die Frage: Ist AIDS Rache Gottes, wie ein amerikanischer Prediger einmal gesagt haben soll?
Um diese Frage zu beantworten, soll ein Bereich dieser emotionalen Revolution, eben die sexuelle Revolution, als Herausforderung des Christentums bedacht werden.
2. Die Revolution der Haut
Wann die sogenannte sexuelle Revolution begann, läßt sich rückblickend gar nicht so einfach beantworten. Für Deutschland könnte der Erste Weltkrieg und die Zeit danach vielleicht als der Beginn dieser sogenannten sexuellen Revolution angesehen werden. Seit den Zwanzigern, aber auch in den dreißiger Jahren und dann nach dem Zweiten Weltkrieg hat die «sexuelle Freizügigkeit» als eine Enttabuisierung der Sexualität sich fast geradlinig und konsequent durchgesetzt. Wie ich in meinem 1971 veröffentlichten Buch «Aufstand der Schamlosen» bereits nachgewiesen habe, wurde dabei die Enttabuisierung, also die Überwindung der Scham als totale Versachlichung der Sexualität, immer mehr propagiert. In den sechziger und ablaufend in den siebziger Jahren wurde für diese sexuelle Revolution dann so etwas wie eine Art Doktrin ausgebaut. Worum ging es? Ein einfaches Beispiel:
Arno Plack schrieb im Jahre 1971 das Buch «Die Gesellschaft und das Böse». Hier geht er davon aus, daß die Ursache des Bösen (und das war für ihn die Aggression) als Ursache allen Unheils in unserer modernen Gesellschaft darin zu suchen sei, daß Sexualität verdrängt werde. Darum wurde ihm die Emanzipation der Sexualität gerade zum Heilmittel für die Gesellschaft überhaupt.
Emanzipation bedeutet im Blick auf Sexualität, daß es nichts geben darf, was die Entfaltung der sexuellen Lust hindert. Dabei geht man von der Voraussetzung aus so etwa Herbert Marcuse ganz im Gegensatz zu Siegmund Freud daß der Mensch durchaus die Möglichkeit habe, glücklich zu werden, wenn er sein Bedürfnis nach Lusterfüllung restlos und vor allen Dingen hemmungslos betätige. Es steht also ein ganz bestimmtes Verständnis hinter der sexuellen Revolution: Der Mensch lebt auf einem Ozean von Lustfähigkeit. Er muß nur diesen Ozean von Lustfähigkeit entdecken und ausleben. Das kann er aber nur, wenn Sexualität enttabuisiert wird. Denn alles, was der Auslebung der Sexualität entgegensteht, wie Scham, Gesetze, Verbote und Ordnungen, muß aufgehoben werden. Man könnte so sagen: Die sexuelle Revolution geht von der Voraussetzung aus, gut ist, was Lust schafft, böse ist, was Lust unterdrückt.
So sagte beispielsweise Günther Amend in seinem Buch «Sexfront», das 1970 erschien, im Blick auf die Onanie: «Es gibt keine Onanie Richtlinien. Onaniere so oft, so viel oder so wenig wie du willst und solange es dir Spaß macht.» Ja es sei sogar nötig, zur Entfaltung des Lustpotentials Jugendliche darüber aufzuklären, wie man sinnvoll masturbiere. In diesem Zusammenhang zitierte er das Kirchenlied «So nimm denn meine Hände und führe mich» als Anleitung zur Masturbation. Das Kirchenlied als Masturbationsdemonstration führt zum Kern der Christentumskritik: «Mir ist beim Studium der katholischen, teilweise auch der protestantischen Sexualaufklärungsschriften erstmals klar geworden, was der Begriff ‚Sexualverbrechen‘ eigentlich meint und auf wen die Bezeichnung Sexualverbrechen zutrifft – auf die Verfasser dieser Schriften.»
So erhebt Amend schwere Anklage gegen das Christentum, weil es die Auslebung der Sexualität hindere. Vor allem geht es ja in der sexuellen Revolution darum, – wie es in der «Broschüre zur Jugendpolitik» der Grünen aus dem Jahre 1987 heißt – über die «heterosexuelle Mann Frau Kombination» hinauszukommen und alle Möglichkeiten sexueller Lusterfüllung wahrzunehmen. So hat Claesson in seiner «Sexualinformation für Jugendliche» schon Ende der sechziger Jahre auch den geschlechtlichen Verkehr mit Tieren durchaus als eine Möglichkeit geschlechtlicher Verwirklichung hingestellt unter der einzigen Voraussetzung, daß Tiere dabei nicht gequält werden. Und die Grünen regen an, lesbische und schwule Emanzipationsgruppen zu forcieren, damit die Sexualität nicht nur in der Begegnung zwischen Mann und Frau erlebt werden kann.
Klassisch war in den siebziger Jahren für den gezielt antiautoritativen Charakter der Sexualrevolution das Mitspieltheater «Rote Grütze», eine Übertragung des schwedischen Aufklärungsbuches «NY – Du der Same, ich das Ei». In diesem Schauspiel, das sich als Mitspieltheater verstand, ging es darum, schon das sexuelle Verhalten der Kinder zu verändern. Im Anhang dieses Stückes heißt es darum: «Meine Arbeit für mich war nun, die Lust beim Vögeln und Schmusen und Ficken und Bumsen und Küssen und Streicheln auszudrücken und auszusprechen.» So gibt dieses Regiebuch Anweisungen, wie man dieses Stück aufführt mit dem Ziel, verändernd auf das Sexualverhalten der Kinder einzuwirken. Ziel ist, die Kinder sexuell zu stimulieren.
