Zeugen aus Israel

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New Age + Jehovas Zeugen (Brüning)

Erich Brüning

Drei Systeme

–  Was verbindet Freimaurer, New Age und Jehovas Zeugen?  –

INHALT
1.  Die Pyramide als verbindendes Symbol
2.  Der »Plan« – seine Bedeutung in den drei Weltanschauungen
3.  Freimaurertum
7.  Der Illuminatenorden
8.  »Jehova«  –  das wiedergefundene Meisterwort
11. Der Tempel Gottes – freimaurerisch gedeutet
15. Fünf Versionen über Gottheit und Menschwerdung Jesu
16. New Age  –  was sich dahinter verbirgt
17. Verschwörung  –  Methode zur Systemveränderung
18. Parallelen zwischen New Age und Jehovas Zeugen

1. Warum dieses Buch geschrieben wurde

Bei meinen Vorträgen und Seminaren über Weltanschauungsfragen, speziell über die Wachtturm-Ideologie der Zeugen Jehovas, ob in Deutschland, Österreich, Schweiz oder Rumänien, wurde mir immer wieder die Frage gestellt: »Haben Jehovas Zeugen etwas mit Freimaurern und mit New Age zu tun? Gibt es zwischen ihnen Gemeinsamkeiten?«

Dieses Buch soll eine Antwort auf diese Frage geben. Das Freimaurertum und die New-Age-Bewegung haben zweifellos im Bewußtsein der Fragesteller und sicher auch bei vielen anderen Zeitgenossen einen bestimmten Stellenwert. Man vermutet in beiden Kreisen geheimnisvolle okkulte Praktiken, verbunden mit mystisch symbolhaftem Ritual. Diese Einschätzung kann weitgehend als den Tatsachen entsprechend angesehen werden.

Eine Besonderheit beider Systeme ist, daß in ihrer »Philosophie« und in ihren Zeremonien durchaus biblisches Vokabular verwendet wird. Allerdings so sinnverfremdet, daß zugleich eine pervertierte Version vom kommenden Reich Gottes entsteht, die mit der Königreichsherrschaft Jesu Christi nichts mehr zu tun hat.

Dabei wird das Königreich Gottes zu einer materialistischen Weltidee, ja zu einem Weltreich mit Einheitsreligion und luziferischer Totalherrschaft. Das ist die Maxime aller drei Ideologien, wie sie aber nur von den wenigsten erkannt wird.

Ein gemeinsames Bezugssymbol ist die Pyramide von Gizeh. Sie verbirgt nach Ansicht der Mystiker und Okkultisten kosmische Geheimnisse sowie einen geheimen göttlichen »Plan«. Die berühmte Spiritistin und Gründerin der Adyar-Theosophie, die Russin H. P. Blavatsky, besuchte einst die Pyramiden, und man sagt ihr nach, sie habe eine ganze Nacht in der Königskammer der großen Pyramide zugebracht, um durch Kontakt zu den Geistern dieser Kultstätte das Pyramidengeheimnis zu lüften.

Auch Ch. T. Russell, der Gründer der Wachtturm-Gesellschaft, besuchte die Pyramiden und entwickelte nach seiner Rückkehr und aufgrund der zeitgenössischen Forschungsergebnisse über dieses antike Monument seine »Pyramidenlehre«. Darin erklärt Russell, daß Gott allein ihm und seinen Freunden den »göttlichen Zeitplan« für die Menschen aus den Abmessungen der Pyramide offenbart hätte.

Seine »entdeckten Geheimnisse« mußten von den damaligen »Ernsten Bibelforschern« (heute Zeugen Jehovas) geglaubt und verkündet werden. Der Nachfolger Russells, J. F. Rutherford, räumte Ende der zwanziger Jahre mit dieser »Pyramidenlehre« auf. Die Ernsten Bibelforscher waren einer dämonisch inspirierten Doktrin aufgesessen.

Von all dem wissen die heutigen Zeugen Jehovas nichts. Kein Zeuge Jehovas ahnt, daß seine indoktrinierte Botschaft vom aufgerichteten Königreich, mit der sein Glaube steht oder fällt, ein Relikt der dämonischen Pyramidenlehre Russells ist.

Was soll mit diesem Buch erreicht werden?

Grundsätzlich soll das Buch als eine Methode verstanden werden, die transparent macht, was der normale Bürger nicht sehen und wissen kann: die Identität zwischen der Ideologie der Zeugen Jehovas, des Freimaurertums und des New Age.

Erst in der Gegenüberstellung mit den beiden durchaus mystisch-okkulten Systemen kann die Wachtturm-Organisation der Zeugen Jehovas richtig eingeschätzt werden. Dem Durchschnittsbürger soll mit diesem Buch signalisiert werden: Vorsicht im Kontakt und Gespräch mit Jehovas Zeugen, den Vertretern des weltgrößten amerikanischen Verlages »Wachtturm-Gesellschaft«.

Ebenso wie die zwei bereits erwähnten Ideologien mißbraucht auch die Wachtturm-Organisation das biblische Wort, indem sie eine eigene Bibelübersetzung herstellte, in welcher gewisse Passagen gegenüber dem biblischen Urtext zugunsten ihrer Lehren modifiziert bzw. gefälscht wurden. Die Tatsache wird auch von offizieller Seite, der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Stuttgart, bestätigt (idea vom 1. 2. 86).

Um den Totalitarismus, die Praktiken und Expansionsbestrebungen der Wachtturm-Gesellschaft sichtbar zu machen, wurden ihr die beiden Ideologien gegenübergestellt, die eine besonders große Affinität zur Wachtturmideologie aufweisen: das Freimaurertum und die New-Age-Bewegung.

Beim Freimaurertum von Totalitarismus zu sprechen, scheint im ersten Moment widersprüchlich, in Anbetracht der vielgerühmten Humanität und der freimaurerischen Maximen Toleranz und Freiheit.
Wir müssen jedoch etwas weiter denken, nämlich an die angestrebte »Synarchie«, die Einheit zwischen Staat und Kirche. Das ist die zu erwartende Gegenkirche und die Regierung Luzifers.

Dadurch, daß die ideologischen Zusammenhänge zwischen Jehovas Zeugen und den beiden okkult-esoterischen Systemen aufgezeigt werden, soll eine kritische Distanzierung beim Kontakt mit Jehovas Zeugen signalisiert werden. Denn wenn eine Identität zwischen Jehovas Zeugen, den Freimaurern und New Age wirklich besteht, können die Zeugen Jehovas sich nicht Christen nennen.

Obwohl das Freimaurertum eine ethische Konzeption ist und New Age religiöse Züge trägt, tangieren beide das Christentum und übernehmen nur Vokabular und Thematik, um einerseits Humanitätsziele zu proklamieren, andererseits einen »kosmischen Christus« zu verkünden. In beiden Systemen wird das Reich Gottes als ein innerweltliches Reich, ähnlich dem »irdischen Paradies« der Zeugen Jehovas, verstanden.

Man darf sagen: Das »Paradies« der Zeugen Jehovas, der utopische Welttempel der Freimaurer und die Weltherrschaft eines mystischen Maitreya-Christus im New Age sind Pervertierungen des Tausendjährigen Friedensreiches Jesu Christi.

Die Pyramide als verbindendes Symbol

Das Pyramidensymbol hat innerhalb der drei aufgeführten Ideologien einen zentralen Stellenwert. Es ist der metaphysische Ausdruck einer Weltidee, die eine generelle Erfüllung in der Weltherrschaft des Antichristen finden soll. Das erinnert an die Weltherrschaftsbestrebungen zur Zeit des Turmbaus zu Babel.
Der pyramidenartige, himmelstürmende Bau war dort Ausdruck eines »einheitlichen« Wollens, »sich einen Namen« zu machen ohne Gott, nach der ewigen, luziferischen Maxime »Tu, was du willst«.

Die Spitze der Pyramide stellt den Kulminationspunkt, symbolisch den Sitz höchster Macht dar, wie das auch in der bekannten Abbildung der Pyramide auf der amerikanischen Ein-Dollar-Note zum Ausdruck kommt. Dieses Bild ist eine Art Gesamtschau, die metaphysische Erklärung des illuminatischen Weltplans, unter dem segnenden Blick der luziferischen Gottheit.

Die Pyramide als starkes Bild für Verknüpfung und Durchdringung steht treffend für die drei Systeme, um die es in diesem Buch geht. Das ideologische Einssein findet ebenfalls einen Ausdruck in dem New-Age-Begriff und -Motto »Einheit in der Vielfalt«.

Die drei Systeme stellen eine endzeitliche Gesamtbewegung dar, die letztlich ebenso vernichtet werden wird, wie die »Einheitsbewegung« zur Zeit des Turmbaus zu Babel. Gott zerstörte damals das »luziferische Einheitsunternehmen« und wird es in der Neuzeit wieder tun. Er veranlaßt die Initiatoren des »Einheitsreiches«, daß sie in »einem« Sinn handeln und dem »Tier«, der Manifestation Luzifers, ihr Reich geben, damit sich Gottes Verheißung erfüllt (Offb 17,17).

Die Ziele und Weltherrschaftsparolen der Zeugen Jehovas stimmen mit dem luziferischen »Plan« genauso überein, wie die der beiden anderen Systeme. Das Postulat »Novus ordo seclorum – neue Weltordnung« unter der Illuminatenpyramide ist nicht nur im Munde vieler Weltpolitiker, sondern auch Teil der Wachtturm-Botschaft der Zeugen Jehovas. Bewußt oder unbewußt arbeiten alle drei Ideologien auf ihre Weise an der Verwirklichung des luziferischen »Planes« – der Weltherrschaft mit Einheitsreligion.

Der versteckte Weltherrschaftsanspruch des Freimaurertums wird unter anderem mit den symbolischen Degenstichen des initiierten »Ritter Kadosch« (30. Grad) gegen Krone und Tiara symbolisiert. Die Realisierung dieser Symbolik »Degenstich« gegen die Tiara kam in der Französischen Revolution 1789 im Kampf gegen die Kirche zum Ausdruck, der »Degenstich« gegen die Krone im Kampf gegen die Monarchie im 18. und 19. Jahrhundert in Spanien und Italien.

Das Ringen ideologischer und metaphysischer Kräfte um die Weltherrschaft nähert sich immer mehr dem Höhepunkt. Lassen wir uns daher nicht täuschen von den Sirenenklängen, die ein Bilderbuchparadies der Zeugen Jehovas verkünden, oder von der Selbsterlösung des Menschen im New Age oder durch die Vision eines strahlenden Menschheitstempels der Humanität, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Die beiden Bewegungen, Freimaurertum und New Age, sind ein unerwartet guter Spiegel, um die Bestrebungen der Wachtturm-Gesellschaft zu erkennen. Ziel des Buches ist es daher, aufzuzeigen, wie diese heimlichen Herrscher hin zu besagter großer erdumfassender Einheit immer mehr Menschen für ihre Zwecke einspannen.

Der freundlich lächelnde Straßenmissionar der Wachtturm-Gesellschaft an der Ecke, am Bahnhof oder an der Haustür täuscht sich und andere über die bitterböse Wahrheit hinweg, die hinter der Wachtturm-Ideologie steckt.

Den Menschen kurz vor und bald nach dem Jahre 2000 kann es nicht egal sein, wohin diese Welt treibt. Nach Humanismus, Materialismus und Liberalismus steht die Entchristianisierung unserer modernen Welt auf den Fahnen der drei besprochenen Systeme. Es wird nicht allein bei der bisherigen Säkularisierung bleiben, sondern man wird wahrlich nicht »kleinlich« verfahren im Falle eines Sieges. Demjenigen, der sich zu Christus bekennt und sich der herrschenden Doktrin der – allerdings vorübergehenden -Weltherrschaft nicht beugt, wird »kurzer Prozeß« gemacht (Offb 13,13-18).

Was hier besprochen wurde, geht nicht nur den Noch-Zeugen an, sondern auch den Freimaurer und den New-Age-Jünger. Sie können und sollen sich anhand geeigneter Quellen überzeugen, daß sie im Grunde einer Weltgemeinschaft angehören, die als eine weltumfassende, endzeitliche Gesamtbewegung zu verstehen ist.
Auch den zahlreichen Skeptikern biblischer Beweisführung sei es zugemutet, sich mit mir auseinanderzusetzen. Es lohnt sich. Was hier gesagt wird, ist nicht blauer Dunst. Es kann auch dem Fernstehenden zu weiterer guter Erkenntnis dienen.

In einem ersten Buch »Sind Jehovas Zeugen Christen?« (E. Brüning. Verlag Liebenzeller Mission, 1990) ging es bereits um die Durchdringung der drei besprochenen Systeme, die ich als eine ideologische bezeichnen möchte. Dabei sehe ich in der Ideologie eine Kraft, die sich gerne des Verstandes und einer logischen Sprache bedient. Die Ideologie verfährt letztlich auch nicht anders als »die Religionen«. Sie will genauso (geistliche) Bedürfnisse stillen, aber oft in einer anderen »Chiffre« oder in der Sprache eines neuen »Codes«.

2. Der »Plan« – seine Bedeutung in den drei Weltanschauungen

Der Begriff »Plan« hat innerhalb dieser Thematik einen spezifischen Sinn. Er ist eine luziferische Intention mit dem Ziel: Weltherrschaft und Einheitsreligion. Der Sachverhalt dieses »Plans« hat deshalb immer weit- und kosmopolitische Konsequenzen.

Unabhängig voneinander sprachen sowohl Illuminaten als auch New Age und Wachtturm-Organisation von einem solchen Ziel. Daher reflektiert jedes System in seiner Zielvorstellung im Grunde den Generalplan Luzifers. Jede Aktivität ist eine inspirierte Operation Luzifers zur Verwirklichung seines Planes: Weltreich im Widerstand gegen Gottes künftiges Friedensreich.

Zur Durchführung seines »Plans« setzt Luzifer funktionelle Organisationen und hochkarätige Personen als Vorreiter ein, wie zum Beispiel den weltberühmten Aufklärer H. G. Wells, einen Vorreiter des New Age. In seinem bekannten Werk »Weltverschwörung – Aufruf zur Weltrevolution« gibt Wells die Marschrichtung an. Sein »Plan« wird von der »Frankfurter Zeitung« laut Buchumschlag wie folgt beurteilt: »Wells . . . entwirft einen genialen Plan zur Schaffung neuer Lebensgemeinschaften . . .«

Darin gibt er klare Direktiven, mit denen sich New-Age-Anhänger identifizieren. Das Endziel, wie es New-Age-Anhänger formulieren, lautet, die Erde für Luzifer in Besitz zu nehmen und einen Weltstaat mit Einheitsreligion unter einem »Messias« zu errichten.

Hierzu H. G. Wells: »Der Weltstaat wird seine eigenen wissenschaftlichen Methoden der Vorbeugung haben müssen, solange es auf unserem Planeten Menschen geben wird, die mit Fahnen, Uniformen und Waffen herumlaufen . . .«  –  »Die wichtigste politische Idee, die politische Strategie, besteht darin, die bestehenden Regierungen zu schwächen, sie sich einzuverleiben oder zu beseitigen.« – Der letzte Satz läßt keinen Zweifel über Wells Weltanschauung aufkommen, ebensowenig wie über seine Inspirationsquellen.

Ähnlich artikuliert ist der »Plan« der Illuminaten. Im Handbuch der Bayrischen Geschichte (Max Spindler, Bd.II) sind Praktiken und Ideen der Illuminaten beschrieben. Dieser freimaurerische Orden pflege Okkultismus, Satanismus und betreibe den Umsturz von Regierungen und Religion sowie Auslösung von Chaos mit Hilfe von Kriegen und Revolutionen, heißt es unter anderem. Den weiteren Darlegungen sei vorausgeschickt, daß ein Großteil der im folgenden verwendeten Hintergrundinformationen über die besprochenen Systeme bekannter Insiderliteratur entnommen sind.

In den nächsten Abschnitten werden die Praktiken und Methoden des »Plans« im Freimaurertum, im New Age und in der Wachtturm-Ideologie beschrieben.  

Der »Plan« im Freimaurertum

Die Durchführung des »Plans« im Freimaurertum erfolgt keineswegs auf organisierte, sondern auf natürliche Weise über die Mitglieder, die in ihren Berufspositionen, in Politik, Wirtschaft, Kunst und Erziehung, ihren Einfluß geltend machen. Das große Ziel ist ihnen vorgegeben: Der Bau des humanitären »Menschheitstempels«, sprich »Neue Weltordnung«, d. h. Aufrichtung einer »Synarchie«, einer Weltordnung unter einer Regierung und einer Religion.

Zitat: »Wie dem auch sei, im Schoß dieser und ähnlicher Geheimgesellschaften wurden die Keime für das gelegt, was man später Synarchie nannte, das heißt, einen einheitlichen Weltstaat mit einer einheitlichen Regierung, die als Gegenkirche geplant sind.« (Athanasius – und die Kirche unserer Zeit, von Bischof Dr. Rudolf Grafer, S.31)

Dazu der aufschlußreiche Kommentar des Freimaurers Yves Marsaudon:

»Wir Freimaurer der Tradition gestatten uns das Wort eines berühmten Staatsmannes zu verdeutlichen und zu akzentuieren, indem wir es den Umständen angleichen: Katholiken, Orthodoxe, Protestanten, Muselmanen, Hinduisten, Buddhisten, Freidenker und gläubige Denker sind bei uns nur Vornamen. Unser Familienname ist Freimaurer.« (Athanasius – und die Kirche unserer Zeit, Dr. Rudolf Grafer, S.40)

Das ist die Maxime des »Planes«, die in dem amerikanischen Staatssiegel in den Worten »Novus ordo seclorum – Neue Weltordnung« ihren Ausdruck findet.

Bereits am 7. Dezember 1988 gebrauchte Gorbatschow den Begriff »Neue Weltordnung« in seiner Rede vor der UNO. Am 25. September 1990 wies Schewardnadse auf die Bedrohung der »Neuen Weltordnung« durch Saddam Hussein hin.

Ende September 1990 meinte Bush, daß in Helsinki die Grundlage für eine »Neue Weltordnung« gelegt werden sollte. Der amerikanische Präsident Bush ist wie sein Vorgänger Ronald Reagan Freimaurer und weiß sehr wohl um die Bedeutung des Begriffes »Neue Weltordnung«.

Neben solchen historischen Fakten freimaurerischer Weltpolitik, die zur Verwirklichung des großen »Planes« beitragen, gehörte auch die Idee des Völkerbundes, die von Hochgradfreimaurern bereits während des ersten Weltkrieges diskutiert und später realisiert wurde. Nachfolgerin dieses Staatenbündnisses wurde nach dem zweiten Weltkrieg die UNO. Beide Institutionen wurden Schrittmacher in Richtung »Neue Weltordnung« (»Die Freimaurer«, E. Lennhoff, S. 460ff. und Intern. Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff und Oskar Posner, Stichwort »Völkerbund«). Die »Gesetzestafeln« für die Menschenrechte wurden bereits 1789 erstellt. Sie fanden eine Fortsetzung in der UNO-Menschenrechtserklärung. Auch der 1. Artikel der UNO-Charta trägt als Überschrift die freimaurerischen Maximen der Französischen Revolution: Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit.

Zusammenfassung: Der »Plan« im Illuminatentum beziehungsweise Freimaurertum hat den Namen »Synarchie« – neue Weltordnung und Weltregierung mit Einheitsreligion. Das bedeutet ein künftiges totales Kontrollsystem zur Überwachung aller Erdressourcen mit zentral gesteuertem Wirtschafts- und Finanzwesen.

Wie allerdings in dieser »Neuen Weltordnung« die hochgelobten Prinzipien »Humanität« und »Toleranz« gepflegt werden sollen, bleibt völlig offen.

Der »Plan« im New Age

Die New-Age-Strömung ist, wie schon erwähnt, in ähnlicher Weise Schrittmacher für eine neue Weltordnung mit Einheitsreligion. Die Linien und Konturen des »Planes« tangieren die freimaurerische Linie.

Die New-Age-Prophetin A. Bailey äußerte: »Der Plan ist fertig und steht zur sofortigen Anwendung und intelligenten Ausführung bereit; die Arbeiter sind da, und die für das Werk notwendige Kraft entspricht den Erfordernissen.«

»Die Methode der Hierarchie ist die, durch Einzelmenschen und Gruppen zu wirken und darauf hinzuarbeiten, daß geistiges Erkennen und Wissen in einem solchen Ausmaß verbreitet wird, daß die Menschen überall die innere Regierung des Planeten als Tatsache anerkennen werden. Gemeinsam werden sie daran arbeiten, das Reich Gottes zu errichten, hier auf Erden in sichtbarer Form – nicht in ferner Zukunft und in einem vagen Himmel.«

Dazu C. Cumbey in ihrem Buch »Die sanfte Verführung«, S.18: »Der Plan beinhaltet die Einsetzung eines >Messias< sowie die Errichtung einer Weltregierung und einer neuen Weltreligion unter Maitreya. Im einzelnen gibt es zahlreiche politische und wirtschaftliche Ziele . . . Die Ausführung des Plans der Anhänger der New-Age-Bewegung, die Einnahme der ganzen Welt für Luzifer, befindet sich im letzten Stadium.«

Es dürfte wenig bekannt sein, daß die beiden Weltkriege luziferisch inspirierte Konzeption waren. A. Bailey erklärt in ihrer Publikation »Die sanfte Verführung«, S.88:
»Die Meister arbeiten in Übereinstimmung mit dem großen Plan, der in der geschichtlichen Vergangenheit der Menschheit entstand . . . ein Plan, der wegen der menschlichen Selbstsucht die grauenvollen Schrecken des Weltkrieges (1914 – 1945) notwendig machte.«

Ein wahrhaft teuflischer Plan. Die erwähnten »Meister« (Dämonen) inspirierten zu allen Zeiten Männer zu planmäßigen, weltumwälzenden Aktionen wie Kriege und Revolutionen, auch religiöser Art. Ähnlich werden am »Tage Gottes« zur gegebenen Zeit die »Großen Männer« von Satan zu dem Krieg von »Harmagedon« (Offb 16, 13. 16; 17, 17) inspiriert.

Der »Plan« hat im New Age den Namen »Neue Weltordnung mit Einheitsreligion« unter dem Maitreya-Christus. Es ist ein totales Kontrollsystem zur Überwachung aller Erdressourcen und mit einem zentral gesteuerten Wirtschafts- und Finanzwesen. (»Der konziliare Prozeß«, Beyerhaus/v. Padberg).

Der »Plan« in der Wachtturm-Ideologie der Zeugen Jehovas

Die Konturen des großen »Planes«, wie sie im Freimaurertum und im New Age sichtbar sind, werden auch in der Wachtturm-Politik erkennbar. Die Wachtturm-Organisation strebt ebenso wie die anderen beiden Systeme eine neue Weltordnung oder Weltregierung mit Einheitsreligion an.

Nach Aussage der Zeugen Jehovas liegt die Weltherrschaft schon fast in den Händen der Neuen-Welt-Gesellschaft (Wachtturm-Organisation). Sie bezeichnet sich bekanntlich als eine »mächtige Nation«, die die Erde in Besitz nehmen wird. (Wachtturm vom 15.6.1984, S.19).

Deutlich genug liegen die Ziele der Zeugen Jehovas auf politischer Ebene. Die Augenwischerei, propagandistische und subversive Aktionen als »christliche Feldzüge« zu deklarieren, ist der Wachtturm-Gesellschaft bis heute gelungen. Der einzelne Zeuge durchschaut ihre Politik nicht. Er ist manipuliert und zu einem »ideologischen Blindgänger« im wahrsten Sinne des Wortes gemacht worden.

Zu dieser Thematik nehmen die »Vierteljahrhefte für Zeitgeschichte« Stellung. Unter dem Thema »Die Ernsten Bibelforscher im Dritten Reich« schreibt Michael H. Kater, daß die Ernsten Bibelforscher ihre Weltanschauung immer schon für ein politisches Faktum hielten, das zu verkörpern sich alle Mitglieder bemühten. Dazu wörtlich: »Da die Zeugen Jehovas nach 1933 überdies darauf verfielen, ihr staatstheoretisches Weltbild in einer Antithese zum Nationalsozialismus zu konstruieren, war ihnen die Opposition der neuen Machthaber gewiß.«

Dr. K. Hutten bekräftigt diese Feststellung in seiner Schrift »Grübler – Seher – Enthusiasten«: »Folgenschwer war auch die Auffassung, daß in Gestalt der
>Neuen-Welt-Gesellschaft< das zukünftige Königreich Gottes
schon in die jetzige Welt der Nationen hereinragte. Sie (die
Neue Welt-Gesellschaft) ist also nicht nur eine religiöse
 Vereinigung, sondern eine neue Nation . . . Sie tritt als die
 Nation Gottes in Konkurrenz zu den untergehenden Nationen.«

Die Folgen dieser Selbstdeutung in der Hitlerära sind bekannt. Bis heute hat sich daran nichts geändert: »Das Königreich, dem Jehovas Zeugen in erster Linie die Treue halten, ist tatsächlich eine richtige Regierung . . . diese Regierung hat auch richtige Untertanen, die eine wachsende Nation bilden . . . dieses messianische Königreich wird >die ganze Erde füllen<, nachdem es alle weltlichen Regierungen zermalmt haben wird« (Wachtturm vom 15.6.1984, S.19).

Es ist derselbe Jargon wie bei H. G. Wells, dasselbe Ziel und dieselben Methoden wie im New Age. Der »Plan« heißt in der Neuen-Welt-Gesellschaft: Aufrichtung eines irdischen Paradieses oder Neue-Welt-Regierung – mit Wachtturm-Religion. Ziele, Methoden und Praktiken der drei Systeme sind integriert in den »Generalplan« Luzifers. Nicht nur durch äußerliche Begriffsverwandtschaft, sondern real geistig, ideologisch.

Abschließend noch zwei Thesen, die aufhorchen lassen: Der New-Age-Prophet David Spangler verkündet unter anderem, wer sich weigern würde, den »Christus« (Maitreya/Manifestation Luzifers) anzunehmen, würde auf eine andere Dimension außerhalb jedes körperlichen Daseins geschickt. Das heißt im Klartext, wird aus dem Weg geräumt.

Eine ähnliche Sprache spricht auch die Wachtturm-Organisation und erklärt: »Diejenigen, die keine gerechte Herrschaft wünschen, werden beseitigt werden.« (Wachtturm vom 15.6.1984, S.19).

Die Wachtturm-Schrift »Schriftstudien« (Bd. 7, S.413) bemerkt über jene, die sich nicht unterordnen würden: »Sie werden auf barmherzige Art in einem Nu elektrisch hingerichtet, nicht gequält.«

Danken wir Gott und Jesus Christus schon jetzt dafür, daß Er sein Reich aufrichten wird. Bis dahin allerdings werden noch viele den Verführern zum Opfer fallen. Wir wollen Sie davor warnen.

 

3. Freimaurertum

Über Anfänge und Entstehung der Freimaurerei schreibt Marcel Valmy (Freimaurer) in seiner Dokumentation »Die Freimaurer«, daß die Ursprünge bis ins mystische Dunkel des Mittelalters, in jene Epoche, in der Aberglauben und Rätselhaftes sich zu einer Atmosphäre des Geheimnisvollen vermengten, hineinragen. Freimaurerei fuße wie die Kirche auf alter Tradition.

Ein Kommentar des Einbandes von Valmys Buch erklärt, die Freimaurerei sei eine internationale Bruderschaft, die sich einer humanitären Geisteshaltung und der Toleranz verschrieben habe, über alle Schranken der Religion, der Nationalität, der Rasse oder politischen Anschauung hinweg. Die geistigen Grundlagen und esoterischen Wurzeln gehen sowohl auf Traditionen der antiken – vornehmlich der ägyptischen – Mysterienkulte wie auf religiöses Gedankengut des Alten und Neuen Testaments zurück.

Valmy erklärt im weiteren, die freimaurerische Geisteshaltung sei ein kräftiges »Dennoch«, denn das »Licht leuchte in der Finsternis«, die es niemals besiegen wird. Wörtlich: »Einer trat auf . . . von Gott gesandt. Johannes hieß er. Der kam zum Zeugnis, vom Lichte Zeugnis zu geben. Von ihm entlehnt das Gros der Freimaurerei den Namen. Man spricht von Johannis-Maurerei

Das sind neutestamentliche Denkkategorien. Damit beruft sich die Freimaurerei auf Worte Johannes des Täufers, der vom »Licht« zeugte. Allerdings hat Johannes von Christus als dem Licht gezeugt, das die »Dunkelheit« nicht erfaßt hat. Was meinen die FM für ein »Licht«, das die Finsternis nicht besiegt, wenn sie Jesus Christus gar nicht als dieses Licht akzeptieren? Hier versteht sich das Freimaurertum als das »Licht«.

Die Botschaft und das Anliegen des Freimaurertums ist Aufruf zum Versöhnungs- und Verständigungswerk des Kosmopolitismus, da doch alle Menschen gleichermaßen Brüder seien.

Das ist aber nicht die christliche Botschaft. Der Begriff »Brüder« ist nicht im Sinne Christi zu verstehen, der seine Brüder gerade aus dieser Welt herausrief (Joh 17,14).

Was ist Freimaurertum?

»Die >Freimaurerei< ist ein >öffentliches Geheimnis<, das nicht >verraten< und nicht >erklärt< werden kann. Die Freimaurer meinen, daß es >erlebt werden muß<, und viele von ihnen fügen hinzu, Freimaurerei sei ein Weg und kein Ziel, ja, das Ziel sei der Weg . . .
Stets aber war die Freimaurerei auf eine Emanzipation des Menschen gerichtet, verfuhr nach den Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, diente den Prinzipien von Humanität und Toleranz.« (A. Giese, »Die Freimaurer«, S.9)

H. Miers ergänzt Freimaurerei als: »Bruderschaftsbewegung ausgewählter Mitglieder, welche unter Anwendung bildlicher (symbolischer), größtenteils dem Bauhandwerk und der Baukunst entlehnten Formen für das Wohl der Menschheit wirken wollen, indem sie sich und andere geistig und sittlich zu veredeln suchen, um dadurch einen allgemeinen Menschheitsbund herbeizuführen, den sie unter sich im kleinen bereits darstellen . . .
Die freimaurerische Arbeit ist daher keine Frage des Wissens oder Verstehens, sondern ausschließlich des Zuhörern und der Einwirkung von Symbolen, die bei entsprechender Hingabe zuerst das Unterbewußtsein ansprechen und dann den Menschen langsam umformen . . . «

Symbole und Rituale

»Symbole zu erleben und Rituale mitzuvollziehen ist auch nicht jedermanns Sache . . . Ein Symbol ist ein Objekt in seiner höchsten Bedeutung. Nicht jeder Gegenstand kann diese Bedeutung anzeigen . . .

Die gleiche Dreiecksform deutet im kirchlichen, im christlichen Raum auf den dreieinigen Gott, das Dreieck ist sein Symbol: >ein Objekt in seiner höchsten Bedeutung< . . . Die maurerischen Symbole . . . sind keine geheiligten Symbole im religiösen, dogmatischen Sinn; mit Ausnahme des großen Baumeisters aller Welten, dem Symbol für das Unerforschliche – für Gott.«

»Ebenso sind Symbole, an deren Bedeutung man nicht herangeführt wird, ohne Wirkung. Erkannte, erlebte Symbole aber, ebenso wie ernst genommene Rituale, haben, nach Meinung der Freimaurer, die Kraft, auf Dauer zu wirken.« (A. Giese, S.48).

Esoterik

»Als esoterisch wird alles bezeichnet, was sich im Inneren, im Menschen (mit der Maurerei und überhaupt) vollzieht; esoterisch kann und soll die Erörterung und das Erlebnis des Rituals sein, als esoterisch sind Symbole zu betrachten, esoterisch ist dem Maurer das Erfahrbare an seelischen, geistigen, emotionalen Vorgängen; sein stets sich vertiefendes Wissen um Mensch und Welt, verbunden mit der Ahnung des Unerforschlichen.«( (A. Giese).

Exoterik

»Aber schon die Willensbildung, die moralisch-sittlichen Verhaltensweisen, die sich der Maurer auferlegt, sind exoterisch in ihrer Auswirkung. Auch alle Aktivitäten, reale Handlungen. Aktionen, z. B. karitative Maßnahmen, Spenden, Hilfeleistungen . . . Verbesserungen in der Welt. . . können als exoterischer Bereich maurerischer Arbeit bezeichnet werden.«

»Der Maurer versucht Exoterik und Esoterik zu vereinen; was immer er anstrebt, er wird es unter einem ganzheitlichen Konzept tun – oder zu tun versuchen.« – (A. Giese, S.48-53).

Freiheit

»Die Freiheit des Freimaurers gründet sich auf Erkenntnis und Wissen. Deshalb lehnt er jeden Dogmenzwang ab und findet den Begriff seiner Freimaurerei eingeschlossen in den Worten von der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die er für sich beansprucht und die er anderen gegenüber nach dem Grundgesetz der Toleranzidee zu üben verpflichtet ist.« (Lennhoff-Posner: Int. Freimaurer-Lexikon, S. 525).

Soweit die freimaurerische Definition und die Absage an Dogmen-, Glaubens- und Gewissenszwang. Damit ist grundsätzlich im Freimaurertum jeglicher Glaubensansicht Tür und Tor geöffnet. Die Loge ist damit Wegbereiter des Synkretismus. Wie lautet dagegen die christliche Definition von Freiheit: Freiheit, die Gott schenkt durch Jesus Christus, ist die Erlösung von Sünde und Tod. Daher konnte Paulus in Galater 5,1 sagen: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit.«

Das ist keine durch Wissen und Erkenntnis erworbene Freiheit, sondern es ist jene, über die Jesus Christus zu seinen Jüngern in Johannes 8,36 sagt: »Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.«

Das ist die Freiheit in Christus Jesus, die Gott schenkt – ohne Verdienst, allein aus Gnade. Da aber Gott und Christus im Freimaurertum relativiert werden, wird der Freimaurer diese Freiheit kaum begreifen oder erfahren können. Es sei denn, er sagt sich von den mystischen Riten und Symbolen und deren »Kraftwirkung« los, um sich zu Christus zu bekehren.

Die freimaurerischen Riten und Symbole sind wie eine Droge, der man sich immer und immer wieder bedienen muß, um sie »zu erleben«. Daher ist die freimaurerische »Freiheit« in Wahrheit Unfreiheit und Gebundenheit.

Gleichheit

Die Definition lautet: »Die Gleichheit unter Freimaurern liegt im Brudernamen verankert. In der Loge sind alle Brüder gleich. Das profane Leben setzt seine Unterschiede. Die Loge verwischt bei der Arbeit das Rangverhältnis und will für die Zeit der Vereinigung alle Brüder auf derselben Waagerechten versammeln. Aus dieser Gleichheit in der Loge ergeben sich für den Freimaurer Verpflichtungen für das profane Leben.« (Lennhoff/Posner: Int. Freimaurer-Lexikon, S. 610ff.).

Das Gleichheitsprinzip außerhalb der Loge anzuwenden (d. h. im profanen Leben), bringt seine Probleme mit sich. Das Allzumenschliche hindert uns allzumal daran. Distanz vom Klassendenken mag während des gemeinsam erlebten Rituals möglich sein. Später nimmt »die Welt« den »alten Adam« wieder in ihre Arme. Ethisches Bemühen allein reicht zum »Gleichsein« nicht aus.

Existentielles Gleichsein, von dem die Bibel spricht, kann nur im »Anziehen des Christus« erfolgen. Der Apostel Paulus erklärt dazu treffend im Galaterbrief, Kapitel 3,27ff.: ». . . die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.«

Nicht im feierlichen Ritual des »Schließens der Bruderkette« wird Gleichheit erreicht, sondern ausschließlich »in Jesus Christus«.

Selbst im Freimaurertum wird das Gleichheitsprinzip nicht durchgehalten. Es besteht zum Beispiel absolute Ungleichheit zwischen den sogenannten Blauen und Roten Logen, bedingt durch die unterschiedlichen Erkenntnisgrade.

Valmy bestätigt dieses Faktum selbst. Schon dadurch weist die vielgerühmte »Bruderkette der Gleichheit« eine Unterbrechung auf.

Brüderlichkeit / Bruderschaft

Der Begriff Bruder hat im Freimaurertum, wie in vielen andern Gemeinschaften, seinen Stellenwert. Zuerkennung der Bruderschaft erfolgt in der Loge durch ein besonderes Ritual. Auf den Namen Bruder gründet die im Bunde herrschende Bruderliebe. In der gegenseitigen Bezeichnung als Brüder liegt eingeschlossen ein gesteigerter Grad des Entgegenkommens in allen Lebenslagen durch die anderen Brüder. Und nun folgt ein für Christen bedenklicher Satz: »Eine mehr esoterische Ableitung des Brudernamens geht hervor aus der gemeinsamen >Gotteskindschaft<.« (Lennhoff-Posner).

Ohne überheblich sein zu wollen, von was leiten Freimaurer ihre Gotteskindschaft im Sinne der Bibel ab? Bei einer Relativierung Gottes und seines einziggezeugten Sohnes Jesus Christus, wie im Freimaurertum üblich, kann von Gotteskindschaft keine Rede sein. Deswegen ist auch die Begriffserklärung anfechtbar, die da lautet: »Gotteskindschaft, die Heilslehre, daß alle Menschen Kinder Gottes sind. Die angelsächsische Freimaurerei, insbesondere die amerikanische, vertritt die Auffassung, daß die Gotteskindschaft allein dem Bruderschaftsgedanken lebendigen Inhalt verleiht, daß die Bruderschaft der Menschheit auf die Gotteskindschaft gegründet ist. (. . .) In christlichen Systemen gilt als Ziel des Bundes das Erlangen der Gotteskindschaft durch die Bruderliebe“ (Lennhoff/Posner).

Diese Definition entspricht nicht dem biblischen Verständnis der Gotteskindschaft und ist absolut irreführend, denn die biblische Heilslehre spricht nur von Gotteskindschaft bei erfolgter geistlicher Wiedergeburt. Das dürfte für die gesamte Menschheit kaum zutreffen.

Gotteskindschaft ist unmittelbar verbunden mit der geistlichen Wiedergeburt im Sinne der Bibel. Sie ist Eingliederung in den »geistlichen Organismus des Leibes Christi« (2Kor 5,17). – Johannes 1,12.13 weist auf die Voraussetzung der Gotteskindschaft hin. Und Paulus erklärt es mit den schon erwähnten Worten (Gal 3,26): »Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus.«

Hier geht es durchaus um den biblisch dogmatischen Glauben, der im Freimaurertum abgelehnt wird. Das Freimaurertum anerkennt eben nicht die Ausschließlichkeit des biblisch-christlichen Glaubens als die einzige Offenbarungswahrheit zur Erlösung der Menschen.

Toleranz

Die Toleranzidee ist eines der wesentlichsten Postulate des Freimaurertums. In ihm gibt es keine Schranken nationaler, politischer und religiöser Art, wenn man nur guten Willens ist, die Arbeit im Bund dem rein Menschlichen zu widmen.

Man hält es für ratsam, sich zu einer Religion zu verpflichten, in der alle Menschen zu einem gemeinsamen Ja finden. Dadurch würde die Maurerei Mittelpunkt der Vereinigung, wogegen sonst Einzelpersonen auf Distanz bleiben müssen. (Lennhoff/Posner).

Die Religion, zu der sich alle Menschen bekennen, gibt es nicht. Sie aber ist reales Ziel des Illuminatentums (Freimaurer).

Das hat mit der christlichen Botschaft nichts zu tun, sondern ist vielmehr Synkretismus, den Gott hasst. Im Christentum richtet sich alles auf die Person Jesus Christus aus, die jedoch im Freimaurertum relativiert wird. Die biblische Lehre steht im Gegensatz zur Toleranzidee. Denn Christus betont ausdrücklich: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!« Das ist ein veritabler Satz. Daneben gibt es keinen zweiten Weg. Gott duldet neben sich keine anderen Götter. Hier muß Philosophie schweigen und menschliche Erkenntnis sich beugen vor seiner Größe und Allmacht.

4. Symbolik und Ritual im Freimaurertum

Um das Freimaurertum in seiner Tiefe zu erfassen, ist eine Kenntnis seiner Symbolik und Riten unerläßlich. Der okkult-mystisch bis religiöse Charakter wird gerne bestritten, weil das Freimaurertum keine Religion sein will. Es gibt durchaus, wenn auch profaniert, biblische Perspektiven, wie aus Lennhoff/Posner unter dem Stichwort »Das Anziehen des neuen Menschen« hervorgeht. Der Abschnitt artikuliert das Mysterium christlicher Wiedergeburt auf freimaurerische Weise.

Zitat: »Der Myste legt ein anderes (vom Alltagsgewand verschiedenes) Kleid an und zieht damit symbolisch einen anderen Menschen (den >neuen Adam<) oder einen anderen Leib an. Der alte Leib stirbt und bleibt zurück. Der Reine und Verwandelte tritt über die heilige Schwelle. Nachher aber tritt der alte Mensch wieder an seine Stelle.«

Das ist mystische Verwandlung, unheilige Irreführung. Die Wiedergeburt nach christlichem Verständnis ist die »neue Kreatur in Christus«, wie sie Paulus in 2 Korinther 5,17 beschreibt. Das ist existentielles neues Leben. Der Freimaurer A. Giese bezweifelt, ob ein Mensch wiedergeboren werden kann. Das sei nicht zu entscheiden. Und weil die christliche Wiedergeburt im Freimaurertum in Frage gestellt oder nicht geglaubt wird, inszeniert man ein esoterisches Ritual, eine profane Nachahmung der geistlichen Wiedergeburt. Das ist eine Verzerrung des Evangeliums.

Ein anderes bedeutsames freimaurerisches Ritual ist die Initiierung in den Meistergrad. Sie ist auf den Mythos des ermordeten salomonischen Tempelbaumeisters Hiram-Abiff hin angelegt, wobei in der Initiation eine mystisch symbolische Auferstehung des Tempelbaumeisters Hiram-Abiff verstanden wird. Ein esoterisches, nur für »Eingeweihte« verständliches Erlebnis.

Bei der symbolischen Logenarbeit werden die bekannten alten Handwerksgeräte der Steinmetze, Winkel, Wasserwaage, Lot und Zirkel benutzt. Weitere Symbole finden sich auf den sogenannten Lehrteppichen. Zum Beispiel das Tetragramm (JHWH) oder das große »G« (für Gott), die Jakobsleiter, der Davidstern (Hexagramm, auch Schlüssel Salomos genannt), der siebenarmige jüdische Leuchter, die beiden Säulen des salomonischen Tempels, genannt »Jachin« und »Boas« usw.

In den meisten Bildkompositionen dominiert das Dreieck mit dem Auge im Mittelpunkt und gelegentlich die Cheopspyramide von Gizeh mit der mystischen Sphinx.

Es liegt im Wesen der Freimaurerei, die Bilder, die als Symbole dienen, zu vergeistigen. Ein Beispiel dafür sind die beiden salomonischen Tempelsäulen. An sich sind sie kein Symbol, sondern tragende Elemente am heiligen Tempel. Begegnen sie uns aber im Freimaurertum, so stehen sie symbolisch für die Charaktereigenschaften »Stärke« und »Festigkeit«, denen der Freimaurer nachstrebt. Sie versinnbildlichen aber ebenso »Gerechtigkeit« und »Wohlwollen«, »die Grundpfeiler der Humanität, auf die der Maurerbund sich stützt«.

Interessant ist, was über Symbol und Ritus zugesagt wird:

»Nach dem Glauben der Mysterienbünde sind die Symbole die Mittler zwischen dem Suchenden und seinem Ziel, zwischen Mensch, Bund und Gott. . . Symbole und Ritus sind der sinnlich-geistigen Natur des Menschen unentbehrlich, sie bedeuten ihm Stellvertretung hoher und höchster Wesenheiten, sie helfen ihm, diese letzten Beziehungen zwischen sich und dem All stufenförmig zu erleben.«

Das ist Mystizismus, der Versuch, mit dem All zu verschmelzen, wie es die Mystiker versuchen, was aber auch in Anthroposophie und im New Age versucht wird. Grundsätzlich besteht auch hier eine Relativierung der Bibel und Verführung zum Okkultismus. Das Symbol bekommt Fetischcharakter.

Paulus erklärt dagegen in 1 Timotheus 2,5 ausdrücklich, daß nur einer Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, der Menschensohn Christus Jesus und keine Symbole.

So sieht der Maurer nicht mehr den Symbolgegenstand an sich, sondern die Verkörperung übernatürlicher Wesenheiten und erfährt, wenn das Symbol oder das Ritual ernst genommen und kultisch erlebt wird, eine auf Dauer wirkende Kraft. (Giese/FM,S.48). Daraus entsteht geistiges Gebundensein. Man liefert sich einer geistigen Macht aus, die nicht neutral ist. Hier berühren wir den Bereich der Magie, den Einfluß dämonischer Mächte, deren Wirkung von Bilder- oder Reliquienverehrung her bekannt ist.

Solche okkulten Bindungen gibt es im New-Age-Kult ebenso wie im religiösen Bereich der Zeugen Jehovas. Ich denke dabei an die Faszination des »treuen und verständigen Sklaven«, die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas, der man eine geradezu göttliche Verehrung zollt. Ich denke aber auch an die kultische Wassertaufe der Zeugen, die eine Initiation in die Organisation bedeutet, von der behauptet wird, sie werde vom Geist geleitet (von welchem Geist?). Hier könnte man von einer Art Versiegelung sprechen.

Daß eine Machtwirkung und Bindung durch Ritual und Symbol erfahrbar ist, kann jeder »Aussteiger« mehr oder weniger bezeugen. Denn sich von seinen kultischen Bindungen zu befreien, kostet oft jahrelangen, beständigen Kampf. Eine totale Befreiung ermöglicht nur das kostbare und starke Blut Jesu. Nur Jesus Christus widersteht den dunklen Mächten, denen heute immer mehr Menschen zum Opfer fallen.

5. Das »Vaterunser« der Freimaurer

Folgendes Gedicht ist eine Profanierung des biblischen »Vaterunsers«, eine Vermischung freimaurerischer Ideologie mit biblischen Worten. Die Ethik des Inhalts ist unbestritten, aber Toleranzdenken und Synkretismus der Freimaurer sind deutlich artikuliert.

Die Divergenzen zwischen Freimaurertum und biblischem Christentum sind aus dem Gedicht erkennbar und zugleich unüberbrückbar.

»Ich rufe Dich!
Dem Myriaden Sonnen brennen,
Den tausend Herzen Vater nennen,
Ich rufe Dich! . . .

Wo ist der Name, der die Gottheit nennt?
Ihn jede Zunge anders kennt,
Ich preise Dich!

Ob man Dich Isis, Allah, Bramah heißt,
Wie Dich der Mensch – und wie der Seraph preist:
Ein Name nennt Dich nicht . . .

Zum Demourgos sich der Grieche sehnt,
So feier’ auch ich, Baumeister aller Welten,
Mit Namen Dich! Du wirst Dein Kind nicht schelten.
Es betet: Geheiligt werde Dein Name! . . .

Halleluja, großer Meister! Deine ew’gen Säulen stehn . . .
Leit auch mich auf sicherm Wege durch der Wogen Element,
Bis ich schaue Dich als Meister in dem großen Orient,
Bis ein J. mir die Tore öffnet, Deines Tempels Hallen,
Wo von nah und fern die Brüder zu dem Sonnenaltar wallen . . .«

Deutlich erkennbar sind die kritischen Punkte, in denen Toleranz, Synkretismus und Mystizismus deutlich zu erkennen sind.

Toleranz: Jede Zunge darf Gott auf ihre Weise bekennen und mit dem ihr bekannten Namen anrufen.

Synkretismus: Es spielt keine Rolle, ob die ägyptische Göttin Isis oder der mohammedanische Gott Allah oder der indische Gott Brahma angerufen wird, immer ist der »Große Baumeister der Welten« gemeint, die Gottheit, die im Freimaurertum alle Götter in sich vereint.

Der biblische Gott offenbarte sich den Israeliten unter dem Namen JHWH, Christen rufen Gott in dem Namen Jesu an. Er ist der einzige und wahrhaftige Gott. Ein Greuel ist es seinen Augen, ihn mit heidnischen Göttern zu identifizieren, wie im Beispiel der israelischen Baalspriester. Es hat Konsequenzen (1.Kön 18,21.39).

Die Zeile: »Geheiligt werde Dein Name!« hat dialektischen Charakter. Welcher Name soll denn geheiligt werden, wenn kein Name (d. h. kein Mensch) den wahren Namen Gottes kennt?

Mystisch-heidnisch: Der große Orient ist eine mystische Analogie des Himmels, ebenso der Sonnenaltar, der an Sonnenanbetung erinnert, hier aber wohl für das »Licht« steht, dem der Freimaurer nachstrebt.

Das Gedicht ist freimaurerische Philosophie. In ihm wird die ideologische Verführung deutlich, wie sie auch im New Age geschieht oder bei den Zeugen Jehovas. Die Lehren und Schriften sind moralisch und ethisch ausgewogen, haben jedoch mit dem biblischen Worte Gottes nichts zu tun.

 

6. Gedanken zu den »21 Freimaurerthesen bis zum Jahr 2000«

Die »21 freimaurerischen Thesen bis zum Jahre 2000« reflektieren die Grundzüge freimaurerischer Philosophie. Aus verständlichen Gründen können an dieser Stelle nur einige Prinzipien behandelt werden, die die freimaurerische Konzeption besonders deutlich machen.

Für den Inhalt der Thesen verantwortlich zeichnen Rechtsanwalt und Notar Gerhard Grossmann und Professor Dr. phil. Alfred Schmid, beide Frankfurt a. M. im Auftrag von Vorstand, Großbeamtenrat und Distriktsmeister der Großloge A. F. und A. M. v. D., Frankfurt am Main. (M.Adler/Kirche u.Loge, S.105).

These 1 lautet: »Philosophische Ideen und Systeme weltanschaulich-religiöser Art, die alleinige Verbindlichkeit beanspruchen können, gibt es nicht.«

Die Behauptung ist kategorisch und ihrem Charakter nach genau das Gegenteil von dem, was sie nicht sein will: nämlich dogmatisch.

Die Geschichte beweist sehr wohl, daß es einen Verbindlichkeitsanspruch in weltanschaulich-religiöser Art gibt, nämlich, wenn sie heilsgeschichtlich verstanden wird. Ein klassisches Beispiel dafür ist Israel in Vergangenheit und Gegenwart. Sein historisch vorhergeschriebener Weg ist in der Bibel nachprüfbar. Damit besitzt die biblische Botschaft sehr wohl Verbindlichkeit.

Weitere Beweise biblischer Prophetie sind die gegenwärtigen politischen und religiösen Weltereignisse. Würde der Freimaurer die Illuminatenpyramide im Lichte der Bibel betrachten, könnte er ihre Symbolik besser verstehen. Denn gerade die metaphysische Aussage über eine künftige »Neue Weltordnung« geht ihrer Erfüllung entgegen, um dann, gemäß biblischer Prophetie, von Gottes Reich unter Jesus Christus abgelöst zu werden. Von daher besitzt die freimaurerische Idee des »Welttempels der Humanität« paradoxerweise durchaus den verpönten Verbindlichkeitscharakter.

Der Christ hat es gelernt, Geschichte biblisch einzuordnen. Geschichte ist für ihn Bestätigung göttlicher Vorhersage. Dadurch haben Bibel und die biblische Botschaft für ihn Absolutheitsanspruch.

Selbst Gott ist entgegen der freimaurerischen Auffassung dogmatisch und warnt vor jeder Art Synkretismus und Synergismus.

Die Ideologie der Freimaurer mit ihrem humanistisch-toleranten Denken führt von der Anerkennung der Souveränität und des Absolutheitsanspruchs dieses geoffenbarten Gottes weg, hin zu anderen Göttern, hin zu eigenen Meinungen bis hin zum Selbsterlösungsstreben. Der Toleranzgedanke relativiert Gott und sein Wort. Daher könnte ein entschiedener Christ niemals Freimaurer sein. In den sogenannten »Alten Pflichten«, einer Art Grundgesetz der Freimaurer, wird der Toleranzgedanke wie folgt formuliert:

a. »So hält man es jetzt für ratsam, sie (d. h. die Maurer) bloß zu der Religion zu verpflichten, in welcher alle Menschen übereinstimmen, und jedem seine Meinung zu lassen . . .«

b. »Denn wir gehören als Maurer bloß zu der oben angeführten allgemeinen Religion, auch sind wir von allen Nationen, Zungen und Sprachen.«

c. »Zwei Grundsätze bezeichnen vor allem unser Streben: Gewissensfreiheit und Duldung . . .«

zu a) Es gibt keine Religion, in der alle Menschen übereinstimmen. Höchstens in der »Freimaurer-Religion« mit ihrer Toleranzidee, die den Ausspruch des Freimaurers Friedrich des Großen akzeptiert: »Jeder soll nach seiner Fasson selig werden«.

Unter dem Toleranzaspekt können sich natürlich die »Götter« aller Religionen tummeln und in »Einheit« den »Großen Baumeister der Welten« verehren. Diese widergöttliche, synkretistische Konzeption steht gegen Gottes Gebot, keine anderen Götter neben ihm zu haben.

zu b) Das Freimaurertum bekennt sich weltweit zu der oben erwähnten »Toleranz-Religion«. Im Grunde ist das eine Reaktion auf die Dogmatik eines desolaten Kirchenchristentums im Zeitalter der Aufklärung. Trotzdem finden sich in der freimaurerischen Ritualisierung eine Menge profaner Aspekte mit biblisch-religiösen Akzenten.

zu c) Freimaurerische »Gewissensfreiheit« entspricht der »Freimaurer-Religion« und umgekehrt. Christliche Gewissensfreiheit dagegen heißt Leben in und mit Christus. Heißt Hingabe und Liebe zu Gott, zu seinen Gesetzen und Geboten. Wenn ohne biblisch-göttliches Gesetz und Dogma gedacht und gehandelt wird, kommt es zu einem Individualismus, der schließlich besagt: »Tu was du willst, das ist das ganze Gesetz« (A. Crowley).

Ein abschließender Kommentar gilt der 20. These der Freimaurer: »Die Freimaurerei hütet sich davor, in den letzten philosophischen Grundfragen dogmatische Positionen zu beziehen. Unkritischer Idealismus kann leicht zu selbstgenügsamer Weltentrückung führen, blanker Materialismus birgt die Gefahr der Vereinfachung in sich. Die Materie mag denkfähig sein; wie sie aber denkt, verrät sie uns nicht.«

Eine absolut indifferente Aussage. Man hütet sich vor einer dogmatischen Stellungnahme, warnt aber zugleich vor Kritiklosigkeit und Krudität und gesteht der Materie eventuelle Denkfähigkeit zu. Das letztere ist zweifellos ein materialistischer Denkansatz.

Sicher, jeder weiß, absolute philosophische Schlüsse zu ziehen ist schwierig. Viele Fragen zu unserem modernen Weltbild müssen unbeantwortet bleiben. Gültige, schlüssige Antworten auf unsere Fragen gibt jedoch der Gott der Geschichte in seinem inspirierten Wort, der Bibel.

Das Freimaurertum ist, zusammenfassend gesagt, eine Ideologie mit moralischer und ethischer Konzeption, eine Weltanschauung, die das Christentum tangiert und stellenweise auch in Anspruch nimmt (Vokabular, Themengegenstände etc.), letztlich aber im Tempelbau der Humanität das Reich Gottes als ein idealistisches, innerweltliches versteht und interpretiert. Von daher ist Freimaurertum als antichristliche Ideologie zu verstehen.

7. Der Illuminatenorden

In der Aufklärungszeit entstand außer den freimaurerischen Bünden und Brüderschaften eine sehr wirksame, antikirchliche Vereinigung – der Illuminatenorden. Er wurde 1776 von dem Professor für Kirchenrecht, Adam Weishaupt, in Ingolstadt gegründet.

Die Besonderheit dieser Geheimgesellschaft war ihr starker Einfluß auf Kirche und Gesellschaft.

Die folgenden Darlegungen sind der gekürzten Schrift von Dr. Graber, Dozent für Kirchengeschichte und Bischof von Regensburg, in »Reich Gottes oder Weltgemeinschaft«, entnommen. (P. Beyerhaus/W. Künneth, S. 206).

Demnach gibt es eine Art freimaurerisches Prinzip:
»Die Freimaurerei macht nicht die Revolution; sie bereitet sie vor und setzt sie dann fort.«

Die französische Revolution ist dafür ein einmaliges Beispiel. Die Einflußnahme des freimaurerischen Illuminatenordens darauf ist historisch belegt. »Wie dem auch sei, im Schoß dieser und ähnlicher Geheimgesellschaften wurden die Keime für das gelegt, was man später Synarchie nannte, das heißt einen einheitlichen Weltstaat mit einer einheitlichen Regierung, die als Gegenkirche geplant ist. Doch davon später. Jedenfalls stellt die Französische Revolution ein wichtiges Glied im luziferischen Plan dar.« (Dr. R. Graber, S. 200).

Dr. Graber zitiert aus dem Werk des Freimaurers Y. Marsaudon, das mit einer Widmung an Papst Johannes XXIII. versehen war, folgendes:
»Wir Freimaurer der Tradition gestatten uns das Wort eines berühmten Staatsmannes zu verdeutlichen und zu akzentuieren (transposer), indem wir es den Umständen angleichen: Katholiken, Orthodoxe, Protestanten, Muselmanen, Hinduisten, Buddhisten, Freidenker und gläubige Denker sind bei uns nur Vornamen. Unser Familienname ist Freimaurerei.«

Damit ist eigentlich alles gesagt.

Die Mittel, die von den Illuminaten eingesetzt wurden oder werden, um die angestrebten Ziele zu erreichen, beschreibt das »Handbuch der bayrischen Geschichte«, (Bd.II, München,1966, S.1028): »Am 1. Mai 1776 wurde in Ingolstadt der Orden der Illuminati von Adam Weishaupt gegründet . . . unter dem Deckmantel der Münchner Freimaurerloge wurden okkulte Praktiken geübt. . . Dieser als atheistische Institution gestiftete Orden der Illuminati pflegte nicht nur Okkultismus und Satanismus, sondern verfolgte auch politische Ziele:

1. Den Umsturz der Regierungen und Religionen, besonders des Christentums;
2. Die Auslösung eines Chaos mit Hilfe von Revolutionen und Kriegen, um dann selbst die Macht zu ergreifen und eine Weltherrschaft mit Satanismus als verbindliche Staatsreligion aufzubauen.
Mitglieder seines Ordens wurden zum Beispiel Voltaire, Mirabeau, Robespierre . . . Die wichtigsten Strömungen, die aus der Gedankenwelt der Illuminati mit ihrem Satanismus und daher Gottes- und Christenhaß hervorging, sind der Kommunismus, der Anarchismus, der Nationalsozialismus und der Faschismus.«

Ein wahrhaft luziferischer Plan. Darüber hinaus finden sich ähnliche Dokumente in der Schrift von Pierre Virion in »mystere d’iniquite«, die Dr. Graber in seiner Publikation erwähnt:

»Pierre Virion vor allem gebührt das Verdienst, auf diese Geheimgesellschaften in seinen Schriften aufmerksam gemacht zu haben. Wenn man nur einen Bruchteil dessen liest, was Virion aus all den heute so ziemlich verschwundenen Schriften der geheimen Wortführer zusammengetragen hat, so ist man überrascht, erstaunt und entsetzt (. . .) daß alle diese destruktiven Gedanken insgeheim auf ein einheitliches Ziel ausgerichtet sind, nämlich die Gegenkirche oder die >neue< Kirche zu schaffen. (. . .) Es handelt sich hier um die Summe von Geheimmächten aller >Orden< und Schulen, die sich zusammengetan haben, um eine unsichtbare Weltregierung zu bilden.«

Dieser Kommentar reflektiert geradezu den symbolischen Inhalt des Illuminatensiegels der amerikanischen Ein-Dollar-Note. Die Pyramide mit dem allgegenwärtigen Auge, der »Erleuchtung« durch die »reine Doktrin Luzifers«, den Segensworten, daß unter dem Allgegenwärtigen Auge das Werk weitergeht beziehungsweise gelingen wird, und schließlich die Worte unter der Pyramide »novus ordo seclorum« – neue Weltordnung, beides ist als Symbol im Sinne freimaurerischer Esoterik »ein Objekt in seiner höchsten Bedeutung« (A. Giese, S. 47).

Dieses Symbol signalisiert auf solche Weise täglich vielen Millionen Menschen, bewußt oder unbewußt, den »Plan« der Illuminaten – die »Neue Weltordnung«.

Heute ist dieser Begriff in aller Munde, vom Politiker bis zum Mann auf der Straße. Zufall? Presse, Rundfunk und Fernsehen signalisieren diesen Begriff längst und nehmen damit Einfluß auf die Meinungsbildung des Publikums. Hierzu ein abschließender Kommentar aus:

»Eine Punktation als Orientierungshilfe, AKV Informat. Wien, Nr. 1/1989. Prantner. Über das gegenwärtige >Denken und Handeln der Hochgradfreimaurer< wird gesagt: >Ihr Einfluß reicht in die internationale Staatenwelt, weltpolitische Organisationen, vor allem aber in das Geistesleben von Kunst und Erziehung und Unterricht, in die Welt der Funk- und Printmedien, seit etwa 20 Jahren in die archaische, neubelebte Sphäre von Naturreligionen, die sich zu Sekten formieren und Menschen aller Standes-, Berufs- und Lebenskreise mit der Sinnfrage der menschlichen Existenz konfrontieren und magisch-rituelle Lösungen anbieten. Im Bereiche der industriellen Wirtschaft, der freien akademischen Berufe sowie unter Hochschullehrern, Philosophen, Juristen und Ärzten sowie Bankiers und der hohen Beamtenschaft finden sich zahlreiche blaue Maurer, die >im geheimen< auch in roten Perfektionslogen arbeiten.«

Ein treffender Satz Valmys hierzu lautet (in »Die Freimaurer«, S. 26), man könne zu allem eher sagen, die Geister, die die Freimaurerei rief, wurde sie nicht mehr los. Dieser recht offene Kommentar eines Freimaurers sagt einem Insider genug. Eine Einflußnahme auf die Entwicklung der Französischen Revolution kann kaum in Abrede gestellt werden. 

Illuminatische Prinzipien und Begriffe

Wie und wo bestehen Berührungspunkte oder Übereinstimmungen zwischen Illuminatentum und Jehovas Zeugen? Zunächst rein äußerlich in der Anwendung gleicher Begriffe, gleicher Zielsetzung und Moralität.

Ein Begriffsbeispiel: »Neue Welt«. Das Wort erfährt eine Bedeutungserweiterung wesentlich in der Weltpolitik, wie »Neue Welt«-Ordnung oder »Welt«-Wirtschaftssystem usw. Das Wort ist also mehr oder weniger ein Inbegriff ideologischen Denkens, dessen Ziel eine »Neue-Welt«-Regierung oder »Neue-Welt«-Ordnung ist.

Das Illuminatentum signalisiert die Worte »Neue Welt« in der Pyramide mit dem Begriff »novus ordo seclorum« – »Neue Weltordnung«. Wo implizieren den Begriff Zeugen Jehovas? Zunächst in ihrer Selbstbezeichnung »Neue-Welt«-Gesellschaft. Mit welcher Begründung nennen sie sich so?

Nach ihrer Lehre existiert seit 1914 der »neue Himmel« und seit 1919 die »neue Erde« – für sie ein »Neues Welt«-System. Teil dieses von Jehova bewirkten Systems ist die »Neue-Welt-Gesellschaft« der Zeugen Jehovas. Ihre Führung versteht sich faktisch als »Neue-Welt«-Regierung, stellvertretend für Jesus Christus.

Die willkürliche Organisationsbenennung »Neue-Welt«-Gesellschaft deutet auf ihr Ziel und ihre Selbsteinschätzung. Ebenfalls zu ihrem Repertoire gehört der Begriff »Neue-Welt«-Übersetzung. Das ist eine Bibel, die für die ideologischen Ziele der »Neuen-Welt«-Gesellschaft zugeschnitten ist. Die Beispiele könnten fortgesetzt werden. Verbale Übereinstimmungen zwischen Illuminatentum und der Wachtturm-Ideologie bestehen offensichtlich.

Andere Berührungspunkte beider Systeme sind Regeln und Prinzipien. Maxime des Illuminatenordens waren Gehorsam und Ergebenheit, wie sie im Grunde aber nur Gott zustehen.

Nach denselben Prinzipien wird die »Neue-Welt«-Gesellschaft der Zeugen Jehovas heute noch geführt:
absoluter Gehorsam, Ergebenheit und totale Hingabe an die Organisationsführung.

Hierzu weitere Schriftbeispiele aus der bekannten Illuminatenschrift »Das verbesserte System der Illuminaten« von Adam Weishaupt (M. Weishaupt, Bd.1, 1787), und aus diversen Schriften der Zeugen Jehovas:
»Wir fordern Unterwürfigkeit und Gehorsam . . . weil wir Führer sind durch unbekannte Länder und Gegenden; weil man uns Einsicht und Erkenntnis zutraut und solche von uns erwartet.« (M. Weishaupt, Bd.1, S.76),

»Es ist gebieterische Pflicht. . . mit der Neuen Weltgesellschaft Schritt zu halten . . . weil sie nun bald ihre Glieder durch den Krieg von Harmagedon . . . in eine heile Welt führen wird.«… Indem wir Gott ehren . . . daß wir seine von ihm gebilligte Organisation hingebungsvoll anerkennen.« (Wachtturm 1956, S. 464).

»Wir fordern, daß alle Beförderungen von uns allein abhängen. Wir allein können wissen, wer so ist, wie wir ihn brauchen . . . Jeder, der über verzögerte Beförderung murrt, dessen Absichten sind unrein.« (A. Weishaupt, S.80).

»Auch müssen wir Demut offenbaren und dürfen nicht daran denken, uns selbst zu befördern.« (Wachtturm-Schrift: Erwachet, 1. September 1982, S.25).

»Du sollst wissen, hören, lesen, um sodann zu tun.« (A. Weishaupt, S.81).

»Wenn wir Jehova und seine Organisation lieben . . . werden wir . . . alles glauben . . . was der Wachtturm darreicht.« (Wachtturm-Schrift »Zum Predigtdienst befähigt«/156).

Die Beispiele sollten genügen, nachfolgend aber noch eine Reihe Wachtturm-Zitate, die den absolutistischen Charakter der Wachtturm-Organisation aufzeigen. Bei ihrer Mißachtung erfolgt der Ausschluß aus der Gemeinschaft.

»Es kann nicht zu sehr betont werden, daß wir die theokratische Organisation Jehovas erkennen müssen. Wenn das Leben eines Menschen von einer bestimmten Handlungsweise abhängig ist, sollte er ihr mit Freuden folgen, selbst wenn sie, weil er sich demütigen muß, seinen Stolz verletzt. Das gilt besonders in bezug auf die Anerkennung der theokratischen Organisation und ihrer Art des Wirkens unter der Hand Gottes.« (Wachtturm, 1.11.1954, S. 656).

»Indem wir Gott ehren und ihm dadurch die höchste Achtung erweisen, daß wir seine von ihm gebilligte Organisation hingebungsvoll anerkennen, werden wir in einem glücklichen, erfreulichen Verhältnis zur Organisation bleiben und uns mit ihr jetzt vieler Dienstvorrechte erfreuen.« (Wachtturm, 1. November 1954, S. 699).

»Es ist gebieterische Pflicht, daß jene, die in der neuen Welt der Gerechtigkeit zu leben wünschen, mit der »Neuen-Welt-Gesellschaft« Schritt halten. Warum? Weil sie nun bald alle ihre Glieder durch die größte Drangsal, den Krieg von Harmagedon, sicher hindurchbringen und sie in eine neue, heile Welt führen wird, die Gott schafft und in der sich die Menschheit des ewigen Friedens, der Wohlfahrt und des Glücks erfreut.« (Wachtturm, 1956, S. 484).

»Nur diese Organisation wirkt im Interesse des Vorhabens Jehovas und zu seiner Lobpreisung. Nur für sie ist Gottes heiliges Wort, die Bibel, kein versiegeltes Buch. Wahre Christen schätzen es daher sehr, mit der einzigen Organisation auf der Erde verbunden zu sein, die die tiefen Dinge Gottes versteht.« (Wachtturm, 1.10.1973, S. 593).

»Daher ist der Wille des Sklaven der Wille Jehovas. Rebellion gegen den Sklaven ist Rebellion gegen Gott.« – »Gottes Wort, die Bibel, ist ein Buch, das Organisation lehrt. Es veranlaßt und ermutigt uns auf jegliche Weise, die theokratische Organisation dem eigenen Ich voranzustellen, sie anzuerkennen und sich durch dick und dünn loyal an sie zu halten.« (Wachtturm, 1.11.1954, S. 668).

»Folglich ist die Bibel ein organisatorisches Buch und gehört der Christenversammlung als Organisation, nicht irgendwelchen Einzelpersonen, sie mögen noch so aufrichtig glauben, sie könnten sie auslegen. Aus diesem Grunde kann die Bibel getrennt von der sichtbaren Organisation Jehovas nicht richtig verstanden werden.« (Wachtturm, 15.1.1968).

Ein Generalpostulat
»Offensichtlich kann eine anerkannte Mitverbundenheit mit Jehovas Zeugen nicht lediglich auf einem Glauben an Gott, an die Bibel und an Jesus Christus beruhen . . . Eine anerkannte Mitverbundenheit mit Jehovas Zeugen erfordert, daß man die Gesamtheit der wahren Lehren der Bibel akzeptiert, einschließlich jener biblischen Glaubensinhalte, die nur Jehovas Zeugen vertreten.« (Wachtturm, 1.4.1986, S. 31).
Mit diesem Postulat werden Gott, Jesus Christus und die Bibel relativiert.

8. »Jehova« – das wiedergefundene Meisterwort

Zum Verständnis des Begriffs »wiedergefundenes Meisterwort« gehört ein kurzer Abriß der Freimaurerlegende von der Ermordung Hiram-Abiffs, des legendären Baumeisters des Salomonischen Tempels.

Die Legende berichtet, daß Hiram-Abiff von drei Gesellen erschlagen wurde, die aus egoistischen Gründen in den Besitz des Meisterwortes, dem Paßwort des Tempelbaumeisters, kommen wollten. In seiner Bedrängnis, unmittelbar vor seinem Tod, riß Hiram das goldene Dreieck mit dem Meisterpaßwort von seinem Hals und warf es, damit es den Mördern nicht in die Hände fallen sollte, in ein Gewölbe. Auf der Suche nach Hirams Leiche entdeckte man das Gewölbe und fand darin das goldene Dreieck mit dem Meisterwort: Jehovah.

Das Freimaurertum benutzt den Begriff Jehova auch in Form des Tetragramms in ihren Lehrteppichen. Unter diesem »Paßwort« sollen der Menschheitstempel und die »Neue Weltordnung« gebaut werden. Symbolhaft ist dieser Aspekt in dem amerikanischen Siegel auf der Dollarnote in Form der Pyramide dargestellt.

Auch Jehovas Zeugen versuchen auf ihre Weise, unter dem Namen »Jehova« an einem Menschheitstempel, einer »Neuen Weltordnung«, zu arbeiten. Da der Name Jehovah in beiden Weltanschauungen eine geradezu mystische Rolle spielt, sollte beachtet werden, daß das hebräische Tetragramm seine biblisch-historische Erfüllung bereits hatte. Daher findet auch eine Anrufung Gottes mit dem Namen Jehova in der christlichen Botschaft nicht mehr statt. Biblisch-historisch gesehen, hatte das Tetragramm (JHWH) seinen Stellenwert ausschließlich im Alten Testament.

Obwohl es fast 7000mal in den hebräischen Schriften erscheint, lehrte Jesus seine Nachfolger, Gott weder mit Jahwe noch mit Jehova anzureden. Es gibt keinen Beweis dafür, daß Christus seinen Vater je mit diesem Namen angeredet hätte. Für ihn und seine Nachfolger war Gott der Vater und wurde mit »Abba – lieber Vater« angeredet.

Freimaurern sollte es jedoch zu denken geben, daß die Hiram-Legende in die Zeit Salomos hineinspielt und zu dieser Zeit der Name Jehova in der vorliegenden Vokalisierung kaum auf Hirams goldenem Dreieck gestanden haben konnte. Denn frühestens um 1270 n. Chr. wurde die Vokalisierung Jehova von dem spanischen Franziskanermönch Raimundus gebraucht, und um 1500 n. Chr. in der gleichen Form von dem Franziskanermönch Galatin.

9. Ch. T. Russell – vom christlichen zum freimaurerischen Denken

Als Ch. T. Russell, Gründer der Wachtturm-Gesellschaft, seinen christlichen Hintergrund verlassen hatte, begann er ein eigenes Lehrgebäude zu errichten. Seine Botschaften und »Prophezeiungen« sind nichts Originäres. Sie sind mehr oder weniger ein Kaleidoskop bereits vorhandener Anschauungen, Lehren oder Theorien. Seine Thesen weisen aber bald freimaurerischen Einfluß auf. Seine Proklamationen verhießen: Ein goldenes Zeitalter, ein irdisches Paradies, keine Hölle, alle Menschen werden auferstehen zu einem neuen Leben usw.

Die Darlegung soll keine Schmälerung des Menschen Russell sein, denn im Grunde war auch er, wie viele aufrichtig Suchende, ein Opfer der Verführung. Russell beschreibt den Einflußmoment seines geistlichen Umdenkens selbst recht genau:

»Der Anfang unserer Erzählung fällt in das Jahr 1868, in welcher Zeit der Verfasser (von Zions Watch Tower), der schon seit einigen Jahren ein geweihtes Kind Gottes und ein Glied der Kongregationalisten-Kirche sowie des Christlichen Vereins junger Männer war, anfing, hinsichtlich des Glaubens an manche Lehren, die man seit langem für wahr gehalten, erschüttert zu werden.
Als Presbyterianer erzogen und in dem Katechismus unterrichtet, wurde ich . . . gar schnell eine Beute der Vernunftlehre des Unglaubens, sobald ich anfing, selbständig zu denken. Doch das, was zuerst ein völliger Schiffbruch des Glaubens an Gott zu werden drohte, wurde unter Gottes Vorsehung zum Guten gewendet, und so erlitt nur mein Vertrauen zu menschlichen Glaubensbekenntnissen und Systemen der falschen Bibelauslegung Schiffbruch . . .  Anscheinend durch einen Zufall geriet ich eines Abends in ein staubiges, schwärzliches Versammlungslokal in Allegheny, Pa. . . .  Dort hörte ich erstmals etwas über die Ansichten der Adventisten (Second Adventists), und zwar von Jonas Wendel. Bald begann ich zu erkennen, daß wir irgendwie nahe vor dem Schluß des Evangeliumszeitalters lebten . . . Wir erkannten . . . wie alle aus dem Grab aufgeweckt werden müssen . . . dies als Wiederherstellungswerk, von welchem in Apostelgeschichte 3,21 die Rede ist.« (Wachtturm-Gesellschaft: Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, S.14).

Russell geriet mit etwa 18 Jahren, während einer Glaubenskrise, an eine Splittergruppe der Adventisten. Noch in der Zeitschrift »Wachtturm« 1907 spricht Russell von seinem Freund Jonas Wendel. Etwa um 1870 begann er eine eigene Bibelstudiengruppe aufzubauen und driftet wenig später unter dem Einfluß eines anderen Splitteradventisten, N. H. Barbour, ins »prophetische Sektierertum« ab. (Franz, R.: Der Gewissenskonflikt, S.142).

Mit 29 Jahren (1881) gründete er die »Zions-Wachtturm-Traktat-Gesellschaft«, um seine Schriften drucken und verbreiten zu lassen. »Prophezeiungen« nehmen einen breiten Raum in seinen Publikationen ein. Er selbst besaß weder bibelwissenschaftliche Vorbildung noch Kenntnisse der hebräischen und griechischen Sprache. Das lediglich als Feststellung, die in seinen Darlegungen manches entschuldigt. Seine Selbsteinschätzung und der Erwählungsglaube sowie der Glaube an seine »prophetische Gabe« waren beachtlich. Hierzu ein Zitat:

»Es ist wahr, es heißt große Dinge erwarten, wenn man behauptet, wie wir es tun, daß in den kommenden sechsundzwanzig Jahren alle gegenwärtigen Regierungen gestürzt werden . . . betrachten wir es als feststehende Wahrheit, daß das schließliche Ende der Reiche dieser Welt und die volle Herrschaft des Königreichs Gottes um 1914 vollzogen sein wird.« (Wachtturm-Gesellschaft: Schriftstudien, Bd.2, S.99).

Sehr viel später, erst etwa um 1931, mußte die WTG (Wachtturm-Gesellschaft) bekennen: »Das ganze Volk des Herrn blickte dem Jahre 1914 mit freudiger Erwartung entgegen. Als diese Zeit gekommen und vorübergegangen war, da bemächtigte sich seiner große Enttäuschung, Kummer und Traurigkeit, weil er so viel über 1914 ausgesagt hatte, was da alles geschehen werde, und seine Prophezeiungen sich nicht erfüllt hatten.« (WTG: Licht, Bd.1, S.199).

Schon bald stand Russell mit seinen unbiblischen und ideologischen Anschauungen den christlichen Konfessionen konträr gegenüber. Seine Aversion gegen die Kirchen entsprang mehr oder weniger dem Einfluß freimaurerischer Ideologie. Vorbilder mögen die Illuminaten und Freimaurer wie A. Pike und Mazzini gewesen sein. (Queensborough: Occult Theocracy, Bd.1, S.539).

 10. Russells freimaurerisches Symbolverständnis

Die Lehren und Schriften Russells waren in Wort und Bild freimaurerisch pointiert. Seine allegorischen Umdeutungen sind eine Mixtur aus biblischer Thematik und freimaurerischer Symbolik. Bei dieser Feststellung ergibt sich folgende Frage: Kann man die geistige Einstellung einer Person aufgrund ihres Milieus, gewisser Äußerlichkeiten wie Reden und Wortschatz erkennen? Wir würden sagen: vordergründig ja.

Zum Beispiel: Wenn sich jemand ein Kreuz an die Wand hängt, über die Bibel spricht und biblische Vorträge hält, darf man annehmen, daß man es mit einem Christen zu tun hat.

Wenn sich eine Person das Kreuz-Krone-Emblem des freimaurerischen Tempelritter-Ordens in seinem Büro an die Wand hängt, den Sonnendiskus, Symbol der Hochgradfreimaurer auf seinen wichtigsten Publikationen in Goldprägedruck anbringen läßt, Gott nach freimaurerischer Auffassung als »Großen Baumeister der Welten« tituliert, den Tempel Gottes allegorisch umdeutet als Pyramide im Sinne der Freimaurer, sich dabei auf die Pyramide von Gizeh beruft, die Gemeinde Jesu einen geheimen Orden nennt, Jesus Christus als den Großen Meister Freimaurer bezeichnet oder als größten Tempelritter, die »144.000« (Offb 7,4) zu Tempelrittern erklärt, sich selbst als freien Freimaurer bezeichnet, darf man hier annehmen, daß man es mit einem Freimaurer zu tun hat?

Das Kreuz-Krone-Emblem

Das Kreuz-Krone-Emblem ist ein Symbol des Tempelritter-Ordens. Benutzt wird es auch von den beiden okkulten Gemeinschaften »Christliche Wissenschaft« und »Adyar-Theosophie«. »Die »Adyar-Theosophie« (eine Philosophie aus Christentum, Buddhismus und Gnosis) bildete das Symbol unter anderem auf der Titelseite ihrer Zeitschrift »Auf dem Wachtturm« ab. Russell plazierte das gleiche Symbol auf der Titelseite seiner Wachtturm-Zeitschrift. Daher ähnelten sich äußerlich beide Publikationen. Allerdings wurde das Kreuz-Krone-Emblem nach 1930 von den »Wachtturm«-Titelseiten entfernt.

Russell verwendete das Kreuz-Krone-Emblem als Wandschmuck in seinem Büro, auf Wachtturm-Titelseiten, am Bug der Lokomotive bei der Transcontinental-Tour 1913, bei der Pyramide an seinem Grab uam.

Bekanntlich fand nicht nur die »International Biblestudents Convention« in Freimaurersälen unter dem Kreuz-Krone-Emblem statt, sondern selbst noch aus den 1970er Jahren wird berichtet, daß Zeugen Jehovas die Freimaurerhallen als Treffpunkt und Veranstaltungsort für ihre Vorträge bevorzugten. Wieso gerade dort?

Das Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1973 schreibt: »Bis zum Jahre 1901 war die Gruppe in Glasgow, die zuerst in Schwester Ferries Wohnung zusammenkamen, für die Räumlichkeiten zu groß geworden und verlegte ihre Zusammenkünfte in die Freimaurersäle.«

Das Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1976 schreibt: »Unterdessen hielt Bruder Johnston in Durban regelmäßig jeden Sonntagabend biblische Vorträge im Freimaurersaal, Smith Street.«

Das Einverständnis zur Benutzung der Logenräume durch die Wachtturm-Gesellschaft weist auf gemeinsame Interessen hin. Von diesem Hintergrund her ist Russells Propagierung des Kreuz-Krone-Symbols verständlich. Auf jeden Fall ist eine Identifizierung mit Freimaurertum unverkennbar.

Die letzte Platzierung dieses Symbols erfolgte an einer heidnischen Miniaturpyramide, die man an Russells Grab aufgestellt hatte. Das zeigt, daß Russell das Freimaurersymbol höher schätzte, als das christliche Kreuz, das Symbol für Tod und Auferstehung Jesu Christi.

Der ägyptische Sonnendiskus auf Russells Publikationen

Sonnendiskus nennt man die geflügelte Sonnenscheibe, ein altägyptisches Symbol des Gottes Horus. Man findet es zumeist über Türen und Toren der Tempel zur Abwehr des Bösen. Eine Sage lautet, daß Horus in Gestalt einer Sonne mit bunten Flügeln seinen Widersacher Set bei der Stadt Edfu besiegt habe (MEYERS-Lexikon).

Fritz Springmeier schreibt (Springmeier, F.: The Watchtower & The Masons, S.113), daß die geflügelte Sonnenscheibe von den 33-Grad-Freimaurern als Symbol benutzt wird und daß allein sie die Bedeutung kennen. Der Sonnendiskus spielt als Symbol in okkulten Weltanschauungen sowie in der Magie eine Rolle. Man findet ihn daher sowohl auf der theosophischen Schrift »Theosoph« als auch auf dem Titel der Schrift »Orden vom Rosen-Kreuz (AMORC), Die Kathedrale der Seele«, S. 57.

Der Diskus ist das Symbol der ägyptischen Trinität Osiris, Horus und Isis. Über der Opferszene auf einer ägyptischen Stele ist der Sonnendiskus abgebildet. Die Stele befand sich im Besitz des Satanisten A. Crowley und wird heute im Gebäude der OT-Anhänger in Zürich aufbewahrt.

Daß Russell nichts von dem Sinn, der Bedeutung und Herkunft dieses Symbols gewußt hätte, kann kaum angenommen werden. In seiner umfassenden Bibliothek gab es zweifellos darüber genügend aufklärende Schriften. Die Verwendung des Sonnendiskus signalisiert seine Verbindung zur Freimaurerei ebenso, wie die Verwendung des freimaurerischen Kreuz-Krone-Emblems des Tempelritter-Ordens.

Es hätte Bibelchristen fragend machen müssen, als bei der Zweitauflage der sechs Bände »Schriftstudien« auf den Titelseiten plötzlich das Symbol der ägyptischen Trinität, der »Sonnendiskus« abgebildet wurde. Ausgerechnet auf den Schriften, von denen Russell behauptete, sie seien »der lang verlorene Schlüssel zur Erkenntnis, der dem gläubigen Volk Zutritt zu dem verborgenen Geheimnis gebe«. Was waren das für Geheimnisse?

Hierzu zwei Zitate aus dem 3. Schriftstudienband, welche das »Geheimnis«, den Zeitpunkt des Beginns der »großen Drangsal« mittels ominöser Zahlenexperimente darzulegen versuchten. Die beiden Zitate sind der fast in Vergessenheit geratenen »Pyramidenlehre« entnommen:

»Und ferner sehen wir, daß diese Vorratskammer (die Pyramide/Verf.) der Erkenntnis . . . absichtlich versiegelt gehalten worden ist. . . und daß ihr großer Baumeister wußte, daß ihr Zeugnis notwendig werden würde . . .«

»Wenn sie (die Pyramide) in der Tat sich als eine Bibel in Stein ausweist, wenn sie eine Urkunde der geheimen Pläne des großen Baumeisters der Welt ist. . . dann sollte sie und wird sie in voller Übereinstimmung mit seinem geschriebenen Worte stehen . . .«

Eine esoterisch freimaurerische Artikulierung der Zitate kann kaum bestritten werden. Es muß zu denken geben, daß auf der Titelseite des Schriftbandes in Goldprägedruck das mystisch-ägyptische Kultsymbol, der Sonnendiskus, prangt. Und gerade unter diesem Symbol macht Russell »geheimnisvolle« falsche Zeitvorhersagen, die er unkorrekterweise in der 2. Auflage des Bandes, ebenfalls unter dem magischen Symbol des Sonnendiskus, stillschweigend verändert. Wie sah die Veränderung aus?

Die »abwärtsführende Passage« innerhalb der Pyramide (von einem bestimmten Punkt aus gemessen) betrug in der ersten Auflage der Schriftstudien 3416 Zoll. In der Zweitauflage fügte Russell kommentarlos 41 Zoll hinzu. Über dieses Faktum schreibt F. Stuhlhofer in seiner Schrift »Charles T. Russell und die Zeugen Jehovas«: »Das hinter dem Betrug stehende Motiv ist die Verschiebung des Beginns der großen Drangsal von 1874 auf 1914/15, (das Jahr 1874 stellt dann nur noch den Beginn der Ernte dar).«

Hatte der »Sonnendiskus« auf diese Abänderung etwa Einfluß genommen? In diesem Zusammenhang erinnert die Aussage von Loge-Großmeister Giese an besagte Symbolkraft, die auf Dauer wirkt. Dazu noch A. Bailey, die New-Age-Prophetin, die behauptet, wer Symbolik richtig versteht, erhält auch Macht, am göttlichen »Plan« mitzuarbeiten. Sie meint damit nicht den biblischen Gott, sondern das unpersönliche »Es«, das in der Freimaurerei als »Großer Baumeister der Welten« verehrt wird, den Russell in seinen Schriften erwähnt und fälschlich mit Jehova bezeichnete.

Großer Baumeister aller Zeiten

Das biblische Verständnis über die Dreieinheit Gottes, das Russell einst besaß, war ihm verlorengegangen. Durch sein eigenwilliges Heraustreten aus den orthodoxen Lehren der Bibel und unter dem späteren Einfluß des Freimaurertums änderte sich sein Gottesbild völlig. Er verwendete denn auch bald in seinen Schriften außer der falschen Gottesbezeichnung Jehova den freimaurerischen Gottestitel, wie er in folgender Formel benutzt wird: »Im Namen des allmächtigen Baumeisters der Welten, der unendlichen Schöpfer- und Erhalterkraft des Alls.«

Die Bezeichnung »Allmächtiger Baumeister der Welten« ist ein Titel, mit dem jeder Freimaurer, gleich welcher Religion, »seinen Gott« anrufen kann. Man beruft sich fälschlich auf Hebräer 11,10, wo Gott als Baumeister der himmlischen Stadt erwähnt wird. (Alpina, Ausg. 2/75, S. 21).

Hier handelt es sich jedoch nicht um den »Allmächtigen Baumeister der Welten«, um ein »Es«, eine »Erhalterkraft«, sondern um den persönlichen, dreieinigen Gott der Bibel.

Russell führte den falsch vokalisierten Gottesnamen »Jehova« etwa um 1882 in die Wachtturm-Lehre ein. (WTG: Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, S. 22). 1886 und später erscheint der Name »Jehova« in Russells »Schriftstudien« in Verbindung mit dem freimaurerischen Gottestitel »Großer Baumeister der Welten«.

Fazit:

1. Russell bekannte durch die Verwendung des Titels »Großer Baumeister der Welten« seine freimaurerische Gesinnung. Daher lehnte er den dreieinigen Gott ab.

2. Beide Gottesbezeichnungen, »Jehova« und »Großer Baumeister der Welten«, verwendete Russell erst nach einem 12jährigen Bibelstudium. Diese späte Entscheidung für den Namen Jehova läßt freimaurerischen Literatureinfluß vermuten. Darin wurde der Name längst benutzt.

Eine lehrmäßige Ablehnung des dreieinigen Gottes fällt wesentlich in Band 5 Schriftstudien (1903) auf. Darin vertritt Russell den Monotheismus der Juden und spricht von »dem großen Jehova«.

Kommentar zur Dreieinheit Gottes:

Grundsätzlich fällt es einem Bibelchristen genauso schwer, sich Gott anthropomorphisch (menschengestaltig) zu denken, wie es einem Antitrinitarier nicht möglich ist, Gott als Dreieinheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist zu verstehen.

Die unterschiedlichen Auffassungen sollten nicht zu einseitiger Überheblichkeit und Rechthaberei führen. Es ist Sache des biblischen Verständnisses. Denn wie Gott an sich ist, weiß niemand. Aber wie Gott auf uns zukommt, beschreibt die Bibel so, daß es selbst ein Antitrinitarier begreifen kann. Hierzu die Verständnisformel: Gott offenbart sich durch den Sohn im Heiligen Geist.

Was heißt das? – Jesus erklärt es selbst mit den Worten in Johannes 14,23: »Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.«

Frage: Wie können beide göttliche Personen in uns Wohnung nehmen?  –  Antwort: Im Heiligen Geist.

So sind der Vater und der Sohn eins im Heiligen Geist oder der Heilige Geist ist die Offenbarung des Vaters und des Sohnes in Einheit.

Die trinitarische Frage ist kein arithmetisches Problem, sondern eine Frage biblischen Verständnisses. Russell entschied sich nach dem Verlassen des christlichen Glaubens gegen die Dreieinheit Gottes und damit auch gegen die Gottheit Jesu. 

 

11. Der Tempel Gottes – freimaurerisch gedeutet

In einer 15seitigen Ansprache deutet Russell, freimaurerisch akzentuiert, die Pyramide von Gizeh symbolisch als »Tempel Gottes« oder Gemeinde Jesu. Als Architekt und Erbauer des Pyramidenmonuments nennt Russell Gott in freimaurerischer Weise »Großen Baumeister der Welten«.

Das Publikum, vor dem Russell sprach, setzte sich aus Freimaurern, Ernsten Bibelforschern und Gliedern der unterschiedlichsten Denominationen zusammen. Einleitend erklärte Russell, daß man sich in einem der Freimaurerei geweihten Gebäude befände. Die Ansprache ist ein heterogenes Sammelsurium von biblischen Begriffen und freimaurerischer Weltanschauung. Biblisches Christentum und Freimaurertum lassen sich nicht harmonisieren.

Russells Einleitungsworte zu seinem Vortrag:

»Das Thema für heute Nachmittag, liebe Freunde, finden wir in den Worten des Apostel Paulus, >denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr< (1. Kor 3,17). Als Christen-Bibelstudenten aus allen Denominationen, so scheint es, haben wir etwas in unserem Glauben, das in Sympathie und Harmonie mit jeder Denomination auf der ganzen Welt steht.

Sprechen unsere presbyterianischen Freunde von der Erwählung? Wir mehr. Haben unsere methodistischen Freunde die Doktrin der freien Gnade? Wir mehr. Verstehen unsere baptistischen Freunde die Wichtigkeit der Taufe? Wir mehr. Schätzen unsere Freunde die Privilegien der Individualität in der Kirchenleitung? Wir mehr. Verstehen unsere freimaurerischen Freunde etwas vom Tempel und auch davon, Tempelritter zu sein? Wir mehr. Glauben unsere römisch-katholischen und unsere anglikanischen Freunde an eine universale Kirche? Wir mehr.

Mit anderen Worten, es scheint, als ob die Botschaft des Wortes Gottes mehr oder weniger unterteilt worden ist und jede Denomination einen Teil der Wahrheit aufgegriffen hat und um dieses bißchen Wahrheit viel Irriges angesammelt hat. Aber wir sind froh, daß sie dieses wenige an Wahrheit haben. Wenn sie nicht einmal einen Teil der Wahrheit gehabt hätten, hätten sie überhaupt nicht bestehen können.

Man hat also einen kleinen Teil der Wahrheit genommen, ihn mit Theorien umgeben und eine separate Kirche gegründet. Gott sagte nie, daß man eine separate Kirche gründen sollte. Er befahl nie, eine Baptistengemeinde oder eine presbyterianische oder methodistische Kirche usw. zu gründen.

Der Herr wollte eine Kirche schaffen, und er wollte, daß diese eine Kirche nicht nur einen Bruchteil der Wahrheit, sondern die ganze Wahrheit haben sollte. Wir tadeln hier nicht unsere Freunde und Nachbarn, denn wir erinnern uns, daß wir vor nicht allzulanger Zeit noch ganz ähnlich dachten. Aber ohne irgendjemand tadeln zu wollen, sind wir froh, daß wir einen vernünftigen und harmonischen Weg sehen, indem wir alle kirchlichen Glaubensbekenntnisse und >Zäune< verlassen, die das Volk Gottes so lange getrennt haben und zusammenkommen auf der Ebene der Bibel und allem, was in der Bibel steht – und nur in der Bibel.