Darum ordnet die Regie an, daß bei der Vorführung dieses Aufklärungstheaters Kinder von den Eltern getrennt werden. Um so eher meint man Scham und Tabus abbauen zu können. Zwänge sollen aufgehoben werden. Zwänge können aber nur dann aufgehoben werden, wenn Autorität zerstört wird.
Keine sexuelle Revolution ohne die Zerstörung der Autorität – das ist ein Grundelement der sexuellen Revolution, das heute weitgehend verkannt wird. So werden die Kinder aufgerufen, Mutter und Vater zu spielen. In diesem Vater Mutter Kind Spiel wurden dann die Eltern zum Symbol für repressive Autorität, die also letzten Endes den Spaß der Sexualität unterdrücken. Schon dieses, daß Kinder von ihren Eltern zu Sauberkeit und Ordnung angehalten werden, sei Unterdrückung der Lust. Besser lustbetont in Unordnung und Schmutz, als lustverdrängend in Sauberkeit und Ordnung.
Vor allem aber soll die Scham abgebaut werden. In dem sogenannten Traum von Kacke und Kakao sagt der Vater: «Ich schäme mich so, wenn ich kacken tu». Und alle Kinder sagen nun: «Der Mensch ist ein Mensch, und der Mensch kackt ins Klo, drum schäm‘ dich nicht, drum schäm‘ dich doch nicht.»
Was irgendwie mit Lustentfaltung zu tun hat, soll auch «veröffentlicht» werden. Die Sexualität soll heraus aus der privaten Sphäre oder aus der Intimsphäre. Warum soll der sexuelle Akt nicht öffentlich, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen ausgeübt werden? Dies ist natürlich nur dann möglich, wenn Scham und Tabus überwunden werden. Erst dann sei der Mensch – so der Sinn dieser sexuellen Revolution – vollauf gemeinschaftsfähig und von aller Repression befreit.
Aus dieser Sicht der Dinge kann die Ehe natürlich nur repressiv beurteilt werden. So sagt in diesem Mitspieltheater «Rote Grütze» die Spielerin Helma: «Muß man verheiratet sein, wenn man zusammen schmusen will und vögeln?» Die Kinder werden nun durch geschickte Regie von Frage und Antwort gegen die Ehe sensibilisiert. Es wird die Frage gestellt: «Wer ist dafür, daß man nicht verheiratet sein muß?» Auf diese Frage hin erfolgt eine Abstimmung. Die Indoktrinierung durch dieses Mitspieltheater hat sich meistens dann so ausgewirkt, daß die meisten Kinder gegen das «Verheiratet sein-müssen» votieren.
Es geht in solchen Stücken oder ähnlichen Aufklärungsschriften, mit denen unsere Kinder im Rahmen einer sexuellen Revolution konfrontiert werden, nicht nur darum, daß Tabus und Scham abgebaut werden, sondern die Jugendlichen werden auch direkt zur Sexualität stimuliert. So werden sie in diesen und ähnlichen Stücken aufgefordert zum Zärtlichkeitsspiel. Sie sollen einander anfassen und streicheln. Der direkte körperliche Kontakt ist das Ziel dieser Unternehmung. Aus diesem Grunde wurden sie ja im Mitspieltheater «Rote Grütze» vorher von den Eltern getrennt. Und eine Puppe demonstriert nun, wie man Zärtlichkeit als sexuelle Vorspielhandlung verwirklicht. Die leiblichen Kontakte sind wichtig. Natürlich geht es dabei nicht nur um heterosexuelle Kontakte, also zwischen männlichen und weiblichen Kindern, sondern ganz im Gegenteil – Mädchen mit Mädchen, Jungen mit Jungen, aber auch Jungen mit Mädchen – alles, was durch Berührung Lustgefühle schafft, ist gut.
Aber diese sexuelle Revolution hat nicht nur einen antiautoritären, sondern vor allem auch einen politischen Zweck. Sexuelle Befreiung hat seit jeher ein politisches Ziel. Ja man kann fragen, ob die emotionale Revolution nicht im Grunde genommen das Instrument einer politischen Revolution ist. Ein Verhaltensforscher wie etwa B. S. Skinner gibt offen zu, daß der «Einstieg» in die Sexualität eigentlich nur dazu dient, an dem Punkt, an dem der Mensch am unmittelbarsten betroffen ist, eine Veränderung des Menschseins auch im politischen Sinne vorzunehmen. Befreiung der Sexualität ist das vorletzte Ziel. Das letzte Ziel war und ist die herrschaftsfreie Gesellschaft, die Zerstörung der elterlichen Autorität, die Vernichtung der Familie.
In dem besagten Mitspieltheater «Rote Grütze» fordern Hänsel und Gretel die Eltern auf, zu schmusen «in einem Spiel ohne Grenzen», wobei die Kinder kritisch zusehen sollen. Und sie fragen nun die Eltern: «Warum tut ihr das so selten, warum so wenig?.» Und die Antwort der Eltern bekennt, daß sie durch Ängste gelähmt seien, Ängste vor dem Vater, vor dem Lehrer, dem Arbeitgeber und dem Vorgesetzten, die ihnen von Jugend an eingeimpft seien. Angst vor der Arbeit und dem Arbeitgeber, eben vor der Autorität und Arbeit schlechthin, ist Ursache des Unglücks. Dann, nachdem die Eltern sich so vor ihren Kindern ausgesprochen haben, besser noch: vor den Kindern gebeichtet haben (wobei die Kinder als lustbetonte Menschen in diesem Stück den neuen Menschen verkörpern, die Eltern, die in Herrschaftsstrukturen groß geworden sind, noch der alte Mensch sind, kommt es zu einem Lied, das alle auffordert, sich als die Werktätigen zusammenzutun und gegen die Bosse zu kämpfen. Und dann heißt es: «Und so, liebe Freunde, hört das Märchen auf und fängt das Leben an. Vater, Mutter, Hänsel und Gretel streichen die Angst Stück für Stück aus ihrem Leben heraus und was holen sie in ihr Leben rein?» Die Antwort der Kinder im Chor: «Die Freude, das Glück, den Mut, die Freundlichkeit, die Liebe, das Ficken.»
Es ist auffällig, daß in diesem Mitspieltheater Ausdrücke gebraucht werden, die man bislang als obszön verurteilt hatte. Der Gebrauch dieser Ausdrücke ist keine Nachlässigkeit oder zufällige Schlamperei oder «Verproletarisierung». Ganz im Gegenteil – die Anwendung dieser Ausdrücke erfolgt völlig bewußt, weil die Meinung besteht, durch die Anwendung dieser lustbetonten Vulgärsprache sexuelle Lust zu stimulieren. Die emotionale Revolution als solche zeigt sich hier als eine Absenkung des herkömmlichen Lebensniveaus. Formen der Höflichkeit, Zurückhaltung und Scham werden bewußt durchbrochen. Das Vulgäre, Unbeherrschte zieht ein in unsere Gesellschaft.
Diese Beispiele mögen deutlich gemacht haben, daß die sexuelle Revolution eine antiautoritäre Revolution ist. Familie, Ehe und Eigentum sind in der emotionalen Revolution dieses 20. Jahrhunderts die Erzfeinde des Umsturzes.
Schon 1936 hat der Kommunist Wilhelm Reich die Ehe als eine Privatisierung der Sexualität verstanden. Ehe bedeutet, daß der Mann sein Privateigentum auf die Frau anmeldet. Ernest Borneman hat dann in seinem Buch «Das Patriarchat» diese These in den siebziger Jahren nun schon im Übergang zum Feminismus noch schärfer herausgestellt. Die Ehe sei das Urbild, ja die klassische Form des Privateigentums und deswegen der Feind einer sich emanzipierenden Gesellschaft. Folgerichtig hat dann Barbro Brackberger 1967 in dem Buch «Das verkrüppelte Frauenideal» die Ehe dadurch bekämpft, daß sie die Mütterlichkeit als eine heilige Kuh darstellte, die man endlich einmal schlachten müsse. Und Sebastian Haffner, den man als einen politischen Journalisten von Format schätzt und kennt, hat 1968 in seinem Buch «Emanzipation und Ehe» die These aufgestellt, daß die Ehe Entsexualisierung der menschlichen Beziehungen bedeute.
So wird also die Ehe verneint. Ja die Ehe ist eigentlich – so kann man es immer wieder im Bereich dieser sozialrevolutionären Schriften hören – Ursprung der Verfehlung in der sexuellen Verwirklichung des Menschen. In diesem Zusammenhang werden natürlich Vorwürfe gegen den christlichen Glauben erhoben. Erstaunlicherweise sind aber die direkten Angriffe gegen das Christentum sehr zurückhaltend. Das hängt einmal damit zusammen, daß die Theologen als die sogenannten Repräsentanten des Christentums weitestgehend bereit sind, die Bibel durch kritische Analyse und Interpretation auszuschalten und die Lebens- und Wertordnungen der Bibel zu relativieren. Andererseits sind die «Macher» der sexuellen Revolution wohl der Meinung, daß das Christentum beider großen Konfessionen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft keine große Bedeutung und keinen starken Einfluß auf die Sexualität mehr habe. Rundfragen verschiedenster Art haben längst ergeben, daß sich auch die Glieder der römisch-katholischen Kirche nur noch als Minderheit um die Regeln kümmern, die die Kirche im Blick auf das geschlechtliche Zueinander von Mann und Frau aufgestellt hat.
Dennoch ist beachtenswert, daß die sexuelle Revolution in drei Punkten das Christentum herausfordert:
a) Das Christentum, so sagt man, sei heteronom. Es lebe von einem Ethos, das von außen wie ein Zwang an den Menschen herangetragen werde und ihn autoritativ zum Triebverzicht auffordere.
b) Das Kreuz selbst sei ein Zeichen der Lebensverneinung. Es müßte eigentlich verstanden werden als ein Symbol des Sadomasochismus, also der Freude am Quälen und Gequältwerden.
c) Das Reden von Sünde und Schuld mache den Menschen die Sexualität madig. Und gerade dieses Reden von Sünde und Schuld habe dazu beigetragen, daß der Mensch seine Sexualität nicht frei und ungehemmt entfalten könne.