Ist das nicht beglückend für uns? Ist es nicht das, was uns als internationale Bibelstudenten beim Studium des Wortes Gottes so viel Segen bringt? Ja, das stimmt. So freue ich mich, daß ich hier vor Delegierten aus den Küstenstädten und aus weiteren 35 Staaten sprechen darf.

Ich freue mich, die besondere Gelegenheit zu haben, einiges über Dinge zu sagen, in denen wir mit unseren freimaurerischen Freunden übereinstimmen, denn wir befinden uns hier in einem Gebäude, das der Freimaurerei geweiht ist. Und auch wir sind Freimaurer. Ich bin ein freier Freimaurer. Ich bin ein freier und anerkannter Freimaurer, wenn ich das in voller Länge ausführen darf. Das ist es, was unsere freimaurerischen Brüder uns sagen wollen, daß auch sie freie und anerkannte Freimaurer sind. Das ist ihre Art, es so darzustellen.

Nun, ich bin ein freier und anerkannter Freimaurer. Ich glaube, wir alle sind es. Aber nicht gerade im Stil unserer freimaurerischen Brüder. Wir haben keinen Streit mit ihnen. Ich werde kein Wort gegen freie Freimaurer sagen. Tatsächlich sind einige meiner besten Freunde Freimaurer, und ich schätze es, daß es einige wertvolle Wahrheiten gibt, die unsere freimaurerischen Freunde besitzen.

Ich habe manchmal mit ihnen gesprochen und sie haben gefragt: Wie kommt es, daß du über alle diese Dinge Bescheid weißt? Wir haben gedacht, daß niemand darüber Bescheid wisse, ausgenommen diejenigen, die zu unserer höchsten Logik Zugang haben?

Ich sagte, daß ich mit dem Großen Meister, dem Herrn selbst, konferiert hätte, und geheime Informationen durch den Heiligen Geist erhalten habe sowie Führung bezüglich dessen, was die Bibel sagt. Und das beinhaltet alle Wahrheit, ich glaube auf jedem Gebiet. Und so kommt es, wenn wir zu unseren freimaurerischen Freunden über den Tempel und seine Bedeutung sprechen oder darüber, gute Freimaurer zu sein, oder über die große Pyramide, die das eigentliche Symbol ist, und über ihre Bedeutung, so sind unsere freimaurerischen Freunde erstaunt.

Jemand, der eine lange Zeit Freimaurer war, kaufte neulich viele Bücher über die große Pyramide und schickte diese – ich bin sicher – an die tausend Freimaurer. Er bezahlte sie und verschickte sie auf eigene Kosten. Es war sein Wunsch, daß den Freimaurern etwas über die große Pyramide klarwerden sollte, weil sie daran sehr interessiert waren.

Aber wir werden heute Nachmittag nicht über die große Pyramide sprechen, sondern über die freie und anerkannte Freimaurerei – die biblische Freimaurerei, meine lieben Freunde.«

Soweit die Einführungsworte Russells. Seine weiteren Darlegungen können wegen der Länge der Ansprache nur auszugsweise wiedergegeben werden.

Auszüge aus der Ansprache:

»Der große Meister unseres Hohen Ordens der Freien und anerkannten Freimaurerei, der Herr Jesus Christus, legte das Fundament. . . Er ist die Grundlage für hohes und anerkanntes Maurerhandwerk und alles, was sich darauf bezieht. Er gründete diesen großartigen Orden, dem wir angehören, den Orden der Freien und anerkannten Freimaurerei. Er ist der große Meister, und wir sollen keinen anderen anerkennen. . . .

Nein, nur das Fundament wurde gelegt. Und hier haben wir das wahre Bild der Pyramide, bei der das Fundament im Himmel gelegt wurde, der oberste Stein, wie der Apostel sagt. Wir müssen uns erinnern, daß alle diese Bilder unnatürlich sind, denn es sind himmlische Bilder. So wurde der oberste Stein, Jesus, zuerst gelegt, und alle anderen Steine müssen zu ihm hinaufgebaut werden . . .

Ihr wißt, daß die Spitze der Pyramide selbst eine perfekte Pyramide ist, und alle Steine darunter stehen mit dem obersten Stein in einer Linie. Dieser oberste Stein ist, wie die Bibel sagt, der Eckstein Jesus. Das Fundament, zu dem wir hinaufgebaut werden, anstatt hinunter . . .

Und was dann? Das nächste, aus dem sich unsere Freimaurer-Freunde und auch wir uns viel machen, ist die Verherrlichung des Tempels. Das ist auch in der Freimaurerei eine große Sache . . .

Ja, tausend Jahre Segen wird die Welt durch diesen großartigen Tempel, den Gott vorbereitet, erfahren. Tausend Jahre lang werden diese Tempelritter Segen unter allen Familien auf der ganzen Erde verbreiten . . . Würdest du gern einer dieser Tempelritter auf der himmlischen Ebene werden? Ich sage nichts gegen die irdischen Tempelritter . . .

Wenn du denkst, es ist der Wille Gottes, daß du dich den >Odd Fellows< anschließt. . . schließe dich den Odd Fellows an. Wenn du fühlst, du möchtest ein Mitglied des freien und anerkannten Ordens der Freimaurer werden und du fühlst dich als Nachfolger Christi noch nicht frei oder freimaurerisch genug, Gott segne dich, entscheide selbst . . .

Aber jetzt spreche ich über die große Ordnung der Freimaurerei, von der Jesus der große Meister ist. In diesen Orden kann man nur auf besondere Weise eintreten . . . Von der Zeit an, da du ein Mitglied des königlichen Priestertums wirst, ein lebendiger Stein, ein Mitglied der königlichen Kunst der Freimaurerei . . .

Meinst du, daß die Gemeinde des Herrn ein geheimer Orden ist? Ja sicher ist sie das. Sie ist der wunderbarste geheime Orden, den die Welt je gekannt hat . . . Das Geheimnis Gottes ist noch nicht vollendet, sagt die Bibel. Dieses Geheimnis Gottes, das er seit Beginn der Welt geheimgehalten hat, wird nicht vor dem Schall der siebten Posaune vollendet werden.

Die Bibel sagt, daß die Gemeinde das Geheimnis ist. Das Geheimnis wird in der Gemeinde offenbart.

So können wir durch die Welt gehen und die Welt erkennt uns nicht, wie sie auch den Herrn nicht erkannte. Erkannte die Welt den großen Freimaurer, als er hier war? Nein. Tötete die Welt den großen Meister-Freimaurer? Ja.

Auch die Freimaurerei hat ihren führenden Freimaurer, der getötet wurde. Es ist dasselbe Bild. Die Freimaurer nehmen diesen ersten Freimaurer an, weil er ein Geheimnis besaß. Ihre Theorie besagt, daß dieser erste Freimaurer geheime Pläne für den Tempel besessen habe. Als er getötet wurde, ging das Geheimnis des Tempels verloren. Daher können bestimmte Grundzüge bis zu seiner Auferstehung nicht vervollständigt werden.

So erklären die Freimaurer als eine Körperschaft theoretisch, daß sie auf die Rückkehr jenes ersten Meister-Freimaurers warten, der sein Leben in den Tagen Salomos verlor, wegen des Geheimnisses. So warten auch du und ich als Unter-Freimaurer auf die Rückkehr unseres Meister-Freimaurers, der sein Leben ebenfalls in Verbindung mit dem Geheimnis des Tempelbaus, der Gemeinde, dahingab. So könnten wir noch weitere Analogien finden . . .

Es ist interessant, auch etwas über die Grade unserer Freimaurerei zu wissen. Es gibt einige, die nur den Einstiegsgrad erreichen und nie bis zur Perfektion weitergehen . . . Wenn wir dann unter denen sind, die das Recht haben, in die Geheimnisse des Herrn einzutreten, die zu seinem hohen und anerkannten Orden der Freimaurerei gehören, müssen wir zu höheren Graden weitergehen, weil das Wissen in den ersten Graden noch sehr gering ist.

Da die Geheimnisse dieses Ordens geistlich wahrgenommen werden, seht ihr, daß es Geheimnisse gibt, die niemand auf der Welt herausfinden kann. Hierin haben unsere freimaurerischen Freunde große Schwierigkeiten, ihre Geheimnisse vor Außenstehenden zu bewahren. Aber in seiner großen geheimen Gesellschaft hat es Gott so festgelegt, daß du alles darüber sagen kannst und der andere es nicht versteht, es sei denn, er besitzt den geistigen Schlüssel dazu . . .

Nur solche, die in dieses göttliche Mauerwerk hineinkommen, haben die geistliche Führung. Es ist etwas, das nur an eine Klasse reichlich gegeben wird, und sonst für niemand bestimmt ist. . . 

Ich frage mich, wie viele von uns hier den ersten Schritt getan, den ersten Grad erreicht haben. Ich frage mich, wie viele weitergegangen sind zum zweiten und dritten Grad? Ich frage mich, wie viele in die Ritterschaft eingetreten sind und Tempelritter wurden . . . Ihr wißt, daß man in Freimaurerorden von Stufe zu Stufe fortschreitet und dabei mehr und mehr lernt. So gibt es denn Freimaurer im 32. Grad, die viel mehr wissen als die im 14. und 16. Grad . . .

So ist es auch im geistlichen Tempel. Der Apostel drängt uns, höher zu steigen. Er sagt, wir sollen in der Gnade und in der Erkenntnis wachsen und dem Herrn charakterlich ähnlicher werden, ihm, dem großen Hauptbefehlshaber, dem großartigen Hohenpriester unserer Berufung, dem größten aller Tempelritter . . .«  –  Soweit die Auszüge aus Russells Tempelansprache. 

Im folgenden einige Begriffserklärungen als Hinweis auf Verbindungen zum New Age.

Begriffe wie »Tempelritter«, »Geheimorden« oder »Geheimnisse«, die nur mittels eines Schlüssels verstanden und eingeordnet werden können, auf die »Gemeinde Jesu« anzuwenden, ist verdächtig und anfechtbar. Wie sagt doch Paulus in 2. Korinther 4,2: »Wir vermeiden schändliche Heimlichkeit und gehen nicht mit List um, fälschen auch nicht das Wort Gottes; sondern durch Offenbarung der Wahrheit empfehlen wir uns dem Gewissen aller Menschen vor Gott.«

Was sich mit Geheimnissen umgibt, ist aus biblischer Sicht gefährlich und ist zu hinterfragen.

In seiner pointierten Darlegung bekannte Russell: »Ich bin ein freier Freimaurer.« Es muß hier nicht polemisiert werden, ob Russell initiierter Freimaurer war oder nicht. Seine Weltanschauung, die Verehrung freimaurerischer Embleme, die Anwendung freimaurerischen Vokabulars und Umdeutung biblischen Gedankenguts in freimaurerische »Theologie« dürften zur Beurteilung der Grundhaltung Russells genügen. Man spricht hier auch von »Maurer ohne Schurz«.

Bemerkenswert war Russells Hinweis auf seine »mystische Erfahrung« mit dem »Großen Meister« (Jesus Christus?), mit dem er selbst konferiert und geheime Informationen durch den Heiligen Geist erhalten haben will. Ähnliche Berichte sind von der amerikanischen Theosophin H. P. Blavatsky oder der New-Age-Prophetin A. Bailey bekannt, die ebenfalls mit ihren »Meistern« (anonyme Autoritäten der Geisterwelt) »konferierten«, das heißt Befehle oder Informationen empfingen. Über Russells Zugehörigkeit zu einer Loge weist auch das Drei-Punkt-Symbol vor seinem Namen in dem Freimaurerverzeichnis in »Lady Queenborough« hin.

Bedeutsam ist Russells Zitat, das die New-Age-Anschauung deutlich tangiert: »Und hier haben wir das wahre Bild der Pyramide, bei dem das Fundament im Himmel gelegt wurde . . . So wurde der oberste Stein, Jesus, zuerst gelegt. . . Ja, tausend Jahre Segen wird die Welt durch diesen großartigen Tempel, den Gott vorbereitet, erfahren. Tausend Jahre lang werden diese Tempelritter Segen unter allen Familien auf der ganzen Erde verbreiten . . .«

Russell spricht hier von den »144 000« Israeliten (Offb 14,1.4), als seien sie für den Himmel »erkauft«. Gemäß seiner Auffassung sind sie »Söhne Gottes«, gemäß seiner allegorischen Deutung sind sie »Tempelritter in der Loge des Herrn«. Sie sollen herrschen mit dem »Christus« und ihren Einfluß auf die Erde für tausend Jahre geltend machen.

Man vergleiche diese Konzeption mit der Version von A. Bailey aus ihrer Schrift »Die geistige Hierarchie tritt in Erscheinung«: »Jene Gottessöhne, die uns die Gottesliebe offenbaren, kommen aus dem Zentrum, dem Christus den Namen >das Reich Gottes< gegeben hat. . . Hier weilen die >Geister der Gerechten< . . . (Hebr 12,23), hier ist die geistige Heimat der Führer der Menschheit, hier leben und wirken die Hierarchen, die Gottes Pläne ausführen und das irdische Geschehen beaufsichtigen . . . Man nennt sie die geistige Hierarchie, die Wohnstätte des Lichts, das Zentrum, wo sich die Meister der Weisheit aufhalten, die Große Weiße Loge.«

Das sind verblüffende Übereinstimmungen in Wort und Vision, aber durchaus antichristliche Versionen. In beiden Anschauungen sind die »Gottessöhne« nicht leiblich auferstandene Christen, sondern Geistwesen. In beiden Konzeptionen existiert eine »himmlische Loge«, die sich der Menschheit in »Liebe« zuwenden soll.

Die Pyramide – Gottes Tempel?

Was veranlaßte Russell, den »Tempel Gottes« oder den »geistlichen Christus« auf die heidnische »Pyramide von Gizeh« umzudeuten oder daraus den freimaurerischen »Menschheitstempel« zu machen?

Kurz gesagt, der »Tempel Gottes« wird vom Heiligen Geist aus den Leibesgliedern Christi erbaut, der »Menschheitstempel« ist ein Humanitätsgedanke. Das bedeutet, die gesamte Menschheit, deren »Vornamen« Katholiken, Protestanten, Buddhisten, Hinduisten usw. heißen, wird schlußendlich den »Familiennamen« »Freimaurer« tragen, um diesen »Tempel« auszumachen. (W.Künneth/P.Beyerhaus: Reich Gottes oder Weltgemeinschaft, S. 206).

Gegen Russells Tempeldeutung stehen folgende biblische Aussagen:

a) Epheser 2,20 sagt, daß der Grund des Baus die Apostel und Propheten sind, wobei Jesus der Schlußstein ist, der dem Tempel praktisch den statischen Halt verleiht. Wer Gebäude in Jerusalem mit den runden Steinkuppeln kennt, weiß, daß der Schlußstein in der Mitte die statische Aufgabe hat, die Kuppel selbsttragend zu machen. Das hat mit Pyramidenbau nichts zu tun.
b) 1 Petrus 2,5 spricht von einem geistlichen Haus und in Vers 8 vom »Eckstein« oder dem »Fels des Ärgernisses« (Christus), auf dem aufgebaut wird. Beide Bilder weisen auf ein Tempelfundament, das auf Erden gelegt wurde und nicht im Himmel.

Russells Pyramidendeutung fordert unsere christliche Aufmerksamkeit. Denn man muß wissen, wie oben schon erklärt, daß das Symbol der Pyramide im Freimaurertum kosmopolitischen Sinn und nichts mit dem Tempel Gottes zu tun hat.

Russell: »Die Große Pyramide, glauben wir, ist das hauptsächlichste dieser Zeichen und Wunder, und sie beginnt jetzt in ihrer eigenen Sprache zu den Gelehrten zureden und durch diese zu allen Menschen.«  –  »Sie stellt den vollendeten Plan Gottes dar, wie er am Ende des Tausendjahrtages sein wird. Die Krone derselben wird Christus sein, das anerkannte Haupt über alle, und jeder andere Stein wird genau in diesen glorreichen, vollkommenen und vollständigen Bau eingefügt sein. Der ganze Prozeß des Meißelns, Polierens und Einpassens wird dann vollendet sein . . . Wenn die Pyramide als Ganzes den vollständigen Plan Gottes repräsentiert, so repräsentiert ihr Eckstein an der Spitze Christum . . . «

Diese Interpretation entspricht dem freimaurerischen Menschheitstempel, der sich, wie erwähnt, aus sämtlichen Religionen zusammensetzen soll. Könnten wir nun annehmen, daß Christus an dieser »synkretistischen« Pyramide den »Schlußstein« bildet? Auch der Begriff »Großer Baumeister der Welt«, in Verbindung mit dem Bau der Menschheitspyramide, dem Tempel der Humanität, ist freimaurerische Philosophie. »Großer Baumeister der Welt« ist Synonym für die maurerische Gottheit, eine Relativierung Gottes.

Russell: »Das Zeugnis dieses >Zeugen dem Jehova im Lande Ägyptern< und das des geschriebenen Wortes, weisen mit Bestimmtheit auf den schließlichen Zusammenbruch der alten Ordnung der Dinge in den >Abgrund< der Vergessenheit hin, und auf die glorreiche Herstellung der neuen Ordnung und Christo Jesu, dem großen Haupteckstein des ewigen Baues Gottes.«

Mit diesem Zitat schließt sich langsam der Kreis zu einer Beurteilung der Weltanschauung Russells, beziehungsweise seiner freimaurerischen Grundstimmung. Geradezu symbolhaft steht am Ende des dritten Bandes in der »Pyramidenlehre« der Begriff »Neue Ordnung«. Er steht ebenso unter dem »Großen Siegel« der amerikanischen Dollarnote und dürfte Russell bekannt gewesen sein. Das angestrebte Ziel des Freimaurertums geht daraus hervor mit den Worten: »novus ordo seclorum«. Dieses Ziel drückte Russell ebenfalls in seiner Pryramidenphilosophie aus.

Die Illuminatenpyramide

Am 14. Dezember 1789 unterzeichnete der erste Präsident der Vereinigten Staaten, George Washington, als Freimaurer den Vorschlag zu einer Nationalbank. Später erschien auf der amerikanischen Dollarnote das »Große Siegel« mit der Illuminatenpyramide. Die Spitze der Pyramide, das lichtumstrahlte »Allsehende Auge«, ist in der Freimaurerei das Symbol für die Gottheit, die man »Allmächtiger Baumeister aller Welten« nennt.

Die Worte »annuit coeptis« bedeuten soviel wie: »Das Unternehmen wird von Erfolg gekrönt oder gesegnet werden.« Welches Unternehmen? Natürlich die Errichtung des »Welttempels« mit einer »novus ordo seclorum«, einer »Neuen Weltordnung« unter illuminatischer Herrschaft.

Die Pyramide trägt am Fuße das Gründungsdatum des Illuminatenordens MDCCLXXVI / 1776. Gründer war der Illuminat Professor Adam Weishaupt, dessen Ziel Weltherrschaft mit Satanismus als verbindliche Staatsreligion war.

Die Zeitalterpyramide Russells

Die Strahlenspitze symbolisiert dort ebenfalls, wie in der Illuminatenpyramide, den Sitz der Gottheit. Russel verstand darunter, wie schon erwähnt, seinen »Christus«. Diese strahlende Pyramidenspitze hat unwahrscheinliche Ähnlichkeit mit dem strahlenden »Allsehenden Auge« der Illuminatenpyramide. – Der Pyramidenteil unterhalb der Spitze wird von Jehovas Zeugen heute jedoch anders interpretiert.

Beide Pyramidendarstellungen symbolisieren eine »Neue Weltordnung«. Russell bekannte sich sinnigerweise dazu in seiner »Pyramidenlehre«, indem er schreibt, daß die »alte Ordnung« zusammenbricht und eine glorreiche »neue Ordnung« unter dem »Haupteckstein« (Christus) erstehen wird.

Das ist ideologischer Gleichklang, der auch in der Verwendung der freimaurerischen Symbole Kreuz und Krone und des geflügelten Sonnendiskus, Symbol der Hochgradfreimaurer, zum Ausdruck kommt.

Die Pyramide als Bild der Verknüpfung

Die Pyramide ist hier metaphysischer Ausdruck ideologischer Machtstruktur und zugleich ein Bild der Verknüpfung. Die drei Ideologien, um die es in diesem Buch geht, verwenden das Symbol, aber interpretieren es jeweils auf ihre Weise.

Eines der aussagestärksten Pyramidensymbole dürfte die 13stufige Illuminatenpyramide mit der strahlenden Spitze und dem allsehenden Auge sein, die auf der amerikanischen Ein-Dollar-Note abgebildet ist. Metaphysisch stellt sie den vollendeten Welttempel des Freimaurertums dar und zugleich die Weltherrschaft Luzifers. Die Spitze, Kulminationspunkt »göttlicher« Macht, symbolisiert die Gottheit.

Bei meinen Darlegungen mußte ich an Orwells Roman »1984« denken, an die satanische Macht des »Großen Bruders«, die sich fortwährend manifestiert in dem »Teleschirm«, vor dem man kaum ausweichen kann – der alles sieht, wie das allsehende Auge der Pyramide. Interessant ist, daß Orwell den Sitz des »Ministeriums für Wahrheit«, er nannte es »Miniwahr in Neusprech«, als ein riesiges pyramidales Bauwerk beschreibt, aus weißem Beton, das Terrasse um Terrasse 300 Meter hoch gegen den Himmel gebaut war. Auch hier reflektiert das Pyramidensymbol als Sitz satanischer Herrschaft. Eine realistische Vision antichristlicher Weltherrschaft.

Zur Interpretation der Pyramidenspitze in den verschiedenen Systemen: Freimaurer sehen darin die Gottheit des »Allmächtigen Baumeisters der Welten«, im New Age versteht man darunter eine unpersönliche »Gottheit«, in der Wachtturm-Ideologie nach Ch. T. Russell verstand man darunter »Jesus Christus«.

Daß unter dem Pyramidensymbol seit der Unabhängigkeitserklärung der Staaten von Nordamerika 1776 ein Siegeszug des Freimaurertums begann, kann kaum bestritten werden. Von den 56 Unterzeichnern der Gründungsurkunde waren mindestens 15 Freimaurer. Der erste Präsident der USA, George Washington, war ebenfalls Freimaurer. Der Präsident, der das amerikanische Großsiegel mit der Illuminatenpyramide auf die Dollarnote brachte, war der Freimaurer F. D. Roosevelt.

England und Amerika wurden im Laufe der Jahrhunderte zu Hochburgen des Freimaurertums. M. Valmy nennt beide Länder ein Eldorado harmonischer, ungehinderter freimaurerischer Entfaltung.

Einige interessante Beobachtungen zur Illuminatenpyramide finden sich in »Pyramid Power« von Max Toth, Greg Nielsen im Goldman Verlag, unter dem Hinweis auf P. Halls Schrift »Secret Teachings of all Ages«, Los Angeles, 1969. Hall weist auf den mystischen Akzent des »Großen Siegels« der USA hin. Auf Vorder- und Rückseite dominiert in auffälliger Weise die Zahl 13. Dabei zeigt die Rückseite die Abbildung der Illuminatenpyramide mit 13 Stufen und aus 13 Buchstaben, aus denen der Segen der Gottheit im Illuminatentum: »annuit coeptis« besteht. Die Vorderseite zeigt einen Adler, der in der einen Kralle 13 Pfeile hält, in der anderen einen Zweig mit 13 Blättern und 13 Früchten. Über dem Kopf des Adlers sind 13 Sterne (entsprechend der 13 Gouverneure) in Form eines Sechssterns (Hexagramm/Freimaurersymbol) angeordnet. Der Schild vor dem Adler ist in 13 Streifen unterteilt. Es kann kaum Zweifel darüber bestehen, daß hier die 13 symbolisch eingearbeitet wurde, entsprechend der 13 Stufen der Illuminatenpyramide.

 

12. Die Gemeinde Jesu – ein Geheimorden Gottes?

In »Pastor Russells Sermon« findet sich unter der Überschrift »Wer kann das Geheimnis Gottes kennen?« eine Stellungnahme Russells zu geheimen Gesellschaften und Geheimorden. Der Tenor der Darlegung ist – ähnlich seiner Tempelrede – geistige Verknüpfung der Gemeinde Jesu mit freimaurerischen Ordensprinzipien. Die Ausführungen zeigen, wie Russell auch hier freimaurerische Begriffe und Regeln mit biblischen Bildern und Gedanken verbindet. Es geht ihm darum, zu zeigen, daß es ganz normal sei, daß in der menschlichen Gesellschaft Geheimbünde existieren, denn Gott selbst sei Gründer einer Geheimordnung gewesen.

Und nun leitet er über den Orden der Freimaurer zu Gottes »Geheimorden«, der Gemeinde, zu Jesu Nachfolgern. Hier gäbe es, genauso wie bei den Freimaurern, unterschiedliche Geheimnisse, die je nach Intelligenzgrad und Anstrengung erkannt werden können. So wie man im Freimaurertum von einem niederen Grad zu einem höheren emporsteigt, so ist es auch in der »Geheimordnung Gottes«.

Für die Begründung seiner Auffassung legte Russell den Text Daniel 12,10 zugrunde: ». . . alle Gottlosen werden’s nicht verstehen, aber die Verständigen werden’s verstehen.«

Ausführungen der Ansprache

»In heidnischen Ländern, wie auch in christlichen, schließen geheime Gesellschaften einen großen Teil der Menschheitsfamilie ein. Outsider wissen zwar etwas über ihre allgemeinen Motive und Objekte, aber ihre speziellen Methoden, Hoffnungen, Bestrebungen und Ambitionen werden geheimgehalten.

Um diese Geheimhaltung zu erreichen, die Interessen der Vereinigung zu schützen und zu bewahren, werden Geheimhaltungen mit einem Eid verbunden. Manche Eide lassen einem das Blut erstarren. Die Meinungsfreiheit wird mittels Sanktionen gezügelt.

Es ist nicht meine Aufgabe, irgendeinen dieser Orden anzugreifen oder über ihre Verhaltensweisen herzuziehen. Ich beziehe mich hier nur auf sie und lenke eure Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß dies unter Menschen eine sehr gebräuchliche Methode ist, weil der allmächtige Gott selbst der Gründer einer >Geheimen Ordnung< ist.

Während es gewisse Übereinstimmungen gibt zwischen den menschlichen Geheimorden und der Geheimordnung göttlichen Ursprungs, werden wir, wie erwartet, herausfinden, daß die letztere allen anderen weit überlegen ist. . .

So wie es in einigen geheimen Ordnungen verschiedene Stufen und Grade gibt, zum Beispiel sind alle Freimaurer mit den Geheimnissen des ersten Grades vertraut, aber längst nicht alle Freimaurer kennen die Geheimnisse des 32. Grades. Und genauso ist es auch in Gottes Geheimorden. Dort gibt es Grundprinzipien der christlichen Doktrin, die alle, die zum Orden gehören, kennen müssen. Es gibt auch tiefere Geheimnisse Gottes, die nur jene kennen, die die Fortschritte im Wachstum an Gnade und Liebe gemacht haben (Hebr 6,1; 1. Kor 2,10).«

Diese Darlegungen haben durchaus esoterischen Charakter. Genau das bestätigt das zweibändige amerikanische Werk »Occult Theocracy« von Lady Queenborough/Gordon Pr., Russells Lehre enthalte ein okkultes Dogma. Der folgende Abschnitt ist eine Übersetzung des 98. Kapitels: »Die Bewegung der Internationalen Bibelforscher wurde vornehmlich mit dem Ziel gegründet, die untere Mittelklasse der Intelligenz der christlichen Gemeinschaften anzusprechen, zum Beispiel bestimmte Büroangestellte, Lehrer, Dienstleistungspersonal und Personen, die mit direkten Formen der Propaganda nicht erreichbar waren. Die Bewegung hatte in Amerika auch großen Einfluß unter den Schwarzen.«

1870 gründete Russell den Wachtturm, dessen alleiniger Herausgeber er war. Die Lehren Russells erklären aus der Bibel heraus zu beweisen, daß alle christlichen Kirchen böse und korrupt sind, daß die Heidenzeit 1914 endete und daß die Juden von nun an über die Erde herrschen sollten.

In Russells Lehren wird auch sorgfältig ein okkultes Dogma entwickelt, welches angeblich auf biblischen Voraussetzungen beruhen soll. Die römisch-katholische Kirche wird verdammt, von Rom spricht man nur als von Babylon. Der Papst und seine gesamte Priesterschaft werden zu Bevollmächtigten des Antichristen gerechnet, die nach der bekannten freimaurerischen Formel von Albert Pike, Mazzini und anderen der Vernichtung geweiht sind.

Weiterhin wird uns, vorgeblich mit »biblischer Autorität«, in einer Interpretation von Offenbarung 2,24 gesagt, daß »Satan ein Name ist, der auf Rom insofern angewandt werden kann, als er ihre Eigenschaften beschreibt.«

Die protestantische Episkopal-Kirche und andere christliche Kirchen sind in Russells sehr bildhafter Sprache die »Hurentöchter der Römischen Kirche« und »haben Hurerei getrieben«.

Russell interpretiert diese Ausdrücke als Vereinigung von Kirche und Staat, dem sich die Juden in aller Welt so erbittert widersetzen. Diese Kirchen kommen bei Russell nicht besser weg als die katholische Kirche. Er sagt voraus, daß unter der Herrschaft der alten Würdenträger (des jüdischen Sanhedrin) die Heiden, die dann noch an Christus glauben, Christi Herrschaft als eine unsichtbare anerkennen müssen. Gleichzeitig unterwerfen sie sich als Christen all der Mühsal, welche diese jüdischen Fürsten ihnen auferlegen wollen.«

Diese Beschreibung Russells und seines Dogmas und seiner Haltung gegenüber den Kirchen reflektiert die Wachtturm-Organisation in ihren Lehren und Praktiken. Wer die Wachtturm-Publikationen auch nach Russells Tod prüft, wird feststellen, daß sich das Grundkonzept kaum verändert hat. Außer in bezug auf die Einschätzung der Stellung Israels. 

 

13. Russells synkretistische Tendenzen

Wenn es darum geht, Russells Denkweise zu beurteilen und freimaurerische Akzente nachzuweisen, dann bilden seine eigenen Schriften dazu die besten Grundlagen.

Seine Lehrmeinungen sind teils doktrinär bis tolerant und synkretistisch. Er verstand sich als der einzige kompetente Bibelexeget. Zweifel daran kommen allerdings, wenn man feststellt, wie er einerseits biblische Grundsätze und Gesetze interpretiert (imperativisch), andererseits die Lehren der Freimaurer (tolerant) und den Glauben der Moslems (totalitär) toleriert und sogar behauptet, sie stünden auf dem Fundament des Alten Testaments, weil sie gleicherweise einen Messias erwarten. Immer wieder vermischen sich allegorische Bibeldeutung mit freimaurerischem Mythos und synkretistischen Tendenzen, wie das aus dem folgenden Auszug »Pastor Russells Sermon« deutlich hervorgeht. Der Abschnitt ist überschrieben:

»Das Ersehnte aller Nationen«

Es ist eine Auslegung des Bibeltextes Haggai 2,7: »Ja, alle Heiden will ich erschüttern, und ich will dies Haus voll Herrlichkeit machen.«

»Der große Messias, >König des Himmels<, ist lange von den zivilisierten Nationen erwartet worden. Rund 4500 Jahre haben die Juden auf ihn gewartet als den großen Propheten, vorausgeahnt und vorausgesagt von Moses (Apg 3,22).

Die Freimaurer haben 2500 Jahre auf dieselbe glorreiche Persönlichkeit gewartet, als Hiram-Abiff, den Großmeister der Freimaurerei, dessen Tod, Glorifizierung und zukünftige Erscheinung ihnen kontinuierlich vor Augen gehalten werden durch die Buchstaben auf ihrem Schlußstein (hier beweist Russell eine gute Kenntnis freimaurerischer Mythologie). Christen aller Schattierungen glauben allenfalls, je nachdem, wie sie mit der Bibel vertraut sind (Altes und Neues Testament), an einen großen Tempelbauer, der aufgrund seiner Treue zu den göttlichen Plänen für den geistlichen Tempel, die auserwählte Kirche, starb (1 Petr 2,4-5) . . .

Die Mohammedaner, die ebenfalls den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sowie Davids und Salomos verehren, erwarten ebenfalls einen großen himmlischen Boten, um sie und alle Menschen durch die Errichtung eines himmlischen Königreiches zu segnen. Sie haben Jahrhunderte auf sein Kommen gewartet. Sie glauben, daß sein Königreich bevorsteht.

Ist es nicht an der Zeit, daß alle diese Menschen, die Gott fürchten und auf sein Versprechen hoffen, in einer Hoffnung, in einer Erwartung zusammenkommen sollten? Wenn sie jetzt mitfühlend aufeinander zugehen, werden sie sicherlich vieles entdecken, das in des anderen Hoffnung und Ziel zu schätzen ist …«

»Die Tatsache, daß Juden, Mohammedaner, Katholiken, Protestanten und Freimaurer alle zur Grundlage ihres Glaubens das Alte Testament der Heiligen Schrift haben, ist die Basis für ein besseres Verständnis, für das plädiert wird . . . Der Irrtum in der Vergangenheit war die allgemeine Bereitschaft, Aberglauben und Vorurteil sowie Fanatismus anzusprechen, eher als Tatsachen und Schrift. Wir müssen den Hebel umwerfen, um die guten Ergebnisse zu erhalten . . .«

Wir respektieren Freimaurer und Moslems als Personen, aber eine Vermischung mit ihren Weltanschauungen, wie es Russell vorschlug, kann es für Christen nicht geben. Wie Gott zur Zeit Israels auf synkretistische Kompromisse reagierte, zeigt uns das Beispiel der 450 Baalspriester am Berg Karmel (1 Kön 18,19ff.). Der Kommentar, daß Juden, Mohammedaner, Katholiken, Protestanten und Freimaurer das Alte Testament der Heiligen Schrift als Grundlage ihres Glaubens haben, ist anfechtbar. Wer die Einstufung der Heiligen Schrift durch den Islam kennt oder die Relativierung des Wortes Gottes im Freimaurertum, kann doch nicht behaupten, daß diese Anschauungen auf dem Fundament des Alten Testaments beruhen.

Der Vorschlag, aufeinander zuzugehen, um in den Hoffnungen und Zielen anderer etwas Gemeinsames zu entdecken, ist freimaurerisches Denken:
»Das unendliche Bemühen, Intoleranz abzubauen, bleibt eine der vornehmsten Ziele der Freimaurerei.«

Die heutige Tendenz, zu behaupten, Islam und Christentum hätten dasselbe Gottesverständnis, denn sie würden beide den einen Gott Abrahams anbeten, ist widersinnig in Anbetracht der mörderischen Verfolgungen, die Christen durch den Islam erdulden. Wer die islamische Religion und ihre Ziele wirklich kennt, weiß, daß die obigen Behauptungen nicht den Tatsachen entsprechen. Ein Vergleich zwischen Allah und dem dreieinigen Gott der Bibel ist ebenso unmöglich.

Der Gott Mohammeds ist nicht der Gott Jesu Christi. Christus wird im Islam nicht als zweite Person der Dreieinigkeit anerkannt. Der Glaube an seine Gottessohnschaft wird als »anstößig« empfunden und verneint. Von daher stellt sich die Frage: Wie kann man bei all den vielen Gegensätzlichkeiten von »Verbrüderung« und »Aussöhnung« sprechen, nur weil im Islam, dem Christentum und Freimaurertum eine Messiasgestalt erwartet wird? Kann man wegen dieser Messiaserwartung der verschiedenen Gruppen annehmen, daß es sich dabei um den Messias Jesus handle? Nein. So aber könnten Russells synkretistisch artikulierte Darlegungen verstanden werden. Seine Behauptungen, die erwähnten Religionen und Ideologien stünden auf der Grundlage des Alten Testaments, sind nicht haltbar.

Eine andere Darlegung aus »Pastor Russels Sermon« zeigt Tendenzen zur New-Age-Philosophie, in der Sünde nicht mehr Sünde im Sinne der Bibel ist. Russell stellt fest:

»In Wirklichkeit gibt es nur eine Hoffnung. Wenn man zugibt, daß die gesamte Menschheit unvollkommen ist, >geboren in Sünde und in Ungerechtigkeit entwickelt<, können wir trotzdem nicht der Doktrin der totalen Verdorbenheit zustimmen, daß in keinem Menschen Gutes ist, beziehungsweise in allen Menschen. « (S.501 Pastor Russells Sermon).

Russell vertritt hierin den freimaurerischen Humanitäts- und Toleranzgedanken. Dazu S. M. Pachtler, SJ, (M. Adler, S.15 in Kirche und Loge), ein Kenner des Freimaurertums, in seiner gründlichen Analyse über das Ideal und den Götzen Humanität, daß es ein Irrtum sei, zu behaupten: »Der Mensch, wie er heute geboren werde, sei von Natur aus gut. . .«  –  »Weiter kann sich der Mensch von Gott und der Offenbarung nicht mehr entfernen, als es in der Humanität geschieht.«

Russell steht mit seinen humanitären Anschauungen nicht auf dem Boden des Evangeliums, in welchem Paulus selbst bekannte, daß in ihm nichts Gutes wohne (Röm 7,18).

Ein letztes Beispiel für Russells synkretistisches Denken. Er identifiziert den Messias Jesus Christus mit mythologischen und religiösen Zentralfiguren.

Einige interessante Fragen

»Den himmlischen Messias, den die Juden mit >Michael< identifizieren, den großen Fürsten, der für dein Volk einsteht (Dan 12,1), erwarten die Mohammedaner ebenfalls und identifizieren ihn mit dem Mohammed der Vergangenheit.
Die Freimaurer erwarten dieselbe Persönlichkeit, und gemäß ihrer Tradition identifizieren sie ihn mit Hiram-Abiff, dem Großmeister der Freimaurerei.
Derselbe große Messias, Michael der Erzengel, der gegenbildliche Melchisedek, Priester sowohl als auch König, wird von uns identifiziert als >der Mann Jesus Christus<, der sich selbst als Lösegeld für alle gab, um zur gegebenen Zeit bezeugt zu werden (1 Tim 2,6) . . .« (Wachtturm, Mai 1912, S. 166-169 (engl.)

Hier werden jüdische, islamische, freimaurerische und christliche Zentralfiguren miteinander verquickt. Die Behauptung, daß der Erzengel Michael von den Juden als Messias erwartet wird, entspricht nicht der Messiaserwartung der Juden. Sie erwarten einen Davididen, einen Nachkommen Davids. Obwohl Jesus Christus der verheißene Messias aus der Linie Davids war, haben die Juden ihn nicht erkannt und warten weiterhin auf das Kommen eines davidischen Sprosses. Sie werden ihn allerdings in der Person Jesu erleben und nicht in der Person des Erzengels Michael. Russells Lehre ist also falsch, sie entspricht auch nicht dem Evangelium. Die Zeugen Jehovas vertreten die Ansicht Russells noch heute.

Auch die Behauptung, daß die Mohammedaner auf einen himmlischen Messias warten, wie die Juden, und ihn mit dem Mohammed der Vergangenheit identifizieren, irritiert. Zum Beispiel erwarten die sunnitischen Moslems den »Mahdi«, eine Führergestalt aus der Nachkommenschaft des Propheten (nicht den Propheten selbst), der diese Religion erneuern und zu einer herrschenden machen soll.

Die schiitischen Moslems erwarten den »Imam«, den künftigen Führer der Menschheit, der aus der Vergangenheit auftauchen und der einzig wirkliche Führer der Menschheit werden soll, um die endzeitliche Welteinheitsreligion aufzurichten.

Das erinnert an den »Maitreya« des New Age, der aus der Verborgenheit des Himalaja auftauchen soll, um die religiöse Einheit der Menschheit herbeizuführen. Dieser Maitreya-Christus ist die Messiasentsprechung aller Religionen, nach Ansicht der New-Age-Lehre.

Eine Identität zwischen den islamischen Führergestalten, dem mythisch-legendären Hiram-Abiff und dem Messias Jesus Christus besteht nicht.

Abschließend noch die Glaubensansicht Russells und der Zeugen Jehovas: »Das Königreich des Messias wird geistig sein«

»Frage: Was ist gemeint mit Königreich und Messias?

Antwort: Wir verstehen darunter, daß das Königreich des Messias ein geistliches sein wird, unsichtbar für Sterbliche, dennoch allmächtig für die Erfüllung der großen Dinge, wie im Gesetz und den Propheten versprochen wird. Das Reich, das er errichtet, wird unsichtbar für Menschen und wird den Platz des Reiches Satans einnehmen, das ebenfalls unsichtbar ist. Der König der Herrlichkeit wird den Fürsten der Finsternis ersetzen . . . « (Wachtturm vom 15. Mai 1912 (engl), S.5031).

Entgegen dieser Darstellung beschreibt die Bibel klar und deutlich ein sichtbares Wiederkommen Christi und den Aufbau eines sichtbaren Reiches. Dazu folgende Schriftbeweise:

Apostelgeschichte 3,21: »Der Himmel nimmt Jesus nur bis zu der Zeit auf, in der alles wiederhergestellt wird.«

Hebräer 1,6: »Dann wird Christus erneut in den Erdkreis eingeführt.«

Offenbarung 1,7: »Dann wird ihn jedes Auge sehen« (s. a. Jes 33,17).«

Matthäus 19,28: »Jesus wird auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen, mit seinen zwölf Jüngern, um die zwölf Stämme Israels zu richten (regieren) und dazu die ganze Erde.«

14. Initiation oder Wiedergeburt?

Es bestehen symbolische Parallelen zwischen der Initiation eines Freimaurers in den »Meistergrad« und der Initiation eines Zeugen Jehovas in die »Organisation« durch die Wassertaufe. Das freimaurerische Meisterritual stellt symbolhaft den Tod und die Auferstehung des mythischen Tempelbaumeisters Hiram-Abiff dar. Das Untertauchen des Zeugen Jehovas im Wasser bedeutet gleicherweise ein geistiges Absterben und Wieder-Auferstehen. Das vergeistigte »Todes- und Auferstehungserlebnis« bewirkt in beiden Fällen nachweislich eine erkennbare Charakterveränderung. Das ist der wesentliche Sinn und Zweck einer Weihe.

H. Biedermann schreibt über das rituelle Wiedergeburtserlebnis der Freimaurer: ». . . Man löscht seine Vergangenheit aus, man setzt einem profanen Dasein ein Ende, um wiederum ein anderes erneuertes Leben zu gewinnen . . .
Wollte nicht auch einst das Ritual der Taufe ein echtes Eintauchen in das Wasser des Todes und des Lebens andeuten? . . .
In oder an dem Täufling stirbt etwas und etwas anderes gewinnt dadurch Leben, Freiheit, Herrschaft. Das ist der Grundgedanke, der in den Taufriten der zahllosen Taufgemeinden und Mysterienbünde mehr oder weniger vergeistigt zum Ausdruck kommt. . .« (Horneffer 1979 S. 93).

Dieses Verständnis betrifft auch das Taufritual und Tauferlebnis eines Zeugen Jehovas. Durch das Ritual erlebt er eine spürbare Bindung an die »durch den Geist« geführte Wachtturm-Organisation. Hierzu ein Zitat aus dem Wachtturm: »Das vollständige Untertauchen im Wasser ist ein passendes Symbol ihrer Hingabe an Gott. Während sie untergetaucht werden, sterben sie sozusagen ihrem früheren Leben gegenüber ab. Wenn sie aus dem Wasser herauskommen, ist es, als ob sie nun für einen neuen Lauf der Selbstaufopferung im Dienste Gottes lebendig werden.« (Wachtturm vom 15.6.1988, S. 29).

In beiden Weltanschauungen wird das Wort Jehova zu einer Art »Paßwort« oder Erkennungszeichen. In der Freimaurerei versteht man unter dem Begriff »Jehova« das »wiedergefundene Meisterwort«, das durch den Tod Hiram-Abiffs verlorengegangen war und wieder entdeckt wurde. Bei Jehovas Zeugen wird dieser Begriff fast zu einer Art Hypostase mit einem gewissen Eigenleben oder personalen Charakter.

Persönlichkeitsveränderung durch das Ritual

Zum geistigen Wachstum und zur Weiterbildung des Freimaurers gehören Selbsterkenntnis und das rechte Bemühen um die Veredelung des Charakters. Der Mensch kann und soll durch Erziehung »veredelt« werden, um als »behauener Stein« in den freimaurerischen Menschheitstempel eingefügt zu werden. Man nennt diese geistige Arbeit »Arbeit am rauhen Stein«.

Nach der Aufnahme in die Loge durchläuft der Freimaurer verschiedene Erkenntnisstufen. Vom »Lehrling« zum »Gesellen« bis hin zum »Meister«. Zur Logenarbeit gehören Vorträge, Gespräche und Riten, die das geistige Wachstum und den Wunsch nach höherer Erkenntnis, nach geistigem Licht, fördern.

Ähnlichen Zielen streben Jehovas Zeugen nach. Hierzu aus »Umwandlung der menschlichen Natur«: »Die Bibel spricht sogar davon, daß wir unsere Natur derart umwandeln können, daß dadurch unsere Persönlichkeit neu gestaltet wird . . . Der einzelne kann somit seine Persönlichkeit ändern . . . Wie wir gesehen haben, kann unsere Natur umgewandelt werden, wenn wir der machtvollen Botschaft der Bibel Gelegenheit geben, unser Leben zu beeinflussen.« (Wachtturm vom 1.11.1990, S. 4ff).

Die Wachtturm-Schrift »Ewiges Leben in der Freiheit der Söhne Gottes« geht sogar so weit, daß sie behauptet, der Mensch könne das Gesetz der Sünde schließlich überwinden und eine dauerhafte Gerechtigkeit in sich selbst kultivieren, um dann in eigener Gerechtigkeit vor dem Gott der Heiligkeit stehen zu können.

Was sagt die Bibel über die neue Persönlichkeit?

Gegenüber beiden Anschauungen lehrt die Bibel sehr wohl, daß wir eine neue Persönlichkeit anziehen müssen. Nur ist dieses Anziehen nicht ein symbolischer Akt oder ein Verbessern unseres Charakters in eigener Kraft. Die neue Persönlichkeit anziehen im Sinn der Bibel heißt, zu einer neuen »Person« zu werden.

Da die von Adam ererbte Persönlichkeit nicht mehr erneuert werden kann, ermahnt Paulus in Epheser 4,24, den »neuen Menschen« anzuziehen, der nach dem Bilde dessen ist, der ihn erschaffen hat.

Dieser »neue Mensch« ist der »Christus«. Nach biblischem Verständnis ein geistiger Organismus, seine Gemeinde. In diesem Organismus werden Juden- und Heidenchristen eins, zu »einem neuen Menschen« (Eph 2,13.14).

Wie wird man Glied dieses Organismus? Durch Wiedergeburt und Taufe. Daher sagt die Schrift: »Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen« (Gal 3,27).

Die »Wiedergeburt« ist existentielles, von Gott geschenktes, neues Leben. Gott sendet den Geist seines Sohnes in das Herz eines Menschen (Gal 4,6). So wird er zu einer »neuen Kreatur in Christus« (2 Kor 5,17) und zieht auf diese Weise die neue Persönlichkeit an (Gal 3,27).

Dem steht das Internationale Freimaurer-Lexikon gegenüber: »Das Anziehen des neuen Menschen. Wie die alten Mysterienbünde« versinnbildlichen auch die Freimaurer die Verwandlung, die sie durch den Eintritt in den Bund zu erleben wünschen, durch das Kleid und durch gewisse Gemeinschaftsformen . . . zieht damit symbolisch einen anderen Menschen (den >neuen Adam<) oder einen andern Leib an. Der alte Leib stirbt oder er bleibt zurück; der >Reine und Verwandelte< tritt über die heilige Schwelle. Nachher tritt der alte Mensch wieder in sein Recht. Der Alltag gewinnt seine Macht zurück; der Bruder ist wieder ein unter das Joch der Notdurft gebeugtes Wesen.«

So muß denn der Freimaurer dieses »Erlebnis des Wiedergeborenseins« immer wieder symbolisch neu erleben, und es ist niemals die Wiedergeburt, die eine ewige Erlösung bringt, und die eben doch nur in Christus erfahren wird. In der Wiedergeburt schenkt Gott durch Christus existentielles, neues Leben. Das ist nicht symbolisch, das ist Realität. Das wahre Anziehen des neuen Menschen ist, wie bereits beschrieben, das Anziehen der Person Christi (Gal 4,6; Eph 4,24).

 

15. Fünf Versionen über Gottheit und Menschwerdung Jesu

Die biblische Version

Jesus war bereits als menschlicher Sohn vom Geist Gottes gezeugt worden und benötigte daher keine zweite Geistzeugung. Sowohl Russell als auch die Zeugen Jehovas relativieren Jesus Christus, denn sie stellen seine Göttlichkeit in Frage. Mit der Taufe des Johannes bezeugte Jesus lediglich seine Bereitschaft, die Sünden der Welt auf sich zu laden. Darum steigt er in das Wasser der Sünder und läßt sich taufen. Der Heilige Geist, der auf ihn herabkommt, ist kein Zeichen seiner geistlichen Wiedergeburt. Der menschgewordene Sohn Gottes war durch den Heiligen Geist von Anfang an mit seinem himmlischen Vater verbunden. Das Herabkommen des Heiligen Geistes und die Stimme des Vaters bestätigen ihn lediglich hörbar und sichtbar vor Johannes als Sohn, als Propheten und Messias.

Jesus Christus wurde nicht bei seiner Taufe im Jordan »geistgezeugter« Sohn Gottes. Er war es bereits von Ewigkeit her. Denn Johannes nannte ihn das »Wort«. Und das Wort war bei Gott und es war Gott (Joh 1,1).

Paulus und Johannes bestätigen die Gottheit Jesu.

Philipper 2,6: »Er, der in göttlicher Gestalt war (. . .) nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich . . ., er erniedrigte sich selbst (. . .)«
Kolosser 2,9: »Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.«
2. Korinther 5,19: »Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber.«
1. Johannes 5,20: »Und wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohn Jesus Christus. Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben.«

Zwei Kommentare zur Gottheit Jesu

»Ohne Zweifel hat Jesus nicht 30 Jahre auf Erden gelebt ohne den Heiligen Geist. Aber der Heilige Geist, der seit 30 Jahren das Band der Gemeinschaft zwischen dem Vater und seinem menschgewordenen Sohn war, trat jetzt am Anfang seines öffentlichen Lebens zu ihm in ein neues Verhältnis.

Der Vater salbte ihn zum König durch den Heiligen Geist und zugleich zum Propheten, mächtig von Taten und Worten vor Gott und allem Volk. Es kann hier bei Jesus also nie und nimmer mit dem >Heiligen Geist< der Geist der Wiedergeburt gemeint sein. Jesus bedurfte keiner Wiedergeburt, er war eh schon heilig seit seiner Geburt (Lk 1,35). Es ist hier der Heilige Geist gemeint im Sinne der öffentlichen Ausrüstung für die Wirksamkeit, die der Herr nun beginnen soll.« (Matth.-Ev., S. 40, Wuppertaler Studienbibel).

»Aber wie wir es auch fassen, so jedenfalls haben wir den Menschen Jesus in seinem ganzen Dasein auf Erden zu sehen: >Gestalt Gottes< in >Gestalt eines Sklaven<. Das ist in keinem Denken zu fassen, hier versagen alle Kategorien der >Zweinaturenlehre<.

Die >Gestalt Gottes< und die >Art der Sklaven in Gleichheit der Menschen< ist gleichzeitig in Jesus da (. . .) Das eben ist die wahre Gottheit Jesu, alle >Gottheit< abzulegen und Sklavengestalt zu wählen. Es ist das, was gerade nur der kann, der an der Schöpfermacht Gottes Anteil hat.« (Wuppertaler Studienbibel Phil.-Brief, S.78)

Die Bibel läßt an der Gottheit Jesu keinen Zweifel. Sie ist historisches Dokument dafür, daß Gott in Jesus Christus den Menschen begegnete. Gott ist in seinem Sohn in die Geschichte der Menschheit eingetreten und nicht als eine zufällige Kraft kosmischer »Intelligenz«.

Die Version der Freimaurer

Der Freimaurer G. F. Lessing behauptete, es sei »unstreitig«, daß die ersten Christen »keinen solchen Sohn Gottes meinten, welcher mit Gott von gleichem Wesen sei«. Im allgemeinen wird Jesus im Freimaurertum lediglich als vorbildlicher Humanist verstanden. In der schwedisch-freimaurerischen Lehrart, aber auch in anderweitigen Interpretationen, erscheint Jesus in gnostischem Licht. Darin ist Jesus nunmehr ganz Mensch und wird als solcher zum »Christusträger«. Dank dieses »Christusgeistes« wird er »göttlicher Eingeweihter und Priester« (nach Lagutt (FM), bei M. Hohl-Wirz).

Jesus wird in der Freimaurerei als historische Gestalt betrachtet. Man darf sich über ihn ein eigenes Bild machen. Im übrigen herrscht im Freimaurertum die Ansicht, der Mensch sei von sich aus gerecht und bedürfe der Erlösertat Christi nicht. (Zuber, FM, nach M. Hohl-Wirz). Zudem wird im Freimaurertum ein Gott, der Gericht an den Menschen übt, abgelehnt. Und gerade Jesus ist es, der von seinem Vater das Gericht übertragen bekam (Joh 5,22.27).

Die Version des New-Age

Im New Age ist die Person »Jesus« mit dem »Christus« nicht identisch, so sagt A. Bailey: ». . . ein Lehrer erschien, ein Welterlöser, ein Erleuchteter, ein Avatar, ein Mittler zwischen Gott und Menschheit, ein Christus« (Bailey: Die Wiederkunft Christi, S. 12).

Dieser »Christus« hat mit »Jesus Christus« nichts zu tun. Er ist nur eine kosmische Macht, ein »Avatar«, der bei der Jordantaufe von der Person Jesus Besitz ergriff und sich in ihr manifestierte.

Was ist ein Avatar?

»Ein Avatar ist ein Leuchtender des Urlichtes, dessen wesenhafte Natur in der Fähigkeit liegt, Energie oder göttliche Kraft zu übertragen . . . begreiflicherweise ein großes Mysterium . . . in Verbindung mit diesen Avatars (oder göttlichen Sendboten) finden wir stets die Vorstellung, daß eine subjektive, geistige Ordnung existiert, eine Hierarchie geistiger Lebewesen, die mit der Fortentwicklung und Wohlfahrt der Menschen betraut sind . . . Solch ein Wesen war Christus.« (Bailey: Die Wiederkunft Christi, S. 9-11).

Wenn »Christus« als eine solche kosmische Kraft verstanden wird, welche Rolle spielt dann die Person Jesus bei der Erlösung der Menschheit? Im New-Age-Denken hat die Person Jesus für die Erlösung nur sekundäre Bedeutung. Als Werkzeug des »Avatars«, des Sendboten des »Urlichts«, empfing die Person Jesus die »Christusschaft«, das sogenannte »Christusbewußtsein«, um dadurch für Menschen Wegweiser zu dieser »Erkenntnis« zu sein.

Die Version Ch. T. Russells

In »Schriftstudien« erklärte Russell über Jesus Christus: »Als vom Weibe geboren, war dessen menschlich irdische Natur auf ihn übergegangen; er war >von der Erde irdisch<.«

Stimmt das? War er nicht Gottes Sohn von Ewigkeit und besaß himmlisches Leben? Auf Erden wurde er als ein Mensch geboren und war seinem Wesen nach Gott und Mensch – zwei Naturen. Wer die Gottheit Jesu bestreitet, verwirft Gott als den Vater Jesu Christi.

Der Evangelist Johannes sagte: »Der von obenher kommt, ist über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde« (Joh 3,31).

Jesus kam von oben, vom Himmel. Er besaß göttliche Gestalt, nahm Knechtsgestalt an und wurde als ein Mensch erfunden (Phil 2,6.7). Dieses Geheimnis wurde Petrus durch Gottes Geist offenbart. Als Jesus die Frage an die Jünger richtete: »Für wen haltet ihr mich denn?«, antwortete Petrus spontan: »Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn!« (Mt 16,5.16).

Russell glaubte nicht an die Gottheit Jesu. Daher interpretierte er ein bibelfremdes Evangelium über Sinn und Zweck der Taufe Jesu. Hierzu einige Passagen aus seinen »Schriftstudien«: »Unser Herr Jesus wurde bei seiner Taufe, seiner Weihung, durch den Geist gezeugt. . . und so werden auch die Glieder seines Leibes, seine Kirche . . . zur Zeit ihrer völligen Weihung >gezeugt<.«  –  »Unseres Herrn Taufe mit dem Heiligen Geiste war nicht allein für ihn selbst nötig, damit er teilhaftig werde der göttlichen Macht – der Geist war die göttliche Kraft in ihm und das Unterpfand seiner Empfängnis zur göttlichen Natur und seines Erbanspruches auf dieselbe – sondern es war außerdem auch angezeigt, daß eine äußerliche Kundgebung oder Anerkennung Jesu stattfinden werde, die anderen ermöglichte, in ihm den Gesalbten Gottes zu erkennen.«

Der Inhalt dieser beiden Zitate sagt, daß Jesus nur Mensch war und wie seine Nachfolger »vom Geist gezeugt werden« mußte, als »Erfordernis zum Empfang seiner göttlichen Natur« und seines »Erbanspruches«.

Die Version der Zeugen Jehovas

In der Lehre der Zeugen Jehovas setzt sich die Lehre Russells logischerweise fort. Im folgenden einige Zitate über den Sinn und Zweck der Taufe Jesu, wie sie die Wachtturm-Gesellschaft vertritt.

»Nachdem Jesus im Wasser getauft worden war, goß Jehova seinen Geist auf ihn aus. Dadurch wurde er geistgezeugt, was ihm das Recht gab, ein Gottessohn zu werden, er war nun >wiedergeboren<.« (Wachtturm vom 1.3.1969, S.158).

»Gott hatte Jesus dort durch seinen Heiligen Geist als einen geistgezeugten Sohn hervorgebracht. . . Auf diese Weise wurde Jesus nicht nur ein geistiger Sohn Gottes, sondern auch der Messias, der Christus oder der Gesalbte, der der König des Königreiches Gottes sein sollte . . . Jesus war durch Gottes Geist gezeugt worden, er war >wiedergeboren< worden. Als geistgesalbter Sohn Gottes blieb er bis zum Tode treu.« (Wachtturm vom 1.2.1982, S.6).

Die Gottheit Jesu wird also geleugnet, indem man behauptet, erst durch die Wassertaufe erfolgte seine Wiedergeburt, die ihm das Recht gab, Gottes Sohn zu werden. Gemäß dieser Ansicht kann kaum behauptet werden, daß Jehovas Zeugen die biblische Botschaft verkünden. Es ist die Philosophie des New Age, der Anthroposophie oder des Freimaurertums.

 

16. New Age – was sich dahinter verbirgt

Was ist der Hintergrund des Begriffs »Neues Zeitalter«? Diese Bezeichnung weist auf einen astrologisch abergläubischen Hintergrund.

Die New-Age-Prophetin Alice Bailey erklärt hierzu folgendes: »Wir leben in einer Übergangszeit. Das Fischezeitalter, das im Zeichen von Autorität und Glauben stand, geht zu Ende, und es beginnt das Wassermannzeitalter, das mehr Wert auf individuelles Verstehen und unmittelbares Wissen legen wird . . . Ergänzend möchte ich noch bemerken, daß durch gewisse astrologische Konstellationen neuartige Kräfte frei werden, die im ganzen Sonnensystem wirksam sind und unsere Erde beeinflussen . . . Ich hielt es für richtig, kurz die Situation in der heutigen Welt zu beleuchten, besonders im Hinblick auf esoterische, okkulte und mystische Gruppen sowie geistige Bewegungen.« (Bailey, A.: Die geistige Hierarchie tritt in Erscheinung, S.17).

Welche neuartigen, kosmisch astralen Kräfte meinte A. Bailey? Sind es nicht in Wahrheit jene Kräfte, die in der Bibel als die »Mächtigen und Gewaltigen«, als die Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, »oder die bösen Geister unter dem Himmel« genannt werden, die tatsächlich spürbar und erfahrbar sind? (Eph 6,12). Es sind jene Mächte, die in den Religionen als Götter und in der Bibel schlicht als Dämonen bezeichnet werden.

A. Bailey brachte esoterisch okkulte Gruppen mit diesen Mächten in Verbindung. Dadurch wird deutlich, von welchen Quellen das Denken und Handeln der New-Age-Anhänger beeinflußt wird. Es ist wissenswert, daß A. Bailey die dritte Nachfolgerin Helene Petrovna Blavatskys war, Gründerin der New Yorker Theosophischen Gesellschaft. Auch sie empfing ihre Inspirationen und Anweisungen bereits von »anonymen Autoritäten« der Geisterwelt, die man in der Theosophischen Gesellschaft »Meister« nennt. (Miers, A.: Lexikon des Geheimnisses, S. 274).

Von einem jener »Meister« erhielt auch A. Bailey Anweisungen zur Durchführung des »Planes«, der in ihrer Schrift »Die geistige Hierarchie tritt in Erscheinung« beschrieben wird. Dieser Plan enthält unter anderem Anweisungen zur Vorbereitung der »Wiederkunft Christi«. Hier ist allerdings nicht Jesus Christus gemeint, sondern der »Maitreya-Christus«. (Miers, A.: Lexikon des Geheimnisses, S. 61).

Im Laufe der Jahre gründete A. Bailey nach den Anweisungen ihres Meisters namens K. H. (Koot Humi) eine Reihe von Organisationen, die genau nach ihren Anweisungen arbeiten und prinzipiell dasselbe Ziel anstreben wie die erwähnte Theosophische Gesellschaft: »Einen Kern der allgemeinen Menschheit zu bilden, >ohne Unterschied von Rasse, Religion, Geschlecht, Kaste oder Farbe<. Dahinter steckt der aufklärerisch freimaurerische Weltbruderschaftsgedanke, der sich gegen den Absolutheitsanspruch des Christentums, gegen den Absolutheitsanspruch Jesu Christi richtet, also eine Weltbruderschaft, eine Welteinheitsreligion.« (Gassmann, L.: idea-Dokumentation 35/86).

Die bekanntesten New-Age-Organisationen, die an dem Plan aktiv arbeiten, beschreibt C. Cumbey in ihrer Schrift »Die sanfte Verführung«:

Lucis Trust: Unter dieser Schirmherrschaft arbeitet die »Lucis Verlagsgesellschaft« zur Verbreitung von A. Baileys Schriften, die »Arkanaschule« als Meditationsschulen, die »Triangles« als Dreier-Gebets- und Meditationsgruppen und diverse Meditationsgemeinschaften.

Gruppe der Neuen Weltdiener: Diese Gruppe dient als Vorhut zur »Wiederkunft Christi«. Eine äußere Gruppe verfolgt bewußt das Ziel, eine innere Gruppe empfängt lediglich die »Eingebungen der Hierarchie«, das sind die bereits erwähnten »anonymen Autoritäten«, nämlich Geister. Die Gruppe wurde 1925 von A. Bailey angeblich unter der »Leitung der Hierarchie« (kosmische Mächte) gegründet.

Planetarische Bürger: Das sind prominente Unterstützer auf dem gesamten Erdball. Mitglied ist unter anderem David Spangler. Selbst der bekannte frühere UN-Generalsekretär U-Thant war bei diesem Aufbau beteiligt. Die Organisation dient der Unterstützung der »Gruppe der Neuen Weltdiener«.

 

17. Verschwörung – Methode zur Systemveränderung

Wer die Publikation »Die offene Verschwörung – Aufruhr zur Weltrevolution« von H. G. Wells liest, erfährt, wie und bei wem am besten mit Verschwörungsaktionen angesetzt werden sollte. Wells empfiehlt zunächst gegenüber Militär und militärischen Einrichtungen eine subversive und passive Haltung einzunehmen:

»Ich nehme an, der erste öffentliche Akt von größter Tragweite wird der sein, daß die Mitglieder der Gruppen ihren Einfluß bekunden, jede militärische Verpflichtung abzulehnen, die dem Land durch militärische und diplomatische Kreise aufgezwungen werden.«

Wells fährt fort: »Die prinzipielle Ablehnung jedes Militärdienstes, der uns von den bestehenden Regierungen in ihrer künstlich unterhaltenen Rivalität auferlegt wird, bedeutet nicht unbedingt die Verwerfung eines militärischen Vorgehens gegen nationalistische Räuberbanden zum Wohle der >Weltgemeinschaft<.« Man lehnt also vom Staat gelenkte militärische Handlungen ab, ist aber bereit zu kämpfen, wenn es um die eigenen Interessen geht.

Der folgende Wachtturm-Kommentar »Warum Jehovas Zeugen keine Pazifisten sind« entspricht genau dieser Haltung: »Sie (Jehovas Zeugen) sind nicht gegen den Krieg zwischen den Nationen, und sie mischen sich nicht in die Kriegsbestrebungen der Nationen ein, noch treten sie irgend jemand in den Weg, der sich seinem Gewissen gemäß an solchen Bestrebungen beteiligen kann. Sie kämpfen nur, wenn Gott ihnen dies zu tun gebietet, weil es dann theokratische Kriegführung ist.« (Wachtturm vom 15.3.1951, S.84).

Fälschlich wird behauptet, Jehovas Zeugen lehnen den Militärdienst aus christlichen Gewissensgründen ab. Das stimmt nicht. Sie lehnen ihn aufgrund ideologischer Schulung ab, die ausschließlich auf das Ziel der »Weltherrschaft« und »Weltregierung« ausgerichtet ist.

 

18. Parallelen zwischen New Age und Jehovas Zeugen

Constanze Cumbey, Kennerin der New-Age-Szene, deckt in ihrer Schrift »Die sanfte Verführung« die New-Age-Bewegung als hintergründige, luziferische Endzeitbewegung auf. Beim Lesen ihrer Schrift zeigen sich weitere Parallelen zwischen Wachtturm-Ideologie und New Age:

C. Cumbey: »Sie (die New-Age-Anhänger) werden . . . durch raffinierte Methoden der geistigen Manipulation gefangen gehalten . . . sind unwissende und arglose Opfer der größten Verführung, die die Welt gesehen hat . . .« (S.14).

Wachtturm-Zitat: »Wenn wir Jehova und die Organisation seines Volkes lieben, werden wir nicht mißtrauisch sein, sondern werden, wie die Bibel sagt, >alles glauben<, nämlich alles, was der Wachtturm darreicht.« (Zum Predigtdienst befähigt, S. 156).

Die einen arbeiten mit »raffinierten Methoden«, die anderen mit rhetorischen »Tricks«. »Alles glauben, was die Bibel sagt, alles, was der Wachtturm darreicht.« Auf geschickte Weise wird hier die Wachtturm-Schrift der Bibel gleichgestellt.

C. Cumbey: ». . . eine Bewegung mit vielen Tausenden von Organisationen, die die Erde netzartig umspannen und eine »Neue Weltordnung« errichten wollen. (S.156).

Wachtturm-Zitat: »Jehovas Zeugen haben mit ihrer Zeugnistätigkeit buchstäblich die ganze Erde umspannt.« (Wachtturm vom 15.6.1984, S. 17).

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß Jehovas Zeugen die Erde mit ihrer Organisation umspannt haben. In über zweihundert Ländern sind sie aktiv oder haben ihre Büros und Zentralen eingerichtet. Es gibt kaum eine andere Organisation, die so effektiv arbeitet. Ein Beispiel: Die Verkündigerzahl der Zeugen Jehovas betrug 1972 in Italien 22196. Etwa 18 Jahre später betrug die Verkündigerzahl bereits 180000.

Die Wachtturm-Organisation bezeichnet sich selbst als eine »mächtige Nation«, die bald die ganze Erde füllen wird: ». . . wie in Daniel 2,44 vorhergesagt wird, wird Jehovas Königreich bald alle anderen Regierungen zermalmen und ihnen ein Ende bereiten und allein ewig herrschen.« (Wachtturm vom 15.6.1984, S. 19).

C. Cumbey: Anhänger der Bewegung (New Age) haben sogar mit Ausrottung aller Juden, Christen und Moslems gedroht… (Seite 19, Die sanfte Verführung).

Wachtturm-Zitat: ». . . wird das Ende über die Christenheit und über das Judentum kommen . . . Das bedeutet, daß auch die Christenheit und das Judentum bald nicht mehr sein werden.« (Rettung aus der Weltbedrängnis steht bevor, S. 227).

Jehovas Zeugen verkündeten bis etwa 1930, Israel würde als Volk Gottes in sein verheißenes Land zurückkehren. Annähernd 40 Jahre unterstützten die Zeugen Jehovas (früher Bibelforscher genannt), vertreten durch ihre Präsidenten Ch. T. Russell und J. T. Rutherford, den Zionismus. Als die Hitler-Ära nach 1930 langsam an Boden gewann, schwenkte die Wachtturm-Gesellschaft um. Das letzte prozionistische Wachtturm-Buch erschien 1929 und wurde bis in die dreißiger Jahre verbreitet. 1933 holte die Wachtturm-Gesellschaft zum Schlag gegen die Juden aus. (Erklärung Wilmersdorfer Turnhalle, 25.6.1933, Rechtfertigung, Bd. 2 (1932), S. 117).

Die heutigen Zeugen Jehovas erklären Israel als von Gott verworfen. 1931 nahmen sie zudem den Namen »Jehovas Zeugen« (Jes 43,10) an und deklarierten sich als neuzeitliches Volk Gottes.

C. Cumbey: »Die Bewegung (New Age) lehrt, daß man durch Initiation (Einweihung) und Werk gerettet wird und nicht durch Gnade und den Glauben an das Sühnopfer Jesu Christi.« (Seite 73, Die sanfte Verführung).

Wachtturm-Zitat: »Das Lösegeld . . .verbürgt keinem Menschen ewiges Leben oder ewiges Glück . . . verbürgt jedem Menschen eine zweite Gelegenheit. . . ewiges Leben zu erlangen.« (Göttlicher Plan der Zeitalter, S. 144ff).

Jehovas Zeugen lehren ebenfalls, Anspruch auf ewiges Leben muß verdient werden durch »Rechtfertigung des Namens Jehova«. Die Zeugen glauben wie im New Age, ewiges Leben durch Werk und eigene Gerechtigkeit zu bekommen. Ch. T. Russell lehrte, daß alle Menschen zur Auferstehung kommen müssen, um sich zu bewähren. Sie bekämen nochmals Gelegenheit wie Adam, den Gehorsam gegenüber Gott zu beweisen. Mit anderen Worten, die Sünde von Adam her ist ihnen selbst durch Jesu Tod am Kreuz nicht vergeben.

Wachtturm-Lehren und Glaubensinhalte der Zeugen Jehovas

1.  Es gibt keinen dreieinigen Gott – Dreieinigkeits-Broschüre: »Sollte man an die Dreieinigkeit glauben?«
2.  Jesus ist nicht Gott – Unterredungen, S. 242ff. = »Unterredungen anhand der Schriften«
3.  Heiliger Geist = Gottes wirksame Kraft – Unterredungen S. 174ff.
4. Jesus wurde als Sohn Gottes erschaffen, Paradiesbuch, S. 58 = »Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben«
5.  Jesus, auf Erden wiedergeboren – WT 1.3.63, S. 158,1.2.82,S.9.
6.  Jesus, nach Tod drei Tage nicht existent – WT 1.6.88, S. 13.
7.  Jesus, nicht leiblich auferstanden – Buch Unterredungen, S. 246ff.
8.  Wiederkunft Christi ist unsichtbar – Paradiesbuch, S. 142, Abs. 17.
9.  Es gibt keine Hölle – Wahrheitsbuch, S. 96 und 97 = »Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt«.
10. Tod ist Nichtexistenz – Paradiesbuch, S. 77.
11. Jesus, nur für 144000 Personen Mittler – Wachtturm vom 1. August 1979, S. 31.
12. 144000 Personen kommen in den Himmel – Paradiesbuch, S. 124, Abs. 14.
13. Jehovas Zeugen müssen sich ewiges Leben verdienen – Ewiges Leben . . ., S. 386-388.
14. Wachtturm-Gesellschaft – Stellvertreter des Herrn auf Erden – Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, S. 148.

Diese Liste ist nur ein Teil der Wachtturm-Sonderlehren, die jeder Zeuge Jehovas glauben und verkünden muß. Die Titel der Wachtturm-Schriften sind wegen Platzmangel mit ihren Kurznamen angeben. Die genauen Titel lauten:

 

19. Jahreszahlen – Parallelen zwischen New Age und Jehovas Zeugen

Die New-Age-Prophetin A. Bailey und die Wachtturm-Ideologen operieren bei ihren »Prophezeiungen« mit gleichen Jahreszahlen. Versionen und Erwartungen sind unterschiedlich bis gleichlautend. Es stellt sich die Frage: Aus welcher Quelle stammen die »Inspirationen« der Jahreszahlen? A. Bailey spricht von »Meistern« (anonyme, geistige Autoritäten), die ihr diktierten. Ch. T. Russell erklärte, mit dem »Großen Meister« konferiert zu haben, J. F. Rutherford, der Nachfolger Russells, erklärt, daß »Engel« die Wachtturm-Führung inspirieren. Jesus sagte seinen Nachfolgern, daß sie der Heilige Geist führen, belehren und leiten werde (vgl. auch Joh 14,16; 1 Joh 2,27).

Version über das Jahr 1914

New Age: »Die Meister arbeiten in Übereinstimmung mit dem großen Plan . . . ein Plan, der wegen der menschlichen Selbstsucht die grauenvollen Schrecken des Weltkrieges (1914/1945) notwendig machte.« (A. Bailey, S. 800).

Hier wird der erste Weltkrieg als eine notwendige Maßnahme der »Meister« interpretiert. Wer sind diese »Meister«? Und warum mußten der erste und zweite Weltkrieg inszeniert werden?

In diesem Zusammenhang sei auf den ominösen Brief des Freimaurers und Illuminaten A. Pike an G. Mazzini vom 15. August 1817 hingewiesen. Darin werden minutiöse Pläne für die Inszenierung des ersten Weltkrieges 1914 dargelegt. »Geistige Verknüpfungen«, wie schon an anderer Stelle, können auch hier kaum bestritten werden.

Wachtturm- Version: Ch. T. Russell »prophezeite«, gestützt auf einige zeitgenössische »Zahlenexperimente« (J. A. Brown: The Even Tide, London, 1823), das Ende der Heidenzeit für das Jahr 1914. Seine selbstsichere Auslegung lautete: »In diesem Kapitel liefern wir den >biblischen Nachweis< . . . daß das volle Ende ihrer Herrschaft (Nationen) mit dem Jahre 1914 erreicht sein wird und . . . sechstens beweist es, daß die große >Zeit der Drangsal ihren schließlichen Höhepunkt erreicht haben wird.« (Ch. T. Russell, Bd. 2, S. 78).

Beide Versionen weisen in ihren Darlegungen auf die katastrophalen Ereignisse des Jahres 1914 hin und auf ein Eingreifen aus der »geistigen« Welt. Version über das Jahr 1919

New Age: A. Baileys »geistiger« Inspirator gibt zu bedenken: »Ich habe euch meine Pläne dargelegt. . . Seit 1919 bin ich euer Lehrer . . . »Möge ER, der Meister aller Meister . . . euch bei der Aufgabe helfen, die Menschheit in das Licht und in eine neue Zeit zu führen.«

Wer ist seit 1919 dieser Lehrer, der in die irdischen Belange eingreift?

Wachtturm-Version: »Durch seinen Heiligen Geist. . . leitete Jehova seine Leute bis zu einem gewissen Punkt. . . als der Tröster weggenommen wurde . . . als der große Richter sein Gericht begann im Jahre 1919.« (Bewahrung, S. 193).

In der Wachtturm-Schrift »Neue Himmel und eine neue Erde« heißt es: »Mit der Inthronisierung Jesu im Jahre 1914 traten die neuen Himmel in Erscheinung. Die neue Erde dagegen erst 1919.« (S. 320 und 323). – Hier werden beide Jahreszahlen (1914 und 1919) direkt zusammen genannt.

Version über das Jahr 1925

New Age: »Der stimulierende Impuls, der gegeben wurde, und das Licht, das sich nach der letzten hierarchischen Konklave im Jahre 1925 allmählich verbreitete, sind echt und wirksam gewesen . . . Die zweite Auswirkung . . . führte zur Zunahme und Vervollkommnung aller Verkehrs- und Kommunikationsmittel, wie Presse, Radio und Reisemöglichkeiten.«

Wachtturm-Version: »Wir sollten kurz nach 1925, dem letzten vorbildlichen Jubeljahr, die Auferweckung von Abel. . . Abraham . . . erwarten . . .«Es wird keine Herrschaften und Diener mehr geben . . . Denn alle Kräfte der Natur sind ihm (dem Menschen) Untertan und treiben alle möglichen Maschinen . . . Da gibt es einen kleinen Apparat auf der Spitze des Hauses, der zieht alle Kraft, die wir zum Betrieb unserer Maschinen benötigen, direkt aus der Luft. . .«

In beiden Versionen werden phantastische Errungenschaften auf Erden für das Jahr 1925 beschrieben. Unsichtbare Kräfte verhelfen inspirierten Menschen zu entsprechenden Erkenntnissen und Erfindungen.

Version über das Jahr 1975

New Age: »Ihr sollt pflichtbewußt alles tun, um jene menschlichen Denk- und Verhaltensweisen zu entwickeln und zu fördern, die notwendig sind, wenn es in der Welt 1975 wahren Frieden geben soll.« (A. Bailey, S. 396).

Das sind deutliche Anregungen oder Anweisungen zu vermehrten Anstrengungen, das Ziel zu erreichen, Frieden bis 1975.

Wachtturm-Version: »Sollten wir aufgrund dieses Studiums annehmen, daß im Herbst 1975 die Schlacht von Harmagedon vorüber sei und die langersehnte Tausendjahrherrschaft Christi beginnen wird?

Es ist daher nicht an der Zeit, gleichgültig zu sein . . . Wir können nicht über das Jahr 1975 hinaussehen . . .« (Wachtturm vom 15.11.1968, S. 691).

Auch in dieser Version ist Hauptaspekt: »Friede bis 1975.«

Die Übereinstimmungen sind verblüffend. Man könnte die Vergleichsreihe fortsetzen. Eine hintergründige, geistige Verknüpfung ist unverkennbar. Zumal die zwei Weltanschauungen völlig unabhängig voneinander mit Zahlen und Zeitereignissen operiert haben und zu fast gleichen Ergebnissen kamen. Die Ereignisse sind zu gewaltig, um von Menschen inszeniert zu werden. Man muß nach dem Urheber und »Planer« dieser Ereignisse fragen. Dazu regt die Version A. Baileys über die beiden Weltkriege an. So läßt sich daraus auf die »Informationsquelle« für Russell und seine Nachfolger schließen. Zweifellos sind geistige Verbindungen zu der »einen« Quelle erkennbar.

 

20. Jehovas Zeugen und die New-Age-Systemschau

Während meiner Studien zum vorliegenden Buch fiel mir die Wachtturm-Ausgabe vom 15. Juli 1980 in die Hände. Was ich beim Lesen entdeckte, wäre mir früher als Zeuge Jehovas selbst nie aufgefallen. Die Darlegung reflektierte typisches New-Age-Denken.

Der Artikel, betitelt »Eine Weltregierung – wo liegen ihre Hindernisse?«, intendiert die Überzeugung, daß die von der Wachtturm-Organisation proklamierte »unsichtbare Weltregierung«, in Zusammenarbeit mit der bereits bestehenden »Neuen-Welt-Gesellschaft« der Zeugen Jehovas, einmal für die Grundbedürfnisse der Menschheit sorgen wird.

Die »Systemtheorie« und die Auffassung über Lebenszusammenhänge stammen aus der Feder eines F. Capra, der bemüht ist, seine buddhistischen Erkenntnisse in eine mystisch transzendente Weltsicht umzusetzen. In seinem Buch »Wendezeit« schreibt er: »Jeder Organismus – von der kleinsten Bakterie über den weitesten Bereich der Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen – ist ein integriertes Ganzes und somit ein lebendes System«  –  »Auch gesellschaftliche Systeme weisen dieselben Grundaspekte auf – etwa wie ein Ameisenhügel, ein Bienenstock oder eine menschliche Familie.« – »Die neue Sicht der Wirklichkeit. . . beruht auf der Erkenntnis, daß alle Phänomene – physikalische, biologische, psychische, gesellschaftliche und kulturelle – grundsätzlich miteinander verbunden und voneinander abhängig sind.« (Wendezeit, von F. Capra, S. 294).  –  Diese Zitate spiegeln sich auch in den Wachtturm-Darlegungen wider.

Gemeinsame Begriffe bei Jehovas Zeugen, Freimaurern und New Age

Neue Weltordnung: In jüngster Zeit war der Begriff »Neue Weltordnung« bereits wiederholt im Munde prominenter Politiker, beispielsweise des damaligen amerikanischen Präsidenten Bush oder des früheren russischen Präsidenten Gorbatschow, der am 7. Dezember 1988 vor der UNO sagte: »Weiterer globaler Fortschritt ist jetzt nur noch möglich durch die Suche nach universeller Übereinstimmung in der Bewegung hin zu einer >Neuen Weltordnung<.« – »Novus ordo seclorum« – das ist die Maxime des Illuminatenordens und der New-Age-Bewegung.

Eine »Neue Weltordnung« ist bedingt durch eine Weltregierung mit totaler Machtbefugnis. Diesem Ziel ist man durch die Französische Revolution von 1789 und ihre ideologischen Folgeerscheinungen beachtlich nähergerückt, denn die utopischen Parolen von damals: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, manifestieren sich seitdem bereits in der Überschrift des 1. Artikels der »UNO-Charta für Menschenrechte«. Auch der große Vordenker des New Age, H. G. Wells (gest. 1946), schrieb geradezu visionär über die Thematik »Weltstaat« und »Weltgemeinschaft«. In seiner berühmten Edition »Die offene Verschwörung – Aufruf zur Weltrevolution«, tauchen bereits Begriffe wie Weltordnung, Weltkontrolle, Weltstaat, Weltorganisation, Weltregierung und Weltgemeinschaft auf. Ebenso sehen wir dies bei der New-Age-Prophetin A. Bailey, die schon in den ersten Jahren des zweiten Weltkrieges über das Thema Weltordnung und Weltreligion schrieb.

Auch die Wachtturm-Gesellschaft bedient sich desselben Vokabulars wie die New-Age-Experten und das Illuminatentum. Damit steht sie auf der Seite der antichristlichen »Neuen-Welt-Architekten«. Wir sagten bereits, daß man eine Weltanschauung und ihr Ziel am Vokabular und den Begriffsanwendungen erkennen kann. Bemerkenswert ist, daß die Wachtturm-Gesellschaft bereits nach dem ersten Weltkrieg den Begriff »Neue-Welt-Gesellschaft« prägte. (Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, S. 119, 147).

Die Wachtturm-Organisation der Zeugen Jehovas benutzt aber nicht nur dieselben ideologischen Vokabeln, sondern plant ebenfalls im Falle von Widersetzlichkeiten in ihrer »Neuen Ordnung« dieselben Methoden anzuwenden, die New-Age-Führer in ihrer »Neuen Weltordnung« im Bedarfsfall anzuwenden gedenken.

Die Parallelen zwischen Illuminatentum, New Age und Wachtturm-Ideologie sind beachtlich.

»Neue Weltordnung«:

– Seit 1914 sammelt der vortreffliche Hirte, Jesus Christus, die Bürger der »Neuen Ordnung« ein.

– Als Bürger der »Neuen Ordnung« halten Jehovas Zeugen in erster Linie der himmlischen Regierung die Treue.

– Jehova führt sein Volk einer strahlenden »Neuen Ordnung« entgegen.

– Sie werden unter der Leitung des Königreiches eine gerechte »Neue Ordnung« aufbauen.

– Es wird sich dabei um eine »Neue Ordnung« oder »Weltordnung« oder einen neuen Bereich menschlichen Lebens
   handeln. (Wachtturm vom 1. Mai 1987, S. 31).

Zum Begriff »Weltregierung«:

– »Eine Weltregierung – wie sie zustande kommen wird«

– Angenommen, es gäbe einen Herrscher . . . könnte er eine Weltregierung zustande bringen?

– Gott hat erklärt, daß er für eine Weltregierung zuständig sei.

Der Begriff Menschenrechte:

– Unter der Überschrift »Menschenrechte – werden sie je verwirklicht« heißt es: ». . . und die Fürsten, die er (Jesus Christus)
   einsetzt, werden dafür sorgen, daß auf der ganzen Erde Recht und Gerechtigkeit herrscht.«

– »Wenn dieses Gebet Erhörung gefunden haben wird, werden die Menschenrechte auf der Erde gewahrt werden.« (WTG:
     Erwachet).

– »Das zeigt, daß es eine höhere Macht gibt, der die Rechte, die heute als Menschenrechte bezeichnet werden, am Herzen
    liegen.«

– »Er (Gott) hat verheißen, daß die Zeit kommen wird, in der alle Rechte des Menschen zum Wohle jedes einzelnen
    verwirklicht werden.«

– »Allerdings ist der Ausdruck >Menschenrechte< darin (gemeint ist die Bibel/d. Verf.) nicht zu finden. Doch die Rechte,
    die man heute als >Menschenrechte< bezeichnet, werden in der Heiligen Schrift vielfach erwähnt.« (ERWACHET: 8.12.
    1979, S. 12)

Stimmt das wirklich? Sympathisiert die Wachtturm-Schrift hier nicht mit der ideologischen Maxime des Freimaurertums von den Menschenrechten, wie etwa die Führer des »konziliaren Prozesses« mit der Postulierung »Gerechtigkeit – Friede und Erhaltung der Schöpfung«? Attribute, die erst im Tausendjährigen Reich Christi ihre Erfüllung finden, werden schon jetzt in ideologische Fahrwasser geleitet.

Zu Recht behauptet daher W. Künneth: »Die große Verheißung der Ideologie konzentriert sich in den Grundbegriffen >Gerechtigkeit, >Friede<, >Einheit<, >Freiheit, >Humanisierung< der Welt.« (Ideologien – Herausforderung an den Glauben, Peter Beyerhaus, S. 25).

Hierzu das Internationale Freimaurerlexikon: »Angenommene Erklärung der Menschenrechte der Französischen Revolution.«  –  »Alle Menschen sind von Natur frei und unabhängig. Jede Regierungsgewalt gehört allein dem Volk . . . daß die gesamte Maurerei die Verfechtung der Menschenrechte in ihre Verfassungen aufzunehmen habe.« (Lennhoff-Posner: S. 1025)

Lutz v. Padberg schreibt in »Der konziliare Prozeß«, daß die Französische Revolution die christliche Ethik als Grundlage für das Zusammenleben der Menschen für obsolet erklärte und daher die Maxime »Menschenrechte« ersetzte. Die Weiterführung der Idee der »Menschenrechte« kommt in dem bekannten Lied der »Internationale« zum Ausdruck, wo es unter anderem heißt: ». . . die >Internationale< erkämpft das >Menschenrecht<.« (Internationale Arbeitervereinigung von Kommunismus und Sozialismus).

Menschheitsfamilie

Nichts scheint logischer zu sein, als für die Gesamtheit aller Menschen die Bezeichnung Menschheitsfamilie zu gebrauchen. Denn bekanntlich stammen alle von einem Ur-Elternpaar ab. Begriffe sind aber leider nicht immer so eindeutig und wertneutral, wie es oft den Anschein hat.

Dazu ein Beispiel: Unter der Bezeichnung »Christus« versteht ein Durchschnittsbürger Jesus von Nazareth. Ein New-Age-Anhänger sieht darin eine kosmische Kraft, die in ihm das »Christusbewußtsein« bewirkt. Oder: Jemand behauptet, Jesus war der präexistente Gottessohn. Dagegen erklärt ein anderer, Jesus sei nur ein moralisch hochstehender Mensch gewesen.

Man sieht, Worte und Begriffe werden unterschiedlich interpretiert. Meist je nach Weltanschauung. Daher kann umgekehrt mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Begriffsverständnis einer Person auf ihre Weltanschauung geschlossen werden. Das trifft auch für die Verwendung des Begriffs Menschheitsfamilie zu.

»Menschheitsfamilie« ist ein entscheidender Begriff bei Freimaurern und Illuminaten, Krönung aller Aktivitäten bei der UNO und Ziel aller Vereinigungsbestrebungen der Weltkirche in Rom. In diesen Reigen stimmt die New-Age-Prophetin A. Bailey mit ein, indem sie an die Zusammengehörigkeit der »menschlichen Familie« erinnert oder von den »Brüdern in allen Ländern« spricht.

Hinzu kommen auch Jehovas Zeugen mit ihrer skurrilen Feststellung, daß die ganze Menschheit nach Harmagedon einen neuen, einen zweiten Vater haben wird. Sie sagen, daß Jesus der zweite Vater der Menschheitsfamilie wird, daß er die Vaterschaft für die Menschheitsfamilie übernimmt und das Paradies wiederherstellt. (WTG: Weltweite Sicherheit unter dem Fürsten des Friedens, S. 162 u. S. 169).

Eine weitere Aussage lautet: »Nein, eine vereinte Menschheitsfamilie ist kein Traum. Sie ist schon heute im Werden begriffen. Gehörst auch du dazu?« (Wachtturm vom 15. Juni 1984, S. 19).

Unübersehbar – Jehovas Zeugen verwenden den Terminus »Menschheitsfamilie« genauso gut wie das Freimaurertum und die New-Age-Bewegung.

Der Begriff »Menschheitsfamilie« ist jedoch unbiblisch. Der Terminus taucht lediglich in Ideologien auf, deren Ziel es ist, ein antichristliches Friedensreich, einen humanitären Menschheitstempel oder ein irdisches Paradies aufzurichten.

Christus sprach nirgends von einer Menschheitsfamilie, aber er sprach von seinen Brüdern. Wer ist das? ». . . wer sind meine Brüder? . . . Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester« (Mt 12,48.50).

Das ist genau das Gegenteil von dem, was einst Philipp Potter, ehemaliger Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen formulierte: »Eine Christenheit, die aus der Bruderschaft mit Christus lebt, sucht die Bruderschaft mit allen Menschen . . .«

Eine Bruderschaft aller Menschen mit Christus ist, wenn auch noch so gut gemeint, utopisch und unbiblisch. Christus hat das auch nie behauptet. Eine Bruderschaft mit Christus entsteht nur durch Wiedergeburt (Joh 3,3.5.7). Danach sind alle jene »Leib Christi« oder »Gemeinde«, aber niemals »Menschheitsfamilie«.

Schlusswort: Die Berührungspunkte zwischen Jehovas Zeugen, Freimaurern und New Age wurden in meiner Darlegung deutlich. Wenn es auch innerhalb der drei Ideologien noch etliche unterschiedliche Auffassungen gibt, stimmen sie jedoch in ihren Maximen überein. In über 21 gleichlautenden Begriffen, Lehrmeinungen und Zielen ist Kongruenz deutlich erkennbar. Vor allem wollte ich deutlich machen, dass es sich bei den drei Systemen nicht um biblische Anschauungen handelt, sondern um antichristliche Ideologien.

Erich Brüning, 1993.

 

Die Hervorhebungen im Text sowie ein leichte Kürzung wurden von mir vorgenommen.

Horst Koch, Herborn, im Juli 2015

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Frommer Betrug (A.Seibel)

LÜGEN ZUR EHRE GOTTES?

Nach dem Scherbenhaufen, der durch das Doppelleben von Todd Bentley entstanden war, schrieb Lee Grady, selbstkritischer Herausgeber der amerikanischen Zeitschrift „Charisma“: Ein bekannter pfingstlicher Evangelist… sagte zu mir: „Jetzt bin ich davon überzeugt, dass ein großer Teil der charismatischen Bewegung dem Antichristen folgen wird, wenn er auftreten sollte, denn sie haben kein geistliches Unterscheidungsvermögen“ („Life After Lakeland: Sorting out the Confusion“ http://fireinmybones.com/, 13. August, 2008).

In ideaSpektrum wurde vor einiger Zeit berichtet, wie in einer der größten Pfingstgemeinden Australiens sich der Jugendpastor Michael Guglielmucci als Lügner herausgestellt hat. Er hatte eine Krebserkrankung zwei Jahre lang vorgetäuscht, um sein eigentliches Problem, eine langjährige Pornosucht, zu verschleiern (ideaSpektrum 36/08, S. 35).

Einer der bekanntesten Pfingstevangelisten der 70er und 80er-Jahre, Jimmy Swaggart, hatte ähnliche Probleme. Bei seiner Geistestaufe als Teenager hatte er eine Vision, die sich offenbar erfüllte. Jahre später musste er nach peinlichen Enthüllungen bekennen, eine bald lebenslange Abhängigkeit von Pornographie zu haben, weswegen er auch öfters zu einer Prostituierten ging.

Eine tragende Gestalt der neuen Prophetenbewegung mit erstaunlichen Eingebungen war Paul Cain, der Mann von dem John Wimber sagte, er sei der Prophet, der sich nie geirrt habe. Später stellte sich heraus, dass er Homosexueller und Alkoholiker ist.

Roberts Liardon, der in seinem Buch „Gottes Generäle“ große pfingstliche Wunderheiler und – heilerinnen vorstellt, bekam wegen homosexueller Beziehungen zu seinem Jugendpastor für drei Monate Kanzelverbot. Dabei ist dieses Buch – Liardon sieht diese „Wundertäter“ überwiegend positiv und setzt nur hin und wieder Fragezeichen – eigentlich eine erschütternde Dokumentation der Verirrungen und Entgleisungen dieser angeblichen „Generäle“. Eine dieser erwähnten „glorreichen“ Gestalten ist William Branham. Der oben schon zitierte Lee Grady klagte in diesem Zusammenhang: Branham geriet in eine fürchterliche Verführung am Ende seines Dienstes, bevor er im Jahre 1965 starb. Er behauptete von sich, er sei die Reinkarnation von Elia – und bis heute gibt es Nachfolger von ihm in einer sektenartigen Gruppierung. Als Bentley der Welt ankündigte, dass derselbe Engel, der die Heilungserweckung (unter Branham) in den 1950er Jahren brachte, nun auch in Lakeland erschienen war, wäre es für seine gesamte Zuhörerschaft an der Zeit gewesen, den Raum fluchtartig zu verlassen (Ibid).

Erfundene Heilungsberichte und andere langjährig gepflegte Unwahrhaftigkeiten sind leider nicht so selten in manchen „übergeistlichen“ Kreisen. Allerdings nicht nur dort.

Evangelikale Missionare nennen dies „Transcedental Trickery“, wo man meint, mit erfundenen Wundern und Heilungen dem „Glauben“ nachhelfen zu können.

Ein trauriges Beispiel ist die Mutter von David Berg, die mit einer erdichteten Wunderheilung gleich mehrere Gemeinden gründete. Scheinbar sieht es so aus, als ob dieses „Rezept“ funktionierte. Man erfinde z.B. ein Heilungs- oder anderes Wunder bzw. übertreibe mehr oder weniger kräftig und „Gemeinde-wachstum“ stellt sich ein (Deborah Davis, „Die ungeschminkte Wahrheit“, Verlag Schulte + Gerth, 1985).

Doch Gott lässt sich bekanntlich nicht spotten. David Berg nahm später den Namen Mose David an und wurde der Gründervater der „Children of God“. In dieser Bewegung nun kam diese Vorstellung, dass der Zweck mehr oder weniger die Mittel heiligt, zu seiner schlimmsten Ausprägung. Mose David schickte seine weiblichen Jüngerinnen zwecks „Flirty Fishing“, d.h. zur Prostitution, auf die Straße, um, wie es genannt wurde, „ein Köder für Jesus zu sein.“

Diese tragische Entwicklung haben die weltlichen Medien natürlich genüsslich aufgegriffen und nur Gott allein weiß, wie viel Schmach und Schande dies auf den Namen unseres Erlösers gebracht hatte.

„Wahrhaftigkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man nicht mit ihr“, dies scheint auch, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, die Devise von Kathryn Kuhlman gewesen zu sein, von der sogar behauptet wurde, sie habe wie kaum jemand anders den Weg für den heiligen Geist bereitet. Durch sie wurden Heilungsdienste und vor allem das Phänomen des Erschlagenwerdens im Geist Ende der 60er-Jahre auch in der evangelikalen Welt populär.

So schreibt ihr Biograph und Anhänger, Jamie Buckingham: Es war für sie ein besonderes Vergnügen, wenn sie die Presse hereinlegen konnte… Sie hatte, obwohl bereits sterbenskrank, den Arzt in bezug auf ihr Alter angeschwindelt. Bis zu ihrem Ende blieb dieser Stolz bestimmend in ihrem Leben… (Jamie Buckingham, „Kathryn Kuhlman“, Verlag Johannes Fix, 1979, S. 16).
Das war ein unerklärlicher Zug an ihr, den sie bis zu ihrem Tod beibehielt. Selbst als sie schon Endsechzigerin war, bestand sie noch darauf, daß ihr Radioansager sie mit den Worten ankündigte: „Und nun Kathryn Kuhlman, die junge Frau, auf die sie alle gewartet haben“ … Kathryn war eine Einzelgängerin. Sie lehnte jeglichen Rat ihrer Freunde ab. Unterordnung war ihr etwas Fremdes, besonders wenn es sich um einen Mann oder um eine Gruppe von Männern handelte, denen sie sich unterordnen sollte (Ibid., S. 83 u. 85).

Gravierender ist die Tatsache, dass sie wegen ihrer zerbrochenen Ehe mit dem geschiedenen Pfingstprediger Burroughs Waltrip ihre Umwelt einfach anlog. Als sie von Robert Hoyt vom Akroner „Beacon Journal“ interviewt wurde, leugnete sie, jemals verheiratet gewesen zu sein. „Wir waren nie verheiratet. Ich habe nie ein Ehegelübde abgelegt“,… Drohend erhob sie den Finger und schrie den Reporter an: „Das ist die Wahrheit, so wahr mir Gott hilft“ (Ibid., S. 132).

Ein trauriges Rekordbeispiel ist Peter Popoff. Dieser pfingstliche Heilungsevangelist behauptete, besondere Eingebungen und Worte der Erkenntnis von Gott zu erhalten und nannte sich ein Prophet mit der Gabe der Heilung. Popoff konnte erstaunliche Details über die Personen offenbaren, die Heilung und Hilfe suchten. Name, Anschrift, Alter, detaillierte Krankheitsbefunde usw., bis sich herausstellte, dass er einen winzigen Funkempfänger im Ohr versteckt hatte und seine Frau ihm diese Daten zufunkte. Enttarnt wurde er nicht von einem der vielen tausend mehr oder weniger charismatischen Teilnehmer, von denen etliche womöglich sich der Gabe der Geisterunterscheidung rühmten, sondern von einem Atheisten namens James Randi. Bekanntlich sind die Kinder der Welt klüger als die Kinder des Lichts (Luk. 16,8).

Randi hatte es sich zur Aufgabe gemacht, solche Wunderheiler näher unter die Lupe zu nehmen. 1987 schrieb er eine Art Standardwerk zu dieser Thematik, The Faith Healers (Richard Mayhue, „Dein Glaube hat dich geheilt“, CLV, S. 35 – 37). Als Randi dann seine Entdeckungen wegen dieser Betrügereien bekannt gab, hieß es von Popoffs Seite: He is from the devil (Er ist vom Teufel). So reagieren übrigens oft übergeistliche Wunderheiler, wenn man ihre „Zeichen und Wunder“ in Frage stellt.

Doch selbst nach dieser Enttarnung schaltete die amerikanische Zeitschrift Charisma ganzseitige Anzeigen und Christen schickten weiter Gaben an diesen „Mann Gottes“. Warum sind nur so viele Gläubige so erschreckend leichtgläubig?

Ein anderer Pfingstheiler, der dem Glauben mit unlauteren Mittel nachhelfen wollte, war W.V. Grant. Auch er konnte Leute mit ihren Namen herausrufen, Beine verlängern und andere, scheinbar erstaunliche Wunder vollbringen. Doch alles stellte sich als fingiert heraus. Schauspieler im Publikum mimten Krankheiten und dann Heilungen, Leute, die wunderbarerweise aus dem Rollstuhl aufstanden, konnten sich auch ohne Rollstühle fortbewegen, wie sich später herausstellte usw. (CIB Bulletin, Jan. 1992).

Solche “Rollstuhlheilungen” während einer Massenevangelisation erfreuen sich allgemeiner Beliebtheit. So erzählte mir ein Afrikamissionar, den ich kürzlich nach Tansania begleitete, wie seine Kinder Augenzeugen einer Evangelisation von Reinhard Bonnke in Nairobi waren. Sie saßen auf einer Empore mehr am Rande und registrierten, wie eine gesunde Person sich in einen Rollstuhl setzte und nach vorne zur Bühne geschoben wurde. Unter großer Begeisterung und freudigen Hallelujarufen sprang der „Geheilte“ aus seinem Stuhl. Daraufhin haben sich viele „bekehrt“.

Die Kinder waren empört und sprachen den Repräsentanten von Bonnkes Missionswerk, CfaN (Christus für alle Nationen), darauf an, dass dies doch Betrug sei. Doch der Befragte hatte mit dieser Art „Verkündigung“ keine Probleme. Schließlich bewirke und stärke dies ja bei vielen den Glauben.

Pastor Helmut Weidemann, der einmal eine Wunderheilung, die sich hier in Deutschland durch Reinhard Bonnke ereignet haben soll und groß hinausposaunt wurde, objektiv und medizinisch belegt haben wollte, kommentierte später etwas resignierend: „Ich habe noch nie so viel Unwahrhaftigkeit angetroffen“.

Über Benny Hinn war sogar in „Aufatmen“ in Zusammenhang mit seinem Buch über den Heiligen Geist und Heilungen zu lesen: Ein Sprecher des betreffenden Krankenhauses hält Hinns Aussagen für eine Fälschung. Es gäbe weder medizinische Aufzeichnungen noch Aussagen damaliger und heutiger Mitarbeiter, die diese Angaben bestätigen könnten („Aufatmen“, 2/96 S. 77).

Auch die Geschichten des „Heavenly Man“ Yun haben sich inzwischen mehr als Phantasia und Betrug denn als Tatsachen herausgestellt, doch der Chinese Yun ist durch dieses Buch berühmt und wohlhabend geworden.

Man könnte diese Liste leider noch ziemlich, bald endlos, fortsetzen. Dies soll auf keinen Fall heißen, es träfe Täuschung und Verführung nun bei allen Anhängern dieser Strömung zu. Der oben erwähnte Lee Grady und manche andere wehren sich heftig gegen diese Unwahrhaftigkeit in den eigenen Reihen.

Auch gibt es infolge der endzeitlichen Entwicklung in nichtcharismatischen Kreisen immer mehr Unwahrhaftigkeit, Doppelmoral und Heuchelei. Man muß leider zur Kenntnis nehmen, wie in unseren Tagen sich der Geist der Lüge in Welt, Kirche und Gemeinde immer mehr ausbreitet und man hat den Eindruck, die Leute, einschließlich mancher Frommen, wollen betrogen werden.

Doch bei der populären Hierarchie und besonders bei den TV-Wunderheilern und „Erweckungspredigern“, wird man nun tatsächlich an eine Feststellung von Elias Schrenk, dem Bahnbrecher der Evangelisation auf deutschem Boden, erinnert, der im Zusammenhang mit der damals einbrechenden Pfingstbewegung konstatierte:  Ich würde mich freuen über eine Bewegung, die man reinigen kann, daß sie sich als eine göttliche Bewegung legitimierte. Aber ich bin fest überzeugt, daß man eine Bewegung nicht reinigen kann, in der so viel Lüge offenbar wurde wie in dieser Bewegung (Paul Fleisch, „Geschichte der Pfingstbewegung“,  Francke-Buchhandlung GmbH, 1983, Seite 169).

Gerade wenn man sieht, wie man versucht, die offensichtlich nicht eingetroffenen Prophezeiungen, die vollmundig im Namen des Herrn abgegeben wurden, zurechtzubiegen und so lange zu frisieren, bis es doch noch irgendwie stimmen könnte, kann man sich des Eindrucks nicht entziehen, daß hier eben nicht der Heilige Geist, der bekanntlich ein Geist der Wahrhaftigkeit ist, am Wirken ist.

Reinhard Bonnke beispielsweise, der bei seiner Feuerkonferenz in Frankfurt die große Geistesausgießung für Europa und Deutschland angekündigt hat. Was sich tatsächlich seither ereignete, war eine Geisterausgießung. Europa erlebt einen beispiellosen Okkult- und New-Age-Aufbruch. Doch man windet sich nach allen Richtungen und zieht fast alle Register der Verschleierung, nur um nicht zugeben zu müssen, daß man in Wirklichkeit ein Falschprophet ist.

Auch Volkhard Spitzer verstand es meisterhaft, seine Prophezeiung von dem angeblich gefüllten Berliner Olympiastadion – es kam dann ziemlich anders – zurechtzurücken und seine betrogenen Fans zu beruhigen.

Es erinnert an die Klage von Richard Krüger, ehemaliger Direktor des pfingstlichen Theologischen Seminars Beröa. Die Propheten gestünden selten oder kaum Irrtümer, Übertreibungen oder überhöhte Wunschvorstellungen ein (ideaSpektrum 4/2002).

Doch Gottes Wort sagt „die Propheten… haben Truggesichte und wahrsagen ihnen Lügen; sie sagen: »So spricht Gott der HERR«, wo doch der HERR gar nicht geredet hat“ (Hes. 22,28).

Alexander Seibel

info@horst-koch.de




Der Holocaust – Wo war Gott? (A.Katz)

Arthur Katz

Der Holocaust – Wo war Gott?



– Folgend Auszüge aus diesem Buch. Für meine Webseite. Von Horst Koch, Herborn, im Frühjahr 2024 –

Vorwort von A. Katz
Ich empfinde durchaus eine gewisse Unruhe, wenn ich Ihnen diese Gedanke über das geschehen, das unsere Epoche am stärksten geprägt hat, vorlege – Gedanken über den Holocaust.
Doch wir wollen es wagen, die Frage zu untersuchen, die in diesem Zusammenhang die wichtigste ist und die doch so wenig gestellt wird: Wo war Gott?

Es ist offensichtlich, daß jeder der diese Frage bisher gestellt hat, erfahren mußte, daß herkömmliche Ansichten, die für viele andere Erklärungen ausreichte, im Angesicht dieses Ereignisses ihre Relevanz verloren. Hier stehen wir vor der Wahl, entweder unseren unzureichenden Glauben aufzugeben oder zu einer neuen Dimension der Erkenntnis Gottes vorzudringen.

Diese wichtige Frage unbeachtet zu lassen, wäre ein schlechter Dienst an den Opfern. Unser Menschsein würde dadurch einer Fähigkeit beraubt, nämlich nach dem letzten Sinn der Dinge im Angesicht scheinbarer Sinnlosigkeit fragen zu können. Ich wage zu behaupten, daß der niederschmetternde Verfall sittlicher Zivilisation im letzten halben Jahrhundert darauf zurückgeführt werden muß, daß wir versäumt haben, diese Frage zu untersuchen und uns den Konsequenzen stellen. In meinem Anliegen werde ich durch eine bemerkenswerte Äußerung des bekannten schottischen Geistlichen Oswald Chambers ermutigt, dessen Andachtsbuch „Mein Äußerstes für Sein Höchstes“ Generationen von Lesern zum Segen geworden. Im Eintrag für den 29. Juli heißt es u.a.:
„Es besteht ein Zusammenhang zwischen den seltsamen Führungen Gottes und dem, was wir von Ihm wissen, und wir müssen lernen, die Geheimnisse des Lebens im Lichte unserer Erkenntnis Gottes anzulegen. Ehe wir der dunkelsten, schwärzesten Tatsache voll ins Gesicht sehen können, ohne dabei Gottes Wesen zu verunglimpfen, kennen wir Ihn nicht.“

So widme ich dieses erste Herantasten jenen mutigen lesen, die bereit sind, „hinzutreten“, um diesen brennenden Busch zu betrachten, der vom Feuer nicht verzehrt wird. Ich verstaue darauf, daß inmitten dieses Busches immer noch derselbe Gott ist, der auch Mose rief näherzutreten, als Er sah, daß Mose sich umwandte, um zu sehen – und daß Er Sie ebenso rufen wird.
Arthur Katz

EINLEITUNG
Die Frage nach dem Holocaust, der systematischen Vernichtung der Juden in Europa, war von zentraler Bedeutung für meine Persönlichkeitsbildung als moderner Mensch. Schon als Atheist wußte ich intuitiv, daß der Schlüssel zur Sinnfrage menschlicher Existenz und dem Elend des Lebens in den Gräbern der Opfer zu suchen war.
Als moderner Jude, der in New York City aufgewachsen war und der als jungen Mann den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, war mein ganzes Leben von Jugend an ein existentieller Schrei nach Wirklichkeit und Sinn. Doch die Statistiken des Holocaust ließen sowohl mein Weltbild, wie auch das anderer Juden, vollkommen zusammenbrechen.
Die Gedanken an den Holocaust beschäftigten mich viele Jahre meines Lebens, und ich wollte verstehen, wie es geschehen konnte, daß wir derart systematisch vernichtet worden waren, und das nicht durch irgendein primitives, unkultiviertes Volk, sondern durch eine der in Kultur und Bildung fortschrittlichsten Nationen der ganzen Erde, die Deutschen. Es war zudem ein Volk, mit dem uns eine lebenslange Liebesbeziehung verbunden hatte. Ja, man war damals unter der jüdischen Bevölkerung sogar so weit gegangen, Deutschland als die messianische Alternative zu preisen. Viele Juden hatten gedacht, wenn die ganze Welt so wäre wie die deutsche Kultur, dann wäre es dem Kommen des Messias gleichwertig.

Schon lange zuvor hatten wir die biblische Erwartungshaltung verloren und gaben uns mit etwas zufrieden, das rein ethisch, moralisch und kulturell beeindruckend war Daß wir dann gerade durch diese Nation so brutal und bestialisch vernichtet wurden, ist eine Tatsache, die wir bei unseren Überlegungen nicht übersehen sollten. Hier ist eine Aussage enthalten, die für uns eine tiefgehende Lehre sein könnte. Und die Tatsache, daß wir diese Belehrung weder gesucht noch erhalten haben, macht es beinahe unausweichlich, daß wir eine derartige Erfahrung noch einmal machen werden.
Der Holocaust ist ein unverdauter Brocken und nach wie vor der bedeutsamste Faktor im modernen jüdischen Leben – allein schon wegen des unfaßbaren Ausmaßes des Geschehens.  . . .

Wenn wir die Bedeutung dieses Geschehens nicht sorgfältig untersuchen und verstehen, wird sowohl das jüdische Volk als auch die Menschheit insgesamt unermeßlichen Schaden erleiden.

Leiden hat eine Eigenschaft, die uns wie nichts anderes die Türen zu Wahrheit und Realität eröffnen kann.  . . .

Es gibt kein Geschehen in der Geschichte, das mehr beschriebenes Papier und Literatur hervorgebracht hätte und intensiver erforscht worden wäre als der Holocaust.  . . .  Aber es gibt kaum Literatur, die der Frage nachgeht: „Wo war Gott in all dem, und warum hat Er das zugelassen?“

Wir können sagen wie es im einzelnen geschah, aber wir können nicht erklären, warum. Wir müssen erkennen, daß es einen großen Unterschied zwischen diesen beiden Fragen gibt. Auf die Frage nach dem „Wie“ können wir eine Antwort geben. Die Historiker haben die Überreste sortiert und haben umfangreiche Studien angestellt, nur um zu zeigen, wie alles gemacht wurde. Sie können sogar auf ein „Warum“ antworten, soweit es den Aufstieg des Nationalsozialismus und Hitlers Antisemitismus und seinen Haß auf die Juden betrifft. Doch das beantwortet nicht die eine große Frage, und meines Wissens gibt es bisher keine Literatur, die eine zufriedenstellende Antwort zu geben vermag.
Eine der Tatsachen, die der Holocaust ans Licht bringt, ist, daß wir in naiver und oberflächlicher Weise traditionelle Vorstellungen über Gott gutgeheißen haben. Solche Vorstellungen haben in uns ungeheure emotionale geistige und geistliche Umbrüche geschaffen. Doch als der Gott, den wir in unserer Vorstellung akzeptieren, sich mit Macht als der Gott hätte erweisen sollen, der fähig ist einzugreifen – blieb er stumm.

Das wirft die Frage auf, ob wir es entweder mit einem Gott zu tun haben, der moralisch unvollkommen, weil gleichgültig gegenüber dem Leiden, insbesondere seines eigenen Volkes ist, oder mit einem Gott, der nicht die Macht hat einzugreifen, oder einfach mit einem Gott, den es nicht gibt.

Wir werden als ein hochbegabtes Volk und als Urheber vieler Bücher angesehen. Wir werden „Das Volk des Buches“ genannt; aber das große Paradoxon ist, daß wir das Buch, für das wir berühmt sind, am wenigsten kennen! Selbst wenn wir zu den Religiösen unseres Volkes gehören, kennen wir es nicht so, wie wir es kennen sollten. Wir haben uns mehr mit den rabbinischen Kommentaren als mit dem Buch selbst befaßt. Wir können einfach nicht den Glauben aufbringen, daß der Gott, der dieses Buch inspirierte, es auch zu unserem rechten Verstehen selbst auslegen kann. Wir müssen daher erst einmal damit beginnen, die Frage der Katastrophen in unserer Geschichte einschließlich des Holocaust – und die Aussicht auf weitere Katastrophen – im Lichte dessen zu sehen, was geschrieben steht.
Unsere heiligen Schriften sind umfassend und eindeutig. Jedoch von den vielen, die sich den Kopf zerbrochen haben, um die Bedeutung dieser Katastrophe zu ergründen, haben sich nur sehr wenige mit unserer Heiligen Schrift beschäftigt, um dort eine Erklärung zu finden. Statt dessen bauen wir Holocaust- Museen in der Hoffnung, so ein weiters Unglück dieser Art abwenden zu können. . . . Das zeigt, wie sehr wir uns mit unseren religiösen Überzeugungen verirrt haben. . . .

Kapitel 1

Eine Deutung des Holocaust

Der Holocaust sprengt die Grenzen unseres gewöhnlichen Vorstellungs-vermögens. Hier werden uns Sachverhalte vor Augen gestellt, mit denen wir uns freiwillig niemals auseinandergesetzt hätten, wären sie uns nicht durch die überaus schmerzhaften Ereignisse der jüngeren Geschichte aufgezwungen worden.
Der Gegenstand der Betrachtung ist von solchem Gewicht, so tiefgründig und heilig, daß sich unwillkürlich die Frage erhebt, ob man dieser Aufgabe überhaupt gewachsen ist. Doch es ist unausweichlich, Menschen zumindest mit dieser einen Tatsache zu konfrontieren, daß Gott, wenn Er denn Gott ist, der einzige ist, der eine Vernichtung von solch schrecklicher reichweite zulassen konnte. Wenn sich ein Geschehen von solchen Ausmaßen in der Geschichte ereignet, dann ist es von enormer Tragweite, ob wir eine Interpretation desselben wagen oder unterlassen. Nichts könnte tragischer sein, als dieses Geschehen so zu verstehen, wie Gott es beabsichtigt hat. Meine Hoffnung mit diesem Buch ist, hier zu einem Verständnis zu gelangen, das mit Gottes Sicht übereinstimmt.

Als ein empörter Jude, mit einem glühenden Haß0 auf die Deutschen,, besuchte ich in den frühen Fünfzigerjahren Dachau. Das dortige KZ-Gelände war damals noch in ziemlich genau dem gleichen Zustand wie zum Ende des Krieges. . . . Nach diesem Erlebnis gab es für mich nur noch „Böse“ – und ich war einer von ihnen.
Der Holocaust ist ein vernichtender Schlag gegen jede Vorstellung, das 20. Jahrhundert sei ein Zeitalter des Fortschritts und der menschlichen Vervollkommnung oder die Erfüllung von irgend etwas, worauf die Menschen von jeher gehofft hatten. Der Schlag traf umso härter, als es eine der aufgeklärtesten Nationen der Welt war, die den Holocaust geplant und durchgeführt hatte. Das war der eigentliche Todesstoß. Wäre dies alles von einem unzivilisierten Volk grobschlächtiger Barbaren verübt worden, wäre der Verstand vielleicht eher in der Lage, es zu fassen. Deutschland in dieser Rolle zu sehen, konfrontiert uns jedoch mit einem unfaßbaren Widerspruch. Für diejenigen freilich, die bereit sind, sich mit diesem Widerspruch zu beschäftigen, liegen darin die tiefsten Offenbarungen über den Zustand des Menschen und über Gott verborgen.

Die weltweite Gemeinschaft der Juden war nach dem Holocaust innerlich so zerstört, gelähmt und im Tiefsten erschrocken, daß aus ihrem Kreis in den darauf folgenden zwanzig Jahren keine bedeutende Literatur zum Thema hervorgegangen ist. Erst danach konnten wir uns aufraffen, Rückschau zu halten und das Geschehene zu untersuchen. Es gab sogar Stimmen unter uns Juden, die sagten, der Holocaust könne niemals beurteilt oder verstanden werden. Es läge außerhalb der menschlichen Fähigkeit, dies zu tun.
Wenn letzteres zuträfe, würde das die Tragik der Situation nur noch vergrößern. Kann es denn sein, daß Dinge in der Geschichte geschehen, die von solch einem Ausmaß sind, daß die gesamte Menschheit zu dem Schluß kommen muß, diese weder interpretieren noch verstehen zu können – und sie somit quasi der Sinnlosigkeit preisgibt? Wenn ja, dann würde dieses Zugeständnis gleichzeitig bedeuten, daß etwas in die Menschheit hineingelegt ist, das in sich selbst das Wesen der Zerstörung trägt. Die angebliche Unfähigkeit, derartige Ereignisse zu verstehen, ist ein Angriff auf unsere geistige Gesundheit und unsere Würde als Menschen. Wir bereiten damit den Boden für eine Gesellschaft zunehmender moralischer Unordnung, die zu jeder Art von Gewalttätigkeit und Gesetzlosigkeit fähig ist. Aus dem leben würde ein Chaos – ohne Ordnung, Sinn oder Zweck.
Ich bin der festen Überzeugung, daß der Respekt vor den Opfern fordert, zumindest den Versuch zu unternehmen, zu verstehen, zu erklären und zu bewerten. . . .
Eine Erklärung für den Holocaust in einer Welt ohne Gott zu finden, ist eine Sache; wieviel schmerzlicher ist es jedoch für uns, die wir glauben, daß Gott ist und Einfluß auf diese Welt nimmt, eine Erklärung zu finden. Den Holocaust nicht bis in die Tiefe untersuchen zu wollen, halte ich für eine sträfliche Nachlässigkeit. . . .

Mit anderen Worten, eine Interpretation des Holocaust verlangt nach einer Sichtweise, die über das hinausgeht, was humanistisches Denken anzubieten hat. Sie sprengt die Vorstellungen des Humanismus und verlangt nach einer Anschauung, die von oben her kommt, einer göttlichen Erklärung. . . .

Unseren gewohnten Gottesbildern, unserem Glauben und Vertrauen wurde durch den Holocaust solch ein tödlicher Stoß versetzt, daß es fraglich ist, ob wir uns tatsächlich davon erholt haben. Die Frage ist doch: Entweder gab es keinen Gott, oder Gott war in solch einer Tiefe mit diesem Geschehen verbunden, daß ein Verständnis dieses Widerspruchs und die tiefgehende Beschäftigung damit uns zu einer Offenbarung Gottes führen können, die weit über das hinausgeht, was wir bisher von Gott verstanden haben. . . .

Die Art und Weise, wie wir an ein Phänomen herangehen, sagt viel über unsere Denkweise und über unsere Wahrnehmung der Realität. Wenn wir mit Gott auf der Grundlage unserer eigenen eingeschränkten Ansichten in Beziehung treten wollen, dann leben wir außerhalb der Wirklichkeit. . . . Gott ist die Grundlage aller Realität. Doch nicht, was wir über Ihn denken zählt; maßgeblich kann nur sein, wie Er selbst Seinen Charakter offenbart hat, auch in der harten Behandlung Seines eigenen Volkes und den darauffolgenden Gnadenerweisen. Der Holocaust ist eine eindringliche Lehre für Zeit und Ewigkeit!

Wer von uns Juden hätte das Wort „Gott“ jemals auf eine Weise gehört, die uns veranlaßt hätte, Ihn mit ehrfürchtiger Aufmerksamkeit in unser Leben einzubeziehen, oder die nahegelegt hätte, Ihn als Schöpfer zu erkennen und zu verstehen?
Oder wer hätte gar gehört, daß Er etwas mit unserer Geschichte und unserer Berufung als Volk zu tun haben könnte?
Wir kennen unsere eigenen Propheten nicht. Gottes Anklage gegen uns lautet daher auch, daß wir aus Mangel an Erkenntnis Seiner selbst umkommen (Hosea 4, 1-6).
„Höret das Wort des Herrn, ihr Söhne Israels! Denn der Herr hat zu rechten mit den Bewohnern des Landes, daß so gar keine Treue und Gotteserkenntnis im Lande ist. Man schwört und lügt, man mordet und stiehlt . . . Mein Volk wird vernichtet, weil es keine Erkenntnis hat, . . . denn du hast die Weisung deines Gottes vergessen, so will ich auch deiner vergessen.“

Wir leben nicht nur himmelweit entfernt von der Denkweise der Propheten und der Segnungen und Flüche des Bundes aus dem 5. Buch Mose, wo es heißt: „erwählt euch heute Leben oder Tod“ – sondern wir haben uns von der biblischen insgesamt entfernt. Unser Denken ist ganz auf das Menschliche und auf diese Welt konzentriert, und Gottes Sichtweise, Seine Kategorien sind uns fremd. Wir sind unfähig, unser Unglück in Seinem Licht zu untersuchen, und daher machen wir entweder allein Hitler und das deutsche Volk, oder gar Gott selbst dafür verantwortlich.


Kapitel 2

Der Gott des Gerichts

Der Holocaust wirft große Fragen auf:
• Warum hat Gott inmitten unserer unaussprechlichen leiden nicht eingegriffen?
• Wo war damals der angeblich allgegenwärtige und allmächtige Gott?
• Wie kann es wahr sein, daß der langerwartete Messias bereits gekommen sein soll, wie die Christen uns erzählen, wenn Er doch die teilweise Vernichtung Seines eigenen Volkes geschehen ließ?
• Wo bleibt das Erbarmen des neutestamentlichen Gottes, wenn so etwas in der heutigen Zeit unter der Federführung einer „christlichen“ Nation – dem Deutschland der Reformation – stattfinden konnte?
• Was für ein Gott ist das, den wir als gerecht und barmherzig vorgestellt hatten, und der all dem Grauen zugesehen und es zugelassen hat?

Ich hatte begonnen, mich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen; Fragen, die letztlich in einer einzigen zusammengefaßt werden können:


Warum hat Gott hierzu geschwiegen? . . .

Ich sah mich vor zwei Möglichkeiten gestellt: Entweder mußte ich mit vielen Kommentatoren übereinstimmen, daß Gott tot war, oder ich mußte die Aussagen der Bibel akzeptieren, daß in irgendeiner Weise Gottes Schweigen in direktem Zusammenhang mit unserer Sünde steht. Und dann mußte ich annehmen, daß der Holocaust ein Gericht Gottes gewesen ist und nicht eine Verirrung oder ein Unfall der Geschichte, und daß das Ausmaß unseres Leidens in direktem Verhältnis zum Ausmaß unserer Sünde stehet. Es kann dann nur eine Erklärung für die Leiden des jüdischen Volkes geben – das Handeln Gottes in einem Akt des Gerichts an einem Volk, das den Weg einer wahren Beziehung mit Ihm verlassen und nicht gemäß dem Bund, den Gott mit ihnen geschlossen hat, gelebt hat. Ein Volk, das seine Berufung, ein Volk, das von der Existenz und dem Wesen Gottes zeugt, zu sein, nicht erfüllt hat!

Es ist deutlich, daß Gott in der Weltgeschichte wirkt. Er wirkt durch Menschen und Nationen und gebraucht sie als Seine Mittel zur Züchtigung. Könnte der Holocaust Sein Werk sein? Wenn ja, dann ist es wahrhaftig „Sein seltsames Tun“, Sein Gericht. Bei dem Propheten Jesaja heißt es: 
„Denn wie am Berge Perazim wird der Herr sich erheben, um seine Tat zu verrichten – seltsam sein Tun! – und sein Werk vollbringen – befremdlich sein Werk! Und nun treibt nicht Gespött, daß eure Bande nicht fester werde; denn Strafgericht habe ich vernommen von dem Herrn, über die ganze Erde.“ (Jes. 28, 21-22)

Und wenn es so ist, ist es dann nicht als Gericht die Erfüllung dessen, was Er dem ungläubigen Israel, unwillig umzukehren, für „die letzten Tage“ angekündigt hatte? Ich bin davon überzeugt, denn Gott sprach diese Warnungen bereits zu Beginn unseres Einzugs ins Gelobte Land vor Tausenden von Jahren aus, wie wir bei einem Studium im 3. Und 5. Buch Mose sehen werden.

Es ist bemerkenswert, wie sehr die Deutung des Holocaust als Gericht Gottes, Gott grundlegend als Gott erklärt und gleichzeitig eine Ehrfurcht vor Gott als Richter mit sich bringt. Und an dieser Gottesfurcht mangelt es schmerzlich in unserem modernen Bewußtsein. Wir sind ohne Sinn für Gottesachtung und Gottesfurcht aufgewachsen. Ich bin sicher, daß dies auch eine der Auswirkungen der Tatsache ist, daß so viele Fragen, die durch den Holocaust aufgeworfen wurden, unbeantwortet geblieben sind – unbeantwortet, weil wir sie nie stellen wollten. Haben wir als Juden nicht geradezu die Verpflichtung, eine Antwort bei Gott zu suchen und zu finden? Wir sollten uns daran erinnern, daß Gott, als Er einen Mann sah, der sich abwandte, um in einen brennenden Busch hineinzuschauen, und dann, gefangen von dem Anblick, sich nicht mehr abwenden wollte, rief : „Mose, Mose,! … Tritt nicht heran. Ziehe die Schuhe von den Füßen; denn die Stätte, darauf du stehest, ist heiliger Boden!“

Mose empfing Gottes Berufung, der Mittler der Befreiung Israels zu sein, als Gott sah, daß Mose sich umwandte, um zu sehen. Gott wartet darauf, daß auch wir aufmerken bei einem Busch, der immer brennt. Ein Feuer, vor dem alles, was in uns ist, naturgemäß zurückschreckt. Es ist nicht angenehm und nicht einfach, aber wenn wir uns doch nur umwenden und sehen wollten! Mose wandte sich nicht deshalb um, weil er durch ein Ereignis am Wegesrand einfach neugierig geworden war. Wir lesen, daß er wissen wollte, warum der Busch brannte und doch nicht verbrannte. Es handelt sich um ein Suchen nach der letztendlichen Erklärung dieses Feuers, in dessen Mitte Gott zu finden ist. Dieses Suchen wird uns schließlich eine Offenbarung Gottes schenken, wie wir sie in dieser Tiefe nur an diesem Ort finden können. Dieses Suchen darf keinen Stein auf dem anderen lassen, so schmerzlich der Anblick, der sich uns bietet, auch sein mag. Aber sind wir dazu fähig?
Wir schauen über manche Dinge lieber hinweg, als uns in sie hinein zu vertiefen. Wir geben uns lieber mit einer einfachen Erklärung zufrieden, als den Dingen auf den Grund zu gehen. Mose wurde seinem Volk nicht nur deshalb als Befreier gesandt, weil er Auftrag und Vollmacht erhalten hatte, sondern auch, weil er eine Offenbarung Gottes empfangen hatte, die nur aus dem Feuer des Gerichtes kommen kann. Diese Offenbarung ist die tiefste Form der Gotteserkenntnis, und ohne sie wäre Mose niemals in der Lage gewesen, ein Volk vierzig Jahre lang durch die Wüste zu führen.

Was uns fehlt, ist, daß wir Gott auch als Richter verstehen. Und wir haben einen hohen Preis dafür bezahlt, daß wir Gott nicht mehr verstanden haben. Wir erkannten Ihn weder in Gericht noch in Barmherzigkeit, weder in Strenge noch in Güte. Gottes Handeln an Israel in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nicht mehr Teil der Überlegungen, die unser Leben bestimmen, und so entbehren wir der tiefsten Offenbarung Gottes, die uns in Seinem Wort gegeben ist.

Wie stehen wir zu einem Gott, der, um Seine Macht (das heißt auch Seine Herrlichkeit) zu erweisen, bereit ist, Seinen Zorn durch Gericht zum Ausdruck zu bringen?
Was, wenn unser Gott solch ein Gott ist?
Ist Er dann immer noch unser Gott?
Was ist, wenn Gott so weit geht, Seine Macht, Seinen Namen und Seine Herrlichkeit durch Zorn und Gericht zu offenbaren?
Was ist, wenn Er nicht ein Gott ist, wie wir ihn gerne hätten, sondern so weit geht, Seinem Zorn greifbaren Ausdruck zu geben?
Biblischer Zorn oder das Gericht Gottes sind verheerend und bedeuten einen absichtlichen und offenen Angriff auf unsere feineren religiösen Empfindungen, gegen unsere Vorstellungen, wie Gott sein sollte und wie Er sich zu offenbaren habe.
Gott als Richter zu erkennen, beinhaltet eine Offenbarung, die auf keine andere Weise erlangt werden kann. Und doch ist dies unter den Eigenschaften Gottes diejenige, vor der wir instinktiv zurückschrecken. Wir können den Gott der Barmherzigkeit, Liebe und Gerechtigkeit nicht mit dem Gott in Einklang bringen, der als Richter handelt, und Not und Elend von solchem Ausmaß über die Menschheit und insbesondere über das jüdische Volk bringt. Wenn unser Gott sich jedoch tatsächlich so verhält, dann wird die schlimmste Not, die schmerzlichste Tatsache und das, was unsere Religiosität zutiefst verletzt, zur kostbarsten uns echtesten Offenbarung Gottes werden. Finden wir nicht in diesem Widerspruch, wenn wir den Dingen einmal wirklich auf den Grund gehen, die tiefste nur denkbare Offenbarung über das Wesen unseres Gottes?

Könnte es sein, daß wir den Holocaust nicht aus Gottes Sicht verstehen können, solange wir das Geschehen nicht aus der Perspektive der Ewigkeit betrachten? Nur die letztendlichen, die unvergänglichen und ewigen Dinge sind in der Lage, dem Grauen des Holocaust einen Sinn zu verleihen. Daß Gott zugelassen hat, daß sogar Babys brutal erschlagen wurden, würde völlig sinnlos erscheinen, wenn dies das ausschließliche Ende und Ziel ihres Lebens gewesen wäre. Nur die Hoffnung, einem anderen, unauslöschlichen und ewigen Feuer zu entgehen, macht solche Taten in irgendeiner Weise begreiflich. . . .

Der Holocaust kann in seinem ganzem Ausmaß nur begriffen werden, wenn er auf darüber hinausgehende Zusammenhänge hinweist.
Wie weit wird Gott gehen, um uns Menschen wieder zu einem angemessenen Bewußtsein dieser zusammenhänge zu bringen? Man muß die Frage stellen, ob die Katastrophen und Nöte unserer Vergangenheit nicht bereits Versuche Gottes waren, unsere Aufmerksamkeit zu erlangen , um uns aus unserer religiösen und philosophischen Selbstzufriedenheit aufzurütteln und um uns von einem Weg abzubringen, der zu einem nicht abzuschätzenden ewigen Verlust führen würde. Mißt Gott der Ewigkeit eine solche Bedeutung bei, daß es Ihm nicht zu unangemessen und abwegig erscheint, ein ganzes Volk durch die Feuer des Holocaust gehen zu lassen. Wenn Er dadurch andere vor dem ewigen Verderben, das von einem unauslöschlichen Feuer herrührt, zu retten vermag? Wir werden den Holocaust nicht verstehen und noch weniger in der Lage sein ihn zu erklären, wenn wir ihn nicht ebenfalls aus der Perspektive der Ewigkeit sehen. Die Ewigkeit auszuklammern, hieße, die Realität selbst zu verzerren.

Kapitel 3

Was richtet Gott?

Einmal hatte ich zu meiner Freude die Gelegenheit nach einem Vortrag mit dem bekannten Schriftsteller Eli Wiesel, einem jüdischen Friedensnobelpreisträger, zu sprechen. Er ist Überlebender des Holocaust und wahrscheinlich einer der bekanntesten Wortführer zu diesem Thema. Dabei ist er ein solch begabter Redner, daß, gäbe es keinen Gott, dieser Mann als Idealbild eines edlen jüdischen Charakters und ethisch-moralischen Feingefühls angesehen werden müßte. Er würde von allen Menschen zu Recht bewundert werden. Wenn es jedoch einen Gott gibt, dann erweist sich oft gerade das, was uns so beeindruckt, ironischerweise als unvereinbar mit Gottes Ansicht über den Zustand des Menschen. Und Gott klagt den gegenwärtigen Zustand des Menschen an. Am Ende seiner Rede fragte ich Elie Wiesel unter vier Augen: „Herr Wiesel, inwieweit wären Sie bereit, die Leiden des jüdischen Volkes während unserer ganzen Geschichte bis hin zum Holocaust als Erfüllung der göttlichen Gerichte anzusehen, vor denen in den Schlußkapiteln des 3. Und 5. Buch Mose prophetisch gewarnt wird?“ Er schaute mich einen Moment schockiert und schweigend an und antwortete dann: „Ich weigere mich, das auch nur in Betracht zu ziehen.“
Ist es nicht, als ob diese Aussage schon seit uralten Zeiten durch den Himmel hallt? Diese Summe aller menschlichen Selbsterhöhung über Gott. Der Satz beginnt bezeichnenderweise mit dem Wörtchen „Ich“. Es scheint hier gar nicht darum zu gehen, ob der vorgebrachte Gedanke richtig oder falsch ist. Vielmehr ist hier doch wohl die Rede von etwas vermeintlich Höherem als Gottes Wort, und zwar von diesem „Ich“, das die Macht hat, dem Wort Gottes zuzustimmen oder es abzulehnen. Sehen wir hier die Arroganz des Menschen, die sich mit ihren Ansichten, ihrem Denken und ihrem Willen über Gott selbst erhebt? Wenn wir uns weigern, Gottes Wort in Betracht zu ziehen, bedeutet das, daß wir uns selbst über Gottes Wort erheben, es gewissermaßen ausgrenzen. Dabei spielt keine Rolle, ob wir so an dem geschriebenen Wort handeln oder an dem „Wort, das Fleisch wurde“ – es ist die gleiche Sünde!
„Ich weigere mich, das in Betracht zu ziehen“, meinte Elie Wiesel. „Denn“, so kann man den Gedanken wohl weiterverfolgen, „sollte ich das in Erwägung ziehen, dann hieße das, die philosophischen, ideologischen und religiösen Grundlagen, die ich mir gebaut habe, und durch die ich mich selber definiere, einzureißen. Ich befinde mich in der Rolle eines geehrten Menschen, gefeiert von der jüdischen Gemeinschaft und der intellektuellen Welt. Meine gesamte Weltsicht würde zusammenbrechen, wenn ich das in Betracht zöge. Darum weigere ich mich. Ich kann es mir nicht leisten. Diese negative Auffassung über den jüdischen und menschlichen Zustand kann ich nicht mit meinem Stolz vereinbaren. Außerdem ist es in unserem aufgeklärten Zeitalter sowieso undenkbar, daß solch unvorstellbare Grausamkeiten durch die Hand Gottes geschehen sein sollen. Menschlich gesehen ist so etwas undenkbar.“ Ist es nicht gut möglich, daß dies die Gedanken eines Mannes im Tiefsten seines Herzens sind, wenn er einem Dilemma gegenübersteht, das so weitreichend und erschütternd ist?
Wenn ein Mann, der die Erfüllung der Ankündigungen aus dem 3. und 5. Buch Mose selbst erlebt hat – einschließlich der Auslöschung seiner eigenen Familie – nicht bereit ist, dies in Betracht zu ziehen, auf was sollen wir dann hoffen? „Selbst wenn Gott das alles gesagt haben sollte, weigere ich mich dennoch, es in Erwägung zu ziehen.“ Meinen wir, daß Gott sich von solchen Äußerungen beeindrucken läßt? Spottet Er nicht vielmehr über unsere schwächlichen Anmaßungen? Als ob wir durch unsere Weigerung Gottes Beschlüsse unwirksam machen könnten! Ist so ein Gedanke nicht die absolute Selbsterhöhung des Menschen über Gott? Dabei spiegelt unsere Einstellung zum Wort Gottes letztendlich auch unsere Haltung gegenüber Gott selbst wider. Wer Gottes Wort ablehnt, lehnt Gott ab. Wir können nicht irgendwelche erhabenen Ansichten über Gott pflegen und gleichzeitig Sein Wort verachten. Der Gott, den wir verehren, ist dann nicht der Gott der Bibel, sondern der Gott unserer eigenen Vorstellung – und das ist tragisch. Wir können eine ganze Kultur um diese Täuschung herum aufbauen, aber am Ende wird uns diese Lüge töten, wie es ja auch geschehen ist. Es ist wie damals, als Elia die Propheten des Baal konfrontierte und sie aufforderte, ihren Altar zu bauen und ihren Gott anzurufen. Auch Elia wollte dann seinen Gott anrufen. Er rief aus: „Und der Gott, der mit Feuer antwortet, der ist der wahre Gott!“ Die falschen Propheten gingen darauf ein, weil sie wirklich glaubten, daß ihr Gott antworten würde. Darin zeigt sich die ganze Tiefe ihrer Verblendung. Den ganzen Nachmittag sprangen sie um ihren Altar herum. Aber da war keine Antwort, obwohl sie fest eine Antwort erwarteten. Darin besteht ja gerade die Täuschung, daß man nicht einmal merkt, daß man verblendet ist, sondern fest davon ausgeht, daß der Gott, den man anruft, sich als der Gott erweisen wird, der antwortet.
Ist diese fehlende Bereitschaft, das Wort Gottes mit seiner klaren Verurteilung der Sünde des jüdischen Volkes und seines Abfalls vom Glauben, in Betracht zu ziehen, nicht schon in sich selbst ein Beweis dieser Abwendung vom Glauben? Gilt dies nicht um so mehr für einen Mann wie Elie Wiesel, der die vorher angekündigten Folgen erlitten hat, und dennoch die Quelle ablehnt, die zuallererst und offensichtlich die Erklärung für diese Folgen sein sollte – insbesondere für einen Juden?
Diese ablehnende Haltung, wie sie hier aus dem Munde eines so prominenten Überlebenden und Kommentatoren des Holocaust formuliert wurde, mag in sich selbst schon eine Aussage über die Gründe des Holocaust beinhalten – vielleicht sogar die entscheidende Aussage. In letzter Konsequenz ist Gottes Gericht die Ursache des Holocaust. Es ist ein Gericht über die Sünde der Selbstverherrlichung des Menschen auf Kosten Gottes, wobei die eigene Meinung über das Wort Gottes gestellt wird. Wenn der Mensch sich in solch arroganter Weise über Gott erhebt und bestimmt, was denkbar ist und was nicht – obwohl Gott selbst dazu gesprochen hat -, dann ist es dieser menschliche Stolz, den Gott richtet.
„Wehe denen, die früh am Morgen schon dem Rauschtrank nachjagen . . . aber das Werk des Herrn beachten sie nicht, und das Tun seiner Hände sehen sie nicht.“ (Jes. 5, 12)
Wir sind einfach nicht bereit, die Ereignisse in unserem persönlichen leben und in unserer Geschichte als Gottes Werk und als das Tun Seiner Hände anzusehen.
„Darum wandert mein Volk in die Verbannung unversehens; . . . Darum öffnet die Unterwelt weit ihren Rachen, es fährt hinunter Jerusalems Pracht und wer darin frohlockt“ (Jes. 5, 14).
Wenn wir Gott als einen souveränen und allmächtigen Gott ablehnen, folgt darauf Gericht. Wir sind in dieser Sache jedoch nicht ansprechbar, weil wir eine nur unzurechende Erkenntnis Seiner Selbst haben. Mit unserer Haltung widersetzen wir uns der Erkenntnis. Am Ende steht dann nicht nur das Exil und damit Konsequenzen, die auf dieses Leben beschränkt sind, sondern die Folgen reichen in die Ewigkeit hinein.
„Da wird gebeugt der Mensch und erniedrigt der Mann, und die Augen der Hochmütigen werden gedemütigt. Aber der Herr der Heerscharen wird erhaben durch das Gericht…“ (Jes. 5, 16).
„Darum, wie das Feuer Stoppeln verzehrt und dürres Gras in der Flamme zusammensinkt…, denn sie haben die Weisung des Herrn der Heerscharen verschmäht und verworfen das Wort des heiligen Israels“
Es gibt viele Texte wie diesen in der Heiligen Schrift. Und doch, wenn das größte Unheil über uns kommt, denken wir gar nicht daran, uns für eine Erklärung der Bibel zuzuwenden. Statt dessen wenden wir uns an die Soziologie, die Politikwissenschaft oder andere Hilfskonstruktionen dieser Welt, um eine Antwort auf die schrecklichen Nöte zu erhalten, die über uns gekommen sind. Doch in diesen Bereichen werden in der Regel menschliche Meinungen über Gott gestellt, und diese Erhöhung des Menschen ist der eigentliche Kern der Sünde und zugleich offensichtlich unser Dauerzustand. Oder wie sonst sollen wir es interpretieren, wenn selbst unser fähigster Wortführer sich bis heute so äußert?
Wenn der vergangene Holocaust als Spiegelbild unserer Übertretungen und Sünde gegenüber Gott nicht ausreichte, um uns zur Einsicht, zum Zerbruch und zur Umkehr zu führen, was für ein weiterer Holocaust muß dann noch folgen, um uns vor einem endgültigen und unabänderlichen Holocaust zu retten, einem Feuer, das nicht gelöscht werden kann, einem Feuer, das ewig brennt?
Wir müssen uns einmal bewußt machen, wie der Mensch Gott für seine eigenen Ziele und Zwecke einspannt; wie er einen Weg findet, die Dinge Gottes zu einem religiösen Etwas zu verformen, das mit der jeweils gewünschten Art zu leben in Übereinstimmung gebracht werden kann. Das heutige Judentum ist genau wie alle anderen Formen etablierter Religion, ein beredtes Beispiel solcher Anstrengungen. Den lebendigen Gott lehnen sie faktisch ab, während sie Ihn gleichzeitig nach außen hin zu verehren scheinen. Ist das nicht ein Schlag in das Gesicht Gottes, den Er richten muß?
Gott will, daß wir eine Vorstellung Seiner selbst haben, die der Wahrheit entspricht. Daher noch einmal die Frage: War es vielleicht das vorherige, selbstgemachte Gottesbild, das den Holocaust zwangsläufig notwendig machte? . . .

Kapitel 4 

Der Holocaust und die Geschichte Israels
Unsere Bündnisverpflichtung
Die Bibel vermittelt uns den Gedanken der Kollektivsünde und Kollektivschuld. Gott sieht manche Zusammenhänge anders, als wir es tun, und richtet ein Volk, mit dem Er einen Bund geschlossen hat als Gesamtgemeinschaft. Wir als Juden sind mit unserem Volk untrennbar verbunden. Unser persönliches Leben mag äußerst vorbildlich sein und doch sieht Gott uns als Teil des Volkes und damit auch beteiligt an dessen Schicksal. Darum haben auch die großen Propheten, die wirklich gerechte und gottesfürchtige Männer waren, wenn sie zu Gott riefen, so gesprochen, als seien sie völlig mit den Sünden ihres Volkes identifiziert: „Wir haben gesündigt! Wir haben Unrecht getan!“ (Daniel 9, 5). Unsere moderne individualistische Gesellschaft hat jedoch kein Ohr für diese biblische Sicht der Realität, nach der viele Einzelpersonen wie ein gemeinschaftliches Ganzes behandelt werden.
Wir müssen die Rahmenbedingungen kennen, unter denen Gott eine Situation beurteilt, wenn wir das jüdische Volk und seine schwierige Situation recht verstehen wollen. . . . Es ist entscheidend, daß wir verstehen, von welcher Art die Beziehung in einem Bund ist: doch ein solches Verständnis ist bei uns modernen Juden überhaupt nicht mehr vorhanden und ein deutliches Indiz dafür, daß wir die Bedeutung eines einmal geschlossenen Bundes nicht mehr erfassen, ist die sich häufende Zahl von Ehescheidungen. Das Konzept eines Bundes nach biblischem Verständnis ist vom Himmel gegeben. Ein Mensch hätte sich so etwas nicht ausdenken können.
Die Frage ist nun, ob der göttliche Bund mit Israel hinsichtlich seiner Sanktionen für den Fall des Bundesbruchs noch in Kraft ist und ob sein e Verfügungen noch bindend sind. Wo lesen wir etwas von den Bedingungen , unter dem dieser Bund aufgehoben würde? Nein, es gilt: Ein einmal geschlossener Bund bleibt in jedem Fall gültig, und wenn wir seine Segnungen und den Nutzen daraus nicht empfangen haben (weil wir uns nicht an die Bedingungen hielten), gelten dann nicht zwangsläufig die Sanktionen, die für den Fall des Bundesbruches festegelegt wurden? Das Gegenstück zu Segen heißt in biblischer Terminologie „Fluch“: Eine Verwünschung, eine Erklärung schlimmer Konsequenzen, die auf den Bundesbruch folgen.
Die Tatsache, daß wir uns unserer Verpflichtung aus dem Bund zwischen Gott und den Juden nicht bewußt sind, entbindet uns nicht von dieser Verantwortung. Am Berg Sinai ist vor Tausenden von Jahren etwas geschehen, das uns auch heute noch betrifft. Dort wurde ein Vertrag geschlossen, der auch für zukünftige Generationen bindend sein sollte, selbst wenn wir heute von den Bedingungen dieses Vertrages nichts mehr wissen. Ja, die bloße Tatsache, daß wir davon nichts wissen, ist in sich selbst bereits eine Anklage gegen uns. Wir sind noch immer an die Vereinbarungen gebunden, ,die damals im gegenseitigen Einvernehmen getroffen wurden. Weil damals ein Vertrag zwischen Gott und unseren Vätern geschlossen wurde, hat jeder Jude mit Blick auf die Bündnisbedingungen nur die Wahl, in Abhängigkeit von unserer kollektiven Beziehung zu Gott entweder den Segen oder den Fluch zu empfangen. Wir lesen im 5. Buch Mose 29, 14-15:
„Doch nicht mit euch allein schließe ich diesen Bund und diesen Vertrag, sondern sowohl mit denen, die heute mit uns hier vor dem Herrn, unserem Gott, stehen, als auch mit denen, die heute noch nicht mit uns hier sind“.
Es ist folgenschwer, daß es in unseren Reihen keine Männer gab, die uns dies gelehrt und die uns als Hirten, denen unsere Seelen in angemessener Weise am Herzen lagen, darauf hingewiesen hätten. . . .
Die Israeliten, ganz gleich welcher Generation, haben sich den Bestimmungen des Bundes verpflichtet. Das 5. Buch Mose ruft sie zu absolutem Gehorsam gegenüber den Bündnisvereinbarungen auf und warnt sie, daß all die verheißenen Segn8ungen im Fall des Ungehorsams ausbleiben würden.
Wo finden wir nun auch nur den geringsten Hinweis darauf, daß die Bedingungen des Bundes der Vergangenheit angehören und daß auch nur eine der Generationen Israels dieser Verpflichtung enthoben ist? Ist nicht das offensichtliche Fehlen der Segnungen, unterstrichen durch die zunehmende Angst, die Spannungen und die steigenden Beschränkungen im Leben der Juden, ein Anzeichen dafür, daß der Gott, der die Bedingungen dieses Bundes aufgestellt hat, immer noch Gott ist?
Wie vermessen sind wir doch, aus dieser Perspektive betrachtet – angesichts einer 2000jährigen Vertreibung, durch die bestätigt wurde, daß Gottes Ankündigungen wahr sind – zu meinem, wir könnten das Land einseitig wieder in Besitz nehmen, ohne zuvor unser Augenmerk auf den Gott vom Sinai zu richten und auf die Aufforderungen, die Er an die Erfüllung des Bundes stellt. Das Zeugnis der Bibel, unsere ganze tragische Vergangenheit in der Diaspora und die zunehmend verzweifelte Lage des heutigen Staates Israel sollten uns doch genügend Beweise dafür liefern, daß solch eine geistliche Auslegung Bestand hat und von größter Bedeutung ist.
Wie sollte heute toleriert werden, wofür wir damals verworfen wurden? Halten wir den Bund heute in besserer Weise, als wir es damals taten? Sind wir nicht gegenwärtig so weltlich gesinnt und von Gott abgewandt, daß das Wort „Bund“ heute so selten über unsere Lippen kommt wie das Wort „Gott“?
Wir sollten einmal im Detail den Text von 3. Mose 26 betrachten:
„Ihr sollt euch keine Götzen machen, und Gottesbilder und Malsteine sollt ihr nicht aufrichten…
Meine Ruhetage sollt ihr halten…
Wenn ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Gebote haltet, so werde ich euch Regen geben zu seiner Zeit . . . und die Bäume auf dem Feld ihre Früchte tragen.
Ich will euch Frieden schaffen im Lande und ihr werdet ruhig schlafen… und kein Schwert soll durch euer Land gehen.
Und ich werde mich zu euch zuwenden und euch fruchtbar machen und meinen Bund mit euch aufrechterhalten.
Ich werde meinen Wohnsitz unter euch nehmen und keinen Widerwillen gegen euch hegen
Ich werde mitten unter euch wandeln und will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein.
Ich bin der Herr, der euch aus dem Lande Ägypten herausgeführt hat, damit ihr dort nicht Sklaven wäret…“
Dieses wichtige Kapitel beginnt damit, daß Gott diesem Volk einen solch außergewöhnlichen Segen verspricht, wie keinem anderen Volk je zuvor oder seitdem. Von den Segnungen des Feldes bis zur Sicherheit des Landes ist die Fürsorge Gottes überreich und ist allein abhängig von Israels Treue zum Bund:
„Wenn ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Gebote haltet und danach tut, so werde ich . . . “ (Vers 3)
Alle aufgezählten Vorteile vergänglicher Art werden schließlich noch dadurch gekrönt, daß Gott Seine persönliche Gegenwart verspricht:
„Ich werde meinen Wohnsitz unter euch nehmen…., Ich werde mitten unter euch wandeln und will euer Gott sein . . .“ (Vers 12)
Nachdem Gott all diese guten Dinge versprochen hat, folgt denn andererseits die Ankündigung schrecklicher Folgen, wenn Gottes Gebote verworfen würden. Diese Beschreibung schrecklicher Dinge nimmt in den Versen 14 bis 46 den weitaus größeren Teil des 26. Kapitels ein:
„Wenn ihr mir aber nicht gehorcht . . . so daß ihr nicht meine Gebote haltet, und dadurch den Bund mit mir brecht . . . so werde ich mein Angesicht wider euch kehren, daß ihr von euren Feinden geschlagen werdet . . . ich werde euren Wohlstand zerbrechen . . . und eure Mühe und Arbeit soll umsonst sein; euer Land wird seinen Ertrag nicht geben und die Bäume auf dem Felde werden keine Früchte tragen . . . Euch aber will ich unter die Heiden zerstreuen . . . und euer Land soll zur Wüste und eure Städte zu Schutthaufen werden . . . und denen, die von euch übrigbleiben will ich das Herz verzagt machen in den Ländern ihrer Feinde . . .und ihr werdet unter den Heiden umkommen, und das Land euer Feinde wird euch verzehren…“
Bezeugt nicht die tragische Geschichte unseres Volkes bis in die jüngste Zeit, daß Gott Seinem Wort treu bleibt? . . .
Diese Worte der Heiligen Schrift sind so unmißverständlich klar, daß ,man sich fragen muß, warum sie nicht von Beginn an Grundlage für die Deutung von Israels Schwierigkeiten und Leiden, seien sie vergangen Gegenwärtig oder zukünftig, gewesen sind. Aus welchen Grund bilden wir uns ein, daß wir diese Worte als ungeeignet zur Erklärung verwerfen könnten? . . .
Was waren denn die Schrecken, von denen die Klagelieder des Jeremia einen solch traurigen Bericht geben, anders als eine Entfaltung des 26. Kapitels von 3. Mose in der Geschichte? . . . All das wurde ja weit vor dem Holocaust des 20. Jahrhunderts geschrieben . . . Wenn wir also angesichts all dieser Schlußfolgerungen auf den bis zum heutigen Tag unveränderten und auf keine Umkehr bedachten Zustand der weltweiten jüdischen Gemeinschaft schauen, müssen wir uns ernsthaft fragen, warum wir so leichfertig meinen, davon ausgehen zu können, daß der Fluch dieses Bundes für uns heute nicht mehr gilt. Allein der Umstand, daß wir es immer noch fertig bringen, uns über derartige Überlegungen zu entrüsten statt aufrichtige Reue und ein Verlangen nach Umkehr zu empfinden, ist doch der deutliche Beweis dafür, daß unsere Haltung unverändert ist. Wie leicht könnte Gott unsere Sicht als Juden korrigieren – nehmen wir nur einmal für einen Moment ernsthaft an, die derzeitige Sichtweise sei tatsächlich falsch -, wenn wir zunächst nur einmal zugeben würfen, daß es gute Gründe für die Annahme gibt, daß der ganze Bund mit seinen Segnungen und Flüchen immer noch gilt.
Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der schlimmsten nationalen Katastrophe Israels und dem Zorn Gottes. (Siehe 3. Mose 26) . . .
Wir müssen uns angesichts all der Verwüstungen der Vergangenheit fragen, wie erklärt werden kann, daß dieses Volk nicht völlig aufgehört hat zu existieren. Auch hierauf finden wir die Antwort in 3. M. 26:
„Wenn sie dann ihre Schuld bekennen, den Treuebruch, den sie an mir begangen haben und auch, daß sie mir widerstrebt haben, weshalb auch ich ihnen widerstrebt und sie ins Land ihrer Feinde gebracht habe-, wenn sich alsdann ihr unbeschnittenes Herz demütigt und sie alsdann ihre Schuld abtragen: 
so will meines Bundes mit Jakob gedenken . . .
 ich will zu ihrem Heil meines Bundes mit ihren Vorfahren gedenken, die ich vor den Augen der Heiden aus dem Lande Ägypten herausgeführt habe, um ihr Gott zu sein, ich, der Herr.
Das sind die Satzungen und Gesetze, die der Herr auf dem Berge Sinai durch Mose zwischen sich und den Israeliten aufgestellt hat.“
Obwohl wir Juden uns in der Vergangenheit gerühmt haben, daß wir allen Widerständen zum Trotz überlebt haben und als Volk fortbestehen, macht Vers 44 deutlich, daß dieses Überleben ausschließlich der Barmherzigkeit Gottes zu verdanken ist . . .
Es steht also für die Zukunft noch die Erfüllung einer Verheißung aus, und zwar dann, wenn das gedemütigte Herz bereit ist, die Strafe für seine Schuld zu tragen. . . .
In 3. Mose 26 läßt sich folgende Aussage Gottes erkennen: Wenn wir die Sünden der Vorväter bekennen, als wären es unsere eigenen, und wenn wir die Gerichte, die über uns kamen, als richtig und gerecht akzeptieren, dann wird Er sich zu uns wenden und Seines Bundes mit uns gedenken.
Die Sünden unserer Vorväter bleiben so lange die unsrigen, bis wir uns von diesen Sünden durch einen mächtigen Schrei unseres Herzens losreißen.
Diese Bibelstelle ist in der Geschichte noch nicht zur Erfüllung gekommen. Unserem Bewußtsein als Juden muß sich nachdrücklich einprägen, daß auch Tausende von Jahren nach den Ereignissen, wir mit unserem ganzen Volk in seinen Sünden verbunden bleiben. Wir haben uns nie wirklich von diesen Sünden distanziert, und so wurde die Verbindung zu den Sünden der Vergangenheit auch nicht durch eine Abwendung von den früheren oder das Bekenntnis unserer heutigen Sünden unterbrochen. Folglich bleiben wir Teil dieser ununterbrochenen Folge von Sünde und müssen somit auch unseren Teil an den Konsequenzen tragen. Unser beharrliches Schweigen wirkt wie eine Anklageschrift gegen uns.
Sünde ist schuldhaft
Zwei Dinge sind in diesem Zusammenhang bezeichnend für uns als Juden im allgemeinen. Einmal mangelt es uns an Sinn für die Ewigkeit, zum anderen fehlt ein Verständnis unserer Vergangenheit. Wir haben die Geschehnisse der Vergangenheit in ihrer Bedeutung nicht wirklich erfaßt. Bedenken wir doch nur: Die bloße Tatsache, daß wir in Brooklyn, Berlin oder Polen geboren wurden, ist ein deutliches und permanentes Mahnmal unserer Schande und dem Skandal, daß wir einst wegen unserer Sünden aus dem Land unserer Väter vertrieben wurden. Doch wir werten die Vergangenheit nicht als Exil. Wir haben bei unserem ruhelosen Umherwandern so viel Erfolg gehabt, daß wir darüber die Ereignisse der Vergangenheit nicht mehr richtig einordnen und bewerten konnten und sind dadurch schon gar nicht an den Punkt gekommen, von den Sünden der Vergangenheit umzukehren.
Unsere Denkweise ist absolut individualistisch. Es ist Teil unserer Grundhaltung, zu denken: „Ich bin allein für mich selbst verantwortlich.“ Wir sehen nicht ein, warum es begründet ist, ein ganzes Volk zu richten. Wenn wir Seine Worte aber recht verstehen wollen, dann erkennen wir, daß Gott uns nicht nur im Blick auf die zukünftige Bestimmung dieses Volkes sieht, sondern ebenso verbunden mit unserer Vergangenheit und unserer ungesühnten Schuld. Er wartet auf ein Eingeständnis unsererseits, damit das fortgesetzte Kontinuum der Sünde endlich unterbrochen werden kann. . . . Unser ganzes Leben wurden wir gelehrt, in Zeitabschnitten zu denken. Wir sind durch unsere Umwelt so geprägt, daß wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht als Kontinuum wahrnehmen. Darum verstehen wir auch nicht in der gleichen Weise, wie Gott sieht und versteht. In den Augen Gottes ist kein Ereignis Vergangenheit. Jedes Ereignis ist gegenwärtig.
„Was da ist, das war schon vorzeiten, und was sein wird, auch das ist vorzeiten gewesen; Gott sucht das Entschwundene wieder hervor“ (Prediger 3, 15).
Die Frage von Schuld und Sühne für die Sünde wird durch den individuellen Zeitpunkt der Geburt oder andere Zeitaspekte weder beeinflußt noch verändert. Zeit allein löst weder die Probleme, noch tilgt die Sünde. Das menschliche Gedächtnis mag wohl vergessen; aber der Gott, der über aller zeit ist und der sich immer „im ewigen Jetzt“ befindet, hält die Menschen auch heute noch für Dinge verantwortlich, die sich vor Tausenden von Jahren ereignet haben. Wenn wir uns von den vergangenen Verfehlungen nicht losgesagt haben, sind wir damit gezwungen, sie ständig zu wiederholen. Ich möchte in diesem Zusammenhang bereits auf die Entscheidung unserer Vorväter, Jesus (Jeschua) kreuzigen zu lassen, hinweisen. Wenn wir diese Entscheidung nicht widerrufen, sind wir dann nicht mit ihnen in dieser Tat verbunden? Es war eine jüdische Initiative, die Römer waren nur das Werkzeug. Unser Schweigen dazu, besonders als Juden, zu denen er ja zuerst gekommen ist, ist Ausdruck unseres Einverständnisses und macht uns mit unseren Vätern in deren Entscheidung eins.
Es gibt somit ein ununterbrochenes Weiterwirken einer Sünde, das seine Kraft behält, ganz gleich, wie lange das Geschehen auch zurückliegt. Nur wenn wir die Vergangenheit anerkennen, wenn wir bereit sind umzukehren und uns von den Sünden lossagen, können wir auch vor den tödlichen Konsequenzen, die noch in der Zukunft liegen, gerettet werden. Jede aufgehäufte Schuld, egal wie lange man sie vor sich her schiebt, verdichtet sich nur, wenn man sie ignorieren will. So kann zweitausend Jahre nach der Kreuzigung seines Messias, ein solcher Holocaust über das jüdische Volk kommen und doch in direktem Zusammenhang damit stehen. Alle früheren Nöte, die uns durch die Jahrhunderte getroffen haben, mögen andere Versuche Gottes gewesen sein, unsere Aufmerksamkeit auf diese eine Sünde zu lenken, in der alle anderen gleichsam zusammengefaßt sind und von der Gott immer noch erwartet, daß wir sie vor Ihm bekennen. Er muß über diese Sünde Gericht halten, und Er hat die Freiheit, das zu tun, wann immer Er will.
Es mutet in seltsamer Weise ironisch an, daß auf eben dieser Grundlage auch Israel die Nazi-Verbrecher bis in die Gegenwart hinein unnachgiebig verfolgt und versucht, sie der Gerechtigkeit zuzuführen. . . .
Aber, die Begründung auf die unnachgiebige Jagd auf diese Nazi-Verbrecher wird zu einer Anklageschrift, die sich gegen uns selbst richtet. Die Tatsache, daß wir als ganzes Volk den Messias abgelehnt haben, ist eine Sünde, die nicht einfach ignoriert werden kann, und die Konsequenzen sind unvermeidbar. Trotzdem ist das nicht der allein entscheidende Punkt. Vielmehr müssen wir diese Sünde als den Höhepunkt einer langen Geschichte von Israels Abwendung vom Glauben an seinen Gott ansehen. Diese Abwendung fand ihren vollendeten Ausdruck, als Gott selbst in der Gestalt des von Israel erwarteten Befreiers und Messias kam. Bis dahin waren wir bereits an den Punkt gekommen, an dem wir nicht mehr in der Lage waren, Ihn zu erkennen. . . .
Angesichts eines souveränen Gottes, wie Er in der Heiligen Schrift dargestellt wird, können wir nicht davon ausgehen, daß das, was uns in der Geschichte widerfahren ist, allein das Wirken grausamer Menschen, Antisemiten, Nazis oder Babylonier war. Vielmehr waren diese Instrumente in der Hand Gottes (doch dadurch sind sie in keiner Weise gerechtfertigt). So ist also das, was wir durch die Geschichte hindurch erlitten haben, das Gericht Gottes über die Verfehlungen unserer Väter, für die wir bis heute als schuldig befunden werden. Unser jüdisches Elend in einem jahrtausendelangen Exil, die Verfolgungen, die Pogrome, die Ströme jüdischen Blutes (schon Jahrhunderte vor dem Holocaust), unsere Flucht, unsere Zwangsbekehrungen, die Kreuzritter und die spanische Inquisition – muß das nicht alles in dem größeren Zusammenhang unserer eigenen Treulosigkeit gegenüber dem Bund, den wir mit Gott geschlossen hatten, gesehen werden? Jeder dieser Schrecken diente dann als Mittel zur Erfüllung der Urteile Gottes, weil wir „Übertreter“ waren und uns von „dem Weg“ abgewandt hatten. . . .
Die Sünde, die endlich eingestanden werden muß, ist groß. Es steht noch eine Umkehr aus, und Gott wartet darauf. Er möchte uns endlich sagen können, daß unsere Sünden vergeben sind und daß wir für unsere Übertretungen „das Doppelte“ empfangen haben. Einen zerbrochenen Geist und ein zerschlagenes Herz wird Er nicht verachten(Jesaja 40, 1; Psalm 51,19).

Kapitel 5
„Das Lied des Mose“
Es gibt nur wenige Aufsätze von seiten jüdischer Denker, den Holocaust im Zusammenhang mit den prophetischen Aussagen aus der Vergangenheit Israels zu untersuchen. . . .
Ist es nicht wahr, daß wir die Erklärung immer in unseren Umständen gesucht haben, statt bei Gott, und daher zu der Auffassung kamen, eine „Änderung der Umstände“ könnte uns vor zukünftigem Leid bewahren? Wenn es so aussieht, welche Alternative hätte Gott dann, als immer schlimmeres Unheil geschehen zu lassen? Wenn unsere Denkweise nach dem Holocaust so aussieht, wie mag sie dann wohl zuvor gewesen sein? Welche zukünftigen Gerichte stehen uns noch bevor? 
Die Orthodoxie und Frömmigkeit unseres so sehr gefeierten Judentums konnte uns schon in der Vergangenheit nicht vor dem hereinbrechenden Unheil warne! Und warum eigentlich nicht? Hatten wir nicht in der Heiligen Schrift eine klare Darstellung dessen, was in den letzten Tagen über uns kommen würde, wenn wir uns von Gott, Seinem Bund und dem Auftrag, das Volk zu sein, durch das Er sich unter den Völkern bezeugen wollte, abwenden?
Gott gab uns im 5. Buch Mose, kurz vor unserem Eintritt in das verheißene Land, eine ganz spezielle Warnung. Das 32. Kapitel wird „Das Lied des Mose“ genannt, und es sind Aussagen darin enthalten, die in meinen Augen wie kein anderer Abschnitt der Bibel, eine detaillierte Beschreibung des Holocaust sind. . . . In dem erwähnten Lied macht Gott gegenüber Mose einige bemerkenswerte Aussagen über Israels zukünftigen Zustand:
„Und der Herr sprach zu Mose: Siehe, wenn du dich nun zu deinen Vätern legst, so wird sich dieses Volk erheben und wird fremden Göttern inmitten des Landes, dahin es kommen wird, sich ergeben und mich verlassen und meinen Bund brechen… Alsdann wird mein Zorn wider sie entbrennen, und ich werde sie verlassen und mein Angesicht vor ihnen verbergen… und dann wird viel Unglück und Not sie treffen wird, so werden sie sagen: Hat uns nicht all dies Unglück getroffen, weil unser Gott nicht mehr in unserer Mitte ist? Ich aber werde mein Angesicht verbergen um all des Bösen willen, das sie getan, weil sie sich anderen Göttern zugewendet haben. Und nun lehre dies Lied die Israeliten, damit dieses Lied ein Zeuge sei wider Israel. Denn ich werde sie in das Land bringen, das ich ihren Vätern zugeschworen habe, ein Land, das von Milch und Honig fließt, aber sie werden sich abwenden und anderen Göttern zuwenden und ihnen dienen, mich aber werden sie verwerfen und meinen Bund brechen. Und wenn dann viel Unglück sie treffen wird, so soll dieses Lied vor ihnen Zeugnis ablegen; denn es wird nicht vergessen werden im Munde ihrer Nachkommen. Und Mose schrieb dieses Lied auf und lehrte es die Israeliten…“ (5. Mose 31, 16-22).
In unserem Versuch, den Holocaust zu verstehen, beachten wir die Heilige Schrift nicht, obwohl sie detaillierte und exakte Aussagen darüber macht, was „in den letzten Tagen“ über uns kommen würde. Der Ausdruck „in den letzten Tagen“ ist dabei immer als der Zeitabschnitt kurz vor der Aufrichtung des Messianischen Reiches verstanden worden. Doch diejenigen, die hören sollten, wollen nicht hören. So wendet sich Gott an die stumme und leblose Natur:
„Merket ihr Himmel, denn ich will reden, und die Erde höre meine Worte! Meine Lehre riesle wie der Regen … und wie Tropfen auf die Flur. Denn den Ruhm des Herrn will ich verkündigen: Gebet Ehre unserem Gott! Er ist der Fels. Untadelig ist sein Tun, denn Recht sind alle seine Wege… (5.Mo 32, 1-4).
Eine Generation bezeichnet in diesem Zusammenhang eine Art von Menschen, die man in allen Epochen finden kann. So ist dieses Lied nicht nur an die Menschen, die zur Zeit Mose lebten, gerichtet, sondern es wendet sich an jede nachfolgende Generation einschließlich der, die in den letzten Tagen lebt. Darum sollte das Lied auch von Generation zu Generation weitergegeben werden.
„Als der Höchste den Völkern ihr Erbe gab, als er die Menschkinder schied, da setzte er fest die Gebiete der Völker mit Rücksicht auf die Zahl der Söhne Israels. Aber der Anteil des Herrn ist sein Volk, Jakob das Los seines Eigentums. Er fand es in wüstem Lande, in der Öde; er hütete es wie seinen Augapfel.
aber es verwarf den Fels seines Heils. Sie machten ihn eifersüchtig durch fremde Götter, sie opferten Geistern, die nicht Gott sind, Göttern, die sie nicht gekannt, von denen eure Väter nicht gewußt. Des Felses, der dich gezeugt, gedachtest du nicht und vergaßest des Gottes, der dich geboren“ (5. Mose 32, 8-10; 15-18)
Auf welchen dieser Vorwürfe habe wir als Volk reagiert? Zwar wurde sie von den Propheten ständig wiederholt; aber wann haben wir je zugegeben, daß diese Vorwürfe berechtigt waren?
Wir müssen uns auch der Frage stellen, ob dieses Ende bereits da war.
„Sie haben mich herausgefordert mit Göttern die doch keine sind…So werde ich sie reizen mit einem Volk, das keines ist. Ich werde sie herausfordern mit einer Schar von Narren (5. Mose, 32, 21)
Manche Ausleger interpretieren diese Stelle als Beschreibung von Nazi-Deutschland. Der Nationalsozialismus hatte Deutschland tatsächlich so entstellt, daß es kein Volk mehr im zivilisierten Sinne war. Es war ein „Volk von Narren“ geworden. Deutschland war zu einem Volk geworden, das alle Werte umgedreht hatte, ein Volk, das den Tod verherrlichte. . . .
Auch andere Fragen in diesem Zusammenhang sind bis heute ungeklärt Warum bombardierten die Alliierten niemals die Bahnlinien, die nach Auschwitz führten?
Und warum weigerten sich alle Nationen des Westens beharrlich, die Juden aufzunehmen?
Antworten auf diese Fragen finden wir nicht bei Menschen, sondern nur bei Gott. Wenn Er ein Gericht ergehen läßt, dann geschieht das genauso umfassend wie vollständig, wie Er es sich vorgenommen hat, und zwar durch Menschen als auch gegen den Widerstand von Menschen. Die Gerichte Gottes sind streng, und wenn sie eintreffen, dann in vollem Umfang. „Ich will mein Angesicht vor ihnen verbergen“, bedeutet auch, daß niemand Seine Gerichte aufhalten kann.
„Ich hätte gesagt: Ich will sie zerstreuen…., ihre Dränger möchten es falsch auslegen und sagen: ‚Unsere Hand war mächtig, nicht der Herr hat dies getan’ “( 5. Mose 32, 26)
Mit anderen Worten, wenn einige von uns überlebt haben, dann nur durch Gottes Eingreifen. … Gott selbst aber hat Sein Gericht verkürzt und hat einen Rest übriggelassen. . . .
Wir haben allen Grund zu befürchten, daß ähnlich furchtbare Schrecken uns erneut treffen werden. Nach wie vor leben wir „in den letzten Tagen“ und durch den Holocaust haben wir, quasi als eine Vorschattung, einen Eindruck dieser Ereignisse der letzten Tage bekommen. Doch haben wir daraus keine Lehre gezogen!
„Sehet nun, daß ich es bin und kein Gott neben mir ist. Ich bin’s, der tötet und lebendig macht, ich habe zerschlagen, ich werde auch heilen und niemand errettet aus meiner Hand“ 5. Mose 32. 39).
In der jüngeren jüdischen Geschichte hat sich deutlich erwiesen, wie wahr diese Aussage ist. Wenn Gott ein Gericht beschließt, wird es auch ausgeführt. Doch meine Erwartung reicht darüber hinaus. Ich erwarte die Wiederherstellung und Befreiung aus diesem zukünftigen und letzten Gericht. Ich glaube dem Wort Gottes, das von unserer Rettung spricht:
„Tröstet mein Volk! Spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und rufet ihr zu, daß ihr Frondienst vollendet, daß ihre Schuld bezahlt ist; denn sie hat von der Hand des Herrn Zwiefältiges empfangen um all ihrer Sünden willen“ (Jesaja 40, 1-2).
Hier ist die Rede von Worten des Trostes, die uns mitten in unserer Ausweglosigkeit erreichen werden. Ohne sie würden wir die noch vor uns liegenden letzten Gerichtshandlungen nicht überleben. Diese tröstenden Worte müssen uns, noch bevor unser Messias tatsächlich als Befreier erscheint, überbracht werden. Doch können wir einem solchen tröstenden Wort aus dem Munde Gottes nur dann glauben, wenn wir uns bewußt werden, daß es derselbe Gott ist, der uns gerichtet und diese Urteile in der Vergangenheit auch ausgeführt hat, der uns nun Trost zuspricht und diesen Trost in unserer Zukunft genauso konkrete Taten umsetzen wird. Er ist ganz entscheidend, daß wir unsere Gerichte als von Gott kommend begreifen und daß Er sie bis ins letzte Detail erfüllt hat; denn wenn wir das nicht glauben, dann werden wir auch nicht in der Lage sein, dem Wort zu glauben, das von unserer Wiederherstellung spricht.
Der Gott, der uns gerichtet hat, ist derselbe Gott, der uns wiederherstellen wird. Alles wird von Gott, aus Gott und durch Gott sein – sowohl im Gericht als auch in der wiederherstellenden Vergebung und Versöhnung.
Soweit also das Lied des Mose, das jeder Jude hätte auswendig lernen sollen. Dann wären wir gewarnt worden. Doch das Fehlen solcher Warnungen im Vorfeld des Gerichtes ist ein Beleg dafür, daß das heutige Judentum in tragischer Weise den Herausforderungen seiner eigenen Geschichte nicht gerecht werden kann.

Kapitel 6
Jüdische Reaktionen auf den Holocaust
Wenn wir Juden mit dem Hinweis konfrontiert werden, daß der Holocaust die Folge der Sünde des jüdischen Volkes sei, bäumt sich alles in uns auf. Ein solcher Gedanke sprengt alle unsere Kategorien – was sehr wohl in Gottes Absicht liegen könnte. Vielleicht müssen uns zuerst alle vertrauten Denkmuster zerstört werde – selbst wenn es dazu einer solch brutalen Erschütterung bedarf, wie sie eine Katastrophe dieser Größenordnung hervorruft.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß unsere besten Wortführer wenig oder überhaupt keine Anstrengungen machen, Erklärungen dafür in der Bibel zu finden Denn wir sind im allgemeinen ein der Bibel entfremdetes Volk. Und so mag unsere Haltung gegenüber dem Wort Gottes gleichzeitig eine Aussage über unser Verhältnis zu Gott sein. Wir können theologische oder philosophische Betrachtungen anstellen, doch losgelöst von den Aussagen der Bibel, wird daraus nur ein selbstgemachter Gott, ein Gott der unserer Sichtweise und unseren Traditionen entspricht.
Eines der bekanntesten Bücher über den Holocaust, das von dem Rabbiner Richard Rubinstein, trägt den Titel: After Auschwitz (Auschwitz und danach) Darin schreibt er , daß es nach Auschwitz keine glaubwürdige Basis mehr gäbe, den überlieferten Glauben des Judentums noch für wahr anzusehen. Gott, wie wir ihn traditionsgemäß verstanden haben, sei nun indiskutabel. Gott sei tot, denn wo ist er in all dem? Der Holocaust sei der deutlichste Beweis, daß Gott tot sei, und warum sollten wir uns dann noch lange mit überflüssigen Fragen abgeben? Der Gott der Torah könne mit dem Geschehen des Holocaust nicht in Einklang gebracht werden. . . .
Anstatt laut aufzuschreien: „O Gott, warum? Was haben wir nur getan?“, wie wir es tun sollten, kommt es auf diese Weise unweigerlich zu einer Verhärtung, einer zunehmenden Arroganz und einem unverschämten Auftreten gegenüber Gott.
Ein persönlicher Freund schreibt dazu: „Sich anzumaßen, daß der Schöpfer auf unsere Forderungen eingehen muß, die aus menschlicher Vernunft geboren wurden, ist in sich der Gipfel der Arroganz.“
Andere haben die Schlußfolgerung gezogen, daß der Holocaust eine Aussage über und ein Beweis für den moralischen Bankrott der christlichen Zivilisation mit ihrem ethischen Selbstverständnis sei, und gleichzeitig den geistlichen Bankrott der christlichen Religion besiegele. Diese Stimmen behaupten, der Antisemitismus habe seinen Ursprung und seine Wurzeln in den negativen Äußerungen des neuen Testamentes gegenüber Juden. Diese hätten über rund zweitausend Jahre ihre Wirkung entfaltet und schließlich ihren Höhepunkt in dem Haß gefunden, der sich im Holocaust manifestierte. Diese Menschen sehen den Holocaust als das Versagen der Kirche, dessen Opfer wir Juden geworden sind. Ohne Frage gab es ein Versagen der Kirche; aber war das die vorrangige und hauptsächliche Ursache des Holocaust? Entbindet das uns Juden irgendwie davon, den Holocaust als ein Gericht über unser Volk anzusehen?
Etwas, was die Leiden des Holocaust für viele von uns in gewisser Weise aufwiegt, ist die Tatsache, daß der Staat Israel daraus hervorgegangen ist. Das wird als eine Art „Schadenersatz“ angesehen. Wir mögen den Holocaust nicht erklären können, aber dafür bekamen wir wenigstens einen eigenen Nationalstaat und somit einen Ort hoffnungsvoller, permanenter Sicherheit. Jetzt brauchen wir nicht länger wehrlose Opfer unter den Völkern zu sein. Wir können unseren eigenen Staat haben, und darüber hinaus können wir den anderen Völkern zeigen, was den echten jüdischen Staat auszeichnet – seine moralischen und ethischen Werte.
Andere haben, so unglaublich das klingen mag, die jüdische Katastrophe und das Leiden nicht als Gericht Gottes interpretiert, sondern derart, daß hierin das Judentum bis hin zur Gottähnlichkeit perfektioniert werden sollte. Sie wollen mit solchen Ideen nicht etwa Gott widerstehen, sondern vielmehr Ihn ersetzen und so werden wie Er, um damit selbst die messianische Hoffnung der Welt zu sein.
Da die westliche Zivilisation, d.h. die christliche, sich auf ihre endgültige Auflösung und ihren völligen Bankrott zu bewege, erwarten diese Kommentatoren, daß sie durch eine jüdische Zivilisation und Kultur ersetzt werden wird. Letzten Endes wußten sie ja schon lange, daß die jüdische Kultur überlegen sei – moralisch, geistig, intellektuell und kulturell. Das Judentum sei nun bereit, aus den Kulissen hervorzutreten, nachdem die Welt es bisher nur als eine Religion von zweitrangiger Bedeutung angesehen habe, ohne seine Überlegenheit anzuerkennen. Doch nun bereite es sich vor, auf der Bühne der Weltgeschichte zu erscheinen, um sich selbst als eine Antwort für die ganze Menschheit zu präsentieren!
Zentrum aller Überlegungen ist und bleibt die Frage nach dem jüdischen Leiden. Wenn wir es nicht als Gericht verstehen wollen, wie sollen wir dann eine Erklärung dafür finden? Dann bleibt uns nur eine Art bizarrer Logik, wie sie oben beschrieben worden ist. Eine Logik, die davon ausgeht, daß das jüdische Volk durch Leiden zu einer Gottähnlichkeit gelangen wird. Ja, daß wir Juden das „göttliche Wesen“ seien, und daß an allen Orten, wohin wir von Gott zerstreut wurden, unser Leiden als eine Art Sühne für die ganze Menschheit gedient habe. So endet die Weigerung, den Holocaust als Gericht Gottes anzusehen, unausweichlich damit, daß Gott gering geachtet und der Mensch vergöttlicht wird.
Die willkürliche Umdeutung der Leiden unseres Messias, als wären es unsere eigenen, ist unvermeidlich für ein Judentum, das es ablehnt, einen leidenden Messias als Person in Erwägung zu ziehen, und das gleichzeitig eine Erklärung für seine eigenen historischen Leiden finden muß. Wenn wir Jesus (Jeschua) als Erfüllung von Jesaja 53 ablehnen, wo es heißt, „so entstellt war sein Aussehen, mehr als das irgendeines Mannes“, und dann unser Volk an Seine Stelle setzen, gelangen wir unvermeidlich an einen Punkt, wo diese Vorstellungen miteinander kollidieren. Diese konsequente Ablehnung zwingt uns, nicht nur dem Messias zu widerstehen, sondern notwendigerweise auch eifersüchtig auf Seine Stellung zu schauen. Es ist dann nur folgerichtig, selbst als Messias aufzutreten, selbst wenn der leidende Knecht, die Inkarnation der Gottheit zu sein. Wir Juden wollen selbst die messianische Hoffnung verkörpern und damit die Kultur, die die Antwort für alle Menschen ist.
Was für eine Selbsterhöhung des Menschen, sogar die eigenen Katastrophen so zu interpretieren, daß der Mensch nicht nur gerechtfertigt (und eben nicht bestraft) daraus hervorgeht, sondern geradezu zum Gott erhoben! 
Wenn wir die biblischen Aussagen im 5. Buch Mose, die uns die Gründe für unsere ganze Not zeigen, nicht akzeptieren wollen, dann werde wir zwangsläufig eine andere Begründung präsentieren müssen. Und so werden unsere menschlich Erklärungen nur zum weiteren beleg für die Welt.
Hätten wir uns doch nur Gott unterstellt, dann wären wir bereits zu solch einem Volk geworden. Jedoch in unserer Rebellion und in unserer bewußten Unabhängigkeit von Gott – indem wir unsere Berufung im Licht unseres eigenen spärlichen Lichtes zu erfüllen suchten – kamen aus unseren Reihen nur falsche Messiashoffnungen wie der Marxismus und zahlreiche andere Ideologien und internationale Bewegungen. Doch der Gott, der Verheißung, Bund und Berufung gab, sagte in Jeremia 31, 36-37 und bestätigt es im Neuen Testament in Römer 11, 29: „ . . . Gottes Gaben und Berufung sind unwiderruflich.“ Das bleibt gültig, trotz unseres Versagens. Er wird diese Verheißung erfüllen, und wir werden schließlich dieser Segen für alle Geschlechter der Erde sein. Nicht in der Arroganz und Selbstzufriedenheit, die uns bis jetzt charakterisiert haben, sondern in der Zerbrochenheit und Demut, die erst die noch vor uns liegenden abschließenden Handlungen Gottes zum Ende dieses Zeitalters in uns bewirken werden. Durch genau diese Handlungen werden wir zuletzt an einen Punkt gelangen, an den wir trotz des schrecklichen Holocaust sichtlich bislang nicht gekommen sind. . . .

Kapitel 7
Der Judaismus und die Gotteserkenntnis
Eine der unbeantworteten Fragen, die der Holocaust aufwirft, liegt in der Tatsache, daß der Teil der Juden, der am meisten gelitten hat, gleichzeitig der am stärksten religiöse war. Es waren die Juden in Polen, die vom Holocaust am stärksten getroffen wurden. Und der größte Teil von ihnen war orthodox oder sogar ultra-orthodox. Wie könnte Gott der Urheber des Holocaust sein, wenn es doch die religiöseste Schicht der Juden war, die scharenweise ausgerottet wurde, während ein beträchtlicher Teil der Säkularen Juden verschont blieb? Und warum eigentlich wurden die Juden in Amerika verschont? Welche Gerechtigkeit soll man darin sehen? Wo war Gott, der doch die Frommen eher hätte ehren und bewahren sollen? . .
Bei solchen Überlegungen gibt es eine unausgesprochene Grundvoraussetzung, die wir nicht übergehen, sondern einmal genauer beleuchten sollten. So kommen wir dem Kern der Sache näher. Der Umstand, daß wir vom orthodoxen Judentum beeindruckt waren und es als den höchsten Ausdruck der jüdischen Religion angesehen haben, bedeutet nicht zwangsläufig, daß Gott im gleichen Maß davon beeindruckt war. Es ist vielmehr genausogut möglich, daß das, was uns so sehr imponiert, Ihn ganz besonders stark betrübt. Es ist denkbar, daß besonders die religiösen Juden Opfer des Gerichts wurden, weil die von ihnen so hoch gepriesene Gotteserkenntnis nicht auf Wahrheit gegründet war, sondern auf etwas, was Menschen in ihrer selbstbezogenen Tradition wichtig und lieb geworden war. . . .
Nur weil wir ein „religiöses“ Volk sind, gibt uns das keine Garantie, daß wir eine Gotteserkenntnis besitzen, die der Realität entspricht. Das Judentum ist in erstaunlichem Maße unwissend in bezug auf die Gerichte, die wir in der Vergangenheit durchgemacht haben, weil wir Gottes Wort ablehnten. Auch das talmudische oder rabbinische Judentum gründet sich nicht so sehr auf das biblische Wort als vielmehr auf die menschlichen Kommentare. . . .
Aus der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung der Priesterschaft, zwei von Gottes Gerichten, entstand eine von Menschen verordnete Alternative, das heutige Judentum. Dieses Judentum ist weit mehr rabbinisch als biblisch. Ist damit womöglich aus dem Judentum ein Lebensstil und eine kulturelle Gemeinschaft geworden., der die Vorstellung eines erfahrbaren und gegenwärtigen Gottes fremd ist? In seinen liberalen Formen ist es doch kaum mehr als ein ethischer Humanismus . . . .
Wir müssen einsehen, daß, wenn es um Gotteserkenntnis geht, der Mensch sich nicht nach Belieben selbst bedienen kann. . . . Gott ist Gott, der Mensch ist Mensch. Und wenn Gott sich nicht zum Menschen herabläßt, begegnen sich die beiden nie. . . .
Die Axt wird an die Wurzel dieser menschlichen Irrtümer gelegt, die zu einem grundsätzlichen Mißverstehen der Wirklichkeit führen. . . . Die letzte Konsequenz dieser falschen Vorstellung könnte der Tod in einem neuen Auschwitz sein! . . .
Es gibt keine Aussage, die mehr über Gott als Gott sagt, als der gekreuzigte Gott. Man kann viel über Gott sagen, doch die tiefsten Dinge und die höchsten Offenbarungen über Gott finden wir in der Tatsache, daß Er Sich Selbst bereitwillig als Opfer zur Verfügung stellte. Das ist Gottes eigenes Handeln, das ist Gottes eigener Plan. Er will damit etwas aussagen. Er will sagen: So sieht euer Gott wirklich aus, und so möchte Er, daß die Menschen Ihn kennen. So verstanden bedeutet es, wenn wir Gott nicht als den Gekreuzigten kennen, zugleich, daß wir Gott gar nicht kennen. Wir können Gott wohl „Gott“ nennen, aber wenn wir Ihn nicht mit diesem Messias identifizieren, den wir gekreuzigt haben, und wenn wir nicht verstehen, was das zu bedeuten hat, dann haben wir es unweigerlich mit einem Gott zu tun, der unserer Vorstellung entsprungen ist. Sicher: Wir können Ihn mit „Gott“ bezeichnen; aber dieser Gott gibt tragischerweise keine Antwort!
Hier sind wir am entscheidenden Punkt, sozusagen im Zentrum aller Fragen. Hier laufen die Fäden zusammen. Gehen wir hier fehl, dann auch in allen anderen Fragen. Die jüdische Tragödie der jüngeren Geschichte ist Ausdruck dieses Fehlgehens. So erkannten wir den Tag Seiner Heimsuchung nicht. Obwohl Er sich so sehr für uns einsetzte, so oft über uns weinte und uns so gerne unter Seine Fittiche nehmen wollte, wie eine Henne ihre Küken – wir haben nicht gewollt. Er warnte uns eindringlich, daß unser Haus verlassen und unser Tempel zerstört werden würde. Er warnte uns damit auch, daß wir ohne Priesterschaft und ohne Sühnopfer sein würden. Es würde keine Sühne mehr durch das Opferblut geben und somit keine Bedeckung (Kaparah). Das bedeutete, daß jede brutale, dämonische Macht sich völlig frei fühlen konnte, und anzugreifen. Und genau das haben sie getan! . . .
Der Kreis der Geschichte hat sich geschlossen. Die Menschheit, einschließlich des jüdischen und deutschen Volkes, hat nicht verstanden, oder wollte es nicht verstehen, welche tiefe Bedeutung darin liegt, den Holocaust als ein Gericht Gottes zu erkennen. . . .
Doch nicht nur das. Hier wurde auch der Grundstein dafür gelegt, daß Gott nicht mehr als Gott erkannt wurde und in der Folge auch der Mensch nicht mehr als Mensch. Eine falsche Vorstellung von Gott bringt unvermeidlich eine falsche Vorstellung vom Menschen mit sich! . . .
Was kann Gott tun, damit wir nicht mehr so hartnäckig daran festhalten, daß uns unsere Offenbarungen von Ihm wichtiger sind als Seine Offenbarungen? Er sandte Seinen Sohn, der für die Sünde als Sünde in ihrer ganzen Häßlichkeit gestorben ist. Wir konnten sehen, was Sünde für Gott bedeutete . . .
Wir jedoch bestehen auf unserer Vorstellung, daß der Mensch doch gar nicht so schlecht ist und sind sogar der Ansicht, daß er sich im Laufe der Zeit zum Positiven weiterentwickelt. Die Vervollkommnung des Menschen außerhalb von Gott ist jedoch eine rein humanistische Wunschvorstellung, die nur dadurch möglich wird, daß der Mensch die Sichtweise, die Gott am Kreuz über den Menschen offenbart, verwirft. Wer ein Bild von Gott hat, in dem das Gericht Gottes keine zentrale Rolle spielt, kennt Gott nicht wirklich. . . . Gott als Richter zu kennen, ist unverzichtbarer Teil einer wahren Gotteserkenntnis. . . .
Hier geht es um mehr, als um theologische Fragen. Hier geht es um Fragen, die das leben und die Wirklichkeit betreffen. In diesem Sinne ist der Holocaust der Schlüssel zu den grundlegenden Fragen des menschlichen Daseins. Die Beantwortung der Frage nach dem Woher und Wohin unseres Daseins hängt davon ab, daß wir den Zustand des Menschen als solchen verstehen. Gott liegt jenseits unserer Vorstellungen. Er ist anders. Verstehen wir das nicht, dann kann es gar nicht anders sein, als daß unsere Sicht der Wirklichkeit verzerrt ist und wir in die Irre gehen.