Die sexuelle Revolution hat also sozusagen einen «weltanschaulichen» Hintergrund. Viele, nur allzu viele verstehen die sexuelle Revolution leider in dem Sinne falsch, als ob es hier um mehr Freizügigkeit, Großzügigkeit oder Lebensbejahung ginge. Man sei in allem – so denken viele – nun etwas lebensbejahender und toleranter geworden. Aber dieses Verständnis der sexuellen Revolution ist grundfalsch. Hinter der sexuellen Revolution steht eine massive Ideologie und wer diese Ideologie, die sich mit der Revolution der Haut gleichsam wie mit einem Mantel eingekleidet hat, nicht versteht, kann auch nicht begreifen, was Sexualaufklärung an unseren Schulen und in der Öffentlichkeit überhaupt bedeutet und welche Folgen sie hat.
Es steht mehr oder weniger hinter dem Ganzen dieser Revolution der Haut die Doktrin der sogenannten negativen Dialektik, die manchmal auch als «Frankfurter Schule» bezeichnet wird. Das sei doch alles längst überholt und «Schnee von gestern», werden viele Leser sagen. Aber die Doktrin dieser negativen Dialektik ist mitnichten überholt, sondern sie hat uns nur schon lange eingeholt und ist längst zur gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit geworden. Wir leben schon lange nicht mehr mit den Vätern, sondern mit den Enkeln oder gar Urenkeln dieser Doktrin.
Von all den Vertretern dieser neomarxistischen Schule ist für dieses Thema Herbert Marcuse am interessantesten. Er wirkte in die Studentengeneration der 60er Jahre hinein bis zur Studentenrevolution, die 1968 in Berlin begann und in Berlin hat Herbert Marcuse als Gastprofessor in den 60er Jahren seinen Haupteinfluß ausgeübt. Marcuse unterscheidet sich von Siegmund Freud, dem sogenannten Vater der Psychoanalyse dadurch, daß Freud der Meinung war, daß es nicht möglich sei, durch Triebbefriedigung glücklich zu werden. Ja, er war der Meinung, daß der Mensch, wenn er menschenwürdig leben wolle, ohne Triebverzicht gar nicht existieren könne. Freud hatte darüber hinaus neben dem Lusttrieb auch den Zerstörungstrieb erkannt und die ganze Spannung in seinem Denken zwischen Lebenstrieb und Zerstörungstrieb durchschritten. Das Verständnis des Menschen bei Siegmund Freud war sehr realistisch und todernst und es stand dem biblischen Verständnis des Menschen viel näher als das der negativen Dialektik. Im Gegensatz zu Freud ist Marcuse der Auffassung, daß es durchaus möglich sei, Sexualität grenzenlos freizugeben und in einer lustbetonten Gesellschaft das Glück zu finden. Die Technik sei mittlerweile so fortgeschritten, daß der Mensch es sich leisten könne, nun wirklich ganz seiner Bedürfnisbefriedigung zu leben. Marcuses Konzept nennt man auch orphisch narzißtisch.
Was meint orphische Sexualität? Orpheus ist ein tragischer Gott, der mit seinem Singen Tiere, Bäume und Felsen verzaubert und die harmonische Vereinigung mit der Natur herstellt. Orpheus ist der Mann der Aussöhnung mit allem, was ist, auch mit dem Gott der Unterwelt, der ihm seine Frau Eurydike zurückgibt. Orpheus ist für Marcuse das Symbol dafür, daß Sexualität nicht unbedingt Heterosexualität sein muß, sondern daß Sexualität als solche auch völlig losgelöst von der Begegnung zwischen Mann und Frau ihren Sinn in sich hat. Darum gibt es nach dem Standpunkt der orphischen Sexualität keine perversen sexuellen Handlungen. Dieses Verständnis der Sexualität hat sich in unserer modernen Gesellschaft längst durchgesetzt. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß in Schweden die Strafbarkeit des Inzest, also des geschlechtlichen Verkehrs zwischen Vater und Tochter, Mutter und Sohn und den Geschwistern aufgehoben worden ist. Nach dem allgemeinen Verständnis des normalen Menschen ist alles, was straffrei ist, auch erlaubt und letztlich gut. Es besteht kein Grund anzunehmen, daß dieser Weg in die totale sexuelle Vergleichgültigung nicht weiter beschritten wird. Wenn jeder mit jedem zu jeder Zeit und an jedem Ort geschlechtlichen Verkehr haben kann, wenn es keine Differenzierung mehr gibt, dann ist wirklich die kommunistische Urhorde wieder hergestellt. Hier ist nun nichts mehr differenziert, hier wird nicht mehr gesagt: «Dies ist mein Eigentum» oder «Dieses gehört mir», «Dieser ist mein Mann» oder «Diese ist meine Frau», «Das ist meine Tochter», «Das ist mein Sohn», «Das sind meine Eltern». Was für Christen Ordnung der Schöpfung Gottes ist, wird nun zur austauschbaren Funktion. In dieser Art des sexuellen Kommunismus haben wir schon jetzt den östlichen Kommunismus weit überholt. Die sexuelle Revolution das haben wir nur noch nicht begriffen hat unsere Gesellschaft im Prinzip schon jetzt kommunistisch gemacht. Es geht in der sexuellen Revolution ja gar nicht vornehmlich um Sexualität als solche, sondern um die Verwirklichung einer neuen radikalen kommunistischen Gesellschaft – viel radikaler als Marx, Engels und Lenin es sich je vorstellen konnten.