Kapitel 8
Jüdische Ansichten über den Menschen
Man kann die Tragik dessen, daß der Holocaust von Deutschen ausgeführt wurde, nicht wirklich verstehen, wenn man nicht weiß, daß die jüdische Bevölkerung Deutschlands die deutsche Kultur zutiefst verehrte und in den Himmel hob und damit das humanistische Bild des Menschen. Wir haben ein erhabenes Bild vom Menschen, und Gott erlaubte uns eine Zeitlang, mit diesen falschen Wunschbildern zu leben, bevor wir schließlich davon eingeholt wurden. Ein Mythos oder eine Lüge hält eben immer nur eine gewisse Zeit. . . . Aber immer kommt die Zeit, da sich die Täuschung nicht länger mit der Realität verträgt, und dann muß etwas zerbrechen. Und eines Tage fliegt uns das Getue um den „Sympathischen“ Menschen um die Ohren, und wir stellen fest, daß wir als „sympathische Menschen“ zu den schrecklichsten Taten fähig sind oder aber Opfer derselben werden. Diese Lektion sollte uns allen zur Belehrung dienen. Gott läßt Sich nicht spotten! . . .
Es gehört wahrhaftig zu den erschütterndsten Tatsachen der modernen Zeitgeschichte, daß die systematische Vernichtung des europäischen Judentums nicht etwas durch ein rohes, primitives Volk geschah, sondern durch eine der beeindruckendsten Kulturen der ganzen Menschheitsgeschichte. Es ist bittere Ironie, daß wir Juden zuvor genau diese Kultur mehr als alle anderen zum Idol erhoben und bewundert haben. Ja, wir Juden waren selber die eifrigsten Hüter dieser deutschen Kultur. Wir sehr haben wir doch deutsche Philosophie, Musik, ja die ganze Tiefe und den Reichtum einer beinahe 2000 Jahre alten Kultur geliebt – doch das rettete uns nicht.
Bis zum Aufstieg Hitlers war Deutschland für viele Juden der Inbegriff einer zivilisierten und kultivierten Gesellschaft. Unseren Blick auf die Heilige Schrift als Maßstab zur Beurteilung menschlicher Errungenschaft hatten wir schon lange vorher aufgegeben. Gleichzeitig gab es wenig oder gar keine Erwartung eines persönlich erscheinenden Messias. Im Gegenteil, es verbreitete sich mehr und mehr die Ansicht, daß ein aufgeklärtes messianisches Zeitalter kommen würde, wie es – wenigstens ansatzweise – durch die deutsche Kultur schon vorgeschattet war. Ein Zeitalter, dessen Triebkraft das Eigeninteresse des aufgeklärten und ethischen Menschen seien sollte. Tatsächlich war Deutschland für viele „emanzipierte“ Juden die messianische Erfüllung geworden. Dabei wurden die jüdischen Lobgesänge auf den modernen Menschen durch die humane deutsche Gesellschaft, in der sie lebten, gerechtfertigt. Aus diesem Grunde mußte Gott – eine unvergleichliche Ironie der Geschichte – gerade Deutschland dazu gebrauchen, die Tragödie des Holocaust über uns zu bringen.
Ein deutscher Jude zu sein, war die höchste Würde, auf die man hoffen konnte. Schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg war es üblich, daß deutsche Juden geringschätzig auf Juden aus Polen oder Rumänien herabblickten, die als Einwandere nach Deutschland gekommen waren. Diese waren ungebildet, in ihrer Religion so plump und orthodox. Sie trugen lange Bärte. Sie kamen aus den ländlichen „Stetls“ und den Ghettos. Im Gegensatz dazu hielt der deutsche Jude sich für emanzipiert. Er war ein Spiegelbild der höchsten Werte deutscher Kultur.
Die vom Rationalismus geprägten deutschen Juden sahen sich selbst als überlegen an, und in der Tat haben sie einen enormen Beitrag zu dieser Kultur geleistet. Die drei Männer, die das 20. Jahrhundert und damit unsere moderne Welt am nachhaltigsten geprägt haben- Karl Marx, Sigmund Freud und Albert Einstein – waren alle deutschsprachige Juden. Doch der Umstand, daß deutsche Juden die deutsche Kultur feierten und so hoch schätzten, hatte mit der Zeit die auf die Bibel gegründete Erwartung des Messias verdrängt und sich an deren Stelle gesetzt. Viele Juden dachten, wenn doch die ganze Welt sozusagen germanisiert werden und an den philosophischen, ethischen und moralischen Vorzügen der so vernunftgemäßen deutschen Kultur teilhaben könnte, dann würde das den Beginn des messianischen Zeitalters bedeuten. Gleich den Vertretern des deutschen Rationalismus empfanden wir ein peinliches Befremden gegenüber dem übernatürlichen Gott des Alten Testaments. Darum haben wir es nie für möglich gehalten, daß Gott Sich in unserem „aufgeklärten“ Zeitalter in die Angelegenheiten der Menschen einschalten würde. Damit haben wir uns selbst den Zugang zu einem kraftvollen und rettenden Glauben versperrt, der uns während der zeit des Holocaust hätte tragen können.
Wir litten gerade durch die Nation, die wir so sehr verehrt hatten. Wir hatten nicht geahnt, wie verdorben der Mensch in Wirklichkeit ist. Dabei hätten wir es verstehen können, wenn wir nur die Offenbarung ernst genommen hätten, die uns durch den Holocaust des Kreuzes gegeben worden war. Doch so konnten wir das Ausmaß der Bosheit nicht voraussehen – unmenschlich Dinge, die uns durch genau das Volk zugefügt wurden, auf das wir unser erhabenes Menschenbild projiziert hatten. Wir hatten das überlegene und idealistische Bild, das wir von uns selbst hatten, auf die deutsche Kultur übertragen. Ein Selbstbild, an dem wir, so beobachte ich es, trotz der Tragödie der jüngsten Vergangenheit im wesentlichen noch immer festhalten! Wir schätzen uns als Volk so überlegen ein, daß wir dazu neigen, uns selbst zu verherrlichen. Das prägt unsere religiösen Veranstaltungen und unser kulturelles Leben. In unseren eigenen Augen sind wir so beeindruckend, daß wir darüber blind geworden sind für die Verdorbenheit, die in der Natur des Menschen liegt, eine Verdorbenheit, die weit tiefer reicht als die Frage nach dem Wert oder Unwert der deutschen Kultur. So steht es noch aus, daß wir erkennen, wie der generelle sittlich und moralische Zustand des Menschen ohne das Eingreifen Gottes ist und daß auch wir Juden von diesem Urteil nicht ausgenommen sind. Diese Lektion haben wir noch nicht gelernt. Noch immer haben wir eine so unrealistisch hohe Meinung vom Menschen – selbst jetzt, nach dem abscheulichen Versagen des Menschen in der Neuzeit. Wir sind bis heute nicht bereit einzugestehen, daß wir mit den Deutschen und allen anderen Menschen an der Verdorbenheit der menschlichen Natur teilhaben. . . .
Wir haben von Gott her eine Bestimmung, die weit über das hinausgeht, was wir bisher erkannt haben. Diese muß erfüllt werden, selbst wenn wir uns dagegenstellen. Gottes Wort, Sein Name, Sein Bund, Seine Ehre und Seine Verheißungen stehen auf dem Spiel; Verheißungen, die sagen, daß aus Abrahams Lenden ein Nachkomme stammen wird, „der alle Geschlechter der Erde segnen wird“ (1. Mose 12, 3). Was wird noch nötig sein, um uns zu jenem Eingeständnis zu bringen, das im Prophet Hesekiel, Kap. 37, genannt ist? Was auch immer dazu nötig ist, Gott muß es um Seiner letztendlichen Ziele willen, herbeiführen.

Kapitel 11
Gericht als Ausdruck der Gnade
Im gleichen Maße, wie die Kreuzigung von Jesus das Gericht Gottes über die Sünde war, so war der Holocaust das Gericht Gottes über Israel. Beide Katastrophen waren Gerichte. . . . Gott stand selbst inmitten dieser Leiden und Er litt mit. Gott ist nicht grausam, so daß er am Bösen Gefallen hätte, sondern „er ward ihr Retter in all ihrer Not“ (Jesaja 63, 8).
Kann nun das Gericht Gottes letzte Maßnahme für verstockte Menschen sein, nachdem keine andere Gnade unsere Aufmerksamkeit gewinnen konnte? Wenn dem so ist, dann ist Gericht eine Gnade Gottes. . . . Angesichts völliger Hoffnungslosigkeit, daß andere Menschen oder wir selbst noch etwas für uns tun könnten, wird Gott Selbst uns in übernatürlicher und machtvoller Weise in Seiner Gnade wiederherstellen. Die Zerbrochenheit und Umkehr, die darauf folgen werden, und die Tiefe unserer Beugung vor Gott bei der Offenbarung solcher Güte wird in unserer Geschichte ohne Beispiel und nicht in Worte zu fassen sein (Jesaja 35, 3-4). . . . Wenn wir die Leiden der Vergangenheit als eine Erfüllung des im Worte Gottes angekündigten Gerichts erkennen, dann werden wir auch eine Grundlage für die Hoffnung auf die zukünftige Wiederherstellung habe, die uns ebenfalls in seinem Wort verheißen hat; denn der Gott des Gerichts ist gleichermaßen der Gott der Gnade.
Er wird seine Gerichte in einer Weise über uns bringen, daß sogar die Nationen sie als solche erkennen werden (Hes. 36, 36). Sie werden aber genauso Seine Gnade, die über uns ausgegossen werden wird, erkennen, so daß keine Nation eine Entschuldigung haben wird, wenn sie gefragt wird, warum sie Ihn nicht erkannt hat. Das alles wird nicht in einem Winkel geschehen. Alle nicht-jüdischen Nationen werden zur Verantwortung gezogen werden, nachdem sie die Demonstration von Gottes Gericht und Seinem Erbarmen an uns gesehen haben werden. . . .
Nach den prophetischen Aussagen der Bibel werden sich bei der endgültigen Rückkehr Israels aus Verfolgung und Vertreibung Dinge ereignen, die bei der Rückführung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft (536 v. Chr.) noch nicht erfüllt wurden. Unsere endgültige Heimkehr wird davon gekennzeichnet sein, daß die ganze Nation, der überlebende Rest, Gott erkennen wird. Israel wird nur durch die geoffenbarte Gnade Gottes zu dieser Erkenntnis kommen. Gottes Gnade für Israel wird sich inmitten einer enormen noch zukünftigen Zerstörung in übernatürlicher Weise erweisen. Diese Rückführung wird anders sein als alle vorhergehenden. Die Gnade Gottes wird zweierlei bewirken: die Rückführung der Juden in ihr Land und eine Hinwendung zu Gott in den Herzen des jüdischen Volkes. . . .
In der letzten Zeit dieses Zeitalters konzentrieren sich die Interessen Gottes auf diesem Planeten ganz besonders auf Israel. Die Propheten der Bibel lassen keinen Zweifel daran, daß Gottes letztes Ziel mit Israel darin besteht, daß das Reich für Israel wiederhergestellt wird. Das heißt konkret, daß Israel an der Herrschaft seines Königs und Messias, Jesus von Nazareth, hier auf Erden ganz unmittelbar beteiligt sein wird. . . .
An der Herrschaft in jenem Reich werden durch Jeschua gerettete Juden in herausragender Weise beteiligt sein. Ihre Bedeutung wird die anderer Völker in gewisser Weise übertreffen. Christen in Deutschland tun deshalb gut daran, heute schon im Bewußtsein diese Bestimmung des jüdischen Volkes zu leben und selbst eine demütige Haltung einzunehmen. Eine solche Haltung könnte eine starke geistliche Wirkung unter jüdischen Menschen entfalten. Indem deutsche Christen dem heutigen Israel, ob in Deutschland oder anderswo in der Welt, die Botschaft von der Herrschaft Gottes bekannt machen, zeigen sie echte Früchte ihrer Umkehr in bezug auf den Holocaust und helfen gleichzeitig dem geretteten Überrest aus Israel in seine besondere Bestimmung im kommenden Friedensreich des Messias hineinzukommen.
Arthur Katz, 1998
info@horst-koch.de

 

 

 

 

 




Hilfe für Gemütskranke (A.Lechler)

Alfred Lechler


Hilfe für Gemütskranke

 

– Eingestellt von Horst Koch. Auch viele Hervorhebungen im Text sind von mir. Im Februar 2024 –

Inhalt:



1.   Depressionen als Folge körperlicher Erkrankungen

2.   Depressionen als Folge schwerer Erlebnisse
3.   Der Gemütsdruck der Psychopathen

4.   Die schwermütige Veranlagung – Depressionen ohne erkennbare Ursachen

5.   Die Schwermut (Melancholie)

6.   Die manische (leichtmütige) Veranlagung

7.   Die Manie

8.   Die wechselmütige Veranlagung

9.   Die manisch – depressive Gemütsstörung

10. Gemütskrankheiten und Ehe

11. Die Voraussetzungen der Seelsorge

Einleitung
Depressionen sind eine außerordentlich häufige Erscheinung. Immer wieder kommen Arzt und Seelsorger mit Menschen zusammen, die unter mehr oder weniger starken Depressionen leiden. Die heutige Zeit mit ihren Nöten und Schwierigkeiten auf allen Lebensgebieten, die Hoffnungslosigkeit, in der zahlreiche Menschen dahinleben, ist in besonderem Maße dazu angetan, Schwermutszustände jeder Art und jeden Grades hervorzurufen, die nach einer Behandlung schreien. Aber diese ist erheblich erschwert, weil sich gerade der depressive Mensch besonders leicht von seiner Umgebung zurückzieht. Er ist der Ansicht, er gehöre nicht in die Gemeinschaft, und hat nicht den Mut, sich auszusprechen. Er wagt oft nicht einmal, seinen Angehörigen etwas von seiner Not zu sagen, weil er fürchtet, von ihnen nicht verstanden zu werden.
Und doch hat selbst der Schwermütige, der in gesunden Tagen wenig Neigung zur Aussprache hat, ein lebhaftes Bedürfnis danach. Empfindet schon der gesunde Mensch ein Verlangen nach Freude, so ist der Depressive in noch viel stärkerem Maße davon erfüllt.
Diese bedauernswerten Menschen hungern nach Mitgefühl und geduldiger Teilnahme. Denn ihr Leiden ist wesentlich schwerer zu tragen als ein körperliches.

Aus diesen Gründen fällt neben der körperlichen Behandlung der seelsorgerlichen Betreuung des Kranken eine ungemein wichtige Aufgabe zu. Deshalb brauchen wir Menschen, die nicht nur an sich selbst denken und an dem Leid ihrer Mitmenschen achtlos vorübergehen, die die Last des anderen auf ihre eigenen Schultern nehmen und bereit sind, mitzutragen und beizustehen.

Findet der Depressive Menschen, die sich seiner annehmen, wird er sich ihnen öffnen, und er wird die helfende Hand mit Freuden ergreifen. Wenn er verständnisvoll Beruhigung, Trost und Aufmunterung erfährt, wenn sein Wille gestärkt und seine äußere Lebensführung geordnet wird, kann sich in vielen Fällen sehr rasch die alte Zuversicht und positive Lebenshaltung einstellen.

Die wahre Genesung erfolgt aber erst dann, wenn der Schwermütige mit dem lebendigen Gott rechnen lernt. Erfahrungsgemäß hat eine große Zahl von Depressionen ihre Ursache letzten Endes in Sünde und Unglauben. Durch eine lebendige Verbindung mit Gott gelangt der Schwermütige zu innerer Befreiung. Fachgerechte Seelsorge erweist sich darin, daß sie dem Hilfsbedürftigen zu einer echten Beziehung zu Jesus Christus verhilft.

Um wirksam helfen zu können, muß der Zustand des Gemütskranken richtig erkannt werden. Darum setzt dieser Dienst eine gründliche Kenntnis der verschiedenen Krankheitsbilder voraus. Denn nur, wer die wahren Ursachen und krankhaften Äußerungen der einzelnen Gemütsleiden kennt, vermag zu helfen. Dabei ist auch nach dem Studium diese Buches vor einem vorschnellen Urteil zu warnen. Wer seelisch Kranken helfen will, braucht bestimmte Voraussetzungen, von denen die wichtigsten am Ende dieses Buches genannt werden. Der sachkundige Rat eines Arztes, der möglichst Christ sein sollte, darf dabei nicht unbeachtet gelassen werden.


1. Depressionen als Folge körperlicher Erkrankungen

Aufgrund der Einheit von Körper und Seele verursachen nicht selten körperliche Erkrankungen auch seelische Störungen. Sobald die Funktion der Körperorgane beeinträchtigt ist. wird oft auch das seelische befinden in Mitleidenschaft gezogen, und zwar um so mehr, je stärker die seelische Labilität des Kranken ist und je mehr er von der Schwere seines körperlichen Leidens überzeugt ist. So entwickeln sich oft erhebliche Depressionen, wobei die körperliche Erkrankung verhältnismäßig geringfügig sein kann.

Nicht selten beobachten wir so etwas bei nervöser Erschöpfung. Wenn durch körperliche oder geistige Überanstrengung, Schlaf- und Ernährungsmangel oder durch ein Zusammentreffen dieser Einflüsse die Körperkräfte aufgebraucht werden, kann sich die nervöse Erschöpfung in Niedergeschlagenheit und Reizbarkeit, in Antriebsschwäche, Schwindel, Kopfschmerzen, nervösen Herz- oder Magenbeschwerden oder Konzentrationsschwäche äußern.
Besonders häufig können solche Zustände bei Menschen beobachtet werden, die sich keine Erholung gönnen, die von ihre Arbeit aufgefressen werden.
Zu einer ausgesprochen seelischen Verstimmung kommt es jedoch erst, wenn mit der nervösen Erschöpfung starke Gemütserregungen verbunden sind.
Dies kann z.B. bei einer sehr verantwortungsvollen Tätigkeit, bei jahrelangen wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder nach schweren Operationen der Fall sein.
Auch bei Erkrankungen der Leben und der Gallenblase stellt sich nicht selten eine seelische Verstimmung ein, die mit innerer Unruhe, Reizbarkeit, Schuldgefühlen oder Gleichgültigkeit, mit Appetit- und Schlaflosigkeit verbunden ist. Ebenso können schwere Herzleiden und Störungen der Schilddrüsentätigkeit Depressionen hervorrufen.
Auch die Zeit der Schwangerschaft und danach bildet bei manchen Frauen einen Nährboden für seelische Verstimmungen. Ebenso leiden viele Frauen in den Tagen vor oder nach der Menstruation an mehr oder weniger starken Verstimmungen.
Besonders bekannt und verbreitet sind die Depressionen der Wechseljahre. Die Erkrankung fällt nicht immer mit dem Beginn der Wechseljahre zusammen, sondern kann schon einige Jahre vorher oder auch erst einige Zeit danach zur Entwicklung kommen und ein paar Jahre andauern. Damit verbunden sind allerlei körperliche Beschwerden wie Herzleiden, Hitzewallungen, Gliederzittern und Schweißausbrüche. Dieselben körperlich bedingten Verstimmungen können auch nach Unterleibsoperationen auftreten.


Aber auch beim männlichen Geschlecht finden wir bisweilen in den fünfziger Jahren oder anfangs der sechziger leichte Depressionen, die mit Gedächtnisschwäche, Nachlassen der Spannkraft, Launenhaftigkeit, Angstgefühlen, innerer Unruhe und Weinerlichkeit verbunden sind.

Im Alter sind Depressionen eine häufige Erscheinung, Verarmungsideen und Wahnvorstellungen, Mißtrauen der Welt gegenüber, Angst, Vergeßlichkeit, Urteilsschwäche und unruhiger Schlaf sind typische Begleiterscheinungen.
Der Kranke ist wehleidig, übertrieben ängstlich, voller unberechtigter Sorgen, und seine Klagen wiederholen sich ständig.

Es ist durchaus verständlich, daß körperliche Störungen auch beim Christen zu Depressionen führen können, die sein Glaube nicht zu überwinden vermag. Immer wieder kann beobachtet werden, daß selbst solche Menschen, die vor ihrer Erkrankung einen lebendigen Glauben hatten, träge und kraftlos werden.
 Diese Tatsache macht ihnen nicht wenig zu schaffen, da sie geneigt sind, sich selbst die Schuld an ihrer Glaubensschwäche zu geben.

Die körperliche Behandlung der Erkrankung ergibt sich aus der Art der Störung. Bei nervöser Erschöpfung ist ein völliges Ausspannen in einem Erholungsgebiet ratsam. Eine mehrwöchige Erholung wirkt oft Wunder. Die äußerer Ruhe, das Aufnehmen neuer, positiver Eindrücke, genügend Schlaf und gesunde Ernährung führen meist zu einer baldigen Besserung und Beseitigung nicht nur der körperlichen Beschwerden, sondern auch der Reizbarkeit und Niedergeschlagenheit.
Die durch Leber- Herz- und Schilddrüsenerkrankungen hervorgerufenen Depressionen müssen ärztlich behandelt werden. Wird das Grundleiden erkannt und sachgemäß behandelt, werden auch die seelischen Störungen abnehmen.
 Eine Behandlung durch den Arzt empfiehlt sich auch bei Depressionen in den Wechseljahren. So können z. B. Kneippanwendungen und Hormonpräparate den körperlichen und seelischen Zustand wesentlich verbessern.

Für den Seelsorger ergibt sich bei körperlich bedingten Gemütsverstimmungen eine klar vorgezeichnete Aufgabe. Er wird der ärztlichen Behandlung den ersten Platz einräumen und sich der Grenzen seelsorgerlicher Beeinflussung bewußt sein. Er wird sich davor hüten müssen, solche Zustände als Charakterschwäche, Mangel an Glauben oder als Strafe für begangene Sünden anzusehen. Er wird vielmehr versuchen, den Kranken aufzurichten und ihn positiv zu beeinflussen.

Der Kranke selbst muß die Überzeugung gewinnen, daß er sich trotz all seiner Beschwerden nicht um eine unheilbare seelische Erkrankung handelt, sondern, daß er von seinen Depressionen wieder frei werden wird. Auf diese Weise wird die seelische Veränderung, auch wenn sie sich länger hinziehen sollte, viel eher mit Geduld tragen und verkraften können. Und die seelsorgerliche Hilfe trägt wesentlich zur inneren Befreiung bei.
Bei schweren körperlich bedingter Depression in den Wechseljahren gelten für den Seelsorger dieselben Regeln, wie sie im Kapitel „Melancholie“ dargestellt werden.


2. Depressionen als Folge schwerer Erlebnisse
In zahlreichen Fällen liegt den Depressionen eine Gemütserschütterung zugrunde, die durch ein schweres Erlebnis verursacht ist. Darunter ist nicht einfach die Traurigkeit zu verstehen, unter der auch der seelisch gesunde Mensch leidet, wenn er ein schweres Erlebnis hat. Ein gesunder Mensch findet nach verhältnismäßig kurzer Zeit sein inneres Gleichgewicht wieder. Menschen mit einer ernsten Veranlagung kommen jedoch nicht so ohne weiteres über eine schwere Erschütterung hinweg; sie werden vielmehr von oft lang andauernden Depressionen geplagt.
Welche Erlebnisse können Depressionen hervorrufen? In erster Linie sind es schwere Schicksalsschläge, Krankheiten und Todesfälle, wirtschaftliche Nöte, Wohnungsprobleme, Arbeitslosigkeit, Vermögensverluste, außerdem Enttäuschungen, wie eine unglückliche Liebe, die Lösung einer Verlobung, Vereinsamung, Schwierigkeiten in der Familie und im Berufsleben, Sorgen aller Art und bevorstehende wichtige Entscheidungen, Kränkungen und ungestillter Ehrgeiz.
Häufig kann eine unglückliche Ehe schweren Gemütsdruck zur Folge haben. Dazu kommt die große Zahl der Schuldgefühle. Nicht wenige Depressionen haben ihren Ursprung im Bewußtsein des Menschen, eine schwere Schuld auf sich geladen zu haben. Sie treten besonders dann auf, wenn der Mensch sein schlechtes Gewissen vor anderen zu verbergen sucht.

Ein Beispiel hierfür gibt uns Psalm 32, in dem David bekennt: „Denn als ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein tägliches Klagen. Denn deine Hand lag Tag und Nacht schwer auf mir, daß mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird.“

Der hauptamtliche Mitarbeiter im Reich Gottes kann durch Überlastung, schwierige Seelsorge bei eigener geistlicher Labilität oder der Erkenntnis eigener Unfähigkeit und Sündhaftigkeit gemütskrank werden.
Als ein seelisches Erlebnis sind bei manchen Frauen auch die Wechseljahre anzusehen. Wir beobachten in dieser Zeit häufig Verstimmungszustände leichteren Grades, die nicht unmittelbar als Folge körperlicher Veränderungen entstehen, sondern durch die bewußtgewordene Erkenntnis, daß die Zeit der Mutterschaft vorbei ist. Zahlreiche Minderwertigkeitsgefühle, die ihren Grund in dem vermeintlichen Schwinden ihre äußeren Reize haben, befallen sie.
Viele Frauen sind beim Eintritt der Wechseljahre auch von der unbegründeten Angst erfüllt, es könnte sich in diesem Lebensabschnitt allerlei ernste Krankheiten einstellen. So finden sich neben der Gemütsverstimmung meist auch eine gesteigerte Reizbarkeit und starke Selbstbeobachtung.
Es sind häufig nervöse, empfindliche und stets auf ihre Gesundheit bedachte Naturen, die unter Depressionen zu leiden haben. Aber auch seelisch gesunde Frauen werden davon nicht immer verschont. Stellt sich die Frau jedoch einer Aufgabe, die sie erfüllt, verliert das Wort „Wechseljahre“ seinen deprimierenden Klang – Das Klimakterium wird zu einer Zeit des Neuanfangs.

Die Merkmale der durch schwere Erlebnisse hervorgerufenen Depressionen sind vielgestaltig; Konzentrationsschwäche, Vergeßlichkeit, Arbeitsunlust und völlige Gleichgültigkeit, Ratlosigkeit, Angst und nächtliche Unruhe.
Der Kranke kann sich an nichts mehr freuen, zu nichts mehr aufraffen, alles ist tot in ihm. Neben Selbstvorwürfen finden sich auch Anklagen gegen andere, denen er die Schuld an seinem Zustand zuschiebt. Die Verzweiflung und Bitterkeit dem Leben gegenüber kann Selbstmordabsichten zur Folge haben. Das Leben erscheint dem Kranken so verpfuscht und sinnlos, daß er keinen anderen Ausweg sieht als den Tod. Sind die Ursachen seiner Depressionen beseitigt, tritt meist rasch eine völlige Genesung ein.

Der Seelsorger hat zunächst die Aufgabe, die Ursachen der Depressionen ausfindig zu machen. Vielfach berichtet der Kranke oder seine Angehörigen von selbst darüber. In einer Reihe von Fällen ist jedoch dem Kranken der eigentliche Grund unbekannt, neigt er doch dazu, die unangenehme Ursache aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Oft muß es dem Nervenarzt vorbehalten bleiben, die eigentliche Ursache festzustellen.
Einer ebenso schwierigen Lage sieht sich der Seelsorger gegenübergestellt, wenn der Kranke absichtlich den wahren Grund verschweigt, vielleicht weil irgendeine schuldhafte Handlung vorliegt, die er um keinen Preis offenbaren will aus Furcht vor Verachtung oder etwaiger gerichtlicher Bestrafung. In solchen Fällen muß der Seelsorger versuchen, den Depressiven zu einer freimütigen Aussprache zu veranlassen und ihm klarmachen, daß er nur durch ein offenes, ehrliches Bekenntnis gesund werden kann.

Der Kranke muß sich mit dem Schicksalsschlag, der ihm widerfahren ist, auseinandersetzen und mit ihm fertig werden. Das gelingt ihm in erster Linie, wenn er es lernt, sein Leben aus der Hand Gottes zu nehmen und auch hinter dem Schweren, Unbegreiflichen einen Sinn zu sehen. Die Enttäuschungen des Lebens wird er am besten dadurch überwinden, daß er sich nicht an Menschen und Dingen stößt, sondern mit der Wirklichkeit rechnet und seine egoistischen Wünsche aufgibt.
Ist es durch unfreundliche Behandlung oder Kränkung verbittert, gilt es für ihn, nach eigener Schuld zu forschen und Versöhnlichkeit zu üben, sooft bittere Gedanken in ihm aufsteigen wollen. Auf diese Weise wird er von den Depressionen frei werden.
Auch der sich in Sorgen verzehrende Mensch kann erleben, daß sein Gemütsdruck weicht durch die vertrauensvolle Hinwendung zu Gott. Wie viele haben die Wahrheit des Psalmwortes an sich erfahren: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft!“ (Ps. 62, 2).


3. Der Gemütsdruck der Psychopathen
Ebenso häufig wie die durch schwere Erlebnisse hervorgerufenen Depressionen, sind die der Psychopathen. Während bei den ersten das Erlebnis eine größere Rolle als die Veranlagung spielt, steht hier die krankhafte Veranlagung ganz im Vordergrund. Diese bewirkt, daß die Depressionen schon bei geringen Anlässen auftreten.
Der depressive Psychopath ist leicht gerührt und empfänglich für die trüben und unangenehmen Dinge des Lebens, der geborene Schwarzseher, häufig willensschwach, sehr empfindsam und leicht zu beeindrucken.
Sobald ihm ein Hindernis im Weg liegt, sieht er darin eine unüberwindliche Schwierigkeit, läßt allen Mut sinken und wird lebensüberdrüssig. Jede kleine Aufregung ist imstande, ihn völlig zu Boden zu werfen, und wenn ihm etwas nicht nach Wunsch geht, ist er sofort verzweifelt und fassungslos. Eine schlaflose Nacht, schlechtes Wetter oder eine ungewohnte Situation können seine Stimmung erheblich beeinflussen. Beim Lesen eines traurigen Buches oder Anschauen eines tragischen Films bricht er leicht in Tränen aus, und das Zusammensein mit kranken Menschen drückt ihn leicht nieder. Körperliches Unbehagen und Ermüdung stimmen ihn häufig depressiv, ebenso das Alleinsein oder fehlende Ablenkung an Sonntagen und im Urlaub.
In seiner Not hängt er sich gern an andere Menschen, um durch sie getröstet und aufgemuntert zu werden. Wird er jedoch durch sie enttäuscht, kommt es zu neuen Verstimmungen.
Er ist völlig abhängig von Menschen, Wetter, Schlaf, körperlichem Befinden und anderen Umständen. Nicht selten stellen sich plötzlich schwere Depressionen ein, deren Ursache völlig unklar ist. Viele Kranke können nur durch den engen Anschluß an verständnisvolle Menschen mit dem Leben fertig werden, weil sie dauend beraten und gestützt werden wollen. Manche sind nur dadurch ihrer Lebensaufgabe gewachsen, daß sie einen verständnisvollen Lebensgefährten besitzen, bei dem sie sich immer wieder Hilfe und Trost holen können.

Bezeichnend ist es, daß die Depressionen des Psychopathen sehr rasch nachlassen, wenn die Unannehmlichkeiten und Probleme aus dem Weg geräumt sind. Durch äußere Anregung und Beeinflussung, etwa durch eine angenehme Gesellschaft, ein Konzert oder irgendeine Ablenkung, läßt er sich aus seinem Gemütsdruck meist rasch herausreißen. Oft genügt ein Scherz, ein freundlicher Blick, ein aufmunterndes Wort, um ihn wieder fröhlich zu stimmen.
War der Kranke vielleicht eben noch völlig fassungslos und in Tränen aufgelöst, kann er bald darauf einen völlig ruhigen und heiteren Eindruck machen, um beim nächsten geringsten Anlaß von neuem verstimmt zu sein. Oft versinkt er zu Hause willenlos in seinen Depressionen, während er im Berufsleben gutgelaunt und zur Zufriedenheit seine Arbeit tut. 
So beobachten wir bei solchen Menschen eine starke Beeinflußbarkeit des Gemüts und einen raschen Wandel der Stimmung.

Als Christ weist der depressive Psychopath begreiflicherweise starke Schwankungen in seinem Glaubenleben auf. Schon bei geringen Unannehmlichkeiten machen sich Kleinglaube und Verzagtheit bemerkbar. Kommen körperliche Beschwerden dazu, kann er den Blick zu Gott völlig verlieren, weil er nur an seine eigene Unfähigkeit und Schwäche denkt. Die Festigkeit und Stetigkeit des Glaubens läßt er vermissen. Immer wieder lockert sich seine Verbindung zu Gott durch die über ihn kommenden Gemütsverstimmungen.

Der Seelsorger hat im Umgang mit solchen Menschen eine dankbare Aufgabe. Durch Liebe und verständnisvolles Eingehen auf die Kranken, durch Aufmunterung und Trost können sie ihr seelisches Gleichgewicht leichter wiedergewinnen. Gleichzeitig muß dem Kranken klargemacht werden, daß seine Verstimmungen in keinem Verhältnis zu der geringfügigen Ursache stehen. Er muß die kleinen Freuden des Alltags erkennen und in sich aufnehmen lernen.
Daneben ist es wichtig, seinen Willen zu stärken, um die aufsteigenden Verstimmungen zu überwinden und ein ausgewogenes Gefühlsleben zu bekommen. Auch geregelte Arbeit und ein Dienst für den Nächsten sind eine gute Therapie. Weil aber der Kranke meist sehr bald aufs neue unter Gemütsdruck gerät und seiner Umgebung damit zur Last wird, ist ein großes Maß von Geduld nötig, um ihm zu helfen.
Da dem Kranken die lebendige Gemeinschaft mit Gott inneren Halt bietet, sollte der Seelsorger seine Aufgabe darin sehen, ihn im Glauben zu stärken. Ein Wort aus der Bibel (die Psalmen eignen sich besonders gut) oder der Vers eine christlichen Liedes können wesentlich zur inneren Aufmunterung beitragen.

Die Einübung des Dankens ist daneben eine wesentliche Hilfe. Wenn der Kranke es lernt, seine immer wieder auftretenden Depressionen aus der Hand Gottes zu nehmen, und auf diesem Weg zu Standhaftigkeit und Selbständigkeit im Glauben kommt, wird er mehr und mehr von ihnen befreit werden.


4. Die schwermütige Veranlagung – Depressionen ohne erkennbare Ursachen
Während bei der krankhaften Veranlagung der Psychopathen eine geringfügige Ursache die traurige Verstimmung hervorruft, beobachten wir in zahlreichen Fällen einen ohne erkennbare Ursache vorhandenen Gemütsdruck. Es handelt sich dabei um eine schwermütige Veranlagung, die die krankhafte Steigerung der melancholischen (schwermütigen) Gemütsart darstellt.

Ein schwermütig veranlagter Mensch zeigt schon in seiner Kindheit und Jugend ein stilles, verschlossenes und menschenscheues Wesen. Mit Vorliebe sucht er die Einsamkeit, um seinen trüben Gedanken nachzuhängen. Geselligkeiten interessieren ihn nicht, und in extremen Fällen bleiben ganze Bereiche, wie Heiterkeit, Freude, Lebenslust für ihn unzugänglich. Seine Grundstimmung zeigt Gedrücktheit und Traurigkeit. Er ist nur mit sich selbst beschäftigt, und er kann nur wenig Gemeinsinn aufbringen. Von seinen Mitmenschen zieht er sich nach Möglichkeit zurück, weil er sich unverstanden fühlt, ihre Hilfe nicht in Anspruch nehmen will und ihnen nicht zur Last fallen möchte. Wird ihm Liebe und Verständnis entgegengebracht, glaubt er, daß er sie nicht verdient hätte.
Zu einer Aussprache über seine Nöte fehlen ihm der Mut und die richtigen Worte. So versucht er, alles in seinem Inneren zu verbergen und mit sich allein abzumachen.
Von sich, seinem Können und seinen Leistungen hat der schwermütig Veranlagte eine sehr geringe Meinung. Wenn ihn seine Eltern streng anfassen oder seine gesünderen und unkomplizierten Geschwister, wie dies häufig der Fall ist, ihn in den Hintergrund drängen, so steigern sich seine Minderwertigkeitsgefühle erheblich.
Weil er seinen Pflichten nicht hundertprozentig nachzukommen glaubt, bleibt er in seiner Arbeit unbefriedigt, empfindet sie nur als eine Bürde und verrichtet sie lediglich aus Gewissenhaftigkeit.

Durch sein mangelndes Selbstvertrauen nimmt er alles sehr schwer, und vor jedem Entschluß überlegt er lange Zeit, ob die Sache durchführbar ist. Jede Prüfung bedeutet für ihn eine unüberwindbare Klippe. Hat er einmal eine Entscheidung gewagt, empfindet er oft hinterher starke Reue über seinen Schritt.
Er ist völlig abhängig von dem Urteil seiner Mitmenschen. Beruflich hält er sich für untauglich und beneidet andere um ihre Leistungen. Trotz aller Begabungen kommt er im Leben nicht voran, weil er sein Wissen und Können nicht in der rechten Weise entfalten kann. Aus diesem Grund verzichtet er nicht selten auf einen verantwortungsvollen, ausbaufähigen Posten, obwohl er dazu durchaus geeignet wäre.
Sehr oft quälen den schwermütig Veranlagten massive Zwangsvorstellungen, über die er nicht Herr werden kann, z. B. die Angst, seine Pflicht versäumt oder bei seiner Arbeit etwas falsch gemacht zu haben. Oder er fürchtet, seine Nächsten durch Worte und Handlungen zu kränken oder ihnen nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben.
Das hat zur Folge, daß er von dauernden Gewissensbissen gequält wird. Er neigt zu Beziehungsvorstellungen, indem er alle möglichen Begebenheiten mit seiner Person in Verbindung bringt. Wenn sich ein Unglück ereignet oder in der Familie jemand krank wird, meint er nicht selten, man gebe ihm die Schuld daran. Oder er fürchtet im Umgang mit anderen, beobachtet zu werden und unangenehm aufzufallen. Dies sind alles Gründe, warum er sich niemals wirklich froh und frei fühlt und ständig ein leichter Gemütsdruck auf ihm lastet. Dazu kommt, daß er oft von seiner Umgebung völlig verkannt wird.

Dieses Krankheitsbild macht sich in der Regel schon in der Jugend bemerkbar, und es kann in stärkerem oder geringerem Grade das ganze Leben hindurch bestehenbleiben. Die Kranken sind, so weit sie zurückdenken können, gedrückt, freudlos, ohne Arbeitsfreude und Selbstvertrauen. Ihr Aussehen ist meist blaß und kränklich. Sie klagen über die verschiedenen körperlichen Beschwerden, wie Antriebsschwäche, rasche Ermüdung, Magenbeschwerden und Schlaflosigkeit.
Hat sich ein schwermütig veranlagter Mensch Gott übergeben, weist sein Glaubensleben eine besondere Färbung auf: Er vermag sich von einem andauernden Schuldbewußtsein nicht freizumachen und glaubt, nur durch Bußübungen die Vergebung erlangen zu können. Vieles wird ihm in seiner Übergewissenhaftigkeit zur Sünde. Er grübelt über religiöse Dinge nach und ringt täglich aufs neue um den Glauben.

Es fällt ihm sehr schwer, sich seines Glaubens zu freuen und in ein kindliches Verhältnis zu Gott zu treten. Die Gnade und Liebe Gottes wagt er kaum für sich in Anspruch zu nehmen, und die Bibel enthält für ihn nicht die frohe Botschaft des Evangeliums, sondern nur das Gesetz, vor dessen Forderungen er zurückschreckt, da sie ihm unerfüllbar erscheinen. Weil er nichts von Gottes Nähe fühlt, glaubt er, mit Gott nicht im reinen zu sein. Dadurch gerät er leicht in Selbstquälerei und krampfhaftes Bemühen um inneren Frieden.

Im folgenden Brief einer Patientin wird der qualvolle Zustand, unter dem diese Menschen leiden, deutlich:

„Es ist mir unangenehm, Herr L., daß ich Ihnen immer wieder mit den gleichen Klagen komme; aber wenn ich morgens aufwache, habe ich Angst vor dem Heimgehen in die alten Verhältnisse und vor der Zukunft. Das Zuhausesein ist mir eine Qual. Meiner Arbeit kann ich nicht mehr richtig nachkommen vor innerer Angst und Aufregung; darum mache ich nur das Nötigste. Meine Verwandten und Freunde können nicht verstehen, daß ich mich so niederdrücken lasse, und meinen, ich sollte mir eine Arbeit suchen und mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Sie versuchen, mir Mut zu machen, wenn ich ihnen sage, daß mir dazu die Gaben und Fähigkeiten fehlen. Aber das ist keine Einbildung von mir, sondern die Wirklichkeit.

Nach einer Aussprache mit meinen Angehörigen meine ich immer, ich müßte mich wenigstens an Jesus halten können; denn im tiefsten Grunde kann und will ich ja auch nicht ohne Gott sein. Manchmal habe ich schon geglaubt, ich könnte Gott festhalten, aber immer wieder war es nicht von Bestand.
Meine Unsicherheit und Unselbständigkeit überträgt sich auch auf mein geistliches Leben. Sagt mir z.B. jemand, ich sollte dies oder jenes in meinem Leben ändern, bin ich so ziemlich damit einverstanden, obwohl hinter allem die die Angst vor dem Versagen steht. Kommt mir aber dann jemand mit einem anderen Vorschlag, halte ich den für richtig und annehmbar. Dadurch befinde ich mich ständig im Konflikt. Dasselbe spielt sich in meinem geistlichen Leben ab. Wenn ich jetzt den Willen habe, am Glauben festzuhalten, und es kommen Stimmen von innen oder außen, die mir das Gegenteil sagen, ist wieder alles aus, ich liege am Boden.

So machen mir dauernd die Zweifel und Grübeleien zu schaffen. Ich frage mich oft: Warum muß ich diese Zweifel haben? Andere Menschen haben sie auch einmal, aber sie kommen doch immer wieder aus diesen Zweifeln heraus. Es gelingt mir einfach nicht, mich aus diesem Zustand zu reißen. Wenn ich es erzwingen wollte, erreichte ich das Gegenteil und lag erst recht am Boden . . . „

Die Aufgabe des Seelsorgers besteht darin, zunächst den schwermütig Veranlagten zur Aussprache zu bewegen, um ihm durch liebevollen Zuspruch und Aufmunterung zu helfen. Strenge und hartes Anfassen wären völlig verkehrt, denn dadurch würde der Neigung des Depressiven, sich zurückzuziehen, nur Vorschub geleistet. Ebenso ist starkes Bedauern zu vermeiden.

Der Mangel an Selbstvertrauen muß als unbegründet nachgewiesen, der Mut gestärkt werden, indem der Seelsorger ihm zu einer frohen und bejahenden Lebensauffassung und richtigen Einstellung zu seiner Umwelt verhilft und sich das verkrampfte Verhältnis zu Gott in einen kindlich-frohen Glauben verwandelt.
 Dadurch wird ihm Gott als Vater groß, den er lieben und zu dem er mit allen Anliegen kommen kann und der ihm täglich die Kraft für seine Aufgaben schenken will. Vom eigenen Ringen muß er sich lösen durch das dankbare Ergreifen der Gnade Gottes.
Eine verständnis- und liebevolle Seelsorge leistet dem schwermütig Veranlagten einen großen Dienst, indem er nach und nach lernt, seine falsche Einstellung zu sich selbst, seinen Mitmenschen und Gott gegenüber zu erkennen und zu überwinden.

5. Die Schwermut (Melancholie)

Die Krankheitserscheinungen der Schwermut
Die schwermütige Veranlagung ist häufig die Vorstufe der Schwermut. In einer Reihe von Fällen zeigt aber die Vorgeschichte nichts Auffallendes. Der Kranke kann bis zum Beginn der Schwermut einen durchaus positiven und seelisch gesunden Eindruck machen, doch ist eine krankhafte Veranlagung auch hier anzunehmen.

Nachweislich feststellbar ist die erbliche Belastung bei mindestens vier Fünftel der Kranken. Sind die Eltern oder Geschwister frei von Schwermut oder einer entsprechenden Veranlagung, so ist sie oft bei entfernteren Verwandten nachzuweisen. Man spricht daher bei dieser Krankheit von einer endogenen, d.h. anlagebedingten Störung.
Wenn wir nach der Ursache der Melancholie forschen, wissen die Kranken oft nichts Bestimmtes anzugeben. Bei einer nicht geringen Zahl setzt die Schwermut ohne jeden erkennbaren Grund ein. Häufig gibt der Kranke jedoch ein bestimmtes Erlebnis an, das nach seiner Auffassung die alleinige Ursache seines Zustandes ist. Tatsächlich lassen sich oft Umstände nachweisen, die einen entscheidenden Einfluß auf das Zustandekommen der Schwermut ausüben; jedoch kann ihnen nach dem Verlauf der Krankheit lediglich eine auslösende Rolle zugeschrieben werden.

Die eigentliche Ursache bildet die krankhafte Anlage, die in dem Menschen schlummert und nur auf einen Anlaß wartet, um zum Ausbruch zu kommen. Ein solcher Anlaß kann jede seelische Erschütterung sein. Daß diese aber nicht die alleinige Ursache der Schwermut sein kann, geht daraus hervor, daß die Krankheit hinsichtlich Stärke und Dauer der seelischen Erschütterung keineswegs entspricht.
Die Melancholie beginnt häufig mit Beschwerden wie Kopfschmerzen, Abgespanntheit, Magenbeschwerden, Appetit- oder Schlaflosigkeit. Dazu gesellt sich bald eine traurige Grundstimmung, die in zunehmendem Maße das Krankheitsbild beherrscht und die morgens in besonderer Stärke auftritt.
Der Kranke sieht alles nur noch in den schwärzesten Farben, und die Freude am Leben fehlt ihm völlig. Für ihn hat alles keinen Sinn mehr. Vergangenheit und Zukunft sind für ihn nichts weiter als eine ununterbrochene Kette von Leiden und Schmerzen. Was ihn bisher mit Freude und Hoffnung erfüllt, ist jetzt nur noch eine Quelle der Verzweiflung. Tiefe Depressionen beherrschen sein ganzes Denken. Selbst fröhliche Ereignisse stimmen ihn trübsinnig. Besonders stark befällt ihn die Schwermut, wenn er allein ist, aber auch in der Gesellschaft fröhlicher Menschen ist er nicht frei davon. Bei jeder Gelegenheit kommen dem Kranken die Tränen.


Zu den Depressionen gesellen sich meistens starke seelische Hemmungen. Diese äußern sich zunächst in einer Verlangsamung und Schwerfälligkeit des Denkens. Der Kranke ist unfähig, sich geistig zu sammeln. Schon das Lesen und Schreiben fällt ihm schwer und ist ihm oft ganz unmöglich. Einer Unterhaltung kann er zeitweise kaum folgen, da er selbst einfach Gedanken nicht mehr erfassen kann.

Diese Hemmung zeigt sich aber nicht nur im Denken, sondern auch im Gefühlsleben. Der Kranke leidet unter einer inneren Leere und seelischen Erkaltung. Er scheint daher stumpf und gefühllos. Alles scheint in ihm erstorben zu sein. Er kann keine Liebe mehr zu seinen Angehörigen aufbringen, und auch die Schönheiten der Natur erfreuen ihn nicht mehr, das Interesse an den Ereignissen des Lebens und an seinem Beruf hat er verloren. 
Er ist völlig gleichgültig geworden gegenüber all dem, was ihm in gesunden Tagen am Herzen gelegen hat. Er bringt weder Freude noch Haß, noch ein anderes Gefühl auf. Er kümmert sich nicht mehr um seine häuslichen Aufgaben und seinen Beruf, und er legt auch keinen Wert mehr auf sein Äußeres.
Neben den geistigen und seelischen Hemmungen weist auch der Wille bald eine starke Behinderung auf. Der Kranke muß sich zu allem, was er tun will, zwingen. Oft bringt er nicht einmal mehr die Fähigkeit auf, einen Entschluß zu fassen. Selbst zu den einfachsten Verrichtungen des täglichen Lebens kann er sich kaum aufraffen.

So bleibt er morgens lange im Bett liegen, kann sich nicht allein ankleiden, ist kaum zum Essen zu bewegen und sitzt untätig herum. Hat er endlich angefangen, einen Brief zu schreiben, so ist er außerstande, ihn zu vollenden. Selbst das Sprechen fällt manchen Melancholikern schwer. Stundenlang sprechen sie kein Wort, und an sie gerichtete Fragen bleiben unbeantwortet. Ist der Kranke noch berufstätig, läßt er oft dringende Arbeiten liegen. Die Kraft, Versäumtes nachzuholen, fehlt ihm gänzlich.

In schweren Fällen kommt es zu einer Reihe weiterer Krankheitserscheinungen. Als erstes ist die Angst zu nennen. Der Kranke weiß oft selbst nicht, wovor er sich eigentlich fürchtet. Nicht selten hat er jedoch Angst vor bestimmten Dingen; z.B. fürchtet er sich davor, nicht mehr gesund zu werden, den Verstand zu verlieren, in ein psychiatrisches Krankenhaus zu kommen und seinen Beruf aufgeben zu müssen.
Häufig beherrscht ihn auch die Furcht vor schweren Schicksalsschlägen, die über ihn als Strafe für irgendwelche Verfehlungen kommen könnten. Oder er fürchtet sich vor der ungewissen Zukunft und vor dem Selbstmord.
So äußert ein Schwermütiger: „Die Angst, ich könnte einmal etwas tun, um meiner Not ein Ende zu machen, läßt mich selten los. Ich möchte es nicht, und doch quält mich die Angst, mein Leben werde noch einmal ein schreckliches Ende nehmen.“
Manche Kranke haben Furcht vor dem Alleinsein, andere vor der Gesellschaft vieler Menschen. Die Angst kann besonders stark morgens und nach dem Mittagessen auftreten.

Wenn sich die Alltagssorgen zu grundlosen Befürchtungen auswachsen und der Kranke sich immer schrecklichere Dinge ausmalt, kommt es leicht zu Wahnvorstellungen. So ist der Kranke, der zunächst fürchtete, nicht wieder gesund zu werden, bald davon überzeugt, ein Todeskandidat zu sein. Oder es entsteht aus falschen Schuldgefühlen heraus die Wahnvorstellung, ein Verbrecher zu sein, der ins Gefängnis gehört.
Er fühlt sich aufgrund seiner Schlechtigkeit als Außenseiter und bildet sich ein, seinen Angehörigen Böses zugefügt, Kummer und Schande bereitet zu haben und an allem Unglück der Welt schuld zu sein und deshalb den Tod verdient zu haben. Die Liebe, die ihm die anderen erweisen, sei unangebracht. Daß er seine Familie nicht liebt, hält er für ein schweres Unrecht, und daß er seinen beruf vernachlässigt, sieht er als Willensschwäche und Drückebergerei an. Er ist fest davon überzeugt, vieles verkehrt gemacht zu haben, was er nie mehr wiedergutmachen kann. Wenn er einmal etwas fröhlicher erscheint, fürchtet er, als Heuchler angesehen zu werden.

Neben diesem Versündigungswahn beobachten wir auch häufig Beziehungswahnvorstellungen. Der Kranke ist der Auffassung, daß die Leute über ihn klatschen und lachen, weil er der Dümmste und Schlechteste sei. Er fühlt sich verfolgt, von seinen Mitmenschen und auch von der Polizei.
Dazu kommt der Verarmungswahn. Der Kranke glaubt, sein Geld reiche nicht mehr, seine Familie werde verhungern, und er fiele schließlich dem Staat zur Last.
Nicht selten sind auch hypochondrische Wahnvorstellungen. So glaubt der Kranke, er werde immer kleiner, sein Darm sei verschlossen, das Herz sei in den Bauch gerutscht, er habe keinen Mund mehr, seine Arme schrumpften zusammen, er könne nicht mehr sitzen, in seinem Kopf rumore es, als wenn ein Wurm darin säße u. a.
Jedes Organ, jeder Körperteil kann von irgendwelchen Beschwerden betroffen sein, die in immer gleichbleibenden Worten vorgebracht werden. Jegliche Krankheitseinsicht fehlt dem Schwermütigen; seine Wahnvorstellungen sind zu stark, und er läßt sich in keiner Weise von ihnen abbringen.

In Verbindung damit werden auch häufig Selbstvorwürfe geäußert. Der Kranke wirft sich unaufhörlich vor, er habe sein Leben verpfuscht, seinen Beruf vernachlässigt, Geld veruntreut, seine Kinder schlecht erzogen und seine Familie ins Unglück gestürzt. Stirb ein Angehöriger, hält er sich für daran schuldig.
Jedes unangenehme Erlebnis, ja überhaupt alles, was er hört und liest, kann ihm zum Anlaß von Selbstanklagen dienen. Da die Selbstvorwürfe aus den Wahnvorstellungen hervorgehen, sind sie durchaus unbegründet. Auch wenn die Selbstbeschuldigung an ein wirkliches Geschehen anknüpft, stellt sie eine wahnhafte Übertreibung dar.

Ein weiteres Merkmal der Schwermut ist die Grübelei. Der Kranke zerbricht sich den Kopf über alle möglichen Dinge des Lebens, besonders stark über die Ursache seines Leidens Irgendeine Schuld, vielfach aus frühester Jugend, steht ihm vor Augen und läßt ihm keine Ruhe. Auch grübelt er oft darüber, wie viele Schwierigkeiten er seiner Familie macht, wieviel Geld seine Krankheit kostet, wann er wieder arbeiten kann und ob sein Zustand unheilbar ist usw.

Der Schwermütige ist meist auch von innerer Unruhe erfüllt. Es ist die Folge seiner zahlreichen Selbstvorwürfe und Ängste. Diese Unruhe hindert ihn, einen klaren Gedanken zu fassen. Er ist völlig ratlos und kann nachts nicht schlafen. Bei der Arbeit fehlt ihm die Ausdauer, sobald er etwas anpackt, legt er es auch wieder beiseite, um nach kurzer Zeit wieder etwas Neues anzufangen.
Auch nach außen hin macht sich seine Ratlosigkeit bemerkbar: Er geht unaufhörlich im Zimmer umher, uns selbst nachts steht er immer wieder auf.

In schweren Fällen kann es zu Sinnestäuschungen kommen; besonders in der Nacht kann der Kranke alle möglichen Gestalten sehen oder Stimmen hören. Es ist verständlich, daß der Kranke, dem nichts mehr Freude macht und der Angst, Selbstvorwürfen und Skrupel geplagt ist, immer lebensüberdrüssiger wird. Er hält sich für lebensuntauglich. Die Lebensmüdigkeit verbindet sich häufig mit Selbstmordgedanken: Der Kranke will seinem Leben ein Ende machen und überlegt ständig, auf welche Weise er diesen Plan ausführen könnte.
Diese Selbstmordabsichten können plötzlich so heftig auftreten, daß der Schwermütige sich nicht dagegen wehren kann und irgendeine unbedachte Handlung begeht. Manchmal aber bereitet er seinen Selbstmord mit großer Umsicht vor und wartet auf einen günstigen Augenblick, um ihn auszuführen. Glücklicherweise kommt es jedoch aufgrund seiner Entschlußunfähigkeit nicht immer zu einem ernsthaften Versuch.

Auch körperliche Krankheitserscheinungen spielen bei der Schwermut eine Rolle, besonders wenn die Angst im Vordergrund steht.
Wir beobachten bei den Kranken sehr oft eine Erschlaffung aller Körperorgane. Ihre Tätigkeit verlangsamt sich, und der ganze Stoffwechsel wird herabgesetzt. Das hat eine gebückte Haltung des Schwermütigen zur Folge. Seine Bewegungen werden scherfällig, sein Äußeres altert schneller, die Augen sind trübe, die Atmung verlangsamt sich und ist oberflächlich. Auch machen sich Müdigkeit, Benommenheit, Schwindel, Appetitlosigkeit, Magendruck, Stuhlverstopfung, Herzbeklemmung, Durchblutungsstörungen und Schlaflosigkeit bemerkbar. Das Körpergewicht kann erheblich sinken, selbst wenn er normal ißt. Frauen leiden häufig an Menstruationsstörungen.

Die Schwermut kann je nach Charakter des Kranken eine besondere Färbung aufweisen, da er nicht mehr imstande ist, sich wie ein Gesunder zu beherrschen. Wenn der Schwermütige von jeher empfindlich und eigenwillig war, so ist er nun mit allem unzufrieden, unleidlich, rechthaberisch und herrschsüchtig. War er in gesunden Tagen tatkräftig, lehnt er sich zuweilen gegen die Melancholie auf und verspürt den Drang, Gegenstände entzweizuschlagen oder sich sonstwie auszutoben. Neben seinen Selbstanklagen traktiert er seine Umgebung mit Vorwürfen. Durch die Ungeduld und Unfähigkeit, sich in die Gemeinschaft einzufügen, kann sich sein Zustand erheblich verschlimmern und die Heilung stark verzögern.
Kennzeichnete den Kranken vor dem Ausbruch der Schwermut Willensschwäche, klagt und jammert er nun unaufhörlich, weint fassungslos und läßt sich gehen. Er kann störrisch sein wie ein Kind, sich zu Boden werfen, in betonter Weise von Selbstmord sprechen und seine Beschwerden bewußt übertreiben (sog. Jammer-Melancholie).
Solche Menschen klammern sich an andere Menschen und wollen dauernd eine Hilfe um sich haben, um sich bemitleiden und bedienen zu lassen. Zeitweise können sich Ohnmachtsanwandlungen, Krampfanfälle und starkes Zittern der Glieder einstellen, oder es zeigt sich eine Unfähigkeit, die Arme richtig zu gebrauchen, zu gehen und zu stehen; kurz, es können eine Menge hysterischer Erscheinungen auftreten, die aber keineswegs überzubewerten sind.

Die Schwermutsäußerungen können die Angehörigen stark belasten und ihre Geduld und Liebe auf eine harte Probe stellen.
Ein besonders unglücklicher Umstand ist es, daß die mit der Schwermut Hand in Hand auftretenden Störungen den Gemütsdruck noch verstärken. Vor allem quält den Kranken seine Gefühlkälte, seine Gleichgültigkeit, das Unvermögen zu denken und zu arbeiten. Diese Rückwirkung trägt dazu bei, daß das leiden sich oft lange hinzieht.
Es ist bemerkenswert für die Schwermut, daß sie außerordentlich häufig religiös gefärbt ist. Selbst Kranke, denen in gesunden Zeiten Gott völlig gleichgültig war, machen sich während der Krankheit manchmal Vorwürfe darüber, daß sie sich bisher so wenig um Gott und die Kirche gekümmert haben. Sie reden immer wiedewr davon und bitten ihre Umgebung, für sie zu beten – ein Zeichen dafür, daß das Unterbewußtsein auch des Nichtchristen einen religiösen Inhalt besitzt. Sobald jedoch die Depressionen vorüber sind, ist auch das Verlangen nach Gott geschwunden und von Sündenbewußtsein und Selbstanklage keine Spur mehr vorhanden.

Ist das religiöse Moment der Schwermut schon bei Menschen anzutreffen, die keine lebendige Beziehung zu Gott haben, ist es begreiflich, daß bei Christen sämtliche Schwermutserscheinungen in ausgesprochen religiösem Gewand auftreten können. 
So erlebt der Christ die Hemmungen als geistliche Dürre. Sein ganzes Glaubensleben ist tot. Er kann sich nicht mehr über Gott freuen, seine Nähe nicht fühlen; er empfindet keine Liebe zu ihm, und seine Heilsgewißheit ist geschwunden.
Bei starker Gleichgültigkeit klagt er darüber, daß er nicht einmal mehr Reue über seine Sünden und den Willen, ein anderer Mensch zu werden, aufbringen kann. Er sitzt stundenlang über die Bibel, ohne daß ein Wort sein Herz erreicht. Auch zur Predigt oder zum Gebet kann er seine Gedanken nicht sammeln. Er betet völlig gedankenlos ohne innere Beteiligung. Dabei hat er das Gefühl, daß eine Worte nur bis zur Zimmerdecke reichen. Ihm ist, als habe er gar keinen Willen mehr, sich Gott zu übergeben. „Mein Wille steht auf der Seite Gottes; nur ist es, als ob er gefangen sei, es fehlt ihm die Kraft, durchzubrechen.“

Der Kranke kann sich auch nicht mehr aufraffen, wie gewohnt seine Stille Zeit zu halten, und ein Dienst für den Herrn ist ihm unmöglich geworden.
Die Angst äußert sich beim Christen in Form einer lebhaften Furcht vor dem heiligen und gerechten Gott und dessen Vergeltung. Er ist überzeugt, daß es für ihn keine Gnade mehr gibt und daß die ewige Verdammnis auf ihn wartet.


Auch die Wahnvorstellungen und Selbstvorwürfe sind beim Christen religiöser Art. Seinen Zustand sieht er als gerechte Strafe für seine Verfehlungen an; er glaubt, von Gott verstoßen und von ihm abgefallen zu sein. So klagt er sich zahlreicher Sünden an, die ihm nicht vergeben werden können. Er ist überzeugt, Gott gelästert und die Sünde wider den Heiligen Geist begangen zu haben. Er meint, überhaupt nie ein wirkliches Kind Gottes gewesen zu sein. Nicht selten glaubt er, besessen zu sein.

Die innere Unruhe bringt ihn leicht zu der Annahme, er werde von bösen Geistern verfolgt. Beim Bibellesen bezieht er die von der Verdammnis redenden Stellen auf sich und nimmt nur die anklagenden und strafenden Schriftworte in sich auf, während er die Verheißungen und Trostworte zurückweist. Er hält sich für den größten Sünder und damit für unwürdig, zu Gott zu beten.

Jede Predigt ist ein Anlaß zu neuen Selbstanklagen. Von der Unrichtigkeit seiner Gedanken ist es nicht zu überzeugen. Selbst wenn ihm nachgewiesen werden kann, daß er nicht gesündigt hat oder daß seine Schuld längst vergeben ist, kommt er von seinen Selbstvorwürfen nicht los.

Neigt der Christ zu Zwangszuständen, so handelt es sich häufig um die Zwangsbefürchtung, die göttlichen Gebote nicht genau zu erfüllen, dem Nächsten Anlaß zum Ärgernis zu geben, nicht alles gebeichtet zu haben.
Hieraus kann sich ein lebhafter Bekenntnis- und Wiedergutmachungszwang entwickeln. Dazu kommen häufig Lästergedanken, die ihn quälen, wenn er die Bibel liest oder den Gottesdienst besucht.

Auch von Selbstmordgedanken wird der Christ nicht verschont. Diesen Kampf in seinem Inneren kann sich der Gesund nur schwer vorstellen. Während ihn einerseits die lebensmüden Gedanken quälen, weiß er andererseits, daß sein Vorhaben Sünde ist.

Alle diese krankhaften Gedanken haben zur Folge, daß der Christ nun erst recht in seelischen Druck und innere Anfechtung versetzt wird. Die Überzeugung, sich mehr und mehr von Gott zu entfernen, wächst. Seine Hemmung wird ihm zur Sünde, indem er sich sagt: Weil ich nicht glaube und die Gnade nicht erfasse, kann Gott mich nicht annehmen. Das Grübeln wird ihm zur Sünde, indem er folgert, Gott lasse ihn nicht gesund werden, weil er an seiner Liebe zweifle. Der Lebensüberdruß wird ihm zur Sünde, indem er daraus schließt, daß er verloren ist. Und wenn sein Zustand Schwankungen aufweist und nach einer leichten Besserung eine erneute Verschlimmerung einsetzt, macht er sich Vorwürfe darüber, daß er ein „schwankendes Rohr“ ist, das Gott nicht gebrauchen kann.

Im Bewußtsein seiner Glaubensarmut kann er begreiflicherweise kein freudiges Zeugnis mehr für Jesus Christus ablegen. Besonders schmerzlich empfindet der hauptamtliche Mitarbeiter die Schwermut, weil ihm die für den Beruf nötige Geisteskraft und Glaubensfreudigkeit abhanden gekommen ist und weil er für seinen Dienst völlig unfähig wird.

So ist die Schwermut für den Christen eine unerträgliche Last. Sein Glaubensleben wird durch die Krankheit schwer erschüttert, und er neigt dazu, seinen Zustand auf teuflische Einflüsse zurückzuführen.
Während er eine körperliche Störung glaubensmäßig eher verkraftet, gerät er durch die Melancholie in große innere Nöte. Denn jede Art von Depressionen erscheinen ihm für einen Christen unwürdig und als Zeichen mangelnden Glaubens und fehlender Treue Gott gegenüber.
Die Trostlosigkeit seiner Lage wird oft noch durch das Verhalten seiner Umwelt vergrößert. Häufig stehen ihm Angehörige und Freunde verständnislos gegenüber, und nicht selten wirft man einem Melancholiker mangelndes Gottvertrauen vor.

Der Verlauf der Schwermut ist wie ihre Entstehung nur wenig von äußeren Einwirkungen abhängig. War eine Gemütserschütterung der Auslöser, so dauert die Krankheit an, auch wenn die äußeren Umstände ihren Einfluß längst verloren haben.

Die Dauer der Schwermut schwankt zwischen einigen Monaten und einigen Jahren, im Durchschnitt beträgt die Dauer ein halbes Jahr. Die Heilung tritt meistens ganz allmählich, manchmal aber auch innerhalb kurzer Zeit ein. 
Mit zunehmender Besserung schwächen sich die krankhaften Erscheinungen mehr und mehr ab. Hierbei kommt es aber auch häufig zu Rückschlägen, die jedoch immer seltener werden, so daß die Besserung vielfach keinen gleichmäßigen Verlauf nimmt, sondern in Wellenbewegungen verläuft. Nach der Genesung ist das Seelenleben wieder völlig intakt, ohne daß eine Schädigung zurückbleibt. 

Bei einer Anzahl von Fällen kommt es nach einer gewissen Zeit zu einer erneuten Erkrankung. Der Rückfall kann sich schon nach einem halben bis einem Jahr, oft erst nach zehn oder zwanzig Jahren einstellen. Sind die Zwischenzeiten ungefähr gleichmäßig und nicht zu lang, so spricht man von periodischer Melancholie. Die Stimmung zwischen den einzelnen Erkrankungen ist meistens ausgeglichen und die Leistungsfähigkeit normal.


Die Beurteilung der seelischen Störungen bei Schwermut
Kaum eine seelische Störung wird von der Umgebung des Kranken, wie auch vom Kranken selbst, so oft falsch beurteilt wie Schwermut. Nahezu jede Krankheitserscheinung kann falsch gedeutet werden.
So wird nicht selten die Hemmung des Willens als Willensschwäche und Eigensinn angesehen, und hinter der Blockierung des Denkens und des Gefühlslebens wird oft beginnender Schwachsinn vermutet. Die Wahnvorstellungen des Schwermütigen werden leicht für Einbildung gehalten, die man ihm energisch ausreden muß.

Besonders die Auswirkung der Schwermut auf das geistliche Leben wird häufig falsch beurteilt. So wird die Unfähigkeit, die Vergebung im Glauben zu begreifen, oft als Hochmut, die Unempfänglichkeit für göttliche Einflüsse als Verstocktheit bezeichnet. Die Selbstvorwürfe sieht man als echte Sündenerkenntnis und Wirkung des Heiligen Geistes, Lästerungen und Selbstmordgedanken werden für ein sicheres Zeichen dämonischer Beeinflussung, oft auch für Besessenheit gehalten. Der Zustand, in den ein Unglücklicher geraten ist, erscheint vielen als die natürliche Folge seiner Schuld oder als eine Anfechtung des Satans.

Dieser Auffassung muß entschieden widersprochen werden. Denn es besteht kein Zweifel, daß es sich bei der Schwermut um eine Krankheit handelt. Darauf weisen eine Reihe von Tatsachen hin. Nicht nur die krankhafte Veranlagung als Grundlage der Schwermut, sondern auch der Verlauf des Leidens, das oft unabhängig von äußeren Einwirkungen beginnt und ohne erkennbaren Ursache wieder verschwindet, sind eindeutige Zeichen krankhafter Störung. Ferner sprechen die körperlichen Erscheinungen, die in den meisten Fälle von Schwermut auftreten, sowie die melancholieartigen Zustände während der Schwangerschafts- und Wochenbettzeit und der Wechseljahre für eine körperlich bedingte Krankheit.
Daß außerdem die Wahnvorstellungen und Selbstvorwürfe krankhafter Natur sind, geht schon daraus hervor, daß sie sich bei näherem Erforschen als völlig unbegründet erweisen und offensichtlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegen.
Auch bei dem Unvermögen, sich geistig zu konzentrieren, bei der Entschlußunfähigkeit und der seelischen Unempfindlichkeit handelt es sich nicht um eine beginnende geistige Störung oder um Charakterschwäche, sondern um krankhafte Hemmungen, die nach Ablauf der Schwermut restlos verschwinden. Von einer „Verstocktheit“ kann schon deshalb keine Rede sein, weil der Schwermütige sehr unglücklich über seinen Glaubensmangel ist, auch wenn er selbst zuweilen glaubt, ihm fehle die Reue. Der wirklich Verstockte kennt keine Trauer über seinen Zustand.

Bei der Beurteilung ist deshalb große Vorsicht geboten, weil sich religiöse Gedanken auch bei Menschen finden können, die sich sowohl vor Beginn ihrer Krankheit als auch nach ihrer Genesung religiösen Einflüssen gegenüber ablehnend verhalten.

Äußerungen von Reue über frühere Verfehlungen, die der Seelsorger vielleicht als Zeichen echter Selbsterkenntnis gewertet hatte, könnten nach Ablauf der Krankheit spurlos verschwinden. Wird der Genesene daran erinnert, winkt er lächelnd ab. 
Daran erkennen wir, daß die religiös gefärbten Erscheinungen der Schwermut nicht als Maßstab für die Glaubenshaltung des Kranken angesehen werden dürfen. Doch wie oft hält man in christlichen Kreisen den Schwermütigen für einen, der im Glauben Schiffbruch erlitten und die richtige Stellung zu Gott verloren hat!

Diese falsche Beurteilung beruht auf der Verwechslung von Ursache und Wirkung. Die Gefühlskälte, die Gebetsunfähigkeit, die Furcht vor der ewigen Verdammnis, die Überzeugung, wider den Heiligen Geist gesündigt zu haben, die Zweifel, die Lästerungen – alle diese Erscheinungen sind nicht die Ursache der Schwermut, sondern lediglich ihre krankhaften Merkmale. Niemals können sie als Beweise für die Gottentfremdung und den Unglauben des Schwermütigen angesehen werden.

Wer einen Melancholiker kennt, weiß, daß es ihm im Grunde gar nicht am Glauben fehlt, wenn er dies auch nicht wahrhaben will, und daß er sich danach sehnt, wie in gesunden Zeiten Gott zu vertrauen. Und doch ist er aufgrund seiner Blockierungen nicht fähig, sich seines Glaubens zu freuen. Nicht der Wille zum Glauben fehlt ihm, sondern das Können. Ebensowenig können die Selbstvorwürfe als Zeichen einer Versündigung angesehen werden, da sie sich besonders bei solchen Kranken finden, die stets korrekt waren und sich nichts zuschulden kommen ließen. Und wer die Selbstmordgedanken für ein Zeichen besonderen Unglaubens hält, tut ihm bitter unrecht. Denn der Kranke ist zu einer solchen Tat nur in einem Zustand geistiger Umnachtung fähig. Mit seinem Glaubenstand hat seine Selbstmordabsicht nichts zu tun.

Nun aber wird vielfach entgegnet, die Erscheinungen der Melancholie seinen als Einwirkungen dämonischer Mächte aufzufassen. Dieser Auffassung kann nicht ohne weiteres beigepflichtet werden. Denn wie oft hat der Schwermütige vor seiner Erkrankung seine ganze Vergangenheit vor Gott geordnet und ein Leben der Gemeinschaft mit ihm geführt! Es besteht in solchen Fällen kein Anlaß, eine teuflische Einwirkung anzunehmen. Wenn hierbei die Lästergedanken als Beweis einer feindlichen Beeinflussung angesehen werden, so ist zu bedenken, daß Lästergedanken meistens bei schwermütig veranlagten Menschen beobachtet werden können, die ängstlich darauf bedacht sind, das Heilige nicht zu verletzen. In diesen Fällen sind die Lästergedanken als krankhafte Zwangsbefürchtungen und –handlungen zu betrachten, die gar nicht aus dem Herzen des Kranken kommen, sondern von ihm selbst als etwas durchaus Fremdes, Häßliches und Gemeines empfunden werden.
Daß die Lästergedanken nichts mit feindlicher Einwirkung zu tun haben, geht auch daraus hervor, daß sie nach erfolgter Heilung des Schwermütigen von selbst schwinden. Auch die Tatsache, daß durch bestimmte Medikamente die Lästergedanken, die Angstzustände, die Selbstmordabsichten und andere Schwermutserscheinungen völlig zurücktreten können, zeigt deutlich, daß hier nicht eine satanische Beeinflussung vorherrscht, sondern eine krankhafte Störung.
Wie oft kann beobachtet werden, daß Schwermütige durch eine rein körperliche Therapie gesund werden und ihren früheren Glauben wiedererlangen! Andererseits müßte doch wohl bei rein dämonischer Einwirkung das oft wiederholte Gebet des Glaubens die Schwermutserscheinungen mildern oder zum Verschwinden bringen. Aber wie oft wird auch solchem Gebet keine Erhörung zuteil.

Teuflische Einflusse können daher höchstens in dem Sinne angenommen werden, daß die vorhandene Gemütskrankheit und die dadurch geschwächte seelische Widerstandskraft vom Feind als Einfallstor benützt wird. Wenn z.B. der Schwermütige unwillig wird, wenn er sich gegen Gott auflehnt und seinen Mitmenschen Vorwürfe macht, wie dies in manchen Fällen vorkommt, wenn er seinen Angehörigen trotzig begegnet oder mit Selbstmord droht, so könnte man hier eine feindliche Einwirkung annehmen. Die eigentlichen krankhaften Erscheinungen jedoch als Folge dämonischer Einwirkung anzusehen, ist unberechtigt.

Sehr oft werden die krankhaften Äußerungen der Schwermut mit den Folgeerscheinungen okkulter Praktiken verwechselt.
Durch den Okkultismus,
der außerordentlich weit verbreitet ist, kommt nicht nur der Ausübende, sondern auch der Kranke, der dort Heilung erhofft, sehr häufig unter den Einfluß Satans, der nie ohne Gegenleistung hilft. Da die Heilige Schrift ein scharfes Urteil über das Treiben der Zauberer und Wahrsager gefällt hat, ist es begreiflich, daß die Menschen, die sich abergläubischer Handlungen bedienen, in schwere innere Not geraten können. Bei ihnen kann sich ein Gemütsdruck, begleitet von Läster- und Selbstmordgedanken einstellen, der der Schwermut ähnelt.

Es ist nun außerordentlich schwierig, beide Arten voneinander zu unterscheiden. Von vornherein ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine krankhafte Schwermut anzunehmen, wenn eine deutliche krankhafte Veranlagung und körperliche Störungen nachzuweisen sind. Selbst wenn früher einmal okkulte Praktiken angewandt worden sind, ist ein vorhandener Gemütsdruck nicht ohne weiteres darauf zurückzuführen. Ein ursächlicher Zusammenhang wird vielfach zu Unrecht angenommen, wo der Zustand nicht als Krankheit erkannt wird.

Besonders in den Fällen muß dieser Zusammenhang verneint werden, in denen der Gemütsdruck nicht weicht, obwohl der Christ seine Schuld klar erkannt, Buße getan und sich entschieden vom Satan losgesagt hat. Ebenso ist eine satanische Beeinflussung unwahrscheinlich, wenn der Gemütsdruck erst viele Jahre nach Anwendung des Sympathiezaubers auftritt und der Kranke während dieser Zeit ein Leben mit Jesus Christus geführt hat.

Aus all diesen Gründen ist große Zurückhaltung bei der Annahme eines Zusammenhangs zwischen einem Gemütsleiden und okkulten Praktiken geboten. Wenn der Seelsorger bei jeder Schwermut auf Zaubereisünden tippt, vielleicht sogar bei den Vorfahren des Betreffenden, kann sich diese Auffassung für den wirklich Schwermütigen verhängnisvoll auswirken. Durch das Forschen und Bohren wird er in seinen Grübeleien und Selbstvorwürfen begreiflicherweise noch bestärkt.


Ärztliche Behandlung und fürsogerische Betreuung
Da die Melancholie eine organisch bedingte Krankheit ist, deren Ursache bis heute noch nicht genau erklärt werden konnte, geschieht die Behandlung in erster Linie durch sogenannte Psychopharmaka, Medikamente, die auf gewisse Gehirnzentren einwirken und dadurch die psychischen Vorgänge günstig beeinflussen. An die Stelle der Medikamente kann eine Beeinflussung mit Elektroschocks treten. Aber mit Rücksicht auf die immer wieder auftretenden unangenehmen Folgeerscheinungen und die Entdeckung zahlloser neuer medikamentöser Behandlungsmethoden, ist die Schocktherapie wieder in den Hintergrund gedrängt worden. Bei Unruhe oder Angstvorstellungen sind neben den erwähnten Medikamenten die üblichen Beruhigungs- und Schlafmittel nicht zu umgehen. Die Überwachung durch den Arzt ist jedoch bei der medikamentösen Behandlung unerläßlich.

Neben der ärztlichen Behandlung spielt auch die Lebensgestaltung des Kranken eine wichtige Rolle. 
An erster Stelle steht ein geregelter Tagesablauf, in welchem Ruhepausen, Spaziergänge und leichte körperliche Arbeit im Haushalt oder im Garten miteinander abwechseln sollten. Dusch- und Vollbäder, Turn- und Atemübungen und Schwimmen sind sehr zu empfehlen. Eine leichte geistige Beschäftigung wirkt ablenkend, falls die krankhaften Hemmungen nicht zu stark sind.
Vielfach muß erst ausprobiert werden, was dem Kranken zugemutet werden kann. Dabei sollte er aber nicht alleingelassen werden, damit er sich nicht von neuem in seine Grübeleien verstrickt.
Morgens sollte der Kranke zu einer bestimmten Zeit aufstehen, um der Gefahr zu entgehen, in wachem Zustand seinen quälenden Gedanken nachzuhängen. Ist die Unruhe sehr groß und der Kranke zu keiner Arbeit zu bewegen, ist Bettruhe unvermeidlich. Jeder Arbeit, die dem Schwermütigen aufgetragen wird, muß eine genaue Anleitung vorausgehen, die ihm die eigene Verantwortung abnimmt; sonst ist zu befürchten, daß sich seine innere Unruhe vermehrt. Auch andere selbständige Entscheidungen müssen dem Kranken abgenommen werden, wie z.B. ein Wohnungswechsel, Kündigung eines Arbeitsverhältnisses, Aufgabe seines Berufes u.a. Glücklicherweise kommt es zur Durchführung solcher Pläne aufgrund der krankhaften Hemmungen meist nicht.

Wenn der Schwermütige nicht mehr allein in der Wohnung leben kann, sollte die Einweisung in eine gut geführte psychiatrische Klinik erfolgen, schon um der Angehörigen willen, deren Kräfte durch die ständige Sorge um ihn aufs äußerste beansprucht werden; das trifft besonders bei Selbstmordabsichten zu. Für den Kranken hat zwar die Unterbringung in einer Klinik nicht selten eine vorübergehende Verschlechterung seines Zustandes zur Folge, aber wenn der Zeitpunkt seiner Einweisung immer weiter hinausgeschoben wird, könnte die Familie von einem plötzlichen Selbstmordversuch überrascht werden.
Auch die Entlassung aus der Klinik darf nicht zu früh erfolgen. Erst wenn der Schwermütige keine Angst mehr vor der Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeit äußert und zu einer positiven Lebenseinstellung zurückgefunden hat, ist die Gefahr eines Rückfalls unwahrscheinlich. Der Kranke drängt zwar sehr oft auf eine vorzeitige Entlassung; aber eine Erfüllung dieses Wunsches hat sich oft als unzweckmäßig und verhängnisvoll erwiesen.

Auch nach seiner Rückkehr in die häuslichen Verhältnisse muß der Kranke noch längere Zeit geschont werden. Übernimmt er zu rasch wieder seine alten Aufgaben und Pflichten und ist er zu Hause zu vielen neuen Eindrücken ausgesetzt, besonders durch Besuche von Verwandten und Bekannten, muß unter Umständen mit einem Rückfall gerechnet werden. Deshalb ist gerade zu diesem Zeitpunkt die ärztliche Überwachung des geheilten eine zwingende Notwendigkeit.


Seelsorge an Schwermütigen
Zunächst ergibt sich die Frage, ob überhaupt eine seelsorgerliche Beeinflussung des Schwermütigen aussichtsreich ist, da diese Krankheit einer tieferen Veranlagung entspringt und nach bestimmten Gesetzen, auf die wir bis jetzt keine Einwirkung besitzen, auftritt und verschwindet. Hat hier nicht nur der Arzt das Wort zu sprechen?


Zweifellos ist eine seelsorgerliche Beeinflussung auf dem Höhepunkt der Schwermut so gut wie unmöglich, da der Kranke zu diesem Zeitpunkt gegenüber jeglicher Einwirkung unzugänglich ist. Darum muß sich der Seelsorger immer der Grenzen seiner Möglichkeiten bewußt bleiben.
Trotzdem hat ein verständnisvoller Seelsorger auch bei hochgradiger Schwermut eine wichtige Aufgabe zu leisten. Er darf dem Kranken allerdings nicht in der Meinung gegenübertreten, seinen Zustand ohne weiteres günstig beeinflussen zu können, sondern er darf es als seinen Dienst ansehen, dem Kranken die Gelegenheit zur Aussprache zu geben. Dieser sehnt sich meistens danach, sich auszusprechen, und empfindet es wohltuend, wenn ihm Liebe und Anteilnahme entgegengebracht werden.

Die Voraussetzung jeder erfolgreichen Beeinflussung ist das Vertrauen des Kranken zum Seelsorger. Der Schwermütige muß merken, daß jemand seine Not versteht und mit ihm fühlt. 
Hier zeigt es sich, wie schwierig die Seelsorge an Schwermütigen ist; denn sie unterscheidet sich wesentlich von der Seelsorge an gesunden Menschen. Geht der Seelsorger mit den gleichen Maßstäben an ihn heran, wie an einen Gesunden, würde er großen Schaden anrichten. Wer vielleicht eine hohe Meinung von seinem seelsorgerlich Können hat, der wird gegenüber Schwermütigen demütig, weil er erkennt, daß er allein nichts vermag, und daß alles von Gott und seinem Wirken abhängig ist.


Vorsichtig reden
Drei Dinge sind bei der Seelsorge an Schwermütigen unbedingt zu vermeiden:

Vorwürfe
Wenn dem Kranken z.B. vorgehalten wird, seine Grübeleien seinen lediglich eine Beschäftigung mit sich selbst und völlig unnütz, oder wenn man ihm sagt, seine Untätigkeit sei ein Unrecht gegenüber seiner Familie und seine Selbstvorwürfe nichts andere als eine Selbstbespiegelung, oder wenn der Bekenntniszwang vor Menschen als eine Selbsterlösung bezeichnet wird, so fehlt diesen Vorwürfen jede Berechtigung.
Es ist auch unrichtig, die Versündigungsideen, Angstzustände und Lästergedanken als Mangel an Glauben oder Folge einer Schuld zu bezeichnen. Bezichtigt sich der Kranke früherer Verfehlungen, hat der Seelsorger vorsichtig zu prüfen, ob diese Selbstanklagen begründet sind, wobei er sich hüten muß, dem Kranken als Richter gegenüberzutreten und allzusehr in der Vergangenheit herumzuwühlen. Meist kann leicht nachgewiesen werden, daß von einer Schuld keine Rede ist. Und selbst wenn eine Sünde eine auslösende Rolle bei seiner Erkrankung gespielt hat, wäre es auch in diesem Falle unberechtigt, dem Kranken Vorwürfe zu machen und ihn in seinen Schuldgefühlen zu bestärken. Der Seelsorger muß sich immer bewußt sein, daß jeder Vorwurf dem Kranken gegenüber diesen nur noch mehr in innere Not und Angst versetzen. Außerdem verliert der Kranke dadurch das Vertrauen zum Seelsorger, und er zieht sich völlig von ihm zurück. Ein einziger Vorwurf kann ihn zum Selbstmord treiben. In dieser Hinsicht ist schon von manchem Seelsorger unbeabsichtigt großer Schaden angerichtet worden.

Ebenso unangebracht ist es, dem Schwermütigen gegenüber von Besessenheit zu sprechen. Selbst wenn der Kranke überzeugt ist besessen zu sein, ist das niemals ein Beweis für wirkliche Besessenheit. Überhaupt ist das häufige Reden über satanische Mächte verkehrt, auch wenn der Kranke selbst mit Vorliebe davon sprechen sollte.

Christoph Blumhardt berichtet aufgrund seiner Erfahrung:
„Auch wenn ich jetzt in die Kräfte der Finsternis mehr hineinsehe als mancher andere, so spricht doch vielleicht niemand, der auch etwa daran glaubt, weniger davon als ich, am wenigsten vor dem Kranken selbst. Ja, wenn die Leute selber davon anfangen, so lasse ich mich nicht darauf ein, sondern lenke davon ab . . . “


Ermahnungen
Die Aufforderung, der Schwermütige solle sich aufraffen, seinen Gedanken nicht nachhängen, sondern Zerstreuung suchen und zum Gottesdienst gehen, ist bei stärkeren Hemmungen völlig unangebracht. Es ist absolut verkehrt, in dieser Richtung einen Zwang ausüben zu wollen. Nur bei Hemmungen leichteren Grades kann manchmal ein leichter Ansporn hilfreich sein. Die Berufung auf den Willen und die Selbstbeherrschung des Kranken ist lediglich in den Fällen nötig, in denen die Schwermut mit ausgesprochener Willensschwäche einhergeht. Das gleich gilt, wenn die Schwermut mit Anzeichen von Eigenwillen verbunden ist.

Aufforderungen
Ebenso gefährlich ist die Aufforderung zur Beichte, Buße und Bekehrung. Der Seelsorger muß wissen, daß eine Übergabe an Gott im Zustand tiefer Melancholie völlig unmöglich ist, da der Kranke weder eine klare Erkenntnis über sich selbst noch über die Liebe Gottes haben kann und außerstande ist, eine so weittragende Entscheidung zu fällen. Wird der Kranke jedoch immer wieder in dieser Hinsicht unter Druck gesetzt, kommt er zwangsläufig in vermehrte Grübelei und Selbstquälerei hinein. Er ist ohnehin schon unglücklich darüber, daß es ihm nicht gelingt, in Kontakt mit Gott zu kommen.

Darum muß er vielmehr begreifen, daß Gott keine Anforderungen an ihn stellt, die er nicht erfüllen kann. Erst in der Genesungszeit wird sich der Kranke bewußt der Frohen Botschaft öffnen können.


Der Seelsorger sollte auch Bekehrungsversuche vermeiden und dem Kranken zunächst ruhig zuhören, ohne ihn gleich zu korrigieren und ihm zu widersprechen. Ist erst das Vertrauen gewonnen, kann ein ruhiger Versuch gemacht werden, ihm seine verkehrten Gedanken auszureden. Es ist jedoch ein vergebliches Bemühen, den Kranken unbedingt überzeugen zu wollen.


Jeder Beweisführung gegenüber ist der Schwermütige vollkommen unzugänglich. Wer den Schwermütigen meint, mit Gewalt kurieren zu können, wird nur Enttäuschungen erleben. Alle diese Versuche tragen lediglich zu einer Vermehrung seiner Unruhe bei und bestärken den Kranken in dem Glauben, man verstehe ihn nicht.

Statt dessen: tröstender Zuspruch
Statt Vorwürfen, Ermahnungen und Belehrungen sollte der Seelsorger immer wieder tröstend auf den Kranken einwirken. Wenn er nicht aufhört, dem Schwermütigen zu versichern, daß die vermeintliche oder wirkliche Schuld, deren er sich selbst anklagt, nicht die Ursache seines Zustandes ist, sondern daß es sich um eine Krankheit handelt, stützt er darin wirksam die Bemühungen des Arztes. Gleichzeitig darf er den Kranken mit der Zusicherung trösten, daß er nicht unheilbar krank ist und auch keine dauernde Schädigung des Verstandes, des Willens oder des Gefühlslebens eintreten wird, sondern daß er mit Bestimmtheit wieder gesund werden wird, auch wenn er das zur Zeit noch nicht glauben kann.

Der Seelsorger ist in der glücklichen Lage, mit gutem Gewissen die volle Gesundung in Aussicht stellen zu können. Und wenn es während der Genesungszeit vorübergehende Rückschläge gibt – dies ist häufig der Fall -, wird der Seelsorger dem Kranken Mut machen, geduldig zu sein. 
Wird der Schwermütige von Selbstanklagen und Versündigungsgedanken gequält, darf der Seelsorger immer wieder auf das Sühnopfer Jesu Christi und die damit verbundene Vergebung hinweisen. Der schwermütige Christ muß sich die Tatsache, daß seine Schuld getilgt ist, täglich neu vergegenwärtigen, auch wenn der Zweifel ihm diesen Glauben nehmen will. Der Kranke darf getrost einen Strich unter seine Vergangenheit ziehen. Es ist gefährlich und unwahr, wenn der Seelsorger dem Kranken einzureden versucht, daß er neue Sünde auf sich lädt, wenn er die Vergebung nicht annimmt.



Der Seelsorger muß dem schwermütigen Christen die Angst nehmen, die Sünde wider den Heiligen Geist begangen zu haben. Nur glaubende Menschen haben Glaubensnöte. Der Schwermütige darf wissen, daß Gott derselbe ist, der er vor seiner Erkrankung war, daß er sein Leiden genau kennt und ihm die Ängste, die Läster- und Selbstmordgedanken nicht als Schuld anrechnet, weil diese ja gar nicht aus seinem herzen stammen. Er darf sich daran klammern, daß ihn auch die völlige Dunkelheit, die er in sich fühlt, nicht von Gott zu trennen vermag und daß Gott ihn liebt, weil er Gottes Kind ist, auch wenn er augenblicklich seine Wege nicht versteht.