Die orphische Sexualität wird nur noch weiter vertieft durch die narzißtische Sexualität in der Philosophie des Marcuse. Narziß ist der Sohn des griechischen Flußgottes Kephisos. Er verschmähte die Nymphe Echo, weil er sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser verliebte. Zur Strafe mußte er nach der griechischen Mythologie sterben. Aber aus seinem Blut kamen lauter schöne Blumen. Das bedeutet für Marcuse: Narziß, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, hat sich selbst sozusagen «durchsexualisiert». Der in sich selbst Verliebte betreibt nun die ganz und gar lustvolle Verwandlung seines eigenen Selbst, seines eigenen Leibes. So tauchen Orpheus und Narziß ganz und gar ein in die Emotionalität und folgen ausschließlich dem Verlangen ihrer Emotionen. Hier gibt es keine Sünde und keine Schuld. Gut ist in jedem Falle nur, daß man dem emotionalen Bedürfnis folgt.
Die sexuelle Revolution wurde und wird also als die große Möglichkeit gesehen, den wirklich herrschaftsfreien und damit ganz und gar lustbetonten Urhordenmenschen zu schaffen. Wer die sexuelle Revolution ohne diese politische Komponente sieht, hat sie nicht verstanden. Es gibt viele Sexualtheoretiker, die diesen politischen Hintergrund auch ganz klar, ohne rot zu werden, aussprechen. Freigabe der Sexualität soll ja bedeuten, daß man sich nicht mehr irgendwelchen Zwängen der Gesellschaft unterordnet. Es geht nicht mehr darum, sich selbst zu überwinden, dem eigenen Gewissen zu folgen, im Gehorsam gegenüber dem Gebot Gottes zu leben. Das alles wäre Repression, die der Mensch sich selbst schafft. Nach diesem Verständnis ist der sich an der Bibel orientierende Mensch der durchaus repressive also ein ganz und gar gefährlicher Mensch. Eine lustbetonte Gesellschaft wird keine Gebote, keine Individuation (Menschwerdung durch Überwinden im Triebverzicht), und keine Autorität anerkennen.
Es gehört zum Wesen des Heidentums, des alten wie des neuen, des antiken wie des nachchristlichen Heidentums, daß es naturalistisch ist. Der Tanz um den goldenen Stier, den Gott durch Mose mit seinem Zorn verfolgte, war ja nichts anderes als ein rauschhafter ekstatischer Kult in der Anbetung der Fruchtbarkeit, also der Sexualität. Also nicht Tanz um das goldene Kalb in der Anbetung des Geldes, sondern Anbetung der Sexualität in der Verehrung des Stieres als Symbol der Fruchtbarkeit! Gegen diese Utopie, daß der Mensch durch das Eintauchen in seine Emotionen und damit durch die Versöhnung mit der sogenannten Natur frei oder sein Glück erlangen würde, hat die Bibel immer gekämpft. Der Protest, der Kampf und sogar das Martyrium der alttestamentlichen Propheten gegen den Kult «unter den Bäumen» und «heiligen Pfählen» stand gegen die Vergötzung der Natur und Emotion. Steht damit die Bibel verneinend dem Leben und der Natur gegenüber? Ist es wirklich so, wie wir es nun immer hörten in diesem antichristlichen 20. Jahrhundert, daß das Christentum lebensfeindlich ist?
Im Urteil der Bibel gibt es keinen Bereich des Lebens, durch den als solchen der Mensch glücklich werden kann. Der Mensch kann nicht glücklich werden dadurch, daß er Besitz anhäuft. Der Mensch kann nicht glücklich werden dadurch, daß er viel Macht gewinnt. Der Mensch kann auch nicht glücklich werden dadurch, daß er sich sexuell auslebt. Sondern – das ist eine Kernaussage der Bibel – die ganze Schöpfung ist gefallene Schöpfung. Und weil die Schöpfung gefallene Schöpfung ist, kann der Mensch durch diese Schöpfung sein Heil – oder sagen wir es in der Sprache dieser Zeit – sein Glück nicht erreichen. Ausleben der Sexualität oder gar hemmungsloses Ausleben der Sexualität schafft nicht Glück, sondern die Erfahrung des Verbrauches. Und das hemmungslose Anbeten oder Raffen von Reichtum schafft nicht Glück, sondern Öde und Leere – das Gespenst der Sinnlosigkeit. Und das Gefühl der Macht bringt den Menschen nicht auf den Gipfel seiner Selbstverwirklichung, sondern läßt ihn als Menschenverächter erst recht die Abhängigkeit von der Macht anderer erfahren.