Und wenn der Schwermütige meint, zwischen Gott und ihm sei eine unübersteigbare Mauer, darf er sich damit trösten, daß die Mauer eine Folge seiner depressiven Vorstellungen ist. Er darf sich sagen, daß Gott ihn festhält, auch wenn er sich von ihm verlassen glaubt, daß Gott da ist und ihn hört, auch wenn er meint, seine Gebete erreichen ihn nicht. Der Seelsorger soll nicht müde werden, dem Schwermütigen zu sagen, daß sein Zustand keine Strafe Gottes ist. Wie viele Schwermütige haben nach ihrer Genesung auch für diese dunkle Zeit Gott gedankt, weil sie ihm dadurch innerlich nähergekommen sind! Die Hilfe Gottes wird nicht ausbleiben. „Er führt in die Hölle und wieder heraus.“ Gott hat auch mit dem Schwermütigen seinen Plan, den er in seiner Liebe zur Durchführung bringen wird.

Der Seelsorger darf sich jedoch nicht beirren lassen, wenn der Kranke nur für kurze Zeit oder überhaupt nicht auf seinen Trost und Zuspruch reagiert. Oft ist es zweckmäßig, dem Schwermütigen in wenigen kurzen Sätzen aufzuschreiben, was der Seelsorger ihm zu sagen hat, damit der Kranke seine Worte immer wieder lesen und sich einprägen kann. 
Der Schwermütige sollte versuchen, das anzunehmen, was der Seelsorger ihm ans Herz legt. Weil er selbst Gott nicht glauben kann, darf er dem Seelsorger glauben, der vor Gott steht und für ihn eintritt.


Beratung
Wenn der Kranke sich im unklaren darüber ist, was Gott von ihm erwartet, sollte er den Rat des Seelsorgers einholen, da er in seinem krankhaften Zustand keinerlei eigene Entscheidungen treffen kann. Hat er z.B. das Verlangen, Sünden zu bekennen, die nicht vor Menschen bekannt werden müssen, oder meint er, eine bestimmte Schuld wiedergutmachen zu müssen, sollte er zuvor den Rat des gesunden und sachlich denkenden Seelsorgers annehmen.

Ebenso muß dem Kranken die Entscheidung darüber, ob er zum Gottesdienst gehen, am Abendmahl teilnehmen oder die Bibel lesen soll, abgenommen werden. Einerseits möchte der Kranke immer wieder das Wort Gottes hören und glaubt, daß er sich versündigt oder den inneren Halt ganz verliert, wenn er der Predigt fernbleibt; andererseits aber kann der Besuch eines Gottesdienstes oder einer Bibelstunde ihn in noch größere Unruhe versetzen, weil ihn entweder Gottes Wort kalt läßt oder er es als Anklage empfindet.

Nach einer Predigt macht er sich auch leicht den Vorwurf, nicht konzentriert zugehört zu haben. Um dem Kranken nicht zu schaden, braucht der Seelsorger viel Weisheit und Fingerspitzengefühl im Umgang mit ihm.

Auch die Teilnahme am Abendmahl ist für den Schwermütigen oft ein zweischneidiges Schwert. Meistens muß ihm davon abgeraten werden. Denn schon vorher grübelt er darüber, ob er sich auch genügend geprüft hat, und hinterher macht er sich sehr häufig Vorwürfe, am Mahl unwürdig teilgenommen zu haben. Und wenn der erhoffte innere Friede ausbleibt, wächst die Überzeugung, von Gott verstoßen zu sein.


Bibelworte und geistliche Lieder
Das Lesen der Bibel und anderer christlicher Bücher sollte der Seelsorger auch überwachen. Denn der Kranke nährt aus allem Gelesenen seine traurigen Gedanken und Wahnvorstellungen.
So kann z.B. das Trostwort: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Matth. 11, 28) den Schwermütigen stark bedrücken, weil er meint, nicht Folge leisten zu können.
Auch das Psalmwort. „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“ (Ps. 23) kann seine Qual verstärken, weil er die Furcht vor einem Unglück nicht ablegen kann.
Ebenso wird die Stelle: „Also hat Gott die Welt geliebt …“ (Joh.3, 16) dem Kranken gefährlich, weil er überzeugt ist, nicht glauben zu können und deshalb ewig verlorenzugehen.
Aus diesen Gründen sollten alle Bibelworte, die einen geistlichen Besitz voraussetzen oder eine Aufforderung enthalten, vermieden werden. Dazu kommen solche Stellen, die von Buße und Bekehrung, von der Endzeit, von Gericht und Verdammnis handeln. Sie sind für den Schwermütigen völlig ungeeignet.

Auf dem Höhepunkt der Melancholie ist es ratsam, dem Kranken die Bibel überhaupt nicht zur freien Verfügung zu überlassen. Statt dessen sollten dem Kranken biblische Aussagen wie z.B. Matth 5, 4; Joh. 16, 33; Röm. 8, 18; 1.Kor. 10, 13; 2. Kor. 12, 9; 1. Joh. 3, 20; Offb. 7, 17; Ps. 34, 19.20; Jes, 43, 1-4 vorgelesen werden.

Dasselbe gilt auch für geistliche Lieder. Wir haben einen großen Schatz von Liedern, die manchen Schwermütigen, besonders in schlaflosen Nächten, getröstet haben. Und doch können nicht wenige Lieder, besonders Lob- und Evangelisationslieder, den Kranke stark belasten. Geeignete Lieder sind: „Gott ist getreu“; „Was Gott tut, das ist wohlgetan“, „Stillehalten deinem Walten“; „In allen meinen Taten“, „Jesus, Heiland meiner Seele“; „So nimm denn meine Hände“; „Befiehl du deine Wege.
Eine ungünstige Beeinflussung des Kranken können dagegen schon folgende Lieder haben: „Keiner wir zuschanden“; „Mir nach, spricht Christus, unser Held“; „Blicke nur auf Jesum“; „Wenn ich ihn nur habe“; „Nur mit Jesu will ich Pilger wandern“; „Wer nur den lieben Gott läßt walten“.

Gemeinsames Gebet
Ob der Seelsorger mit dem Schwermütigen beten soll oder nicht, muß von dessen Zustand abhängig gemacht werden. Auf jeden Fall sollte der Kranke zuvor gefragt werden, ob er mit einem gemeinsamen Gebet einverstanden ist. Sowohl die Erwartung seines Gebets als auch der Zwang zum Beten würden seine Not nur vergrößern, da er aufgrund seiner Hemmungen oft gar nicht selbst beten oder dem Gebet eines anderen folgen kann. 
Aber auch wenn der Kranke um das gemeinsame Gebet bittet, kann man nicht selten erleben, daß sich durch plötzliche Zweifel und Zwangsgedanken die innere Unruhe vermehrt. Darum muß der Seelsorger gerade in diesem Punkt besonders taktvoll und weise vorgehen.

Oft ist es für den Kranken, der weder glauben noch beten kann, wohltuend, wenn ihm der Seelsorger zusichert, für ihn zu beten. In leichteren Fällen übt das gemeinsame Gebet oft eine beruhigende und befreiende Wirkung aus, wenn der Kranke sieht, daß der andere seine Last auf sich nimmt und vor Gott bringt.

Ist das gemeinsame Gebet jedoch nicht angezeigt, hat der Seelsorger in besonderer Weise die Pflicht, für den Schwermütigen fürbittend einzutreten. Er wird auch andere Christen dazu auffordern. Es ist das Vorrecht der gesunden Christen, für ihre kranken Brüder und Schwestern Fürbitte zu tun. Sie sind ihnen diesen Liebesdienst schuldig (!Thess. 5, 14; Hebr. 13, 3).

Handauflegung
Große Zurückhaltung ist auch bei der Anwendung der Handauflegung geboten. Damit ist schon manchem Schwermütigen sehr geschadet worden. Der Kranke, bei dem das Auflegen der Hände nicht die ersehnte Besserung brachte, sieht darum gewöhnlich eine Bestätigung seiner Meinung, von Gott verlassen und unheilbar krank zu sein. Dadurch wird er geradezu in die Verzweiflung hineingetrieben.
Im allgemeinen sollte man zurückhaltend in dieser Sache sein, und auch nur auf ausdrückliches Bitten des Kranken hin (gemäß dem Wort: „Ist jemand krank, der rufe die Ältesten in der Gemeinde“, Jak. 5, 14) die Hände auflegen, es sei denn, daß der Seelsorger sich unmittelbar von Gott dazu berufen weiß.

Liegt der Verdacht von Selbstmordabsichten vor, muß der Seelsorger den Kranken immer wieder eindringlich auffordern, ihm von seinen Selbstmordgedanken Mitteilung zu machen. Der Schwermütige fühlt sich sehr oft erleichtert, wenn er nur seine Gedanken aussprechen kann. Bei echten Selbstmordabsichten kann der Seelsorger die Verantwortung nicht allein tragen, sondern die Angehörigen zur vermehrten Wachsamkeit veranlassen oder auf die Hinzuziehung eines Arztes dringen.

Wenn der Arzt die Einweisung in eine psychiatrische Klinik für erforderlich hält, wird der Seelsorger diese Absicht unterstützen und auch den Angehörigen zu diesem Schritt raten. Der Seelsorger soll sich auch davor hüten, für eine vorzeitige Rückkehr des Kranken nach Hause einzutreten, da eine zu frühe Entlassung nicht selten einen Rückfall bringt.
gerade nach seiner Rückkehr in die häuslichen Verhältnisse muß der Seelsorger dem Kranken zur Verfügung stehen, da sich dieser über die in der Anstalt aufgenommenen Eindrücke aussprechen will.

6. Die manische (leichtmütige) Veranlagung
Das Gegenteil der schwermütigen Veranlagung bildet die leichtmütige (manische) Veranlagung, eine krankhafte Steigerung der leichtblütigen (sanguinischen) Gemütsart.

Ein manisch Veranlagter ist von Jugend auf ein übersprudelnder, tätiger Sanguiniker, der bis zur Hemmungslosigkeit Unrast verbreitet. Heitere Grundstimmung und gehobenes Selbstgefühl schalten Selbstkritik und Besonnenheit weitgehend aus. Harmlos wie ein Kind, vertrauensselig, mitteilsam und offen, menschenfreundlich, gutherzig und hilfsbereit, knüpft er immer neue Beziehungen an. In der Unterhaltung ist er außerordentlich redselig, liebenswürdig und zu Scherzen aufgelegt, dabei sprunghaft und leicht ablenkbar. Da er aber auch launisch, großsprecherisch, taktlos und vorschnell in seinem Urteil sein kann, kommt es häufig zu Spannungen mit seiner Umgebung.
Von seinen Leistungen ist er überzeugt, nicht immer zu Unrecht, da er oft glänzend, aber einseitig begabt ist. Seinem Tun fehlt die Ausdauer und Stetigkeit; in seinen Entschlüssen ist er oft unberechenbar.

Sein geistliches Leben ist oberflächlich; in die Tiefe gehende Fragen machen ihm wenig zu schaffen. Zum Gebet und zum Bibellesen fehlt ihm oft die Ausdauer, und echte Sündenerkenntnis hat er selten.
Überzeugt von seiner Frömmigkeit, kommt er leicht zu Fall, was ihn aber nicht besonders anficht. Er ist davon überzeugt, daß Christus ihm sehr schnell vergeben wird. Mit einer starken Neigung zu allzu vertraulichem Umgang mit Gott, hält er sich für ein Kind Gottes, das besondere, wunderbare Führungen erlebt. Er kann stundenlang über seine herrlichen Erfahrungen reden, wobei er zur Schwärmerei neigt. Der Umgang mit den Glaubensgeschwistern wird sehr oft durch sein rechthaberisches und unbeherrschtes Wesen getrübt.

Der Seelsorger darf nun nicht den Fehler machen, krankhafte Äußerungen als unabänderlich hinzunehmen. Dadurch würde er ihn falsch beurteilen. Sondern er soll ihn auf krankhafte Neigungen aufmerksam machen und ihn zur Selbstzucht anregen. Sein übergroßes Vertrauen muß gedämpft und sein Wille und seine Ausdauer gestählt werden. Die Aufgabe des Seelsorgers schließt ein, daß er ihm die Heiligkeit Gottes vor Augen stellt und ihn zur Sündenerkenntnis und Buße anleitet.
Nur durch eine entschiedene Nachfolge Jesu Christi, durch Gebet und durch eine geregelte Arbeit auch im Dienst für den Nächsten können die gefahren, die in seiner Veranlagung liegen, gebannt werden. Bei aller Liebe ist es nötig, dem manisch Veranlagten gegenüber ernste Töne anzuschlagen, damit er einigermaßen zur Selbstbesinnung gebracht wird.

7. Die Manie
Wie die schwermütige Veranlagung häufig in eine Schwermut mündet, führt die manische Veranlagung sehr oft zu einer Manie. Auch hier ist eine krankhafte Veranlagung bei einem hohen Prozentsatz aller Fälle festzustellen.

Wie beschränken uns auf das Krankheitsbild der leichten Manie, da dieses für den Seelsorger in erster Linie in Frage kommt. Hierbei unterscheiden wir im wesentlichen zwei Formen. Bei der einen Form ist die Stimmung des Kranken auffallend heiter, oft geradezu ausgelassen. Er kann sich kindlich und überschwenglich auch über kleine Dinge freuen. Seinem übervollen Herzen macht er durch häufiges Singen Luft, und er ist wunschlos glücklich. Schwere Erlebnisse und Enttäuschungen beeinträchtigen seine Stimmung nur wenig; mit Leichtigkeit kommt er über sie hinweg.
Im Umgang mit anderen Menschen legt der Musiker einen unverwüstlichen Humor an den Tag. In der Unterhaltung springt er unvermittelt von einem Thema zum anderen, und in seinen Erzählungen neigt er zu Übertreibungen, Verdrehungen und überschwenglichen Ausdrücken, wobei er ausführlich nur von sich und seinen Erfolgen redet.

Durch sein vieles und lautes Sprechen fällt er seiner Umgebung stark auf die Nerven, ohne daß er sich dessen bewußt wird. Mit seinen Mitmenschen schließt er rasch Freundschaft, und in Liebesbezeugungen ist er oft maßlos. Dem anderen Geschlecht gegenüber fehlt es an Zurückhaltung; er ist leicht aufdringlich, burschikos, taktlos und indiskret.

In seinem Handeln zeigt der Maniker eine außergewöhnlich Unternehmungslust, unermüdliche Arbeitskraft und große geistige Regsamkeit. In einem Zustand dauernder Hochspannung, kann er wenigstens zu Beginn der Krankheit wertvolle Leistungen vollbringen und große Erfolge im Leben erringen.

Über Schwierigkeiten kommt er spielend hinweg. Doch steigert sich sein Tatendrang häufig bis zur ruhelosen Vielgeschäftigkeit. Er arbeitet nächtelang oder steht schon sehr früh auf, um sich zu betätigen. Er schmiedet immer wieder neue Pläne und faßt bedenkenlos weitreichende Entschlüsse.

Doch fehlt seiner Arbeit meist die Ausdauer. Er beginnt alle möglichen Dinge, ohne sie zu Ende zu führen. Seine anfangs mit Begeisterung aufgenommenen Pläne verwirft er bald wieder, um etwas anderes, Neues aufzugreifen.
In seinem Bildungsdrang kauft er sich eine Menge Bücher, die er jedoch nur flüchtig liest. Er wird nicht müde, schwungvolle Briefe und überschwengliche Gedichte zu schreiben. In seiner Leichtgläubigkeit sieht er alles zu rosig, und jede ruhige Überlegung oder sachliche Beurteilung geht ihm ab. Dadurch gerät er oft in gewagte Unternehmungen. Er hält sich für fähig, große Pläne zu verwirklichen, und ist fest davon überzeugt, daß ihm alles gelingt, was er unternimmt. Auch finanziell kennt er keine Grenzen und bringt sich dadurch leicht in Schulden.

Bei der anderen Form der leichten Manie steht eine starke Reizbarkeit im Vordergrund. Der Kranke ist in dauernder Erregung, unverträglich, rechthaberisch, ausfallend gegenüber der leisesten Kritik und streitsüchtig. So lebt er in ständiger Fehde mit seiner Umgebung, und die Reibereien können sogar in Tätlichkeiten ausarten. Sobald der andere eine ungeschickte Bemerkung macht, ist er gekränkt und braust auf.

Durch seine stark übertriebene Selbsteinschätzung erwartet er besondere Anerkennung von den anderen. Wird er nach seiner Meinung falsch angefaßt, läßt er sich zu scharfen Ausdrücken und ungerechten Urteilen hinreißen. Er tritt anmaßend auf, mischt sich in alles ein und benimmt sich seinen Vorgesetzten gegenüber respektlos. Seinen Mitmenschen gegenüber kennt er keine Rücksichtnahme. Unzufrieden und nörgelnd beklagt er sich dauernd über Schwierigkeiten. Gegenüber Ratschlägen und Ermahnungen ist er völlig uneinsichtig, da er von seiner Vollkommenheit überzeugt ist. Er sieht nur die Schwächen und Fehler der anderen, während ihm jedes Verständnis für sein Fehlverhalten und die Krankhaftigkeit seines Zustandes fehlt. Nicht er ist krank, sondern die anderen.

Beide geschilderten Formen der leichten Manie können natürlich in den verschiedensten Mischungen auftreten. – Körperlich fühlt sich der Maniker meist sehr wohl. Sein Stoffwechsel arbeitet ausgezeichnet, und nervöse Beschwerden sind ihm fremd.

Bei einem manischen Christen tragen die Krankheitsäußerungen zum Teil religiösen Charakter. In gehobener Stimmung ist er überglücklich mit seinem Gott. Er betont immer wieder, welche innere Befreiung er erlebt hat und welche wunderbaren Erfahrungen er täglich machen darf. Er ist fest davon überzeugt, daß Gottes Geist in besonderer Weise mit ihm redet und daß ihm eine Fülle von Erkenntnis geschenkt ist. Überzeugt davon, daß Gott etwas Besonderes mit ihm vorhat, fühlt er sich von ihm dazu berufen, seine Pläne zur Ausführung zu bringen.

In seinem geistlichen Hochmut fehlt ihm jede Erkenntnis der Sünde und der Notwendigkeit der Buße. Er hält sich einer Sünde nicht für fähig, weil ihm Gott die Kraft zum Überwinden des Bösen verliehen hat.
Seine geistliche Erkenntnis uns seine vielen Erfahrungen sind auf Gefühle gegründet und oberflächlicher Natur. Mit Leichtigkeit setzt er sich über Bedenken hinweg, und das Gefühl für sein oft unwürdiges Verhalten als Christ fehlt ihm völlig. In seinem Rededrang spricht er überschwenglich und wortreich ununterbrochen von seinen geistlichen Erfahrungen – mit Vorliebe in der sogenannten „Sprache Kanaans“. Seine Briefe sind mit Worten aus der Bibel gespickt, und jede Predigt ist ihm aus der Seele gesprochen. Im Gesangbuch und in der Bibel wird fast jeder Vers, den er singt und liest, unterstrichen, und eine Menge Randbemerkungen zieren seine Bücher.

Der Einsatz für seinen Herrn ist dem manischen Christen eine selbstverständliche Pflicht, und in den Werken der Nächstenliebe kann er sich geradezu aufopfern. Seine Ersparnisse fließen den Missionswerken zu, er fehlt in keiner Versammlung und läßt keine Gelegenheit aus, ein Zeugnis abzulegen. Dabei fehlt es ihm häufig an Takt und Bescheidenheit. Jeden, der ihm in den Weg kommt, versucht er zu bekehren.

Maniker, die vor ihrer Erkrankung dem Christentum neutral gegenübergestanden haben, können eine starke Vorliebe für das religiöse Leben entwickeln. Sobald die Manie aber verschwunden ist, ist auch ihre religiöse Neigung ausgelöscht. Andererseits wendet sich der Maniker nicht selten von Gott ab, während er als Gesunder durchaus geistlich orientiert war.
Dazu ein Auszug aus dem Brief eines leicht manischen jungen Mädchens, das eben eine Schwermutszeit überstanden hatte:
„Mein Leben war in letzter Zeit erfüllt mit Glück und Sonne, mit gesegneter Arbeit im Freien und einer tiefen Freude im Herzen. Zwar ist die Arbeit nicht so einfach, wie ich gedacht hatte, es gehört viel Ausdauer und Pünktlichkeit dazu. Alles sieht viel leichter aus, als es ist. Aber mit Lust und Liebe zur Sache, mit echtem Wollen geht es. Es ist so schön: Man sieht, was man fertiggebracht hat, und das ist eine wunderbare Sache.

In meinem Innern hat sich das gefestigt, was an Gutem in mich hineingelegt wurde, und Gott hilft mir bei allem. Ich habe ein ganz starkes persönliches Verhältnis zu meinem Schöpfer bekommen, ein tiefes Dankgefühl für den reichen Sommersegen und das große innere Glück. Es ist herrlich, zu leben und nach bitteren Winternächten zu dieser Freude zu erwachen. Ich erkenne jetzt, daß ich früher in meiner Schwermut nur mir selber lebte. Wenn man jetzt wieder für etwas arbeitet und da ist, sich hingeben, opfern und lieben kann, dann wächst man über sich selbst hinaus. Schwermut ist eigentlich purer Egoismus und muß hart angepackt werden. Trotzdem wäre ohne die unendliche Liebe und Güte meiner Umgebung bei mir nichts erreicht worden. Erbarmende Liebe und vor allem Glauben, wo man selbst keinen hat – das ist es, was hilft. Leiden sind da, um reicher und reifer zu machen. Sie öffnen die Augen für vieles. Man sieht es nur nicht, wenn man noch darunter seufzt.

Ich sehe das Leid im Vergangenen jetzt so: Gott schickte es mir, weil er etwas mit mir vorhatte. Also als ein Geschenk aus seiner Hand, und darum kostbar. Ich glaube, ich bin auf dem guten Weg, und bitte Gott immer wieder, mich weiter zu führen. Ganz elend kann man nun nie mehr werden. Nicht wieder ohne Vertrauen, Glauben und Lieben.
In die liebe. Kleine Dorfkirche gehe ich außer zu Gottesdiensten auch zu den Bibelstunden. Die Auslegungen des Pfarrers sind sehr gut. Leider konnte ich nur viermal hingehen, da ich mir den Fuß verstaucht hatte und lange daran herumlaborierte. Erst jetzt, nach Wochen, kann ich wieder auftreten. Aber so was ist ja bloß äußerlich . . . “

Diesem Brief lagen folgende Zeilen der Schwester des jungen Mädchens bei:
„Ohne Wissen meiner Schwester und ohne ihren Brief gelesen zu haben, möchte ich Ihnen schreiben. Sie werden gewiß sehen, daß meine Schwester wieder sehr unruhig und nervös ist; wir alle leiden darunter sehr. Sie lebt in allem maßlos übertrieben, geht seit Tagen sehr spät zu Bett und stört die Hausbewohner; sie denkt nicht einmal daran, Rücksicht zu nehmen, und auf Ermahnungen antwortet sie mit Ungezogenheit. Sie ist arrogant und selbstherrlich, was ihren Glauben, von dem sie redet, in keiner Weise entspricht. Weder unsere Mutter noch ich können irgend etwas bei ihr erreichen.
 Ihr augenblicklicher Zustand ist wirklich beunruhigend, und ihre Ausgelassenheit läßt uns einen baldigen Rückschlag ahnen . . . “

Die geschilderten Krankheitserscheinungen treten in der Regel periodisch auf. Zeiten gehobenen Glücksgefühls schieben sich zwischen längere oder kürzere Pausen gesunder Stimmungen oder wechseln mit Zeiten von Schwermut ab. Die Dauer der manischen Zeiten ist wie die der Schwermut ganz unterschiedlich und läßt sich im voraus keineswegs bestimmen. Die Mehrzahl der Erkrankungen erstreckt sich über mehrere Monate. Ihre Ursache ist nicht sicher bekannt. Doch ist sie ebenso wie die Schwermut offenbar bedingt durch Störungen im inneren Drüsensystem, die wiederum auf krankhafter Veranlagung beruhen. Hierbei können Erregungen aller Art eine auslösende Rolle spielen.


Die Manie wird in ihren leichten Formen von der Umgebung des Kranken und auch vom Seelsorger sehr häufig falsch beurteilt, da der Maniker zunächst den Eindruck eines kerngesunden und vitalen, aktiven Menschen macht. Die Krankhaftigkeit des Zustands kann am Anfang völlig übersehen werden. Besonders wenn keine Schwermut vorausgegangen war.
Die Umgebung des Manikers freut sich meistens über sein Wohlbefinden, bis irgendeine auffallende Handlung keinen Zweifel an der wahren Natur seiner Krankheit läßt. Aber auch einsichtsvolle Angehörige sind geneigt, das Verhalten des Manikers mit rein sittlichen Maßstäben zu messen. Sie halten ihn für schlecht erzogen und hemmungslos, sie beklagen sich über seine Rücksichtslosigkeit und Reizbarkeit, machen ihm Vorwürfe und versuchen, ihn durch Ermahnungen und Zurechtweisungen zur Vernunft zu bringen. Auch hinter der religiös verkleideten Manie wird nicht selten ein hoher Glaubensstand vermutet, was zu schweren Folgen führen kann.


Daß die Manie ebenso wie die Schwermut eine Krankheit ist, geht nicht nur aus der Vorgeschichte der krankhaften Veranlagung, sondern auch aus dem oft ohne erkennbare Ursache erfolgten Auftreten und dem ganzen Verlauf eindeutig hervor. Auch die Manie ist, ebenso die Schwermut, heilbar, ohne daß ein geistiger Schaden zurückbleibt.
Die ärztliche Behandlung beschränkt sich auf das Verabreichen von Beruhigungs- und Schlafmitteln. Wenn die Erregungen oder die auffallenden Handlungen zunehmen, läßt sich die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oft nicht vermeiden.

Die Seelsorge bietet, wenigstens auf dem Höhepunkt der Krankheit, nur geringe Aussicht auf Erfolg. Begreiflicherweise, denn der von krankhaftem, übersteigertem Selbstgefühl beherrschte Maniker ist kaum zu beeinflussen.


Als Regel gilt für den Seelsorger, sich wie bei der Schwermut auf gar keinen Fall über sein Verhalten aufzuregen und zu ärgern. Mit Vorwürfen, Ermahnungen und Belehrungen sollte man zurückhaltend sein, da diese nur eine vermehrte Aufregung oder einen Zornesausbruch des Kranken hervorrufen würden. Die Umgebung des Manikers muß vielmehr darauf bedacht sein, alle Erregungen von ihm fernzuhalten. Seine Handlungen müssen überwacht werden, um ihn vor unbedachten Taten zu bewahren. Selbständige Entscheidungen des Kranken müssen vermieden und seine hochfliegenden Pläne in realisierbare Bahnen gelenkt werden.
Er muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß die Durchführung seiner Pläne seine Unruhe verstärken würde und daß er es deshalb lernen muß, mit einer seinen Kräften angepaßten Tätigkeit zufrieden zu sein. Erfahrungsgemäß wird der Seelsorger dabei auf Widerstand stoßen, weil der Kranke seine Ratschläge für überflüssig hält. Ruhige Freundlichkeit und unermüdliche Geduld sind Grundvoraussetzungen für den Umgang mit Manikern.

Eine geistliche Beeinflussung ist nur in leichteren Fällen bis zu einem gewissen Grade möglich. Dem Kranken geht meist der Sinn für Schuld und Sünde ab, und seine Unbeständigkeit steht einem echten Glauben im Wege. Der Seelsorger muß auf die Überschwenglichkeit und die Hochstimmung seiner religiösen Gefühle mit Vorbehalt reagieren, um nicht enttäuscht zu werden. Verantwortung oder Leitung dürfen manisch Kranken in der Gemeinde keinesfalls übertragen werden. Auch darf bei solchen Kranken nicht Gelegenheit gegeben werden, öffentlich Zeugnis abzulegen. 
Erst auf dem Wege der Genesung wird sich die Seelsorge voll entfalten und den Kranken erfolgreich beeinflussen können.

8. Die wechselmütige Veranlagung
Außer der schwermütigen und leichtmütigen Veranlagung beobachten wir eine wechselmütige Veranlagung, die sich durch einen starken Stimmungswechsel auszeichnet. Aktivität, Heiterkeit, Lebenslust und Spannkraft werden ohne ersichtliche Veranlassung von Abgespanntheit, Übellaunigkeit und Mißmutigkeit abgelöst. Einige Wochen oder Monate später kehrt die alte Frische und Spannkraft wieder zurück. Unzählige Menschen, unter ihnen sind viele Künstler, leiden unter dem Wechsel ihrer Stimmung. Sie sind nur während eines Stimmungshochs zur Arbeit fähig. Im seelischen Gleichgewicht befinden sie sich selten. Ihre Stimmungskurve verläuft meist entweder über oder unter der normalen Linie. 
Dem Wechselmütigen wird im manischen Stadium aufgrund seiner Gereiztheit und Nörgelei häufig gekündigt, während er in depressiven Stadium aufgrund seiner Entschlußunfähigkeit und geistigen Schwerfälligkeit von sich aus seine Stellung aufgibt, um seiner Umgebung nicht zur Last zu fallen. Der Stimmungswechsel ist völlig unregelmäßig. Die Ausgelassenheit dauert nur einige Stunden oder Tage, während die depressive Phase wochenlang anhalten kann. Die Schwankungen neigen dazu, sich mehr und mehr auszudehnen und schließlich das ganze Leben zu erfüllen. 
Sie unterscheiden sich von den Zeiten der Schwermut und Manie nicht nur durch ihre kürzere Dauer und geringere Stärke, sondern auch durch eine gewisse Beeinflußbarkeit. So können sich manche Kranke derart beherrschen, daß sie in Zeiten der Verstimmung nach außen hin nicht auffallen und nur zu Hause ihren trüben Gedanken nachhängen.
Naturgemäß ist auch das Glaubensleben solcher Menschen außerordentlichen Schwankungen unterworfen. In einem Brief heißt es: „In den letzten Jahren wechselten oft gute Zeiten mit schlechten. Zeitweise kann ich fröhlich sein und alles dankbar hinnehmen und mich meines Glaubens freuen. Ich nehme mir dann vor und bitte Gott darum, daß ich nicht wieder in Anfechtung falle und daß ich mir dann in schweren Wochen vergegenwärtigen will, daß ich krank bin. Aber es dauert nicht lange, bis wieder eine unerklärliche Verstimmung über mich kommt, die meine Aktivität lähmt und meinen Glauben schwächt. Doch schenkt mir Gott immer wieder so viel Kraft, daß ich mich durchringe, meinen Aufgaben nachzukommen.“

Der Seelsorger wird Glaubensschwankungen eines wechselmütig Veranlagten nicht als Schuld, sondern als Krankheit ansehen und ihm von daher keinen Vorwurf machen, daß er sich in seiner Unbeständigkeit von seinen wechselnden Stimmungen hin und her reißen läßt. Er hilft ihm, indem er ihn aufzurichten versucht und ihm im Blick auf eine Besserung Mut macht.

In Zeiten gesunder Stimmungen wird ein regelmäßiges Bibelstudium geistliche Reserven schaffen, die dem Kranken zur Verfügung stehen, wenn die Stimmungkurve fällt und der Glaube angefochten wird.

9. Die manisch – depressive Gemütsstörung
Die manisch-depressive Gemütsstörung kann, ohne daß vorher eine besondere seelische Labilität vorlag, aufgrund einer ererbten Anlage krankhaften Charakter annehmen.

Bei dieser Krankheit wechseln in unregelmäßigen Abständen Zeiten der Schwermut mit Zeiten der Manie. Eine manische Erregung kann sich unmittelbar an einen Schwermutsanfall anschließen oder erst nach einer längeren Pause, in der die Stimmung völlig ausgeglichen und die Leistungsfähigkeit normal waren. Oder wir beobachten nach einer Reihe von gesunden Jahren zahlreiche manische Anfälle, die wieder von einzelnen Schwermutsanfällen unterbrochen werden.

So ergeben sich die verschiedenartigsten Reihenfolgen, in denen beide Gemütskrankheiten auftreten können. Die Ursachen, die den Wechsel bewirken, sind noch unbekannt, aber eine völlige Heilung ist nicht ausgeschlossen.

Das Glaubensleben des kranken Christen ist auch hier starken Schwankungen unterworfen.
 So machte sich ein Kranker einige Wochen nach einer Evangelisation schwere Vorwürfe, er habe sich dem Teufel verschrieben, um das Wort von der Vergebung gelte nicht ihm, sondern nur das Wort des Gerichts, und sein Beten dringe nicht mehr bis zu Gott.
Bald darauf machte diese Schwermut einem überschwenglichen Gefühl Platz, und er fing an, die Gnade Gottes zu rühmen, die ihm widerfahren sei.

Aber auch dieser Zustand hielt nicht lange an; zunächst mischte sich wieder die Angst vor den dunklen Gedanken unter die Freude, und bald hatte die Schwermut die Oberhand wie zuvor.

Daß es sich bei manisch-depressivem Irresein um eine Krankheit handelt, ist für den Seelsorger meist rasch erkennbar, wenn er sich eingehend mit dem Kranken unterhält. Leicht verkannt wird aber die auf eine Schwermutszeit folgende plötzliche Übergabe an Gott, die scheinbar Züge einer echten Bekehrung hat. Doch ist auch hier die Krankheit oft sehr schnell durch das stark schwärmerische und aufdringliche Verhalten des Kranken zu erkennen. Im übrigen gelten für Arzt und Seelsorger die im Kapitel Schwermut und Manie genannten Regeln.

10. Gemütskrankheiten und Ehe
Die Frage, ob ein Gemütskranker heiraten soll und darf, ist für ihn selbst wie auch für seine Angehörigen von großer Bedeutung.
Der leichtmütig Veranlagte und der Depressive haben meistens den starken Wunsch und das Verlangen nach einem Lebensgefährten, um alles, was sie bewegt, mit jemand teilen zu können.


Der Seelsorger wird sie – falls sie Heiratsabsichten äußern – an einen Facharzt verweisen. Treten die krankhaften Züge nicht zu stark in Erscheinung, wird der Arzt meist keine wesentlichen Bedenken gegen eine Verheiratung haben. Selbstverständlich ist mit Nachdruck zu betonen, daß eine Ehe nur mit einem seelisch Gesunden in Frage kommt, einem Menschen, der die Fähigkeit besitzen muß, den Gemütsschwankungen verstehend entgegenzukommen. Und den Partner in Liebe und Geduld zu tragen.

Dabei sollte besonders berücksichtigt werden, daß das Wesen des gesunden Ehepartners keine allzu große Ähnlichkeit mit dem des Kranken aufweist. Würden beide in ihrer Wesensart einander zu sehr gleichen, wäre die Gefahr einer Vererbung der Gemütskrankheit außerordentlich groß; auch könnten beide, Mann und Frau, einander keine wesentliche Hilfe im Lebenskampf sein, vielmehr würde der Gesunde den Kranken nur in seiner Labilität bestärken.
Andererseits dürfen die Partner auch nicht zu verschieden sein, da dies das gegenseitige Verstehen erschweren würde. Der Gesunde sollte daher nicht nur fröhlich, ausgeglichen und positiv sein, sondern ein gutes Stück Ernsthaftigkeit besitzen, damit er den anderen in seinem Trübsinn sowohl verstehen als auch aufmunternd beeinflussen kann. Nur durch diese Ergänzung kann auch die Ehe mit einem zu Schwermut bzw. Leichtmut neigenden Partner glücklich werden und bleiben.


Sehr viel schwieriger ist die Frage der Verheiratung eines ausgesprochenen Melancholikers bzw. Manikers. Bei diesen Gemütskrankheiten, besonders wenn sie schon in der Pubertät auftreten, ist die Wahrscheinlichkeit der Vererbung auf die Nachkommen außerordentlich groß.
Wenn bei einem der Ehepartner eine der Störungen vorliegt, ist laut Statistik bei fast zwei Dritteln der Kinder eine seelische Krankheit zu befürchten. Sind beide Eltern gemütskrank, sind ihre Kinder durchweg gefährdet.
Diese Tatsache gibt Veranlassung, bei Melancholie und Manie dringend von einer Ehe abzuraten. Wenn diese Krankheiten durch äußere Anlässe und nicht ohne erkennbare Ursache ausgelöst werden, sind die Bedenken gegen eine Verheiratung nicht ganz so groß, da wissenschaftliche Erfahrungen zeigen, daß die Erbanlage in diesem Falle wesentlich schwächer ist.

11. Die Voraussetzungen der Seelsorge
Die Aufgabe der Seelsorge an Gemütskranken ist äußerst verantwortungsvoll. Jede Seelsorge muß scheitern, wenn drei Dinge fehlen:

Weisheit
Worin besteht die Weisheit im Umgang mit Gemütskranken? Zunächst darin, daß der Seelsorger Menschenkenntnis besitzt, um sich über den Kranken ein richtiges Bild machen zu können. Er muß klar erkennen, ob der Kranke die Wahrheit sagt oder manches einseitig darstellt; ob er alles bekennt, was nötig ist. oder ob er Wichtiges verschweigt; inwieweit eine krankhafte Anlage oder Schuld vorliegt usw. Nur aufgrund dieser Fähigkeit kann der Seelsorger wirklich helfen.



Die Weisheit besteht auch darin, daß der Seelsorger das rechte Wort zur rechten Zeit findet. Er muß sich sehr davor hüten, schematisch vorzugehen und mit einigen gutgemeinten, aber billigen Redensarten den seelisch Kranken abzuspeisen. So, wie jede körperliche Wunde gewissenhaft und sachgemäß behandelt werden muß, so muß auch der Seelsorger auf den Gemütskranken und dessen besonderen Zustand eingehen. In diesem Fall kann eine Aufmunterung, im anderen ein Wort der Ermahnung oder sogar der Strenge angebracht sein.

Immer aber sind Äußerungen zu vermeiden, die dem empfindsamen Kranken schaden könnten. Es besteht kein Zweifel, daß „Kurpfuscherei“ sich bei seelischen Störungen wesentlich verhängnisvoller auswirkt als bei körperlichen Erkrankungen.


Der Seelsorger braucht viel Weisheit, um den Kranken nicht zu verletzen, zu ängstigen, zu bedrücken oder aufzuregen! Eine unvorsichtige Äußerung oder ein einziges ungeschicktes Wort hat nicht selten das vielleicht mühsam errungene Vertrauen des Kranken auf lange Zeit oder für immer gestört. Wenn er dagegen merkt, daß ihm der Seelsorger Verständnis entgegenbringt, keine Phrasen drischt und nicht an ihm herumpfuscht, ist ihm ein wesentlicher Dienst geleistet.
Auch die geistige Beeinflussung des Kranken muß mit Weisheit geschehen. Es ist völlig verkehrt, den Kranken zu drängen, die Auffassung des Seelsorgers anzunehmen, und Forderungen an ihn zu stellen, die er in seinem Zustand gar nicht ohne weiteres erfüllen kann.
In vielen Fällen bleibt dem Seelsorger zunächst nichts anderes übrig, als fürbittend für den Kranken einzustehen.
Liebe
Psychologische und pädagogische Begabung und Ausbildung, so wertvoll sie sind, genügen aber im Umgang mit Gemütskranken nicht. Der Seelsorger braucht ein Herz voll geistlicher Liebe, die ihn daran hindert, sich über den Kranken zu erheben, von oben herab mit ihm zu reden oder ihn zu verachten. Der Gemütskranke ist sein Nächster und sein Bruder, dem er tragen helfen
soll.
Seelsorger sein, heißt Lastenträger sein. Jede Mitteilung des Kranken wird für den Seelsorger zum Mit-Teilen. In der Erkenntnis, daß seelische Wunden sehr viel schmerzhafter sind als körperliche, wird der rechte Seelsorger dem Kranken in Liebe begegnen und versuchen, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, zu „weinen mit dem Weinenden“, mitzufühlen und mitzuleiden.

Die Liebe sucht die Veranlagung des Kranken, seine Erziehung, seine Umgebung und sein Schicksal zu berücksichtigen. Ein liebevoller Seelsorger wird dem Gemütskranken nicht als strenger Richter gegenübertreten, sondern jedes harte Urteil vermeiden. Und selbst wenn es eindeutig um Schuld des Kranken geht, ist der Seelsorger nicht berechtigt, Vorwürfe zu machen.

Spürt der Kranke die Liebe des Seelsorgers, wird er auch ein ernstes Wort ertragen und das Vertrauen zu ihm behalten. Fehlt aber dem Seelsorger die Liebe, wird der Kranke seine Worte mit Recht als überheblich und anmaßend empfinden und sich verbittert und enttäuscht zurückziehen.
In erster Linie braucht der Gemütskranke Trost, liebevolle Aufmunterung und Zuspruch. Selbst wenn dem Seelsorger die Worte fehlen und er sich seiner Ohnmacht dem Kranken gegenüber bewußt wird, übt sein teilnehmendes Schweigen auf den Kranken einen beruhigenden Einfluß aus, weil er dahinter die Liebe sieht.

Geduld
Die Liebe bringt noch eine Eigenschaft hervor, die im Umgang mit dem Kranken sehr wichtig ist: die Geduld. Keinem anderen Menschen gegenüber braucht der Seelsorger ein so großes Maß an Geduld. Besonders der Melancholiker stellt in diesem Punkt sehr hohe Anforderungen. Zunächst dauert es sehr lange, bis der Kranke Mut faßt, sein Anliegen offen auszusprechen. Mit unermüdlicher Geduld wird der Seelsorger versuchen, ihn zum reden zu bringen, ohne ihn gewaltsam dazu zu drängen. Er wird ihm möglichst zur Verfügung stehen, wenn er merkt, daß der Kranke unbedingt eine Aussprache braucht. Unter Umständen muß er andere Verpflichtungen zurückstellen, weil er weiß, daß das Verschieben einer Aussprache vielleicht eine Verschlimmerung der Krankheit oder eine unbedachte Handlung das Kranken zur Folge haben kann.

Sind die Hemmungen endlich gewichen und ist der Kranke endlich bereit, vielleicht unter Tränen seinem übervollen Herzen Luft zu machen, muß sich der Seelsorger unbedingt Zeit nehmen, geduldig zuhören und nicht vorzeitig die Unterhaltung abbrechen und mit seinem Urteil dazwischenfahren. Der Kranke könnte sich sonst zu einer weiteren Aussprache vielleicht nicht mehr entschließen und wichtige Dinge für sich behalten.



Geduld braucht der Seelsorger auch, um die sich immer wiederholenden Selbstanklagen oder gleichbleibenden Wahnvorstellungen anzuhören.
Bringt der Kranke unermüdlich die gleichen Klagen vor, darf auch der Seelsorger nicht müde werden, ihn immer wieder aufzumuntern und zu trösten. Allzuleicht aber wird mancher Seelsorger ärgerlich. Oder er resigniert, wenn sich der Kranke völlig unbeeinflußbar zeigt und am Ende der Unterredung genau dieselben Einwände äußert wie zu Anfang.


Es ist zweifellos nicht einfach, die Geduld zu behalten, wenn sich der Zustand des Schwermütigen oft nicht bessern will oder wenn er nach kurzer Besserung wieder einen Rückschlag erlebt. Aber gerade in solchen Situationen zeigt es sich, ob der Seelsorger geduldig ist und gelassen auf Gottes Handeln warten kann. Die immer gleichbleibende Haltung des Seelsorgers wirkt wie eine Macht gegen die Mutlosigkeit und Ungeduld des Gemütskranken.


Seelsorge in dieser Weise wird meist nicht erfolglos sein. Sie wird – vielleicht über eine lange Zeit hinweg – verborgene Hilfe für den Kranken bedeuten. Aber auch da, wo der Seelsorger zunächst kaum Erfolg sieht, darf er es nach der Wiederherstellung des Kranken immer wieder erleben, daß dieser, auch ohne seinem Empfinden Ausdruck gegeben zu haben, die seelsorgerliche Liebe und Geduld als außerordentlich wohltuend empfunden hat, und daß manchmal schon ein freundlicher Blick den Kranken tröstete.

Eines darf jedoch nicht unerwähnt bleiben: Zur Seelsorge an Gemütskranken ist nur ein reifer Christ fähig. Wer selbst noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, wer auf Vorwürfe des Kranken empfindlich reagiert, wer selbst gebunden ist, wird niemals dem anderen helfen können. Wer unter eigenen Lasten seufzt, kann nicht die Last des anderen tragen. Wer selbst innerlich zerrissen und friedlos ist, wird dem anderen nicht zur wirklichen Ruhe verhelfen können. Wer nicht selbst mit Gott im reinen ist, wird nicht imstande sein, den anderen zu Gott zu führen, und Gott wer nicht selbst in lebendiger Gebetsverbindung mit Gott steht, kann die Not des anderen nicht vor Gott bringen.
Der Seelsorger muß sich selbst als Sünder erkennen, der auf Gottes Gnade angewiesen ist, und dem Gemütskranken aus dieser Haltung heraus die erbarmende Liebe Jesu entgegenbringen; im Wissen, daß ihm selbst göttliches Erbarmen widerfahren ist. Damit ist jeder Dienst des Seelsorgers zugleich ein Prüfstein für die eigene Stellung vor Gott.

Das Vorbild eines echten Seelsorgers ist Jesus. Er besaß Weisheit, Liebe und Geduld in einem unerschöpflichen Maße für jeden, der zu ihm kam. Er verstand es in einzigartiger Weise, die verzagten aufzurichten, den Traurigen Freude zu geben unjd den Kleinmütigen zu trösten, 
Wenn der Seelsorger in lebendiger Verbindung mit Jesus, dem Tröster, steht, darf er in seiner Kraft und Vollmacht den schweren Dienst an gemütskranken Menschen tun.

Alfred Lechler.

info@horst-koch.de

Nachtrag:




Geisteswirken (Eva von Tiele-Winckler)

Eva von Tiele-Winckler

Geisteswirken im täglichen Leben

 

Inhalt


Das Leben im Geist

Der Wandel im Geist

Die Gemeinschaft des Geistes

Die Fülle des Geistes

Die Kraft des Geistes

Die Gaben des Geistes
Die Salbung des Geistes

Die Freiheit des Geistes

Die Verklärung des Geistes

Die Frucht des Geistes

Vorwort
„Haben Sie den Heiligen Geist empfangen?“ Diese überraschende Frage richtete Pastor H. vor mehr als vierzig Jahren in einer Bibelstunde an die Schar der Schwestern und Helferinnen in der Kinderheilstätte Salzuflen. Noch deutlich erinnere ich mich unserer Verlegenheit. Allgemeines Schweigen. Niemand wagte aufzusehen. Ein Ja wäre uns als Anmaßung erschienen, ein Nein war auch bedenklich, also schwiegen wir.

Geht es nicht auch heute vielen Christen so, daß sie ängstlich verstummen, wenn ihre persönliche Stellung zum Heiligen Geist in Frage kommt? Gott den Vater kennen sie und bekennen ihn als Schöpfer und Erhalter, als Versorger und Erbarmer. Er ist ihnen der Vater Jesu Christi, sie sehen in ihm den Gott der Allmacht und der Liebe.

Auf die Frage: „Was ist dir Jesus Christus?“ würden sie freudig bezeugen, daß er ihr Versöhner und Erlöser sei und vieles mehr. Wenn man aber auf ihr persönliches Verhältnis zum Heiligen Geist kommt, so wird eine gewisse Unklarheit und Unbestimmtheit fühlbar, obgleich sie alles wissen und zugeben, was von ihm in der Bibel und im Katechismus steht.

Die folgenden Blätter sollen selbstverständlich keine theoretische, lehrhafte Abhandlung über das Wesen des Heiligen Geistes sein. Diesem höchsten und heiligsten Geheimnis gegenüber gebührt schweigende Anbetung. Der Heilige Geist ist zu heilig, zu unerforschlich, zu groß, um Gegenstand menschlicher Untersuchungen zu sein. Er beansprucht als Anerkennung seiner Majestät unbedingten Gehorsam. Von seinem Verhältnis zu uns im persönlichen Lebendes einzelnen Christen, auch von seinen Mitteilungen, Wirkungen und Früchten in der praktischen Erfahrung soll dieses kleine Buch zeugen. Betend schreibe ich mit dem einen Verlangen, daß es eine Hilfe sein möchte für Anfänger und Fortschreitende auf dem Wege des Glaubens. Unser Verhältnis zum Heiligen Geist ist von allergrößter Wichtigkeit und Bedeutung für unser geistliches Leben und seine Entwicklung. Es ist ein heiliges Land. Nicht Neugierde, sondern heilige Ernst im Streben nach dem höchsten Ziel möge uns beim Schreiben und Lesen dieser Zeilen erfüllen. Betend geschrieben, betend gelesen, unter der Leitung dessen, der uns als der Geist der Wahrheit selbst in alle Wahrheit führen will, wird der Segen Gottes, an dem alles gelegen ist, nicht ausbleiben.


Das Leben des Geistes

Jedes Leben in zeitlicher Erscheinung muß seinen Anfang haben und ist an bestimmte Vorbedingungen geknüpft. So auch das Leben des Geistes in uns.
Nach Gottes Ebenbild geschaffen und von dem Hauch seines Geistes erfüllt, ward der Mensch eine lebendige Seele. Leuchtend, freudevoll, in Freiheit und Herrschergewalt durchwandelte er sein Gebiet, selig gebunden an den heiligen Liebeswillen Gottes, bis er durch den Fall aus der Gottesgemeinschaft heraus in die Abhängigkeit von der Finsterniswelt geriet und seine erste Herrlichkeit verlor.
Seitdem lebte der Mensch in der Verbannung, das göttliche Urbild war zerstört, die Trennung von Gott vollzogen, Finsternis und Tod herrschten als Lohn der Sünde von Geschlecht zu Geschlecht.
Aber Gottes Heils- und Liebesgedanken begleiteten den Menschen in sein Exil. Sternen gleich, erhellten die Verheißungen kommender Erlösung den Himmel, der sich über dem gefallenen und entthronten Menschengeschlecht wölbte. Jahrtausende gingen hin unter Suchen und Sehnen, Sünde und Sorge, Last und Leid. Da kam der Verheißene, der Versöhner und Erlöser, der Wiederhersteller und Zurechtbringen Christus Jesus, der Gottes- und Menschensohn.

Er kam, er lebte, er litt, er starb, er stand auf und fuhr gen Himmel, um nach vollbrachtem Erlösungswerk die Verheißung des Vaters, den Heiligen Geist, herabzusenden in die Herzen der versammelten Jünger. Dadurch sollte die Wiederherstellung des Menschengeschlechts, die Erneuerung zu Gottes heiligem Bilde bewirkt und die Gemeinschaft mit Gott wiedergeschenkt werden, die durch den Sündenfall von Geschlecht zu Geschlecht unterbrochen, ja aufgehoben war.
Auch wir sind Glieder in dieser unabsehbaren Kette, die unser kleines Dasein in seinen Uranfängen an das Schicksal unserer Stammeltern im Paradiese band. Von ihnen haben wir unser physisches Leben geerbt, auch unser intellektuelles Geistesleben, das durch jenen Gotteshauch dem ersten Menschenpaar eingeblasen wurde und das ihm auch als Erbgut in der Verbannung blieb.

Dieser Geistesbesitz ist es, der jeden, auch den tiefstehenden Menschen vom Tier unterscheidet und ihm heute noch das hohe Übergewicht des Willens und des Verstandes über die Naturkräfte und über alle Tiergattungen, auch die edelsten und stärksten gibt. Wenn wir nun auch die Überlegenheit des Menschengeistes über das Tier und die ganze Schöpferwelt feststellen müssen, so ist hiermit noch nicht das Leben des Geistes gemeint, von dem in diesem Buch die rede sein soll. Unser Menschengeist ist gewissermaßen nur das Gefäß, das Organ, in das Gott der Herr den Heiligen Geist zu unserer Wiedergeburt und Neuschöpfung hineinlegen kann. Hätten wir keinen Geist, so könnte nie der Heilige Geist sich uns offenbaren, sich uns mitteilen.

Um uns diesen großen, gewaltigen Vorgang klarzumachen, wenden wir uns zu der altbekannten und doch immer wieder neuen Geschichte von Nikodemus, der zu Jesus kam, um die Sehnsucht seines Herzens zu stillen (Joh. 3, 1-15). Dieser Schriftgelehrte war einer der frömmsten und edelsten Söhne seines Volkes, ein Mann voller Wissen und Schrifterkenntnis, voller Selbstzucht und guter Werke. Von früher Jugend an in der strengen Sekte der Pharisäer erzogen, hatte er es auf diesem Wege anscheinend zu der größtmöglichen Vollkommenheit gebracht. Er war ein Oberster der Pharisäer. Man sah in ihm das Ideal seiner Richtung, die Verkörperung menschlicher Vortrefflichkeit und Gottesgelehrtheit. Und doch war dieser Mann trotz allem, was er erreicht hatte und geworden war, im tiefsten Grunde unbefriedigt. Das Beste fehlte ihm noch.

Wir kommen hier zu einem sehr wichtigen Punkt, nämlich zu der Vorarbeit des Heiligen Geistes, die seiner Mitteilung vorangeht. Das erste Werk des Geistes in einem Menschenherzen ist: die Erkenntnis der Unzulänglichkeit und eigenen Sündhaftigkeit zu erwecken und das Sehnen und Suchen nach etwas Neuem, Gottgeschenktem anzubahnen. Dieses vorlaufende Wirken des Heiligen Geistes führt Nikodemus zu Jesus. Wahrscheinlich erwartete der fromme und gelehrte Mann aus dem Munde des Nazareners Ratschläge zur Erreichung noch höherer Vollkommenheit zu vernehmen. Gern hätte er seine Anstrengungen vermehrt, seine guten Werke verdoppelt, seiner Gotteserkenntnis höhere Erleuchtung hinzugefügt, um die Unruhe seines Gewissens zu beschwichtigen und endlich Frieden zu finden. Was tut aber Jesus? Mit einem Wort sch lägt er ganze mühsam errichtete Gebäude diese ausgereiften Lebens zusammen. In Staub und Asche sinkt die ganze Herrlichkeit dahin unter dem Wort: „Ihr müsset von neuem geboren werden.“ Es war, als wollte er sagen: Nikodemus, alle deine Werke, deine Erkenntnis, deine Gebete und geistlichen Anstrengungen helfen dir nichts! Es muß ein grundlegendes neues Werk geschehen – du mußt von neuem geboren werden!

Das zeigt uns mit einem Schlage, worauf es ankommt. Manche Richtungen in- und außerhalb der Christenheit meinen, alles Erforderliche sei in einem Menschen bereits vorhanden. Man müsse nur das Gute in sich heben, entfalten, verbessern, entwickeln, und dann würde man so ganz allmählich ein Geistesmensch werden. Der Herr verneint das. Es muß eben etwas ganz Neues geschehen, eine neue Schöpfung, ein neuer Anfang.

Ich habe im Jahre 1885 in dem kleinen Bergkirchlein in St. Moritz einen französischen Prediger über dies Wort (Joh. 3, 7) reden hören. Noch heute, nach 40 Jahren, habe ich die Wirkung nicht vergessen. Es war eine gewaltige Predigt. Der alte Mann mit dem weißen Bart rief wieder und wieder in die dichtgedrängte Kirche hinein: „Ihr müsset von neuem geboren werden!“ Tränenüberströmt sah ich viele der reichen, vornehmen, mit Spitzen und Juwelen beladenen Frauen dieses eleganten Weltbades hinausgehen – das Wort hatte eingeschlagen! In jedem Herzen hallte es wieder: Ihr müsset von neuem geboren werden!

Eine neue Kreatur! Es genügt nicht, daß wir die alte Natur allmählich verbessern, das Gute in uns pflegen und stärken, nein – nein, es muß etwas ganz Neues werden! Mit Nikodemus möchte man fragen: „Wie soll das zugehen?“ Jesus führt am Schluß der Unterredung diesen Mann im Geist hinaus nach Golgatha. Im Bilde der in der Wüste erhöhten Schlange deutet er auf den Opfertod des Menschensohnes, der sterben muß, „auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben“. Er zeigt dem staunenden Greise das Geheimnis der Erlösung.

Das Kreuz ist unsere Geburtsstätte. Wer findet den Weg dorthin? Wer versteht das Geheimnis der Versöhnung?
Nur der, der an sich selbst zuschanden geworden ist im Bewußtsein seiner Unzulänglichkeit und Sünde. Wer Bankrott gemacht hat mit seiner eigenen Gerechtigkeit, kommt zu der großen Zahlungsstelle, wo Christus, der Erlöser, mit seinem vergossenen Blut die ganze Schuld der Menschheit getilgt und die Rechnung ausgeglichen hat.

Das allererste was der Heiligen Geist tun muß, ehe er sich uns als der lebenerweckende Geist Gottes mitteilen kann, ist, daß er uns Licht über uns selbst gibt, über unseren eigenen verlorenen Zustand, über unser tiefes Verderben und unsere Sündhaftigkeit. Je tiefer das Licht eindringt, je gründlicher die Erleuchtung des Heiligen Geistes geschieht, je völliger sich Gottes Gericht an uns vollzieht, desto tiefer wird auch unsere Buße sein (die Sinnesänderung) und das Verlangen, am Kreuze von Golgatha sich erneuern und umgestalten zu lassen zu einem Kind Gottes.

Zunächst muß also die Erleuchtung dasein, die zu der inneren Gerichtsvollstreckung führt: Sünde – Sünder – sündig. Dann eilen wir mit dieser Sünde hin zum Kreuz, zu dem Mittler, der für uns als Stellvertreter unsere Strafe trug, unseren Fluch auf sich nahm, auf daß wir Frieden hätten, in dessen Wunden wir geheilt sind. Wir sehen also hier, daß auch das Geistesleben seine Vorbedingungen hat. Ist der Sünder erst am Kreuze angelangt und hat dort das Wort der Vergebung hören dürfen, so wird ihm der Frieden der Rechtfertigung mitgeteilt und die Zusicherung der Gotteskindschaft gegeben.

Als dankbare Gegengabe für dieses größte Gottesgeschenk gibt der Begnadigte sich selbst mit seinem Leben, seinem freien Willen Gott zurück. Die durch die Sünde ehemals vollzogene Trennung wird aufgehoben, das Kind darf dem Vater nahen und bringt aus Dank und Liebe für die erfahrene Gnade sich ihm selbst dar. In diesem Augenblick kann Gott die Versiegelung des Geistes vornehmen, von der wir Eph. 1, 13 lesen: „Durch welchen auch ihr gehört habt das Wort der Wahrheit, das Evangelium von eurer Seligkeit; durch welchen ihn auch, da ihr gläubig wurdet, versiegelt worden seid mit dem Heiligen Geist der Verheißung.“
Der Apostel legt also hier die Versiegelung des Geistes, von der öfters im Neuen Testament die Rede ist, in den ersten Anfang unseres Glaubenszustandes. In dem Augenblick, wo der Glaube zufaßt und das Heil ergreift, ist die Versiegelung da. Die Versiegelung ist eigentlich die Eigentumserklärung Gottes. Wir können einen Gegenstand nur dann versiegeln oder mit unserem Stempel und Namen versehen, wenn er uns gehört. So kann Gott die Versiegelung des Geistes auch nur dann vornehmen, wenn wir uns ihm in freiwilliger Tat dankbarer Hingabe übereignen. Sobald wir uns ihm übergeben, ausgehändigt und sein Eigentumsrecht über uns anerkannt haben, drückt der Vater sein Geistessiegel in uns ein, teilt uns den Geist der Kindschaft mit und erklärt uns als sein Eigentum. Wir haben so die „Erstlinge des Geistes“ empfangen (Röm. 8, 23).
Schon im Alten Bunde gibt uns Gott durch den Propheten Hesekiel (Hes. 36, 26) die größte Verheißung: „Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben.“

Hier handelt es sich nicht um eine allgemein menschliche Geistesbegabung, sondern um den neuen Geist, den Geist Gottes, der in der Fülle der Zeiten in den Herzen Wohnung machen und ganz von ihnen Besitz nehmen sollte.
Außer dieser Versiegelung ergibt sich dann auch das Zeugnis des Geistes in unserem Innern, daß wir Gottes Kinder sind. (Röm. 8, 16). „Derselbe Geist (der Heilige Geist) gibt Zeugnis unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind.“ Wir können und dürfen das ganz genau wissen. Ist es nicht etwas überaus Trauriges, wenn in der Welt ein Kind umherläuft, das seinen Vater nicht kennt? Wir haben aber das Recht zu sagen: Ich kenne meinen Vater. „Unser Vater, der du bist in dem Himmel!“

Dieser Kindesstand treibt uns, zu rufen: „Abba, lieber Vater!“ Und wir können mit dem Apostel Johannes jubeln: „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, daß wir Gottes Kinder heißen sollen, und wir sind es!“
Wir dürfen uns der großen Gnade bewußt werden, Wiedergeborene zu sein durch den Heiligen Geist, solche, die nicht in dem natürlichen Leben Adams steckenbleiben als Dieseitsmenschen, sondern die aus Gott heraus Lebenskräfte empfangen haben, die uns zu Ewigkeitsmenschen stempeln und uns hineinführen in eine neue, innere Lebensverbindung mit Christus


Der Wandel im Geist

Aus dem Geistesleben ergibt sich nun auch als weitere Folge der Wandel im Geist.
Wenn der Heilige Geist uns als Erstlingsgabe mitgeteilt wurde, so haben wir es alle gespürt, daß etwas Neues in uns hineingekommen ist: ein neuer Trieb, eine neue Gesinnung, eine neue Neigung, ein neues Streben. Wir denken neue Gedanken, wir sprechen sozusagen eine neue Sprache. Manches von dem Alten, an dem wir so gehangen haben, ist einfach von uns abgefallen. Die Geschmacksrichtung hat sich verändert, die Ziele sind andere geworden. Während wir früher hier auf Erden unser Lebenselement und den Sitz unserer Neigungen hatten, bekommen wir nun eine lebendige Ewigkeitshoffnung, und das Verlangen des Herzens steigt aufwärts zu dem, was unvergänglich ist. Neu ist auch die große Freude, die zuerst das begnadigte Menschenherz erfüllt, das Bewußtsein des Friedens, die selige Harmonie, die uns innerlich durchflutet. Man spürt es, wir sind von neuem geboren, und über allen Zweifel erhaben ist die Gewißheit, in eine andere Lebenssphäre eingegangen zu sein.

Aber nach dieser ersten großen Freude und ihren Wirkungen auf unser inneres Leben und Verhalten werden wir gar bald auch etwas anderes merken. Vieles ist neu geworden, aber nicht alles. Wohl ist neues Leben da, der Heilige Geist ist uns als Erstlingsgabe mitgeteilt und hat Besitz von uns genommen, doch etwas anderes ist auch noch da – das alte Leben. Das ist noch nicht mit einem Schlage tot. Was wir früher gar nicht kannten und wußten, mit einem male spüren wir es: zwei Gewalten sind in uns, die gegeneinander kämpfen. Vor unserer Wiedergeburt hatten wir verhältnismäßig Ruhe. Wir folgten einfach dem trieb unseres alten Lebens und hatte keine höheren Ziele als die, nach denen unser natürliches Herz verlangte. Konnten wir unsere Wünsche einigermaßen befriedigen, so waren wir auch zufrieden und waren uns keines Zwiespalts und keines Kampfes bewußt. Jetzt aber ist ein zwiespältiges Leben da. „Den Geist gelüstet wider das Fleisch, und das Fleisch gelüstet wider den Geist.“ Der Heilige Geist, der nun in uns wohnt, will die Herrschaft gewinnen, und das Fleisch, das noch in uns lebet, will die Herrschaft nicht abgeben. Wer von uns hat sie nicht kennengelernt, diese furchtbaren, manchmal bis zur Verzweiflung führenden Kämpfe zwischen Fleisch und Geist! In uns streitet zwei reiche um die Obergewalt: das Licht und die Finsternis, der Geist und das Fleisch, das Leben und der Tod.

Jetzt kommt alles darauf an, daß wir unseren Willen auf die Seite des Geistes Gottes stellen und ihm gewissermaßen ein Gebiet nach dem andern ausliefern, so daß er seine Herrschaft in uns gewinnen und befestigen kann, während das Fleischesleben und –wesen sich immer weiter zurückziehen muß, bis ihm endlich das Todesurteil gesprochen wird und es dorthin kommt, wo es hingehört, ans Kreuz.
Manches Gotteskind hat eine Wiedergeburt erlebt, eine innere Lebensmitteilung Gottes erfahren, aber es fehlt der Wandel im Geist. Durch den Propheten Hesekiel 8, 36, 27) spricht Gott: „Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln, meine Rechte halten und darnach tun.“ Das ist also unseres Gottes großes Ziel. Er gibt uns seinen Heiligen Geist zu dem Zweck, daß wir in seinen Geboten wandeln und ihm die Herrschaft einräumen über unser inneres Leben, damit alles in Übereinstimmung kommt mit der Gesinnung des Geistes, der uns gegeben ist. „Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lüste des Fleisches nicht vollbringen.“ Und: „So wir im Geist leben, so lasset uns auch im Geist wandeln!“ mahnt der Galaterbrief.

Was ist nun eigentlich der Wandel? Wenn man das Tätigkeitswort „wandeln“ in seiner einfachen Bedeutung nimmt, so ist es ein Hindurchgehen und Weiterschreiten. Man wandelt durch den Garten, durch einen Wald. Indem wir wandeln, verändert sich ununterbrochen die Umgebung. So ist es auch in der geistlichen Übertragung mit dem Wandel im täglichen Leben. Der Wandel ist eigentlich nichts anderes als unser Verhältnis zur Umwelt, das uns im Laufe der Stunden und Minuten beständig in andere Beziehungen bringt. Wir sind einem immerwährenden Wechsel unterworfen. Sowohl was die äußeren Umstände betrifft, wie auch unsere Aufgaben und inneren Gemütsbewegungen. Dieser Wandel oder Verkehr mit der Außenwelt soll ein Geisteswandel sein, ein Wandel im Geist.
Es gibt Menschen, die nicht nur ein hervorragendes Maß von Erkenntnis, sondern auch eine bestimmte persönliche Heilserfahrung haben. Und doch, wenn sie durch den Tag hindurchgehen mit seinen mannigfaltigen Aufgaben, Geschäften und Gelegenheiten, so sieht man nichts von dem „Wandel im Geist“. Man sieht nur die eigene Ich-Natur, die sich immer wieder durchsetzt und in tausend Kleinigkeiten beweist, in scharfen Worten, in unfreundlichen Gebärden, in lieblosen Bemerkungen, in Verdrossenheit, übler Laune, Nieder-geschlagenheit, Untreue oder Unzuverlässigkeit und dergleichen mehr. Solch ein Wandel im Fleisch ist etwas sehr verhängnisvolles für einen wiedergeborenen Christen.

Man könnte fragen: Warum sind viele sogenannte Kinder Gottes keine Empfehlungsbriefe an die Welt, keine Zeugen der Frohen Botschaft?, und die Antwort muß lauten: Es fehlt an dem Wandel im Geist! Sie haben wohl inwendig die Kraft der Versiegelung erfahren, aber sie haben sie nicht an sich auswirken lassen in der Veränderung und Erneuerung des Lebens. Sie haben sich nicht voll und ganz auf die Seite des Geistes gestellt mit ihrem Willen und mit ihrem Seelenleben. In diesen gebieten herrschen noch alle die Triebe des eigenen, natürlichen Adamswesens, die sie unbeschnitten und uneingeschränkt schalten und walten lassen.
Wollen wir uns da nicht alle einmal ehrlich fragen: Wie stehet es mit meinem Geisteswandel? Habe auch ich dem Herrn, der mich erlöst und der mich mit dem Geist der Kindschaft begnadigt hat, Schande gemacht und der Welt und auch den Gotteskindern Anlaß gegeben, sich an meinem Wesen, an meiner Art zu stoßen und ärgern?
Die Mitteilung göttlicher Geisteskräfte wird uns nur gegeben, damit wir ein Leben führen können in Übereinstimmung mit Gottes Willen, nach Gottes heiligen Geboten, die ja schließlich, wenn wir sie im Lichte des Neuen Testamentes betrachten, alle in einem einzigen Gebot aufgehen, nämlich in dem Gebot der Liebe.

Jede Bewegung wird durch Kraft erzeugt. Wenn nun unser Wandel eine Bewegung ist, die uns durch das Leben hindurchbringt, so kommt es darauf an, welche Kraft hinter dieser Bewegung steht. Man spricht im technischen Leben von einer Triebkraft. Sie kann durch Dampf, durch Wasser, durch Elektrizität erzeugt werden. Ins Geistliche übertragen, könnten wir auch von einer treibenden Kraft sprechen, von einem Motiv oder Beweggrund. Hinter jeder Betätigung unseres Lebens steht ein Beweggrund, ein Motiv. Es ist wichtig, daß wir uns fragen: Aus welchem Beweggrund entstehen meine Entschlüsse, meine Betätigungen, meine Worte und Taten? Der Beweggrund wird allemal den Wert oder Unwert vor Gott entscheiden. Manches anscheinend vortreffliche Werk kann aus einem unlauteren Beweggrund heraus getan werden Selbst hinter glänzenden Taten der Liebe und heldenhaften Aufopferungen können falsche Motive stehen: Ehrgeiz, Eitelkeit kann der Beweggrund zu solchem Tun sein.
Wieviel in unserem Leben mag da vor dem Richterstuhl Gottes als verwerflich und verdammlich erscheinen, was bei den Menschen Bewunderung und Anerkennung hervorbringt! Der Beweggrund entscheidet.

Zwei große Einflüsse machen sich in unserem Leben geltend. Der eine verheerend und verwirrend, nach unten ziehend, dringt von außen durch die Sinne und Organe unseres Leibes in unser Seelenleben ein, hervorgerufen durch die Verführungskünste des Fürsten dieser Welt, der uns beständig umlauert und Eingang zu finden sucht. Der andere heiligend, befreiend, erlösend, nach oben ziehend, kommt durch den in uns wohnenden Heiligen Geist, der von unserem Menschengeist Besitz genommen hat in der Wiedergeburt, und der nun darauf ausgeht, von unserem Seelenleben mit seinen Kräften und verschiedenartigen Gebieten Besitz zu nehmen. Die Seele liegt in der Mitte zwischen dem Höchsten und Innersten, dem Geist und der äußeren Umkleidung, dem Leib. Der Menschengeist ist der Sitz des Gottesbewußtseins; denn nur im Geist können wir Gott erfassen. Die Seele ist der Sitz des Ichbewußtseins, in dem unsere natürliche Persönlichkeit, unser eigenes Selbst, sein Betätigungsgebiet hat. Der Leib ist die Stätte des Weltbewußtseins, weil seine Organe, Augen, Ohren, Glieder, Sinne, die Einflüsse der Außenwelt nach innen vermitteln.

Nun gilt es, die verschiedenen Seelenkräfte: das Denkvermögen, das Gefühlsleben, die Erinnerung, die Vorstellungskraft, die Neigung und Abneigung und – schließlich als entscheidenden Faktor – den Willen dem Einfluß des Weltgeistes zu entziehen und ganz unter die Herrschaft und die Beeinflussung des Heiligen Geistes zu stellen.
Die drei unterschiedlichen Personen der Heiligen Dreieinigkeit wirken in diesem Heiligungswerk mit. Durch den Heiligen Geist wird die Innewohnung Jesu uns mitgeteilt, und mit dem Sohn macht auch der Vater Wohnung in dem ihm geweihten Menschenherzen, so daß von innen heraus Geist, Seele und Leib von Gott in Besitz genommen, durchwohnt und geheiligt werden (Eph.3, 17; 1. Thess. 5, 23; Joh. 14, 23).
Wenn diese Gottesherrschaft sich im Heiligen Geist mehr und mehr über alle Gebiete des Lebens erstreckt, kann es zu einem wahren Wandel im Geist kommen. Er wird zu einer Realität. Neue Hoffnungen erfüllen den nach einem geheiligten Leben Verlangenden. Der Sieg der Gnade über die natur wird zur Lebenserfahrung, und die Schriftworte, die vom geheiligten Wandel handeln (1. Petr.1, 14-16 und 1. Petri 2), treten in den Bereich der Möglichkeiten, während sie vorher, solange wir mit den Naturkräften und der Beeinflussung des Feindes rechnen mußten, unerreichbar schienen.
Konnte schon im Alten Bunde ein Henoch mit Gott wandeln, so sollten die Kinder des Neuen Bundes Christus als ihre Heiligung im Glauben annehmen und durch den Heiligen Geist ihr Leben nach seinen göttlichen Grundsätzen gestalten lassen, so daß er selbst in ihnen seinen Jesuswandel auf Erden fortsetzen kann.

Die Gemeinschaft des Geistes
Wo Geisteswandel ist, wird auch die Gemeinschaft des Geistes nicht fehlen. Sie wird eine Gemeinschaft des Lebens, des Lichtes und der Liebe sein. Des Lebens, denn das innewohnende Geistesleben des einen teilt sich naturnotwendig auch dem anderen mit, und wo es schon vorhanden ist, entsteht eine heilige und beseligende Wechselwirkung, ein Kontakt des Geistes, der das Leben der Geistesträger untereinander verbindet und harmonisch gestaltet.
Solch eine Lebensgemeinschaft im Geist wird dann auch eine Gemeinschaft des Lichtes. „So wir im Lichte wandeln, wie er im Lichte ist, haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde“ (1. Joh. 1, 7). Nur die im Licht Wandelnden können Gemeinschaft des Geistes miteinander haben. Jedes Dulden von Finsternis, verborgenen Sünden, unlauteren Beweggründen und unaufrichtigem Wesen hindert und hemmt sofort die Geistesgemeinschaft.
Aus der Lebens- und Lichtesgemeinschaft erblüht dann als selige Folge die Liebesgemeinschaft. Alle Hindernisse der Liebe sind beseitigt, und so kann die Liebe Gottes, die ausgegossen ist in unser Herz durch den Heiligen Geist, nun auch die einzelnen Glieder des Leibes miteinander zu einer wahren und innigen Liebesgemeinschaft verbinden, in der Liebe, von der 1. Kor 13 uns so ein lichtes Bild entwirft, und die uns in dem Leben der ersten Christengemeinden deutlich vor Augen gestellt wird (Apg. 2, 44 und 4, 32).

Nächst der höchsten Seligkeit, deren wir hier auf Erden teilhaftig werden können, der persönlichen Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott, ist die Gemeinschaft des Geistes mit seinen Kindern, das Schönste und Beste, was uns geschenkt werden kann. Kein irdisches Band der Blutsverwandtschaft und der auf rein natürlicher Grundlage beruhenden Freundschaftzsbeziehungen kann mit der wahren, geheiligten Lebens-. Lichtes- und Liebesgemeinschaft im Geist verglichen werden. Sie ist ein Vorgeschmack der Gemeinschaft der Heiligen und fangt hier schon an, um in allen Ewigkeiten der Ewigkeiten in immer wachsendem Maß und seliger Erfahrung fortgesetzt zu werden.

Diese Gemeinschaft im Geist wird auch nach einer Betätigung verlangen. Der einzelne Christ wird sich als Glied des anderen in den großen Organismus des Leibes Christi eingeordnet wissen und als solches sich zu gegenseitigem Dienst verpflichtet fühlen. Der Epheserbrief gibt uns im 4 Kapitel eine eingehende Schilderung von dem Verhältnis der einzelnen Glieder zueinander und zum Haupt. Konnte der erste Adamssohn Kain auf die Frage Gottes: „Wo ist dein Bruder Abel?“ trotzig antworten: „Soll ich meines Bruder Hüter sein?“ – so weiß sich der wiedergeborene Christ, der zu der Genealogie des neuen Adams gehört, in der Gemeinschaft des Geistes verantwortlich für alle anderen Glieder des Leibes Christi und besonders für diejenigen, die mit ihm in direkter Wechselbeziehung des Lebens stehen.
Die Schönheit des Menschenleibes, wie auch insbesondere die der Züge des Menschenantlitzes, liegt in der Ebenmäßigkeit und Harmonie der einzelnen Teile zueinander. Es ist eine Verkennung der Ziele und Liebesabsichten Gottes, wenn der einzelne Christ einseitig nur seine eigene Ausgestaltung und Vervollkommnung im Auge hat. Der Apostel Paulus, der von sich bezeugen konnte, daß er mit ganzer Energie sich ausstreckte nach dem höchsten Ziel, rang und kämpfte, arbeite und flehte, damit alle Glieder des Leibes heranwachsen möchten zur einheitlichen Größe des Mannesalters Christi. Wer in wahrer Geistesgemeinschaft zu den anderen steht, dem wird an der Ausgestaltung und Entfaltung der anderen Glieder ebensoviel liegen müssen wie an der eigenen Ausreifung und Vollendung.

Die Gemeinschaft des Geistes treibt auch zur Pflege der gemeinsamen Beziehungen untereinander. So sehr man die stillen Stunden des Alleinseins mit Gott und das Herzensgebet des Kämmerleins liebt und übt, so wird man doch auch die Gelegenheiten wahrnehmen und treu auskaufen, die der gemeinsamen Betrachtung des göttlichen Wortes und dem vereinigten Lobe Gottes und der Fürbitte gewidmet ist. Die Gemeinschaft des Geistes drängt zu lebendigem Austausch und gegenseitiger Mitteilung empfangenen Lichts und erfahrener Gnade: 1. Joh. 1, 3; Ps. 34, 3.4 und Ps. 66, 16: „Ich will erzählen, was er an meiner Seele getan hat…“


Die Fülle des Geistes

Brauchen wir denn noch mehr? Wenn wir das Leben des Geistes haben, den Wandel im Geist führen und die Gemeinschaft des Geistes mit anderen genießen, ist uns dann nicht schon alles mitgeteilt, was wir nur wünschen und erwarten können?
Für uns selbst und unser eigenes Bedürfnis möchte das bisher Gesagte schon genügen. Wir brauchen aber die uns verheißene Fülle des Geistes ganz notwendig, um unseren Zeugenberuf auf Erden erfüllen und unseren Dienst an anderen in wirksamer Weise ausrichten zu können.
Wir sollen nicht nur Leben haben, sondern überfließendes Leben (Joh. 10, 11). Wir bedürfen einer Kraft, die über uns hinausgeht und uns zu Werkzeugen des Heiligen Geistes macht in der Welt. Schon Johannes spricht davon (Luk. 3, 16), daß der kommende Messias mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen wird. Nicht nur die Apostel in ihrer festgesetzten Zwölfzahl, sondern die 120 mit ihnen, unter welchen sich auch Frauen befanden, und schließlich die 3000 und 5000 – sie wurden alle mit dem Heiligen Geist und mit Feuer getauft und konnten es dann nicht lassen, zu reden und zu zeugen von dem, was sie erlebt und gesehen hatten.
Die Mitteilung der Geistesfülle war aber nicht auf die einmalige Pfingstausgießung des Geistes beschräkt, sondern die Apostel und ihre Nachfolger durften sie immer dann, wenn ein bestimmter Auftrag eine vermehrte Geistesmitteilung und Ausrüstung nötig machte, neu empfangen (Apg. 4, 31).
Daß diese Geistesfülle nicht nur solchen Gottesmännern verheißen ist, die in einem besonderen Amt und Dienst des Herrn stehen, sondern daß die Geistesfülle Erbrecht und unentbehrliche Gnadenmitteilung aller Christen ist, geht aus dem Wort Eph. 5, 18 hervor. Paulus schreibt den Epheserbrief der ganzen Gemeinde, und zwar, wie man heute annimmt, nicht nur den Christen von Ephesus, sondern wohl auch als Zirkularbrief den anderen damals von ihm bedienten Gemeinden Kleinasiens. Er hat gewarnt vor dem unordentlichen Wesen der Unnüchternheit durch irdischen Rauschtrank und stellte dem nun gegenüber die Notwendigkeit, voll Geistes zu werden. Die folgenden Verse weisen darauf hin, wie diese Geistesfülle ihren Ausdruck findet im Lobe Gottes und in Ermahnungen und Ermunterungen zu einem geheiligten, gottgeweihten Leben.
Es kann jemand wahres Geistesleben haben, einen Geisteswandel führen und in Geistesgemeinschaft mit Gleichgesinnten stehen, ohne sich getrieben und ermächtigt zu fühlen, den Draußenstehenden und den „Kindlein in Christo“ von der Herrlichkeit und Seligkeit dessen zu zeugen, was der Herr durch seinen Tod und seine Auferstehung uns alles erworben hat. Man kann ein Gefäß mit Flüssigkeit füllen, dann ist die Flüssigkeit im Gefäß, teilt sich aber nicht der Umgebung mit. Stellt man einen Krug unter das fließende Wasser eines Brunnens, so wird nicht nur der Krug bis zum Rande gefüllt, sondern der Inhalt wird überlaufen und wird auch die Umgebung fruchtbar machen durch das immer weiter fließende. Lebenerweckende Wasser.
In der Schweiz haben wir oft an solchen Brunnen gestanden. Der steinerne oder hölzerne Trog war nicht nur bis zum Rande gefüllt, so daß er Menschen und Tieren das erquickende Wasser bot, sondern er floß über, hinein in die Wiesen und Bächlein zu immer erweiterter Mitteilung fruchtbringender Segnungen. Das sollte so recht das Bild eines Menschen sein, der die Fülle des Geistes empfangen hat, nicht nur genug für den eigenen Bedarf, sondern auch die Möglichkeit, all denen zu dienen und abzugeben, die Anspruch darauf machen, an seinen Segnungen teilzunehmen.
So manches begnadigte Gotteskind klagt über Mangel an Kraft und Zeugenmut. Es fühlt sich nicht imstande, die Aufgaben zu erfüllen, die in der Darbietung der Frohen Botschaft für den anvertrauten Verein, Jugendbund oder sogar für die häusliche Gemeinschaft der Familienmitglieder liegt. Eine Stunde, eine Andacht zu halten, wird zur Qual, unter dem Bewußtsein inneren Unvermögens. Mit größter Mühe arbeitet man sich unter vielem Nachdenken und Durchforsten von Kommentaren eine Bibelstunde oder Ansprache aus. Mit zitternder Angst wird sie gehalten und mit dem schmerzlichen Bewußtsein geschlossen, daß die sorgfältig vorbereitete Rede ohne Zeugenkraft war und deshalb wenig oder gar keinen Eindruck auf die Zuhörenden machte. Woran mag es da liegen? Das Wort Gottes wurde in rechter Weise angewendet, die Gedanken waren an und für sich gut und klar, aber die Geistesfülle fehlte, das lebendig Zeugnis des lebenwirkenden Geistes, der aus dem überfließenden Gefäß sich den anderen mitteilen muß.
Was ist wohl die Ursache, daß die Fülle des Geistes, die doch allen Gotteskindern verheißen ist, von der die Apostel Zeugnis ablegten und die sich zu aller Zeit hier und da, mal an einzelnen, mal an vielen offenbarte, doch so manchen aufrichtig verlangenden Christen vorenthalten bleibt? Es liegen da fast immer bestimmte Hindernisse vor, die hinweggeräumt werden müssen, wenn wir die Fülle des Geistes empfangen wollen.
Ein Grund kann sein, daß man die Geistesfülle aus selbstsüchtigen Gründen begehrt, zu eigener Ehre und eigener Verherrlichung. Wer so steht, dem kann und darf diese Gandengabe nicht zuteil werden; denn sie würde dem Träger zum Verderben gereichen und Unheil anrichten (Zauberer Simon, Apg. 8).
Ein anderer Grund kann sein, daß wir über die Geistesfülle verfügen möchten, statt daß wir den Heiligen Geist über uns verfügen lassen. Es kommt nicht darauf an, daß wir den Heiligen Geist haben, sondern daß der Heiligen Geist uns hat. Nach 1. Kor. 3, 16 und 1. Kor. 6, 19 soll unser Leib ein Tempel des Heiligen Geistes sein, bewohnt, in Besitz genommen von ihm, um einzig ihm zur Verfügung zu stehen.
Ein weiteres Hindernis kann sein, daß das eigene Ich sich noch in unserem Seelenleben behauptet, seine Ansprüche geltend macht und eine Rolle spielen will. Ist es so, dann findet der Heilige Geist keinen Raum für seine Fülle. Das alte, unter dem Fluche Gottes stehende Adamsleben, das Ich in seiner selbstischen Bedeutung muß dem Tode geweiht sein und seiner Rechtsansprüche verlustig gehen. „Hinweg mit diesem!“ – mit diesen Worten darf der neue Wille den langjährigen Insurgenten, das eigene Ich, hinauswerfen und ihm seinen Platz am Kreuz und im Grabe Christi anweisen. Dann erst wird die Fülle des Geistes Raum finden.
Ein weiterer Grund ist auch häufig das Dämpfen und Betrüben des Heiligen Geistes (1. Thess. 5, 19 und Eph. 4, 30). Wenn man die leise mahnende Stimme überhört, ignoriert, ihn, diesen höchsten Gast, mißachtet, ihm die schuldige Ehrfurcht und Rücksicht verweigert, so dämpft man den Geist, und aus dem beständigen Dämpfen wird schließlich das Betrüben. Nicht, daß der Heilige Geist den wiedergeborenen Menschen dann ganz verläßt, aber er zieht sich zurück in das Allerinnerste des Menschengeistes, wo er, gewissermaßen wie ein Gefangener außer Kraft gesetzt, seinen Einfluß auf das Leben und Wirken des betreffenden Gotteskindes kaum zur Geltung bringen kann. Die Fortnahme des Heiligen Geistes würde den geistlichen Tod bedeuten und das furchtbare Gericht, von dem Hebr. 6 redet. Dazu kommt es nur dann, wenn der Mensch mit klarer Willensentscheidung dem Heiligen Geist die Tür weist, die Gnade Gottes mit Füßen tritt und sich lossagt von dem, dem er sein Leben und seine Rettung verdankt. In den meisten Fällen bleibt der Heiligen Geist trotz anhaltenden Dämpfens und Betrübens doch im Herzen der Gläubigen wohnen, aber seine Nachwirkungen sind beschränkt und gelähmt, so lange, bis durch eine gründliche und tiefere Anerkenntnis seiner Herrscherrechte dem Heiligen Geist Raum gemacht und das Leben seinem Einfluß untergeordnet wird.
Gedämpft kann der Heiligen Geist werden durch lieblose Gesinnung, durch richtende, verurteilende Worte, durch nachteiliges Reden über andere, durch Nachtragen und Unversöhnlichkeit. Letztere führt dann schon zu ernstem Betrüben des Geistes und hindert jede Mitteilung göttlicher Gnade. Aber auch Oberflächlichkeit, gedankenloses, saft- und kraftloses Schwätzen, leichtfertige Scherze, Untreue und Unregelmäßigkeit im Gebetsleben, das alles kann je nach seinem Grad betrüben und dadurch ein ernstes Hindernis sein für die Fülle des Geistes. Ein aufrichtiges, nach dem Höchsten verlangendes Herz wird jedes derartige Hindernis hinwegräumen und dadurch der Geistesfülle den Weg öffne.

Ein Beispiel aus dem eigenen Erleben mag als Illustration dienen.
In einer einsamen Hütte im Klöntal wohnend, holte ich mir meinen täglichen Wasserbedarf aus dem Tag und Nacht sprudelnden Brunnen, dessen Reichtum über den hölzernen Trog hinaus auf die blühende Wiese floß. Nach einigen Tagen hörte das muntere Plätschern auf, der Wasserstrahl wurde schwächer und schwächer, und mein Krug mußte oft lange unter der Röhre stehen, bis er endlich gefüllt war. In meiner Sorge ging ich zum Wirt, der einige Minuten entfernt in einem Bauernhaus wohnte. „Das Wasser versiegt“ sagte ich, „ist etwa die Quelle leer?“ Der Bauer lachte: „Dort oben ist Wasser genug! Das muß an etwas anderem liegen!“ Schnell kam er mit faßte mit seiner kräftigen Hand unter die Grasdecke des Bodens und zog nach einem Weilchen einen dichtverwachsenen Büschel von Graswurzeln aus der Leitung heraus. Lachend zeigte er ihn mir und sagte: „Das ist die Ursache!“ – und schon plätscherte aufs neue das Brünnlein, gespeist aus dem unermeßlichen Reichtum der hochgelegenen Bergquelle.

Werdet voll Geistes! Geistesfülle ist ein Leben der Fruchtbarkeit. Seelen werden erweckt, Sünder kommen zur Erkenntnis ihres Elends und suchen das Heil, Friedelose finden Frieden, geistlich Tote wachen auf.
Erfüllen wir die Bedingungen, so wird auch Gott nicht zögern, seine Verheißung an uns wahrzumachen, und das Wort Jesu wird auch uns gelten: „Wieviel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!“


Die Kraft des Geistes

Geistesfülle beweist sich allenthalben in der Kraft des Geistes, die schon Apg. 1, 8 den Jüngern verheißen wurde.
Die Kraft aus der Höhe, die Macht des Geistes zeigt sich in den Wirkungen der Botschaft, wie wir es in ganz besonderer Weise in dem Leben des Paulus sehen. Er spricht in 1. Kor. 2, 4 davon, daß sein Wort und seine Predigt nicht bestand in vernünftigen reden menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft.
Geistesfülle und Geistesmacht sind wohl vereinbar mit dem Bewußtsein äußerster persönlicher Schwachheit und Kraftlosigkeit. Je schwächer das Werkzeug, je widerstandsloser und hingegebener, desto größer und gewaltiger kann die Gottesmacht sein, die sich seiner bedient (2. Kor. 12, 9.10). In irdenen Gefäßen tragen Kinder Gottes im Bewußtsein ihres Elends diesen Schatz und wissen, daß die überschwengliche Kraft sei Gottes und nicht ihrer selbst (2. Kor. 4, 7).
„Das Reich Gottes besteht nicht in Worten, sondern in Kraft“ (1. Kor. 4, 20). So kommt es auch nicht auf die Länge der Rede, auf die Menge der Worte an, ja selbst das heilige Schweigen eines in der Kraft des Geistes stehenden Kindes Gottes kann lauter reden und tieferen Eindruck machen als eine Fülle von Worten in eigener Kraft.

Eine junge Dame zur Zeit Ludwigs XIV. wollte Mme. Guyon, die gotterleuchtete Zeugin, besuchen um von ihr innerlich gesegnet zu werden. Sie fand in ihrer Wohnung eine Frau, die im Ruf großer Frömmigkeit und Geistlichkeit stand. Jene Dame redete fast die ganze Zeit ununterbrochen, während Mme. Guyon schwieg. Das junge Mädchen äußerte später, das Schweigen der Mme. Guyon hätte ihr mehr Eindruck gemacht als die vielen frommen Worte jener anderen Frau.
Die Kraft des Geistes ist nicht abhängig von natürlichen Kräften, Begabungen oder von dem, was man durch Erziehung und Studium gewinnen kann. Es war wohl Gottes weiser Ratschluß, daß unter den ersten geisterfüllten Zeugen fast lauter ungelehrte, einfache Männer aus dem Volke waren, darunter gewiß manche von mittelmäßiger Naturbegabung, aber völlig hingegebnen an die göttliche Kraftmitteilung – und deshalb geeignete Organe zum Empfang und zur Entfaltung der Wirkungen des Geistes.
Manche entschuldigen sich: „Ich habe keine Gaben zum Reden und Zeugen – es ist mir nicht gegeben – ich bin zu schüchtern – ich habe eine schwere Zunge, keine Redegewandtheit.“ Wo mit der Fülle des Geistes auch die Kraft von oben, die Macht des Geistes sich in einem Menschen mitteilt, da kann das stammelnde Wort, das einfachste Zeugnis, die kürzeste Rede wie ein Feuerbrand andere Herzen entflammen, Sünder zu Boden werfen und geängstigte Seelen zur Annahme des Heils verhelfen.
Die Mitteilung der Kraft aus der Höhe ist nicht wie bei den Aposteln an eine zehntägige Wartezeit gebunden. Jahre der Vorbereitung können vorangehen oder auch Wochen, Tage, Stunden anhaltenden Gebets. In anderen Fällen kommt, wie bei Finney, die Kraftmitteilung unerwartet, unmittelbar in einem Augenblick, wenn die inneren Bedingungen erfüllt sind.
Die Kraft des Geistes wird auch nicht ein für allemal mitgeteilt, sondern sie kann, wie wir es im Leben der Apostel sehen, je nach Bedürfnis unter besonderen Voraussetzungen und Anlässen immer wieder gegeben werden.
Es gibt Wasserbehälter mit einer Art Schwimmverschluß. Läßt man unten durch den Kran das Wasser ab, so öffnet sich oben der Verschluß, und eine neue Fülle strömt in den Behälter zu. So ist es auch im Dienstleben des geisterfüllten Gotteskindes. Steht es im Bewußtsein eigenen Mangels arm und elend vor heilsbedürftigen, dürstenden Menschen, so wird als Antwort auf das Gebet des Glaubens ihm im selben Augenblick die Ausrüstung gegeben, die Kraftfülle Gottes anvertraut werden, und das Wort wird nicht leer zurückkommen, sondern ausrichten, wozu Gott es sendet.