Das neutestamentliche «Habt nicht lieb die Welt» (1. Joh 2, 15) will sagen, daß wir in dieser Liebe zur Welt, so wie sie ist, das Glück nicht erreichen können. Heißt es doch im 90. Psalm, daß der Mensch ist wie das Gras, das verwelkt und wie die Blume, die verblüht. Der Mensch lebt in der Struktur des Kreuzes. Er kann sich an der Schöpfung und an sich selbst als Geschöpf nicht festhalten, weil dort kein Bestehen ist. Er lebt in der Vergänglichkeit, sein Leib welkt, seine sexuelle Lust erschöpft sich und stirbt mit der Vergänglichkeit, mit dem Hinwelken seines Leibes. Diese Welt, diese Schöpfung ist als eine gefallene und zwiespältige Schöpfung untauglich, den Menschen glücklich zu machen. Der enttäuschte Lusttrieb schlägt um in Aggression. Aus dem frustrierten Lusttrieb kann der Zerstörungstrieb entstehen. Darum ist ja das Charakteristische unseres Zeitalters, daß Terrorismus wie ein Abgrund die sexuelle Revolution begleitet. Aggression kommt nicht aus unterdrückter Sexualität, sondern Aggression folgt aus dem gescheiterten Versuch, durch Ausleben der Sexualität wie auch immer das Glück zu erlangen. Vor allem aber ist die Konsequenz der sexuellen Revolution der Weg in die Drogen. Weil die sexuelle Ekstase eben doch nicht die Möglichkeit des Aussteigens aus dem Alltag gibt, steigt der Aussteigewillige auf radikalere Mittel um, um so in das Wohlgefühl der Rauschkugel zu gelangen.
Echte Verwirklichung der Geschlechtlichkeit im Sinne der Bibel hat Karl Barth einmal so formuliert: «Kein Koitus ohne Koexistenz». Damit spricht er das spezifisch Menschliche und spezifisch Christliche der Sexualität in doppelter Weise an:
a) Sexualität ist die Begegnung und ausschließliche Begegnung zwischen Mann und Frau. Das ist in der Schöpfung eindeutig so vorgesehen. Jede andere Verwirklichung der Sexualität wird ausdrücklich von der Bibel als tödliche Sünde verworfen. Inzest, Lesbismus und Homosexualität sind vom Standpunkt des biblischen Ethos in jeder Weise verwerflich. Die Verwirklichung der Geschlechtlichkeit in der Begegnung zwischen Mann und Frau ist der Sinn biblischer Schöpfungsordnung.
b) Die spezifisch menschliche Sexualität ist die eigentliche Erfüllung der Sexualität. Sie wird begleitet, besser noch: sie wird getragen von der Liebe zwischen Mann und Frau. Sexualität ohne diese Liebe in der Begegnung von Person zu Person, also die rein versachlichte Sexualität, kann keine Erfüllung in der geschlechtlichen Begegnung zwischen Mann und Frau bringen.
Die gegenwärtige sexuelle Revolution offenbart sich in ihrer feministischen Komponente darin, daß sie anscheinend bemüht ist, aus Frauen mehr oder weniger männliche Wesen und aus Männern mehr oder weniger weibliche Wesen zu machen. Sie erhebt sich damit gegen die Schöpfungsordnung Gottes und ist deswegen nihilistisch. Da nun der Mensch als Mann und Frau existiert, kann die geschlechtliche Begegnung zwischen Mann und Frau selbstverständlich nicht verwerflich sein. Die geschlechtliche Begegnung zwischen Mann und Frau ist Teilhabe an der Schöpfungslust Gottes. Sie hat ihren Ort in der Ehe, die nach der eindeutigen Aussage Jesu niemals geschieden werden kann.
Nun ist es ganz offensichtlich so, daß es viele Mißverständnisse in der Geschichte der christlichen Sexualität gab und gibt. Viele meinen, durch eine geminderte oder gedämpfte Sexualität könne man sich zu einem besonderen Stand der Heiligkeit vor Gott emporarbeiten und zu einer spezifisch christlichen Sexualität kommen. Dieser Irrweg ist zu verwerfen. Die Bibel weiß davon nichts. Die Geschlechtlichkeit zwischen Ehepartnern soll ihre volle Erfüllung finden. 1943 schrieb Dietrich Bonhoeffer gegen das pseudochristliche Mißverständnis der Sexualität in der Ehe: «… daß ein Mensch in den Armen seiner Frau sich nach dem Jenseits sehnen soll, ist, milde gesagt, eine Geschmacklosigkeit und jedenfalls nicht Gottes Wille. Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns gerade gibt; wenn es Gott gefällt, uns ein überwältigendes irdisches Glück genießen zu lassen, dann soll man nicht frommer sein als Gott und dieses Glück durch übermäßige Gedanken und Herausforderungen und durch eine wild gewordene Phantasie, die an dem, was Gott gibt, nie genug haben kann, dieses Glück wurmstichig werden lassen. Gott wird es dem, der ihn in seinem irdischen Glück findet und ihm dankt, schon nicht an Stunden fehlen lassen, in denen er daran erinnert wird, daß alles Irdische nur etwas Vorläufiges ist und daß es gut ist, sein Herz an die Ewigkeit zu gewöhnen … »
Man wird also die Schönheit der Schöpfung Gottes in der Schöpfungslust dankbar hinnehmen und sie nicht mindern. Gott gibt alles zu seiner Zeit. Aber entscheidend dabei ist wie Bonhoeffer es ausdrückt «daß man mit Gott Schritt hält und ihm nicht immer schon einige Schritte voraus ist». Damit ist gesagt, daß wir nicht in einer ewigen Wonne der Schöpfungslust leben werden, sondern daß die Zeit schon kommt, in der das Kreuz auf uns gelegt wird. Aber diese Zeit überlassen wir Gott. Und in der Ehe geht es darum, daß dann auch diese Zeit des Kreuzes gemeinsam getragen wird.