Die Gaben des Geistes
Vor Jahren stand ich am Trümmelbachfall bei Lauterbrunnen und sah dem seltensten Schauspiel zu. Rings von Felsen eingeschlossen, schoß wie aus einer Kanone heraus unter ohrenbetäubendem Brausen ein gewaltiger Wasserstrom durch die engen Spalten. Es war komprimierte Wasserkraft, die man sich stärker kaum vorstellen kann. Nachdem dieser Kraftstrom die Talsohle erreicht hatte, wurde er, so nehme ich an, in verschiedene Röhren und Kanäle verzweigt, um allerhand Dienste zu verrichten. Hier galt es eine Mühle zu treiben, dort eine elektrische Kraftanlage zu speisen, Felder und Wieder mußten bewässert, das Vieh getränkt und die Haushaltungen der Menschen versorgt werden. Die einheitliche Kraft dort drinnen im Felsen, hier unten im Tal die vielfache Verzweigung und mannigfaltige Verteilung der Gaben nach dem Bedürfnis der Bevölkerung.
Ist es nicht so auch mit den Gaben des Geistes? Der Apostel zeigt uns diese Gaben in ihrer einfachsten, alltäglichsten, schlichtesten Auswirkung im 12. Kapitel des Römerbriefes: „Wir haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist.“
Da wird zunächst die Weissagung genannt, die geisterfüllte Rede, die dem Glauben gemäß sein soll; dann das Amt, was immer es auch sei, die Lehre, die Ermahnung, die Mitteilung von Almosen, die Aufgabe der Leitung und der Dienst der Barmherzigkeit. Für alle diese Aufgaben wird die entsprechende Gabe dargereicht. Dazu kommen noch die charismatischen Gaben (1. Kor. 12 und 14) die derselbe Geist in verschiedenartiger Weise, zu verschiedenen Zeiten verleiht und gibt, wem er will. Nicht allen dasselbe, nicht allen das gleiche, sondern wie er in seiner souveränen Befugnis sie auszuteilen für gut hält. Da hat niemand ein Recht, von anderen zu verlangen, daß er gerade diese oder jene Gabe haben müsse, wie auch keiner ein Recht hat, echte Gaben des Geistes da anzuzweifeln oder zu verwerfen, wo ihre Empfänger und Träger durch die Früchte des Geistes in einem geheiligten Leben legitimiert werden.
Die Gaben sollten nicht überschätzt und nicht unterschätzt werden. In ihnen ist der Geber zu sehen und zu ehren, der alle Gaben gibt zur Auferbauung des Leibes, daß die Heiligen zugerichtet werden zum, Werk des Dienstes, „bis daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei nach dem Maße des vollkommenen Alters Christi“.
Der Mißbrauch der Gaben zur eigenen Verherrlichung rächt sich schwer. Sie werden nur gegeben zu gemeinsamem Nutzen und zur Verherrlichung des Herrn. Geistesgaben müssen von der Geistesgesinnung begleitet sein, die sich besonders in Aufrichtigkeit, Demut und Liebe zeigen wird. Wo diese grundlegenden drei Tugenden vorhanden sind, dürfte man auch den gaben in ihrer Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit mit Vertrauen begegnen und sich auch dann freuen, wenn der Herr anderen Gaben mitteilt, die er uns versagt hat, weil ja im Geben und Versagen seine Weisheit und seine Liebe sich zeigen.

Die Salbung des Geistes
Aus derselben Quelle fließend, ganz anders aber in Charakter und Wirkungen wie die Geistesfülle mit ihren außerordentlich in Erscheinung tretenden Wirkungen der Geistesmacht und Geistesgaben, ist die Geistessalbung. Sie ist wie ein stiller, verborgener Zufluß ununterbrochener Art, äußerlich kaum wahrnehmbar und doch von unermeßlichem Wert und unentbehrlich für ein geheiligtes Geistesleben im Dienst des Herrn.
Wir lesen 1. Joh. 2, 20 und 27 von der Geistessalbung. „Ihr habt die Salbung von dem Heiligen Geist und wisset alles.“ „Die Salbung, die ihr empfangen habt, bleibt in euch, und ihr bedürft nicht, daß euch jemand lehre, sondern so wie euch seine Salbung über alles belehrt, so ist es wahr und keine Lüge, und wie er euch gelehrt hat, so bleibt darin!“

Geistessalbung und Geistesleitung sind eng miteinander verbunden. Die Geistessalbung ist das stille, innere Licht, die führende, leitende Hand, die das gehorsame Kind vor Irr- und Umwegen bewahrt und in den Linien der Wahrheit erhält.
Wird die Geistesfülle zu gewissen Zeiten mit fortreißender Gewalt, uns selbst und anderen spürbar, mitgeteilt, so wird die Geistessalbung oft dann erst recht empfunden, wenn sie durch eine Untreue im Wandel unterbrochen und ihr Fehlen schmerzlich offenbar wird. Ich möchte diese Geistesmitteilung vergleichen mit dem Öl der Maschine. In jedem größeren Betriebe sind an den Zentralstellen der Maschine größere Ölbehälter angebracht, die ununterbrochen jede Sekunde ein Tröpflein hineinsinken lassen in die Gewinde, von denen aus sie allen einzelnen Teilen und Gliedern der Maschine durch die beständige Bewegung zugeführt werden. Hört der Ölvorrat auf, so wird der verantwortliche Maschinist es bald merken an dem entsprechenden Geräusch. Die einzelnen Teile fangen an, sich zu reiben, ein Kreischen und Knarren bekundet den Mangel, die Räder und Walzen laufen sich heiß, und wird nicht rechtzeitig Abhilfe geschaffen, so entstehen verhängnisvolle Brüche und Schädigungen des ganzen Werkes. Ähnlich ist es mit der Salbung des Geistes. Augenblick für Augenblick wird der Gesalbte ein Tröpflein dieses heiligen Öles empfangen, das, Licht und Weisung gebend, jeder Unruhe wehrt und Wandel und Wesen in Harmonie hält. Wird aber durch das Eintreten einer inneren Trennung von dem ewigen Lebensquell die Salbung unterbrochen, so entsteht sogleich eine innere Verfinsterung, eine Unsicherheit, ein Tasten und Suchen, eine quälende Unruhe, und wenn nicht bald der Schaden geheilt wird und der Kontakt wiedergewannen wird, kommt es dann auch leicht zwischen den einzelnen Gliedern des Leibes Christi zu Reibungen. Man wird erhitzt, gereizt, geärgert; ärgert, reizt und erhitzt andere, und schließlich kommt es zu schmerzlichen Katastrophen, die eine schwere Schädigung des Leibes Christi bedeuten.
Je mehr sich ein Herz dem Herzen Jesu öffnet, je mehr es sich dem stillen, heiligenden Einfluß des Geistes beständig erschließt, desto ununterbrochener und desto reicher wird diese Salbung sein. Der Heiland sagt: „Der Tröster bleibt bei euch und wird in euch sein.“ Er kommt nicht nur wie ein gewaltiger Sturmwind mit Brausen und Feuer, er will auch in dem stillen, sanften Sausen als Tröpflein Öl sich uns mitteilen in der Salbung und uns beständig unter seinen heiligenden Einfluß bringen.
Die Salbung ist so überaus nötig. Sie lehrt uns, sie unterweist uns, sie leitet uns. Manche Gotteskinder befinden sich beständig in Verwirrung, in einer Kollision der Pflichten; ihnen fehlt die Salbung. Wer unter der Salbung steht, der wird ganz leise vom Geist geleitet. Das geschieht nicht in besonderen Offenbarungen und Gesichten, Stimmen und Worten. Die Salbung lehrt uns, solange wir gehorsam sind. „Der Heilige Geist wird gegeben denen, die ihm gehorchen.“ Fürchten wir uns vor nichts so sehr wie vor dem Ungehorsam gegen den Heiligen Geist! Der Ungehorsam ist es, der uns am meisten hindert und uns in die größte Gefahr des Stillstandes und des Rückgangs bringt. Bleiben wir unter der Salbung, so kann uns der Geist Gottes durch seine zarte, liebevolle, stille Leitung beständig das Licht geben, das wir für den Augenblick brauchen, und die Gnade schenken, die wir gerade nötig haben. So gehen wir ganz selig und ruhig durchs Leben und können unter dieser Salbung ihm auch vertrauen, daß er uns nicht zuschanden werden lassen wird, sondern daß er sich verherrlichen wird durch sein schwaches, ihm geheiligtes Kind. Durch die Salbung wird er uns all das geben, was wir für unser täglichen Dienst, für unser inneres Leben und unseren Verkehr mit den Menschen brauchen.

Aber auch für unser Gebetsleben ist die Salbung unerläßlich nötig. Paulus sagt im Römerbrief; „Wisset ihr nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, aber der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“ Geistessalbung lehrt beten. Sie führt uns hinein in das wunderbare Heiligtum eines immerwährenden Gebetslebens, das nicht beschränkt ist auf das ordnungsmäßige Morgen-, Mittags- und Abendgebet, nicht gebunden an eine bestimmte stille Stunde. Gleich einem stillen, fast unmerklichen Strom soll das Gebet ohne Unterlaß den ganzen Tag durchfluten, in jede Arbeit uns hinein- und hindurchbegleiten, in jeder Unterhaltung uns bewahren und leiten. Durch das stille, ununterbrochene Geistesgebet werden wir die Kraft empfangen, auch unsere kleinen täglichen Pflichten treu zu erfüllen und alles, auch die äußeren Arbeiten und Aufgaben des Lebens, zur Ehre des Herrn zu verrichten. Die Geistessalbung treibt ins Gebet. Das Gebet aber wird uns immer wieder neue Geistessalbung zuführen, weil es den beständigen Kontakt mit dem Gott der Liebe unterhält, so daß der Geist der Gnade und des Gebets uns Augenblick für Augenblick mitgeteilt werden kann.


Die Freiheit des Geistes

Der Geist der Knechtschaft und der Furcht wird überwunden, wenn wir uns dem Heiligen Geist hingeben, der uns in „die Freiheit der Kinder Gottes“ führen will (Röm. 8, 21).
Nach dem, was wir vorher gesagt haben von der Beeinflussung und Leitung des Geistes, könnte man meinen, daß jede persönliche Freiheit drangegeben werden müßte und man in eine gesetzliche, ängstliche Zwangsstellung hineingebracht würde, wenn man sich dieser Macht unterwirft. Dem ist aber nicht so, im Gegenteil: der Heilige Geist erzieht und bereitet uns zur wahren Freiheit. Er macht uns zu freien Persönlichkeiten, indem er uns von den Hemmungen, Ketten und Banden des Fleisches und der Finsternis löst und uns unter die Siegesherrschaft des Christus stellt, der es ausdrücklich gesagt hat. „So euch der Sohn frei macht, seid ihr in Wahrheit frei“ (Joh. 8, 36).

Der Weg zu dieser Freiheit geht, wie zu jeder anderen Gnadenerfahrung, über Golgatha. Dort zeigt und der Heilige Geist, indem er uns Christum offenbart und verklärt, das Lamm Gottes, das uns befreit von dem Fluch der Schuld und der Macht der Sünde und damit auch von dem bösen Gewissen und von der knechtischen Furcht. Indem uns der Heilige Geist die Tiefen der Erlösung offenbart, führt er uns in das Bewußtsein unserer Befreiung von der Obrigkeit der Finsternis, löst uns von der Liebe zur Welt, befreit uns von der ängstlichen Sorge um irdische Dinge und schließlich auch von der Liebe zu uns selbst. An Stelle der Selbstvergötterung und Ichliebe treten Selbstverleugnung und Haß des eigenen Lebens. Christus wird durch die Wirkungen des Geistes unser neues Ich, und dadurch werden wir frei zum Dienst. Erlöst von allen Hemmungen und Banden, die uns bisher untauglich machten, sind wir nun „befreit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ und dürfen in solcher mit allen uns verliehenen Kräften, Gaben und Gnaden ihm dienen, der uns erlöst hat durch sein Blut. So wird alle scheinbare Beschränkung und Hemmung des natürlichen Fleischeslebens nur ein Weg in die wahre Freiheit, wie der Dichter sagt:

Freiheit ist der Zweck des Zwanges,
wie ich meine Rebe binde,
daß sie, statt im Staub zu kriechen,
frei sich in die Lüfte winde.
(Aus „Dreizehnlinden“ von Weber)
Das ganze 8. Kapitel des Römerbriefes ist eigentlich ein Triumphgesang der Freiheit, die uns in Christo erworben und durch den Heiligen Geist zugeeignet wird. Wir brauchen nicht mehr Knechte der Sünde zu sein, sondern dürfen uns der Freiheit in Christo freuen. Unter dem Gesetz der Sünde sind wir arme, geknechtete, gebundene, beengte, gedrückte und gefesselte Menschen. Unter der Gnade, im Machtbereich des Heiligen Geistes, in seiner befreienden Kraft fallen die Fesseln. Wir haben die Möglichkeit, ein geheiligtes Leben zu führen und dürfen uns dieser Befreiung von dem Zwang der Sündenherrschaft freuen und getrösten. Zinzendorf sagt: „Es ist unser Privilegium, daß wir nicht sündigen müssen.“ Nicht, daß wir nicht sündigen könnten! – Aber wir brauchen nicht, wir müssen nicht! Wir können überwinden in ihm, dem großen Überwinder, der uns heiligen will, wenn wir in der uns geschenkten Freiheit wandeln und sie nicht wieder verlieren und verkaufen um irgend etwas, was uns der Feind anbietet.
Ein wunderbares Licht über die Freiheit des Geistes gibt uns 2. Kor. 3, 17 nach einer etwas anderen Übersetzung: „Denn Herr ist der Geist; wo aber der Geist Herr ist, da ist Freiheit.“

Der Geist will herrschen, der Geist will in uns der Herr sein, und wo der Geist Herr ist, da ist Freiheit. Solange wir den Geist zurückdrängen, ihn dämpfen, ihn betrüben, ihn einengen und ihm nicht Raum lassen, sind wir unter einem Zwang und stehen unter tausend anderen Einflüssen. Wir seufzen, weinen und quälen uns. „Ich möchte wohl, aber ich kann nicht!“ Wir haben anderen Mächten die Herrschaft über uns eingeräumt.
Wenn aber der Heilige Geist Macht über uns bekommt, dann sind wir frei. Gerade weil der Heilige Geist uns unter seine königliche, heilige und göttliche Zucht nimmt, führt er uns in die Freiheit.
Überläßt man ein Kind seinen Stimmungen und Launen, seinem Eigenwillen und seinen Begierden, so ist es unglücklich und unzufrieden. Steht das Kind aber unter der Zucht eines höheren, weisen Willens, so fühlt es sich frei und froh und ist im Gehorchen glücklich. Dasselbe gilt auch von den Kindern Gottes. Beugen wir uns unter die Zucht des Heiligen Geistes in kindlichem Gehorsam und lassen uns von ihm leiten, dann sind wir königlich und frei.


Die Verklärung des Geistes

Es ist die Aufgabe und das Ziel des Heiligen Geistes, uns durch einen allmählichen Prozeß der Erneuerung und Verwandlung zur Verklärung in Jesus Bild zu führen. Empfangen können wir die Erstlingsgabe des Heiligen Geistes in einem Augenblick. Die Fülle des Geistes kann uns in einem gewaltigen Offenbarwerden der Macht und Kraft plötzlich mitgeteilt werden; aber die Verklärungsarbeit ist eine ganz allmählich fortschreitende.
Es ist ein Irrtum zu meinen, daß dieses Ziel, die Verklärung, im Handumdrehen zu erreichen wäre. Der Apostel sagt 2. Kor. 4, 1: „Darum, dieweil wir einen solchen Dienst haben, nachdem uns Barmherzigkeit widerfahren ist, werden wir nicht entmutigt (müde).“ Es ist der Dienst des Gehorsams, den wir nach dem Zusammenhang der Majestät des Geistes zu leisten schuldig sind. Überlassen wir uns gehorsam und dienstfertig dieser Geistesherrschaft, so wird von Stufe zu Stufe, von Grad zu Grad die Verklärungsarbeit des Geistes in uns vollbracht, und wir können ohne Entmutigung seinem Wirken stillhalten und uns ihm völlig überlassen, auch wenn es nicht so schnell geht, wie wir in unserer Ungeduld oft möchten. Es kommt nur darauf an, daß wir ihn nicht hindern. Er wird das große Werk allein vollbringen, wenn wir es ohne Widerstreben an uns geschehen lassen.
Vor Jahren erzählte uns unsere Schwester Margarete aus ihrer Tätigkeit in der Diamantenschleiferei vor ihrem Eintritt in den Dienst des Herrn. Der Diamant wird von Meisterhand in Blei gefaßt und dann auf einer zubereiteten Stahlplatte geschliffen. Bleibt er in seiner Fassung und läßt er still das Schleifen an sich geschehen, so kommt der Meister eher zu seinem Ziel, und der Edelstein wird fähig, einen Platz in einem wertvollen Schmuckstück einzunehmen. Es kommt aber nicht selten vor, daß ein solcher Diamant sich gegen das Schleifen sträubt. Er schreit und kreischt laut auf, springt wohl gar aus der Bleifassung heraus und muß dann erst mühsam im Staub und Kehricht gesucht werden, um aufs neue die Schleifarbeit an sich zu erdulden.

Erschweren nicht auch wir oft die Verklärungsarbeit des Heiligen Geistes durch nutzloses Sträuben, Seufzen und Weinen, ja vielleicht auch dadurch, daß wir „aus der Fassung kommen“ um unsere vermeintliche Freiheit und Selbstherrschaft wiederzugewinnen? Das ist dann ein großes Elend, und viele unnütze Kämpfe und Zeitverlust sind die Folge solch unverständigen Sträubens. Das einzige, was von uns verlangt wird, ist, daß wir dem Werk der Verklärung des Geistes stillhalten. Mit eigener Gewalt läßt es sich nicht erzwingen.
„Göttliche und inn’re Dinge
lassen’s vollends gar nicht zu,
daß man sie im Sturm erzwinge,
sondern weisen uns zur Ruh’.“

Es gibt Zeiten und Gelegenheiten im inneren Leben, da gilt es, das Himmelreich mit Gewalt zu nehmen. Wenn wir hindurchdringen durch die enge Pforte der Buße ins neue Leben, so geht das nicht anders als mit einem Ruck. Hier aber heißt es einfach dem Wirken des Geistes Gottes Raum geben und ohne Widerstreben seine Heiligungs- und Verklärungsarbeit an uns geschehen lassen. Es ist die feine Ziselierarbeit der tieferen, inneren Durchheiligung des Geistes. Diese Verklärung geht von Klarheit zu Klarheit, und er allein weiß, wieviel Zeit er dazu braucht, bis er sein Ziel erreicht hat.
Die Verklärung des Geistes geht nun von innen nach außen, vom Zentrum zur Peripherie. In dem bekannten Spruch 1. Thess. 5, 23 wird uns diese Linie klar gezeigt: „Er aber, der Gott des Friedens heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz, samt Seele und Leib, müsse bewahrt werden unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi. Getreu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.“
Von innen, von dem Allerheiligsten des Geistes ausgehend, durch das vielverzweigte Gebiet der Seele, muß auch der Vorhof, der Leib, von der Verklärungsarbeit des Geistes durchdrungen und durchheiligt werden. Dieser Leib von Fleisch und Blut mit seinem Knochengerüst und seinem Nervensystem und all den wunderbaren, geheimnisvollen Organen und Gliedern soll ja ein Tempel des Heiligen Geistes sein. Innerhalb dieser äußeren Umhüllung baut sich der Herr schon jetzt seinen Verklärungsleib, und dies äußere Baugerüst muß so lange halten, bis das innere Bauwerk vollendet ist.

Der Heilige Geist, der uns gegeben ist, ist das Unterpfand (2. Kor. 1, 22), daß Gott mit seiner Verklärungsarbeit fertig werden wird, wenn wir ihn nicht hindern und ihm nicht im Wege stehen durch unsere Ungeduld und mangelnde Ehrfurcht. Durch widerstrebendes, ungeziemendes Wesen kann man es ihm, dem großen Werkmeister, schließlich unmöglich machen, so daß er uns beiseite liegen lassen muß.
Es zielt alles darauf hin, daß wir zur Überkleidung, zur Verwandlung kommen möchten; gleichviel, ob er uns rufen wird mit dem Ton der Posaune oder durch den Mund eines Engels, ob uns das Häuflein Erde bedeckt oder ob es graden Weges hinaufgeht in der Entrückung bei seinem Kommen (1.Thess. 4, 17), wir dürfen, wir sollen Wartende sein. Die Erwartung einer klugen Jungfrau dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Das Öl des Geistes muß unser Gefäß füllen, damit uns die Lampe im Sturm nicht auslöscht. Wir wollen uns auch der Verklärungsarbeit des Heiligen Geistes anvertrauen bis in unser Leibesleben hinein, damit die „Verwandlung“ (2. Kor.5, 4; 1. Kor. 15, 50-57) einmal möglich ist. Sie wird nicht bei allen möglich sein. Wer noch fleischlich gesinnt ist und das eigene Leben nicht drangeben will, es festhält und pflegt, der wird schwerlich am Tage des Herrn zur Verwandlung gelangen. Er kann wohl errettet werden und in die Seligkeit eingehen (1.Kor. 3, 11-15), aber zur Herrlichkeit berufen zu sein ist noch etwas anderes. Die Herrlichkeit ist an Bedingungen geknüpft, und diese Bedingungen heißen: mit Christus gekreuzigt, mit Christus auferstanden, trachten nach dem, was droben ist, da Christus ist. Es geht von Lösung zu Lösung. Geist, Seele und Leib ganz, nicht stückweise! Manche möchten wohl einen groben Fehler ablegen, der sie immer wieder in Schwierigkeiten bringt und ihnen Schande macht (Heftigkeit, Sichgehenlassen, Untreue und dergleichen), aber das ist nicht ausschlaggebend. Es kommt einzig darauf an, daß wir etwas werden zum Lobe seiner Herrlichkeit, daß seine Gnade einen Triumph aus uns machen kann und wir ihn nicht enttäuschen. Wir wollen ihm stillhalten, daß es dies große Werk an uns tun kann bis zur Vollendung.

Der Herr gibt uns in Lukas 11, 36 ein wunderbares Licht über das, was er als höchstes Ziel der Verklärung für die Seinen sich vorgesetzt hat: „Wenn nun dein Leib ganz licht ist, daß er kein Stück von Finsternis hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn ein Licht mit hellem Blitz dich erleuchtet.“

Das ist ein Gegenstand zu heiliger Prüfung. Stellen wir uns vor sein göttliches Angesicht, fragen wir uns ehrlich: Ist da noch irgendwo ein Rest von Finsternis, durch die das Licht noch nicht hindurchdringen konnte? Zeigt er uns dann etwas, so wollen wir es ihm ausliefern, damit wir ganz und völlig licht werden.
Kommt einst der Herr in den Bereich unserer Luftatmosphäre, so eilen nur die ihm entgegen, die gelöst sind und die durch Verklärung das Schwergewicht der Erdgebundenheit verloren haben. Die anderen müssen nach dem Worte Gottes noch durch schwere, harte Proben hindurchgehen, die sie sich ersparen könnten, wenn sie sich jetzt schon dem Verklärungswerk des Heiligen Geistes völlig überlassen würden.


Die Frucht des Geistes

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!“ hat der Herr einst zu seinen Jüngern gesagt. Die Frucht entscheidet. Geistesfülle, Geistesmacht und Geistesgaben wären nicht nur wertlos, sondern sogar verhängnisvoll, wenn die Frucht des Geistes fehlte, die erst die Echtheit und Göttlichkeit der Geisteswirkungen beweist.
Diese Frucht aber des Geistes ist in ihrer Zusammenfassung mit einem Wort zu nennen – es ist die Liebe. Die Liebe ist göttlichen Ursprungs, das Wesen der Gottheit selbst. Gott ist Liebe, und Mitteilungen, durch seine Salbung, Befreiung und Verklärung die Gottähnlichkeit im Menschen wiederherstellt, da kann es ja auch gar nicht anders sein, als daß Frucht und Folge dieser Geistesarbeit die Liebe ist. „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“
Paulus spricht in 1. Kor. 13 davon, wie selbst die höchste Offenbarungen, die größte Erkenntnis, ja sogar der Heroismus, der sich in den Flammentod gibt, und die Mildtätigkeit, die die letzten Güter opfert, keinen Wert hat ohne die Liebe. Sie ist die Frucht, die nicht fehlen darf und die uns im Brief an die Galater (5, 22) in Gestalt einer Traube vor Augen geführt wird, deren einzelne Beeren die Ausstrahlungen und Ausgestaltungen der Liebe darstellen.
Hat der Heilige Geist die Liebe Gottes ausgegossen in unser Herz (Röm. 5, 5), so wird sich auch die Frucht des Geistes in ihrer vielgestaltigen Weise finden, und das neue Gebot Christi, das einzige, was er uns hinterlassen hat, als Erfüllung des ganzen Gesetzes, die Liebe, wird wesenhaft in Erscheinung treten.
Was ist eigentlich das Wesen der Frucht? Es ist die Verkörperung des Lebenssaftes, der im Baum oder in der Traube durch Stamm, Äste und Zweige bis in die letzten Triebe hineinsteigt. Dort bildet er, weil er sich nicht in den weiten Luftraum ergießen darf, die Frucht in dem kleinen, verborgenen Fruchtknötchen, das die Blüte in den Frühlingstagen so zart verbarg und umhüllte. So bringt bauch der Heilige Geist als der wahre Lebenssaft naturnotwendig die Frucht in dem Leben der Gotteskinder hervor.
Wenn wir nun unter der Gestalt einer Traube die einzelnen Teile der Geistesfrucht vergleichen, so finden wir zunächst die Freude. Freude ist die jubelnde Liebe. Wo Liebe ist, erweckt sie Freude. Das ist schon im Irdischen so. Ist die Gottesliebe ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist, so kann und darf die Freude nicht fehlen. Es wird dann aus der Gottesliebe die Gottesfreude geboren. Die ersten Christen trugen in besonderer Weise den Stempel heiliger Gottesfreude an sich. Wenn sie einander begegneten, riefen sie sich als Gruß zu. „Freuet euch!“ oder auch „Freude!“

So wird auch in unserem Leben die erste Frucht Freude sein, wenn wir in der Liebe des Heiligen Geistes stehen. Die Welt hat so oft Anstoß genommen an den sogenannten Christen, hat gespottet und gelästert über die Kopfhänger, weil so wenig Freude zu sehen war. Wenn ein Christ mühselig und trübe und in sich selbst vergrübelt einhergeht, dann ist er eine schlechte Empfehlung für das Christentum vor der Welt. Sie verlangt ja nach Freude und versucht auf alle mögliche Weise sich solche zu verschaffen. Ist die Freude der Welt auch eine künstliche, schnell vorübergehende, so bildet sie sich doch im Moment wenigstens ein, Freude zu genießen. Die Weltfreude gleicht dem Feuerwerk, das in schillernden Farben und flackernden Lichtergüssen die Dunkelheit der nacht für Augenblicke erleuchtet, wenn auch die Finsternis nachher um so dunkler erscheint.

In unserer Natur liegt das tief eingewurzelte Bewußtsein, daß Gott den Menschen zur Freude erschaffen hat. Halbherzige Christen, die nie mit ihrem alten Adamsleben und der Sünde völlig gebrochen haben, kennen keine wahre Freude. Sie gehen friedlos und freudlos durch das leben und sind jämmerliche, bedauernswerte Kreaturen.

Teerstegen sagt:
„Wer sich nicht ganz will Gott ergeben,

der führt ein wahres Jammerleben.

Brich durch! Es koste, was es will,

sonst wird das arme Herz nicht still!“

Wehe uns, wenn wir mit halbem Herzen, mit halbem Leben, mit halber Hingabe zu Gott kommen und ihm so dienen wollen! Dann haben wir nichts von Gott und haben auch nichts von der Welt. Wenn aber die Liebe Gottes das Herz erfüllt und wir den wiederlieben dürfen, der uns zuerst geliebt hat, dann wird auch diese Liebe aufquellen wie ein seliger Brunnen der Freude und zu einer jubelnden Liebe werden.
Diese zweite Beere der Traube, die die Frucht des Geistes darstellt, ist der Friede. Kann auch die Welt unsere geistliche Freude nicht verstehen, so beneidet sie uns doch um den Frieden. Der Friede ist die ruhende Liebe. Jeder wahre Christ sollte den Frieden Gottes im Herzen tragen und in der Kraft dieses Friedens den Kindern der Welt begegnen.
Wir können von einem dreifachen Frieden reden. Der erste Fundamentalfriede ist der Rechtfertigungsfriede, der uns von Christus am Kreuz erworben ist. Auf Golgatha wurde er ohne unser Zutun für uns geschlossen. „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2. Kor. 5, 19).

Dieser Friede ist ein uns zugerechneter, sozusagen juristischer Friede, der uns, wenn wir ihn einmal im Glauben angenommen haben, nicht wieder genommen werden darf, selbst dann nicht, wenn wir uns durch Unachtsamkeit oder Überlistung des Feindes in irgendeine Sünde verstrickt haben. Der Friede der Rechtfertigung muß uns als heiliges Erbgut bleiben, wenn wir einmal mit Gott versöhnt sind. Es ist ganz verkehrt, wenn Kinder Gottes meinen, daß sie jedesmal, wenn sie in eine Sünde geraten sind, ihre Rechtfertigung und ihre Kindesstellung in Christo dadurch verlieren. Auch ein unartiges Kind bleibt Kind seines Vaters. Die auf Golgatha vollbrachte Versöhnungstat behält ihre Kraft, auch wenn wir gesündigt haben. Auf dem Fundament dieses Rechtfertigungsfriedens erwächst der andere, der Friede der Heiligung: „Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft“ (1. Thess. 5, 23 und Phil. 4, 7). Jesus sagt in seiner Abschiedsstunde: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ Er hinterließ seinen Rechtfertigungsfrieden. Er gibt durch den Heiligen Geist den Frieden der Heiligung, der in der wiederhergestellten Harmonie mit dem Willen Gottes liegt. Dieser Friede ist als eine Frucht des Geistes abhängig von unserem Wandel und dem Gehorsam in einem geheiligten Leben. Gott spricht durch den Propheten Jesaja 48, 18: „O daß du auf meine Gebote merktest, so würde dein Friede sein wie ein Wasserstrom und deine Gerechtigkeit wie Meereswellen.“

Der zarte Friede des Heiligen Geistes kann sehr leicht betrübt werden. Geben wir uns einer unfreundlichen Stimmung hin, verharren wir in einer Untreue, einem Ungehorsam oder dem Gefühl des Neides, der Eifersucht, der Lieblosigkeit, so ist der Friede gestört. Nach Gottes Willen soll der Friede unsere herzen und Sinne bewahren in Christo Jesu. Er gleicht einer Festung, die uns schützt, so daß die feurigen Pfeile des Bösewichts nicht in unser Inneres eindringen dürfen.
Umschließ mich ganz mit deinem Frieden,
o du mein Heiland Jesu Christ;
halt mich von allem abgeschieden,
was dich nicht meint, was du nicht bist!
Ich wünsche mir kein andres Leben,
als das dein Sterben mir gegeben
und du am Kreuz erworben hast.
Drum beug all meinen Eigenwillen,
daß er sich göttlich möge stillen
bei deines Kreuzes leichter Last!

Mein König laß mich nichts vertreiben
aus dieser Burg, die Friede heißt!

O laß mir’s ewig teuer bleiben,

daß du stets bei den Deinen seist!

Kein Heil ist hiermit zu erreichen,

weil’s über alles Denken ist.

Nur durch des Geistes sanftes Wehen

kann ich etwas davon verstehen,

der du mein ew’ger Friede bist.

(Clemens)

Der Friede Gottes, der als Frucht des Heiligen Geistes unser ganzes Wesen unter seine Friedensmacht bringt, wird sich dann auch auswirken in dem Frieden untereinander.
Als Friedenskinder werden wir durch die friedelose Welt gehen. Im Zusammenleben mit den verschiedensten Menschen werden wir still, ruhig und friedevoll bleiben können. „Glückselig die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Matth. 5, 9). Überall bereit, Frieden zu stiften, Frieden zu vermitteln, den Frieden zu bewahren, auch auf Kosten eigener Rechte, gehen solche Friedenskinder durch das Leben hin, und will der Friede einmal fliehen, gleich einer scheuen Taube, so jagen sie ihm nach. Soviel an ihnen ist, halten sie Frieden mit allen Menschen. Der Friede ist wohl eines Opfers wert, und soweit nicht das Gewissen in Betracht kommt, dürfen wir manchen Preis für den Frieden bezahlen: unsere Anschauungen, unsere Ansichten, unsere Bequemlichkeit, unsere Ehre, unsere Wünsche, unsere zeit, unseren Eigenwillen, unser Recht. Es gilt die Hand zuerst auszustrecken auch da, wo andere uns gekränkt und beleidigt haben (Matth. 5, 39-44). Das ist die Friedensgesinnung Jesu.
Auch die Geduld gehört zu der Frucht des Geistes. Sie ist die tragende Liebe. Geduld tut uns not! Geduld im Zusammenleben untereinander, um das Tragen, Vertragen und Ertragen recht zu üben; Geduld, um unter der aufgelegten Last zu bleiben ohne sie abzuschütteln und klagend zu murren; Geduld auch in Krankheitsleiden, in schweren Führungen, in innerlichen und äußerlichen Trübsalen und schließlich auch Geduld mit uns selbst, wenn es nicht so schnell vorwärts geht, wie wir wünschen. Ungeduld bringt uns nicht zum Ziel. Die Geduld als Frucht des Geistes kann warten, bis Gott selbst sein Werk getan hat an uns und anderen.
Die Freundlichkeit ist die leuchtende Liebe – eine ganz besonders liebliche Frucht des Heiligen Geistes. Sie ist keine heroische Tugend, die sich nur in seltenen großen Augenblicken und Gelegenheiten erweist, sondern eine Geistesfrucht, die gerade den Alltag verklärt und jedes Verhältnis den Menschen gegenüber durchleuchtet und heiligt. Es ist kaum etwas so schwer zu ertragen wie ein unfreundlicher Mensch mit einem unfreundlichen Wesen. Manche entschuldigen sich damit, daß sie es ja nicht so schlimm meinen – sie empfänden wohl auch Liebe, könnten es aber nicht nach außen zeigen. Das ist eine schlimme Ausrede. Keiner glaubt es uns, daß wir im Herzen eine liebevolle Gesinnung haben, wenn wir nach außen ein unfreundliches, düsteres und unliebenswürdiges Gesicht machen. Vater Bodelschwingh sagte einst einer jungen Schwester in Sarepta: „Kind, weißt du nicht, daß man sich auch ein freundliches Angesicht erbitten kann?“ Die Schwester hat sich das Wort gemerkt, und ihre Bitte wurde ihr erhört.
Wenn die Freundlichkeit als Frucht des Geistes drinnen im Herzen wohnt, wird sie auch die schlichtesten, ja die unschönen Züge licht und sonnig machen und einen Verklärungsschimmer auf das ganze Wesen und den Wandel des Menschen ausstrahlen. Die schönste Gegend ist reizlos ohne den leuchtenden Glanz der Sonne. So darf auch die Freundlichkeit als Frucht des Heiligen Geistes unserem Leben und Wesen nicht fehlen, wenn wir wohltuend und herzerquickend auf unsere Umgebung wirken wollen.

Es war nur ein sonniges Lächeln,

es war nur ein freundliches Wort; 

doch scheuchte es lastende Wolken

und schwere Gedanken fort.

Es war nur ein warmes Grüßen;

der tröstende Druck einer Hand;

doch schien’s wie die leuchtende Brücke,

die Himmel und Erde verband.

Ein Lächeln kann Schmerzen lindern,
ein Wort kann von Sorge befrein;

ein Händedruck Sünde verhindern

und Liebe und Glauben erneun.
Es kostet dich wenig, zu geben

Wort, Lächeln und helfende Hand;

doch arm und kalt ist dein Leben,

wenn keiner solch Trösten empfand.

H. von R.

Verwandt mit der Freundlichkeit, der leuchtenden Liebe, ist die Gütigkeit, die mitteilende Liebe.
Kann die Freundlichkeit schon mit einem sonnigen Lächeln, einem Gruß, einem Wort, einem Druck der Hand viel ausrichten, so wird die Gütigkeit noch mehr tun. Sie muß geben, sie muß sich mitteilen, sie sinnt ununterbrochen darauf, wie sie andere in ihrer Liebesfülle teilnehmen lassen kann. Ach, laßt uns auch gütige Menschen sein! Die wahre Liebe denkt nicht daran, etwas für sich zusammenzuraffen und zu behalten, sondern ihr Verlangen und Streben geht darauf aus, andere zu beglücken und ihnen helfend und gebend ihr Los zu erleichtern. Die Gütigkeit ist erfinderisch in ihren Opfern. Sie findet immer wieder Mittel und Wege, anderen zu helfen und wohlzutun. „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ – die Wort gilt besonders für die Träger dieser Geistesfrucht.
Nun kommt eine Doppelfrucht, die wir sowohl mit Treue als mit Glauben übersetzen dürfen, da für beide der griechische Urtext nur ein Wort hat.
Die Treue ist die ausharrende Liebe – der Glaube die vertrauende Liebe – beide Ausgestaltungen der Geistesfrucht sind unentbehrlich in einem wahren Christenleben. Die ausharrende Liebe, die treu bleibt bis ans Ende, empfängt Krone und Lohn. Die vertrauende Liebe wird nicht zuschanden, und durch alles Dunkel der zeit, durch Kampf und Not, ja selbst im Tode bewährt sie sich als wahre Frucht des Heiligen Geistes, der der Siegespreis zuteil wird.
Die Sanftmut ist die wehrlose Liebe. Sie verteidigt sich nicht selbst. Sie sucht nicht Recht. Sie hat sich von dem Lamme Gottes die Lammesnatur schenken lassen. Sie kann leiden und schweigen, dulden und lieben. „Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen“, sagt der Herr. Die Verheißung mag wohl in erster Linie auf jene Vollendungszeit hindeuten, wo die Überwinder, die hier erduldet, Schmach getragen und gelitten haben, dann teilhaben dürfen an dem Herrschertum Christi und mit ihm und für ihn regieren über die Erde. Aber schon jetzt über die Sanftmütigen eine Macht aus, die weit größer und sieghafter ist als aller Aufwand natürlicher Energie im Kampf um das eigene Recht. Wie manchmal hat schon die Sanftmut einer duldenden, im Leiden bewährten Gattin des Mannes Zornmütigkeit überwunden; wie oft hat eine sanftmütige Tochter, die in der Liebe Christi bereit war, alles auf sich zu nehmen und schweigend und leuchtend die Schmach des Kreuzes zu tragen, nacheinander alle widerstrebenden Glieder der Familie besiegt und zu Jesu Füßen bebracht!
Sanftmut ist heilige Wehrlosigkeit und zugleich sieghafte Kraft. Möchte der Herr sie uns allen schenken können. Dann wird er auch als der Advokat und Rechtsbeistand der Seinen für uns eintreten und seine Sache zum Siege führen.
Als die letzte Frucht wird die Keuschheit genannt, die reine Liebe. In geistlicher Beziehung ist die Keuschheit nach biblischem Sprachgebrauch das ganz auf Gott gerichtet herz und Auge. Jedes Hinschielen und Buhölen mit der Gunst und Lust dieser Welt wird im Alten Testament mit der furchtbaren Sünde der Treulosigkeit (des Ehebruchs) verglichen.

Oft wendete sich das auserwählte Volk, das Brautvolk Jehovas, von ihm ab und suchte Schutz und Hilfe, Freude und Genuß bei den Mächtigen der Erde und unter den heidnischen Naturvölkern.
Die keusche Liebe zu Christus ist die reine Brautliebe, die nichts anderes daneben dulden kann. Wahres bräutliches Verhältnis gestattet schon im irdischen Sinne keine Teilung der Interessen. Jungfrauen, die dem Lamme nachfolgen, wo es hingeht (Offb. 14, 4), haben nur ein Ziel, eine Liebe, ein Herzensverlangen und können und dürfen sich nicht verweilen, zersplittern oder ihre Liebe hin und her verschenken. Aus dieser inneren Herzenskeuschheit wird dann auch die rechte Stellung zur Umwelt und zu den Mitmenschen erwachsen.

Nie ist es nötiger gewesen als heute, behutsam und vorsichtig zu wandeln durch diese Welt voller Unreinheit, die von allen Seiten die Keuschheit des Herzens bedroht und ihre Netze ausstellt, um unbewachte Sinne zu fangen. Die wahre Keuschheit als Frucht des Geistes wird sich frei und rein halten von allem, was Geist, Seele und Leib beflecken kann. Sie wird kein Buch lesen, kein Blatt zur Hand nehmen, das unnütze, schändliche, aufreizende Gedanken erweckt. Sie wird die Augen abwenden von Bildern und Schaustellungen, die die innere Keuschheit verletzen. Sie wird in Gedanken, Worten und Taten nichts an sich und anderen dulden, was nicht in Übereinstimmung ist mit wahrer Herzensreinheit. Die reine, keusche Liebe wird sich in der Zucht des Heiligen Geistes zu bewahren wissen vor dem Giftrausch der Welt, vor den Anfechtungen des unreinen Geistes und wird mit heiligem Verlangen darauf bedacht sein, in der wahren Brautgesinnung dem Himmelsbräutigam unverletzt entgegenzugehen.

Die Frucht des Geistes in ihrer siebenfachen Ausstrahlung ist die göttliche Legitimierung echten Geisteslebens, wahren Geisteswandels. Wo diese Geistesfrucht in ihrer Vielgestaltigkeit vorhanden ist, da wird auch die Geistesfülle mit ihrer Kraft und Mannigfaltigkeit der gaben das göttliche Siegel tragen. Unter der Salbung des Geistes, in heiliger Freiheit und innerer Gebundenheit, wird die Verklärung des Geistes fortschreitend die Frucht des Geistes hervorbringen und das Wirken des Heiligen Geistes im täglichen Leben seinen vollen Zweck erreichen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 




Der Segen des Leides (Sondheimer)

Friedrich Sondheimer

Der Segen des Leides

Allgemeines über den Segen des Leides

Manche Menschen fragen: „Wie soll ich an einen gerechten, liebevollen und allmächtigen Gott glauben, wenn ich all das Leid auf dieser Erde wahrnehme? Er müßte doch dann jedem Kriege mit einem Male ein Ende bereiten und die Menschen aus allen Leiden befreien!“
Wir werden sehen, daß das Leid einen Sinn hat und von weit größerer Bedeutung ist, als es weithin erkannt wird. Deshalb reden wir auch vom Segen des Leides und bekennen uns damit zu einer vernünftigen Weltordnung. Wir müssen dabei etwas weiter ausholen.

Der Mensch ist die Krone einer sinnvollen Schöpfung.

Gott hat alle Dinge erschaffen, auch den Menschen. Daß der Mensch die Krone der Schöpfung ist, geht daraus hervor, daß er



die Tierwelt beherrscht;

einen geistigen Hunger hat;

wissenschaftliches Interesse bekundet;

Kunstsinn besitzt und
einen religiösen Zug in seinem Wesen aufweist.

Der Mensch beherrscht die Tierwelt.
Er hat durch seine Intelligenz Macht über die größten Tiere, denn er erlegt oder zähmt sie. Ein Elefant hat noch keine Schußwaffe erfunden, ein Löwe noch keinen Menschen in einen Käfig eingesperrt. Der viel schwächere Mensch aber ist dazu imstande, was seine große Überlegenheit der Tierwelt gegenüber beweist.

Der Mensch hat geistigen Hunger
Das Tier kennt solchen Hunger nicht. Ein Pferd mag sich ganz wohl fühlen, wenn es gut versorgt ist, bei der Arbeit nicht überfordert wird und einen ordentlichen Stall hat. Der Mensch hingegen ist mit der Befriedigung rein körperlicher Bedürfnisse keinesfalls zufrieden, er hat einen geistigen Hunger. Ein Hühnervolk liest keine Tageszeitung, ein Bienenschwarm erfreut sich nicht an einer Symphonie, ein Ameisenvolk kommt nicht zu einer politischen oder religiösen Versammlung zusammen, und eine Affenherde besucht kein Kino.

Der Mensch hat wissenschaftliches Interesse.
Er richtet seine Fernrohre auf den Himmel und durchforscht die Sternenwelten; er nimmt ein Mikroskop und untersucht die Herrlichkeiten, die für unser bloßes Auge nicht mehr sichtbar sind; er treibt Chemie, Physik, Mathematik, Geschichte Geographie u.a.m. Wo haben wir schon ein Tier gefunden, das wissenschaftliches Interesse bekundet hat?

Der Mensch hat Kunstsinn.
Das Tier hat nur Instinkt. Wohl baut die Biene ihre sechseckige Zelle, dies Wunderwerk der Raumausnutzung, der Webervogel flicht ein kunstvolles Nest, und die Spinne webt ihr Netz zum Fang ihrer Beute, so daß wir darüber nur stauenen müssen, aber sie handeln dabei nicht nachdenkend, sondern rein intinktiv. Wie töricht sie dabei manchmal sind, beweist die Tatsache, daß etwa die Singvögel es noch nicht einmal merken, wenn ein Kuckuck sein Ei in ihr Nest gelegt hat, obwohl das heranwachsende Tier später ihre eigenen Jungen über den Nestrand hinauswirft und sich allein groß füttern läßt. Selbst Hunde und Affen handeln nur instinktmäßig, aber nicht mit Verstand und Vernunft, wenn es ihnen auch gelegentlich angedichtet wird. Der Mensch hingegen meißelt, malt dichtet, komponiert und zeigt allerlei Kunstfertigkeiten.

Der Mensch hat einen religiösen Zug in seinem Wesen.
Bei dem Tiere finden wir etwas derartiges nicht. Der Mensch glaubt, er hofft, er liebt, er betet, er spottet, er lästert je nach seiner Einstellung. Er unterscheidet sich auch darin wesenlich vom Tiere. „Das geistige Band fehlt zwischen Tier und Mensch“. Deshalb kann er auch nicht ins Tierreich eingeordnet werden, sondern stellt für sich ein ganz besonderes Reich dar, wenngleich er in gewissen körperlichen Funktionen den Säugetieren ähnlich ist.

Das Dasein des Menschen, der die Krone einer sinnvollen Schöpfung ist, muß in ihr den höchsten Sinn haben und ebenso das Leid, das ihn durchs Leben begleitet.
Wir müssen immer wieder staunen, mit welcher Weisheit alles in der Schöpfung eingerichtet ist, ob wir nun die Ordnung der Sternenwelten bewundern oder den Bau des Menschenleibes, die Schönheit des Schmetterlings oder einer duftenden, farbigen Blume, ob wir die Majestät eines Gebirges oder des Meeres, die Formung einer Muschel oder die Pracht eines Edelsteines bestauen. Überall wunderbare Weisheit, Ordnung und Schönheit! Nur das Böse in der Welt ist nicht zu bewundern, es gehört nicht hinein. Und doch haben gerade um des Bösen willen Kriege, Inflation, Hungersnöte Epidemien, Naturkatastrophen und Unglücksfälle einen Sinn und eine Bedeutung. Dächten wir anders, so müßten wir erklären, daß das Weltgeschehen sinnlos sei und wir in einem Tollhaus säßen. Wie könnte das aber denkende Wesen befriedigen?
Um den Sinn des Leides recht zu würdigen und vom Segen des Leides reden zu können, müssen wir einiges beachten.

Das Leid ist eine gottgewollte Reaktion auf das Böse.
Wie ein Damm die wilden Fluten des Meeres bezwingt und zähmt, so werden die Mächte des Bösen im Leide bezwungen und gebändigt. Wie unendlich würde sich das Böse steigern, wenn die Menschen darin nie aufgehalten würden! „Wer am Fleische leidet, hört auf zu sündigen“, heißt es in 1. Petri 4, 1. Gesetzmäßig wirkt sich das Handeln der Menschen entsprechend ihrer Einstellung für oder wider sie aus, und so wird das Leid für sie eine Korrektur.

Manche Geschehnisse können wir jetzt schon verstehen; sie sind offenbare Strafgerichte des Höchsten über die Bosheit der Menschen.
So war die Sintflutkatastrophe, die übrigens in den Sagen fast aller Völker ihren Niederschlag gefunden hat, ein Gericht über die Menschen, weil sie sich von Gottes Geist nicht mehr strafen lassen wollten (1. Mose, Kap. 6+7). So war der Untergang von Sodom und Gomorrha eine Abrechnung des Höchsten mit der Ruchlosigkeit jener Menschen (1.M.19). Ähnliche Beispiele ließen sich noch mehr anführen. – Und sehen wir nicht auch heute, wie der Allmächtige mit schwerem Schritt durch die Geschichte geht? Wie viele Menschen haben denn ihrem Schöpfer für all Seine Güte gedankt, Ihn verehrt und angebetet, als es ihnen gut ging? Wollten nicht die allermeisten ohne Gott in eigener Kraft und Weisheit fertig werden? Wollten sie nicht unabhängig sein, obgleich sie mit jedem Bissen Brot und jedem Schluck Wasser, jedem Atemzug und jedem Schlaf ihre völlige Abhängigkeit Tag und Nacht bekunden mußten?

Mit dem Tode ist nicht alles aus.
Auch diesen Punkt müssen wir sehr deutlich betonen, wenn wir den Segen des Leides recht würdigen wollen. Es gibt ein Fortleben nach dem Tode, ein zukünftiges Gericht und eine ewige Vergeltung. Was hätte das Leben für einen Zweck, wenn wir nur geboren würden, um zu sterben? Verbrechen, Irrsinn und Selbstmord sind die Folgerungen des Unglaubens. Denn wenn mit dem Tode alles aus wäre und ich mich doch keinem ewigen Richter gegenüber zu verantworten hätte, dann könnte ich machen, was ich wollte. Nur müßte ich schlau genug sein und dürfte mich nicht erwischen lassen. Warum sollte ich mir dann das Leben nicht auf allerlei Weise auf Kosten anderer angenehm machen? Träte mir jemand dabei hindernd in den Weg, so ginge ich mit dieser gottlosen Gesinnung über Leichen. Bei einer solchen Einstellung hätte auch das Opfer keinen Sinn mehr. Paßte mir schließlich die ganze Sache nicht mehr, nähme ich mir das Leben. Dahin führt der Unglaube. Aber er irrt gewaltig! Mit dem Tode ist nicht alles aus. Wir sind keine höheren Affen, die irgendwo verenden. Die Sittlichkeit bekommt ihren eigentlichen Wert erst dadurch , daß es ein Fortleben nach dem Tode und ein zukünftiges Gericht gibt. Tugend und Opfer bekommen nur so ihre Bedeutung.
Wir müssen alles Geschehen von einer ewigen Warte aus ansehen.
Im Lichte der Ewigkeit müssen wir die Ereignisse werten. Wer das nicht tut, der findet sich nicht zurecht. Das Kleine muß uns klein und das Große muß uns groß werden. Wir dürfen nicht an Kleinigkeiten und Einzelheiten hängen bleiben, sondern müssen in Verbindung mit dem schon Erwähnten eine Gesamtschau zu gewinnen suchen. Dann sehen wir ewige Pläne zur Durchführung kommen, und das Leid bekommt einen rechten Sinn im Gesamthaushalt der Schöpfung für uns (Jes. 55, 6-9).

Wir dürfen nicht fragen: Warum?, sondern müssen fragen: Wozu?
Wir dürfen also nicht nach dem Grunde, sondern müssen nach dem Zwecke des Leides fragen. Vieles können wir zwar noch nicht verstehen, weil es uns nie möglich sein wird, jetzt schon eine letzte Gesamtschau über alles Geschehen zu gewinnen, dazu müßten wir an Gottes Stelle stehen. Wenn wir, wie Gott, alles wüßten, hinter jede Weltkulisse schauen und alle Fäden zusammenlaufen sehen könnten, dann würde wir gewiß alles verstehen und die Gerechtigkeit Gottes bewundernd anbeten. Sobald wir alles Leid in unserem Leben sinnvoll werten, wird es uns zum Segen werden, auch wenn wir noch nicht alles verstehen. Und diese Überzeugung müssen wir gewinnen, denn Gott meint es nicht böse mit uns; Er hat nur Gedanken der Liebe und des Friedens mit den Menschenkindern, auch wenn Er sie durch Gerichte hindurchfüht.

Welchen Sinn hat nun das Leid im Leben der Menschen?
Wer vom Segen des Leides redet, muß nachweisen, daß das Leid einen Sinn hat. Wir haben eben dargelegt: Das Dasein des Menschen als Krone der Schöpfung hat den höchsten Sinn auf dieser Welt. Da er nun durch so mannigfaches Leid geführt wird, muß das Leid in seinem Leben auch einen höchsten Sinn haben. Das trifft auch zu, weil er für ewige, herrliche Ziele geschaffen worden ist und nicht in der Gottesferne untergehen soll. Das Leid soll uns zum Segen und Gewinn werden. Wir werden in den Ausführungen der weiteren Kapitel darüber im einzelnen noch manches erfahren. Doch soll hier zu Beginn wie bei einer Ouvertüre schon das Thema in seiner mannigfachen Variation aufklingen.

Das Leid soll und von der Erde lösen.
Ohne Zweifel könnte der allmächtige Gott alles Leid aus der Welt mit einem Schlage beseitigen, wenn Er es wollte. Er tut es aber nicht, weil Er uns für ewige Aufgaben ertüchtigen will. Auf keinen Fall dürfen wir uns an die Erde verlieren, sondern müssen unseren Blick der Ewigkeit zuwenden, um die Krone des Lebens zu erlangen. Wie kann Gott aber den Menschen dahin bringen, wenn Er ihm alle seine irdischen Wünsche und Pläne erfüllte oder gelingen ließ? Wie selbstsicher und stolz wäre der Mensch dann!

Das Leid soll uns auf unsere Echtheit prüfen.
Ohne Zweifel könnte Gott die Menschen von seinem Dasein so erschütternd überzeugen, daß sie alle zitternd vor Ihm niederfallen würden. Er tut es nicht und bleibt in der Verborgenheit, um keinen Menschen in seinem freien Entschluß, Ihm zu dienen oder nicht, zu vergewaltigen. Aus diesem Grunde mischt Er sogar die Lose der Menschen so, daß es Gläubigen vorübergehend oft recht übel ergeht, während Gottlose sich ebenfalls vorübergehend eines außerordentlichen Glücksstandes erfreuen dürfen. Im 73. Psalm wird das ausgesprochen. Angenommen, Gott ließe es allen Frommen äußerlich sichtbar sehr gut ergehen, allen Gottlosen aber sehr schlecht, so würden die Menschen durch diese Tatsache zu einer schäbigen Händlergesinnung erzogen werden. Alle wollten dann natürlich fromm sein oder doch erscheinen, damit es ihnen gut erginge. So aber verwirrt Gott absichtlich das falsche und selbstsüchtige Denken der Menschen, damit die Frömmigkeit echt und lauter erscheine. Das Leid muß also im Leben der Menschen manches wirken, bei den einen Lösung von der Erde, bei anderen führt es zu einer Prüfung ihrer Echtheit und Treue. Der Goldschmied wirft das Gold ins Feuer und läßt es solange darin, bis er sein eigenes Bild erschauen kann. Dann erst ist der Läuterungsprotzeß beendet.

Das Leid macht uns barmherzig und mitleidig.
Es erweckt in uns Verständnis für andere. Wie hart, lieblos und unbarmherzig würden wir werden, wenn nie eigenes Leid uns die Augen öffnen würde für die Schmerzen anderer. Als die bekannte Engländerin Mrs. Butler einst von einer längeren Reise heimkehrte, eilte ihre ebenso begabte wie schöne Tochter der Mutter die Treppe herab entgegen, stürzte aber dabei über das Treppengeländer und war – tot. Die Mutter schreibt dann: „Als ich nun die lange, furchtbare Nacht bei der Leiche meines einzigen Kindes saß, da tat ich das Gelübde, mein Leben der Rettung tiefgefallener Mädchen zu widmen, die noch viel, viel unglücklicher sind als mein Kind.“ Ihre ganze Kraft galt fortan dem Kampf gegen die Prostitution. Welch ein Segen ist durch das Leid in die Welt geflossen! Die Ewigkeit wird es voll offenbar machen.

Das Leid soll uns in die Arme des Heilands treiben und vollenden.
Bei einer Explosion in einer Fabrik verunglückten verschiedene Arbeiterinnen, besonders ein junges Mädchen wurde im Gesicht so verbrannt, daß alles eine einzige Brandwunde war, die ihre frühere Schönheit für immer vernichtete. Als sie der Genesung entgegenging, sagte ihr eine Besucherin: „Nicht wahr, das war der schrecklichste Tag in Ihrem Leben, als das Unglück geschah?“ „Im Gegenteil“, versetzte die Kranke, „es wurde mein bester. Denn dadurch wurde ich nicht nur gründlich von all meiner Eitelkeit geheilt, sondern ich lernte auch den Heiland kennen und lieben, der für mich noch Schwereres erduldet hat. Ich bin jetzt glücklicher als zuvor.“
Ein früherer Kollege von mir, Oberjustizsekretär H. in Th., wollte lange nichts von Gott wissen, bis ihm Gott sein einziges Söhnchen nahm, dann bekehrte er sich und pries Gottes ernste, aber heilsame Wege.

Überblick.
Das Ziel des Leides ist immer zunächst Lösung von der Erde, wir sollen die Nichtigkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen erkennen. Dann sollten wir von der Sünde befreit werden, wie das Gold von den Schlacken befreit wird. Wir sollen ferner Verständnis für unsere Mitmenschen in Liebe und Barmherzigkeit bekommen. Das Höchste aber ist es, daß wir durchs Leid in die Arme unseres Erlösers Jesus Christus getrieben werden und in der Gemeinschaft mit Ihm zur Vollendeung gelangen.
Zu unserem Troste dürfen wir dabei wissen, daß das Leid abgemessen und abgegrenzt ist. Es muß immer erst an Gottes Thron vorüber, ehe es zu uns kommen darf. So ist es ein Beweis, daß sich Gott um uns bemüht, wenn Er uns Leidenswege führt. Gott weiß alles; Er trägt mit uns und hilft uns. Er will unser Bestes und unser Wohl. Alles Leid ist nicht wert der Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll (Röm. 8,18). Im Lichte der Ewigkeit währt es ja nur einen Augenblick, wenn es uns auch lang erscheinen mag. Nach dem Regen scheint die Sonne um so schöner. Wir werden das Leid einmal segnen, weil es uns außerordentlich nützlich gewesen ist.


„Herr, schicke, was Du willst,
ein Liebes oder Leides;

ich bin vergnügt, daß beides
aus Deinen Händen quillt.“

(Eduard Mörike)

„Der aus den kahlen Dornenhecken,
die roten Rosen glühend schafft,

der kann und will auch dich erwecken
aus tiefem Leid zu junger Kraft.“

(Emanuel Geibel)

„Gott schickt am End’ uns Leiden,

auf daß uns diese Welt,

wenn wir nun von ihr scheiden,

nicht mehr so mächtig hält.“

(Justinus Kerner)

„O, klage nicht, daß Not und Fährde

zernichte jedes Glück der Erde!

Des Menschen wahrer Segen taut

nur dem, der auch sein Leid geschaut“.

(Peter Sirius)

„Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach Seinem Vorsatz berufen sind“ (Röm. 8, 28).


„Siehe, zum Heil ward mir das bittere Leid (Jes. 38, 17).

Der Segen des Leides ist offenbar und überaus mannigfaltig. Gepriesen sei Gott fürs Leid! Einmal wird Er alle Tränen von unseren Augen abwischen (Offbg. 7, 17; 21,4). Über alles hinweg schau auf das Kreuz von Golgatha! Dort litt und starb Gottes Sohn für dich. Gott selbst nimmt in Seinem Sohne den regsten Anteil am Menschheitsleid, tilgt die Sünde als Urheberin alles Leides und führt die Welt zur herrlichen Erneuerung und Vollendung durch Christus. Dann wird es kein Leid, keinen Schmerz, kein Geschrei und keinen Tod mehr geben (Offbg. 21,4).


Das Strafleiden des David

Gott ist ein heiliger und gerechter Gott, der nicht das Krumme grade sein lassen kann. Er treibt auch keine Günstlingswirtschaft mit Seinen Kindern, sondern Er erwartet von ihnen ein besonderes Maß von Heiligkeit. In dem Maße, wie Er sie auf allerlei Weise begnadet und begabt hat, stellt Er auch besondere Anforderungen an sie. Das müssen wir einleitend ernst betonen, wenn wir jetzt über das Strafleiden des David reden wollen.

Die außerordentliche Begnadigung Davids
David war der Sohn eines schlichten Mannes, der in seiner Jugend das Kleinvieh seines Vaters Isai gehütet hatte. Als einfacher Hirt wurde er auf Gottes Weisung hin von dem Propheten Samuel zum König gesalbt (1. Sam. 16, 6-13). Durch Gottes Führung kam er bald danach als Harfenspieler an den Königshof und lernte auf diese Weise höfisches Leben kennen (1.Sam. 16, 14-23). Weil Gott fernerhin mit ihm war und ihn groß machen wollte, erweckte Er in ihm einen heldenhaften Geist und ließ es ihm gelingen, die Riesen Goliath im Zweikampf zu besiegen und so ein berühmter Mann zu werden (1.Sam. 17, 41-54).
Im weiteren Verlauf der Dinge wurde er ein persönlicher Freund des Prinzen Jonathan, der ihn in sein Herz schloß und ihn wie sein eigenes Leben liebgewann (1.Sam. 18,1). David hatte fernerhin außerordentliches Kriegsglück unter der schirmenden und segnenden Hand seines Gottes und wird sogar der Schwiegersohn des Königs Saul, der ihm seine Tochter Michal zur Frau gibt (1.Sam. 18, 6-9; 20-30).
Als dann der König auf seinen tüchtigen Schwiegersohn eifersüchtig wird und ihm sogar nach dem Leben trachtet, ja, ihn zweimal mit seinem Speer zu töten sucht, wird David wunderbar bewahrt und kann sein Leben durch die Flucht retten (1.Sam. 18, 10-12; 19, 8-17). Gottes hand ist auf manchen Kriegszügen mit ihm, so daß es ihm gelingt, was er vornimmt (1.Sam.18, 13-16). Als er schließlich von dem Könige wie ein Rebhuhn auf den Bergen längere Zeit hindurch verfolgt wird, entgeht er allen Nachstellungen Sauls und wird nach dem Tode seines Schwiegervaters König in Hebron (1.Sam. 20-30; 2.Sam. 1, 1-11).
Aber noch mehr schenkt ihm sein Gott. David wird nach mehr als sieben Jahren König in Jerusalem. „Seine Macht wuchs immer mehr, weil der Herr mit ihm war“ (2. Sam. 5, 6-10). Alle seine Feinde ringsum kann er besiegen und für Israel eine goldene Zeit heraufführen (2. Sam. 5, 17-25; 8, 1-15).

Infolge dieser außerordentlichen Gnade Gottes hatte David nun auch eine besondere Verantwortung vor Gott, denn Gnade verpflichtet. In diesem Sinne redete der Herr beim Tode Nadabs und Abihus (3. Mose 10, 1-3): „An denen, die Mir nahestehen, will ich Mich als heilig erweisen und vor dem ganzen Volk Meine Herrlichkeit offenbaren.“ Und das Wort Hes. 9, 6: „Und bei Meinem Heiligtum macht den Anfang (mit Gerichtsvollzug)“, liegt auf derselben Linie. Deshalb durfte Mose auch nicht in das Heilige Land kommen, weil er nach außergewöhnlichen Gnadenerfahrungen Gott nicht die Ehre gegeben hatte. Gott hatte sich diesem großen Propheten herrlich in seinem Leben geoffenbart. Am Haderwasser aber handelte Mose so, als wenn durch seine eigene Weisheit und seinen starken Arm dem Volke Hilfe in der Not zuteil geworden wäre. Gott ließ Seinen Knecht nicht im Stich, sondern er sandte wirklich Hilfe, aber zur Strafe durfte er den Jordan nicht überschreiten, sondern er konnte nur vom Berge Nebo aus der Ferne das Land seiner Sehnsucht sehen (4. Mose 20, 6-13; 5. M. 3, 23-29). Je mehr Gnade uns der Allmächtige in unserem Leben geschenkt hat, desto schlimmer ist jeder Ungehorsam gegen Ihn und desto schwerer wird aus erzieherischen Gründen die Bestrafung sein.

Davids tiefer Sündenfall
Solange David mit seinen Kämpfern ins Feld zog, lesen wir nichts von einem Sündenfall. Der große Mann fiel erst in Sünde, als er es sich bequem machte, während seine Mannen im offenen Kampfe standen. Er beging Ehebruch mit Bathseba. Das mißfiel dem Herrn sehr. (2. Sam. 11, 1-27). Die nächste tiefere Stufe war, daß er zum Mörder ihres Mannes wurde, indem er den Befehl gab, ihn an einen Brennpunkt des Kampfes zu stellen, nachdem es dem König nicht gelungen war, die Spuren seiner Schandtat zu verwischen. Nach dem Tode Urias und nach Ablauf der Trauerzeit nahm er dann Bathseba zur Frau. Damit war der Sündenfall vollendet. Aber jetzt redet Gott zu dem so hoch begnadeten Manne in sehr ernster Weise.

Das von Gott über David verhängte Strafleiden.
Wir können im Leben Davids geradezu einen Schnitt machen. Vor seinem Sündenfall gelang ihm in auffälliger Weise alles, was er sich vornahm. Nach dem Sündenfall wich das Leid nicht mehr von seinem Hause und verursachte ihm schwere Demütigungen. Der König mußte nun erleben, daß er es mit einem heiligen und gerechten Gott zu tun hatte, der Seinen hohen Namen nicht von den Seinen in den Schmutz ziehen läßt. Zunächst geriet David in eine furchtbare Gewissensnot- und pein. Der 32. Psalm läßt uns einen Blick in seine innere Verfassung tun. Er spricht dort aus: „Da ich’s wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine duch mein tägliches Heulen. Denn Seine Hand war Tag und Nacht schwer auf mir, daß mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird.“ Diese Gewissens- und Seelenqualen um der Sünde willen sind ein Stafleiden für alle Übeltäter.

Dazu kam dann noch die Strafrede und Unheilsverkündigung des Propheten Nathan, der dem David von dem reichen Manne erzählte, der seinem Besuch das einzige Lamm des armen Mannes vorsetzte, so daß der König zur Sündenerkenntnis und Reue bewegt wurde (2. Sam. 12, 1-14). David bekannte jetzt endlich seine Sünde und fand dafür auch Vergebung durch göttliche Zusage. Das bedeutete aber nicht, daß nun alles erledigt gewesen wäre. Das Stafleiden ging weiter. Gott ließ das Kind der Bathseba krank werden und sterben. Alles Bitten, Flehen und Fasten Davids half nichts, Gott übte Gericht an dem reich begnadeten Manne (2. Sam. 12, 15-23). Und nun sehen wir, wenn wir die Berichte über Davids weiteres Leben verfolgen, daß immer neue Gerichtsschläge sein Haus trafen. Er hatte eine schwerde Sünde der Unreinheit und des Mordes begangen, und jetzt wurde ihm vergolten, wie er gehandelt hatte. Sein Sohn Amnon beging eine Schandtat an seiner Halbschwester Thamar (2. Sam. 13, 1-22). Diese gemeine Tat sühnte Absalom damit, daß er seinen Halbbruder Amnon erschlagen ließ (2. Sam. 13, 23-29). Schließlich empörte sich der ruchlose Absalom wider seinen Vater David und suchte die Herrschaft des Reiches an sich zu reißen, kam aber dabei ums Leben (2.Sam. 15-19). Mit Entsetzen sehen wir hier, wie Gott trotz vergebener Sünde am Hause Davids Gericht übt, weil er die Feinde des Herrn lästern gemacht hatte. Obwohl Nathan dem David göttliche Vergebung zugesichert hatte und David selbst im 32. Psalm mit tief empfundenen Worten die Seligkeit solcher Vergebung rühmt, muß er doch zu seiner Läuterung von nun an ein Stafleiden durchmachen.

Gewiß haben wir heute durch das Opfer von Golgatha ein Sühn- und Sündopfer, das unsere Sünden tilgt, so daß Gläubige nicht ins Jüngste Gericht kommen können und dem Zorne Gottes entronnen sind. Aber viele Jünger Jesu haben eine falsche Vorstellung von der Sündenvergebung, indem sie ganz das Gesetz von Saat und Ernte übersehen. Es muß sehr ernst betonte werden, daß das Opfer von Golgatha das Gesetz von Saat und Ernte auf keinen Fall aufhebt, wenn wir auch wunderbar errettet sind. Es gibt genug Stellen in der Heiligen Schrift, aus denen der ganze Ernst unserer Verantwortung hervorgeht. Wäre es anders, würden wir wahrscheinlich alle leichtfertig werden und das furchtbare Gewicht der Sünde nicht tief genug empfinden. Galater 6, 7-8 wird an Gemeinden Christi geschrieben:
„Irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten, denn was der Mensch sät das wird er auch ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird vom Fleisch Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird vom Geist ewiges Leben ernten!“
Wir brauchen dieses ernste Wort gern, um es Spöttern entgegenzuhalten, es ist jedoch offensichtlich zunächst an gläubige Menschen gerichtet. Ganz auf derselben Linie liegt auch das Wort 1. Petri 4, 17: „Es ist Zeit, daß das Gericht am Hause Gottes anfange; wenn aber bei uns, was wird mit denen werden, die der Heilsbotschaft nicht gehorchen?“
Und 2. Kor. 5, 10: „Wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, auf daß ein jeglicher empfange, nach dem er bei Leibesleben gehandelt hat, es sei gut oder böse“.
Zur Zeit Friedrich des Großen waren in seinem Heere unter den Offizieren immer wieder Ausschreitungen vorgekommen, so daß sich der König genötigt sah, strenge Maßnahmen zu ergreifen. Kurz darauf machte sich ein angesehener Offizier einer solchen Zuchtlosigkeit schuldig und sollte nun schwer bestraft werden. Vornehme Männer verwandten sich für ihn beim König und wiesen darauf hin, was für ein gebildeter und angesehener Mann jener Offizier sei. Der König könne ihn deshalb doch nicht so drakonisch bestrafen. Friedrich der Große aber erwiderte, er habe noch garnicht gewußt, daß es sich um einen so hervorragenden Mann handele, da müsse er ihn ja noch viel schwerer besrafen, denn von einer solchen Persönlichkeit könne man doch viel mehr erwarten als von einer weniger vornehmen.
In derselben Weise denkt der Ewige über Seine Kinder, die vor vielen anderen reich begnadigt worden sind. Infolgedessen haben sie auch mehr Verantwortung, und Gott bestraft sie in dem Maß schwerer, als er ihnen Gnaden und Gaben geschenkt hat.


Das Demütigungsleiden des Paulus

Die Begabungen und Charakterveranlagungen der Menschen sind sehr verschieden. Deshalb geht Gott auch verschiedene Erziehungswege mit Seinen Kindern, wie Er es in Seiner ewigen Weisheit für nötig hält. Johannes konnte auf Patmos ein ganzes Buch hoher Offenbarungen empfangen, ohne daß es ihm zu innerem Schaden, zur Sünde des Hochmuts gereicht wäre. Infolge seiner Gesinnung und Einstellung wissen wir nichts von einem Demütigungsleiden bei ihm, Paulus hingegen bekam nach 2. Kor. 12, 1-14 nur eine außerordentliche Offenbarung. Und Gott hielt es bei ihm für nötig ihm ein Demütigungsleiden aufzuerlegen, damit er sich nicht überhebe.

Paulus geriet außer sich und wurde bis in den dritten Himmel entzückt und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch aussprechen kann. Vierzehn Jahre behielt er diese hohe Offenbarung für sich, ehe er sie mitteilte; gewiß ein gutes Zeichen seiner keuschen Zurückhaltung. Um den Einfluß unlauterer Gegner lahmzulegen, zeigt er, als er nun das Erlebnis preisgibt, daß er keinesfalls hinter diesen falschen Aposteln zurücksteht, und wir erfahren auf diese Weise auch von seinem Demütigungsleiden. Ein Pfahl, ein Dorn oder Stachel wurde ihm ins Fleisch gegeben, damit er sich der hohen Offenbarung nicht überhebe. In dem ganzen Abschnitt sind verschiedene schwer zu erklärende Stellen, so die bei Paulus eingetretene Ekstase, bei der er nicht wußte, ob er im Leibe oder außer dem Leibe gewesen ist, dann die Entrückung bis ins Paradies, in den dritten Himmel, ferner die unaussprechlichen Worte und endlich der Pfahl im Fleische. Manche meinen, Paulus hätte vielleicht ein Augenleiden gehabt, das ihm sehr hinderlich bei seinem Dienst gewesen sei, was aus Gal. 4, 15 und 6, 11 hervorginge, denn dort heißt es:
 „Ich muß das Zeugnis geben, daß ihr euch damals womöglich die Augen ausgerissen und mit geschenkt hättet“ und „Sehet, mit was für großen Buchstaben ich euch nun noch eigenhändig schreibe!“ Man könnte ein solches Augenleiden wirklich als einen „Dorn im Fleische“ beteichnen. Aber schlecht paßt dazu der Satansengel, von dem Paulus redet. Jedenfalls hat Paulus zu seiner Demütigung am Fleiche leiden müssen, damit er sich der hohen Offenbarung nicht überhebe. Worin dieses Leiden bestand, können wir nicht mit Gewißheit sagen. Er hat es auch nicht so ohne weiteres hingenommen, sondern in ernstem Flehen Gott gebeten, ihm das Leiden abzunehmen. Und als er nicht gleich erhört wurde, hatte er in weiterem Gebet angehalten, bis er schließlich vom Herrn die Antwort bekam, er solle sich an Gottes Gnade genügen lassen. Diese Antwort war keine Erhörung nach dem Wunsche des Apostels, sie war aber doch ein Ja Gottes: 
„Meine Gnade sei dir genug! Denn Meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit!“ Damit gab sich Paulus zufrieden, ja, er ging so darauf ein, daß er Wohlgefallen an Schwachheit, an Schmach, an Mangel, an Verfolgungen und Ängsten fand (V.10), mit der Begründung: 
„Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“, weil er dann nicht mehr sich, sondern nur noch seinem Gott vertraute.

Aus dieser neutestamentlichen Stelle vom Demütigungsleiden des Paulus kann man aber nun nicht alle „Gottergebenheit“ herleiten, denn es gibt Stellen im Neuen Testament, die kräftig ermuntern, uns nicht mit unserem „Schicksal“ zufrieden zu geben, sondern im Gebet auf Gott zu vertrauen und von Ihm eine Änderung bitterer Verhältnisse zu erwarten. Nicht alles in unserem Leben ist Demütigungsleiden wie bei Paulus, sonst müßten wir auch, wie er, hoher Offenbarungen teilhaftig geworden sein. Hast du überhaupt schon mal durchgebetet, bis du eine klare Antwort Gottes bekommen hast? Hast du dich schon mit beiden Füßen auf die Verheißungen Gottes gestellt? Die vielen Motive des Neuen Testamentes ermuntern uns jedenfalls zu einem kühnen Vertrauen.

Wenn manche dann darauf hinweisen, daß Jesus doch gebetet habe: „Vater, Dein Wille geschehe!“, so muß hier festgestellt werden, daß Er nur in Gethsemane so gebetet hat, sonst niemals. Unser Herr dankte schon im voraus für die Erhörung Seiner Gebete und sagte: „Vater, Ich weiß, daß Du mich allezeit hörst!“ (Joh.11, 42). Und das geschah sogar bei einer Totenauferweckung. Wir dürfen uns mit unserem Unglauben nicht hinter dem „Willen Gottes“ verschanzen und diese Einstellung dann noch mit dem Mäntelchen der Gottergebenheit umhüllen, sondern müssen kindlich erwartungsvoll uns auf Gottes Zusagen gründen und Großes von Ihm erwarten, so lange Er uns nicht wie Paulus bestimmt hat wissen lassen, welchen Weg Er mit uns gehen will.

Bei der Auswertung der Wahrheit vom Demütigungsleiden nach 2. Kor. 12 kommen wir zu wichtigen Erkenntnissen. Durch den rechten Wechsel von Sonnenschein und Regen ist die Fruchtbarkeit in der Natur begründet. Würde es immerfort regnen, würde alles verfaulen. Würde die Sonne ohne Aufhören scheinen, würde alles verdorren. So ist es auch im geistlichen Leben: Segnungen und Demütigungen wechseln entsprechend unserer Charakterveranlagung im rechten Verhältnis miteinander ab, damit wir von Verzagtheit und Hochmut bewahrt bleiben. Somit wird unsere Fruchtbarkeit garantiert, und wir wachsen in der Heiligung, bis Phil. 2, 14 erfüllt ist, daß wir ohne Murren und ohne Zweifel als tadellose Gotteskinder erfunden werden.

Demütigungsleiden macht fruchtbar! Das Demütigungsleiden hat den Zweck, daß wir uns nicht mehr wegen unserer Vorzüge und Tüchtigkeiten rühmen, nicht mehr uns selbst bespiegeln und an uns selbst Wohlgefallen finden, sondern unserem Gott in Jesus Christus alle Ehre bringen und uns Seiner und Seiner Gnade allein rühmen.
Zum Schluß wollen wir noch einen Blick auf unseren Erlöser werfen. Niemand hat sich freiweillig so tief erniedrigt wie Er. Niemand ist aber auch so hoch erhöht worden wie Er. Laßt uns Ihm nachfolgen und uns freiwillig selbst erniedrigen, damit Gott uns zu Seiner Zeit erhöhen kann. Dann bleiben uns auch viele Leiden erspart, die uns sonst aus erzieherischen Gründen zu unserer Demütigung auferlegt werden müssen.

Das Zurüstungsleiden des Mose

Hierzu ist zu lesen 2. Mose 2 und 3, 1-12. Die Lebensgeschichte des Mose ist eine ganz eigenartige. In schwerer Drangsalszeit seines Volkes wurde er geboren und ausgesetzt. Aber Gott hielt Seine Hand über ihn und verkettete die Zusammenhänge so, daß er ägyptischer Prinz und als solcher in aller Weisheit der Ägypter unterrichtet wurde (Apg. 7, 22). Er war ein Mann, gewaltig in Wort und Tat. Gleich nach seiner Entwöhnung dem Elternhaus entrissen, erging es ihm gewiß sehr gut, aber er war nicht bei seinen Angehörigen. Sein Zurüstungsleiden begann schon bei seiner Geburt, steigerte sich aber im Laufe seines Lebens. – – Der ägyptische Prinz wurde aus natioalen Gründen zum Mörder und Flüchtling und schließlich im Lande Midian ein Kleinviehhirt. Mose war in der Erziehungsschule seines Gottes und wurde für große Dinge zugerüstet, aber er verstand die Wege des Herrn nicht. Fern der Heimat und dem gewohnten höfischen Leben, weilte er unter einfachsten Umständen in der Fremde. Zwischen Gebirge und Meer hütete er vierzig Jahre lang das Kleinvieh seines Schwiegervaters Jethro und wurde in der gewaltigen Natureinsamkeit zugerüstet für außerordentliche Aufgaben. Apg. 7, 23 lesen wir, daß er mit 40 Jahren den Mord begangen hatte, Apg. 7, 30, daß er nach weiteren 40 Jahren am Berge Sinai berufen wurde. Als er im Alter von 40 Jahren in eigener Kraft seinem Gott dienen wollte, konnte Er ihn nicht gebrauchen. Als er aber im Alter von 80 Jahren mit seiner eigenen Kraft zu Ende war, berief ihn der Ewige zu hohen Aufgaben. – – Jetzt endlich erkennen wir, warum Mose durch so viele Leiden hindurchgehen mußte. Er wurde in Gottes Hochschule zugerüstet für besondere Dienste. Und im weiteren Verlauf von 40 Jahren bis hin zu seinem Tode auf dem Nebo erkennen wir immer deutlicher, wie wunderbar Gott dieses Werkzeug zugerüstet hatte. Im Verhältnis zur größe seiner Aufgabe stand sein Zurüstungsleiden.

Aber nicht nur bei Mose sehen wir ein solches Zurüstungsleiden, sondern auch bei anderen Gottesmenschen. Denken wir nur an Paulus. Die Gefangensetzung des Apostels Paulus war auch ein solches Zurüstungsleiden. Wie viele Gebete um seine Freilassung mögen wohl zu Gott aufgestiegen sein, und doch blieb der Apostel im Kerker und mußte nach Rom. Damals verstanden die Gemeinden den Weg Gottes wohl nicht; heute sehen wir mit Staunen Gottes Wunderwege. Dieser große Apostel mußte langsam von den Gemeinden gelöst werden, ehe ihn Gott in die Ewigkeit berief. Aber Paulus war ja noch da und schrieb nun Briefe voll Geist und Leben, durch die die Gemeinden Jesu zu allen Zeiten und unter allen Nationen gestärkt, erquickt und geführt werden sollten. Von den 21 Briefen des Neuen Testaments sind 13 von Paulus, und der Hebräerbrief, dessen Schreiber man nicht genau kennt, seinem Inhalt nach ebenfalls. Gott rüstete Paulus zu, ein Werkzeug für die Gesamtheit aller Gemeinden von Pfingsten bis zur Entrückung zu sein. Deshalb mußte er schweres Zurüstungsleiden durchmachen. Heute preisen wir Gott dafür. Und wie wird der große Apostel einmal in der Ewigkeit Gott noch danken, wenn er dann sieht, welch ein unaussprechlicher Segen durch seine Gefangenschaft ausgelöst worden ist. Lernen wir daraus!

Auch heute müssen Kinder Gottes immer wieder durch Zurüstungsleiden hindurchgehen, oft ohne daß sie wissen warum. Wir sollten viel mehr auf solche Zurüstungen achten. So wurde Spurgeon einst zugerüstet, einem verzweifelten Manne zu dienen. Der berühmte Prediger stand einst tagelang unter schwerstem Druck im Gemüt. Er bekam die ganze Woche hindurch keinen anderen Text als Matth. 27, 46: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Spurgeon wehrte sich bis zum Samstagabend gegen diesen Text und wollte nicht darüber predigen. Schließlich sagte er seinem Herrn: „Wenn du mir denn keine Freudigkeit zu einem anderen Gotteswort schenkst, werde ich morgen in dem Gefühl meiner ganzen Verlassenheit über diesen Text predigen“. Und er tat es in einer erschütternden Weise. Nach dem Gottesdienst kam ein Mann zu ihm, der erklärte: „Herr Spurgeon, Sie sind der einzige Mensch in der weiten Welt, der mich versteht. Ihnen ergeht es ja ganz genau so wie mir! Ich war im Begriff, mich von der Themsbrücke hinabzustürzen und mir das Leben zu nehmen. Da sagte eine Stimme zu mir, ich solle erst noch einmal Sie hören. Und nun helfen Sie mir!“ Spurgeon konnte diesen Mann zu Christus führen und so retter einer Seele werden. Und gewiß hat er anderen auch dienen müssen. Zurüstungsleiden!
In irgendeiner Weise erleben das wohl alle Gotteskinder. Viel öfter, als wir es denken, führt uns Gott durch Zurüstungsleiden. Wir sollen die gleiche Not wie unsere Mitmenschen durchmachen, damit wir ihnen in Liebe, Geduld, Barmherzigkeit und dem rechten Verständnis dienen können. Das führt dann zu ihrer Errettung, Förderung und Zubereitung für Gottes ewiges Reich. Im Himmel wird noch viel offenbar werden, was wir hier auf Erden nicht erkennen konnten.
Richten wir unseren Blick auf den Herrn Jesus Christus. Seine Menschwerdung, Sein sündloser Gehorsam Seinem Vater gegenüber, Sein bitteres Leiden und Sterben waren doch schließlich Zurüstungsleiden im höchsten Maßstab. Er wurde durch Leiden vollendet, damit Er Verständnis für uns hätte und ein treuer Hoherpriester würde, der da barmherzig wäre und uns helfen könnte (Hebr. 2, 18; 4, 15). Jesu Leiden und Sterben war nicht mehr Zurüstung für seine höchste Aufgabe, sondern ihre Erfüllung.

Das Bewahrungsleiden des Abraham

Abraham hatte seine Heimat nach dem Befehl Gottes verlassen und auch seinen Neffen Lot mitgenommen. Bald zeigte es sich aber, daß ihm durch Lot manches Leid zugefügt wurde. Zwischen den Hirten Abrahams und den Hirten Lots war oft Streit, was dem friedliebenden Abraham weh tat (1. Mose 13, 5-7). Dazu kam, daß Lot ein selbstsüchtiger Mann war. Als Abraham ihm die Wahl zur Rechten oder zur Linken freistellte, hob Lot seine Augen auf und erwählte sich das überall wohlbewässerte Land am Jordan, das wie ein Garten Gottes vor ihm lag. Abraham konnte dann ja mit dem weniger guten Lande zufrieden sein. Dadurch wurden dem friedliebenden Manne Leiden verursacht.

Aber wir sehen später, daß Lot in seiner Selbstsucht einen Fehlgriff getan hatte. Die Einwohner von Sodom waren böse Leute und arge Sünder gegen den Herrn (1. Mose 13, 13). Ihre Sittenlosigkeit wird uns 1. Mose 19 näher geschildert; sie trieben widernatürliche Unzucht, so daß Lot in ihrer Mitte sehr zu leiden hatte (2. Petri 2, 6-8). Es kommt eines Tages das Gericht Gottes über Sodom und Gomorrha. Zunächst wird es bei einem Kriege ausgeplündert und auch Lot samt seinem Hab und Gut mitgenommen, aber durch Abraham wieder befreit (1. Mose 14, 1-16). Später aber geht Sodom und Gomorrha im Feuer- und Schwefelregen unter; Lot verliert dabei alles, und seine Frau wird vom Gericht ereilt; mit seinen beiden Töchtern wird er wie ein Scheit aus brennendem Feuer herausgerettet. Dazu kommt noch das sündhafte Verhalten der beiden Töchter (1.Mose 19). So endete die schlaue und selbstsüchtige Entschließung Lots!

Wie mag Abraham später sein Leben gesegnet haben, denn alle Schläge, die Lot hinnehmen mußte, blieben ihm erspart. Ihn quälte nicht die gemeine Lasterhaftigkeit der Sodomiter, er brauchte nicht zu leiden wie sein Neffe Lot. Abraham wurde nicht im Kriegsgeschehen ausgeplündert, ja, er konnte sogar seinen Neffen siegreich befreien. Abrahams Besitz blieb ihm im fremden Lande erhalten. Er und seine Frau brauchten nicht die Schrecknisse eines Untergangs, wie Lot ihn in Sodom durchmachte, zu erkleben. Schließlich löste Gott Seine Zusagen ein; dem Abraham wurde der Sohn der Verheißung geboren, über den die Linie zur Volkwerdung Israels führte, woraus uns dann der Erlöser geschenkt wurde. So wurde Abraham ein Segen für alle Völker, während Lot ihm gegenüber bedeutungslos blieb.

Dieses Bewahrungsleiden Abrahams ist ein Abbild vieler ähnlicher Fälle, in denen Gott uns auch durch Leiden hindurchgehen läßt, um uns vor Schlimmerem zu bewahren. So wurde einem Prediger B. einmal kurz vor Antritt einer Reise sein Koffer gestohlen. Welche Not, als der D-Zug abfuhr, und unser Bruder mußte zurückbleiben, so daß er nicht rechtzeitig ans Ziel kam. Wenig später erhielt er seinen Koffer zurück, aber – der D-Zug verunglückte, wobei auch Menschen ums Leben kamen. Gott hatte unseren Bruder mindestens vor einem großen Schrecken bewahrt. – – Ich selbst habe in meinem Leben verschiedene Male solche Bewahrungsleiden erlebt und habe rückblickend mit tiefem Dank Gott preisen müssen, daß Er in Seiner Weisheit alles so herrlich hinausgeführt hat.
So mußte ich aus Krankheitsgründen einmal drei Monate in der Schule aussetzen, blieb dadurch ein Jahr zurück und meldete mich zu Beginn des ersten Weltkrieges nicht freiwillig, wie es alle meine Kameraden taten. Keiner von meinen Klassenkameraden ist wieder zurückgekehrt. Gemeinsam waren sie in dieselbe Truppengattung eingetreten, gemeinsam nach Ypern ausgerückt, und alle sind in den schweren Kämpfen dort auf dem Schlachtfeld geblieben. So wurde mir meine Krankheit und mein Zurückbleiben in der Schule ein Bewahrungsleiden. Zunächst litt ich unter diesen für mich unangenehmen Tatsachen, aber später erkannte ich, daß es mir zur Bewahrung gedient hat.

Das Ermüdungsleiden des Elia

Elia ist eine gewaltige Prophetengestalt. Er ist geradezu eine Lust, seine Lebensgeschichte in den Kapiteln 1. Könige 17 bis 2. Könige 2 zu lesen. Herrliche Gotteserfahrungen hatte er in seinem Leben gesammelt. Gewiß hatte er schon vor seinem öffentlichen Auftreten seinen Gott mannigfaltig erlebt. Was uns von ihm mitgeteilt wird, macht es verständlich, daß er neben Mose mit Jesus zusammen auf dem Verklärungsberg stand. (Matth. 17, 3). Elia führt das Gericht der Regenlosigkeit über das götzendienerische Volk herbei; er selbst wird am Bache Krith von Raben ernährt und später von der Witwe zu Zarpath, bei der in schwerer Teuerung das Mehl im Kasten und das Öl im Kruge nicht ausgeht. Den verstorbenen Sohn jener Witwe erweckt der Prophet mit glaubensmächtigem Gebet zum Leben. Auf dem Karmel führt er das gewaltige Gottesurteil über die Götzenpriester herbei, indem Feuer vom Himmel fällt und das Opfer verzehrt, so daß das gesamte Volk ausruft: „Der Herr ist Gott!“
Rauschenden Regen betet er nach dreieinhalbjähriger Trockenheit herbei und läuft über 30 km vor Ahabs Wagen einher bis nach Jesreel. Welch eine kraftvolle, herrliche Prophetengestalt!

Kann es bei einem solchen Glaubensmann eigentlich zu einem Ermüdungsleiden kommen? Wir möchten mit einem Nein antworten, und doch werden wir sehen, daß es der Fall ist. Leib und Seele sind so innig miteinander verbunden, daß leibliche Schmerzen auf die Seele zurückwirken und umgekehrt seelische Erlebnisse den Leib beeinflussen. Schon Zahnschmerzen können die Seele derartig niederdrücken, daß ein Mensch an nichts anderem Interesse mehr bekundet. Umgekehrt können Sorge, Angst, Kummer Herzeleid, Schreck und Scham das körperliche Befinden beeinflussen. Das Erblassen bei Schreck und das Erröten bei Scham weisen ja darauf hin, daß seelische Vorgänge auf den Herzmuskel wirken und so sichtbar werden. Deshalb ist ein fröhliches Herz wirklich die beste Medizin für den Leib. Alle Pillen, Spritzen, Bäder und Bestrahlungen vermögen das nicht auszurichten was ein fröhliches Herz bewirkt.
So ist das Ermüdungsleiden des Elia, von dem wir jetzt reden, als leibliche Nachwirkung gewaltiger Seelenspannungen zu erklären. Der Prophet stand als Held den achthundertundfünfzig heidnischen Priestern samt dem gottlosen König und dem götzendienerischen Volke gegenüber. Welche inneren Erregungen mußte Elia allein schon bei den Vorbereitungen für die Volksversammlung auf dem Karmel durchmachen! Und dann erst, als er schließlich der gottentfremdeten Menge entgegentrat. Was für ungeheure Spannungen, bis das Feuer vom Himmel fiel und der rauschende Regen niederging! Das alles müssen wir recht erwägen, wenn wir ihn unter dem Ginsterstrauch in der Wüste verstehen wollen.

Wie ein unerschrockener Held steht Elia vor der Volksmasse. Als er aber dann die drohende Botschaft der gottlosen Königin Isebel erfährt, die ihm sagen läßt, sie würde ihn bis zum nächsten Tag umbringen lassen, da bricht dieser große Glaubensmann zusammen und flieht aus Furcht in die Wüste, setzt sich unter einen Ginsterstrauch und betet: „Es ist genug! So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; ich bin nicht besser als meine Väter.“ Elia will nicht mehr leben, so niedergeschlagen ist er jetzt nach dem großen Gottessieg auf dem Karmel. Eine tiefe Mutlosigkeit hat ihn ergriffen. Sie ist die Nachwirkung der erlebten fast übermenschlichen seelischen Spannungen.

Und was tat Gott? Er gibt dem ermüdeten Knecht Schlaf, reicht ihm dann durch einen Engel eine kräftige Kost dar, läßt ihn nochmals in langem Schlaf Erquickung finden, und – – Elia ist wiederhergestellt. Sein Ermüdungsleiden ist vorüber; er bekommt von seinem Gott neue Aufträge, wandert in der Kraft Gottes 40 Tage lang bis an den Berg Gottes Horeb, erlebt dort eine einzigartige Gottesoffenbarung und fährt am Ende seines Lebens in einem feurigen Wagen gen Himmel. Wie gut, daß Gott sein Gebet um Hinwegnahme damals nicht erhörte! Hätte Er das getan, wären Elia wunderbare Erlebnisse und der Triumph der Himmelfahrt nicht zuteil geworden! So wurde sein Erleben eine Mahnung für uns, in Ermüdungsleiden nicht rasch zu verzagen.