Gerade im Neuen Testament gibt es viele Aussagen, die es uns sehr deutlich machen, daß der Christ in der Nachfolge auf manches verzichten muß. Er kann auf seine Gesundheit, seinen Besitz, auf Macht und auch auf Sexualität verzichten, wenn die Stunde kommt, in der es durch die Nachfolge von ihm verlangt wird. Aber das, worauf dann verzichtet wird, ist als solches nicht böse denn dann wäre es ja weder Verzicht noch Opfer, sondern Ekel vor der Welt.
Der moderne Mensch lebt in Sorge und Angst der technische Fortschritt hat ihm Angst und Sorge nicht genommen. Ein geängstigter oder von Sorge niedergedrückter Mensch wird aber in der Fähigkeit, seine geschlechtliche Lust zu verwirklichen, gelähmt. Da aber der christliche Glaube Freiheit von Angst und Sorge gibt («Eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch»), da also der Christ überwinden kann durch Vertrauen in die Fügung seines Lebens durch Gott, wird er bis in die Tiefen seines Daseins eine Entspannung erleben, die ihn zur Geschlechtlichkeit umso mehr bereit macht. Vergebung der Schuld und Befreiung von der Angst und das Wegwerfen der Sorge also dieser Kernprozeß christlicher Existenz wird eine christliche Ehe in der vollen Entfaltung der Schöpfungslust charakterisieren. Schon von daher ist die Ermöglichung geschlechtlicher Freude größer und schöner als bei jenen, die in der Sorge und in der Angst eben in der Glaubenslosigkeit dieser modernen Zeit leben müssen.
Die Revolution der Haut hingegen als ein Teil des emotionalen Aufstandes gegen Gott und seine Gebote und seine Ordnung fördert nicht das Glück des einzelnen und in der Gemeinschaft sondern zerstört es. Die Revolution der Haut mit ihrem ideologischen Hintergrund ist in ihrem Wesen nihilistisch.
3. AIDS – Rache Gottes für die emotionale Revolution?
Die Gebote der Bibel sind dem Menschen gegeben, damit er lebt. Wenn er sich gegen die Gebote erhebt, richtet er sein Leben zugrunde. Das Leben gegen die Gebote ist wie ein Leben gegen die Naturgesetze – die Folge ist der Untergang. Die Sünde, das Nein zu den Geboten Gottes, richtet sich selbst.
Rache hängt zusammen mit Gerechtigkeit. Die Rache Gottes, von der die Bibel sehr wohl zu berichten weiß, ist die lebendige Gerechtigkeit Gottes, denn Gott ist ein «eifernder Gott, der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern, am dritten und vierten Glied derer, die mich hassen … » (Ex 20,5) , so also steht es in den Zehn Geboten. Der Tod ist der Sünde Sold und somit auch die Krankheit, die immer das Vorletzte zum Letzten des Todes ist. AIDS ist also Rache Gottes gegen die emotionale Revolution.
Woher kommt das HIV Virus? Diese Frage kann letztendlich genauso wenig beantwortet werden wie die Frage nach der Entstehung der Syphilis, jener Geißel der Menschheit von den Tagen des Kolumbus bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als durch die Erfindung von Salvasan, den Sulfonamiden und des Penicillin diese Krankheit beherrschbar gemacht wurde.
Jede Krankheit hat ihr eigenes, für ihre jeweilige Zeit geradezu typisches Gesicht. Es gibt so etwas wie eine Geistesgeschichte der Krankheit. Das Typische des HIV Virus besteht darin, daß es bestimmte Lymphozyten angreift, in deren Zellkern es eindringt, dort genetisches Material sozusagen indoktriniert und die Wirtszelle zwingt, ihn, den HIV Virus zu kopieren. Wenn dann die Zelle im Kampf gegen die Krankheit aktiv werden müßte, wird sie zuerst zerstört. Widerstandslos fällt der menschliche Körper einer Krankheit anheim. Dieser Vorgang ist typisch für die Zeit:
1. Die Kultur des christlichen Abendlandes hat kein Immunsystem mehr, sie kann sich nicht wehren gegen die brutale Herausforderung einer nach und antichristlichen Kultur und Moralrevolution.
2. Unbemerkt ist der Kern unseres geistig geistlichen Abwehrsystems zuerst befallen worden. Die christliche Kirche ist abgefallen von der Treue zum Worte Gottes und zum Bekenntnis der Väter. Das Gericht beginnt wie es das Neue Testament unmißverständlich formuliert zuerst am Hause Gottes, und der Apostel Johannes sagt, daß der Antichrist aus der Gemeinde kommen wird, wenn er auch nicht zu ihr gehört. So ist die Zerstörung der christlichen Gemeinde die Folge des Aufbaus einer antichristlichen Macht. Gleichsam im Kern unseres christlich abendländischen Abwehrsystems richtet sich die Macht des Bösen ein. Die Kernzelle unseres Abendlandes, die christliche Gemeinde, ist von einem Virus befallen, der sie zwingt, ihn sogar noch zu kopieren. Die Kirche gebiert aus sich heraus den Antichristen.
3. Unsere abendländisch christliche Kultur zerfällt. Sie kann nicht widerstehen, weil die Zellen der Abwehr, die Macht des Aufhaltenden, eben die christliche Gemeinde, im Kern zerstört ist. Das christliche Abendland stirbt, weil es seinen Feinden nicht widerstehen kann das ist die Drohung, die sich am Horizont unserer Existenz abzeichnet.