Jedenfalls müssen wir wissen, daß es Ermüdungsleiden gibt und daß auch wir nach großen seelischen Spannungen einem solchen verfallen können. Deshalb ist es weise, wenn wir rechtzeitig dafür sorgen, daß unser Leib seine nötige Ruhe, Stille und Erholung bekommt, um neue Kraft sammeln zu können. Finden wir Menschen, die „mit ihren Nerven herunter“ sind und keine Freude mehr am Leben haben, sollten wir immer die Ursachen solcher Niedergeschlagenheit feststellen. In vielen Fällen wird es die Sünde sein, die Menschen in diesen Zustand hineingebracht hat. Oft ist aber auch Überarbeitzung daran schuld. Einem solchen abgearbeiteten Menschen können wir keinen besseren Dienst erweisen, als dafür zu sorgen, daß er eine Erholungsmöglichkeit erlangt und vor allem mit seinem Gott in Ordnung kommt. Rasch werden wir es dann erleben, daß Niedergeschlagenheit und Lebensunlust wieder schwinden und neue Freude und neuer Mut einkehren.

Das Rechtfertigungsleiden des Hiob

Wir sahen bis jetzt, daß das Leiden recht verschiedene Ursachen und Zwecke haben kann. Es kann über uns als eine Strafe verhängt werden. Es mag für uns als Demütigung zur Erhaltung unserer Fruchtbarkeit dienen. Es wird uns hin und wieder zum Zurüsten helfen, damit wir anderen recht dienen können. Es muß uns sogar zur Bewahrung gereichen, wenn es Gott in Seiner Weisheit so führt. Es ist möglich, daß es eine Folge außergewöhnlicher Seelenspannungen darstellt. Bei allen diesen besprochenen Leidensformen geht es um mich selbst o. um meine Mitmenschen, denen ich dienen soll. Beim Rechtfertigungsleiden des Hiob haben wir es aber mit einer ganz anderen Leidensform zu tun; da geht es nicht um Menschen, sondern um Gott und die Engelwelt.

Hiob genoß außergewöhnliches Glück. Er hatte sieben Söhne und drei Töchter. 7000 Stück Kleinvieh, 3000 Kamele, 500 Joch (also 1000) Rinder und 500 Eselinnen nannte er sein eigen. Dazu hatte er ein sehr zahlreiches Gesinde. Und was mehr war als dieser äußere Besitz: Er hatte ein ungetrübtes Verhältnis zu seinem Gott. Das lesen wir in Hiob 1, 1-5.

Da kam es plötzlich zu einer völligen Vernichtung seines gesamten äußeren Glücks. Während er sich noch mitten in seinem Wohlstand befand, war schon im Himmel beschlossenworden, daß Hiob alles genommen werden sollte. Und so kam es nun auch. Die Sabäer rauben ihm seine 1000 Rinder und 500 Eselinnen. Feuer fällt vom Himmel und verzehrt seine 7000 Stück Kleinvieh. Die Chaldäer fallen ein und nehmen seine 3000 Kamele mit. Und was am schlimmsten ist: Ein Sturmwind zerstört sein Haus, in dem seine zehn Kinder weilen, und wirft es auf sie, daß sie sterben (Hiob 1, 6-19). Dazu kommt dann, daß Hiob selbst von bösen Geschwüren am ganzen Körper befallen wird, daß seine Frau ihm dabei keine Stütze wird, sondern ihn noch zu veranlassen sucht, seine Frömmigkeit aufzugeben, und daß seine besten Freunde in seinem Leben nach schwerer Sünde suchen (Hiob 2).
Hiob wird ein glänzendes Zeugnis seiner Frömmigkeit ausgestellt: „Er war war schlicht und recht, gottesfürchtig und mied das Böse“ (1,1). Und auch nach schweren Schicksalsschlägen ändert er seine Gesinnung nicht, denn es heißt von ihm: „ . . . und fiel auf die Erde und betete an und sprach: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt! In diesem allem sündigte Hiob nicht und tat nichts Törichtes wider Gott“ (1,20-22).

Und als seine Frau ihn mitten in seinem großen Schmerz verführen will zur Gottlosigkeit, sagt er: „Du redest, wie die närrischen Weiber reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“. „In diesem allem versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen“ (2, 10). Also ein tadelloser Mann muß hier durch unbeschreiblich tiefes Leid hindurchgehen. Was soll das bedeuten?

Hiob leidet um Gottes und der Engelwelt willen. Sein Leiden ist ein Rechtfertigungsleiden. Er soll den Beweis erbringen, daß Gott Menschen auf Erden hat, die Ihm nicht um Seiner Gaben willen anhängen, sondern um Seiner selbst willen. Satan hatte vor den Gottessöhnen erklärt, Gott hätte niemand auf Erden, der Ihn wirklich um Seiner selbst willen liebe. Da entschließt sich der Allmächtige, einen Seiner treuesten Knechte in ein schweres Leiden hineinzuführen, damit auf diese Weise erwiesen würde, daß Gott doch Menschen auf Erden hat, die unter allen Umständen an Ihm festhalten. Diesen Beweis muß Hiob vor der Engelwelt antreten. Gott will eben „Reinkulturen der Frömmigkeit“ haben. Er kann es nicht zugeben, daß Gottesfurcht und Frömmigkeit zu einem Handelsartikel herabgewürdigt werden. Wenn Gott es allen Frommen gut, aber allen Gottlosen schlecht ergehen ließe, wollten schließlich alle Menschen fromm werden, damit es ihnen gut erginge. Nun aber vermischt Gott die Menschenlose so miteinander, daß neben einem Gottlosen, der im Glücke schwimmt, sich ein Gottesfürchtiger befindet, der durch Tiefen hindurchgehen muß, wie es ja auch im 73. Psalm zum Ausdruck gebracht wird, damit niemand um der Gaben und Geschenke willen fromm sei. Früher oder später müssen wir als Gotteskinder alle einmal den Beweis liefern, daß wir Gott wirklich um seiner selbst willen lieben und verehren und nicht nur um seiner Gaben willen. Du weißt nicht, was morgen geschehen kann, weil heute im Himmel etwas über dich beschlossen worden sein mag, von dem du noch nichts ahnst. Wir dürfen uns nicht von den augenblicklichen Umständen täuschen lassen.
Psalm 37, 37 bleibt bestehen: „Bleibe fromm und halte dich recht, denn solchen wird es zuletzt wohlergehen“. Und der 73. Psalm sagt uns in den Versen 16 und 17: „Ich dachte ihm nach, daß ich’s begreifen möchte; aber es war mir zu schwer, bis ich ging ins Heiligtum Gottes und merkte auf ihr Ende“: Wir wollen uns fest zu Gott halten, auch wenn es einmal durch Tiefen geht. So gewiß nach Sturm die Windesstille und nach Regen der Sonnenschein wiederkommt, so gewiß ändern sich die schweren Verhältnisse unter Gottes Segenshänden zum Guten.

Wenn ich von meinen vielen Reisen nach Hause zurückkehrte, hatte ich für meine Kinder in der Regel ein kleines Geschenk, um ihnen eine Freude zu machen. Mit der Zeit waren sie daran gewöhnt und fragten darum meist nach meiner Rückkehr, was ich ihnen denn Schönes mitgebracht hätte. Eines Tages nahm ich mir vor, ihnen nichts mitzubringen, um zu sehen, ob sie sich wirklich über meine Heimkehr freuten. Als ich zur Tür eingetreten war, kam richtig wieder die Frage: „Vati, hast du uns auch etwas Schönes mitgebracht?“ Ich erklärte: „Ja, etwas ganz Feines!“ „O, was denn?“ „Ich habe euch heute viele Küsse mitgebracht!“ „Ach, nur Küsse“, sagte enttäuscht ein Töchterchen. Aber eine andere äußerte sich „Wie kannst du nur so etwas sagen? Ist es nicht das Schönste, daß unser Papa wieder da ist?“ – Wir lieben Gott nicht um Seiner Gaben, sondern um Seiner selbst willen, wenn wir uns auch über Seine Gaben freuen und Ihm herzlich dafür danken. Ist es anders, dann ist Er betrübt über unsere Gesinnung.

Das Läuterungs- und Erziehungsleiden der Kinder Gottes

In der Heiligen Schrift wird die Tatsache des Läuterungs- und Erziehungsleiden klar ausgesprochen, besonders deutlich Hebr. 12, 4 -11. Es wird dort ein Zitat aus Sprüche 3, 11 aufgenommen und verwertet. Von einer Züchtigung des Herrn, von einer Heimsuchung durch Leiden und von Züchtigung eines jeden angenommenen Sohnes wird dort gesprochen. Auch der Zweck solcher von Gott vorgenommener Handlungen wird angegeben (V. 7-10): Erziehung, Verfahren wie mit Kindern, Zucht.
Unsere eigene Erfahrung als Gotteskinder bestätigt die Wahrheit des Schriftzeugnisses. Im Laufe vieler Jahre ist mir folgendes Gesetz klar geworden: Segnungen und Demütigungen wechseln im rechten Verhältrnis miteinander ab, damit wir vor Verzagtheit und vor Hochmut bewahrt werden und somit unsere Fruchtbarkeit erhalten bleibt. Das sind auch die Erfahrungen vieler Brüder und Schwestern, so daß wir uns gegenseitig im Läuterungs- und Erziehungsleiden trösten und ermuntern können.
Dieses Leiden birgt einen großen Segen in sich.

Es dient uns zur Erziehung.
Erziehung hängt mit „ziehen“ zusammen. Ein Bäumchen zieht man, damit es recht wachse. Erziehung hat es mit Bildung und Gestaltung zu tun. Das, was mit dem Ton in der Hand des Töpfers geschieht, das geht mit uns in der Hand Gottes vor; Er gestaltet uns. – Das, was sich die Reben durch das Winzermesser des Weingärtners gefallen lassen müssen, nämlich die Reinigung zum Fruchtbringen, das bewirkt das Leid im Leben der Kinder Gottes. – – Das, was das Feuer des Schmelztiegels für das Gold und Silber bedeutet, nämlich, daß es die Schlacken vom Edelmetall scheidet und es lauter und unvermischt hervorgehen läßt, das ist das Leid im Leben der Gläubigen, sie sollen tadellos hervorgehen. – Das, was der Schleifstein für den Edelstein ist, – seine ganze Herrlichkeit und Schönheit soll im Lichte offenbar werden – das ist das von Gott uns geschickte Leid; es schafft Herrlichkeit.

Es dient uns zum Leben.
Leben ist das Gegenteil von Tod. Tod ist etwas Grauenhaftes, Leben etwas Wunderbarers. Leben, Licht, Wärme, Kraft, Bewegung liegen auf einer Linie, Tod, Nacht, Kälte Ohnmacht, Starre auf der anderen. Wenn das Leid Leben schafft, so erlöst es uns also aus finsteren Erstarrungszuständen, macht uns beweglich und brauchbar für den Dienst am Menschen.

Es bewirkt unser wahres Bestes, die Heiligkeit Gottes.
Es geht also nicht nur um bloße Erdenbelange, sondern um ewige Frucht. Ohne Heiligkeit, die das Ziel der Heiligung ist, wird niemand Gott schauen. Wer möchte da das Leid missen, wenn es so hochbedeutsam für die Ewigkeit ist? Wir können unsere Vollendung gar nicht ohne Leid erreichen. Selbst Jesus ging diesen Weg nach Hebr. 2, 10.

Es bewirkt eine friedevolle Frucht, nämlich die Gerechtigkeit
Ohne Läuterungs- und Erziehungsleiden gibt es also in unserem Leben keine Gerechtigkeit und keinen Frieden. Eigenartig! Das Leid treibt uns in die Arme Gottes zu unserem Heiland, durch den wir allein Vergebung, Frieden und Freude erlangen können. Es übernimmt die Aufgabe eines Schäferhundes, der die Schafe zum Hirten treibt. Wo würden die Menschen hingelangen, wenn ihnen alles nach Wunsch ginge und sie niemals durch Leid zur inneren Einkehr unde Umkehr genötigt würden?

Wie sollen wir uns in solchem Leide verhalten?
Das erfahren wir Hebr. 12, 4-11.
Vergiß Gottes Mahnwort nicht!
Wer gläubig ist und im Worte Gottes lebt, der wird nie im Murren und Zweifeln verharren können. Er kennt ja den Ewigen als seinen Vater, der es nur gut mit ihm meinen kann. Und aus Gottes Wort bekommt er gesunde Unterweisung und Halt. Das Leid soll aufmerken lassen auf Gottes Stimme.

Halte geduldig aus, um dich erziehen zu lassen.
Wörtlich: Bleibe unter der Züchtigung! Darunterbleiben und aushalten, nicht fortlaufen und abschütteln! Wir sollen eine Lektion lernen, die uns nützlich ist, zu dem Zweck hat uns Gott heimgesucht. Je schneller wir sie gelernt haben, desto rascher geht es nach bestandenem Examen weiter. Lernen wir sie nicht, so bleiben wir sitzen und müssen wieder von vorne anfangen, was noch schmerzlicher ist.

Unterwirf dich dem Vater der Geister!
Gedenke daran, Gottes Weg ist heilig. Er macht keine Fehler. Er führt uns zum herrlichen Ziel. Deshalb sollen wir willige Unterwerfung zeigen. Vater und Kind sind ein mattes Abbild für Gott und die Seinen. Ein Vater ist klüger als das Kind. Seine Gedanken und Pläne könnten einmal ganz anders sein als die des Kindes. Dennoch tut das Kind wohl, wenn es willig sich dem Vater unterordnet. Ein irdischer Vater könnte immer noch irrren, aber der himmlische Vater gewiß nicht.
„Aber hernach!“
Das hat Jesus in Joh. 13, 7 dem Petrus gesagt: „Was Ich tue, das weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren.“ Wir müssen es fest im Auge behalten. Und Hebr. 12, 11 heißt es: „Alle Züchtigung aber, wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aber danach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt sind.“ „Aber hernach!“ Diese beiden Wörtchen sollte man malen, meißeln, mit goldener Seide auf roten Samt sticken. Sie gehören zur Sprache des Glaubens, der etwas von Läuterung, Erziehung, Ausreifung, Verklärung und Vollendung weiß und damit nicht dem Augenblick lebt, sondern sein Auge auf die Zukunft und aufs Ziel lenkt.
Laß dich deshalb üben!
Üben, Lernen, darum geht es in der Schule des Lebens. Herrlich ist die Frucht, die daraus erwächst. Ohne Fleiß kein Preis, das gilt auch hier. Darum wollen wir dankbar sein für alle Übungen, die der Vater im Himmel mit uns vornimmt.

Das Stellvertretungsleiden Jesu Christi und der Seinen

Wir stehen im Leide nicht einsam und verlassen da. Einer versteht uns gewiß, denn Er ist durch die größten Leidenstiefen freiwillig hindurchgegangen, nämlich unser Herr und Heiland Jesus Christus. Schau hin aufs Kreuz von Golgatha! Sieh dir den Mann der Schmerzen an, wie Er die Dornenkrone trägt und wie Ihm die Hände und Füße durchbohrt sind! Werde stille im Gedenken an den der für dich gestorbenen und auferstandenen Erlöser. Er nahm auf Sich unsere Sünden und unsere Leiden (Jesaja 53). Er hat durch Sein Leiden alles Leid in der Welt verklärt und geheiligt. Und aus Seinem Leben ersehen wir, daß auf das Leid die Herrlichkeit, auf das Kreuz die Krone, auf die Erniedrigung die Erhöhung gefolgt ist.
Und auch der Apopstel Paulus spricht von diesem stellvertretenden Leiden, wenn er Kol. 1, 24 schreibt: „Jetzt freue ich mich meiner Leiden für euch und trage das, was an den Trübsalen Christi noch fehlt, an meinem Fleisch für Seinen Leib ab, nämlich für die Gemeinde“. Und 2, 1: „Ich möchte euch nämlich wissen lassen, welch schweren Kampf ich für euch und die Laodizener und für alle, denen ich bis jetzt persönlich noch unbekannt bin, zu bestehen habe.“
Petrus denkt nicht anders, denn wir lesen in 1. Petri 2, 20: „Denn was ist das für ein Ruhm, wenn ihr geduldig aushaltet, wo ihr trotz eures guten Verhaltens leiden müßt, das ist wohlgefällig bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen, weil auch Christus für euch gelitten und euch dadurch ein Vorbild hinterlassen hat, damit ihr in Seine Fußstapfen tretet.“
Und in 1. Petr. 3, 17 schlägt der Apostel diesselben Töne an: „Es ist doch besser, wenn Gottes Wille es so fügt, für Gutestun zu leiden als für Bösestun. Denn auch Christus ist einmal für uns um der Sünden willen gestorben, ein Gerechter für Ungerechte, um uns zu Gott zu führen. . . „
Paulus und Petrus bringen das Leiden also in Beziehung zu Christus als dem Haupt zu einer Einheit verbunden ist und die Zellen Seines Leibes hier auf Erden den Haß der Welt und damit Leiden zu ertragen haben, kann Paulus von den Trübsalen Christi reden, die noch fehlen. Diese Trübsale werden erst aufhören, wenn der Herr Seine Gemeinde aus dieser Welt zu sich genommen hat. Insofern wir diese Leiden willig auf uns nehmen, wirken wir in der Gesinnung Jesu mit an der Erlösung der Menschen, denn ohne Opfer kommen andere Menschen nicht zu Christus und Seinem wunderbaren Heil.

Bedeutsam sind in dieser Hinsicht zwei Stellen des Hebräerbriefes, die uns noch einen tiefen Einblick in das stellvertrtende Leiden unseres Heilandes tun lassen. Hebr. 2, 17-18 lesen wir. „Deshalb mußte Er auch in allen Stücken Seinen Brüdern gleichgemacht werden, um barmherzig sein zu können und ein treuer Hoherpriester Gott gegenüber zur Sühnung der Sünden des Volkes. Denn eben deshalb, weil er selbst Versuchung erlitten hat, vermag Er denen zu helfen, die versucht werden.“
Und Hebr. 4, 15-16: „Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitgefühl mit unseren Schwachheiten haben könnte, sondern einen solchen, der in allen Stücken ebenso wie wir versucht worden ist, nur ohne Sünde. So wollen wir denn mit freudiger Zuversicht zum Thron der Gnade hinzutreten, um Barmherzigkeit zu erlangen und Gnade zu finden zu rechtzeitiger Hilfe.“
Was sind das für köstliche Worte! Wie Balsam wirken sie auf das wunde Herz und stellen das Leid mit letzter Sinngebung ins helle Licht der Ewigkeit.

Wir als Jünger müssen durch ähnliche Leiden hindurchgehen wie unser göttlicher Meister. Wir wollen, daß andere den Weg zu Christus finden, werden aber von ihnen nicht verstanden, sondern im Gegenteil verlacht, verspottet und verfolgt. Ja, manche haben im Laufe der Jahrhunderte ihr Leben um Jesu willen lassen müssen. In allen solchen Fällen müssen wir um Jesu willen still leiden, damit unsere Mitmenschen durch unser liebevolles Leiden überwunden und zu Christus gebracht werden. Das ist aber stellvertretendes Leiden. Selig ist, wer vom Herrn gewürdigt wird, ein solches Leiden auf sich zu nehmen, und wer dann die Gnade hat, es geduldig zu tragen. Es wird herrliche Frucht zeitigen. Wertvoll ist es, hier noch 1.Petri 4, 1-4. 12-18 zu lesen, besonders aber Vers 14: „Wenn ihr um des Namens Christi willen geschmäht werdet, so seid ihr selig zu preisen; denn der Geist der Herrlichkeit und Kraft, der Geist Gottes, ruht auf euch“.

Mitten in Angst Erquickung

„Wenn ich zu Dir rufe, erhörst Du mich und gibst meiner Seele große Kraft. – – Wenn ich mitten in der Angst wandle, erquickst Du mich“ (Psalm 138, 3 u. 7). Jesus Christus spricht: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, Ich habe die Welt überwunden“ (Joh. 16, 33).
David hat in seinem Leben viele Ängste durchstanden; er redet aus Erfahrung, wenn er vom Wandeln mitten in Angst spricht. Angst kommt von eng; wer Angst hat, dem wird es eng ums Herz. Es mag jemand im Kampfe von einer Seite bedrängt werden, aber noch Rückendeckung haben, das geht immer noch an. Schlimm ist es aber, wenn einer von allen Seiten bedrängt wird. „Mitten in Angst“ zu sein, erlebte David, weil er zeitweise wirklich von allen Seiten bedrängt worden ist. Das Wörtchen „wandeln“ weist dann noch darauf hin, daß dieser Zustand nicht rasch vorüber war, sondern längere Zeit hindurch angehalten hat.

Wie wurde David in diesen schweren Zeiten fertig? Er setzte sein Vertrauen auf den ewigen Gott und Seine mächtige Hilfe. Er blickte von seinem ängstlichen Ich weg auf das große Du seines Gottes, und dabei wurde er erquickt. Erquickung ist ein köstliches Wort. Wir haben im Deutschen nur noch wenige Wörter, die mit dem Stamm „quick“ zusammenhängen. Aber bei all diesen Wörtern sehen wir, daß es um Leben und Bewegung geht „Quickborn“ ist ein lebendiger Quell, wie er im Walde aus dem Felsen springt. Quecksilber“ ist kein Hartsilber, sondern ein lebendiges Silber, das auseinandergeht und wieder gesammelt werden kann. „Quecke“ heißt jenes Gras deshalb, weil es mit unverwüstlicher Lebenskraft wächst und kaum auszurotten ist. Erquickung hat es also im Gegensatz zur Angst mit Kraft, Leben, Bewegung zu tun. Wir reden von einem erquickenden Regen, einem erquickenden Trunk und einem erquickenden Schlaf und spüren in diesen Zusammensetzungen die Erfrischung, die der Pflanzenwelt und uns Menschen dabei zuteil wird. Im Englischen gibt es etwas 25 Wörter die mit „Quick“ zusammengesetzt sind und alle auf Kraft und Bewegung hinweisen, so wird der Flugsand der Wüste, die lebendige Hecke, der ungelöschte Kalk, der wilde Knabe mit quick wiedergegeben. Mitten in Angst und Leben!

Aber nicht nur der alttestramentliche Fromme wußte etwas von Angst zu sagen, sondern auch die Glieder des Neuen Bundes haben damit zu tun. Wenn es anders wäre, hätte unser Herr in Seinen Abschiedsreden nicht ausdrücklich darauf hingewiesen. Hier der gleiche Vorgang: Wenn wir nach dem Worte Jesu von unserem kleinen, armen, ängstlichen Ich auf Ihn hinwegblicken, werden wir wunderbar erquickt. Deshalb: Seid getrost, Ich habe die Welt überwunden!“
Inwiefern werden wir bei dem Blick auf Jesus erquickt? Es gibt Ängste, die aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart und aus der Zukunft zu uns kommen. Und in jedem Falle ist es unser Herr Christus, der uns aus diesen Ängsten befreien kann.

Jesus Christus befreit uns aus der Angst der Vergangenheit
Es geht dabei um Sündenangst, die aus dem unreinen Herzen und bösen Gewissen kommt. Wie quälend kann diese Angst sein! Aus meinem eigenen Leben weiß ich von dieser Angst der Vergangenheit. Wir alle haben irgendwie und irgendwann gesündigt und dadurch ein böses Gewissen bekommen. Da ist Jesus Christus als der gekreuzigte Heiland das rechte Heilmittel für unseren Schaden. Wir können uns unsere Sünden ja nicht selbst vergeben, wir brauchen einen Erlöser, der die Vollmacht hat, es zu tun. Das kann nur der heilige Sohn Gottes sein, der ohne Sünde geblieben ist und in großem Erbarmen zu uns Menschenkindern gekommen ist, um uns zu erlösen. Schau hin nach Golgatha und vertaue dem Heiland der Welt, der auch für dich Sein Herzblut vergossen hat, und du wirst wunderbar erquickt werden. Die Angst der Vergangenheit muß schwinden, und göttliches Leben wird dir geschenkt werden.

Jesus Christus befreit auch aus der Angst der Gegenwart
Er kann es deshalb, weil er von den Toten auferstanden ist, alle Gewalt im Himmel und auf Erden empfangen hat und nie mehr stirbt. Wir haben einen lebendigen Heiland, zu dem wir mit allen unseren Nöten kommen können. Er hat das mitleidvollste Herz in der Welt und hilft allen ehrlichen, aufrichtigen Menschen so gern. Ängste können aus der Gegenwart plötzlich über uns kommen. Da ist Krankheit, Sorge, Not und Tod, die uns zu schaffen machen und oft schwere Ängste über uns bringen können. Wohin wollen wir da fliehen? Wer kann durchgreifend helfen? Wer kann auch von finsteren Mächten befreien? Jesus, Jesus, Jesus! Er hat die Vollmacht von Gott, Sünden zu vergeben, Krankheiten zu heilen und Dämonen auszutreiben. Wenn Er nur Glauben findet, dann geschehen Seine Wunder. Unsere Zeit ist so bodenlos ungläubig! Kein Wunder, daß der Herr sich nicht offenbart! Mache aus allem ein Gebet! Irgendwie wird der Herr Sich dir schon offenbaren, wenn es auch nicht immer so ist, wie du dir das gerade gedacht hast.

Jesus Christus befreit sogar aus der Angst der Zukunft.
Gibt es denn solche Angst? Sind die Menschen wirklich so töricht, daß sie sich um etwas ängstigen, was überhaupt noch gar nicht an sie herangekommen ist? O, durchaus! Die Erfahrung lehrt es, daß sehr viele Menschen von der Angst vor der Zukunft gequält werden. Eine Dame, die dauernd in solchen Ängsten schwebte, nahm den Rat eines Predigers in Anspruch. Er riet ihr, sich ein Heft zu kaufen und alle ihre Ängste, die sie vor der Zukunft hatte, hineinzuschreiben. Sie tat es, und nun wuchs erst recht ihre Not, denn jetzt hatte sie ja schwarz auf weiß vor sich, wovor sie sich fürchtete. Der kluge Mann hatte ihr aber auch geraten, von Zeit zu Zeit diese Aufzeichnungen durchzugehen und mit einem roten Stift auszustreichen, was nicht eingetroffen wäre. Bald stellte die Dame fest, daß weitaus die meisten Ängste völlig unbegründet gewesen waren. – Unser Herr kommt mit großer Kraft und Herrlichkeit wieder und wird dann sein ewiges herrliches Reich aufrichten. Wir erwarten als Seine Jünger Seine Wiederkunft, wissen, daß alles sich nach dem prophetischen Wort abspielen wird und daß wir Gottes Schutz genießen. Das macht uns sehr froh und vertreibt die Angst vor der Zukunft aus unseren Herzen. Wir haben es in der Vergangenheit erlebt, daß wir unserem Gott zuversichtlich vertrauen dürfen. Er wird kein anderer bis in die dunkle Zukunft sein. Wir sind getrost und erquickt.

Schließlich möchte ich noch ein Erlebnis mit einem achtjährigen Mädchen schildern, weil es mir für mein Glaubensleben eine Ermunterung geworden ist. In Weißwasser O=L. hielt ich zur Winterszeit 1928/29 in einer Bauernstube etwas außerhalb des Ortes eine Bibelstunde ab. Es lag viel Schnee. Ich war auf dem Wege zur Versammlung. Es war schon völlig dunkel. Hinter mir her lief ein kleines Mädchen wie ein verirrtes Hündchen. Ich drehte mich schließlich um und fragte das Kind: „Hast du Angst, daß du immer so hinter mir herläufst? Woher kommst du? Und wohin gehst du?“ Da wurde das Kind gesprächig und erzählte mir: „Meine Mutter liegt krank zu Hause im Bett. Ich habe meinem Vater das Essen bringen müssen. Ich sollte dann mit dem Omnibus wieder nach Hause fahren, als ich aber an die Haltestelle kam, war der Autobus schon weg. Und nun muß ich den Weg zu Fuß nach Hause gehen, und der Weg führt noch durch einen Wald, weil wir ganz weit draußen wohnen.“ Ich brachte nun das Kind selbst nach Hause. Als wir nun mitten in dem Walde waren, fragte ich das Kind an meiner Hand: „Sag’ mal, hast du nun gar keine Angst?“ Es erwiderte: „Nein. Ich habe gar keine Angst, denn ich fühle ja Ihre Hand!“ Wie Musik klang mir dieses Kinderwort im Ohr: „Ich habe gar keine Angst, ich fühle ja Ihre Hand!“ Mein Thema für den Abend war nämlich Psalm 138, 7: „Wenn ich mitten in Angst wandle, so erquickst Du mich!“ Gott hatte mir eine treffliche Illustration für meine Bibelstunde gegeben. – – Wenn wir voller Vertrauen an das Herz des großen Vaters im Himmel fliehen in aller Traurigkeit, Angst und Not, dann wird unser Herz bald jubeln: „Vater, ich habe gar keine Angst, denn ich fühle ja Deine Hand!“ Hast du schon die unsichtbare Hand deines himmlischen Vaters gespürt?
Man fühlt sich nie geborgener, als wenn man die liebe Hand dieses Vaters in Christo Jesu ergreift. Wie oft durfte ich sie in meinem Leben so deutlich spüren, als ob sie mich fühlbar ergriffen hätte. Unser Leben ist erst dann recht lebenswert, wenn wir die Hand des Vaters im Himmel fühlen. „Fürchte Dich nicht! Glaube nur!“ „Euer Herz erschrecke nicht. Vertaut auf Gott, und vertraut auf Mich!“ Ja, liebes Kind Gottes, vertraue nur deinem Gott und Heiland, und fliehe stetes im Gebet zu Ihm, Er wird dir alle Sorgenwolken verscheuchen, du wirst Seine unsichtbare, töstende Hand zu fühlen bekommen und fröhlich deinen Weg auch im finsteren Tal gehen können.
Hand, die nicht läßt, halte mich fest !


Nicht verzagen, sondern vertrauen; nicht klagen, sondern beten!

Viele kluge Menschen haben schon darüber nachgedacht, welches der Sinn des Lebens sei und welchen Wert eigentlich die Welt habe. Auch deutsche Philosophen haben sich darüber ausgelassen, sind aber zu ganz gegensätzlichen Schlüssen gekommen. Der Philosoph Leibniz, ein hervorragender Gelehrter, der auch Mathematiker, Physiker, Techniker, Jurist, politischer Schriftsteller und Sprachforscher gewesen ist (1646-1716) hat die bestehende Welt für die beste aller möglichen erklärt. Der Philosoph Schopenhauer dagegen hat sie als die miserabelste bezeichnet, die keinerlei Wert besitze. Wer von beiden hat recht? Beide nicht! Leibniz ist in seinem grenzenlosen Optimismus – es ist übrigens gut, wenn man einen kräftigen Schuß davon hat – zu weit gegangen. Wenn wir die Sünde und das Böse ausschalten, mag die Behauptung Leibniz’ richtig sein. Er muß die Welt immer mit einer rosigen Brille angesehen haben, denn er hat den Sündenfall mit all seinen furchtbaren Folgen wie Sünde, Krankheit und Tod nebst dem Strom von Tränen außer acht gelassen. Wir können uns die Welt sehr wohl viel besser vorstellen als sie ist. Schopenhauer wiederum ist in seinem finsteren Pessimismus viel zu weit gegangen, er muß immer eine schwarze Brille auf der Nase gehabt haben. Denn die Welt enthält wirklich so viel Herrliches und Schönes, daß man sie niemals als die miserabelste bezeichnen kann. Das könnte man nur dann tun, wenn man seine Augen eigensinnig und verbohrt immer nur auf die Bosheit, Ungerechtigkeit und Gemeinheit richten würde, die durch den Sündenfall in die Welt gekommen sind. Die Welt ist also in ihrem jetzigen Zustand weder die denkbar beste noch die denkbar schlechteste. So wie Tag und Nacht miteinander wechseln, ist es überhaupt auf dieser Erde. „Alles Sichtbare ist nur ein Gleichnis.“
Es ist schließlich ein gewaltiger Unterschied, ob ich in einer dunklen, kalten regnerischen und stürmischen Novembernacht meinen Weg allein durch einen unbekannten Wald finden soll, oder ob ich an einem leuchtenden, warmen, sonnigen Maitag inmitten herrlicher Blütenpracht an der Seite meiner Frau und meiner Kinder durch Gottes wunderbare Schöpfung wandern darf. In einer finsteren Nacht wären wir wohl alle geneigt auszurufen: „Wie grausig ist es doch in der Welt!“ An einem schönen Maientag sind wir vielleicht so freudig gestimmt, daß wir voller Entzücken rufen: „Kann es noch schöner auf der Welt werden?“

Durch den Wechsel von Tag und Nacht hat der Schöpfer die Erde mit ihrem Geschehen richtig symbolisiert. Noch einmal wird alles Sichtbare verändert werden und dann die ewige Welt erscheinen. (Hebr. 12, 26; Offb. 21, 1-5; 23-25). Dann wird es auch keine Nacht mehr geben, weil dann wirklich die denkbar beste Welt in unerschütterlicher Schönheit und Herrlichkeit da sein wird. Jetzt aber spüren wir noch den Riß im All; wir empfinden dauernd den Zwiespalt, den Satan verursacht hat.
Schauen wir uns die Schönheit der Erde an, die vielgestaltigen, fesselnden Formen und Farben nebst der unendlichen Lebensfülle der Tier- und Pflanzenwelt, vor allem aber die Krone der Schöpfung, den Menschen mit seinen Höhen, so möchten wir jubeln und jauchzen. Blicken wir dann aber hinein in die Leidensfülle dieser Welt, sehen wir den Strom von Blut und Tränen, betrachten wir den Menschen in seinen Tiefen, dann möchten wir laut aufweinen vor Schmerz und Traurigkeit.

Doch nur Geduld, liebes Herz. Unser Herr und Heiland spricht. „Fürchte dich nicht. Glaube nur!“ Und: „Euer Herz erschrecke nicht. Vertraut auf Gott und vertraut auf mich.“
Wenn wir auf unser vergangenes Leben zurückschauen, so müssen wir feststellen, daß Freud und Leid miteinander abwechseln wie Sonnenschein und Regen, wie Windstille und Sturm draußen in der Natur. Ich für meinen Teil möchte aber gleichzeitig feststellen, daß mir der gütige Gott in meinem Leben viel mehr Freud als Leid zugemessen hat. Jedenfalls wissen wir aus vielfacher Erfahrung der Vergangenheit, daß Freude und Leid miteinander wechseln und daß beides plötzlich kommen, aber ebenso rasch auch wieder gehen kann. Das soll uns demütig und zuversichtlich zu gleicher Zeit machen. Wenn heute die Sonne noch so hell scheint, morgen kann kann es schon anders sein; morgen kann es stürmen um dich her.
Während Hiob noch im Glücke schwamm, war schon im Himmel eine gewaltige Veränderung über sein Leben beschlossen worden, die an einem Tage sein ganzes irdisches Glück zerbrach. Nur Gott war ihm geblieben, mit Ihm aber alles. So könnte es uns auch einmal ergehen.
Diese Erkenntnis soll uns klein und demütig machen. Andererseits mag es heute stürmen, als wollte die Welt untergehen, und morgen – ist der lieblichste Sonnenschein. Denken wir nur an eigene Erfahrungen zurück. Diese Erkenntnis soll uns zuversichtlich stimmen, wenn wir auch augenblicklich durch noch so große Tiefen hindurch müssen. Eben waren wir noch tief niedergebeugt, da richtet der Herr uns schon wieder auf und läßt uns viel Gutes geschehen. Und wenn wir nun an die Zukunft denken, so werden wir aus den Erfahrungen der Vergangenheit schließen, daß wir sicherlich auch in den kommenden Tagen hin und wieder durch Gottes erzieherische Weisheit finstere Täler durchwandern müssen und schwere Stunden uns nicht völlig erspart bleiben werden. Für uns ist es wichtig, daß wir jederzeit gewappnet sind, wenn plötzlich Stürme über uns hereinbrechen.

Das geschah Jairus, als sein geliebtes zwölfjähriges Töchterchen krank wurde und starb. Der Herr rief ihm das töstliche Wort zu: „Fürchte dich nicht. Glaube nur!“ Er half dann in Seiner göttlichen Vollmacht so wunderbar, daß Er das Kind zum Leben erweckte und den Sturm im Herzen des Jairus in lachenden Sonnenschein verwandelte. (Das wird Er einmal völlig tun, wenn alles Erdenleid und auch der Tod beseitigt sein wird). Die Jünger standen am Gründonnerstag vor schwerstem Sturm, denn ihr geliebter Meister sollte durch den Kreuzestod von ihnen gerissen werden. Der Herr aber gab ihnen ein ermunterndes Wort mit auf diesen bitteren Weg: „Euer Herz erschrecke nicht. Vertraut auf Gott! Und vertraut auf mich!“ Und dann weist Er sie hin auf die himmlischen Wohnungen, in die sie einmal nach allem Erdenkampf einziehen sollen. Ja, diese Wissen macht uns stets froh, daß wir einen Herrn haben, der die Macht hat über Leben und Tod, der dem Tode die Macht genommen hat und nach Seiner Auferstehung von den Toten nie mehr stirbt. Und Er hat den Seinen ewiges Leben und himmlische Wohnungen zugesagt. Wir haben im Leben die Probe aufs Exempel gemacht, daß die Worte Jesu Geist, Leben und Wahrheit sind. Gewiß wird er auch all das einlösen, was Er verheißen und zugesagt hat, aber noch nicht erfüllt istt!

Wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf und nach jeder Nacht erstrahlt ein neuer Morgen!

Diese Klarheit bekam ich eines Nachts in Magdeburg, als ich die schwere der Zeit überdachte und noch unter dem Eindruck eines Terrorangriffes stand.
Alles Sichtbare ist ein Gleichnis für ewige, köstliche Wahrheit. Unser Gott hat die Welt so erschaffen, daß Natur- und Geistesgesetz übereinstimmen. Deshalb ist die ganze Welt ein großartiges Bilderbuch, wenn wir darin zu lesen verstehen. Sonne, Mond und Sterne, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Tag und Nacht, Stille und Sturm, Tier und Pflanze, Wald und Feld, Tau und Regen, Wolke und Nebel, Bach und Meer, Berg und Tal, Saat und Ernte: alles, alles redet eine vernehmliche und bedeutsame Sprache. Wohl dem, dem der Ewige das Ohr und das Herz hat öffnen können, so daß er in diesem Bilderbuch mit seiner unendlichen Fülle zu lesen versteht. Wir greifen heute nur ein wenig heraus und lassen eine zwiefache Wahrheit mit ihren erquickenden Trost auf uns wirken: Wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf; und nach jeder Nacht erstrahlt ein neuer Morgen.

Wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf.
Am hellen Tage kann man die Herrlichkeit und Pracht des Sternenhimmels nicht sehen. Die Sonner überstrahlt mit ihrem Glanze alles und gießt eine solche Fülle von Licht aus, daß uns nicht ein einziger Stern leuchtet. Aber achte darauf, wenn die Sonne im Westen versinkt. Es dauert gar nicht lange, da flimmert es hier und da auf. Wie oft haben wir als Kinder in der Dämmerung auf das erste Funkeln eines Sternes gewartet und dann gezählt, wie viele wir nach und nach, zunächst ganz schwach, dann aber immer stärker blitzen sahen. Die Astronomen unterscheiden ja Stern verschiedener Größe mit zwölf Abstufungen. Von den Fixsternen übertrifft der wunderbare Sirius im Süden sogar noch die Sterne erster Größe. Und ihn überstrahlen noch die Wandelsterne Venus und Jupiter. Zu allererst sehen wir meist in der Dämmerung die Venus, unseren bekannten Abendstern, der zeitweise auch Morgenstern sein kann. Und je nach der Größe der Sterne und der Klarheit des Wetters blitzen bei Einbruch der Dunkelheit immer mehr Sterne hervor, so daß wir schließlich in einer mondlosen und klaren Nacht staunend stillstehen vor all dieser fernen Pracht und mit tiefer Ehrfurcht den großen Schöpfer anbeten müssen. Diese herrliche Pracht des gestirnten Nachthimmels hätten wir aber nicht, wenn die Sonne ihr rosiges Licht immer erstrahlen ließe. Erst wenn sie untergeht, können wir die Sterne funkeln sehen.
Welch ein feines Gleichnis für unser geistliches Leben. Ja, wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf. Der große, ewige Gott hat in Seinem väterlichen Erbarmen durch die Propheten, durch Seinen Sohn Jesus Christus und dessen Apostel in mannigfacher Weise zu uns geredet. Wie viele köstliche Verheißungen hat Er uns geschenkt. Aber es ist wirklich so, daß wir in „guten Tagen“, wenn die Sonne uns scheint und alles nach Wunsch und Willen geht, diese Verheißungen Gottes nicht strahlen sehen. Erst wenn es dunkel um uns wird, fängt es an zu leuchten, und es tut sich vor uns eine Herrlichkeit auf, von der wir vorher gar keine Ahnung hatten.

Wir haben uns unserem Heiland für Zeit und Ewigkeit übergeben. Er ist unser größter Schatz, den wir mehr lieben als irgend etwas anderes in der Welt. Aber nicht alle denken so, wie wir Jesusjünger es tun. Im Gegenteil, viele verachten und verlachen den Glauben an den Sohn Gottes, durch den wir so reich und froh geworden sind. Sie hassen auch uns um Jesu und Seines Wortes willen. Es ergeht uns so, wie Jesus es Joh. 15, 18 gesagt hat. Nacht der Verfolgung umfängt uns. Sofort aber fangen die lieblichen Stern göttlicher Verheißungen an zu funkeln. Worte, die uns bisher völlig gleichgültig ließen, bekommen auf einmal Klang und Farbe. Aussprüche des Höchsten, die uns verschlossen und versiegelt waren, werden in unseren Herzen lebendig. So beginnt in der Nacht der Verfolgung etwas Joh. 15, 18 zu uns zu sprechen: „Wenn euch die Welt haßt, so wisset, daß sie Mich vor euch gehaßt hat. Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern Ich euch von der Welt erwählt habe, darum haßt euch die Welt.“

Welch ein heller Stern! Gerade in der Verfolgung kommt es uns besonders deutlich zum Bewußtsein, daß wir des Herrn sind. Oder Matth. 5, 10-12: „Selig sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihrer. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um Meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden. Denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.“
Wir müssen erst Verfolgung erleiden, um die Herrlichkeit dieses Jesuswortes verstehen zu lernen. In der Nacht leuchten die Sterne göttlicher Verheißungen auf. Oder 1. Petri 4, 12-14: „Ihr Lieben, laßt euch die Hitze, die euch begegnet, nicht befremden, als widerführe euch etwas Seltsames, sondern freuet euch, daß ihr mit Christo leidet, auf daß ihr auch zur Zeit der Offenbarung Seiner Herrlichkeit Freude und Wonne haben möget. Selig seid ihr, wenn ihr über den Namen Christi geschmäht werdet; denn der Geist, der ein Geist der Herrlichkeit und Gottes ist, ruht auf euch.“ Und viele andere Sterne göttlicher Verheißungen leuchten uns gerade in der Nacht der Verfolgung auf, deren Bedeutung wir sonst nie in unserem Inneren empfinden würden.

Wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf. Das ist auch so in der Nacht der Anfechtung.

Als Gotteskinder haben wir Vergebung der Sünden und Frieden mit Gott, haben die Gotteskindschaft und ewiges Leben empfangen. Satan, der Widersacher Gottes und unser größter Feind hat aber kein Gefallen daran, daß Gottesmenschen in der Freude und Kraft Gottes ihren Weg gehen. Er ficht uns an, und Gott läßt es zeitweise zu, damit wir nicht träge und gleichgültig werden und auch immer wieder unsere Ohnmacht und Abhängigkeit von unserem Heiland erkennen. Stunden kommen, in denen wir niedergeschlagen sind und Satan uns jagt wie ein Jäger das Wild. Wir möchten mit dem Psalmisten ausrufen. „Der Feind verfolgt meine Seele und schlägt sie zu Boden“ (Psalm 143, 3). Und wir beten. „Gib nicht dem Raubtier preis die Seele deiner Taube“ (Ps. 74, 19). Satan ficht uns an und will uns rauben, was Gott uns geschenkt hat.

Aber da leuchten auch schon die Sterne auf, die wir vorher gar nicht funkeln sahen. So Psalm 42, 6: „Was betrübst du dich, meine Seele, und stürmst so ruhelos in mir? Harre auf Gott, denn ich werde Ihm noch danken, daß Er mir hilft mit Seinem Angesicht.“ Oder Jesaja 28, 19: „Anfechtung lehrt aufs Wort merken.“ Oder Joh. 16, 22: „Und ihr habt auch nun Traurigkeit; aber Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ Oder Joh. 16, 33: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, Ich habe die Welt überwunden.“ Oder 1. Joh. 3, 20: „Daran erkennen wir, daß wir aus der Wahrheit sind, und können unser Herz vor Ihm damit stillen, daß, so uns unser Herz verdammt, Gott größer ist als unser Herz und weiß alle Dinge.“ Oder Phil. 1, 6: „Ich bin desselben in guter Zuversicht, daß, der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi.“ Und viele andere Sterne leuchten in der Nacht der Anfechtung auf, die unsere Seele mit ihrem lieblichen Schimmer stärken und erquicken.

Ja, wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf. Das gilt auch für die Nacht der Versuchung, durch die wir gelegentlich wandern müssen, damit wir auf unseren inneren Wert geprüft werden. Neue Stern leuchten uns auf. So Hebr. 2, 17-18: „Daher mußte Er in allen Dingen Seinen Brüder gleichwerden, auf daß Er barmherzig würde und ein treuer Hohepriester vor Gott, zu versöhnen die Sünden das Volkes. Denn worin Er gelitten hat und versucht ist, kann Er helfen denen, die versucht werden.“ Oder Matth. 4, 1. 4. 7.10: „Da ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, auf daß Er vom Teufel versucht würde. – – Er sprach: ‚Es steht geschrieben!’“ Oder 1. Kor. 10, 12-13: „Darum, wer sich läßt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle. Es hat euch noch noch keine denn menschliche Versuchung betreten; aber Gott ist treu, der euch nicht über euer Vermögen versuchen läßt, sondern macht, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihr’s ertragen könnt.“ Und mancher andere Stern erglänzt uns in dem Wort Gottes und zeigt uns den Weg zum Vater und seine Hilfe.

Wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf. Das gilt auch in der Nacht des Leides, sei es nun, daß wir Enttäuschungen erleben, krank darniederliegen, irgendwelche Verluste erleiden oder unsere Pläne durchkreuzt werden. In heutiger Zeit haben ja viele Menschen und auch Gotteskinder durch die Kriegsgreuel Hab und Gut verloren, mußten Heimat und Herd verlassen und wurden aus ihrer liebgewordenen Umgebung und Ordnung herausgerissen. Sofort leuchten aber da für Gottesmenschen Sterne des Himmels auf, die ewigen Glanz in ihre Seele fallen lassen. So Hebr. 12, 11: „Alle Züchtigung aber, wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aber danach wird sie eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit geben denen, die dadurch geübt sind.“ Oder Jes. 38, 17: „Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast Dich meiner Seele herzlich angenommen, daß sie nicht verdürbe; denn Du wirft alle meine Sünden hinter Dich zurück.“ Oder Jes. 55, 8-9: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. Sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch Meine Wege höher als eure Wege und Meine Gedanken als eure Gedanken.“ Oder Joh. 13, 7: „Was Ich tue, das weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren.“ Oder Jes. 66, 13: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Und sehr viele lieblich Sterne schimmern aus dem Worte Gottes in der Nacht der leiden, so daß unsere Seelen wunderbar gestärkt und getröstet werden.

Wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf. Das gilt auch dann, wenn wir eines unserer Lieben hergeben müssen und Gott uns an ein Grab stellt. Wir spüren da etwas von der grausigen Nacht des Todes. Wie arm wären wir dann, wenn nicht göttliche Verheißungssterne uns in solcher Nacht aufleuchten würden. Gott Sei gelobt und gepriesen, daß auch da wieder so viele Lichtstrahlen in unsere Seelen fallen, bis schließlich der ewige Morgen aufgeht und alles mit seinem nie mehr endenden Strahlenglanz erfüllt. Gerade angesichts des Todes wird uns die Größe des Erlösungswerkes Jesu Christi besonders deutlich. Da funkelt es uns Joh. 11, 25 entgegen: „Jesus spricht zu ihr: ’Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an Mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und an Mich glaubt, der wird nimmermehr sterben!’“
Oder 2. Tim. 1, 10: „Christus hat dem Tode die Macht genommen und hat Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht.“ Oder 1. Kor. 15, 55-57: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? – – Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unseren Herrn Jesus Christus!“ Oder Offb. 21, 4-5: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron sitzende sprach: ’Siehe, Ich mache alles neu.’ Und er spricht zu mir: ‚’Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß.’“ Wer die Heilige Schrift kennt, der weiß, wie die vielen göttlichen Verheißungen wie eine Milchstraße mit ihrem geheimnisvollen Glanze das arme Menschenherz erhellen. Ja, es ist wahr: wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf.

Und nach jeder Nacht erstrahlt ein neuer Morgen
Auch das ist eine köstliche Wahrheit für alle aufrichtigen Herzen. So schön und prächtig auch der nächtliche Himmel in seinem Sternenschmuck ist, so geht doch nichts über das Licht des Tages. Wir freuen uns über alle Sterne göttlicher Verheißungen und möchten diese Gottesoffenbarungen und Erfahrungen nicht missen, aber wir sehnen uns doch aus der Leidensnacht wieder heraus und begehren den Anbruch der Morgenröte in ihrer Schönheit.

Da erleben wir es nun durch unser ganzes Menschendasein hindurch, daß nach jeder Nacht wieder ein neuer Morgen erstrahlt, und dieses Erleben wird uns zu einer Offenbarung. Auch in geistlicher Hinsicht bricht nach jeder Nacht wieder ein neuer Morgen an. Die Nacht der Verfolgung, der Anfechtung und Versuchung, die Nacht der Leiden und des Todes wird auch nicht ewig währen, sondern gewiß von dem Anbruch eines neuen Tages abgelöst. Deshalb freuen wir uns mit Dankbarkeit der tröstlichen Sterne der göttlichen Verheißungen in solchen Nächten, blicken aber erwartungsvoll mit gläubiger Zuversicht aus nach der kommenden Dämmerung, dem Morgenrot und dem hellen Aufgang eines neuen Tages. Und wir können darin nicht enttäuscht werden, wenn uns auch die Nacht noch so lang erscheinen mag. Es entspricht einem unvergänglichen Gottesgesetz auf dieser Erde, daß Nacht und Tag miteinander wechseln. Unsere Erfahrungen stimmen damit völlig überein. Weiter ziehen wir dann den Schluß, daß all die übrigen Gottesworte Wahrheit sind und daß schließlich nach Seiner Zusage ein ewiger Morgen erstrahlen wird, der nie wieder enden kann. Es wird einmal ein letztes Morgenrot aufleuchten, das in einen unaufhörlichen Tag einmündet, so daß keine Nacht mehr folgen kann. Lies darüber Offb. 21, 23-25; 22, 5.

In dem kalten Winter 1941/42 gab es viel Eis und Schnee. Ich mußte eines Tages wieder über Land gehen. Während ich mich durch hohe Schneeverwehungen hindurcharbeite, kam mir zum Bewußtsein, daß die Tage schon länger wurden. Mit froher Gewißheit legte ich meine beiden Hände an den Mund und rief mit lauter Stimme über die weite, weiße Schneelandschaft: Eis und Schnee, das sage ich euch: Ihr müßt davon, denn die Sonne steigt immer höher! An einem darauf folgenden Sonntag sprach ich über den neuen Himmel und die neue Erde. Ich begann meine Predigt damit, daß ich meinen Hörern ankündigte, es würde in zwei bis drei Monaten etwas geschehen sein, das nicht nur alle Bewohner des deutschen Vaterlandes, sondern weit über seine Grenzen hinaus viele Menschen sehr erfreuen würde. Und das wüßte ich so gewiß, daß darüber keinerlei Zweifel bestehen könnte. Die Aufmerksamkeit meiner Hörer wurde immer gespannter. Manche meinten wohl, ich würde etwas über den Ausgang des Krieges sagen. Endlich erklärte ich, was ich denn mit solcher freudiger Gewißheit behaupten könne. Ich erzählte meinen Hörern von meinem Weg über das verschneite Land und rief noch einmal: Eis und Schnee, ihr müßt davon denn die Sonne steigt immer höher! Ein Aufatmen ging durch die Versammlung. Das hatten alle schon gewußt, aber wer bedenkt recht den tiefen Sinn der Naturvorgänge und zieht daraus die entsprechenden Schlüsse auch für sein geistliches Leben?

So gewiß wie Eis und Schnee davon müssen und der Frühling mit all seiner Lust und Wonne ins Land zieht, so gewiß geht auch die Nacht vorüber und ein neuer Morgen erstahlt. Während wir das Frühlingserleben in jedem Jahre nur einmal genießen, erstrahlt uns in jedem Jahre 365mal ein neuer Morgen. Haben wir schon die tröstlichen Schlüsse daraus gezogen? Ein Sonnenuntergang mit seinen glühenden Farben ist gewiß ein herrlicher Naturgenuß. Viel ergreifender ist aber noch ein Sonnenaufgang, weil wir hier erleben, wie die Nacht besiegt wird und die Sonne triumphiert. Nie werde ich einen solchen Sonnenaufgang vergessen, den ich im Sommer 1933 auf der Schneekoppe im Riesengebirge schaute. Er wurde mir zu einem prophetischen Gleichnis, daß Christus, die ewige Sonne, alle Nacht besiegen und einen unvergleichlichen Ewigkeitstag mit ewiger Freude und Wonne triumphierend herbeiführen wird. Dank sei dem großen, ewigen Gott für Seine schimmernden Verheißungssterne, aber noch viel mehr für den ewigen Strahlenkranz unseres Heilandes! Merke: Wenn es dunkel wird, leuchten die Sterne auf; und nach jeder Nacht erstrahlt ein neuer Morgen. Einmal aber wird alle Nacht vergehen und ein ewiger Morgen anbrechen ohne Aufhören. Dahin führt Christus die Seinen.

Adler, im Sturm erprobt

(Lies dazu 5. Mose 32, 11+12)
Mose, der Mann Gottes, hatte schwere Wege gehen müssen, um dabei für göttliche Aufgaben gerüstet zu werden. Mose mußte viele Lektionen lernen, um vielen dienen zu können.
Nach seiner wunderbaren Errettung aus dem Nil wurde er ein ägyptischer Prinz und als solcher in aller Weisheit der Ägypter erzogen. Als 40jähriger Mann wurde er aus patiotischen gründen und aus Liebe zu seinen Volksgenossen zum Mörder und mußte fliehen. Vierzig Jahre lang mußte er dann im Lande Midian leben, wo er Hitendienst bei dem Priester Jethro tat, der ihm seine Tochter Zippora zur Frau gab. Als Mose Gott in eigener Kraft dienen wollte, konnte ihn der Allmächtige nicht gebrauchen, als sich Mose aber nach 40 Jahren selbst für untüchtig hielt, war Gottes Zeit gekommen, ihn für außerordentlich große Aufgaben zu verwenden. Mose hatte auf den harten, langen Erziehungswegen Gottes so viel gelernt, daß er nun zu großen Dingen fähig war. Dort im Lande Midian, wo sich Gebirge und Meer berühren, wurde der Mann Gottes in erhabener Natur und in schweigender Einsamkeit erzogen. Dort hat er auch gesehen, wie der Adler sein Nest aufstört und mit seinen Jungen verfährt. Dieses Gleichnis aus Gottes Schöpfung soll uns köstliche Wahrheit veranschaulichen und nahe bringen.

Im warmen Nest geborgen
Es kommt hier wohl der Steinadler in Frage, den es auch noch in den Alpen gibt. Hoch oben auf steilen, vorspringenden, kaum zu erreichenden Felsen legt er sein Nest sicher an. Zur Brutzeit legt das weibliche Tier meist zwei Eier. Wenn die Jungen ausgebrütet sind, so liegen sie im weichen, warmen Nest, und wenn es nötig ist, werden sie von den schützenden Fittichen der Eltern gedeckt. Um nichts brauchen sich die Jungen zu sorgen; das tun zunächst die Eltern. Es ist ein schönes, angenehmes Dasein, so warm gebettet, so treu versorgt und so sicher geborgen zu sein.
So lieben wir es auch als Menschen, ja selbst als Gotteskinder. Wir freuen uns, wenn die Sonne Gottes lacht und wir einen lieblichen, leuchtenden Tag in aller Ruhe und Sorglosigkeit verleben dürfen. Wenn alles nach unseren Wünschen geht, dann loben wir die Güte und Freundlichkeit unseres Gottes.

Aus dem Nest geworfen.
Es bleibt aber nicht immer so, daß die Adlerjungen im warmen Neste liegen können, sie sollen ja heranwachsen; sie sollen es lernen, selbst den stärksten Stürmen zu trotzen. Was geschieht da? Eines Tages – die Adler wissen instinktiv ganz genau, wie weit die Jungen gediehen sind – stören die Alten bei geeignetem Wetter das Nest auf; sie werfen ihre Jungen über den Rand des Nestes hinaus, damit sie fliegen lernen. So müssen die Jungen wohl oder übel ihre Flügel gebrauchen. Sie werden wohl zunächst ängstlich schreiend umherflattern, aber das schadet nichts, denn die Adlerjungen müssen fliegen lernen. Wie mag es ihnen dabei zu Mute sein? Verlassen, ängstlich, erschreckt mögen sie ihre ersten Flugversuche machen, aber das alles ist nötig, denn die Adlerjungen sollen ja, wie die Alten, Beherrscher der Luft werden.

So ergeht es auch uns Gotteskindern, wenn wir von unserem himmlischen Vater durch Leid geführt werden, wenn Gott so mit uns handelt, daß wir es zunächst nicht verstehen und viel Schmerzen erleiden müssen. Aber je heißer die Sonne scheint, desto reifer wird das Getreide und desto süßer die Früchte. Gott erzieht seine Kinder so, wie es sich für Prinzen geziemt. Um die Straßenjungen wird sich der König nicht weiter kümmern, die dürfen sich manches erlauben, was Prinzen nicht gestattet ist. Gotteskinder sind königlichen Geschlechtes; sie sind den Adlern verwandt. Deshalb geht Gott mit ihnen durch harte Schulen, wirft sie aus dem warmen Neste ihrer eigenen Wünsche heraus und nötigt sie, ihre Gaben und Kräfte in Kämpfen, Gefahren und Schwierigkeiten zu entfalten und zur höchsten Leistung zu steigern.

Kind Gottes, erschrick nicht, wenn dich Gott durch finstere Täler und tiefe Wasser führt, wenn dich dein Gott schwere Lektionen lehrt. Es muß sein, sonst würde es dir der Vater ersparen. Die Adlereltern handeln nicht grausam, sondern verständig mit ihren Jungen. Auch dein Gott handelt nicht grausam, sondern höchst weise. Die Gemeinde Jesu Christi hat ewige Aufgaben zu erfüllen, da muß sie zugerüstet werden. Das Leid dient zum Heile. Alle Dinge dienen den Gottesmenschen zum Besten. Wenn uns Gottes Handeln jetzt nicht klar ist, es wird uns noch sonnenklar werden. Wie bei einem kunstvoll gewirkten Teppich die Fäden auf der linken Seite wirr durcheinanderlaufen, aber auf der rechten Seite ein sinnvolles Muster ergeben, so ist es mit den unverstandenen Wegen Gottes. Nur Geduld! Gottes Erziehungswege dünken uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein, aber danach wirken sie eine friedvolle Frucht, nämlich die Gerechtigkeit. Bedenke: Gott weiß alles; Er handelt nur gut mit dir, und einst wirst du am Ende der Wege Gottes anbeten.

Auf Adlers Flügeln getragen.
Die Adlerjungen mögen bei ihren ersten Flugversuchen wohl denken, ihr Ende sei gekommen, sie müßten rettungslos an den Felsen zerschellen. Aber das kommt nicht vor. Über ihnen schweben die Alten und wachen sorgsam mit scharfen Augen über jede Bewegung der Jungen. Sobald sie in irgendeine Gefahr geraten, stoßen die Alten nach unten, breiten ihre majestätischen Flügel unter dem gefährdeten Jungen aus, nehmen es auf ihre Fittiche und tragen es hinauf ins Nest. Wie wohlgeborgen und sicher mögen sich die Jungen jetzt nach den überstandenen Schrecken fühlen! So behaglich mag ihnen das Nest noch nie vorgekommen sein.

Nicht anders handelt Gott zu rechter Zeit mit den Seinen. Denke doch ja nicht, daß du von Gott verlassen seiest. Gerade dann, wenn du meinst, es wäre aus mit dir, es ginge unmöglich mehr weiter, kommt dein Gott und Heiland mit seiner allmächtigen Hilfe, breitet unter die Seine Fittiche aus, nimmt dich auf und trägt dich mit ewiger Gnade. So erlebst du deinen Gott herrlich, wirst in deinem Glauben gefestigt und für neue Glaubensproben ausgerüstet.

Im Sturm erprobt
Wohl mögen die jungen Adler sich freuen, nach den erlebten Schrecknissen des ersten Fluges wieder im sicheren Neste zu sein. Doch dabei bleibt es nicht. Nach einiger Zeit wird das Nest wieder aufgestört, und das Lernen beginnt von neuem. Dabei aber erstarken die Flügel immer mehr, und auch schon bei ungüstigem Wetter können Flüge unternommen werden. Und eines Tages finden die Jungen Freude am Fluge, sie verlassen das Nest von selbst und trotzen schließlich mit Adlerstolz dem Sturme, der ihnen nichts mehr anhaben kann, sondern sie erst recht dem Lichte mit Windesschnelle entgegenträgt. Adler, im Sturm erprobt! Welch köstliche Wahrheit.

So wird es Gott auch mit uns halten. Wir sollen sturmerprobt werden. Gott hat Freude am Echten, Starken und Bewährten. Gewiß hat Er ein Herz für das Schwache, Zerbrochene und Elende. Aber Er will nicht, daß es so bleibt, sondern Seine Gnade will stärken, heilen und erneuern. Wir sollen in Seiner harten Schule gründlich lernen, um für Ihn brauchbare Werkzeuge zu sein. Hernach werden wir es klar erkennen, warum Gott uns so geführt hat. Dann werden wir das Leid segnen, denn es diente uns zum Besten, zum Heile. Gerechtigkeit hat sich als friedvolle Frucht daraus entwickelt. Im Sturme sind wir erprobt und bewährt worden und können dann auch als Königskinder an der Herrlichkeit Gottes teilhaben.
Kind Gottes, nimm diese köstliche Wahrheit auf dein Herz. Und wenn du in kommenden Tagen aus dem warmen Neste geworfen wirst, so verzage nicht. Wisse vielmehr: Adlersflügel sind unter dir; sie werden dich tragen. Und geht es schließlich durch erneute Proben und Prüfungen, so danke und jauchze, denn Herrliches hat dein Gott mit dir vor nach Seinen ewigen Plänen.

Die letzte Träne

Die Tränen Jesu
Unzählbare Tränen werden täglich auf der weiten Erde geweint. Sie sind ein Ausdruck des Schmerzes und des Leides. Die Arten der Tränen sind aber recht verschieden. So gibt es Tränen der Sünde: Tränen der Wut, des Zornes, der Eifersucht, des Neides, des Hasses, der Enttäuschung, des Ärgers, der Verstimmung. Solcher Tränen sollten wir uns schämen. Es gibt aber auch heilige Tränen, die unser Herr Jesus geadelt hat, weil sie sogar Seinen Augen entflossen sind: Tränen über die Sünden anderer, Tränen der Trauer und Tränen innerer Seelenkämpfe. Dreimal wird uns in den Evangelien berichtet, daß Jesus geweint hat. Wir lesen Lukas 19, 41: „Und als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt (Jerusalem) an und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinem Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten werden.“ Hier weint Jesus also über die Hartnäckigkeit und Unbußfertigkeit der Bewohnen Jerusalems Tränen der Barmherzigkeit. Solche Tränen sind heilige Tränen, deren wir uns nie zu schämen brauchen. – – Dann vergoß der Herr auch Tränen am Grabe des Lazarus. Darüber schreibt Johannes im Kap. 11 V. 35: „Und Jesus gingen die Augen über“. Wenn uns liebe Menschen von der Seite gerissen werden und Schmerz darüber verständlicherweise unsere Seele erfüllt, dürfen wir getrost unseren Tränen freien Lauf lassen, auch dann, wenn wir gläubig sind, denn selbst unser Heiland hat an einem Grabe geweint und dadurch diese Tränen geheiligt. – – Schließlich hat der Sohn Gottes während Seines Erdenlebens auch in heftigen Seelenkämpfen geweint. Hebr. 5, 7 lesen wir: „Er hat in den Tagen Seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen geopfert zu Dem, der Ihm von dem Tode konnte aushelfen; und ist auch erhört, darum daß Er Gott in Ehren hatte.“ Als die Schatten des Kreuzes in Gethsemane auf den Weg des heiligen Gottessohnes fielen und Er das Sündenlamm für die ganze Welt werden sollte, geriet Er in furchtbare Seelenkämpfe und weinte Sich dabei aus. Damit hat unser Herr also die Tränen geheiligt, die von uns in großen seelischen Nöten geweint werden.

Unsere Tränen.
Die Macht eines Gewitters ist gebrochen, wenn der Regen herabströmt. So hat Gott in Seinem Erbarmen den Menschen Tränen gegeben, um auf diese Weise den Leidgeborenen Erleichterung zu verschaffen. Sünde, Sorge und Tod sind die drei furchtbaren Mächte, die auf dieser Erde einen Strom von Tränen verursachen. Würden Sünde, Sorge und Tod von dieser Erde beseitigt, wir wüßten wahrlich nicht mehr, über was Menschen noch weinen sollten.

Tränen der Sünde.
Das können, wie wir vorher schon betont haben, wirklich sündhafte Tränen sein, nämlich, wenn sie aus Wut, Zorn, Enttäuschung oder aus anderen unordentlichen Regungen unserer Herzen vergossen werden. Es können aber auch Tränen sein, die wir weinen, weil andere wider uns sündigen und uns Böses antun. Bedrückung, Gewalttat, Raub, Plünderung und allerlei sonstige Bosheit vermögen uns so viel Schmerz zu verursachen, daß wir weinen müssen. Dann ist es eben nicht unsere eigene Sünde, die uns Tränen verursacht, sondern die Sünde der anderen. Leider werden auf unserer Erde sehr viel mehr Tränen in dieser Hinsicht geweint, als wir denken. Die Sünde ist überaus mächtig gewordsen, daher so viel Leid.

Anders ist es schon, wenn wir aus Barmherzigkeit, wie unser Herr, Tränen vergießen, weil wir rings um uns her so viel Sündennot erblicken müssen. Es gibt nicht allzu viele Menschen, die solche heilige Tränen kennen. Die Liebe ist weithin unter den Menschen erkaltet, und die Ungerechtigkeit nimmt überhand. Da ist es kein Wunder, wenn wir wenig Tränen Mitleides und der Barmherzigkeit finden. O, daß unser Herz weicher und unsere Anteilnahme am Ergehen anderer größer wäre, die Welt würde dadurch gewiß heller und wärmer.

Es gibt aber noch Tränen über die Sünde, die unser Heiland nie hat weinen brauchen, weil Er nie gesündigt hat, das sind die Bußtränen. Wir aber sind alle sündig und brauchen Reinigung von der Schuld durch Jesu teures Blut, das Er für uns auf Golgatha vergossen hat. Wer Bußtränen weint, braucht sich nicht zu schämen, im Gegenteil: die Engel im Himmel freuen sich mit, wenn solche Tränen vergossen werden. (Luk. 15, 7.10). Und wie viel Erleichterung können gerade solche Tränen uns bringen! Das weiß ich aus eigenem Erleben. Wie nahe ist Gott im Heiligen Geist einem Menschen, bereit, alle Sünden ins Meer der Vergessenheit zu werfen und das unreine Herz von aller Befleckung zu reinigen und Frieden und Freude zu schenken. Laß deinen Tränen über deine Sünde freien Lauf und rufe den Namen deines Erlösers um Vergebung an!

Tränen der Not.
Nach dem Willen des Schöpfers haben wir Menschen mancherlei Bedürfnisse, wodurch wir übrigens ständig unsere Abhängigkeit zum Ausdruck bringen. Wir müssen atmen, essen, trinken, schlafen; wir brauchen Kleidung, Wohnung und Heizung. Und wenn es an diesen lebensnotwendigen Dingen gebricht, leiden wir Mangel und fühlen Sorgen. Wir kennen Brot- Wasser- Kleider- Wohnungs- Heizungs- und andere Nöte. Wie viele Tränen sind deshalb schon geweint worden. Der gütige Schöpfer reicht ja in übergroßer Fülle alle Güter völlig umsonst dar, die die Menschen brauchen, um glücklich und froh auf dieser Erde leben zu können. Aber die Sünde mischt sich hinein, verdirbt weithin die Gnade Gottes und schafft Not, Sorge, Leid und Tränen. In dieser Welt müssen wir alle mehr oder weniger etwas von Not und Sorge kennenlernen. Wie gut ist es da, wenn wir in Christo Gott als unseren fürsorgenden Vater kennengelernt haben und nun alle unsere Sorge auf Ihn werfen können, der ja für uns sorgen will. Doch auch dieser unvollkommene Zustand der Not wird einmal grundlegend geändert werden.

Tränen des Todes.
Sünde und Sorge bewirken schließlich den Tod. Auf dem Wege der Krankheit oder des Unglücks müssen wir einmal davon. Viele Menschen sterben nicht den „Stohtod“ auf einem Lager an irgendeiner Krankheit, sondern werden in den besten Jahren ihres Lebens durch Unglücksfälle oder durch Kriegseinwirkungen dahingerafft. Wie viel Mühe und Arbeit macht es, um einen Säugling groß zu ziehen, bis er schließlich als Erwachsener selbständig wirken kann. Aber oft werden Menschen in einem Augenblick aus der Zeit in die Ewigkeit gerufen. Diese Trennungen verursachen Schmerz und Tränen. Die beiden letzten Weltkriege, entstanden durch Bosheit der Menschen, durch Habsucht, Hochmut, Rachgier und Konkurrenzneid, haben Ströme von Tränen hervorgebracht, denn an 100 Millionen Menschen sind in diesen Gerichtszeiten hinweggerafft worde.

Die letzte Träne und dann – – ewige Freude!
Es wäre furchtbar, wenn die Menschen keine Hoffnungen hätten. Gott Sei Dank, Er hat uns aber durch die Propheten, durch Seinen Sohn Jesus Christus und dessen Apostel eine lebendige Hoffnung geschenkt. Er hat einen neuen Himmel und eine neue Erde verheißen, in welchen Gerechtigkeit wohnen wird. (2. Petri 3, 13). In einer großartigen Schau hat uns der Seher Johannes in Offenbarung 21 und 22 einen Blick in diese vollendete und verklärte Welt tun lassen. „Dabei hörte ich eine laute Stimme aus dem Himmel rufen. ’Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Er wird unter ihnen wohnen, und sie werden Sein Volk sein; ja Gott Selbst wird unter ihnen sein und alle Tränen von ihren Augen abwischen; und es wird keinen Tod mehr geben; kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.’ Da sagte der auf dem Throne sitzende: ‘Siehe, Ich mache alles neu!’ Dann fuhr Er fort: ‘Schreibe! Denn diese Worte sind zuverlässig und wahr!’.“ Gott lügt nicht, Er wird alle Seine Zusagen einlösen!

Frage nicht mehr: Warum? Sondern frage fortan: Wozu? Wenn du durch Leid hindurchgehen und weinen mußt. Das Leid soll dich lösen, läutern, verklären und vollenden helfen. Wenn wir auch jetzt noch leiden unter dem Riß, der durchs All geht, unser Erlöser Jesus Christus ist erschienen und wird die Weltverklärung herbeiführen. Vom Kreuze von Golgatha aus gehen heilende und erneuernde Kräfte hinein in das ganze All. Wenn wir auch noch manchesmal durch dunkle Täler und tiefe Wasser schreiten müssen, Gott ist in Christo als Licht und Trost, als Beistand und Helfer bei uns und läßt alles zu unserem Besten sich auswirken. Am Ende der Wege Gottes wird es nur noch Anbetung geben, denn Gott hat uns eine unzerstörbare Heimat, eine ungetrübte Gemeinschaft und einen unsterblichen Herrlichkeitsleib zugesagt. Dann müssen, dann können wir nicht mehr weinen.
So wollen wir unsere Häupter emporheben und auf die Erscheinung unseres hochgelobten Heilandes Jesus Christus warten. Ihm sollen wir unser Leben weihen und dann treu Ihm nachfolgen, bis es vom Glauben zum Schauen geht und wir in ewiger Freude und Wonne mit allen Erlösten um Ihn sein dürfen.

Friedrich Sondheimer

Eingestellt von Horst Koch, Herborn, im Januar 2024

info@horst-koch.de

 

 




C.S.Lewis (F.Grassl)

Fabian F. Grassl

VERNUNFT UND FANTASIE:



DIE APOLOGETISCHE METHODE DES C. S. LEWIS

UND SIEBEN FAKTOREN FÜR SEINEN ERFOLG


C. S. Lewis ist einer der großen, ja vielleicht der größte der christlichen Denker des 20. Jahrhunderts. Als wortgewandter Literaturwissenschaftler, erfolgreicher Schriftsteller, geschulter Philosoph, gewiefter Laientheologe und origineller Verteidiger des christlichen Glaubens, erreichte er mit seinen Schriften ein Millionenpublikum. Sein Einfluß ist im Jubiläumsjahr 2023 unvermindert spürbar, ja am Zunehmen. Anläßlich seines 60sten Todestages am 22. November und seines 125sten Geburtstages am 29. November ist es mehr als angemessen, dem Erfolgsgeheimnis dieses wirkmächtigen Apologeten, „Gottes Terrier“, wie er von Dorothy Sayers einmal freundschaftlich genannt wurde, nachzuspüren.

Was war die apologetische Methode von Lewis?

Was machte ihn zum erfolgreichen Apologeten?

Und hat er uns heute noch etwas zu sagen?
Um diese drei Fragen soll es uns im Folgenden gehen.

WAHRHEITSSUCHE – C. S. LEWIS ALS KLASSISCHER APOLOGET


Viele, vielleicht die meisten innerhalb seiner christlichen Leserschaft kennen Lewis vor allem durch sein wohl bekanntestes Werk, Pardon, ich bin Christ (Mere Christianity)
Pardon war nicht sein erstes apologetisches Werk. Das trug vielmehr den Titel Über den Schmerz (The Problem of Pain) und erschien im Jahre 1940. Dieses Buch ließ die British Broadcasting Company auf Lewis aufmerksam werden. Die BBC fragte am 7. Februar 1941 brieflich bei Lewis an, ob er sich vorstellen könne, für die kriegsgebeutelte Hörerschaft Rundfunkansprachen über den christlichen Glauben zu halten. Lewis konnte und wurde schon bald zur zweitbekanntesten Stimme Englands – nach der von Winston Churchill. Denn aus dieser Anfrage ergaben sich unter anderem vier Radioansprachen, welche dann später die Grundlage für den im Jahre 1952 veröffentlichten Buchklassiker Pardon bildeten. Der erste Abschnitt des Buches bzw die erste Radioansprache trägt in der dt. Neuübersetzung von 2014 den Titel: „Recht und Unrecht als Schlüssel zum Sinn des Universums“. Das im englischen Original stehende Wort clue könnte anstelle von „Schlüssel“ auch mit „Hinweis, Wegweiser“, Indiz“ wiedergegeben werden. Es liefert uns einen wichtigen Einblick in die apologetische Herangehensweise des großen Oxforder Literaturprofessors.
Denn Lewis ist der Überzeugung, daß unsere Welt voll von Indizien steckt, die auf die Existenz Gottes hinweisen. Er begründet diese Überzeugung nicht nur mit seiner eigenen Erfahrung, sondern auch mit der christlichen Lehre von der imago Dei. Da wir im Bilde Gottes erschaffen sind, spiegeln wir mit unserer vernunfthaften Wesensnatur das göttlich-personale Wesen, das vollkommen vernunftgemäß ist, bruchstückhaft wider. Diese Ebenbildlichkeit wurde durch den Sündenfall zwar beschädigt, aber nicht vollkommen zerstört.
Somit ist es allen Menschen universal und über die Zeiten hinweg möglich, Gottes Herrlichkeit in der Natur und im Gewissen zu erahnen; und zwar ganz unabhängig von der jeweiligen Weltanschauung. Aus diesem Grunde kann Lewis in Pardon Buch I, Kap.5, schreiben, daß in der Erkenntnisfrage zunächst „nicht die Bibel oder die Kirchen“ herbeiziehen möchte. Vielmehr „schauen (wir), was wir auf eigene Faust über diesen Jemand (Gott) herausfinden können.“ Lewis beruft sich also auf die sogenannte allgemeine Offenbarung, die im Unterschied zur speziellen Offenbarung Gottes in Form des Alten und Neuen Testamentes noch ohne konkrete Inhalte, also noch ohne direkte Kommunikation Gottes an das Volk Israel auskommt.

Unsere tiefsten menschlichen Phänomene wie unser rationales Selbstbewußtsein, unser Drang zur wahrheitssuche, unser tief in uns verankertes moralisches Bewußtsein, unser Freiheitsempfinden, unser Angewiesensein auf Beziehung, unsere schöpferischen Fähigkeiten, unsere Sehnsucht nach Sinn und Bedeutung, unser Empfinden für Schönheit – kurz, all das, was uns zu Menschen macht, all diese Phänomene verweisen für Lewis auf die Existenz des christlichen Gottes.
Warum? Weil der christliche Glaube, so Lewis, den besten Erklärungsrahmen für all diese Phänomene bietet.
Zusammengenommen ergeben sie ein existentielles Gesamtbild, welches sich durch den weltanschaulichen „Bilderrahmen“ namens „Christentum“ am überzeugendsten deuten und fasssen läßt. Der christliche Glaube bietet die beste Erklärung für die vorhandenen Fakten, die stimmigste Interpretation des Wahrgenommenen. Wir erhalten einen Verständnishorizont, der besser als andere das zweifellos Gegebene erklären kann. Kurz: das Christentum hat unter all den verschiedenen weltanschaulichen Deutungsmöglichkeiten „the better story“, die bessere Geschichte zu erzählen. Diese Überzeugung formuliert Lewis wohl nirgends treffender als am Ende seines Essays „Ist Theologie Dichtung?“

Dank der christlichen Theologie werden unsere tiefsten menschlichen Phänomene in einer Art und Weise beleuchtet, sodaß sie ein harmonisches Gesamtbild ergeben, innerhalb dessen es sich leben läßt. Unsere zutiefst menschlichen Erfahrungen werden innerhalb des christlichen Rahmens stimmig und finden darin ihren angemessenen Platz. Für Lewis trifft dies speziell auf die drei großen Phänomene der Vernunft, der Moral und der Sehnsucht zu, drei menschliche Wesenheiten, auf die er in seinen Schriften immer wieder mit Vorliebe apologetischen Bezug nimmt. Das Christentum ermöglicht also eine kohärente Begründung der Wirklichkeit, hat eine stimmige Erklärung für unsere Existenz, ist der weltanschauliche Schlüssel, der ins Schlüsselloch namens „Realität“ paßt.
Die christliche Interpretation der Wirklichkeit ist sinnstiftend, weil sie wahr ist. Die Wahrheit einer Weltanschauung festzustellen ist die Aufgabe der Vernunft. Die Wahrheit ist notwendige Vorbedingung für die Sinnhaftigkeit einer Sache. Würde etwas nur sinnvoll erscheinen, aber nicht wahr sein, so wäre uns keinen Schritt weitergeholfen. In seinem wichtigen Essay „Christliche Apologetik“ betont Lewis, „daß das Christentum eine Äußerung ist, die, wenn falsch, ohne jeden Belang ist, wenn wahr, aber von unendlichem Belang. Das eine, was es nicht sein kann, ist, von mäßigem Belang zu sein“. Somit ist die menschliche Kapazität der Vernunft, der ihr innewohnende Drang nach Wahrheit und eine damit verbundene Korrespondenztheorie der Wahrheit für Lewis unvermeidbarer Ausgangspunkt für alles Weitere.


SINNSUCHE – C. S. LEWIS ALS IMAGINATIVER APOLOGET

Für sich genommen ist die Vernunft unbedingt notwendig, aber noch nicht ausreichend. Es sind schließlich viele Dinge wahr, ohne gleich sinnstiftend zu sein. Als Menschen sind wir außerdem mehr als pure Ratio. Wir sind auch fantasievolle Geschöpfe, ausgestattet mit einem je eigenen Willen und tiefer Emotivität. In seinem Büchlein Dienstanweisung für einen Unterteufel (The Screwtape Letters) unterscheidet Lewis mithilfe seines fiktiven Charakters Screwtape drei Schichten der menschlichen Seele. Die äußere Schicht ist die Fantasie; die mittlere Schicht die Vernunft, und der innerste Kern besteht aus dem Willen. Es ist nun gerade die Fantasie, die auf entscheidende Art und Weise ein Türöffner für die Vernunft und dadurch für den Willen werden kann. Dies war Lewis’ eigene Erfahrung. In seiner Autobiografie Überrascht von Freude schreibt er, daß seine spätere Bekehrung zum christlichen Glauben entscheident vorbereitet wurde durch die „Taufe seiner Fantasie“, genauer: durch das Lesen von MacDonalds Fantasyroman Die Reise des Phantastes im Teenageralter.

Im Rückblick war diese Lektüreerfahrung für ihn eine Weichenstellung, die viele Jahre später in seiner Hinwendung zu Christus gipfeln sollte. Lewis wußte also aus eigener Erfahrung, wie wichtig die imaginative Sinndimension für uns Menschen ist. Unsere Imagination spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Wir können ohne Sinn, ohne eine tiefe Antwort auf das „Warum?“ unseres Daseins nicht leben. Doch Sinn ohne Wahrheit trägt nicht, genauso wenig wie Wahrheit ohne Sinn überzeugt. Wir brauchen beides! Vernunft und Fantasie sind keine Konkurrenten, sondern Teamplayer. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Lewis war sowohl philosophisch geschult als auch poetisch veranlagt. Dementsprechend kann er als Philosoph und Poet, als Erklärer und Erzähler unsere Vernunft wie auch unsere Vorstellungskraft in Wallung versetzen. Und gerade hierin liegt die zeitlose Bedeutung von Erzählungen wie der Chroniken von Narnia oder der Perelandra-Trilogie. Hierin liegt, wenn auch lange nicht sein einziges, so doch sicherlich sein bleibendes Verdienst: in der imaginativen Apologetik! In den Worten seines Freundes Austin Farrer: „Wir denken, wir hören eine Argumantation, doch in Wirklichkeit bekommen wir eine Vision präsentiert, und es ist die Vision, die die Überzeugungskraft in sich trägt.“ In der Trauerpredigt bei Lewis’ Beerdigung bringt es Farrer wie folgt zum Ausdruck: „Seine wahre Kraft lag nicht in der Beweisführung; sie lag in der Abbildung. In seinen Schriften wurde ein christliches Universum lebendig, das man sowohl denken als auch fühlen konnte, in dem er beheimatet war und in dem er seine Leser beheimatet machen konnte.“

Wahrheit allein ist noch keine Garantie für Relevanz. Ein Hauptproblem der sogenannten „Neuen Atheisten“ wie Richard Dawkins oder Daniel Denett besteht darin, daß sie es versäumen, überzeugende fesselnde Geschichten zu erzählen, die ihre ohnehin schon fragwürdigen Wahrheitsansprüche untermauern würden. Ein religionskritischer Thriller wie Dan Brown: Sakrileg (The Da Vici Code) hingegen ist voller zweifelhafter Thesen und historischer Ungenauigkeiten, schafft es jedoch, eine packende Geschichte zu erzählen. Welche Methode entfaltet nun die größere kulturelle Wirkung? Sicherlich nicht die trockene, vermeintlich rationale Herangehensweise von Dawkins und Denett, sondern doch wohl die aufregende, imaginative Methode eines Dan Brown!
Mit Lewis’ Bild von der menschlichen Seele gesprochen ist es die äußere Schicht der Fantasie, durch die die öffentliche Wahrnehmung primär in den Bann gezogen und die Vernunft beeinflußt wird. Wenn nun aber beides – Wahrheit und Sinn, Vernunft und Imagination – in einem christlichen Meisterwerk wie den Chroniken von Narnia kunstvoll zusammentreffen, so wird eine Sprengkrft freigesetzt, die ihren positiven Zauber über die noch kommenden Generationen unwiderstehlich weiter entfalten wird. Wir sollten literarische Glanzstücke wie Narnia oder auch Tolkiens Der Herr der Ringe im Hinblick auf ihr apologetisches Potenzial keinesfalls unterschätzen. Denn sie berühren eine tiefe Schicht in unserem Innersten, nämlich unsere Sehnsucht nach dem Wahren, dem Guten und dem Schönen. Indem Schriftsteller wie Tolkien und Lewis das Wahre, Gute und Schöne greifbar und strahlend erscheinen lassen, wecken sie in uns die Sehnsucht nach mehr.
Durch Narnia entsteht in uns der – oft unbewußte – Wunsch, daß das Christentum doch wahr sein möge. Selbst religionskritische Leser und Kinobesucher werden von der Faszianation ergriffen, die von der Welt hinter der Schranktür ausgeht. Somit aber haben sie den ersten wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Was MacDonalds Phantastes für Lewis bewirkte, kann Narnia oder Der Herr der Dringe bei uns auslösen: Solche Werke werden zum Einfallstor für die christliche Botschaft.
Durch die Fantasie wird die Vernunft angerührt und schließlich unser Wille. Sie liefern eine wichtige Vorarbeit bzw Ergänzung für die klassische Herangehensweise der Apologetik, die sich auf rationale Argumente stützt. Gerade in der sogenannten „postmodernen“ Zeit, in der wir uns angeblich gerade befinden, kann sich diese narrative imaginative Strategie als besonders effektiv erweisen. Da wir Menschen uns jedoch schon immer für gute Stories faszinieren konnten, ist die imaginative Apologetik klassisch zeitlos. Und dieser einzigartigen Kombination von Vernunft und Fantasie, Wahrheit und Sinn, verdanken auch die Schriften von Lewis ihren bleibenden Wert.


WAS MACHTE LEWIS ZUM ERFOLGREICHEN APOLOGETEN?


SIEBEN FAKTOREN


Nachdem wir in den letzten beiden Abschnitten die apologetische Methode von Lewis eingehender betrachtet haben, ist es nun an der Zeit, unsere Aufmerksamkeit seiner persönlichen Einstellung hinsichtlich der Apologetik zu widmen. Ich tue dies mithilfe von sieben Faktoren, die aufgrund des begrenzten Rahmens in der notwendigen Kürze dargestellt werden müssen. Anhand dieser Faktoren läßt sich sein großartiger Erfolg als christlicher Schriftsteller wohl besser verstehen, sicherlich aber nicht vollends erklären. Bei den folgenden Erfolgsfaktoren handelt es sich um notwendige Voraussetzungen, nicht um allein ausreichende Bedingungen. Christlich gesehen ist die letzen Endes ausreichende Bedingung für den Erfolg von Lewis das personale Wirken des Heiligen Geistes, der es offensichtlich als gut erachtet hat, durch Leben und Werk von Lewis auf vielfältige Art und Weise tätig zu werden.
Nichtdestotrotz offenbaren die folgenden Faktoren eine Grundhaltung, die uns helfen kann, in unserem Auftreten selbst christusähnlicher und somit „erfolgreicher“ zu werden. Mit „erfolgreich“ meine ich dabei nicht meßbare Quantität, sondern christuszentrierte Qualität.


1. ERFOLGSFAKTOR: INHALT.
LEWIS WAR THEOLOGISCH ORTHODOX.

Lewis distanzierte sich von liberalen Umdeutungen der christlichen Glaubenslehre und äußerte immer wieder explizit Kritik am theologischen Liberalismus. So bezeichnet er sich beispielsweise gleich zu Beginn seines Essays „Über Ethik“ als „ein dogmentreuer Christ ohne alle modernistischen Vorbehalte und dem Supranaturalismus uneingeschränkt verpflichtet. An anderer Stelle warnt er nüchtern: „Versuchen Sie nicht, das Christentum zu verwässern. Sie dürfen nicht so tun, als könne man es ohne das Übernatürliche haben. Soweit ich es sehen kann, ist das Christentum präzise die eine Religion, von der das Wunder nicht abgetrennt werden kann. Sie müssen von Anfang an offen für den Supranaturalismus eintreten.“
Lewis fand Theorien von einer kausalen Geschlossenheit des Universums schlicht nicht überzeugend. Er kritisierte eine mechanistische theologisch-liberale Weltsicht im Bultmannschen Sinne, in der Wunder a priori ausgeschlossen wurden. Im Gegensatz dazu rechnete er mit der handelnden Gegenwart Gottes im Hier und Heute. So schreibt Norbert Feiendegen in seiner Biographie über die „vielleicht wichtigste Entdeckung seines Lebens: Der Gott, den er im Sommer 1930 gegen alle inneren Widerstände anerkannte, ist ein geschichtlich handelnder Gott….“ Das macht Lewis so originell und aufregend, eben orthodox.


2. ERFOLGSFAKTOR

: WEITBLICK.
LEWIS ZOG GRENZEN, ABER KEINE UNNÖTIGEN


Lewis vertrat und verteidigte die großen Glaubenswahrheiten, die von allen Christen egal welcher konfessioneller Couleur zu allen zeiten vertreten wurden. Er nannte dies „deep church“ oder auch „mere Christianity“, „Christentum schlechthin“, eine Bezeichnung, die er von dem puritanischen Theologen Richard Baxter übernahm. Damit meint er einen grundlegenden Konsens über die orthodoxe, also die richtige christliche Lehre, „den Glauben, der von den Aposteln gepredigt, von den Märtyrern bezeugt, in den Glaubensbekenntnissen verkörpert, von den Kirchenvätern ausgelegt wurde“. Für Lewis ist das Christentum dann in bester Verfassung, wenn es in der Vergangenheit wurzelt und sich auf die Gegenwart einläßt. Dieser überkonfessionelle Fokus brachte Lewis Freunde und Verbündete in allen konfessionellen Lagern. So empfiehlt zum Beispiel in einer heute fast vergessenen, eindrucksvollen Vorleseung an derr Cambridge Univesity im Jahre 1988 Joseph Ratzinger, später Papst Benedikt XVI., Lewis Klassiker Die Abschaffung des Menschen ( The Abolition of Man) als Korrektur für unsere durch den Relativismus geplagte Zeit. Die vier Arten der Liebe (The Four Loves) gehörte zeitlebens zu den Lieblingsbüchern Karol Wojtylas alias Papst Johannes Paul II.
In einer Predigt als frisch gewählter Papst stellte er dieses Werk gar auf eine Stufe mit den Schriften des heiligen Augustinus. Auch andere Bücher von Lewis zählten zur Lektüre Wojtylas, darunter Pardon und Dienstanweisungen für einen Unterteufel. Kurz. Lewis ließ sich nicht auf konfessionelle Grabenkämpfe ein, sondern verkündete die zentralen Glaubenswahrheiten, die allen christlichen Mainstream-Konfessionen gemein sind.

3. ERFOLGSFAKTOR: FOKUS.
LEWIS KANNTE SEINEN AUFTRAG


Lewis wußte um seine Stärken und Schwächen, hatte eine klare Idee von seiner Berufung und ließ sich davon nicht abbringen. So sah er sich beispielsweise in seinem Selbstverständnis klar als theologischer Laie: „Ich bin ein Schaf, das den Hirten sagt, was nur ein Schaf ihnen sagen kann.“ Diese Selbsteinschätzung wirkte sich auch auf seine Verkündigung aus.: „Meine einzige Aufgabe als christlicher Autor ist es, das ’Christentum schlechthin’ zu predigen, und zwar nicht ad clerum, sondern ad populum. Aller Erfolg, der mir bescxhieden war, beruht auf einer strikten Einhaltung dieser Grenze. Würde ich etwas anderes versuchen, so würde ich den reihen der Kontoverstheologen lediglich einen weiteren (äußerst schlecht qualifizierten) Rekruten hinzufügen. Von da an wäre ich für niemanden mehr von Nutzen. In einer Audienz im November 1984 offenbarte Papst Johannes Paul II. dem engen Lewis-Vertrauten Walter Hooper, was er an dem Oxforder Gelehrten so schätze: „Lewis kannte seinen apostolischen Auftrag. Und er erfüllte ihn.“

4. ERFOLGSFAKTOR. ÜBERSETZUNG.
LEWIS VERSTAND UND SPRACH DIE SPRACHE SEINER ZUHÖRER.


Der evangelische Zheologe Helmut Thielicke mahnt, daß eine Theologie, die nicht gepredigt werden könne, schlechte Theologie sei.
Lewis stößt ins gleiche Horn, wenn er in „Christliche Apologetik“ schreibt, daß wir „jeden Aspekt unserer Theologie in die Umgangssprache übersetzen“ müssen. Hätten die „echten Theologen“, so Lewis süffisant, dieses Prinzip der Akkommodation – also die Angleichung an den Verständnishorizont anderer – schon ungefähr hundert Jahre früher umgesetzt, so hätte es für ihn und sein apologetisches Wirken überhaupt keine Notwendigkeit gegeben. Für Lewis ist „Die Fähigkeit zu übersetzen . . . der Test dafür, ob man wirklich weiß, was man sagen will. Theologische Fachbegriffe in die Umgangssprache zu übertragen ist das eine. Das andere besteht darin, die Fragen und Bedürfnisse des Publikums überhaupt erst wahrzunehmen und ihnen auf Augenhöhe kommunikativ zu begegnen. Lewis war geradezu ein Experte darin, sich auf den Verständnishorizont seiner Zuhöre- und leserschaft einzulassen. Dies war keine natürliche begabung, sondern vielmehr auch für ihn ein bewußter Lernprozeß, der während des Zweiten Weltkriegs schon vor seinen berühmten Radioansprachen bei einer Tour durch die Militärbasen der britischen Air Force einsetzte. Lewis, der eigentlich hochbegabte Studenten gewohnt war, mußte sich nun auf einmal jungen Soldaten ohne große Bildung verständlich machen. Er nahm die Herausforderung an und meisterte die Kunst der kommunikativen Übersetzung im Laufe der Zeit immer mehr. Lewis beherrschte die kulturelle Umgangssprache seiner Zeit. Er kannte sein Publikum.