4. AIDS ist als Krankheit symbolisch für diese Zeit. Das christliche Abendland könnte so untergehen, wie ein HIV Infizierter an AIDS untergeht – wehrlos, schmerzhaft, in unaufhörlichem und schnellem Zerfall.
Das Abendland ist noch in einem Stadium, in dem es einem HIV Infizierten zu vergleichen ist, der seine Infektion noch nicht einmal bemerkt hat und bei dem die Krankheit noch nicht ausgebrochen ist. In diesen Untergang unserer christlich abendländischen Zivilisation sollte sie denn geschehen und kein Widerstand aufkommen würden alle einbezogen, Schuldige und Unschuldige, heute noch Lebende, heute noch nicht Geborene.
Von AIDS können auch Unschuldige befallen werden: Der Ehepartner, der von dem Ehebruch seines anderen Partners nichts weiß, der Kranke, der eine HIV infizierte Bluttransfusion erhält, das Kind, das von einer AIDS kranken Mutter geboren wird.
Der Apostel Paulus betont ausdrücklich, daß Gottes Wege und Gerichte unausforschlich sind. Die Rache Gottes ist eine Wirklichkeit verstehen können wir sie nicht. Alle irdischen Gerichte sind überdies vorletzte Gerichte und stehen unter dem Gericht, dem Jüngsten Gericht Gottes am Ende dieser Zeit. Jesus sagt bei der Heilung eines blind Geborenen, daß weder dieser noch seine Eltern gesündigt haben, sondern daß alles nur geschehe, «daß die Werke Gottes an ihm geoffenbart werden». Auf das Vorletzte von Krankheit, Tod und Schuld folgt das Letzte der Gnade und Erlösung Christen glauben daran und sie wissen und erleben das Ziel dieses Dramas von Welt und Heilsgeschichte.
Mit Bonhoeffer werden wir Christen, wenn wir von der Gnade sprechen, immer daran erinnert, daß niemals die Sünde als Sünde, sondern immer nur der bußfertige Sünder gerechtfertigt wird. Wir verneinen das Gerede von der billigen Gnade.
Im Drama der emotionalen Revolution erkennen wir Christen, daß eine Herausforderung göttlicher Gebote im Gange ist, die auf keinen Fall ohne Rache bleiben wird. Die Geißel der AIDS Krankheit ist ein Zeichen dieser Rache Gottes für die eine Menschheit, die das Gebot Gottes hemmungslos vergleichgültigt. Dabei ist diese Krankheit zugleich ein Symbol für die Immunschwäche unserer abendländisch christlichen Zivilisation gegen den Ansturm einer emotionalen Kultur und Moralrevolution. Dieses alles nehmen wir nicht hin wie ein Schicksal. Schicksal kennt die Bibel nicht. Sondern wir Christen nehmen es als ein Zeichen, das uns aufruft, diese Gesellschaft ganz entschieden zur Umkehr aufzurufen.
Der Autor:
Georg Huntemann wurde 1929 in Bremen geboren und wirkte von 1957 – 1987 als Pastor in der Bremischen Evangelischen Kirche. Er studierte an deutschen und schweizerischen Universitäten und promovierte 1953 zum Dr. phil. in Erlangen und 1957 zum Dr. theol. in Bern. Seit 1970, also seit der Gründung, ist er Professor für Ethik und Konfrontationstheologie an der FETA (Freie Evang. Theol. Akademie) Basel. Seine Forschungen bewegen sich auf dem Gebiete der Konfrontation biblischer Offenbarung mit dem säkularisierten und ideologisch geprägten Selbstverständnis des modernen Menschen, besonders auf dem Gebiet der Ethik und der Bibelkritik in der modernistischen Theologie.
Veröffentlichungen:
«Utopisches Menschenbild und utopisches Bewußtsein im 19. und 20. Jahrhundert», 1953.
«Die Kritik der dialektischen Theologie am spekulativen Idealismus Hegels», 1958.
«Morgen wird man wieder Christ sein», 1962.
«… und was die Bibel dazu sagt. Weg und lrrweg der Sexualität», 1964.
Angriff auf die Moderne», 1966.
«Provozierte Theologie in technischer Welt», 1968.
«§ 218. Um Leben und Tod der Ungeborenen», 1971.
«Streit in der Kirche», 1971.
«Autorität oder Chaos», 1971.
«Aufstand der Schamlosen», 1971.
«Die politische Herausforderung des Christen», 1973.
«Was kommen wird – Die Bibel über die Zukunft der Welt», 1973.
«Als Christ leben – aber wie?», 1975.
«Am Anfang die Wahrheit», 1977.
«Diese Kirche muß anders werden», 1979.
«Die Zerstörung der Person», 1981.
«Friede oder Krieg auf Erden?», 1982.
«Der verlorene Maßstab – Gottes Gebot im Chaos der Zeit» 1983.
«Die verratene Reformation», 1983.
«Das Glaubensbekenntnis. Aktuell ausgelegt für Menschen von heute», 1988.
«Der andere Bonhoeffer. Die Herausforderung des Modernismus», 1989.
Hervorhebungen im vorliegenden Text vorgenommen von Horst Koch, Herborn, im November 2006
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