5. ERFOLGSFAKTOR: KLARHEIT.


LEWIS KOMMUNIZIERTE DIREKT UND KONKRET

Dies ist eine Eigenschaft, die uns gerade in der deutschsprachigen Theologie abhanden gekommen ist. Besonders als Theologen brauchen wir gute, klare Argumente und einen genauen Schreibstil. Lewis hat dies bereits als Teenager gelernt. So berichtet er im neunten Kapitel seiner Autobiographie von den – teils amüsanten – Erfahrungen mit seinem Privatlehrer William Kirkpatrick, auch „the great Knock“ genannt. Kirkpatrick war ein Erzrationalist und hämmerte dem jungen Jack die Gesetze der Logik unerbittlich ein. Auch sein späteres dreijähriges Philosophiestudium an der Oxford University half Lewis enorm. Er liebte die Logik und direktes, nachvollziehbares Denken. So war Lewis später dann auch seinen Freunden Barfield und Tolkien im Debattieren überlegen: „Die Dialektik war der vertraute Boden von Lewis, nicht von Tolkien. ‚’Distinguo, Tollers, distinguo!“, hat man Lewis oft ausrufen hören, und wahrscheinlich war Tollers weniger geschickt darin . . . scharfsinnige philosophische Unterscheidungen zu treffen, als Lewis.“ Am Ende seines Klassikers Bis wir wirklich werden (Till We Have Faces) läßt Lewis einen seiner Haupcharaktere, den Fuchs, sagen: „Kind, eine Sache genau auszudrücken, die du wirklich meinst, und zwar in ihrer Gänze – nicht mehr und nicht weniger und nichts anderes, als du wirklich meinst, das ist die wirkliche Kunst und das Glück der Worte.“ Es ist eine Kunst, die Lewis selbst aus dem Effeff beherrschte.

6. ERFOLGSFAKTOR: ERFAHRUNG.

LEWIS VERSTAND UNGLÄUBIGE, DA ER SELBST EINMAL EINER WAR.


Siebzehn Jahre lang, von 1913 bis 1930, durchwanderte Lewis verschiedene Formen der beiden großen monistischen Weltanschauungen Materialismus und Idealismus. In keiner konnte er heimisch werden. Die Sehnsucht nach jenem „namenlosen Etwas“ ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Entscheidend für Lewis war, daß er einerseits stets offen blieb in seiner Wahrheitssuche und dem Prüfen neue Argumente und andererseits immer versuchte, die Weltanschauung auch zu löeben, die er theoretisch vertrat. „Über Idealismus“, so Lewis in seiner Autobiographie, „kann man reden, man kann ihn sogar empfinden, aber man kann ihn nicht leben.“ Norbert Feinendegen bringt es auf den Punkt: „Da er die anderen Weltsichten selbst ’durchprobiert’ . . . hatte, kannte er ihre Schwächen gut . . . Dies ist vielleicht der wichtigste Grund, warum Lewis später als Apologet so erfolgreich war.“ Wer kennt das Gewicht eines Arguments besser, als derjenige, der sich selbst davon überzeugen hat lassen?! Aus eigener Erfahrung wußte Lewis genau, wie er Skeptikern begegnen mußte.

7. ERFOLGSFAKTOR: DEMUT.
LEWIS SAH SICH VOR GOTTES ANGESICHT


In Dienstanweisung für einen Unterteufel widmet Lewis ein Kapitel der Demut. Darin definiert er Demut gerade nicht als die Geringschätzung der eigenen Fähigkeiten (ein häufiges Mißverständnis), sondern vielmehr als das Vergessen des Ichs.
Je mehr wir von der Herrlichkeit und Größe Gottes erkennen,
so Lewis in Pardon, desto demütiger, sprich: selbstvergessener werden wir. Das Gegenteil von Demut ist der Hochmut, die uns allen innewohnende Ursünde des Stolzes, die verabsolutierung des Ichs. Lewis war sich dieses Übels in seinem eigenen Leben wohlbewußt. Gerade diese bittere Einsicht war für ihn der erste Schritt zur Demut. Sein Wachstum in der Erkenntnis Gottes führte ihn in eine zunehmende Selbstvergessenheit, die sich konkret in seiner Nächstenliebe offenbarte. Beispiel hierfür ließen sich viele anbringen. Zum Abschluss beschränke ich mich auf eines. Lewis hat mit zunehmender Berühmtheit tausende von Leserbriefen erhalten. Diese waren ihm eine große Last. Doch die jeweilige Person hinter jedem einzelnen dieser Briefe, ganz gleich ob Kind, Gelehrter oder Greis, war ihm so wichtig, daß er keinen einzigen Brief unbeantwortet lassen konnte. Lewis hatte stets echtes Interesse an seinem konkreten Gegenüber. Dies war nur möglich, wenn man selbstvergessen ist. „Gott widersteht den Hochmütigen; den Demütigen aber schenkt er Gnade“ (Jak.4,6; 1Petr 5,5).


FAZIT

 C. S. Lewis ist einer der großen Apologeten des Christentums. In diesem Beitrag habe ich in aller Kürze den Versuch unternommen, darzulegen, warum dies so ist. Es müßte noch viel mehr gesagt werden. Doch schon jetzt läßt sich erkennen: Von seiner zweigleisig apologetischen Methode, die sowohl die Vernunft als auch die Fantasie anspricht, können wir viel für unser Hier und Heute lernen. Und seine persönliche Geisteshaltung, die sich in den sieben skizzierten Erfolgsfaktoren widerspiegelt, sollten auch wir uns zu eigen machen. Ich bin der Überzeugung, daß wir im Westen in den kommenden Jahren Leben und Werk des großen Narnia-Schöpfers ganz neu für uns entdecken werden, ja entdecken müssen. Es wäre um einiges besser um unser westliches Christentum bestellt, wenn wir mehr Lewis lesen würden. Im Hinblick auf seine Bücher und seine Gedankenwelt rufe ich somit wie das Einhorn am Ende des finalen Narnia-Bandes: „Weiter hinauf und weiter hinein!“

Entnommen aus dem Heft: DIAKRISIS, 4/2023.

Eingestellt von Horst Koch, Herborn, im Januar 2024
Einige Textbetonungen sind auch von mir

info@horst-koch.de

 

 

 

 

 

 

 




Georg Müller (Dr.U.Bister)

Ulrich Bister

GEORG MÜLLER

(1805 – 1898)

Zum 200. Geburtstag

Gedenket eurer Führer, die das Wort Gottes zu euch geredet haben, und, den Ausgang ihres Wandels anschauend, ahmet ihren Glauben nach!
Hebräer 13, 7

VORBEMERKUNGEN
Gerorg Müller, ein Mann des Glaubens – allein diese biographische Notiz rechtfertigt schon eine Neubesinnung auf ihn, auf das Segenswerk der Schul- und Waisenhausarbeit in Bristol und an zahlreichen weiteren Standorten so wie auf die über fünfzehn Jahre lang durchgeführten Missionsreisen in der letzten Phase seines Lebens. Es war ihm ein Herzensanliegen, nicht nur das Evangelium zu predigen, vielmehr auch die Christen zur Arbeit zu ermuntern und ihnen den Charakter der letzten Tage (gegenwärtige Einrichtungen der Dinge und des Endes derselben) aufzuzeigen.
Das konnte er tun, weil er die Gemeinde in Bristol unter der Aufsicht geübter Mitarbeiter zurücklassen konnte und die Waisenhausarbeit während seiner Abwesenheit der verantwortlichen Leitung seines Schwiegersohnes, Herrn Wright, übergeben konnte.

Nun geht es nicht ausschließlich um das Leben des ‚Waisenhausvaters von Bristol’, oder des ‚englischen A. H. Francke’; mit der Lebensbeschreibung Georg Müllers treffen wir auf eine bedeutsame Zeit der Geschichte der ‚Brüder’ oder ‚Brethren’ deutscher und englischer Prägung. Bei den Anfangsstudien dieser Geschichte und bei den langjährigen Quellensammlungen begegneten dem Verfasser immer wieder Druck- und Handschriften zum Leben und Wirken Georg Müllers. Eine genaue Einordnung und erst recht das Verständnis derselben – dies sollte erst jetzt zur Ausführung kommen, gerade in dem Jahr, in dem wir den 200. Geburtstag des Waisenhausvaters von Bristol begehen. Von besonderer Bedeutung bei diesem Versuch, Müllers Leben im Kontext der Erweckungs-geschichte Europas und ganz speziell dem der Geschichte der Brüder zu bewerten, ist in Bezug auf Johannes Warns’ Stellungnahme, die erst jetzt mit der Herausgabe der Zeitschrift ’Wahrheit in der Liebe’ und einer ersten Sichtung seiner kirchengeschichtlichen Gesamtdarstellung verständlich wird. Die weithin genannten Quellen und Buchtitel liegen dem Verfasser vor.

Zunächst verbleiben uns mehrere Berichte über die Reisen Georg Müllers, die ihn nach Deutschland, auf europäische Festland und schließlich auch nach Asien, Australien und Amerika brachten. Im Jahre 1843, wenig später nach Erscheinen der ersten Teile seiner ’Narratives’ in englischer Sprache, läßt er 4000 Exemplare einer deutschen Übersetzung drucken (übrigens auf Empfehlung von R. C. Chapmans, ’zur Stärkung seiner Brüder im Glauben’): ’Des Herrn Führungen im Lebensgang des Georg F. Müller. Von ihm selbst geschrieben. Suttgart. Im Verlag des Volks. In Commision bei A. Liesching, 1844’.
In der Vorrede wird vermerkt, das ’das Werk entweder freie oder wörtliche Übersetzungen des englischen Originals enthält; auch sind bedeutende Zusätze oder sonstige Veränderungen gemacht, und hier und da sind Stellen ausgelassen, gerade wie es für Deuschland am passendsten schien.“
Später, in seinen Nachbemerkungen, mahnt er, daß „er vor den Brüdern in Deutschland sein Zeugnis ablegen möge, daß es weder schriftgemäß noch auch nötig sei, zu denen zu gehen, die den Herrn Jesum nicht lieb haben und augenscheinlich der Welt angehören, um Hilfe für das Reich Gottes von ihnen zu erhalten. Durch das Gebet habe ich Brüder und Schwestern erhalten, um mir in den Anstalten zu helfen… .

Lieber wollte ich sogleich das ganze Werk aufgeben, als daß eine einzige Person in den Anstalten als Mitarbeiter angestellt werden sollte, von der ich nicht die völlige Überzeugung habe, so weit Menschen es wissen können, daß sie ein Kind Gottes sei“.

Dann wird als weiterer Grund der deutschen Fassung angegeben, ihm mit seinen Glaubenserfahrungen nicht etwa Schwärmerei zu unterstellen, auch weil er sich seit etwa vierzehn Jahren von der Staatskirche getrennt habe.

Ausdrücklich bestätigt Müller, daß sich viele ihm bekannte Jünger des Herrn in den verschiedenen Staatskirchen befinden, und daß der Herr seine Zeugen daselbst habe. Sein eigenes Tun und seine Entschlüsse stehen auf biblischem Grund; er selbst reiße nicht hier und da Stellen aus dem Zusammenhang, um sie seinen Meinungen anzupassen, sondern er mühe sich, den ganzen offenbarten Willen des lebendigen Gottes in allen seinen Teilen zu erforschen.“ So bittet er ausdrücklich die Glaubensgeschwister in Deutschland darum, alle Vorbehalte ihm oder solchen gegenüber, die keiner Staatskirche angehören, fallenzulassen.

Etwa die Hälfte der deutschsprachigen Autobiographie wird von Müller selbst auf seiner mehrmonatigen Deutschlandreise verteilt. Später kommen weitere autobiographische Darstellungen dazu, so diejenigen von A. T. Pierson und des Appenzeller Sonntagsblatts, Traktate und Berichte in Zeitschriften. Schließlich sollte man noch auf eine größere Zahl von ihm in deutscher Sprache verfaßte Einzelschriften hinweisen, die er wiederum in seinen ’Narratives’ nennt. In der Tat, die Beziehungen des Wahlengländers zu den Erweckten in Halle und darüberhinaus zu den ’Brüdern’ – ob eher im Verständnis der ’Offenen’ (die zunächst noch garnicht bekannt waren) oder der ’Geschlossenen’ – erst diese Beziehungen ermöglichten eine umfangreiche Drucklegung des Müllerschen Schrifttums, das in dem bald bestehenden Beziehungsnetz der Versammlungen und Gemeinschaftskreise eine weite Verbreitung erfuhr. Nicht umsonst erfuhr Georg Müller noch in hohem Alter besondere Aufmerksamkeit, als er im Jahr 1890 in Neukirchen zu Gast war.
Nach Julius Stursberg verdankt die Waisen- und Missionsanstalt in Neukirchen ihre Entstehung der Arbeit Müllers in Bristol, wie auch die Werke in Neerbosch/Nijmegen und die des Dr. Comandis in und bei Florenz. …
Es ist auch Georg Müller, von dem wir in der Geschichte der ’Brüder’ bis heute ganz entscheidende Impulse wahrnehmen, dessen Erinnerung an die Plymouth – Bethesda Auseinandersetzung aufrechterhält, die zur Trennung zwischen ’Offenen’ und ’Geschlossenen’ Brüdern führte.

BIOGRAPHISCHE NOTIZEN
Georg Müller wurde am 27. September 1805 in Kroppenstedt bei Halberstadt in der Provinz Sachsen geboren. Seine Kindheit verlebt er ab dem Jahre 1810 im benachbarten Heimersleben. Er studiert Theologie in Halle, um 1825 hören wir von seiner Erweckung und Bekehrung in einer Stubenversammlung bei einem gewissen Wagner; bei ihm versammelt er sich bald mit weiteren gläubigen Studenten.
Schließlich bildet sich im Jahre 1827 bei Müller zu Hause eine regelmäßige Stubenversammlung von etwas 20 Gesinnungsgenossen. Jahre später sollte er nochmals bei einer Besuchsreise im Hause Wagners einkehren. Bereits im Jahre 1826 entschließt sich Müller, Missionar zu werden. Der Hallenser Professor Dr. Friedrich A. G. Tholuck fördert Müller in seinem Institut, und hier lernt der Student mehr und mehr die Arbeit des Waisenhauses in den Franckeschen Stiftungen kennen. Durch Tholucks Vermittlung reist Müller nach London, um in der Londoner ’Gesellschaft zur Verbreitung des Christentums unter den Juden’ für den Dienst der Judenmission vorbereitet zu werden.
In Erinnerung an diese Zeit schreibt er später Tholuck als seinem verehrten Freund und Bruder: „Ohne Übertreibung kann ich sagen, daß mich Gott seit dem Jahr 1826 weitergeführt hat, da, wo Sie mich an die Hand nahmen. Und das geschah während Sie mit den Brüdern in Christo zusammenwaren, daß sie doch aufgebaut und ermuntert würden… . So habe ich allen Grund, Gott immer zu preisen, daß Sie das Werkzeug waren, mich nach England zu bringen. Wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise dienen kann, lassen Sie es mich unbedingt wissen. Denn das bin ich Ihnen so sehr schuldig, und ich kann es nie ganz vergelten.“
Im Mai des Jahres 1838 bittet er Tholuck, „die Brüder Wagner und alle anderen, die sich an ihn erinnern, zu grüßen und ihnen für alle erwiesene Freundlichkeit zu danken.“
Mittlerweile war Georg Müller mit den ’Brethren’ in England über die Erlebnisse und Erfahrungen der Konventikel in Halle hinausgegangen, wie später berichtet werden soll.

Johann Veit Wagner, geb. am 17. Dezember 1775 im fränkischen Bayern, war als Stellmacher nach Halle gekommen und hatte dasselbst die Tochter des Erweckten Hubert geheiratet. In Halle erlebte zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Rationalismus eine erste Hoch-Zeit.
Aber gerade in dieser Zeit erscheinen für die Stillen im Lande als deutliche Signale die ’Mitteilungen der deutschen Christentumsgesellschaft’ aus Basel oder die zahlreichen Schriften des Johann Heinrich Jung (genannt Stilling) und anderer Erweckter. Offensichtlich gab es im Hubertschen Hause schon Konventikel, die zu damaligen Zeit ohne Präsenz eines ordinierten Predigers noch nicht geduldet waren, die aber für den Halleschen Pietismus in Berufung auf M. Luther einen festen Platz hatten. …
Nach Wagners Tod in 1862 wurde die Aufstellung eines Grabsteines „Dem Patriarchen der hallischen Christen und geistlichen Vater des englischen A. H. Francke von einigen Christen“ veranlaßt.
So erhalten wir bereits im Jahre 1830 einen recht wohlwollend verfaßten Bericht über die Stillen im Lande, unter ihnen Joh. Veit Wagner und Georg Müller; etwas 30 Jahre später folgt unmittelbar nach Wagners Heimgang ein zweiter Bericht: „Der fromme alte Wagner, ein christlicher Handwerker, der mit Tholuck korrespondierte, sammelte wiederholt einen Kreis von Studenten um sich, denen Tholuck am Abend erbauliche Aussprachen hielt. …“
Am 19. März 1829 kommt Müller nach England, nachdem er zuvor die Freistellung vom preußischen Militärdienst erreicht hatte. Zunächst studiert er in London Hebräisch, allerdings erkrankt er bald und verläßt London, um sich zur Genesung im südenglischen Teignmouth aufzuhalten.
Hier lernt er Henry Craik kennen, dem er 36 Jahre freundschaftlich verbunden bleibt. In den Tagebuch- und Briefaufzeichnungen seines Freundes Henry Craik erinnert er den Leser später in der Einführung an diese für ihn prägende und erlebnisreiche Zeit.

G. F. Bergin geht dann recht ausführlich auf seine erste große und für ihn folgenreiche Glaubensentscheidung ein: er löst sich mehr und mehr von der ihm auferlegten Pflicht des Weiterstudiums in London und sieht seine Berufung als eine ausschließlich vom Herrn bestätigte. So teilt ihm im Jahr 1830 das Komitee der Londoner Gesellschaft mit, daß man ihn nicht länger als Missionszögling ansähe; für Georg Müller ist dies ein erster Schritt in der Berufung zum Dienst als Prediger unter den Juden in England, aber auch unter seinen Mitmenschen ganz allgemein, die er zu Christum führen kann.
Bald übernimmt er regelmäßige Predigtdienste in einer Gemeinde in Teignmouth, ebenso in Exeter, Exmouth und der weiteren Umgebung. Sein segensreiches Wirken veranlaßt die Glaubensgeschwister in Teignmouth, jeden Sonntag regelmäßig das Brot zu brechen.

Und dies war nicht etwas ein Sondergut der sog. Brethren, vielmehr hatten sich in England oder in den Niederlanden schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts in vielen Regionen staatskirchenunabhängige Philadelphiakreise oder Collegia gebildet, in denen ohne Beisein von Amtspersonen Brot gebrochen wurde. Die Brüder mögen in ihren Anfängen mit dieser Mahlfeier dem Gedanken der Einheit des Leibes Jesu eine besondere Note gegeben haben.
Später formuliert Müller mutig, daß auch und gerade die Missionsgesellschaften Gottes Wort als einzige Richtschnur für die Jünger des Herrrn anzusehen hätten, und daß das gut gemeinte Unterfangen, daß die ganze Welt sich bekehre, nach Habakuk 2:4 oder Jejaja 11:9 sich nicht auf unsere „Dispensation“ beziehen kann, sondern sich erst auf die, die sich mit der Rückkehr des Herrn entfaltet. Im Herbst 1830 heiratet Müller Marie Groves, die Schwester des Indienmissionars A. N. Groves. Seit 1832 hält er sich dann in Bristol auf Bitten seines Freundes Henry Craik auf, dort mieten beide die Bethesdakapelle an, um daselbst Evangelisationsversammlungen abzuhalten.
Durch das Studium der Biographie A. H. Franckes hatte sich Müller gleichzeitig auch für die Armenarbeit in Bristol interessiert. Dann gründete er im März des Jahres 1834 die ’Anstalt zur Verbreitung von Schrifterkenntnis in der Heimat und im Ausland’.
Im Februar des Jahres 1840 unternimmt er eine länger dauernde Orientierungsreise auf das europäische Festland; hier hören wir von seinen Aufenthalten jeweils in Hamburg, Berlin, Magdeburg (Begegnung mit seinem Vater), Sandersleben und in Halberstadt.
Es kommt zu weiteren Missions- und Evangelisationsreisen, auf die noch später genauer eingegangen werden muß. Am 10. März des Jahres 1898 wird Müller im 93. Lebensjahr von seinem Herrrn heimgerufen.


STUTTGART – GEORG MÜLLER IN SEINER VERANTWORTUNG ALS PREDIGER UND MISSIONAR IN SEINER HEIMAT
Auf Bitten seines Schwagers A. N. Groves sollte Müller ihn nach Deutschland begleiten, um dort Missionare für Indien zu finden.
Zunächst erreichten sie im März 1835 Basel, danach sollten beide in Tübingen mit dem Studenten Gundert (zukünftiger Hauslehrer der Grovesschen Kinder in Indien) zusammentreffen.
Gunderts Vater geleitete Müller dann bis nach Stuttgart, und von da aus zog es ihn nach Halle, um neben weiteren Brüdern auch den bereits erwähnten Dr. Tholuk zu treffen.
Seine Vaterstadt Heimersleben und die Begegnung mit den dort wohnenden Verwandten sollten den Abschluß dieser Reise bilden.

In Stuttgart machte Müller auch die Bekanntschaft mit einer Dame, die durch seine autobiogaphischen Entwürfe berührt wurde und auf der Suche nach einer christlichen Gemeinschaft war, die Müllers Grundsätzen entsprach. Sie selbst hatte sich jetzt (1843) einer kleinen abgetrennten Baptistengemeinde in Stuttgart angeschlossen. Auch der Vorsteher dieser Gemeinde, ein Dr. Römer, hatte Müller brieflich um Stellungnahme in Fragen der Gemeindeordnung gebeten, und Müller hielt nicht damit zurück, daß „weder die Staatskirchen, noch die außerordentlich engen und separatistisch gesinnten Sekten der Baptisten recht mit der heiligen Schrift übereinstimmten.“
Nach 14 Jahren Dienst in England sollte nun für ihn die Zeit gekommen sein, seinen Landsleuten mit dem Evangelium und der Lehre der Heiligen Schrift zu dienen. So erreichte er im Spätsommer des Jahres 1843 Stuttgart und schon sehr bald kommt es zwischen ihm und den Glaubensgeschwistern zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten. Zunächst läßt sich nach den Berichten kaum eine genaue Zuordnung dieses Geschwisterkreises vornehmen; eindeutig aber die Gesetzesstrenge, eine kaum ertragbare Selbstgefälligkei („Wir sind die Kirche, alle anderen sind in Irrlehre und Babylon“) und die Allversöhnung (Wiederbringungslehre).
Müller wendet sich dann auch gegen eingefahrene Gewohnheiten (Bruderkuß nach der Abendmahlsfeier, als Anrede unter den Geschwistern das übliche Du), auch gegen eine Festlegung in der Taufpraxis (Säuglings- oder Erwachsenentaufe).
Es gehe doch ausschließlich um die persönliche Beziehung zu dem gekreuzigten und erhöhten Heiland und immer wieder um das Bewußtsein, daß uns doch Gott in Gnade ein demütiges Herz geben und bewahren möge.

Zum konfessionellen Verständnis dieser Baptistengemeinde helfen uns hier mehrere Quellenschriften, einmal die von Carl Grüneisen und Christian Palmer, sowie die des Gemeindeältesten der taufgesinnten C. A. Schaufler über ’Die Vollendung der Reformation’, Stuttgart, 1862.

Carl Grüneisen spricht von einer „kleinen Gesellschaft von Erbauung suchenden Freunden der christlichen Wahrheit“, die in Dr. Römer’s Wohnung zusammenkam, der neben Schaufler an der Spitze des Vereins stand. Hinzu kamen weitere Personen aus Rohracker und Nellingen. . . .

Diese führten damals Briefkontakt mit Johann G. Oncken, dem damaligen Leiter der hamburgischen Traktatgesellschaft; er konnte diesen gewinnen, 1838 zu einem Besuch in Stuttgart zu verweilen, Vorträge im Hause Römer zu halten und schließlich 22 Taufwillige in Gaisburg/Neckar zu taufen; unter seinem Vorsitz wurde dann auch das Abendmahl ausgeteilt.
Allerdings mußte Oncken dem Wunsch Schauflers nach Ordination widersprechen, da er ihm und seinen Gesinnungsgenossen die Unvereinbarkeit ihres Verständnisses von Prädestination und Wiederbringungslehre unterstellen mußte.
Ein nochmalige Besuch Onckens wird für das jahr 1840 angegeben, aber er wurde ebenso wie Fröhlich, der zwischenzeitlich im Jahr 1839 in Stuttgart gewesen war, durch die Polizei ausgewieden.
Eine Verbindung zu den Mennoniten scheint es nach Grüneisen bislang nicht gegeben zu haben, die Bezeichnung Wiedertäufer (Anabaptistes) durch andere – wie in der benachbarten Schweiz üblich – lehnten die Neutäufer deutlich ab.

Auch Christian Palmer möchte den Kreis der Stuttgarter Baptisten nicht übersehen. Seit 1837 treten sie in Würtemberg in Erscheinung als Taufgesinnte oder evangelisch getaufte Gemeinde, unter ihnen der Instrumentenmacher Schaufler und Prokurator Römer.
Nach dem Würtembergischen Pietistenrescript des Jahres 1743 und dem Religionsedikt von 1806 werden nunmehr die Taufgesinnten weniger als Separatisten eingestuft, sondern „als fremde Konfession, die zwar nicht staatlich als eine Kirche anerkannt, aber unter der nötigen Beschränkung toleriert ist“. Insgesamt zeigen die Taufgesinnten scharfe Ablehnung jeder landeskirchlichen Arbeit, den Pfarreren gegenüber sind sie agressiv und verspotten sie öffentlich. Erwachsenentaufe und Wiederbringungslehre finden in ihren Sonderlehren einen besonderen Platz.

C. Palmer, als Ältester der Evangelisch getauften Gemeinde Jesus Christi in Würtemberg, Baden und Amerika . . . schreibt er seine Erkenntnis in 17 Glaubensartikeln nieder, hier bes. zu erwähnen Artikel 5, ’Von der Erwählung und der Wiederbringung aller Dinge’ sowie Artike 8 ’Von der heiligen Taufe’.

C. Palmer geht in seiner Arbeit auch auf die Darbysten ein, erstmals 1847. Davon zeugen übrigens die unmittelbar später in Tübingen aufgelegten Druckschriften von J. N. Darby.
Zunächst erfahren wir von keiner näheren Beziehung zu Müllers erstem Aufenthalt in Stuttgart 1843.
John N. Darby soll zuerst in den bereits bestehenden Tübinger Gemeinschaftskreisen gewirkt haben, allerdings kommt es dann, so Palmer, sehr bald zur Separation: 24 Personen erklären ihren Austritt aus der Landeskirche.
Und hier können wir nur annehmen, daß es sich um Gläubige aus den innerkirchlichen Gemeinschaftskreisen (Hahnsche Gemeinschaften) handelte. Darby selbst soll zwischenzeitlich in Tübingen die Separierten besucht haben. Sein neutestamentliches Lehrverständnis etwas zu den Fragen von Amt, Gemeinde und Haushaltung bleibt der Kirchenbehörde in Stuttgart nicht unbekannt.

Georg Müller selbst gibt uns in seinen ’Narratives’ noch genauere Hinweise zu seinen Erlebnissen in Stuttgart im Jahre 1843/44. Für Müller waren die Christen, denen er in Stuttgart begegnete, Leute mit separatistischen Ansichten, für die ihr Establishment so ungemein wichtig war; ihnen möchte er helfen, daß sie diesen Sektengeist loswerden. Die dann jeweils aus Weinheim und Stuttgart (1843) aufgeführten Briefkorrespondenzen mit der eimatgemeoinde in Bristol geben uns Einblick in zahlreiche Begegnungen mit Christen, Bekannten und Freunden.
So begegnete er in Mannheim dem Bruder T. H. und der lieben Frau M. In Heilbronn waren ihm bereits vier Gläubige bekannt; bei ihnen bleibt er über nacht. Für den Stuttgarter Kreis fürchtet er allerdings große Auseinandersetzungen: „andere wünschen es bereits, daß ich nie nach Stuttgart gekommen wäre“.

Dies sind für Müller Erfahrungen, die er mit seinen Glaubenmsgeschwistern in Bristol in den letzten Jahren gemacht hatte, einer Gruppe von Gläubigen um H. Craik, aber auch die mit den befreundeten R. C. Chapman und A. N. Groves.
Etwa um 1830, als durch umfangreiche Evangelisationsarbeit viele in Bristol und Umgebung erweckt worden waren, entstand dort eine kleine Versammlung, die innerhalb weniger Jahrzenhte bis auf 600 Personen wuchs (Bethesda-Chapel).

Apostolische Einfachheit der Anbetung, Darbietung des Evangeliums an Fernstehende, die leitende und regierende Macht des Heiligen Geistes in allen Versammlungen und das geistliche Priestertum aller Gläubigen – dies waren einige Merkmale dieser Meetings, ähnlich wie bei vielen der auf den britischen Inseln, aber auch in Europa an vielen Stellen neu entstandenen staatskirchen-unabhängigen Versammlungen von Gläubigen.
Übereinsimmend wird auch erwähnt, daß sie alle regelmäßig das Brot brachen.

In einem Nachwort der erstmals in Stuttgart (1844) vorgelegten Ausgabe ’Des Herrn Führungen im Lebensgange des Georg Müller’ berichtet er den Glaubensgeschwistern in Deutschland. „Die Zahl der Gläubigen, die Gemeinschaft mit uns zu suchen, ist so groß, als zu irgend einer Zeit, seitdem wir in Bristol gewesen sind; und seit mehreren Jahren sind jährlich gegen hundert Brüder und Schwestern unter uns aufgenommen worden: so daß jetzt die Anzahl derer, die mit uns in Gemeinschaft sind, sich auf 680 beläuft, obgleich viele Geschwister entschlafen sind, andere Bristol verlassen haben… . Unter diesen 680 Geschwistern arbeiten 7 Brüder in der Lehre, Seelsorge, im Vorstehen und in der Armenpflege… . Dies sage ich nicht… , um mich zu rühmen, denn wer bin ich denn anders, als ein armer unnützer Knecht“.

So wundert es nicht, daß Müller im August des Jahres 1843 sonntags zweimal das Wort unter den Stuttgarter Taufgesinnten ausgelegt hatte, danach aber am Abend in seinem Zimmer mit einigen Heiligen das Brot brach, was in der Stuttgarter Baptistenkirche der Neutäufer nur einmal monatlich üblich war. Deutlich dann Müllers Hinweis, daß die Taufgesinnten ihm andeuteten, niemals Abendmahlsgemeinschaft mit Leuten zu haben, die noch der Staatskirche angehörten und den bei ihnen verbindlichen Taufritus nicht anerkennen würden.
Sie selbst betonten dabei, daß die Wiedergeburt sich erst mit der Bekenntnistaufe manifestiere (No one was born again exept he was baptized), daß auch niemand ein Recht zur Behauptung hätte, seine Sünden seien vergeben, es sei denn er wäre getauft. Daß sie sich gar inhaltlich mit diesen Äußerungen auch auf die Apostel und den Herrn selbst bezogen, veranlaßt Müller zu der Feststellung, daß jene die Grundwahrheiten des Evangeliums angriffen.

Trotz zahlreicher Unterweisungen Müllers bleiben die Stuttgarter Taufgesinnten bei ihrer Einstellung, sie warfen ihm vor, er sündige, wenn er mit ungetauften (gemeint sind hier solche, an denen die Säuglingstaufe vollzogen worden war) Gläubigen Brot breche, erst recht mit solchen, die zur Staatskirche gehörten – das würde sie selbst verunreinigen, wenn er mit ihnen Gemeinschaft pflege. So werde er, Müller, der Sünde anderer teilhaftig und diese Sünde laste nun auf ihm, (wenn er zu ihnen komme). Auch die tatsächliche Existenz von Leib und Blut Christi in Brot und Wein war den Taufgesinnten unumstößliches Dogma.

Diese Auseinandersetzungen und Streitfragen führten zu einer Spaltung in der Stuttgarter Taufgesinntengemeinde, obwohl es Müllers ausdrücklicher Wunsch war, den Glaubensgeschwistern zu helfen. Der leitende Älteste entschied dann kurzerhand, daß alle diejenigen, die mit Müller gemeinsam das Brot brächen, nicht länger als Mitglieder der Gemeinde angesehen werden: gleichzeitig untersagte er Müller weiteres öffentliches Lehren in der Gemeinde.

Gemeinsam mit 12 Geschwistern dieser Baptistengemeinde sowie einigen andernen bricht Müller dann in seiner gemieteten Wohnung das Brot. „Es ist der Anfang“, so schreibt er, und dieser Anfang war gleichsam die Erfüllung einer Hoffnung, die er vor seiner Reise auf das Festland in seinem Herzen hatte: „eine kleine lebendige Gemeinde, gegründet auf den Prinzipien der Schrift, ein Licht für andere“, diesen Gläubigen „ein Glaubensfundament zu vermitteln“.

Aber zwischenzeitlich bekennt er in einem Brief vom 7. September 1843:
 „Diese Gotteskinder hatten recht, wenn sie die Taufe der Gläubigen für schriftgemäss erachteten und sich von der württembergischen Staatskirche trennten. Aber sie hatten diesen beiden Lehrpunkten eine unzutreffende Bedeutung zugemessen. In der Tat ist die Taufe der Gläubigen wahrhaft von Gott, ist Trennung von Staatskirchen auf Seiten der Gotteskinder unabdingbar, da sie sich bewußt sind, daß eine Kirche eben eine Versammlung von Gläubigen ist, allerdings gleichzeitig in Staatskirchen eine Vermischung von Weltgeist mit einigen treuen Gläubigen wahrnehmen.
Wenn diese Punkte jedoch zu sehr betont werden, wenn sie aus ihrem Zusammenhang gerissen werden, als bedeuteten sie alles, dann muß es bei denen, die so verfahren, zu geistlichem Verlust führen, auch wenn es die kostbarste Wahrheit in Verbindung mit unserer Auferstehung in Christo, mit unserer himmlischen Berufung oder auch mit der Verheißung wäre; immer dann, wenn Teile dieser Wahrheit zu sehr herausgestellt werden, werden früher oder später diejenigen, die eine ungebührliche Betonung auf diese Teilwahrheiten legen und sie so als besonders wichtig herausstellen, in ihren eigenen Seelen Verlust erleiden; und, falls sie als Lehrer tätig sein sollten, jene verletzen, die sie belehren. Und eben dies war in Stuttgart der Fall. Taufe und Separation von der Staatskirche war schließlich diesen lieben Brüdern beinahe alles geworden.
Wir sind Kirche. Die Wahrheit soll nur unter uns gefunden werden. Alle anderen sind im Irrtum und in Babylon. Dies waren die Phrasen, die immer wieder durch unseren Bruder … gebraucht wurden.
Aber Gott muß in diesem Zustand Züchtigung anwenden. Dieser geistliche Stolz hatte von einem Irrtum zum nächsten geführt. Oh, daß es doch mir selbst und allen Gläubigen, die es lesen, eine Warnung sei und daß doch Gott Gnade gebe und ihnen und mir ein demütiges Herz zubereite!“. – Soweit Müllers Brief vom 7. 9. 1843.

Und, um es vorwegzunehmen, Müller schienen diese Erfahrungen aus früherer Zeit tief zu Herzen gegangen zu sein: einmal in der Auseinandersetzung mit R. C. Chapman, als dieser ihm in der Taufpraxis widersprochen hatte:
„Im August des Jahres 1836 hatte ich eine Unterredung mit Bruder Chapman…: Ungetaufte Gläubige, so Chapman, gehören zu den Leuten, die unordentlich wandeln, und in diesem Falle sollten wir uns von ihnen zurückziehen, 2. Thess. 3:6 …. .
Wenn aber ein Gläubiger unordentlich wandelt, sollten wir uns nicht nur von ihm am Tisch des Herrn zurückziehen … . Nun, dies ist eben nicht vertretbar für das Verhältnis von getauften und ungetauften Gläubigen. Der Geist Gottes möchte es uns nicht auferlegen, aber er bezeugt, daß solche nicht unordentlich wandeln, auch wenn sie nicht getauft sind. Und so darf auch eine kostbare Gemeinschaft zwischen getauften und ungetauften Gläubigen bestehen … .
 Wir sollten alle aufnehmen, die Christus aufgenommen hat, Römer 15:7, unbeachtet des Maßes der Gnade oder des Verständnisses, das sie hierin haben … . 
Die Aufnahme all derer, die unseren Herrn Jesus lieben, in volle Gemeinschaft mit uns, ohne die Taufe zu berücksichtigen, war nie Quelle von Streit unter uns, obwohl mehr als 57 Jahre seither vergangen sind.“

Noch deutlicher versteht Müller diese Grundsatzentscheidung in der Plymouth-Bethesda Angelegenheit, in der er dazu auffordert, alle Glaubensgewister der umliegenden Versammlungen, erst recht die aus Plymouth, aufzunehmen (auch mit der ausdrücklichen Bitte, sich von der falschen Lehre Newtons zu distanzieren). In einer abschließenden Bewertung weiter unten wollen wir noch genauer darauf eingehen.

Nach fünf Monaten Aufenthalt in Stuttgart scheinen etwa 50 Personen mit Müller regelmäßig zusammenzukommen. Ende Juli 1845 ist Müller erneut in Stuttgart; „ein falscher Lehrer aus der Schweiz hatte sich zu den Brüdern und Schwestern in Stuttgart begeben und beinahe alle waren durch ihn weggezogen worden…“
Auch von dieser Reise zeugen mehrere Briefkorrespondenzen mit den Glaubensgewistern in Bristol; erneut werden regelmäßige Versammlungen in Stuttgart für etwa 150 Personen gehalten. Dann nennt Müller insgesamt 11 Titel von Evangeliumstraktaten. Sie sollen in großer Stückzahl in Stuttgart und auf weiteren Reisestationen verteilt werden. Weitere Reisen bringen ihn dann nach Heilbronn, Heidelberg, Darmstadt, Fulda, Erfurt, Eisenach, Eisleben, Nordhausen, Göttingen, Kassel, Elberfeld, Düsseldorf und Köln, insgesamt 25 Tage lang.

REISETÄTIGKEIT
In seinen bis 1855 fortgesetzten „Narratives“ geht Müller nicht weiter auf die Stuttgarter Glaubensgewister ein. Von weiteren und späteren Reisen nach Deutschland erfahren wir dann jeweils im Missions- und Heidenboten aus Neukirchen, so von einem Aufenthalt im Basler Missionshaus am 26. September 1881, in Düsseldorf in 1882 sowie im Basler Vereinshaus in 1890.

F. Bergin beschreibt darüberhinaus eine Deutschlandreise für die Zeit August 1876 bis Juni 1877 (Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt, Preußen) und eine Städtereise (1890/91) nach Köln, Mainz Heidelberg, Korntal, Karlsruhe, Pforzheim, Wiesbaden und Frankfurt am Main, sowie Mülheim/R., wo er vor 1600 Menschen spricht.
 Wiederum reist Müller für ca. 11 Monate nach Deutschland in 1891/92 und predigt in Barmen, Elberfeld, Kassel, Berlin, Hamburg, Halberstadt, Breslau und anderen Orten.
Pierson erwähnt eine achte Europareise von Müller um 1892, die ihn bis St. Petersburg (Oberst Paschkoff und Fürstin von Lieven) führt, sowie bis in die Schweiz und Italien.
Einen Gesamtüberblick schließlich erhalten wir in den Reiseberichten ’Preaching Tours’, bereits im im Jahre 1883 durch Mrs. Müller herausgegeben.
Hier wird uns von neun Reisen berichtet, unter ihnen die dritte, fünfte und neunte nach Europa. Einige Gründe, die Müller bewogen, immer wieder die Glaubensgeschwister aufzusuchen, sollten hier kurz genannt werden.

1) Der Gläubige ist in Christo angenehm gemacht. Das Bleiben in Jesu vermittelt ihm rechte Heilsfreude.
2) Es war nötig, die Gläubigen zum rechten Gebrauch der H. Schrift zu führen, damit sie deren verborgenen Schätze fänden: daß sie an diesem Prüfstein alles beurteilen, daß sie sie täglich mit Sammlung und Gebet vor dem Herrn lesen, um sie dann im Gehorsam auszuleben.
3) Unter allen Gläubigen gilt es die brüderliche Liebe zu fördern; eben nicht die nebensächlichen Fragen, mehr aber die grundlegenden Wahrheiten, in denen sie alle eins seien; daß sie sich doch über engherzige sektiererische Vorurteile hinwegsetzten.
4) Es gilt, den Glauben der Gotteskinder an die in Seine (Gottes) unwandelbaren Verheißungen zugesagte Erhörung des Gebets zu stärken.
5) Die Gläubigen mögen angehalten werden zur Scheidung von Welt und Weltwesen und zum Trachten nach himmlischen Dingen. Gleichzeitig wolle er vor schwärmerischen Verirrungen wie z.B. vor der Lehre von der Sündlosigkeit schon im Erdenleben warnen.
6) Schließlich sollten die Jünger des Herrn sich auf die Wiederkunft des Herrn Jesus konzentrieren.


Eine im Jahr 1892 in Berlin gehaltene Predigt sollte darüberhinaus noch einige wesentlichen Punkte vertiefen (Übers. Pierson):
 Die Gläubigen sollten unter den größten Schwierigkeiten nicht verzagt sein. Das Hauptgeschäft jedes Tages bestehe darin, Ruhe und Frieden in Gott festzuhalten. Diesen Gott gelte es mit ganzem Ernst kennenzulernen, so wie er sich in der H. Schrift offenbart. Dazu gehöre das regelmäßige Forschen in der Schrift, das Gebet, ein heiliger Wandel und reichliches Geben für Seine Sache. Durch völlige Übergabe an Seinen Willen und im Dienst für Ihn kommt es so zur Verherrlichung Gottes

DIE BRÜDER (BRETHREN) IM KONTEXT DER BIOGRAPHIE GEORG MÜLLERS

Georg Müller selbst geht so gut wie garnicht auf die Schwierigkeiten des Plymouth – Bethesdastreites ein. Die kurzen Hinweise in seinen ’Narratives’, besonders herausgestellt durch F. Bergin, sollen genügen, einiges aus dem Verständnis des frühen Brüdertums wiederzugeben: „Während dieses Sommer (1830) war es mir von der Schrift her klar, nach dem Beispiel der Apostel (Apg. 20:7), jeweils am Tag des Herrn das Brot zu brechen”.

Ausführlicher berücksicht dann William H. Harding in der bereits genannten Biographie das Verhältnis Müllers zu den ’Brüder’; so zunächst in Kap. II (Müller and the Brethren), dann später mit der Bemerkung, daß etwa seit 1832 sich die Bethesdakirche als ’Versammlung der Brüder’ auf die Bibel und die Verkündigung des Evangeliums in Bristol und darüberhinaus mit den apostolischen Anliegen ausrichtete. Später geht dann der Verfasser auf die Auseinandersetzungen der Jahre 1845/48 ein. Er selbst greift auf die in englischer Sprache vorliegende Schrift ’Die Prinzipien der Offenen Brüder’ (The Principles of Open Brethren) zurück und vermerkt, daß „Müller und Craik nicht jene (vom Mahl des Herrn) ausschlossen, die von Herrn Newtons Versammlung gekommen waren, es sei denn, sie hielten fest an seinen Irrlehren” (Harding: The Ministry of the Word”, 116, 123.)

Kurz später, im Juli des Jahres 1849, bat Darby Müller um ein Gespräch, das dieser jedoch wegen dringender Verpflichtungen nur für zehn Minuten hätte wahrnehmen können.

Harding wagt an dieser Stelle den Vergleich mit Paulus und Barnabas oder Wesley und Whitefield. Leider ist es hiernach nicht mehr zu einer versöhnenden Begegnung zwischen Darby und Müller gekommen! Und dann möchte Harding nicht versäumen, beider Anliegen besonders herauszustellen: Darbys Verständnis über den verherrrlichten Menschensohn oder über Christus, sowie die Gerechtigkeit des Christen vor Gott; in gleicher Weise Müllers Ausführungen über Hoh. 8:5 („Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste her, sich lehnend auf den ihren Geliebten?“): daß wir (als Erlöste Christi) doch auf den Herrn sehen, auf seine unergründliche Fülle, bei Ihm Kraft, Trost, Hilfe und Erquickung zu empfangen in der Stunde der Not.
Welch herrliche Aussicht, solch einen Freund für immer zu haben! (Aus Harding: Chapter ‘The Redeemed in the Wilderness’, 125)
Wie bereits zwischenzeitlich angedeutet, werden weitere Einzelpredigten erwähnt, etwas die über ’Das zweite Kommen unseres Herrn Jesu Christi’. Hier entdecken wir eine für Müller eindeutige Position in der Lehre der ’Brüder’, und es läßt in all den weiteren Zeugnissen nichts darauf schließen, daß er sich jemals in wesentlichen Punkten davon entfernt oder sie gar widerrufen hat.

Nach vorliegenden Briefzeugnissen hatten ihm die Begegnungen auf den prophetischen Konferenzen in Powerscourt (Irland) mit Craik, Darby, Newton, Soltau und Miss Trelawny, um nur einige zu nennen, die wesentlichen Impulse gegeben, und die ihm und Craik oft angetragenen Bezeichnung von ’Baptist-Brethren’ ist einseitig vorbelastend. Das uns heute vorliegende umfassende Schrifttum der ’Offenen’ Brüder findet, abgesehen von der Definition der Unabhängigkeit der Gemeinde/Versammlung, weithin auch unter den ’Geschlossenen’ Brüdern lebhaftes Interesse; hier zu nennen u.a. das Schrifttum von R. C. Chapman, G. H. Lang, W. Vine oder auch A. v. d. Kammer und Erich Sauer.
Für den Wiedenester Bibelschullehrer Johannes Warns war gerade zur Zeit der Stündchenbewegung der sogenannte Bethesdastreit aus dem Jahr 1848 längst noch nicht eindeutig geklärt, und seine ausführliche Analyse mag nicht wenigen unter den geschlossenen (Elberfeldern) Brüdern damals als Signal gewirkt haben, endlich den alten Streit zu beenden.
In seiner Schrift ’Georg Müller und John Nelson Darby. – Ein Rückblick auf den sogenannten Bethesdastreit zu Bristol im Jahr 1848’. (Wiedenest 1936) bleibt er nicht bei allzu Bekanntem stehen. Die Wiedergabe der Rechtfertigung Newtons und gleichzeitig sein Versuch, Darby nicht einfach Unlauterkeit oder Lieblosigkeit den Brüdern Müller, Craik und Newton gegenüber zu unterstellen, lassen seine Argumentation zunächst als gründlich und gelungen gelten.

Dabei versucht er, die Hintergründe des Bethesdastreites zu erläutern: der Gegensatz zwischen der evangelischen urchristlichen (bezogen auf Müller) und dem katholischen (bezogen auf Darby) Gemeindeideal, oder auch die Frage nach der Darstellung der (unsichtbaren) Gemeinde Jesu, wie sie sich in unterschiedlichen Erscheinmungsformen zeigt.
Leider wurde, so der Verfasser, in diesem Strei das ursprüngliche Ideal der Brüder nicht nur beiseitegesetzt, sondern auch preisgegeben, zugunsten eines rigorosen Exklusivismus.
„Darbys Kirchenbild widerspricht dem NT und der Geschichte“, während „Müller und seine Freunde im neutestamentlich – evangelischen Sinne die Freiheit und Selbständigkeit der örtlichen Gemeinde verteidigen.“

Nach den uns heute vorliegenden Quellen, nicht zuletzt den umfangreichen Briefbeständen der ’Bethren’, konnte Johannes Warns damals nur auf einige dieser Quellen zurückgreifen, die meisten hat er mit Sicherheit nicht gekannt. Auch die durch Johannes Menninga verfaßte ‘Erwiderung’ geht von mehr oder weniger bekannten Vorlagen aus, ohne Einzelheiten aus dem Leben G. Müllers näher zu erläutern.
Dennoch muß es Warns zugestanden werden, daß er es erstmals im Gegensatz zu vielen anderen vor ihm versucht hat, ’offene’ und ’geschlossene’ Positionen kritisch gegenüberzustellen und das Kirchen/Gemeindeverständnis der beiden Brüdergruppen genauer zu bestimmen, ohne dabei von den meisten seiner Geschwister verstanden zu werden. Bei diesem ihm wesentlichen Anliegen kommt allerdings der eigentliche Anlaß des Plymouth – Bethesdastreites zu kurz.
Die damals bereites vorliegenden Arbeiten etwa von G. Ischebeck, W. B. Neatby, N. Noel oder W. Trotter, um nur einige zu nennen, stellen die Angelegenheit je nach Gemeindezugehörigkeit ihrer Verfasser ganz unterschiedlich dar.

Für den den Freien Evangelischen Gemeinden verbundenen G. Ischebeck ist J. N. Darby verantwortlich für den Darbysmus, und „all denen, die sich in der Bethesdafrage nicht zu seiner Ansicht bekannten, wurde die Gemeinschaft aufgesagt“. Und weiter:
„Darby ging von einem Ort zum andern, indem er suchte, überall die Annahme seiner Haltung Bethesda gegenüber durchzusetzen…, Versammlungen der Heiligen wurden durch ihn in den Bann des Ausschlusses getan für nichts mehr, als daß sie nicht erkennen konnten, daß Darby recht und Bethesda unrecht hatte… . Das Wenigste, was gesagt werden kann, ist, daß Darby sich nicht genug Mühe gab, seine Behauptungen und Beschlüsse zu prüfen, und daß er jetzt auf die schwächsten – um nicht zu sagen irrigen – Befürchtungen einen amtlichen Erlaß stützte, der Zank, Elend, Zerreißung und Scham wie eine Brandfackel bis an die entferntesten Grenzen des Brüdertums ausbreiten sollte.“
G. Müller selbst sah sich gemeinsam mit den Brüdern in Bethesda nach zahlreichen Beratungen, so Ischebeck, zum Beschluß genötigt, „Niemanden, der Herrn Newtons Ansichten oder Schriften verteidigte, behauptete oder aufrecht hielt, zur Gemeinde zuzulassen“.
Die in Deutschland weit verbreitete Biographie Ischebecks sollte für die Christen in Gemeinschaft und Freikirche, erst recht für viele in den eher offenen Versammlungen, verbindliches Kriterium in der Beurteilung von Darby und Müller sein und bleiben. Auch heute noch scheint mit der Neuauflage von Th. Croskerys ’Brethrenismus’ (London 1879) durch Manuel Peters eine insgesamt einseitig und scharf verurteilende Position Darby gegenüber Oberhand zu gewinnen.
Ganz anders dann die überaus deutliche Antwort durch P. Tapernoux in seiner Broschüre ’Die Bethesdafrage’, (Vevey, o.D.): „24 Jahre nach der Verkündigung der Irrtümer von Bethesda erklärt ihr hauptsächlier Urheber (gem. ist G. Müller, der Verf.) feierlich, daß die unabhängige und schlaffe Handlungsweise, welche diese Versammlung angenommen hat, immer noch dieselbe ist und daß keiner der im ’Brief der Zehn’ niedergelegten Grundsätze zurückgezogen worden ist.“

Andreas Steinmeister, heute eher den Geschlossenen Brüdern zuzurechnen, gibt hierzu in seiner unlängst erschienenen Arbeit zunächst eine Kurzbiographie Georg Müllers:
„Zusammen mit seinem Mitarbeiter Henry Craik (1805-1866) kam G. Müller ebenfalls schon früh zu der Erkenntnis, daß sie Kirchenfragen allein nach dem Vorbild der ersten Christen regeln sollen. So begannen sie mit viel Forschen in der Schrift und eifrigem Gebet, Gottes Gedanken zu diesem Thema kennen zu lernen… .
Darby schrieb einmal über die Kapellen, wo Georg Müller und seine Mitarbeiter predigten, daß sie ihm im geistlichen Sinn zu eng seien, daß sie nur getaufte Baptisten aufnähmen. Später haben Müller und Craik das auch praktiziert.“

Die Quellen sagen das Gegenteil aus, und wir fragen uns, wie es möglich ist, daß nach nur 150 Jahren in unseren Geschichtsbüchern so viele Phrasen auftauchen. Gerorg Müller hatte in der Tat die wesentlichen Impulse zum Sola Scriptura bereits in Halle erfahren, und im Blick auf das Taufverständnis hatte er ein weites Herz.
Mehr Details gibt Steinmeister dann im zweiten Teil seiner Arbeit, wenn er ausführlicher die Ereignisse in Plymouth und Bethesda erläutert, ohne leider auch hier systematisch und quellenorientiert vorzugehen. Zu viele Episoden verdecken die Tatsachen, oder der Verfasser greift auf namhafte Autoren zurück, daß bislang gültige Behauptungen „völlig unzutreffend“ sind.

Gemeinsam mit Johannes Warns urteilt er dann, daß es „bei der Trennung im Jahre 1845 in Plymouth nicht um Irrlehre, sondern um Klerikalismus ging.“ Die später (1847) immer stärker hervortretende Irrlehre Newtons veranlaßte dann die Bethesda-Versammlung in Bristol zu einer Haltung, die im ’Brief der Zehn’ verdeutlicht wird. Leider wird dieser Brief hier nur in Auszügen wiedergegeben und unmittelbar danach die notwendige Trennung der ’Brüder’ von Bristol gerechtfertigt, auch mit entsprechendem Hinweis auf die Arbeiten von Gardiner (’Raven-Taylor Brethren’), Kelly, Miller, Noel, Smith und Trotter.

Steinmeister schließt sein Resumé mit einem Zitat Darbys: „Das Böse in Bethesda ist die prinzipienloseste Zulassung von Lästerern Christi, die kälteste Mißachtung Seiner (Jesu), der ich je begegnet bin“. (J. N. Darby, Letters II, 216, 1864, S.87).

Es ist kaum anzunehmen, daß mit dieser Bemerkung die Bruderschaft zu den Geschwistern in Bristol gewahrt bleibt, noch weniger Wahrhaftigkeit zum Christenleben der Gläubigen in Bethesda, unter ihnen G. Müller. Mittlerweile gilt dieser Satz Darbys vielen als klarer Beweis dafür, Bethesda als böse zu verwerfen. Vielleicht tun wir gut daran, all diese Vorgänge jener Zeit an den Worten der Heiligen Schrift zu messen, wenn es heißt: Prüfet aber alles, das Gute haltet fest, 1. Thess. 5:21.

„Aufnahme“ und „Zulassung“ (zur Gemeinde – Mitgliedschaft) sind mittlerweile Prinzipien von verkirchlichten Versammlungen, weniger das „Nehmet einander auf, wie auch Christus euch aufgenommen hat, zu Gottes Herrlichkeit“, Römer 15:7. Georg Müller waren die Erfahrungen von Stuttgart zu Herzen gegangen; er selbst wollte die Ausschließlichkeit der exklusiv denkenden Täufer keineswegs nachahmen, und er hatte sehr wohl verstanden, daß Bruderschaft auf einer anderen Ebene stattfand, in der eigenen Fehlbarkeit und dem Bewußtsein, immer wieder der Gnade zu bedürfen. So wesentlich diese Glaubensaussage der ’Brüder’ ist, gerechtfertigt in Christo zu sein, (Röm. u. a.), so sehr verführt diese Überzeugung dazu, andere Christen vorschnell der Ungerechtigkeit zu bezichtigen und ihnen jede weitere Berechtigung abzusprechen.
Bei allen Versuchen, die Bethesda – Angelegenheit darzustellen, fällt zu sehr auf, daß sich Georg Müller in seinem Glaubenswerk in Bristol kaum auf das für viele so dogmatisch eindeutig erklärbare Abgleiten Newtons einlassen konnte und wollte.

Es war nicht seine Aufgabe, und umgekehrt suchte er die Gemeinschaft zu allen Gotteskindern, was wiederum für diejenigen, die sich der Lehre so überaus verpflichtet fühlten, nicht unbedingt vordringlich war.
Das bereits erwähnte Nachwort seiner erstmals in deutscher Sprache vorgelegten Autobiographie gibt Müllers Einstellung wieder, die er bereits vor den Ereignissen in Stuttgart hatte: „Was die Gemeine in Bristol betrifft, so nehmen wir einen jeden auf, der Gemeinschaft mit uns wünscht, so lange er das Haupt, Christum, festhält, wie sehr er auch verschiedener Meinung von uns sein mag. Auch hat ein jeder Bruder, der zu uns kommt, sei es als ein besuchender Fremder, oder als Einer, der unter uns lebt, völlige Freiheit des Gebrauchs der Gabe, die ihm der Herr zur Erbauung der Kinder Gottes gegeben haben mag.
In diesen beiden Punkten zeigt es sich, ob man sich zu der großen Kirche Christi hält, oder zu einer Sekte, d. h. ob man alle lieb hat, die den Herrn Jesum lieb haben, und sie als Jünger des Herrn behandelt und in Gemeinschaft auf zunehmen bereit ist, und auch ihnen volle Freiheit gestattet, alle Gaben, die ihnen der Herr zur Erbauung der Gemeinde gegeben hat, ungehindert zum Besten der Kinder Gottes zu gebrauchen, oder nicht. Ist das Erstere der Fall, so findet keine Sektiererei statt; ist das Letztere der Fall, so sind wir dennoch Sektierer, obgleich wir selbst dieser oder jener Staatskirche angehören (’Des Herrn Führungen’, 188).“

So tritt der Waisenhausvater von Bristol mit seiner Arbeit bei der allgemeinen Beurteilung der Ereignisse um 1845/48 eher in den Hintergrund; viel stärker wird der leidenschaftliche Kampf eines John Nelson Darby um die rechte Wahrheit hervorgestellt. Daß beide mit ihren Begabungen und mit ihrem weitreichenden Wirken in der Folge nicht mehr zusammenstanden, hat für die gesamte Brüderbewegung ungeahnte Folgen: wir können hier allein die Gnade Gottes rühmen, der uns und so viele andere bisher erhalten hat; ein Gott, der uns aber auffordert, Bruderschaft neu zu leben oder sie gar wieder zu beleben, und nicht in einem falsch verstandenen und traditionell verhafteten Brüdertum zu erstarren.
Dr. theol. Ulrich Bister, Herborn – Hörbach


Auf meine Webseite gestellt; von Horst Koch, Herborn, im Januar 2024-01-12

Das Buch ist käuflich zu erwerben im
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Emil Dönges (Lisa Heinz-Dönges)

Lisa Heinz – Dönges

EMIL DÖNGES


– Groß durch die Liebe –

Zum hundersten Todestag von Emil Dönges

Vorwort: 
Emil Dönges war eine führende Persönlichkeit in der zweiten Generation der deutschen Brüderbewegung: als Evangelist, als Lehrer, als Autor, Herausgeber und Verleger und nicht zuletzt auch als Delegierter in internationalen Angelegenheiten. Aus Anlass seines 100. Todestages am 7. Dezember 2023 drucken wir im Folgenden das ausführlichste bisher erschienene Lebensbild von ihm – in leicht gekürzter Form – nach. Es wurde verfasst von seiner Tochter Auguste Bertha Elisabeth, besser bekannt als Lisa Heinz-Dönges (1897-1964) und erschien zuerst 1953 im Botschafter des Friedens.

KINDHEIT UND JUGEND
Georg Hermann Emil Dönges kam am 2, September 1853 als sehr schwächliches, zartes Kind zur Welt. In seiner humorvollen Art erzählte er später, dass seine Mutter nicht recht gewagt habe, ihn anzufassen, wenn sie ihn auf dem Schoß liegen hatte, um ihn zu waschen. Sie habe ihn durch eine geschickte Bewegung ihrer Schürze sacht von einer Seite auf die andere gedreht, um ihm ja nicht weh zu tuun. Einst kamm eine Nachbarin dazu, wie der Kleine so erbärmlich mit geschlossenen Augen im Arm seiner Mutter lag. >Frau Kantor<, sagte sie, >den behale Se net!< Da habe das Kind ein paar große blaue Augen aufgeschlagen und die Sprecherin vorwurfsvoll angeblickt, und die Mutter habe erwidert: >was Gott will erhale, das lässt er net erkale<. So war es auch hier. Gott wusste, dass er diesen Knaben einmal in seinem Dienst gebrauchen konnte, und auch, dass er selbst sich von mit tiefer Herzensfreude und ganzer Hingabe von ihm würde gebrauchen lassen.
Emil wuchs als zweitältester Sohn inmitten einer großen Kinderschar auf, wo es streng und sparsam zuging. Als er geboren wurde, stand sein Vater Philipp Dönges als Lehrer in Becheln bei Bad Ems. Er war ein geschätzter, tüchtiger Mann. Den >Vater des Allgemeinen Lehrervereins< hat man ihn später genannt, weil er erfolgreich für die Belange seiner Berufsgenossen eintrat. Sein Sohn schildert ihn als besonnenen, außerordentlich rechtlich denkenden stillen und ernsten Menschen. Emil hatte sein lebhaftes Temperament und seinen bienenhaften Fleiß, Humor und Schlagfertigkeit von der Mutter geerbt. Wie sehr die Lehrersleute, vor allem der Vater, beliebt waren, zeigt das Verhalten der Dorfbewohner bei seiner Versetzung von Becheln nach Wallau; sie verwehrten einer Musikantentruppe den Eintritt ins Dorf mit der Begründung: >Heute wird hier keine Musik gemacht. Wir haben Trauertag, unser Lehrer kommt weg.<
Im Lehrerhaus zu Becheln kammen auf Anregung des Vaters Pfarrer und Lehrer aus den Nachbarorten zusammen, um sich anhand der Bibel über allerlei wichtige Lebensfragen zu unterhalten. So lernte Emil mit seinen Geschwistern hier wohl Gottesfurcht und tiefen sittlichen Ernst kennen, aber noch nicht das Entscheidende: dankbare Übergabe des ganzen Lebens an Gott durch Jesus Christus.
Kennzeichnend für den Knaben ist folgendes Erlebnis. Er sollte einst mit seinem älteren Bruder einem Pfarrer die seidene Mütze zurückbringen, die dieser im Lehrerhaus zu Becheln beim Umkleiden nach dem Gottesdienst liegen gelassen hatte. (Becheln hatte keinen eigenen Pfarrer und wurde sonntags von den Nachbarorten bedient.) Auf dem Weg zur Lateinstunde bei diesem Pfarrer streiften die Knaben, nach Moos suchend, kreuz und quer durch den Wald. Dabei verloren sie die wertvolle Kopfbedeckung des Pfarrers. Voller Aufregung suchten sie alles ab. >Schließlich kniete ich< – so erzählte Dönges später in seinem Kinderblatt Der Freund der Kinder -. >obwohl ich noch nie jemand auf den Knien gesehen, noch auch, soweit ich mich erinnere, von jemand gehört hatte, der kniend gebetet, vor Gott nieder und rief ihn in der Angst an, uns irgendwie die Mütze wiederzuschicken. Mein Bruder erschrak, als er mich auf den Knien sah, und ich war sehr verlegen.< Noch am selben Tag entdeckte er >zufällig<, wie andere sagten, die Mütze bei einem nichtsnutzigen Knaben, der sie gefunden und für sich hatte behalten wollen. >Wie bebte mein Herz vor Freude<, so erzählt Dönges weiter, >weil ich erleben durfte, dass Gott Gebete erhört!<
Emil nahm am Unterricht seines Vaters in der Dorfschule teil; ab 1869 besuchte er die Realschule in Bad Ems. Da hieß es, in grauer Frühe aufstehen und bei Wind und Wetter mit den Bergleuten den weiten Weg nach Bad Ems antreten. 1872 kam er auf das Realgymnasium nach Elberfeld. Gott fügte es, dass er dort bei einer christlichen Familie wohnen konnte und mit entschiedenen Gläubigen in Verbindung trat. Besonderes Vertrauen gewann er zu dem Fabrikanten Julius Löwen, dessen Söhne er als Primaner Unterricht erteilte. Löwen erkannte bald, dass der junge Hauslehrer nach Frieden mit Gott verlangte, und er bemühte sich, ihm zu helfen, indem er ihm christliche Schriften aus dem Verlag seines Schwagers Carl Brockhaus zu lesen gab und selbst auch manche Fragen zu beantworten suchte, die dem jungen Mann im Herzen brannte. Dessen Verlangen, Versöhnung zu finden, war geweckt worden durch die Stelle in Goethes Tasso: >Sie ließ uns Kindern nicht den Trost, dass sie Mit ihrem Gott versöhnt gestorben sei<.
Die Frage ließ dem jungen Dönges keine Ruhe: Wie werde ich selbst mit Gott versöhnt? Doch er verließ Elberfeld, ohne klare Antwort gefunden zu haben.

BEKEHRUNG UND STUDIUM
Um die englische Sprache gründlich zu erlernen – denn er hatte vor, sich dem Studium der neuen Sprachen zu widmen -, begab er sich im Hebst 1874 nach England. In einem Erziehungsheim für Söhne aus vornehmen Häusern nahm er für anderthalb Jahre die Stelle eines Lehrers an. Es wurde einen schwere Zeit für ihn. Sei es, dass er >zu sehr den Deutschen herauskehrte<, wie seine Gattin, die nur Angenehmes in England erlebte, später meinte, sei es, dass die jungen Lords- und Baronetssöhne sich an dem frommen Sinn und den ernsten Grundsätzen ihres jungen Lehrers stießen, kurzum, es kam oft zu heftigen Auseinandersetzungen mit ihnen. Einmal geriet der tempramentvolle Deutsche sogar in ein Handgemenge, wobei er einen der aufsässigen jungen Männer in heftigem Zorn zu Boden schleuderte. Mit bitteren Selbstanklagen bereute er die Aufwallung. In einem kleinen Notizbuch vermerkte er: >O Gott, wie sehr habe ich mich vergessen!<
Einmal sahen es einige dieser schwer erziehbaren Söhne darauf ab (wie Dönges fest annahm), dass er sich den Hals brechen sollte. Sie hatten ihn scheinheilig, nach dem Nachbarort zu reiten, um dort die Post in Empfang zu nehmen. Der junge Dorfschullehrersohn, der noch nie auf dem Rücken eines Reitpferdes gesessen hatte, wollte sich vor den Herrensöhne keine Blöße geben und schwang sich hinauf. Einer seiner Peiniger versetzte dem dem Pferd einen Hieb, sodass es es wie besessen davonschoß. Es war dem jungen Reiter selbst ein Rätsel, wie er sich oben halten konnte. Ob er mit oder ohne Sattel ritt, hat er nicht erwähnt. Doch Gott bewahrte ihn. Wunderbar war es für ihn, wie das Pferd aus seinem wilden Galopp plötzlich vor dem Postgebäude anhielt, wartete, bis der herbeieilende Posthalter das Bündel Briefe dem Reiter hinaufgereicht hatte, und wie es dann von selbst kehrtmachte, um in dem selben tollen Galopp den Heimweg zurückzulegen. Die Plagegeister staunten, als ihr Lehrer heil und gelassen (wie es ihnen schien) vom Pferd stieg. Von jenem Tag an behandelten sie ihn mit Achtung.
In England begegnete Dönges aber nun auch das Entscheidenste und Schönste seines Lebens: Sein Verlangen nach Versöhnung mit Gott wurde gestillt. Erst hier las er die Schriften gründlich, die er von Julius Löwen erhalten hatte., und forschte gewiss vor allem eifrig in Gottes Wort. So kam er zum klaren und frohen Glauben an den Versöhner Jesus Christus. Alle Ungewißheit, aller Zweifel und alle Schwermut – die ihn schon in Deutschland zuzeiten schmerzlich gequält hatten – waren von ihm gewichen. Begierig suchte er nun nach Gemeinschaft mit solchen, die dasselbe Glück und Heil kannten wie er. Und bei jedem Kreis, den er besuchte, prüfte er, ob alles, was man dort lehrte, mit dem Wort Gottes übereinstimmte. Schließlich glaubte er, die Brüder gefunden zu haben, deren Lehre und Zusammenkommen am meistem dem Bild der Urgemeinde entsprach. Mit diesen Gläubigen der >Christlichen Versammlung< blieb er bis zu seinem Tod treu verbunden.
Nach Deutschland zurückgekehrt, begann er im Frühjahr 1876 in Marburg mit seinem Studium. Bei aller Arbeit suchte und pflegte er stets die Gemeinschaft mit mit Gleichgesinnten. Sonntags wanderte er, ob der Himmel heiter oder trübe, oft stundenweit in die Nachbarorte, um mit anderen Gläubigen das Wort Gottes zu betrachten oder Fernstehenden das Evangelium zu verkündigen.
Im Frühjahr 1878 begab er sich nach Paris, um Stoff für seinen Doktorarbeit zu sammeln. Er fand auch hier Anschluss an Gläubige. (Dönges promovierte am 5. 8. 1879 bei Prof. Edmund Stengel in Marburg über >Die Baligantenepisode im Rolandslied<. Die Dissertation umfasst – heute undenkbar – nur 21 Seiten Text und 29 Seiten Anmerkungen. Gut zehn Wochen zuvor hatte Dönges die Lehramtsprüfung für Französisch und Englisch abgelegt.)

DIENST IN WORT UND SCHRIFT
Später im Beruf, als Lehrer am Gymnasium zu Burgsteinfurt, war es sein Hauptanliegen, dem Herrn und seiner Sache zu dienen. So bleib es nicht aus, daß er bald vor der Frage stand, ob er nicht seinen Lehrerberuf aufgeben und seine ganze Kraft in den Dienst des herrn stellen solle. Es ging nicht ohne schwere innere Kämpfe ab, denn er war ein geborener Lehrer, der an seinem Beruf hing. Aber er riss sich los: Die Liebe zum Herrn siegte. Seine Eltern und Geschwister konnten diesen Schritt freilich nicht verstehen, und es schmerzte ihn gar wohl, ihnen diesen Kummer zugefügt zu haben, doch er fühlte, daß der Herr ihn rief und daß er diesem Ruf folgen müsse. Nun war er frei für die Arbeit im Reich seines Gottes. Zunächst konnte er (von 1884-86) für ihn im Verlag Brockhaus in Elberfeld arbeiten, wo er bei der Übersetzung der Miller’schen Kirchengeschichte und der Durchsicht der Elberfelder Bibel half, nebenher eifrig im mündlichen Dienst stehend.
1886 zog er nach Frankfurt am Main, wo er seine treue, gleichgesinnte Lebensgefährtin, Catharina Kirch, finden durfte, eine Frau von klarem Charakter, ganzer Hingabe an den Herrn und entschieden christlicher-geistlicher Haltung. Sie bildete eine ganz ausgezeichnete Ergänzung zu seinem Wesen. Manche meinten, daß sie in der Ehe gerne die Bestimmende gewesen sei. Doch traf das nur in äußeren Dingen zu und wurde von ihm selbst dann meist als das Richtige empfunden. So stellte sie sich schützend vor seinen Kleiderschrank, aus dem er trotzdem oft unüberlegt hergab, in starker Übertreibung sagend, der Schrank >berste<, so voll sei er. Und er erinnerte an das Wort: >Wer zwei Röcke hat, gebe dem einen, der der keinen hat< Luk. 3,11. Worauf sie – von der man gewiß nicht sagen konnte, daß sie kein Herz für Arme gehabt – erklärte, es sei noch keiner zu ihr gekommen, der gar keinen Rock gehabt habe, und es stehe irgendwo geschrieben: >Gedenke der Armen mit Einsicht<.

Im Anfang der Ehe war allerdings nicht viel zu verschenken. In sehr bescheidenen, ja dürftigen Verhältnissen begannen die jungen Eheleute ihren Hausstand. Die alten Eltern Dönges werden dem Sohn damals wohl vorgehalten haben, wie ganz anders er dastünde , wenn er in seinem Lehrerberuf geblieben wäre. Doch der Herr bekannte sich zu dem Glaubensschritt, den der junge Mann getan hatte, und legte seinen Segen auf dessen Beginnen.
Dönges fühlte sich bald gedrungen, auch seine Feder in den Dienst des Herrn zu stellen. Seine Erstlingsschrift war die Gute Botschaft des Friedens. Ein Wegweiser des Heils für jedermann. Sie erschien ab 1888, fand rasche Verbreitung und wurde mehrmals das beste Evangliumsblatt Deutschlands genannt.
Seine Liebe zu den Kindern legte es ihm nahe, auch für sie eine Zeitschrift zu schaffen, die die jungen Leser immer wieder aufrufen sollte, schon früh ihr Leben Christus auszuliefern. Er gab deshalb ab 1891 das bebilderte Sonntagschulblatt Der Freund der Kinder heraus, dessen Auflage ebenfalls schnell wuchs und von Kindern wie Erwachsenen gern gelesen wurde. In seine Frankfurter Zeit fällt auch das Erscheinen der beiden Kalender, des Familienenkalenders Botschafter des Friedens (ab 1891) und des Abreißkalenders Der Bote des Friedens (ab 1900). Gerade diese beiden Erzeugnisse des Verfassers erfreuten sich großer Beliebtheit und wurden alljährlich nicht nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz und in Amerika freudig begrüßt.
Seine reichste und gesegnetste Schaffenszeit verlebte Emil Dönges in Darmstadt, wohin er 1899 mit seiner Familie übersiedelte. Acht Kinder waren den Eltern in Frankfurt geschenkt worden; in der schönen Residenzstadt des hessischen Großherzogs kam das neunte Kind, der sechste Sohn, hinzu. Darmstadt wurde auch der Geburtsort seines letzten Geisteskindes, der Zeitschrift Gnade und Friede (ab 1911). Dieses Blatt durfte vielen Kindern Gottes zur Erbauung und Belebung dienen. Unserem Bruder war die göttliche Gnade, der er sich immer wieder anbefahl und auf die er sich so ganz angewiesen fühlte, etwas überaus Kostbares und Tröstliches, sie wurde es, je älter er wurde, umso mehr. In seinen letzten Tagen sagte er in dankbarem Rückblick auf die Langmut, mit der Gott ihn getragen hatte, zu seiner Frau: >Ich möchte einmal nur über die Gnade schreiben>.

Im Haus in der Klappacher Straße 22 verlebte die Kinderschar eine fröhliche Jugend in Frieden und Wohlfahrt der Kaiserzeit bis zum Ersten Weltkrieg. Die Strengere war wohl die Mutter, aber die Erziehung beider Eltern war nach den Grundsätzen der Bibel ausgerichtet, und jedes einzelne der Kinder wußte sich von der Liebe und den Gebeten der Eltern getragen. Trotz seiner großen Arbeitslast nahm sich der Vater frohen Herzens Zeit, wenn eins der Kinder mit einem Anliegen zu ihm kam. Viel war er ja auf Reisen, denn allerorts wünschte man seine Anwesenheit und seinen Dienst: bei Wortbetrachtungen, (den sogenannten großen Konferenzen), an Beerdigungen oder zur Evangeliumsverkündigung.

Wenn von Dönges Begabung die Rede war, gaben viele dem Redner den Vorzug vor dem Schreiber. Er wusste sehr anschaulich und packend zu reden und treffende Bilder und Beispiele flogen ihm zu und waren oft so einprägsam, daß man noch lange hin und wieder in einer Versammlung hören konnte: >Bruder Dönges hat einmal gesagt…<. Manchem Bruder waren seine Zusammenstellungen unvergesslich. Er sprach z. B. einmal den stehenden, den sitzenden und den liegenden Anbeter. Oder er hob verschiedene >Heute< hervor: >Heute ist diesem Haus Heil widerfahren> usw. Ein andermal bewegte ihn die Tatsache, daß sich der Himmel aufgetan hat, wie wiederholt in der Schrift berichtet wird; deshalb war das Leitwort eines Vortrages: >Der geöffnete Himmel<.
Bei den Vorträgen geriet er in seinem Eifer oft in eine schnelle Sprechweise, was alle Ermahnungen der Freunde und alle eigenen guten Vorsätze nicht abzustellen vermochten. Es wird erzählt, daß General von Viebahn, um ihm zu helfen, den Vorschlag gemacht habe, er wolle jedesmal aufstehen, wenn der Redner zu sehr in Fahrt geriete. Das erste und zweite Mal hatte diese Maßnahme Erfolg, aber nachher vergaß der vor Eifer glühende Prediger alles, und nach der Stunde trat er auf Viebahn zu mit der Frage: >Sag mal, warum hast du eigentlich die ganze Zeit gestanden?<

Ebenso sprichwörtlich war bei des Schreibers zunehmendem Alter seine unleserliche Handschrift. Die unzähligen Briefe, die er neben seiner schriftlichen Arbeit mit der Hand schreiben mußte, mögen diesen Umstand hinreichend entschuldigen. Erst in seinen letzten Lebensjahren fand er Erleichterung durch eine Schreibmaschine (Geschenk seines Sohnes) und durch Mithilfe des einen oder anderen seiner Kinder, denen er diktieren konnte.
Neben den regelmäßig erscheinenden Zeitschriften verfasste er noch eine Reihe von Traktaten und Büchlein, auch solche erzählender und unterhaltender Art. Das wiederholt herausgegebene Bändchen Jugendfreunde (ab 1905) mit vielen Bildern, das neben biblischen Unterweisungen auch lehrreiche, zu Spiel und Nachdenken anregende Betrachtungen enthielt, soll nicht unerwähnt bleiben. Sein umfangreichstes Werk ist die Betrachtung über die Offenbarung mit dem Titel Was bald geschehen muß (1913), das in weiten Kreisen bekannt war.

WEITERE TÄTIGKEITEN
Neben all diesen schriftlichen Arbeiten hatte der unermüdliche Diener des Herrn noch manche andere Aufgabe, so ab 1899 die Leitung der Anstalt für geistig Behinderte in Aue bei Schmalkalden, wohin er mindesten zweimal im Jahr reiste. Es wurde ihm zunächst nicht ganz leicht, dieses Amt zu übernehmen. Denn beim ersten Gang durch die Anstalt, beim Anblick der mancherlei körperlichen Übel und Entstellungen, wandelten den Zartbesaiteten Schwäche und Übelkeit an. Doch großes Erbarmen mit diesen Elenden half ihm so weit, daß er sie schließlich lieben konnte; die Kinder ihrerseits hingen mit großer Liebe an ihm und nannten ihn Vater.
Und er, gefragt, wie viele Kinder er habe, nannte oft eine Zahl über 100, die Anstaltskinder den eigenen hinzuzählend. Manchmal auch erwiderte auf die Frage nach seiner Kinderzahl: >Drei und ein halbes Dutzend!<, womit er neun meinte. Auf solch spaßige Antworten konnte man bei ihm gefasst sein. Und diese humorvolle Art machte ihm besonders unter der Jugend viele Freunde. Seine nüchterne Gattin konnte ihm hier nicht immer folgen und sagte oft mißbilligend: >Sag’s doch nicht, wenn du’s nicht so meinst!<

Er liebte auch bei anderen Humor und Schlagfertigkeit, sogar wenn sie sich einmal gegen ihn selbst richteten: Eines Morgens tadelte er zwei seiner Töchter, weil sie den Kaffeetisch noch nicht gedeckt hatten, und er zählte auf, was er hingegen am frühen Morgen schon alles geleistet. Da unterbrach ihn die kecke Jüngste mit dem Wort: >Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!<
Darauf erwiderte der Vater nichts mehr, sondern stieg, ein Lachen verbeißend, kopfschüttelnd die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf. Übrigends verwehrte er seinen Kindern sonst streng, Bibelworte scherzend in den Mund zu nehmen; einmal mit der ihnen mehr als alles Schelten einleuchtenden Begründung: >Wenn ich über dieses Wort spreche, könnte mir einfallen, wir ihr es gebraucht habt.<
Neben dieser heiteren Art wohnte ein tiefer Ernst in ihm, ja, Gemütsbedrückung war ihm zeitlebens nicht fremd. Daher hatte er auch besonderes Verständnis für alle Nervenleidenden und Beschwerten. Bei den vielen Gästen, die sich oft wochenlang in seinem Haus aufhielten, waren auch ab und zu solche Kranke. Eine davon, die in ständiger großer Unzufriedenheit lebte, nannte er nur die Millionärin. Er suchte ihr klarzumachen, daß jedes ihrer Augen und Ohren eine Million wert sei, ebenso ihre gesunden Arme und Füße, und erhob sie so zur Multimillionärin, was mit der Zeit nicht ohne Erfolg blieb. Natürlich suchte er bei ihr wie bei allen, mit denen er in Berührung kam, das Verhältnis zu Gott zu regeln und glücklich zu gestalten.

EVANGELISATION
Eine große Liebe erfüllte ihn zu denen, die Jesus noch nicht als ihren Heiland kannten. Ob jung, ob alt, gebildet oder ungebildet, er sprach sie alle darauf an, und er hatte eine Art dabei, daß die meisten es sich gern gefallen ließen, ja, daß viele durch ihn auf den rechten Weg gebracht wurden. Vergeblich mahnte man ihn. >Ruh’ doch deinen Kopf mal aus!<, wenn er im Eisenbahnabteil gleich begann, ein Gespräch mit den Mitreisenden anzuknüpfen oder Traktate zu verteilen.
In seiner Liebe zu den Menschseelen und zu seinem Herrn ging er so weit, daß er in Darmstadt besondere Stunden hielt für solche Leute, die nicht in die Versammlung kommen wollten oder konnten, wo er am Wort diente. So hatte er eine Zeitlang in seinem Haus Bibelstunden für die Nachbarschaft eingerichtet. Seine Kinder mußten in die benachbarten Häuser gehen, um die Leute einzuladen. Und wirklich, es kamen eine ganze Reihe, wohl mehr dem herzlichen Bitten und der Persönlichkeit des Redners zuliebe.

In das Haus einer alten adligen Dame ging er oft, um deren vornehmen Bekannten die frohe Botschaft zu bringen. Sein weites Herz ließ sich nicht irremachen durch Nörgler, die ihm das übelnahmen oder die ihm verwehren wollten, in einem anderen Kreis von Gläubigen zu dienen.

Bruder Dönges sah in allen wahren Gläubigen seine Brüder und Schwestern, deren Wohl und Wehe ihn mit betraf. In seiner Frankfurter Zeit geschah es, daß ein Prediger sich eines schweren Fehltritts schuldig machte, was stadtbekannt war. Ein junger Mann aus dieser Gemeinschaft, beschwert und verwirrt über das traurige Vorkommnis, wußte nicht, welchen Kreis von Gläubigen er sich nun anschließen sollte. Er wollte irgendwohin, wo man ihn nicht kannte, weil er sich für seinen Prediger schämte und das Richten und Urteilen der anderen scheute. Allen ein Fremder, saß er schließlich in der >Versammlung<, wo Bruder Dönges diente. Der kam auf den Vorfall zu sprechen, der ja alle Gemüter erfüllte. Aber wie tat er das! >Wir müssen uns tief demütigen<, sagte er, >daß diese Sünde bei uns vorgekommen ist und die Welt nun mit Fingern auf uns weisen kann. Wollen wir uns freisprechen von Schuld? Haben wir zu des Herrn Wohlgefallen gelebt? Waren wir treu in der Fürbitte, im >Flehen für alle Heiligen<, nach Epheser 6?< Er sprach ganz so, als habe sich das Betrübliche im eigenen Kreis ereignet. Der junge Mann, der eine solche Betrachtungsweise nicht erwartet hatte, war so ergriffen, daß er sich sagte: >Hier bleibe ich!<.

An einem Himmelfahrtstag machte er mit seiner Familie und den Geschwistern der Versammlung einen Ausflug. Auf einer freien Stelle im Wald, wo eine Holzkanzel errichtet war, wollte er für Ausflügler das Evangelium verkündigen. Doch als man an den Platz kam, war da schon ein anderer Hirte aus einer Nachbarstadt mit seinen Schäflein. Die Glieder der zwei verschiedenen Gemeinschaften musterten einander etwas fremd und mißtrauisch. Dönges aber ging auf den Prediger, der ihm bekannt war, zu und bat ihn, zuerst das Wort zu ergreifen. Der tat es. Danach stieg Dönges eilends zu ihm auf die hohe Waldkanzel, umarmte ihn vor aller Öffentlichkeit und verkündete, daß sie Brüder seien und demselben Herrn angehörten. Es ging damals eine freudige Bewegung durch die Reihen aller, die Zeugen dieses Vorfalls waren.

Von einem anderen Kuss wird erzählt, den Dönges unter auffallenden Umständen erteilte. Er erkannte in einer Großstadt unter den Straßenkehrern, die ihres Amtes walteten, einen Bruder der >Versammlung<. Ohne sich zu besinnen, ging er auf ihn zu und gab ihm auf offener Straße einen Bruderkuss.

PERSÖNLICHKEIT
Er hatte Freunde in allen Gesellschaftsschichten. Dabei war es nicht so, daß seine angeborene warmherzige Art immer gleich für jedermann Liebe empfunden hätte. Er gehörte zu den empfindsamen Menschen, die auch durch irgendwas im Wesen des anderen gereizt werden können und die sich Liebe, Geduld und Verständnis für einen solchen erst oft vom Herrn schenken lassen müssen. Aber der ungeduldig Gewordene konnte auch um Verzeihung bitten. Dies war ein Zug an ihm, der ihm immer wieder die Herzen zufliegen ließ. Ja, er schämte sich nicht, gelegentlich seine eigenen Kinder um Verzeihung zu bitten. So erzählte ein Bruder, daß er Zeuge gewesen sei, wie Bruder Dönges einmal seine jüngste Tochter um Verzeihung gebeten habe, weil er ihr ungerechte Vorwürfe wegen einer Sache gemacht hatte. Der Besucher betonte, er selbst sei noch nie auf den Gedanken gekommen, sich bei einem seiner Kinder zu entschuldigen, und die Demut des hochgeschätzten Bruders habe ihn tief beeindruckt.

Das Bild von der Persönlichkeit dieses Knechtes Gottes bliebe unvollständig, erwähnten wir nicht seine Festigkeit und Entschiedenheit im Verkehr mit Irtrlehren und Gottesleugnern. Ja, mit Schärfe konnte er solchen Leuten begegnen und sie von sich weisen. Als einst ein gelehrter Freigeist in Darmstadt einen Vortrag über das Thema >Hat Jesus gelebt?< die Person des Herrn angriff und Jesus zur sagenhaften Erscheinung stempeln wollte, ruhte Dönges nicht, bis sich sämtliche christlichen Gemeinschaften verbanden und im größten Saal Darmstadts eine Proteskundgebung veranstalteten, bei der eine Reihe von Pfarrern und Predigern sprach und bei der er selbst bestimmt nicht das schwächste Zeugnis ablegte.
So gingen die Jahre dahin mit viel Arbeit und mancher Sorge, aber auch Freude im Familien- und Freundeskreis. Auch während der Ferienreisen mit der Familie war der nimmermüde Vaterimmer >im Dienst<, es sei, daß er den Versammlungen am Ort diente oder für seine Zeitschiften und Kalender schrieb oder Korrektur las. Bei der Wahl der Erholungsorte wurde meist auch ein guter Zweck ins Auge gefasst. Einmal sollte dem Besitzer eines verschuldeten und etwas verwahrlosten Heimsaufgeholfen werden, ein andermal sollten die zum Glauben gekommenen Bewohner eines Dorfes im Schwarzwald, die manche Anfechtung zu erdulden hatten, durch die Anwesenheit des teuren Bruders und seiner Familie ermuntert werden. Die Familie hatte dort selbst manche Gehässigkeit der übrigen Dorfbewohner einzustecken, was den Kindern Dönges die Freude am Ferienaufenthalt oft etwas vergällte.

LETZTE JAHRE
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde bald der schöne Familienkreis zerrissen. Fünf Söhne mußten ins Feld, eine ständige schwere Sorge für die Eltern, wenn sie sich auch immer wieder aufrichteten im Blick auf ihren Herrn. Er allein vermochte sie auch zu trösten in dem tiefen Schmerz, über den Verlust zweier geliebter Söhne, die innerhalb von fünf Tagen vor Verdun fielen.

Auch diese Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte für den bejahrten Knecht des Herrn schwere Belastung, die seine Kräfte aufzehrte. Die Geldinflation machte dem gewissenhaften Mann, der auch die Verwaltung der Gelder für das Werk des Herrn hatte, manche Not. Gaben, die aus dem Inland eintrafen, sollten schnellstens an ihren Bestimmungsortgelangen, damit die Empfänger bei dem rasenden Absinken des Geldwertes keine zu große Einbuße erlitten. Wohnten Bedürftige am Ort selbst, mußte das Geld sofort zu ihnen gebracht werden, was nicht selten er selbst übernahm. Trafen Summen vom Ausland ein, so sollten sie zum günstigsten Kurs umgesetzt werden; Dinge, die ihm besonders zu schaffen machten, weil sie ihm nicht lagen.
Anfang Dezember 1923 wollte er die alljährlich stattfindende Gebetswoche in Siegen besuchen. Schon auf dem Weg zur Staßenbahn kehrte er um, da er sich nicht wohl fühlte. Er diktierte im Bett eine Karte an seinen Freund Rudolf Brockhaus und drückte seinen Schmerz darüber aus, daß er nicht kommen könne. Dabei führte er den Vers an:
>Sein Tun ist stets gesegnet; auch wenn es hart uns scheint<.
Diesen Vers sangen die Hunderte von Brüdern stehend, als wenige Tage darauf die Nachricht vom unerwarteten Heimgang ihres geliebten Bruders eintraf.
Völlig unerwartet kam dessen Hinscheiden auch für die Angehörigen, denn er schien wenige Tage nach jener mißglückten Abreise wieder ganz wohl und war voller Eifer, an seinen Schreibtisch zu kommen. Die Tochter, die ihm meldete, daß sein Arbeitszimmer in Ordnung sei, fand ihn aber zu ihrem Erstaunen wieder im Bett. Gleich darauf hörte sie ihn röchelnd atmen; sie wunderte sich, daß der Vater so schnell eingeschlafen sei, rief aber, doch beunruhigt, die Mutter herbei. In deren Armen tat er den letzten Atemzug.

Er hatte die Bitterkeit des Todes nicht geschmeckt, kein langes Leiden und Siechtum gehabt, wovor ihm manchmal bange gewesen war. Oft hatte er sich getröstet mit dem Liedvers:
>Du kannst durch des Todes Türen träumend führen,

und machst uns auf einmal frei<.

So ließ der Herr in seiner Freundlichkeit es ihn am 7. Dezember 1923 erfahren.
Ergreifend war, was die Angehörigen mit seinem letzten Manuskript für den Freund der Kinder erlebten. Dieses wurde von der Druckerei angefordet. In Darmstadt erwiderte man, es müsse in Dillenburg liegen, denn der Vater habe es schon lange in die Maschine diktiert und abgesandt. Manches Telefongespräch ging zwischen Dillenburg und Darmstadt hin und her, man suchte dort wie hier. Schließlich fand jemand im Arbeitszimmer die Aktentasche, die der Vater zur Reise mit allen nötigen Schriftstücken verpackt und bei seiner plötzlichen Rückkehr beiseitegestellt hatte. Niemand hatte an die Mappe gedacht. Darin lag das Manuskript für die Januarnummern, fix und fertig. Doch da stand noch etwas von ihm selbst mit der Feder hinzugefügt. In tiefer Wehmut lasen Mutter und Kinder diesen letzten Gruß von seiner Hand. Es war ein Abschiedsgedicht (nicht von ihm selbst verfasst), dessen erster Vers so lautet:

>Ich bin fertig, reisefertig,

bald werd’ ich nach Haus gebracht.

Lebet wohl, ihr meine Lieben,

denn nun hält mich keine Macht!

Dort auf lichten Himmelshöhn
gibt’s ein frohes Wiedersehn<

Groß war auch der Schmerz bei allen Geschwistern der >Versammlung<. Von nah und fern bekundete man seine Teilnahme. Ein Bruder aus Holland sandte ein Telegramm mit den Worten aus 2.Sam. 3: >Ein Oberster und Großer in Israel ist gefallen<.

Ein Großer! Worin bestand seine Größe? Er hatte sicherlich reiche Geistesgaben, auch brennenden Eifer für seinen Herrn und tiefe Erkenntnis im Wort Gottes und was man noch nennen mag. Wenn Freunde sich jedoch sein Bild vor Augen riefen, so leuchteten ihnen daraus vor allem eins entgegen: seine Liebe. Und hierdurch war er groß.
Denn >die Größte von allen ist die Liebe<. (1. Kor. 13, 13)

Lisa Heinz-Dönges. 1953

Eingestellt von Horst Koch, im Januar 2024.
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